eBooks

Soziale Medien und Kritische Theorie

Eine Einführung

0902
2024
978-3-8385-6266-7
978-3-8252-6266-2
UTB 
Christian Fuchs
10.36198/9783838562667

Sie werden die sozialen Medien nie wieder auf dieselbe Weise betrachten. Soziale Medien sind ein integraler Bestandteil der heutigen Gesellschaft. Von Nachrichten, Kriegsführung, Politik, Werbung, Konsum, Unterhaltung, Freundschaften, Arbeit und Wirtschaft bis hin zu Freundschaften, Freizeit, Sprache und Alltagsleben haben sie die Art und Weise verändert, wie wir kommunizieren, Informationen nutzen und die Welt verstehen. Soziale Medien prägen die heutige Gesellschaft und werden von ihr geprägt. Um die heutige Gesellschaft zu verstehen, müssen wir kritische Fragen zu sozialen Medien stellen. Dieses Buch ist der ultimative Leitfaden, um Fragen von Eigentum, Macht, Klasse und (Un-)Gerechtigkeit zu ergründen. Dieses Buch vermittelt Ihnen ein kritisches Verständnis für die Komplexität und die Widersprüche, die der Beziehung zwischen den sozialen Medien und der Gesellschaft zugrunde liegen.

<?page no="0"?> Sie werden die sozialen Medien nie wieder auf dieselbe Weise betrachten. Soziale Medien sind ein integraler Bestandteil der heutigen Gesellschaft. Von Nachrichten, Kriegsführung, Politik, Werbung, Konsum, Unterhaltung, Arbeit und Wirtschaft bis hin zu Freundschaften, Freizeit, Sprache und Alltagsleben haben sie-die Art und Weise verändert, wie wir kommunizieren, Informationen nutzen und die Welt verstehen. Soziale Medien prägen die heutige Gesellschaft und werden von ihr geprägt. Dieses Buch ist der ultimative Leitfaden, um Fragen von Eigentum, Macht, Klasse und (Un-)Gerechtigkeit zu ergründen. Dieses Buch vermittelt Ihnen ein kritisches Verständnis für die Komplexität und die Widersprüche, die der Beziehung zwischen den sozialen Medien und der Gesellschaft zugrunde liegen. Soziologie | Medien- und Kommunikationswissenschaft ISBN 978-3-8252-6266-2 Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Soziale Medien und Kritische Theorie 3. A. Fuchs Christian Fuchs Soziale Medien und Kritische Theorie Eine Einführung 3. Auflage 2024-08-06_6266-2_Fuchs_L_5081_PRINT.indd Alle Seiten 2024-08-06_6266-2_Fuchs_L_5081_PRINT.indd Alle Seiten 06.08.24 13: 36 06.08.24 13: 36 <?page no="1"?> utb 5081 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main UTB (L) Impressum_03_22.indd 1 UTB (L) Impressum_03_22.indd 1 23.03.2022 10: 19: 58 23.03.2022 10: 19: 58 <?page no="2"?> Christian Fuchs ist Professor für Mediensysteme und Medienorganisation an der Universität Paderborn, Deutschland. Er ist ein kritischer Theoretiker der Kommunikation, der digitalen Medien und der Gesellschaft. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift tripleC: Communication, Capitalism & Critique. Er ist Autor zahlreicher Publikationen, darunter die Bücher Grundlagen der Medienökonomie: Medien, Wirtschaft und Gesellschaft (2023), Der digitale Kapitalismus (2023) und Kommunikation und Kapitalismus: Eine kritische Theorie (2020). <?page no="3"?> Christian Fuchs Soziale Medien und Kritische Theorie Eine Einführung 3., vollständig überarbeitete Auflage UVK Verlag · München <?page no="4"?> Dieses Buch ist die deutsche Übersetzung der 4. Auflage des folgenden Buches: Christian Fuchs. 2024. Social Media: A Critical Introduction. London: SAGE Publications, 4 th edition. Umschlagabbildung: © iStockphoto, Photosbypatrik Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 3., vollständig überarbeitete Auflage 2024 2., vollständig überarbeitete Auflage 2021 1. Auflage 2018 DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838562667 © UVK Verlag 2024 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption ⅼ gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5081 ISBN 978-3-8252-6266-2 (Print) ISBN 978-3-8385-6266-7 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6266-2 (ePub) <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis ....................................................................................................................8 Tabellenverzeichnis..........................................................................................................................8 Vorworte............................................................................................................................................11 I. Grundlagen ............................................................................................19 1 Soziale Medien und Kritische Theorie................................................................ 21 1.1 Überblick ..............................................................................................................................21 1.2 Was ist kritisches Denken und warum ist es wichtig? ...........................................23 1.3 Was ist die Kritische Theorie? .......................................................................................29 1.4 Ansätze der Kritischen Theorie.....................................................................................37 2 Was sind soziale Medien? .......................................................................................... 47 2.1 Überblick ..............................................................................................................................47 2.2 Web 2.0 und soziale Medien ...........................................................................................48 2.3 Die Notwendigkeit der Gesellschaftstheorie zum Verständnis der sozialen Medien ..................................................................................................................................50 2.4 Soziale Medien mit Durkheim, Weber, Marx und Tönnies erklären ..................58 2.5 Ein Modell der Kommunikation auf sozialen Medien ............................................64 2.6 Die Veränderungen der Digitalen Kommunikation in der Coronavirus- Krise.......................................................................................................................................66 2.7 Schlussfolgerungen ...........................................................................................................70 3 Big Data im digitalen Kapitalismus ..................................................................... 75 3.1 Überblick ..............................................................................................................................75 3.2 Der digitale Kapitalismus ................................................................................................75 3.3 Big Data im digitalen Kapitalismus..............................................................................80 3.4 Die Probleme von Big Data ............................................................................................86 3.4.1. Big Data als Ideologie.......................................................................................................86 3.4.2 Konsumkultur.....................................................................................................................89 3.4.3 Instrumentelle Vernunft ..................................................................................................89 3.4.4 Ungleichheit: Big Data Analytics als Waffe der mathematischen Zerstörung..................................................................................................................................91 3.4.5 Der Überwachungskapitalismus: Die faschistischen Potentiale des Big Data-Kapitalismus .............................................................................................................91 3.4.6 Ökologische Probleme .....................................................................................................92 3.4.7 Die Zunahme von Arbeitslosigkeit und prekärer Arbeit.......................................93 3.4.8 Das Internet der Dinge ....................................................................................................93 3.4.9 Die klügste Technologie ist immer dümmer als der dümmste Mensch ............94 3.5 Der digitale Positivismus von Big Data: Die Erforschung sozialer Medien als Big Data Analytics und Computational Social Science ...................................95 3.6 Schlussfolgerungen ........................................................................................................ 100 <?page no="6"?> II. Plattformen........................................................................................ 103 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien ............................. 105 4.1 Überblick ...........................................................................................................................105 4.2 Die Grenzen der Partizipation auf sozialen Medien ............................................. 106 4.3 Der Zyklus der Kapitalakkumulation .......................................................................120 4.4 Kapitalakkumulation und soziale Medien ...............................................................123 4.5 Die internationale Teilung der digitalen Arbeit..................................................... 130 4.6 Digitale Arbeit auf Facebook, Sklavenarbeit und Hausarbeit: Gemeinsamkeiten und Unterschiede ........................................................................141 4.7 Schlussfolgerungen ........................................................................................................151 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? ................................................ 155 5.1 Überblick ...........................................................................................................................155 5.2 Googles politische Ökonomie .....................................................................................156 5.3 Googologie: Google und Ideologie.............................................................................165 5.4 Arbeit bei Google ............................................................................................................169 5.5 Google: Gott und der Teufel in einem Unternehmen........................................... 178 5.6 Google und der Staat: Monopolmacht und Steuervermeidung ......................... 181 5.7 Schlussfolgerungen ........................................................................................................185 6 Facebook und WhatsApp: Überwachung im Zeitalter der Falschnachrichten ................................................................................................................... 191 6.1 Überblick ...........................................................................................................................191 6.2 Facebooks politische Ökonomie .................................................................................192 6.3 Die politische Ökonomie von WhatsApp ................................................................199 6.4 Die Politische Ökonomie des Metaverse..................................................................202 6.5 Facebook und die „Like“-Ideologie ............................................................................204 6.6 Die Internet Research Agency und der Cambridge Analytica-Skandal: Falschnachrichten auf Facebook ................................................................................207 6.7 Überwachungskapitalismus? .......................................................................................229 6.8 Schlussfolgerungen ........................................................................................................231 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein im Zeitalter von TikTok, Instagram, YouTube und Snapchat ..................... 235 7.1 Übersicht ...........................................................................................................................235 7.2 Die politische Ökonomie des Influencer-Kapitalismus ....................................... 237 7.3 Die Ideologie des Influencer-Kapitalismus .............................................................245 7.4 Sozialistische Influencer: innen ...................................................................................256 7.5 Schlussfolgerungen ........................................................................................................259 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation auf Twitter: Politische Ökonomie, digitale Demokratie und die (digitale) Öffentlichkeit............................................... 263 8.1 Überblick ...........................................................................................................................264 8.2 Twitters Politische Ökonomie.....................................................................................265 6 Inhaltsverzeichnis <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis 7 8.3 Habermas’ Konzept der Öffentlichkeit .................................................................... 273 8.4 Politische Kommunikation auf Twitter.................................................................... 279 8.5 Schroffe Kommunikation auf Twitter ...................................................................... 286 8.6 @JürgenHabermas #Twitter #PublicSphere ........................................................... 291 8.7 Schlussfolgerungen ........................................................................................................ 293 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien ...............................................297 9.1 Übersicht ........................................................................................................................... 297 9.2 Rechter Autoritarismus und Faschismus ................................................................. 299 9.3 Der digitale Autoritarismus auf sozialen Medien: Das Beispiel von Donald Trump ................................................................................................................................ 306 9.3.1 Autoritäre Führung auf sozialen Medien ................................................................ 306 9.3.2 Nationalismus auf sozialen Medien .......................................................................... 310 9.3.3 Das Freund-Feind-Schema auf sozialen Medien ................................................... 312 9.3.4 Gewalt und militantes Patriarchat auf sozialen Medien ..................................... 314 9.4 Digitale Technologien im Putinismus ...................................................................... 320 9.4.1 Der Putinismus................................................................................................................ 320 9.4.2 Das Internet in Russland zur Zeit des Kriegs in der Ukraine ............................ 322 9.4.3 Der russische Informationskrieg gegen die Ukraine ........................................... 327 9.5 Schlussfolgerungen ........................................................................................................ 331 10 TikTok und die politische Ökonomie Chinas im globalen Kapitalismus ..................................................................................................... 337 10.1 Überblick ........................................................................................................................... 337 10.2 Der globale Kapitalismus ............................................................................................. 337 10.3 Chinas Rolle im globalen Kapitalismus ................................................................... 343 10.4 TikToks Politische Ökonomie im globalen Kapitalismus ................................... 351 10.5 Schlussfolgerungen ........................................................................................................ 366 III. Zukunft .............................................................................................. 371 11 Wir brauchen wirklich soziale Medien............................................................373 11.1 Die Realität der sozialen Medien: Zehn Probleme................................................ 373 11.2 Plattform-Kooperativen................................................................................................ 378 11.3 Das öffentlich-rechtliche Internet ............................................................................. 391 11.4 Wir brauchen wirklich soziale Medien .................................................................... 403 11.5 Schlussfolgerungen ........................................................................................................ 405 Literatur ......................................................................................................................... 409 Register........................................................................................................................... 445 <?page no="8"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 2.1 Die Dialektik von Strukturen und Handeln ....................................................... 54 Abb. 2.2 Die drei Dimensionen der Sozialität und Gesellschaftlichkeit des Webs... 62 Abb. 2.3 Alltag und Alltagskommunikation in der COVID-19-Pandemiekrise ........ 68 Abb. 4.1 Der Prozess der Kapitalakkumulation ...............................................................120 Abb. 4.2 Kapitalakkumulation auf kapitalistischen Social Media-Plattformen, die auf personalisierter Werbung beruht ..........................................................126 Abb. 4.3 Die internationale Teilung der digitalen Arbeit. ............................................. 138 Abb. 5.1 Die Entwicklung der Profite von Google, in Milliarden US-Dollar........... 157 Abb. 6.1 Die Entwicklung der Profite von Facebook, 2007-2023 ............................... 193 Abb. 6.2 Ein Beispiel für „Gefällt mir“ auf Facebook zu der Zeit, als es nur einen einzigen Emotions-Button („Like“) gab.................................................. 205 Abb. 6.3 Ein weiteres Beispiel für Emotionen, die auf einem Posting von der Facebook-Seite der Gedenkstätte Auschwitz ................................................... 205 Abb. 6.4 Ein Tweet von Donald Trump über „Falschnachrichten“ ............................ 220 Abb. 9.1 Ein Modell des rechten Autoritarismus .............................................................301 Abb. 9.2 Tweet von Donald Trump über Führung mit einem Link zu einem Facebook-Video.........................................................................................................306 Abb. 9.3 Nationalistischer Tweet von Trump ...................................................................310 Abb. 9.4 Nationalistisches Facebook-Posting von Trump............................................. 310 Abb. 9.5 Trumps Attacke auf die liberalen Medien......................................................... 312 Abb. 9.6 Bernie Sanders erklärt den ideologischen Zweck von Trumps Verwendung des Freund-Feind-Schemas .........................................................................314 Abb. 10.1 Die Entwicklung der Anteile Chinas und der USA am globalen Brutto- Inlandsprodukt .........................................................................................................343 Abb. 11.1 Das Mediensystem als Teil der Öffentlichkeit ................................................. 392 Abb. 11.2 Ein Modell des Club 2.0 ..........................................................................................400 Tabellenverzeichnis Tab. 2.1 Unterschiedliche Auffassungen von Sozialität im World Wide Web.......... 61 Tab. 2.2 Informationsfunktionen der Top 20 Websites ................................................... 63 Tab. 2.3 Fünf Arten von Kommunikationsmitteln............................................................ 69 Tab. 3.1 Die Akkumulation als allgemeiner Prozess in der kapitalistischen Gesellschaft .................................................................................................................. 77 Tab. 3.2 Ebenen und Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft ............................. 78 Tab. 3.3 Die Antagonismen des digitalen Kapitalismus.................................................. 80 <?page no="9"?> Tabellenverzeichnis 9 Tab. 3.4 Die Rolle von Big Data im digitalen Kapitalismus ............................................83 Tab. 4.1 Die meistgesehenen YouTube-Videos aller Zeiten......................................... 107 Tab. 4.2 Die meistgefolgten Facebook-Seiten .................................................................. 109 Tab. 4.3 Die am häufigsten verwendeten Schlüsselwörter in Google-Suchen 2018 (USA), 2019-2023 (weltweit)........................................................................ 111 Tab. 4.4 Twitter-Nutzerprofile mit der höchsten Anzahl von Followern................ 113 Tab. 4.5 Instagram-Profile mit der höchsten Follower-Anzahl .................................. 114 Tab. 4.6 TikTok-Nutzerprofile mit der höchsten Anzahl an Followern................... 115 Tab. 4.7 Kapitalakkumulationsmodelle in der digitalen Kulturindustrie ................ 118 Tab. 4.8 Apples Profite ............................................................................................................ 131 Tab. 4.9 Charakteristika von vier Typen der Arbeit ...................................................... 150 Tab. 5.1 Herfindahl-Hirschman-Index (HHI) des Suchmaschinenmarktes ............ 159 Tab. 5.2 Entwicklung der Rangfolge der drei reichsten Direktoren von Google in der Liste der 400 reichsten Amerikaner: innen ........................................... 161 Tab. 5.3 Das von Facebook vorgeschlagene Cost-per-Click-Gebot für Benutzer: innen ab 18 Jahren, basierend auf Standort und Geschlecht ...................... 167 Tab. 5.4 Minimale und maximale Preise für das Schlüsselwort „Versicherung“ in ausgewählten reichen und armen Ländern................................................ 168 Tab. 6.1 Die Profitraten der weltweit größten Medien- und Digitalkonzerne im Jahr 2022 ............................................................................................................... 197 Tab. 8.1 Die Entwicklung der Verluste/ Gewinne von Twitter.................................... 266 Tab. 8.2 Information und Kommunikation in Tweets zu WikiLeaks, der ägyptischen Revolution und der Bundestagswahl 2017 ........................................... 282 Tab. 8.3 Häufigkeit der monatlichen Nutzung bestimmter sozialer Medien zur Kommunikation oder Diskussion der Proteste mit anderen Aktivisten.. 284 Tab. 9.1 Der Anteil der staatlich gesponserten Cyberangriffe, 2005-2022 .............. 328 Tab. 10.1 Ebenen und Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft ........................... 339 Tab. 10.2 Systeme, Logiken, Praktiken und Strukturen des internationalen und globalen Kapitalismus............................................................................................. 342 Tab. 10.3 Die Entwicklung des Anteils der Wirtschaftssektoren am Brutto- Inlandsprodukt (BIP)............................................................................................... 346 Tab. 10.4 Meistgenutzte Apps in den größten Ländern Afrikas................................... 350 Tab. 10.5 Die weltweit meistgenutzten Internetplattformen im April 2023 ............. 352 Tab. 10.6 Die weltweit am häufigsten heruntergeladenen Apps im Jahr 2022 ...... 354 Tab. 11.1 Die drei Widersprüche der digitalen Entfremdung ....................................... 376 Tab. 11.2 Drei Formen der digitalen Entfremdung........................................................... 376 Tab. 11.3 Vier politische Ökonomien der Medien ............................................................ 393 Tab. 11.4 Ein Modell der öffentlich-rechtlichen Medien ................................................ 394 <?page no="11"?> Vorwort zur vierten englischen und dritten deutschen Ausgabe Als ich 2013 die erste Ausgabe dieses Buches schrieb, war nicht klar, ob „Social Media“ ein weiteres Modewort ist, das bald wieder verschwinden würde wie die Begriffe „virtuelle Realität“, „Cyberspace“, „Social Software“, „Web 2.0“ usw. Internet-Schlagworte wurden oft zur ideologischen Rechtfertigung oder im Rahmen der Schaffung neuer Akkumulationsmodelle des digitalen Kapitalismus geschaffen. Sie halten nun die dritte deutsche Ausgabe von „Soziale Medien und Kritische Theorie: Eine Einführung“ in Händen. Es ist die Übersetzung der vierten englischen Ausgabe. Die sozialen Medien sind sicherlich eines der wichtigsten ideologischen Schlachtfelder der Gegenwart. Es hat sich gezeigt, dass der Begriff „Social Media“ kein flüchtiges Modewort ist, sondern ein Phänomen beschreibt, das in den heutigen Gesellschaften von Bedeutung ist. Soziale Medien sind Teil des Alltags, der Alltagskommunikation und der Alltagssprache geworden. Social Media: A Critical Introduction und Soziale Medien und Kritische Theorie sind zu weit verbreiteten und konsultierten Lehrbüchern geworden. Die Aufgabe dieses Buches ist, eine Einführung in die Anwendung der Kritischen Theorie zu geben, um soziale Medien in der Gesellschaft kritisch zu verstehen und zu analysieren. Seit der Veröffentlichung der zweiten deutschen Ausgabe im Jahr 2021 hat es mehrere Entwicklungen gegeben, die einer genaueren Betrachtung bedürfen:  Die Kurzvideoplattform TikTok ist inzwischen die weltweit beliebteste und am häufigsten heruntergeladene App. TikTok wird von dem chinesischen transnationalen Unternehmen ByteDance betrieben.  Im Jahr 2022 kaufte Elon Musk , der CEO von Tesla und einer der reichsten Menschen der Welt, Twitter . Er strukturierte das Unternehmen und die Plattform um, was zu zahlreichen Kontroversen wie Massenentlassungen und der Entsperrung von Donald Trumps und anderen rechts-rechten Twitter-Profilen geführt hat.  Die Polarisierung der Weltpolitik hat sich fortgesetzt. Rechtsextreme und faschistische Kräfte sind gestärkt worden. Im Jahr 2022 marschierte die russische Armee in die Ukraine ein. Im Jahr 2023 wurden bei Terroranschlägen der Hamas in Israel viele Juden und Jüdinnen getötet und ein Krieg im Gazastreifen ausgelöst. Die Welt ist weiterhin mit sich verschärfenden Krisen konfrontiert, darunter die Klimakrise, soziale Krisen, Flüchtlingskrisen infolge von Rassismus, Kriegen, Naturkatastrophen und Ungleichheiten, sozioökonomische Krisen, humanitäre Krisen usw. Es besteht die Gefahr eines neuen Weltkriegs. In der Welt des Internets haben die Krisen der Welt und die Polarisierung der Weltpolitik zu einer zunehmenden Ideologisierung der sozialen Medien geführt. Soziale Medien sind ein ideologisches Schlachtfeld, auf dem Fake News verbreitet und bekämpft werden, Echokammern entstehen und Bots die menschlichen Online-Aktivitäten automatisieren.  Die Kombination von kapitalistischen Plattformen auf der einen Seite und Faschismus, Rassismus, Nationalismus und Ideologie auf der anderen Seite hat die Bemühungen um die Schaffung alternativer, demokratischer, nicht-kapitalistischer Internet- und Social Media-Plattformen verstärkt. In diesem Zusammenhang sind öffentlich-rechtliche Internetprojekte und Plattform-Kooperativen besonders wichtig. <?page no="12"?> Unter Berücksichtigung dieser Entwicklungen enthält die dritte deutschsprachige Auflage dieses Buches einige wichtige Überarbeitungen:  Die Kapitel wurden aktualisiert, um den neuesten Entwicklungen in der Gesellschaft und in den Medien Rechnung zu tragen.  Es wurde ein neues Kapitel über TikTok hinzugefügt.  Das Kapitel über Twitter wurde grundlegend überarbeitet, um den Veränderungen Rechnung zu tragen, die die Plattform erfahren hat, seit sie Elon Musk gehört.  Das Kapitel zu rechtem Autoritarismus und sozialen Medien stellt nun auch Aspekte des Putinismus vor und legt einen stärkeren Fokus auf die Begriffe Faschismus und digitaler Faschismus.  Das Kapitel über Big Data wurde zu einem Kapitel weiterentwickelt, das sich auf den Begriff „digitaler Kapitalismus“ konzentriert und der Rolle von Big Data im digitalen Kapitalismus besondere Aufmerksamkeit widmet.  Neue Debatten über die Schaffung von demokratischen, nicht-kapitalistischen Alternativen zu den kapitalistischen und staatskapitalistischen Digitalgiganten sind hinzugekommen. Ich danke Malissa Rastoder für das ausgezeichnete Korrekturlesen des gesamten Manuskripts, desweiteren Jürgen Schechler vom UVK-Verlag und Natalie Aguilera und Sarah Moorhouse vom Sage-Verlag für ihre sehr gute Unterstützung auf Verlagsseite. Paderborn, Februar 2024 Christian Fuchs Vorwort zur dritten englischen und zweiten deutschen Ausgabe Die erste Ausgabe dieses Buches erschien im Jahr 2014 in englischer Sprache. Die Arbeit daran begann im April 2011. Aus dem ursprünglichen Buchplan von neun Kapiteln ist inzwischen ein umfassendes Lehrbuch mit insgesamt fünfzehn Kapiteln geworden, das nunmehr in der dritten Auflage vorliegt. Die zweite Ausgabe erschien im Jahr 2017. Die von Felix Kurz ins Deutsche übersetzte zweite englische Ausgabe erschien als erste deutsche Auflage im Jahr 2019. Die Welt der sozialen Medien und des Internets verändern sich gemeinsam mit der Gesellschaft rasant. Angesichts dieses raschen Wandels ist die dritte englische Ausgabe eine radikale Überarbeitung und Erweiterung der zweiten englischen Ausgabe. Alle Kapitel wurden grundlegend überarbeitet und verändert und es wurden etliche neue Kapitel hinzugefügt. Die dritte englische Auflage wurde von Christian Fuchs vollständig neu ins Deutsche übersetzt. Diese Übersetzung wurde von UVK/ utb als zweite deutsche Ausgabe veröffentlicht. Es sind auch türkische und chinesische Übersetzungen des Buches erhältlich (türkische Übersetzung: Diyar Saraçoğlu, chinesische Übersetzung: Wendan Zhao). Als ich die mit der Arbeit an der ersten Auflage im Jahr 2011 begann, war nicht klar, ob es sich bei sozialen Medien um einen Internet-Hype und ein Buzzword handelt, das bald wieder verschwunden sein würde. Fast zehn Jahre später hat sich der Begriff der sozialen Medien in der Alltagssprache eingebürgert und soziale Netzwerke, Microblogs, Wikis, Blogs, nutzergenerierte Fotos und Videos sowie Apps sind aus dem Alltagsleben nicht mehr wegzudenken. Während man vor zehn Jahren oft mit Ver- 12 Vorwort zur dritten englischen und zweiten deutschen Ausgabe <?page no="13"?> Vorwort zur dritten englischen und zweiten deutschen Ausgabe 13 wunderung angesehen wurde, wenn man über digitale Arbeit sprach, gibt es zu diesem Thema heute ständig öffentliche und politische Debatten. Es vergeht kaum eine Woche ohne Schlagzeilen über das eine oder andere Ereignis, das mit sozialen Medien zu tun hat. Das Phänomen der sozialen Medien ist aus der heutigen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Im vorliegenden Buch geht es um den Zusammenhang von sozialen Medien und Gesellschaft. Big Data sind zu einem wichtigen Phänomen der heutigen Gesellschaft und des heutigen Kapitalismus geworden. Oft wird unter Big Data die immense Menge, Geschwindigkeit und Vielfalt der digitalen Daten verstanden, sodass der Umgang mit diesen Daten rein menschliche Fertigkeiten übersteigt. Es geht bei Big Data aber nicht nur um quantitative Zunahmen, sondern auch um qualitative Veränderungen der Gesellschaft. Das neue Kapitel „Der Big Data-Kapitalismus“ behandelt diese qualitativen Veränderungen und ihre Implikationen. Als ich mit der Arbeit an der ersten Auflage im Jahr 2011 begann, war der Arabische Frühling in aller Munde. Oft wurde behauptet, es habe sich dabei um Twitter-Rebellionen und Facebook-Revolutionen gehandelt. Die Rolle der Technik in der Gesellschaft wurde dabei überschätzt und die Beurteilungen waren oft zu technik-euphorisch. Die Diskussion und die Analyse des Internets in sozialen Bewegungen waren damals im Großteil der Studien auf progressive politische Bewegungen begrenzt. Heute sind der Nationalismus, der Rassismus, die rechte Demagogie, Falschnachrichten, postfaktische Politik und autoritäre Ideologie auf sozialen Medien und im Internet allgegenwärtig. Im Jahr 2020 hatte Donald Trumps Twitter-Account die siebentgrößte Anzahl an Follower. In vielen Teilen der Welt gibt es autoritäre Führer, Individuen, Bewegungen und Parteien, die das Internet und soziale Medien als neue Formen der Propagandamittel nutzen und dabei die Vernetzung, Kommentarfunktionen, Likes, personalisierte Werbung, nutzergenerierte Inhalte usw. benutzen. In der Neuauflage dieses Buches sind diese Entwicklungen in der Form des neuen Kapitels „Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien“ präsent. Es geht darin insbesondere um Donald Trump und Twitter und die Frage, wie Autoritarismus, Rassismus und Nationalismus auf sozialen Medien kommuniziert werden. Der Cambridge Analytica-Skandal ist charakteristsch für das Zusammenwirken von rechts-rechter Ideologie, Falschnachrichten, Überwachung, kapitalistischen Plattformen wie Facebook und Neoliberalismus. Das Facebook-Kapitel dieses Buches wurde grundlegend überarbeitet und hat nun einen Fokus auf „Facebook und WhatsApp: Überwachung im Zeitalter der Falschnachrichten“. Influencer sind ein wichtiges Phänomen auf sozialen Medien, insbesondere auf You- Tube, Instagram, Snapchat und TikTok. Vor allem junge Menschen sind Follower von Influencern. Es haben sich neue Hoffnungen der Nutzer: innen, über das Internet berühmt zu werden, aufgetan. Das schaffen aber nur wenige und meistens nur jene, die die Unterstützung von Marken, Talentagenturen und Talentnetzwerken erlangen. Für viele werden die Hoffnungen, im Internet berühmt zu werden, enttäuscht, und sie bleiben proletarisierte Plattformarbeiter. Das Kapitel „Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein im Zeitalter von Instagram, YouTube und Snapchat“ setzt sich mit diesem Thema auseinander. Etliche der Internet-Plattformen mit der höchsten Anzahl der Nutzer: innen sind chinesische Konzerne. Daher wird auch häufig von BAT gesprochen, ein Akronym für die Suchmaschine Baidu, den Onlineshopping-Konzern Alibaba (Taobao, TMall) und Tencent (QQ, WeChat). Daher wurde zur zweiten englischen Ausgabe ein Kapitel über <?page no="14"?> chinesische soziale Medien hinzugefügt. In der Neuauflage wurde dieses Kapitel überarbeitet und eine Diskussion des chinesischen Sozialkredit-Systems hinzugefügt. Die Sharing- und Plattform-Ökonomie sowie die damit verbundene „Gig-Ökonomie“ sind in aller Munde. Uber und Airbnb sind charakteristisch dafür. Die Hoffnungen auf neuen Wohlstand bedeuten in der Realität oft prekäre Plattformarbeit. Das Kapitel über Airbnb und Uber aus der zweiten Auflage wurde überarbeitet und weiterentwickelt zum Kapitel „Die Sharing-Ökonomie von Airbnb, Uber und Upwork“. Außerdem habe ich ein neues Kapitel zum Thema „Der Plattform-Kapitalismus“ hinzugefügt. Es stellt sich die Frage, welche Alternativen es zu kapitalistischen sozialen Medien, dem digitalen Kapitalismus, dem Big Data-Kapitalismus, dem Influencer-Kapitalismus und dem Plattform-Kapitalismus gibt. Die Frage nach den Alternativen wird in drei Kapiteln behandelt. Der Fokus liegt insbesondere auf Perspektiven für ein öffentlich-rechtliches Internet und Plattform-Kooperativen. Das Kapitel „Wikipedia: Eine neue demokratische Form kooperativer Arbeit und Produktion? “ wurde überabeitet. Die zwei Kapitel „Kapitalistische Soziale Medien: Probleme und Alternativen“ und „Ein Manifest für wirklich soziale Medien“ sind Neuhinzufügungen. Die Einleitung sowie die Kapitel über „Was sind soziale Medien? “, Google, Twitter und „Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien“ wurden überarbeitet und aktualisiert. Da das Thema der sozialen Medien immer vielfältiger wird, ließe sich sicherlich ein Buch schreiben, das noch viel länger ist. Die dritte englische und zweite deutsche Ausgabe sind eine grundlegende Überarbeitung der zweiten englischen und der ersten deutschen Ausgabe. Ich musste, um neue Themen aufgreifen zu können und das Buch überschaubar zu halten, auch einige Kapitel streichen. Die Kapitel über Manuel Castells („Soziale Medien und Kommunikationsmacht“) und Henry Jenkins („Soziale Medien als partizipative Kultur“) wurden gestrichen, können aber in der zweiten englischen und der ersten deutschen Auflage nachgelesen werden. Sie sind auch heute sicherlich noch aktuell und lesenswert. In der ersten englischen Ausgabe aus dem Jahr 2014 gibt es ein Kapitel über WikiLeaks (WikiLeaks: Can We Make Power Transparent? ), dessen Thema auch heute noch aktuell ist. Die Probleme der Gesellschaft können im Internet und auf sozialen Medien, die Teil dieser Probleme und der Gesellschaft sind, erlebt, beobachtet, analysiert und kritisiert werden. Wir leben in einem Kapitalismus, der voll von globalen Problemen ist, die die Menschheit bedrohen. In den letzten Jahren ist das Forschungsfeld der kritischen Internetforschung stetig gewachsen. Es stimmt mich zumindest für die Gesellschaftswissenschaften etwas positiv, dass es ein derart großes Interesse an der kritischen Erforschung der Digitalität gibt und dass es eine Vielzahl ausgezeichneter Studien erscheint, die dem Feld der kritischen Internetforschung zuzurechnen sind, die eine Vielzahl an wichtigen Themen abdecken. Solange Ausbeutung und Herrschaft existieren, werden diese Phänomene auf vielfältige Weisen mit dem Internet, sozialen und digitalen Medien und digitaler Kommunikation interagieren. Kritische Internet-, Medien-, Kommunikations- und Gesellschaftsforschung ist daher hochaktuell und wichtig. Das vorliegende Lehrbuch ist ein Beitrag zu den Grundlagen dieses Forschungsfeldes. Gmunden, Okober 2020 Christian Fuchs 14 Vorwort zur dritten englischen und zweiten deutschen Ausgabe <?page no="15"?> Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe 15 Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe Das Internet ist zu einem integralen Bestandteil des Alltagslebens vieler Menschen geworden. Laut Statistiken gab es Anfang 2018 etwa 4,2 Milliarden Internet-Nutzer: innen weltweit 1 . Dies sind nahezu 55 Prozent der Weltbevölkerung. Wir informieren uns über Neuigkeiten im Internet, sehen uns Filme und Videos an, hören Musik, kommunizieren privat und beruflich, kommentieren und teilen Inhalte auf Facebook, Instagram und anderen Plattformen, kaufen über das Internet ein, erledigen Banktransaktionen online etc. Unser Gesellschaftsleben ist ohne das Internet heute nicht mehr vorstellbar. Das Internet und die Gesellschaft sind eng verkoppelt: Die Anwendung des Internets hat die Gesellschaft verändert, im Internet spiegeln sich auf komplexe Weise gesellschaftliche Verhältnisse. Das Internet ist ein Raum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Daher sind alle menschlichen Tätigkeiten im Internet sozial und alle Internetanwendungen soziale Medien. Seit Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts hat sich aber ein anderes Verständnis sozialer Medien durchgesetzt. Es werden darunter oft neue Internetanwendungen wie soziale Netzwerke (Facebook), Blog-Plattformen (z.B. Tumblr, WordPress, Blogger), Mikroblogs (z.B. Twitter, Weibo), Wikis (z.B. Wikipedia) und Plattformen zur Teilung von Inhalten (z.B. YouTube, Instagram, Flickr) verstanden. YouTube, Facebook, Wikipedia und Twitter zählen heute zu den zehn meistgenutzten Internetplattformen 2 . Im Jahr 2017 nutzten 91 Prozent der Deutschen, 88 Prozent der Österreicher: innen 3 und 90 Prozent der Schweizer: innen das Internet 4 . 51 Prozent der Deutschen und 51 Prozent der Österreicher: innen verwendeten 2017 soziale Medien (im engeren Sinn von Twitter, Facebook etc.). 30 Prozent der Deutschen und 23 Prozent der Österreicher kreierten im selben Jahr nutzergenerierte Inhalte und teilten diese auf Online-Plattformen. Im Jahr 2015 hatten nur 0,4 Prozent der Deutschen und 0,7 Prozent der Österreicher: innen keinen Fernseher 5 . Die Nutzung von Facebook, Twitter, YouTube etc. ist im deutschsprachigen Raum noch nicht so weit verbreitet wie das Fernsehen: Soziale Medien sind aber ein signifikantes Phänomen. Das vorliegende Buch widmet sich also einem gesellschaftlich bedeutenden Kommunikationsphänomen. Marx, Engels, Horkheimer und Adorno gehören zu den wichtigsten Theoretikern der kritischen Gesellschaftstheorie. Marx beschäftigte sich u.a. mit dem widersprüchlichen Charakter der Technik und der Kommunikationsmittel im Kapitalismus (siehe Fuchs 2017b). Horkheimer und Adorno haben u.a. die negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft analysiert, die sich ergeben, wenn Kultur die Warenform annimmt. Obwohl die Werke klassischer Gesellschaftstheoretiker von großer Bedeutung für die Analyse von Kommunikation und Medien sind, hat sich im deutschsprachigen Raum bisher keine kritische Tradition der Analyse von Medien und Kommunikation durchsetzen können. Vielmehr ist dieses Forschungsfeld relativ konservativ. Der Ansatz der Kritik der politischen Ökonomie der Medien und der Kommunikation ist im internationalen Vergleich in Deutschland, Österreich und der Schweiz unterentwickelt (vgl. 1 https: / / www.internetworldstats.com/ stats.htm, aufgerufen am 4. Juli 2018. 2 https: / / www.alexa.com/ topsites, aufgerufen am 4. Juli 2018. 3 Datenquelle: Eurostat, http: / / ec.europa.eu/ eurostat 4 Datenquelle: Bundesamt für Statistik, https: / / www.bfs.admin.ch 5 Datenquelle: Eurostat, http: / / ec.euroa.eu/ eurostat <?page no="16"?> Fuchs 2017a). Das vorliegende Buch versteht sich als Einführung dazu, wie der Ansatz der Marxschen kritischen politischen Ökonomie und der Frankfurter Schule (vor allem die Arbeiten von Horkheimer, Adorno, Marcuse und Habermas) verwendet werden kann, um aktuelle Kommunikationsphänomene kritisch zu analysieren. Es ist als Lehrbuch konzipiert, das den Zusammenhang von Internetkommunikation und Kapitalismus verdeutlicht. Eine Vielzahl von Übungsaufgaben ermöglicht es den Leser: innen, sich mit diesem Thema auf praktische Weise auseinanderzusetzen. Ich habe versucht, die Bedeutung kritischer/ marxistischer Theorie möglichst anschaulich darzustellen. Die Europäische Union verfolgte im Rahmen der Lissabon-Strategie das Ziel, bis 2010 die wettbewerbsfähigste Informationsökonomie der Welt zu werden. Damit war gemeint, dass man europäische Formen von Google, Facebook, Microsoft, Amazon, Apple etc. schaffen wollte. Man wollte den US-amerikanischen digitalen Kapitalismus ein- und überholen. Diese Strategie ist gescheitert. Es gibt heute keine europäischen Äquivalente zu Google, Facebook, Microsoft, Amazon und Apple. Die Strategie, die neoliberale Version der digitalen Ökonomie, in der unregulierte globale Konzerne nach Belieben agieren und Daten, digitale Inhalte, Online-Werbung und digitale Technologien als Waren verkaufen, um Kapital zu akkumulieren, funktioniert in Europa nicht. Unter den fünfzig weltgrößten Unternehmen befinden sich zehn Konzerne, die dem Bereich der Kommunikationsindustrie und digitalen Industrie zuzuordnen sind: Apple (#8), AT&T (#15), Verizon Communications (#18), Microsoft (#20), Alphabet/ Google (#23), China Mobile (#25), Comcast (#34), Softbank (#39), Nippon Telegraph and Telephone (#46) und Intel (#49). Sieben dieser Konzerne haben ihre Zentrale in den USA und zwei in Japan. Eines der Unternehmen befindet sich in China. Keiner der weltgrößten Informationskonzerne ist aus Europa. Die Lissabon-Strategie ist also gescheitert. Dies hat damit zu tun, dass die Stärke Europas nicht bei den kommerziellen Medien, sondern im Bereich der öffentlich-rechtlichen Medien und der Alternativmedien besteht. Die EU hat die Möglichkeit verabsäumt, ein öffentlich-rechtliches und alternatives Internet zu schaffen. Die zuständigen Politiker: innen sind von der neoliberalen Ideologie geblendet. Der Versuch, das US-Modell des digitalen Kapitalismus zu kopieren, ist gescheitert. Die von Edward Snowden aufgedeckte Überwachung der Internetkommunikation durch westliche Geheimdienste sowie der Cambridge Analytica-Skandal zeigen, dass das Internet nicht einfach ein Raum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist, sondern einer jener Räume, in denen Widersprüche der Gesellschaft ausgetragen werden. Das Unternehmen Cambridge Analytica bezahlte Global Science Research dafür, Online-Persönlichkeitstests auf Facebook durchzuführen, wodurch persönliche Daten von 90 Millionen Nutzern gesammelt wurden, auf Basis derer rechte Organisationen personalisierte Online-Werbungen schalteten, um zu versuchen, den Ausgang von Wahlen (wie z.B. die US-Präsidentschaftswahl 2016) zu manipulieren. Dies wurde durch eine Kombination von nationalistischer Politik, digitalem Kapitalismus und neoliberaler Politik ermöglicht: Die neuen Nationalisten schrecken vor keinen Möglichkeiten zurück, um ihre Ziele zu erreichen. Zu ihren kommunikativen Methoden zählen Falschnachrichten (Fake News), Skandalisierung, Emotionalisierung, die Nutzung von Bots zur Generierung von falscher Aufmerksamkeit, die Verbreitung von Hass und Nationalismus online usw. Facebook als kapitalistisches digitales Unternehmen hat Interesse daran, dass möglichst viele Datenströme auf der Plattform stattfinden, da Daten ein Rohstoff für den Profit sind, den das Unternehmen aus dem Verkauf personalisierter Werbung erzielt. Facebook gab Entwicklern über eine offene Schnittstelle Datenzugriff, da man sich dadurch mehr neue Apps und damit verbunden mehr 16 Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe <?page no="17"?> Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe 17 Nutzungsstunden und mehr verkaufte personalisierte Werbung erhoffte. Die Logik der Profitmaximierung unterstützte die Unterminierung der Demokratie und der Privatsphäre vieler Internet-Nutzer: innen. Der neoliberale Staat unterstützt die Kommodifizierung des Digitalen dadurch, dass es kaum Regulierung gibt und man auf die Selbstregulierung der Konzerne setzt. Die Kombination der Krise des Kapitalismus mit rechter Ideologie, neuem Nationalismus und Rassismus hat im Internet zu Phänomenen wie Donald Trumps Twitternutzung geführt. Während die Nazis den Volksempfänger benutzten, setzen die heutigen Nationalisten auf soziale Medien, Big Data, Fake News, personalisierte Onlinewerbung und politische Bots. Donald Trump ist das bekannteste Beispiel dafür, wie digitale Medien eingesetzt werden, um Autoritarismus zu kommunizieren, wozu ein hierarchisches Weltbild, in dem es Führer und Geführte gibt, Nationalismus, das Freund- Feind-Schema, patriarchale Ideologie und Militarismus gehören (Fuchs 2018a). Das Internet und die Gesellschaften, in denen es verwendet wird, sind heute in keinem guten Zustand. Genau deswegen brauchen wir eine kritische Theorie des Internets. Im vorliegenden Buch werden u.a. folgende Themen diskutiert: der digitale Kapitalismus, partizipative Kultur als Ideologie, Kommunikationsmacht; die politische Ökonomie des Digitalen, der Suchmaschinen, der sozialen Netzwerke und der Sharing-Plattformen; Überwachung und Privatsphäreverletzungen im Internet, digitale Demokratie und digitale Öffentlichkeit, Ideologien des Internets. Es geht aber auch um gesellschaftliche Kämpfe im Kontext des Internets und nichtkommerzielle Alternativen zum kapitalistischen Internet. Beispiele dafür sind Wikipedia, Plattformkooperativen und die digitalen Dienste öffentlich-rechtlicher Medien. Europas Stärke ist nicht der digitale Kapitalismus, sondern die Tradition der öffentlich-rechtlichen Medien und der Alternativmedien. Die Alternativen zum digitalen Kapitalismus bestehen also in der Förderung öffentlich-rechtlicher und zivilgesellschaftlicher Internetdienste (Fuchs 2018a). Wir brauchen keine öffentlich-privaten Partnerschaften, sondern öffentlich-zivilgesellschaftliche Partnerschaften, um ein progressives Internet zu etablieren. Das Internet ist heute nur zu einem partikularistischen Grad ein soziales Medium: Es befördert das Interesse der Konzerne und Mächtigen. Es ist also unsozial, insofern wir unter Sozialität den politischen Begriff einer solidarischen Gesellschaft verstehen. Ein soziales Internet, das von öffentlich-rechtlichen Institutionen (z.B. Suchmaschinen, die von öffentlichen Universitäten organisiert werden, ein von allen europäischen öffentlich-rechtlichen Medien gemeinsam betriebene Alternative zu YouTube etc.) und zivilgesellschaftlichen Organisationen (z.B. Plattformkooperativen, d.h. von Angestellten und Nutzern selbstverwaltete Software- und Internetprojekte; nichtkommerzielle, nicht-profitorientierte soziale Netzwerke; Creative Commons und Free Software-Bewegung usw.). Die stärkere Besteuerung von Online-Werbung und anderen Profitquellen digitaler Konzerne könnte eine der Quellen für die Finanzierung alternativer Internetprojekte darstellen. Im heutigen Internet spielt sich ein Widerspruch zwischen dem digitalen Kapital und den digitalen Gemeingütern (Commons) ab. Es kommt darauf an, in diesen Konflikt zu intervenieren, um ein Internet zu schaffen, das allen Menschen Vorteile bietet. Ein alternatives Internet ist möglich und notwendig. London, Juli 2018 Christian Fuchs <?page no="18"?> Fuchs, Christian. 2018a. Digitale Demagogie: Autoritärer Kapitalismus in Zeiten von Trump und Twitter . Hamburg: VSA. Fuchs, Christian. 2018b. The Online Advertising Tax as the Foundation of a Public Service Internet . London: University of Westminster Press. Fuchs, Christian. 2017a. Die Kritik der Politischen Ökonomie der Medien/ Kommunikation: ein hochaktueller Ansatz. Publizistik 62 (3): 255-272. Fuchs, Christian. 2017b. Marx lesen im Informationszeitalter. Eine medien- und kommunikationswissenschaftliche Perspektive auf „Das Kapital Band 1“ . Münster: Unrast. 18 Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe <?page no="19"?> I. Grundlagen <?page no="21"?> Soziale Medien und Kritische Theorie Schlüsselfragen  Was bedeutet es, kritisch zu denken?  Was ist die Kritische Theorie und warum ist sie relevant?  Was ist der Unterschied zwischen Administrativer und Kritischer Theorie?  Wie können wir uns der Kritischen Theorie nähern?  Wie können wir die Kritische Theorie für die Untersuchung digitaler und sozialer Medien nutzen? Schlüsselkonzepte  Soziale Medien  Kritische Theorie  Marxistische Theorie  Kritik der Politischen Ökonomie 1.1 Überblick Was ist das Soziale an sozialen Medien? Welche Auswirkungen haben soziale Medienplattformen wie Facebook, Google, Instagram, Snapchat, TikTok, Twitter, Wikipedia, YouTube etc. auf Macht, Wirtschaft und Politik? Dieses Buch gibt eine kritische Einführung in das Studium der sozialen Medien. Es konfrontiert den Leser und die Leserin mit den Konzepten, die für ein kritisches Verständnis der Welt der sozialen Medien erforderlich sind, unter anderem mit Fragen wie:  Kapitel 2: Was ist das Soziale an sozialen Medien?  Kapitel 3: Was ist der digitale Kapitalismus? Was sind Big Data? Was ist die Rolle von Big Data im digitalen Kapitalismus?  Kapitel 4: Wie funktioniert das Geschäftsmodell der sozialen Medien?  Kapitel 5: Was ist gut und was ist schlecht an Google, der weltweit führenden Internetplattform und Suchmaschine?  Kapitel 6: Welche Rolle spielen Datenschutz, Überwachung und Falschnachrichten auf Facebook, der weltweit größten sozialen Netzwerkseite?  Kapitel 7: Was sind die Social Media-Influencer: innen? Welche Aspekte der politischen Ökonomie und Ideologie spielen beim Influencer-Kapitalismus auf Instagram, TikTok, YouTube und Snapchat eine Rolle?  Kapitel 8: Welche Rolle spielt Elon Musks Twitter für die digitale Öffentlichkeit, die digitale Demokratie und ihre Kolonisierung? Welche Möglichkeiten und Grenzen haben die sozialen Medien bei der Belebung der (digitalen) Öffentlichkeit?  Kapitel 9: Wie werden rechter Autoritarismus und digitaler Faschismus über soziale Medien vermittelt?  Kapitel 10: Was ist der globale Kapitalismus? Welche Rolle spielt China im globalen Kapitalismus? Was ist die Rolle von TikTok im globalen Kapitalismus? <?page no="22"?> 22 1 Soziale Medien und Kritische Theorie  Kapitel 11: Was sind die Hauptprobleme der sozialen Medien und welche Alternativen gibt es? Wie können wir soziale Medien erreichen, die den Zielen einer gerechten und fairen Welt dienen, in der die Menschen die Gesellschaft gemeinsam gestalten und gemeinschaftlich kommunizieren? Was sind wahrhaftig soziale Medien? Dieses Buch stellt einen theoretischen Rahmen für ein kritisches Verständnis von sozialen Medien vor, der für die Diskussion von Social-Media-Plattformen im Kontext spezifischer Themen verwendet wird. Es führt in die kritische Analyse ein, indem es sich auf spezifische theoretische Konzepte konzentriert, die in Beziehung zu sozialen Medien gesetzt werden: Sozialität (Kapitel 2), Big Data und der digitale Kapitalismus (Kapitel 3), Politische Ökonomie (Kapitel 4), politische Ethik (Kapitel 5), Überwachung und Privatsphäre (Kapitel 6), Ideologiekritik (Kapitel 7), Demokratie und Öffentlichkeit (Kapitel 8); die kritische Theorie der autoritären Persönlichkeit, des Faschismus und des rechten Autoritarismus (Kapitel 9), globaler Kapitalismus (Kapitel 10); digitale Entfremdung, digitale Gemeingüter, digitale Alternativen, öffentlich-rechtliche Medien, öffentlich-rechtliches Internet und digitaler/ kommunikativer Sozialismus (Kapitel 11). Das Buch besteht aus drei Teilen: I. Grundlagen (Kapitel 1-4) II. Plattformen (Kapitel 5-10) III. Zukunft (Kapitel 11) Der „Grundlagen“-Teil führt in die kritische Theorie und die Analyse des Kapitalismus ein. Wir brauchen diese Grundlagen, um soziale Medien kritisch zu verstehen. Der „Plattformen“-Teil präsentiert Fallstudien zu spezifischen Social Media-Plattformen und Social Media-Themen. Er wendet die theoretischen Grundlagen des Buches auf bestimmte Plattformen wie Google, Facebook, WhatsApp, Instagram, YouTube, Snapchat, Twitter, TikTok und Wikipedia an. Der Teil „Zukunft“ befasst sich mit Visionen, wie das Internet und die sozialen Medien aussehen sollten, um die Probleme kapitalistischer sozialer Medien und des kapitalistischen Internets zu überwinden. Unter sozialen Medien versteht man häufig nutzergenerierte Inhalte, ein Netzwerk von Kontakten und Followern, die gemeinsame Nutzung von Texten/ Bildern/ Videos, Möglichkeiten zur Online-Wiederveröffentlichung und -Verbreitung von Inhalten, den Ausdruck von Zustimmung und Ablehnung in Form von Emoticons und „Likes“ sowie Möglichkeiten der Online-Kommunikation. Das „Soziale“ ist ein komplexer Begriff. Er kann bedeuten, dass unser Handeln durch das, was in der Gesellschaft geschieht, geprägt wird, dass wir mit anderen kommunizieren und interagieren, dass wir kooperieren und Gemeinschaften bilden usw. Das Soziale hat aber auch mit sozialen und gesellschaftlichen Problemen zu tun. Einige Beobachter argumentieren, dass soziale Medien selbst Teil der sozialen und gesellschaftlichen Probleme geworden sind. „Soziale Medien“ ist in erster Linie ein Begriff, der uns darüber nachdenken lässt, wie Internetplattformen mit der Gesellschaft interagieren. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Frage, wie soziale Medien zu definieren sind, wird in Kapitel 2 gegeben. Im verbleibenden Teil von Kapitel 1 werde ich den Begriff der Kritischen Theorie einführen und einige Grundlagen davon diskutieren, was es bedeutet, soziale Medien kritisch zu analysieren. <?page no="23"?> 1.2 Was ist kritisches Denken und warum ist es wichtig? 23 1.2 Was ist kritisches Denken und warum ist es wichtig? Wenn man die Frage „Was bedeutet es, kritisch zu sein? “ mit akademischen Kolleg: innen diskutiert, haben viele die unmittelbare Reaktion: Wir sind alle kritisch, weil wir kritische Fragen stellen und die Arbeit unserer akademischen Kolleg: innen kritisieren. Gelehrte, die sich selbst als kritische Denker oder kritische Theoretiker: innen bezeichnen, stellen diese Behauptungen oft in Frage. Sie heben den Begriff des „Kritischen“ und die Notwendigkeit hervor, kritisch zu sein, um zu betonen, dass ihrer Ansicht nach nicht jeder kritisch ist und dass viele Gedanken (akademische oder nicht) unkritisch sind. Ihr Grundargument ist, dass nicht alle Fragen wirklich in gleichem Maße für die Gesellschaft von Bedeutung sind und dass diejenigen, die sie unkritische oder administrative Forscher: innen nennen, sich oft auf Fragen und Forschung konzentrieren, die für die Verbesserung der Gesellschaft irrelevant oder sogar schädlich für die Gesellschaft und die Menschen sind. Es geht kritischen Theoretiker: innen um Fragen der Macht. Macht Macht ist ein komplexes Konzept. Es hat damit zu tun, wer die Gesellschaft kontrolliert, wer wichtige Entscheidungen trifft, wer grundlegende Ressourcen besitzt, wer als einflussreich gilt, wer den Ruf hat, die Gesellschaft zu beeinflussen und zu verändern, wer ein Meinungsmacher ist oder wer dominante Normen, Regeln und Werte definiert. Die Frage „Wer ist an der Macht? “ führt sofort zu der Frage „Und wem fehlt die Fähigkeit, Dinge zu beeinflussen und zu verändern? “ Machtasymmetrien bedeuten, dass es Gruppen von Menschen gibt, die in der Gesellschaft auf Kosten anderer profitieren, indem sie diese für ihre Zwecke instrumentalisieren und Vorteile erlangen, die nicht der Gesellschaft als Ganzes oder denjenigen, die instrumentalisiert werden, zugutekommen. In sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnissen mit einer symmetrischeren Machtverteilung können alle beteiligten und betroffenen Menschen oder zumindest viele von ihnen die Strukturen beeinflussen und gestalten, die ihr Leben beeinflussen. Macht ist ein inhärent politisches Konzept. Macht ist auf bestimmte Weise verteilt, und zwar auf einem Kontinuum zwischen absoluter Symmetrie und absoluter Asymmetrie. Eine relativ symmetrische Machtverteilung bedeutet, dass es eine basisdemokratische und partizipative Demokratie gibt. Eine stark asymmetrische Machtverteilung bedeutet eine Diktatur durch wenige, einzelne Personen oder eine kleine Gruppe. Herrschaft ist nicht dasselbe wie Macht. Es handelt sich um eine bestimmte Art von Macht. Herrschaft ist ein Machtverhältnis, bei dem Individuen, Gruppen, Organisationen oder Institutionen über Zwangsmittel verfügen, die sie einsetzen können oder bereits einsetzen, um sich Vorteile zu verschaffen, die der Durchsetzung ihrer Interessen gegen den Willen, gegen die Interessen und auf Kosten anderer dienen. Herrschaft ist immer ein asymmetrisches Machtverhältnis. Sie hat mit Zwang und Vorteilen des einen Akteurs zu tun, die Nachteile für andere mit sich bringen. Ausbeutung ist eine besondere Form der Herrschaft. Sie ist eine ökonomische Form der Herrschaft, die in Klassenverhältnissen stattfindet. Ausbeutung bedeutet, dass es eine herrschende Klasse gibt, die wirtschaftliche Produktionsmittel und Eigentum besitzt und kontrolliert, von denen die Arbeiterklasse ausgeschlossen ist, und dass die herrschende Klasse Einfluss auf das Vorhandensein von Zwangsmitteln hat, die die <?page no="24"?> 24 1 Soziale Medien und Kritische Theorie Arbeiterklasse dazu zwingen, wirtschaftliche Ressourcen zu produzieren, die ihr nicht gehören und die das Eigentum von Mitgliedern der herrschenden Klasse sind. Es macht einen Unterschied, ob man Fragen über die Gesellschaft mit oder ohne Berücksichtigung von Machtinteressen stellt. Kommen wir noch einmal auf das Thema der sozialen Medien zurück. Man kann eine Menge Fragen stellen, die das Thema der Macht ignorieren. Zum Beispiel:  Wer nutzt soziale Medien?  Für welche Zwecke werden Social Media genutzt?  Warum werden sie genutzt?  Worüber kommunizieren Menschen auf sozialen Medien?  Was sind die beliebtesten sozialen Medien?  Wie können Politiker: innen und Parteien soziale Medien am besten nutzen, um bei den nächsten Wahlen mehr Stimmen zu erhalten?  Wie können Unternehmen soziale Medien zur Verbesserung ihrer Werbung und Öffentlichkeitsarbeit nutzen, damit sie mehr Gewinn erzielen?  Wie viel durchschnittlichen Profit bringt ein Klick auf eine personalisierte Werbung, die auf Facebook oder Google geschaltet wird, dem werbetreibenden Unternehmen?  Wie kann ein Unternehmen durch Crowdsourcing-Arbeit für Nutzer: innen und den Einsatz von freier Software Gewinne erzielen? Die Medien- und Kommunikationswissenschaft entstand als akademisches Feld im frühen zwanzigsten Jahrhundert zur Zeit des Aufstiegs des Konsumkapitalismus. Der Konsumkapitalismus basiert auf der Massenproduktion und dem Massenkonsum von Waren. Zwei grundlegende Ansätze zur Erforschung der Kommunikation entstanden: die administrative Forschung und die kritische Forschung. Die administrative Forschung untersucht, welche Rolle die Kommunikation spielt, um die Verwaltung der Gesellschaft einfacher, effizienter und effektiver zu gestalten. Kritische Forschung stellt Fragen nach Macht und Kommunikationsmacht und beschäftigt sich mit der Frage, wie Gesellschaft und Kommunikation allen und vielen und nicht nur den wenigen zugutekommen können. Harold Lasswell (1902-1978) war ein einflussreicher US-amerikanischer administrativer Kommunikationsforscher. Er formulierte die Lasswell-Formel, die er als „praktische Weise zur Beschreibung eines Kommunikationsaktes” erachtet. Die Lasswell- Formel stellt die folgenden Fragen: „Wer sagt was über welchen Kanal zu wem mit welcher Wirkung? “ (Lasswell 1948/ 2007, 216). Ausgehend von dieser Unterscheidung unterscheidet Lasswell zwischen der Kommunikatoranalyse (wer? ), der Inhaltsanalyse (was? ), der Medienanalyse (welcher Kanal? ), der Publikumsforschung (an wen? ) und der Medienwirkungsforschung. Die oben skizzierten Fragen sind Beispiele für die Anwendung der Lasswell-Formel auf soziale Medien. Sie fragen: Wer sagt auf welchen Social Media/ Online-Plattformen was, zu wem, mit welcher Wirkung? <?page no="25"?> 1.2 Was ist kritisches Denken und warum ist es wichtig? 25 Der Sozialforscher Paul F. Lazarsfeld (1901-1976) bezeichnet das Stellen und Beantworten solcher Fragen als „administrative Forschung“. Er argumentiert, dass es wirtschaftliche und politische Organisationen gibt, die daran interessiert sind, solche Fragen zu untersuchen, um ihre Profite und ihre Macht zu steigern. „Studien dieser Art werden von den großen Verlagsorganisationen und Rundfunknetzen und zum Teil von akademischen Agenturen durchgeführt, die von Universitäten oder Stiftungen unterstützt werden“ (Lazarsfeld 1941, 3). Administrative Forschung wird „im Dienste einer Art Verwaltungsagentur öffentlichen oder privaten Charakters durchgeführt“ (8). Lazarsfeld argumentiert, dass Max Horkheimer die Idee der „kritischen Forschung“ (9) entwickelt habe, die die Analyse sozialer Phänomene wie der Kommunikation in breitere Zusammenhänge einbettet und sie auf der Grundlage menschlicher Werte beurteilt. Administrative Fragen haben drei Probleme. Erstens ignorieren viele von ihnen die Themen der Macht, der Herrschaft und der Ausbeutung. Sie stellen nicht die Frage, wer von der Nutzung der sozialen Medien, des Internets und der IKT (Informations- und Kommunikationstechnologien) profitiert und wer Nachteile hat und wie die Vorteile der einen auf den Nachteilen der anderen beruhen. Zweitens basieren solche Fragen auf einer partikularistischen Logik: Sie befassen sich damit, wie bestimmte Gruppen, insbesondere Unternehmen und Politiker, von sozialen Medien profitieren können, und ignorieren die Frage, wie diese Nutzung anderen und der Gesellschaft im Allgemeinen nützt oder schadet. Unkritische Herangehensweisen fragen z.B., wie Unternehmen von sozialen Medien profitieren können, diskutieren aber nicht die Arbeitsbedingungen in diesen Unternehmen. Drittens ignorieren solche administrativen Fragen die Fokussierung darauf, wie die Gesellschaft im Ganzen als Kontext wirkt und die Kommunikation beeinflusst. Die administrative Forschung stellt keine großen Fragen über die Gesellschaft, die mit Klasse, Ausbeutung, Kapitalismus, Herrschaft, gesellschaftlichen Kämpfen, Globalisierung, Staat, Ideologie, Ungleichheit, Macht usw. zu tun haben. Die Analyse der sozialen Medien und des Internets in der Gesellschaft befasst sich mit drei großen Themenbereichen: Wirtschaft, Politik und Kultur. In der digitalen Wirtschaft geht es um die Produktion, die Verteilung und den Konsum von digitalen Gütern. Die digitale Politik befasst sich mit der Rolle der digitalen und sozialen Medienkommunikation in der Demokratie und der kollektiven Entscheidungsfindung. Die digitale Kultur konzentriert sich darauf, wie Menschen im Internet und auf den sozialen Medien Bedeutung für die Gesellschaft schaffen und diese Bedeutungen zum Ausdruck bringen. Dieses Buch deckt alle drei Aspekte ab. Die drei Bereiche der digitalen Gesellschaft sind miteinander verknüpft. Denken wir zum Beispiel an Google. In Bezug auf die Wirtschaft ist Google ein Monopol auf dem Suchmaschinenmarkt, das mit personalisierter Online-Werbung Geld verdient. Im Bereich der Politik wurde Google dafür kritisiert, dass das Unternehmen es vermeidet, Steuern zu zahlen und eine Überwachungsgesellschaft vorantreibt. Und im Bereich der Kultur wird Google oft als Förderer einer Kultur der oberflächlichen und schnellen Auseinandersetzung mit Informationen gesehen, in der Algorithmen bestimmen, wie wir die Realität wahrnehmen. Wann immer wir soziale Medien analysieren, können wir darüber nachdenken, wie eine konkrete Social Media-Plattform oder ein konkretes Internet-Phänomen mit Wirtschaft, Politik und Kultur zusammenhängen. <?page no="26"?> 26 1 Soziale Medien und Kritische Theorie Digitaler Autoritarismus Um über soziale Medien nachzudenken, ist es gut, sich mit einem Beispiel auseinanderzusetzen. Betrachten wir das Beispiel des digitalen Autoritarismus und des digitalen Faschismus und was es bedeutet, dazu kritische Fragen zu stellen. Rechte, autoritäre Persönlichkeiten wie Donald Trump oder Narendra Modi haben beide mehr als 80 Millionen Follower auf Twitter und Millionen Follower auf Facebook, Instagram und YouTube. Die extreme Rechte ist eine Gefahr für die Demokratie. Angesichts ihres Wachstums und der Anhängerschaft, die sie im Internet erreicht, stellt sich die Frage, was die Rechtsextremen bei der Nutzung sozialer Medien so effektiv macht. Die Nutzung von Twitter durch Donald Trump ist ein vieldiskutiertes Social Media- Thema. Häufig berichten Nachrichtenmedien über das, was er getwittert hat. Seine Tweets sind oft beleidigend, aggressiv oder machen sich über seine Gegner lustig. Betrachten wir das folgende Beispiel: „I am in Japan at the G-20, representing our Country well, but I heard it was not a good day for Sleepy Joe or Crazy Bernie. One is exhausted, the other is nuts - so what’s the big deal? “ (Twitter: @RealDonaldTrump, 28. Juni 2019) Trump psychologisiert hier zwei seiner wichtigsten politischen Gegner, Joe Biden und Bernie Sanders. Er versucht, sie als geistig behindert darzustellen. Er sagt negative Dinge über seine Gegner: innen, um Wähler: innen anzusprechen. Dies ist eine ideologische Strategie, die zu dem gehört, was Politikwissenschaftler: innen als „Autoritarismus“ bezeichnen. Autoritarismus ist eine Denkweise, Ideologie und Form der Politik, die andere Menschen, insbesondere politische Gegner, nicht respektiert, an Hierarchien glaubt, Macht von oben nach unten ausübt; Law & Order-Politik, Gewalt und Kriegsführung als politische Mittel propagiert und für Nationalismus eintritt. In der heutigen Gesellschaft kommt der Autoritarismus häufig im Internet und in den sozialen Medien zum Ausdruck. Ein Beispiel dafür, wie wir soziale Medien untersuchen können, ist die Frage „Wie wird rechter Autoritarismus und Nationalismus auf sozialen Medien kommuniziert? “ In dem Buch Digitale Demagogie: Autoritärer Kapitalismus in Zeiten von Trump und Twitter analysiere ich, wie Donald Trump soziale Medien, insbesondere Twitter, nutzt (Fuchs 2018b). Nationalismus 2.0: The Making of Brexit on Social Media untersucht Nutzerkommentare zu den Profilen von Nigel Farage und Boris Johnson am Tag nach dem Brexit- Referendum (Fuchs 2018c). Nationalism on the Internet: Critical Theory and Ideology in the Age of Social Media and Fake News skizziert Grundlagen einer kritischen Theorie des Nationalismus, die auf eine empirische Analyse der Nutzung von sozialen Medien durch rechtsrechte Parteien bei den deutschen Bundestagswahlen 2017 und den österreichischen Nationalratswahlen 2017 angewendet wird (Fuchs 2020c). Das Buch Digital Fascism (Fuchs 2022b) stellt Fallstudien zum Faschismus im Internet und in den sozialen Medien vor und skizziert Grundlagen der Theorie des digitalen Faschismus. Digitaler Faschismus Der Faschismus ist eine antidemokratische, antisozialistische und terroristische Ideologie, Praxis und Organisationsform. Er beruht auf der Kombination mehrerer Prinzipien: (a) dem Führerprinzip, (b) dem Nationalismus, (c) dem Freund-Feind-Schema und (d) dem militanten Patriarchat, das die Idealisierung des Soldaten, die Ausübung des Patriarchats, die Unterordnung der Frauen und den Einsatz von Krieg, Gewalt und Ter- <?page no="27"?> 1.2 Was ist kritisches Denken und warum ist es wichtig? 27 ror als politische Mittel beinhaltet. Der Faschismus bedient sich des Terrors gegen vermeintliche Feinde und zielt darauf ab, durch die Institutionalisierung dieser Prinzipien eine faschistische Gesellschaft zu errichten. Er versucht, Menschen zu mobilisieren, die befürchten, aufgrund gesellschaftlicher Konflikte Eigentum, Status, Macht und Ansehen zu verlieren. Darüber hinaus spielt der Faschismus in kapitalistischen Gesellschaften und Klassengesellschaften eine ideologische Rolle, indem er die Probleme der Gesellschaft auf Sündenböcke abwälzt und sie als Konflikte zwischen der Nation und „Ausländern/ Ausländerinnen“ oder Feinden darstellt. Dieses Ablenkungsmanöver lenkt die Aufmerksamkeit von der systemischen Rolle von Klasse und Kapitalismus und dem inhärenten Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit in der Gesellschaft ab. Der Faschismus propagiert oft einen eindimensionalen, einseitigen und personalisierenden „Antikapitalismus“, der die Nation als politischen Fetisch darstellt und die Existenz eines Antagonismus behauptet, bei dem auf der einen Seite die Einheit von Kapital und Arbeit einer Nation steht und auf der anderen Seite eine bestimmte Form des Kapitals oder der Wirtschaft oder der Produktion oder der Gemeinschaft. Die zweite Seite wird als Zerstörung des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Überlebens der Nation dargestellt. Unter digitalem Faschismus versteht man die Online-Kommunikation des Faschismus sowie die Nutzung digitaler Technologien durch faschistische Gruppen und Individuen als Informations-, Kommunikations- und Organisationsmittel. Faschismus ist eine besondere und terroristische Form des rechten Autoritarismus, der darauf abzielt, identifizierte Feinde mit Gewalt, Terror und Krieg zu töten. Digitaler Faschismus bedeutet, dass Faschist: innen digitale Technologien wie Computer, Internet, Mobiltelefone, Apps und soziale Medien nutzen, um (a) intern zu kommunizieren und sich zu organisieren, so dass sie die Organisation faschistischer Praktiken koordinieren, und (b) in der Öffentlichkeit das Führerprinzip, den Nationalismus, das Freund-Feind-Schema und die Androhung von Gewalt zu kommunizieren. Digitale Technologien werden außerdem zur Propagierung von Gewalt, Militarismus, Terror, Krieg, Law and Order-Politik und der Ausrottung der konstruierten Feinde und Sündenböcke verwendet. Es wird versucht, Anhänger zu finden, zu mobilisieren und die konstruierten Feinde zu terrorisieren. Im digitalen Faschismus bedienen sich Faschist: innen digitaler Technologien, um Gewalt, Terror und Krieg als Mittel zur Errichtung einer faschistischen Gesellschaft zu fördern. Die faschistische Ideologie konstruiert Sündenböcke und versucht, die Menschen gegen die Sündenböcke aufzuhetzen. Zu den Sündenböcken, die die faschistische Ideologie konstruiert und gegen die sie online agitiert, gehören Immigrant: innen, Sozialist: innen, Liberale, Intellektuelle, Expert: innen und Demokrat: innen. Kritische Fragen über den digitalen Autoritarismus und den digitalen Faschismus Was bedeutet es also, im Kontext des digitalen Autoritarismus und des digitalen Faschismus kritische Fragen zu stellen? Hier sind einige Beispiele:  Was ist autoritärer Kapitalismus und warum ist er entstanden?  Was ist Faschismus und warum lebt er heute wieder auf ?  Wie prägt und beeinflusst der autoritäre Kapitalismus die Kommunikation von Autoritarismus und Nationalismus auf sozialen Medien?  Warum gibt es im gegenwärtigen Kapitalismus bestimmte rechte und faschistische Bewegungen, Parteien und Gruppen? <?page no="28"?> 28 1 Soziale Medien und Kritische Theorie  Was sind die politischen und wirtschaftlichen Interessen, die bestimmte Individuen, Bewegungen und Parteien durch die Kommunikation von Faschismus, Rassismus, Autoritarismus und Nationalismus auf sozialen Medien durchzusetzen versuchen?  Wie kommunizieren, repräsentieren und äußern rechte und faschistische Akteure Ideologie auf sozialen Medien und wie lenken sie dadurch die Aufmerksamkeit von den wahren Ursachen der gesellschaftlichen Probleme und von Klasse, Kapitalismus und Herrschaft ab?  Wie kommunizieren rechte und faschistische Akteure autoritäre Führung auf sozialen Medien? Wie setzt dieses ideologische Element partikularistische politischökonomische Interessen durch?  Wie kommunizieren rechte und faschistische Akteure Nationalismus auf sozialen Medien? Wie verstärkt Online-Nationalismus partikularistische politisch-ökonomische Interessen?  Wie kommunizieren rechte und faschistische Akteure Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auf sozialen Medien? Wie verstärkt Online-Rassismus partikularistische politisch-ökonomische Interessen?  Wie kommunizieren rechte und faschistische Akteure das Freund-Feind-Schema auf sozialen Medien? Wie verstärkt das Freund-Feind-Schema online partikularistische politisch-ökonomische Interessen?  Wie kommunizieren rechte und faschistische Akteure Gewalt, Militarismus und Law & Order-Politik auf sozialen Medien? Wie verstärkt die Kommunikation von Gewalt im Internet partikularistische politisch-ökonomische Interessen?  Wie kommunizieren rechte und faschistische Akteure patriarchalische Werte und Sexismus auf sozialen Medien? Wie verstärkt die Kommunikation von Sexismus im Internet partikularistische politisch-ökonomische Interessen?  Wie reagieren Nutzer: innen, die rechtsautoritäre und faschistische Ideologen teilen, auf Online-Ideologie? Warum glauben sie an rechte Vorurteile, Behauptungen und Ideologie?  Welche Rolle spielen kapitalistische Unternehmen im autoritären Kapitalismus, im Faschismus und in der Kommunikation des autoritären Kapitalismus?  Wie werden rechte und faschistische Ideologien auf sozialen Medien herausgefordert und in Frage gestellt?  Wie beurteilen antifaschistische, antirassistische, anti-nationalistische, humanistische und sozialistische Akteure, die sich rechten und faschistischen Ideologien entgegenstellen, die rechtsautoritäre und nationalistische Kommunikation auf sozialen Medien? Wie können solche Inhalte am besten in Frage gestellt werden? An welchen Praktiken sind solche Akteure beteiligt und wie stellen sie Nationalismus und Autoritarismus in Frage? Wie funktioniert antifaschistische Kommunikation? Wie kann sie Faschismus, Nationalismus und Autoritarismus am besten herausfordern?  Was sind die kommunikativen und Online-Aspekte antifaschistischer Kämpfe und wie funktionieren sie?  Welchen gesellschaftlichen und kommunikativen Rahmen brauchen wir, um den autoritären Kapitalismus, die rechtsextreme Ideologie und die Kommunikation des Autoritarismus im Internet und auf den sozialen Medien zu überwinden? Was sind <?page no="29"?> 1.3 Was ist die Kritische Theorie? 29 erste Schritte, die unternommen werden sollten, um Alternativen zur autoritären digitalen Kommunikation zu etablieren? Die Liste der Fragen ist beispielhaft und bei weitem nicht vollständig. Sie zeigt, dass viele kritische Fragen über soziale Medien gestellt werden können und gestellt werden müssen. Kritisch über die Gesellschaft und die Medien nachzudenken, hat zum Ziel, Gesellschafts- und Medienstrukturen zu schaffen, durch die alle Menschen Vorteile haben. 1.3 Was ist die Kritische Theorie? Die Kritische Theorie ist eine spezifische Form des kritischen Denkens. Warum ist sie für das Verständnis von Computertechnologien relevant? Die Geschichte der Kommunikations- und Transporttechnologien ist keine Geschichte von linearem Fortschritt. Obwohl viele Menschen heute von der Nutzung von Büchern, Telefonen, Zügen, Autos, Fernsehen, Radio, Computern, Internet oder Mobiltelefonen Vorteile haben, ist die Geschichte dieser Technologien tief in die Geschichte von Kapitalismus, Kolonialismus, Kriegsführung, Ausbeutung und Ungleichheit eingebettet. Winseck und Pike (2007) zeigen am Beispiel der globalen Expansion von Kabel- und Mobilfunkunternehmen (wie Western Union, Commercial Cable Company, Atlantic Telegraph Company oder Marconi) in den Jahren 1860-1930, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Kommunikation, Globalisierung und Kapitalismus gab. Edwin Black (2001) hat in seinem Buch IBM and the Holocaust gezeigt, dass International Business Machines (IBM) durch den Verkauf von Lochkartensystemen an die Nazis diese bei ihrem Versuch unterstützte, Juden und Jüdinnen, ethnischen Minderheiten, Kommunist: innen, Sozialist: innen, Homosexuelle, Behinderte und andere zu vernichten. Die Nazis nutzten diese Systeme für die Nummerierung der Opfer, um zu speichern, wohin sie gebracht werden sollten und was mit ihnen geschehen sollte. Das Lochkartensystem war notwendig für den Transport der Opfer des Nazi-Faschismus in Vernichtungslager wie Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau, Majdanek, Mauthausen, Ravensbrück oder Sachsenhausen. IBM machte aus dem Massenmord ein internationales Geschäft, indem das Unternehmen Profit aus dem Verkauf von Datenverarbeitungsmaschinen an die Nazis erzielte. Die Lochkarten enthielten Informationen darüber, wohin ein Opfer deportiert werden sollte, welche Art von Opfer es war ( Jude, Homosexueller, Deserteur, Kriegsgefangener usw.) und seinen Status. Code-Status 6 war die „Sonderbehandlung“, was den Tod in der Gaskammer bedeutete. Black hat gezeigt, dass das System von IBM geliefert und gewartet wurde und dass IBM New York und der deutsche Nazi-Staat Mietverträge abgeschlossen hatten. Black (2001, 9) sagt, dass es eine „bewusste Beteiligung ‒ direkt und über ihre Tochtergesellschaften - von IBM am Holocaust sowie [...] an der Nazi-Kriegsmaschinerie, die Millionen andere in ganz Europa ermordet hat“, gegeben habe. Der Computer und das Internet haben ihren Ursprung im militärisch-industriellen Komplex und wurden später kommerzialisiert. Beide dienten zunächst dem Kriegsinteresse, bevor die Unternehmen die Profitabilität dieser Technologien entdeckten. Die Beispiele zeigen, dass kapitalistische, militärische oder staatliche Interessen oft über dem kommunikativen Interesse der Menschen stehen. Diesem Buch liegt die Sorge um die menschlichen Interessen und um die Überwindung der globalen Probleme der Gesellschaft zugrunde. Wir leben in turbulenten <?page no="30"?> 30 1 Soziale Medien und Kritische Theorie Zeiten, die geprägt sind von Kriegen, geopolitischen Rivalitäten, einer stark polarisierte Weltpolitik, das Aufkommen neuer Formen des Faschismus und neuer Nationalismen, weltweiter Ungleichheit, Weltwirtschaftskrise, einer globalen ökologischen Krise, Naturkatastrophen, Pandemien und Gesundheitskrisen, Terrorismus, hoher Arbeitslosigkeit, prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen, steigender Armut usw. Können in dieser Situation alle Menschen Vorteile von sozialen Medien haben? Oder ist es wahrscheinlich, dass nur einige auf Kosten der anderen profitieren? In diesem Buch stelle ich Fragen über Ausbeutung, Herrschaft, Macht und (Un-)Gleichheit in der heutigen Gesellschaft. Ich möchte betonen, dass es wichtig ist, sich darum zu bemühen, die Ungleichheit zu verringern und eine faire, gerechte und auf Gleichheit und Solidarität basierende Gesellschaft zu schaffen, in der alle Vorteile haben und ein gutes Leben führen. Das Buch basiert auf der normativen Annahme, dass wir eine Gesellschaft und soziale Medien brauchen, von denen nicht nur einige von uns profitieren, sondern durch die wir alle Vorteile haben. Dieses universelle Anliegen macht dieses Buch zu einem kritischen Buch. Deshalb hat es den Titel Soziale Medien und Kritsche Theorie: Eine Einführung . Kritische Theorie ist vor allem mit einem Namen verbunden: Karl Marx. Du willst, dass ich Karl Marx lese? Bist du verrückt? Warum sollte ich das tun? Karl Marx braucht keine große Vorstellung. Er war ein gründlicher Theoretiker und scharfer Kritiker des Kapitalismus, ein öffentlicher Intellektueller, ein kritischer Journalist, ein Polemiker, ein Philosoph, Wirtschaftswissenschaftler, Soziologe, Politologe, Historiker, Hegelianer, Autor (zusammen mit Friedrich Engels) des Manifests der Kommunistischen Partei (Marx und Engels 1848) und von Das Kapital (Marx 1867, 1885, 1894), ein Führer des Bunds der Kommunisten und der Internationalen Arbeiterassoziation und einer der einflussreichsten politischen Denker des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Aber war Marx nicht für die Schrecken von Stalin und der Sowjetunion verantwortlich? Marx lebte nicht in den 1930er Jahren, als Stalin Schauprozesse organisierte und seine Gegner tötete. Man kann Marx also nicht wirklich die Schuld für das geben, was mehr als 50 Jahre nach seinem Tod geschah. Darüber hinaus befasste sich Marx in vielen seiner Schriften mit dem Humanismus und einer demokratischen Form des Sozialismus, während Stalin und seine Anhänger keine Humanisten waren (für eine gründliche Diskussion darüber, warum Vorurteile gegen Marx falsch sind, siehe Eagleton 2018). Die kapitalistische Krise, die 2008 begann, hat deutlich gemacht, dass zwischen Arm und Reich, Besitzern und Nicht-Eigentümern des Kapitals große Unterschiede bestehen und dass es große Probleme des Kapitalismus gibt. Die Occupy-Bewegung hat Klasse zu einem wichtigen Thema gemacht. Occupy Wall Street argumentiert, dass es eine „zerstörende Macht der Großbanken und multinationalen Konzerne über den demokratischen Prozess“ gibt und dass „die Rolle der Wall Street bei der Schaffung eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs [...] die größte Rezession seit Generationen verursacht hat“ 6 . In vielen Teilen der Welt entstanden Occupy-Bewegungen. Anti-Austeritäts-Proteste wie 15-M in Spanien, die Bewegung der empörten Bürger: innen in Griechenland, UK Uncut, die People’s Assembly against Austerity, die neuen sozialistischen Bewegungen, die Leute wie Alexandria Ocasio-Cortez, Jeremy Corbyn und Bernie Sanders unterstützen, die Anti-Austeritäts-Studentenproteste 2015 in Montreal und zeitgenössische Arbeiterproteste in China und anderen Ländern, die bessere Ar- 6 http: / / occupywallst.org/ about/ , abgerufen am 9. Oktober 2023. <?page no="31"?> 1.3 Was ist die Kritische Theorie? 31 beitsbedingungen fordern, Umweltproteste wie Extinction Rebellion, die die Verbundenheit des Kapitalismus mit der Zerstörung der Natur betonen, usw. haben die Grenzen des Kapitalismus aufgezeigt. Solche Entwicklungen sind mit einem verstärkten Interesse an den Werken von Karl Marx einhergegangen, die im 21. Jahrhundert sehr aktuell bleiben, weil der Kapitalismus Krisen und Ungleichheiten schafft. Aber ist Marx nicht ein Denker des neunzehnten Jahrhunderts? Warum sollte ich ihn lesen, wenn ich soziale Medien verstehen will? Offensichtlich hat Marx nicht Facebook benutzt. Warum sollte ich mich also heute für seine Werke interessieren? Du sagst also, dass Marx das Internet erfunden hat? Bist du deppert? Einige Kommunikationswissenschaftler: innen haben gesagt, dass Marx sich nie zu vernetzten Medien geäußert hat oder dass sein Ansatz veraltet und daher für die Analyse zeitgenössischer Medien und Kommunikation ungeeignet ist. Marx diskutierte die Auswirkungen des Telegraphen auf die Globalisierung von Handel, Produktion und Gesellschaft, war einer der ersten Philosophen und Techniksoziologen der modernen Gesellschaft, nahm die Rolle der Wissensarbeit und den Aufstieg der Informationsgesellschaft vorweg und war selbst ein kritischer Journalist (siehe Fuchs 2021). Dies zeigt, dass jemand, dem die Analyse von Medien und Kommunikation am Herzen liegt, viele Gründe hat, sich mit Marx auseinanderzusetzen. Marx betonte die Bedeutung des Begriffs des Sozialen und des Gesellschaftlichen: Er hob hervor, dass Phänomene in der Gesellschaft (wie Geld oder Märkte und heute das Internet, Facebook, Twitter usw.) nicht einfach existieren, sondern das Ergebnis sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Verhältnisse zwischen Menschen sind. Sie existieren nicht automatisch, nicht für immer und nicht notwendigerweise, da die Menschen die Gesellschaft verändern können. Deshalb sind die Gesellschaft und die Medien offen für Veränderungen und beinhalten die Möglichkeit einer besseren Zukunft. Wenn wir verstehen wollen, was das Soziale an sozialen Medien ist, dann kann uns die Lektüre von Marx dabei sehr helfen. Die Grundrisse sind eine Vorarbeit von Karl Marx zu seinem Hauptwerk Das Kapital . In den Grundrissen beschreibt Marx ein globales Informationsnetzwerk. Dieses Netzwerk hat die Eigenschaft, dass „jeder einzelne […] Auskunft über die Tätigkeit aller anderen verschafft“ und dass „Verhältnisse und Verbindungen“ zwischen den Menschen hergestellt werden (Marx 1857/ 1858, 94). Eine solche Beschreibung klingt nicht nur wie eine Vorwegnahme des Internets, sie ist auch ein Hinweis darauf, dass das Denken von Marx für die Medien-/ Kommunikationswissenschaft und die Erforschung des Internets und der sozialen Medien relevant ist. Diese Passage in den Grundrissen ist ein Hinweis darauf, dass, obwohl das Internet als Technologie ein Produkt des Kalten Krieges und der kalifornischen Gegenkultur war, Marx dessen Konzept bereits im neunzehnten Jahrhundert vorweggenommen hat. Karl Marx erfand das Internet! Was ist kritische Theorie? Wir können sechs Dimensionen der kritischen Theorie identifizieren: 1. kritische Ethik; 2. die Kritik von Herrschaft und Ausbeutung; 3. die dialektische Vernunft; 4. gesellschaftliche Kämpfe und politische Praxis; 5. Ideologiekritik; 6. Kritik der politischen Ökonomie. <?page no="32"?> 32 1 Soziale Medien und Kritische Theorie 1: Kritische Theorie hat eine normative Dimension Die kritische Theorie misst „die einzelne Existenz am Wesen“ (Marx 1844a, 326). Das bedeutet, dass die kritische Theorie normativ und realistisch ist, sie argumentiert, dass es möglich ist, vernünftig begründete Argumente darüber zu liefern, was eine gute Gesellschaft ist, dass sich die gute Gesellschaft auf Bedingungen bezieht, die alle Menschen zum Überleben benötigen (das Wesen des Menschen und der Gesellschaft) und dass wir bestehende Gesellschaften danach beurteilen können, inwieweit sie menschenwürdige Bedingungen bieten oder nicht bieten. 2: Die kritische Theorie ist eine Kritik von Herrschaft und Ausbeutung Kritische Theorie hinterfragt alle Gedanken und Praktiken, die Herrschaft und Ausbeutung rechtfertigen oder aufrechterhalten. Beherrschung bedeutet, dass eine Gruppe auf Kosten der anderen profitiert und über Mittel der Gewalt und Repression verfügt, die sie zur Aufrechterhaltung der Situation einsetzen kann, in der die eine Gruppe auf Kosten der anderen profitiert. Ausbeutung ist eine spezifische Form der Beherrschung, bei der eine Gruppe das Eigentum kontrolliert und über die Mittel verfügt, andere zur Arbeit zu zwingen, damit sie Güter oder Eigentum produzieren, die sie nicht selbst besitzen, sondern die von der besitzenden Klasse kontrolliert werden. Ein Beispiel dafür ist ein Sklavenbesitzer, der einen Sklaven als Eigentum sowie alle Produkte besitzt, die der Sklave herstellt. Es ist ihm sogar erlaubt, den Sklaven zu töten, wenn sich dieser weigert, zu arbeiten. Ein anderes Beispiel ist Facebook Inc., ein Unternehmen, das von privaten Aktionären kontrolliert wird, denen die Facebook-Plattform gehört. Seit Oktober 2021 lautet der Name des Unternehmens Meta Platforms, Inc. Die Benutzer: innen von Facebook erzeugen immer dann, wenn sie online sind, Daten, die sich auf ihre Profile und ihr Online-Verhalten beziehen. Diese Daten, die Aufmerksamkeit der Nutzer: innen und ihre Profile werden benutzt, um Werbeflächen zu erstellen. Diese Werbeflächen werden an Facebook’s Werbekunden verkauft, die damit in die Lage versetzt werden, personalisierte Werbung auf den Profilen der Nutzer: innen zu präsentieren. Ohne die Facebook-Nutzer: innen gäbe es keinen Profit des Unternehmens. Man kann also sagen, dass die Nutzer: innen den monetären Wert und Profit von Facebook schaffen. Aber sie sind nicht Eigentümer dieses Gewinns, der vielmehr von den Aktionären von Facebook kontrolliert wird. Also werden auch die Facebook-Nutzer: innen ausgebeutet. Marx formulierte den kategorischen Imperativ der kritischen Theorie, „alle Verhältnisse umzuwerfen , in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx 1843b, 385). Die kritische Theorie will zeigen, dass ein gutes Leben für alle möglich ist und dass Beherrschung und Ausbeutung den Menschen vom Erreichen einer solchen Gesellschaft entfremden. Für Marx besteht die „ Aufgabe der Philosophie “ darin „die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven“ (Marx 1843b, 379). Bei der Dekonstruktion von Entfremdung, Herrschaft und Ausbeutung stellt die kritische Theorie auch Forderungen nach einer selbstbestimmten, partizipatorischen und gerechten Demokratie. Partizipative Demokratie ist eine Gesellschaft, in der alle Entscheidungen von den Betroffenen kollektiv gemacht werden, und alle Organisationen (Arbeitsplätze, Schulen, Städte, Politik usw.) von den Betroffenen kontrolliert werden. Eine solche Gesellschaft ist nicht nur eine politische Basisdemokratie, d.h. eine Gesellschaft, die von allen Menschen kontrolliert wird, sondern auch eine Wirtschaftsdemokratie, in der die Produzenten den Produktionsprozess und die Produktionsmittel und Resultate der Produktion kontrollieren. Die kritische Theorie <?page no="33"?> 1.3 Was ist die Kritische Theorie? 33 will der Welt ihre eigenen Möglichkeiten bewusst machen. Die Welt besitzt „längst den Traum von einer Sache“, von der sie „nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen“ (Marx 1843a, 346). 3: Die kritische Theorie verwendet dialektisches Denken als Analysemethode Die dialektische Vernunft ist eine philosophische Methode zum Verständnis der Welt. Die dialektische Methode identifiziert Widersprüche. Widersprüche sind „die Springquelle aller Dialektik“ (Marx 1867, 623). Die Dialektik versucht zu zeigen, wie die heutige Gesellschaft und ihre Momente von Widersprüchen geprägt sind. Ein Widerspruch ist eine Spannung zwischen zwei Polen, die sich gegenseitig bedingen, aber gegensätzliche Eigenschaften haben. Grundlegende Widersprüche sind z.B. jene zwischen Sein und Nichts sowie zwischen Leben und Tod: Alle Dinge haben einen Anfang und ein Ende. Das Ende einer Sache lässt eine neue Sache entstehen. So führte zum Beispiel der Prozess der Musikindustrie gegen die Filesharing-Plattform Napster zum Ende von Napster, aber nicht zum Ende der Filesharing-Technologie, wie der Aufstieg verwandter Technologien wie Kazaa, Napster, BitTorrent und der Plattform PirateBay gezeigt hat. Später kam es dann zum Aufstieg der Streaming-Plattformen wie Spotify oder Netflix. Widersprüche führen zu dem Umstand, dass die Gesellschaft dynamisch ist und der Kapitalismus die Kontinuität von Herrschaft und Ausbeutung sichert, indem er die Art und Weise verändert, wie diese Phänomene organisiert werden. Die dialektische Philosophie erachtet „jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite“ (Marx 1867, 28). Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft voller Widersprüche, weswegen Marx von der „widerspruchsvolle[n] Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft“ (Marx 1867, 28) spricht. In einem Widerspruch kann ein Pol der Dialektik nur existieren, weil es den Gegenpol gibt: Sie bedingen einander und schließen einander gleichzeitig aus. In einer herrschaftsförmigen Gesellschaft (wie dem Kapitalismus) verursachen Widersprüche Probleme und sind gewissermaßen auch der Keim für die Überwindung dieser Probleme. Sie haben gleichzeitig positive Potentiale und negative Realitäten. Marx analysierte die Widersprüche des Kapitalismus, darunter auch die folgenden: Nicht-Eigentümer/ Eigentümer, Arme/ Reiche, Elend/ Reichtum, Arbeiter/ Kapitalisten, Gebrauchswert/ Tauschwert, konkrete Arbeit/ abstrakte Arbeit, einfache Wertform/ relative und entfaltete Wertform, gesellschaftliche Beziehungen der Menschen/ Verhältnisse von Dingen, der Fetisch der Fetischismus der Waren und des Geldes/ fetischistisches Denken, die Zirkulation der Waren/ die Zirkulation des Geldes, Waren/ Geld, Arbeitskraft/ Löhne, Subjekt/ Objekt, Arbeitsprozess/ Verwertungsprozess, Subjekt der Arbeit (Arbeitskraft, Arbeiter)/ Objekt der Arbeit (die Produktionsmittel), variables Kapital/ konstantes Kapital, Mehrarbeit/ Mehrprodukt, notwendige Arbeitszeit/ Mehrarbeitszeit, einzelner Arbeiter/ Kooperation, einzelnes Unternehmen/ Industriezweig, einzelnes Kapital/ konkurrierende Kapitalien, Produktion/ Konsum, Produktivkräfte/ Produktionsverhältnisse usw. Die Spannung zwischen den gegensätzlichen Polen kann durch einen Prozess aufgelöst werden, den Hegel und Marx „Aufhebung“ und „Negation der Negation“ nannten. Die Aufhebung ist ein schwieriges Konzept, das uns hilft, zu verstehen, wie Veränderung geschieht. Es kann zum Beispiel verwendet werden, um zu erklären, was an der zeitgenössischen Form der sozialen Medien neu und alt ist. Der deutsche Philosoph <?page no="34"?> 34 1 Soziale Medien und Kritische Theorie Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) führte dieses Konzept ein (siehe Hegel 1830). Der Begriff der Aufhebung ist schwierig, weil seine Bedeutung nicht intuitiv klar ist. Dies hat damit zu tun, dass der Begriff drei Bedeutungen hat: (a) Eliminierung, (b) Bewahrung und (c) Höherheben/ etwas auf eine neue Stufe heben. Hegel benutzte den Begriff der Aufhebung als Sprachspiel, um auszudrücken, dass die Aufhebung von etwas bedeutet, dass (a) der gegenwärtige Zustand beseitigt wird, (b) einige Aspekte des alten Zustandes im neuen Zustand erhalten bleiben und (c) eine neue Qualität im neuen Zustand des betrachteten Phänomens entsteht. Marx wandte das Konzept der Aufhebung auf die Gesellschaft an, um zu erklären, wie sie sich verändert. Nehmen Sie das Beispiel von Facebook. Es ist eine Weiterentwicklung früherer Internet-Plattformen: (a) Eliminierung: Facebook beseitigte die Vorherrschaft anderer Internet-Technologien, wie zum Beispiel Gästebücher auf Web-Seiten. Heutzutage ist es viel verbreiteter, dass Benutzer an die Walls ihrer Facebook-Freunde schreiben. (b) Bewahrung: Das Gästebuch ist auch aber auch bei Facebook erhalten geblieben: die Facebook-Wall ist eine Art Gästebuch. (c) Höherheben: Facebook ist mehr als nur ein Gästebuch zum Kommentieren. Es umfasst auch Funktionen wie E-Mail, das Teilen von Fotos und Videos, Diskussionsforen, Fanseiten und die Freundesliste. Marx befasste sich mit den dialektischen Verhältnissen in der Gesellschaft. So gibt es zum Beispiel ein dialektisches Verhältnis von Arbeitskraft und Lohn: die Arbeitskraft ist die Fähigkeit zu arbeiten; Arbeit ist die Umwandlung der Natur durch menschliche Tätigkeiten, sodass Güter entstehen. Im Kapitalismus ist ein großer Teil der Arbeitskraft als Lohnarbeit organisiert. Löhne existieren also nur im Verhältnis zur Arbeitskraft (zur Bezahlung der Arbeitskraft), und der Kapitalismus zwingt die Arbeiter: innen, Löhne zu verdienen, um Geld für den Kauf von Gütern zu haben. Arbeit und Lohn können im Kapitalismus nicht ohneeinander existieren. Die Arbeiter: innen haben jedoch nicht die Macht, ihre Löhne zu bestimmen. Marx (1867) argumentierte, dass die Macht der Eigentümer von Firmen, die Arbeiter: innen beschäftigen, dazu führt, dass sie nur einen Teil der von der Arbeit geleisteten Arbeit bezahlen, nämlich nur eine bestimmte Anzahl von Stunden pro Tag, während der andere Teil unbezahlt ist. Die Arbeit, die unbezahlt geleistet wird, wird als Mehrarbeit und die unbezahlte Arbeitszeit (gemessen in Stunden) als Mehrwert bezeichnet. Mehrarbeit ist eine spezifische Form der Arbeit, die sich aus dem Verhältnis von Arbeitskraft und Lohn im Kapitalismus ergibt. Die Produktion von Mehrwert ist die Quelle des Profits. Wenn beispielsweise die Beschäftigten in einem Unternehmen Waren herstellen, die für 10.000 € verkauft werden, ihr Lohn aber nur 5.000 € beträgt, dann gibt es eine unbezahlte Mehrarbeit, die einen Profit/ Mehrwert von 5.000 € produziert hat. Marx hält die unbezahlte Produktion von Mehrwert durch die Arbeiter: innen und die Aneignung dieses Wertes durch <?page no="35"?> 1.3 Was ist die Kritische Theorie? 35 die Kapitalisten für den größten Skandal und die größte Ungerechtigkeit des Kapitalismus. Er argumentiert daher, dass es eine Klassenbeziehung (widersprüchliche Interessen) zwischen Arbeiter: innen und Kapitalist: innen gibt. Das Klassenverhältnis des Kapitalismus ist ein weiterer dialektischer Widerspruch. Marx sagt, dass seine Aufhebung innerhalb des Kapitalismus nicht möglich ist, sondern dass es notwendig ist, diese Art von Gesellschaft zu überwinden und eine neue Gesellschaft aufzubauen. Wir werden in Kapitel 4 auf das Konzept des Mehrwerts zurückkommen. Es gibt Widersprüche im Kapitalismus, die hartnäckig sind und nicht häufig aufgehoben werden. Sie sind der Kern des menschlichen Elends im Kapitalismus. Ihre Aufhebung kann nur durch Klassenkämpfe erreicht werden und bedeutet das Ende des Kapitalismus. Dies sind insbesondere die Widersprüche zwischen Produktivkräften/ Produktionsverhältnissen, Besitzern/ Nicht-Eigentümern, Armen/ Reichen, Elend/ Reichtum, Arbeit/ Kapital, beherrschten Gruppen/ Unterdrückern. Der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen wird in Krisensituationen teilweise aufgehoben, stellt sich in der Krise aber wieder her. Die wahre Aufhebung dieses Antagonismus kann für Marx nur durch das Verschwinden des Kapitalismus erreicht werden. Ein grundlegender Widerspruch des Kapitalismus ist der Widerspruch zwischen der besitzenden Klasse und der von der besitzenden Klasse ausgebeuteten nicht-besitzenden Klasse. Das Ziel der kritischen Theorie ist die Vertretung der Interessen der unterdrückten und ausgebeuteten Gruppen und die Überwindung der Klassengesellschaft. Die Kritik des Kapitalismus muss „die Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist - das Proletariat“ (Marx 1867, 22). Die Kritik des Kapitalismus und der Klassengesellschaften entwickelt „der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien“ (Marx 1843a, 345). Das dialektische Denken argumentiert, dass sich die Grundlagen einer klassenlosen Gesellschaft bereits innerhalb des Kapitalismus entwickeln; dass der Kapitalismus einerseits neue Formen der Kooperation hervorbringt, die andererseits innerhalb der Klassenverhältnisse aber Formen der Ausbeutung und Herrschaft sind. Im Kapitalismus sind die Produktivkräfte gleichzeitig Destruktionskräfte, mit denen die Ausbeutung der Menschen und die Zerstörung der Natur organisiert werden. 4: Die kritische Theorie steht im Zusammenhang mit dem Kampf für eine gerechte und faire Gesellschaft: Sie ist eine intellektuelle Dimension des Konflikts Die Kritik des Kapitalismus und der Klassengesellschaft ist die Basis einer „Selbstverständigung […] der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche“ (Marx 1843a 346). Sie verdeutlicht der unterdrückten Klasse, „warum sie eigentlich kämpft“ und unterstützt dabei die „wirkliche[n] Kämpfe“ (Marx 1843a, 345). Das bedeutet, dass kritische Theorie helfen kann, die Ursachen, Bedingungen, Potenziale und Grenzen von Kämpfen zu erklären. Die kritische Theorie weist das Argument zurück, dass Wissenschaft wertfrei sein soll und kann. Sie argumentiert vielmehr, dass politische Weltanschauungen alle Gedanken und Theorien prägen. Es gibt zutiefst politische Gründe, warum sich jemand für ein bestimmtes Thema interessiert, sich auf eine bestimmte Denkschule bezieht, eine bestimmte Theorie entwickelt und nicht eine andere, sich auf bestimmte Autor: innen beziehen und nicht auf andere. All das hat damit zu tun, dass die moderne Gesellschaft von Interessenskonflikten geprägt ist. Deshalb müssen Wissen- <?page no="36"?> 36 1 Soziale Medien und Kritische Theorie schaftler: innen im Kapitalismus, um zu überleben und sich durchzusetzen, Entscheidungen treffen, strategische Allianzen eingehen und ihre Positionen gegen andere verteidigen. Kritische Theorie vertritt nicht nur die Auffassung, dass jede Theorie politisch ist, sondern auch, dass die kritische Theorie Analysen der Gesellschaft entwickeln sollte, die gegen Interessen und Ideen ankämpfen, die Herrschaft und Ausbeutung rechtfertigen. 5: Ideologiekritik: Kritische Theorie ist Ideologiekritik Ideologien sind Praktiken und Denkweisen, die Aspekte der menschlichen Existenz, insbesondere solche, die mit Herrschaft zu tun haben, die historisch und veränderlich sind, als ewig und unveränderlich darstellen. Im Kapital argumentierte Marx, dass der Kapitalismus von Natur aus ideologisch ist, weil in ihm gesellschaftliche Beziehungen dazu neigen, als Dinge wie Geld und auf Märkten verkaufte Waren zu erscheinen. Diese Dominanz der Dinge im Alltag erweckt den Eindruck, dass der Kapitalismus ein natürlicher Zustand ist, schon immer existiert hat und nicht verändert werden kann. Marx nannte dieses Phänomen den Fetischismus der Waren: Die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen den unmittelbaren Produzenten erscheinen im Kapitalismus „nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen“ (Marx 1867, 87). Die Ware ist ein eigenartiges Ding. Sie ist „vertrackt“ (Marx 1867, 85), „metaphysisch“ (85), „mystisch“ (85) und „geheimnisvoll“ (86). Die Ware ist ein „sinnlich-übersinnliches Ding“ (85). Der Kapitalismus stellt die Welt „auf den Kopf“ (85). Diese verkehrte Welt wird durch den Fetischcharakter der Ware, des Geldes und des Kapitals legitimiert. Viele Ideologien sind eine Form von Fetischismus: Sie lassen soziale und gesellschaftliche Beziehungen als unveränderlich, fix und von statischen Gesetzen bestimmt erscheinen. Man kann zum Beispiel behaupten, dass es keine Alternative zu Facebook gibt und dass das Organisationsmodell von Facebook, bei dem personalisierte Werbung verkauft wird, die einzig mögliche Form einer Social-Networking-Plattform ist. Facebook ist so dominant und hat mehr als eine Milliarde Benutzer. Viele seiner Benutzer: innen haben mehrere hundert Kontakte. Es ist schwer vorstellbar, dass es eine Alternative zu Facebook geben könnte, da wir befürchten, die Möglichkeit der Kommunikation mit diesen Kontakten zu verlieren. Aber was wäre, wenn man all diese Kontakte auf eine andere Plattform importieren könnte, die keine komplexen Datenschutzrichtlinien hat, keine personalisierte Werbung verwendet und auf der alle Facebook-Kontakte verfügbar sind? Ideologien behaupten, dass die Umstände so sind, wie sie sind, und so bleiben, wie sie sind, dass sie also nicht verändert werden können. Sie sagen auch, dass alles schon immer so gewesen ist wie heute oder so sein muss. Marx hingegen argumentiert, dass alles in der Gesellschaft sozial und gesellschaftlich ist, was auch bedeutet, dass die Gesellschaft von Menschen gemacht wurde und wird und daher verändert werden kann und dass alle sozialen Phänomene einen Anfang und ein Ende haben. Ideologiekritik will uns daran erinnern, dass alles, was in der Gesellschaft existiert, von Menschen in sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen geschaffen wird und dass soziale und gesellschaftliche Verhältnisse verändert werden können. Ideologiekritik will „Fragen in die selbstbewusste menschliche Form“ (Marx 1843a, 346) bringen. Das bedeutet, dass Ideologiekritik den Menschen die Probleme, mit denen sie in der Gesellschaft konfrontiert sind, und die Ursachen dieser Probleme bewusst machen will. Argumente wie „Es gibt keine Alternative zu Kapitalismus, Neoliberalismus, <?page no="37"?> 1.4 Ansätze der Kritischen Theorie 37 Wettbewerb, Egoismus, Rassismus usw., weil der Mensch egoistisch, konkurrenzbetont usw. ist“, vergessen den sozialen und gesellschaftlichen Charakter der Gesellschaft und erwecken den Eindruck, dass die Ergebnisse gesellschaftlichen Handelns unveränderliche Dinge sind. Die Ideologiekritik ist eine „Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins“ (Marx 1843a, 346). 6: Kritische Theorie ist eine Kritik der Politischen Ökonomie Die kritische Theorie analysiert, wie Kapitalakkumulation, Verwertung des Werts und die Umwandlung von Aspekten der Gesellschaft in Waren (Kommodifizierung) funktionieren und worin die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise bestehen. Eine Ware ist ein Gut, das mit anderen Gütern in einem bestimmten quantitativen Verhältnis auf einem Markt ausgetauscht wird: x Menge der Ware A = y Menge der Ware B. „Wir werden also bei der Kritik der Nationalökonomie die Grundkategorien untersuchen, den durch das System der Handelsfreiheit hineingebrachten Widerspruch enthüllen und die Konsequenzen der beiden Seiten des Widerspruchs ziehen“ (Engels 1844, 502). Die Kritik der Politischen Ökonomie befasst sich damit, wie Ressourcen produziert, verteilt und konsumiert werden und welche Machtverhältnisse diese Ressourcen prägen. Bei diesen Ressourcen kann es sich um physische Produkte, wie etwa ein Auto, aber auch um nicht-physische Güter, wie etwa Information, handeln. Die Information, die auf Facebook hochgeladen wird, wird von den Nutzer: innen produziert, steht aber nicht in ihrem Besitz und unter ihrer Kontrolle: Facebook erhält das Recht, Daten über die hochgeladenen Informationen und das Nutzungsverhalten an andere Unternehmen zu verkaufen. Es kontrolliert die aus diesem Prozess erzielten Profite. Auch die Aufmerksamkeit hat im Internet ihre eigene politische Ökonomie: Nicht jeder hat die gleiche Macht, in den sozialen Medien gehört, gesehen und gelesen zu werden. Mächtige Akteure wie CNN oder die New York Times haben viel mehr Sichtbarkeit als ein einzelner politischer Blogger. George Orwell beschrieb ein Tierreich, in dem einige Tiere „gleicher sind als andere“ (Orwell 1945, 85). In kapitalistischen sozialen Medien wie Google, Facebook, Twitter und You-Tube sind einige Nutzer gleicher als andere. Dies bedeutet, dass es auf kapitalistischen sozialen Medien Ungleichheit gibt. Einige werden mehr gesehen als andere. Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie ist nicht nur eine Kritik an der Warenform. Sie ist auch eine Kritik des Warenfetischismus, d.h. der mit der kapitalistischen Gesellschaft verbundenen Ideologien, und eine intellektuelle Form des gesellschaftlichen Kampfes für eine faire, gerechte und partizipatorische Demokratie. 1.4 Ansätze der Kritischen Theorie Die Frankfurter Schule: Keine Wurst, sondern eine kritische Theorie Die Frankfurter Schule ist eine Tradition kritischen Denkens, die ihren Ursprung in den Werken von Leuten wie Herbert Marcuse, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hat (für Einführungen siehe Held 1980, Wiggershaus 1995). Alle sechs Dimensionen der Marxschen Theorie finden sich im Kritikverständnis der Frankfurter Schule. Deutlich wird dies zum Beispiel bei der Lektüre von Marcuses Aufsatz „Philosophie und kritische Theorie“ (Marcuse 1937), Horkheimers (1937) Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“, Marcuses (1936) Artikel „Zum Begriff des Wesens“ (Marcuse 1936) und des Abschnitts „Die Grundlagen der dialektischen Theorie der Gesellschaft“ in Marcuses Buch Vernunft und Revolution (Marcuse 1941, 229-282). Diese Texte sind eine <?page no="38"?> 38 1 Soziale Medien und Kritische Theorie gute Einführung in den Ansatz der Frankfurter Schule. Während mit „Kritischer Theorie“ oft der Ansatz der Frankfurter Schule gemeint ist, handelt es sich bei den Begriffen „kritische Theorie“ und „kritische Theorien“ um herrschaftskritische Ansätze in der Gesellschaftsforschung. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule ist ethisch . Sie hat „die Sorge um das Glück der Menschen” (Marcuse 1937, 632). Sie ist eine Kritik von Herrschaft und Ausbeutung . Sie geht davon aus, dass „der Mensch mehr sein kann als ein verwertbares Subjekt im Produktionsprozess der Klassengesellschaft” (Marcuse 1937, 644). Nancy Fraser argumentiert, dass „die kritische Theorie eine normative Dimension aufweisen sollte und dass diese mit einer Analyse der Strukturen und Prozesse verknüpft sein sollte, die systemische Ungerechtigkeiten in der kapitalistischen Gesellschaft erzeugen“ (Fraser und Jaeggi 2018, 172). Das Ziel der Frankfurter Schule ist die Transformation der Gesellschaft als Ganzem, sodass eine „Gesellschaft ohne Ausbeutung“ entsteht (Horkheimer 1937, 274). Wie Marx bedient sich die Frankfurter Schule der dialektischen Vernunft . Sie argumentiert, dass Konzepte, die die Existenz des Kapitalismus beschreiben (Profit, Mehrwert, Arbeiter, Kapital, Ware usw.), dialektisch sind, weil sie „die gegebene gesellschaftliche Wirklichkeit auf eine andere, in ihr tendenziell angelegte geschichtliche Gestalt hin“ (Marcuse 1937, 37) transzendieren. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule will fortschrittliche gesellschaftliche Kämpfe und politische Praxis informieren. „Der materialistische Protest und die materialistische Kritik erwachsen im Kampf der unterdrückten Gruppen um bessere Lebensverhältnisse und bleiben dauernd mit dem faktischen Verlauf dieses Kampfes verbunden” (Marcuse 1937, 636). Sie praktiziert Ideologiekritik , indem sie zu zeigen versucht, dass die zentralen Phänomene des Kapitalismus in vielen Darstellungen der Realität „den Menschen nicht unmittelbar als das erscheinen, was sie in ‚Wirklichkeit‘ sind“, sondern sich „vielmehr verdeckt, in einer ‚verkehrten‘ Form darstellen” (Marcuse 1936, 24). Die Frankfurter Schule gründet ihre Ideen auf Marx' Kritik der Politischen Ökonomie (Horkheimer 1937, 625). Jürgen Habermas baute seinen Ansatz auf der klassischen Frankfurter Schule auf und erarbeitete gleichzeitig das Konzept der kommunikativen Rationalität, mit dem er die über die klassische Tradition hinausging. Habermas (1981a) unterscheidet zwischen dem instrumentellen (erfolgsorientiert, nicht-sozial), dem strategischen (sozial, erfolgsorientiert) und dem kommunikativen Handeln (sozial, verständnisorientiert). Habermas (1973) begreift instrumentelles Handeln und kommunikatives Handeln als die beiden grundlegenden Aspekte sozialer Praxis. Kommunikation ist sicherlich ein wichtiger Aspekt einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Sie ist aber im Kapitalismus auch eine Form der Interaktion, bei der Ideologie mit Hilfe der Massenmedien an beherrschte Gruppen kommuniziert wird. Kommunikation ist nicht automatisch fortschrittlich. Habermas differenziert zwischen instrumenteller/ strategischer Vernunft und kommunikativer Vernunft, während Horkheimer zwischen instrumenteller Vernunft und kritischer Vernunft (Horkheimer 1947) und, darauf aufbauend, zwischen traditioneller und kritischer Theorie (Horkheimer 1967) unterscheidet. Habermas spaltet die Kommunikation von der Instrumentalität ab und vernachlässigt dabei, dass im Kapitalismus das herrschende System Kommunikation ebenso wie Technologie, Medien, Ideologie oder Arbeit als Instrument zur Verteidigung seiner Herrschaft einsetzt. Kommunikation ist nicht unberührt und rein, sondern in Klassengesellschaften von Herrschaftsstrukturen geprägt (zu den Grundlagen einer marxis- <?page no="39"?> 1.4 Ansätze der Kritischen Theorie 39 tisch-humanistischen Theorie der Kommunikation siehe Fuchs 2020a; für die Grundlagen des Ansatzes eines Radikalen Digitalen Humanismus, siehe Fuchs 2022c). Für Horkheimer (in Anlehnung an Marx) ist das Ziel der Kritischen Theorie die „Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen“ (Horkheimer 1937, 626) und „das Glück aller Individuen“ (628). Horkheimer hat die Emanzipation der Kommunikation ebenso im Blick wie die Emanzipation von Kapital, Arbeit, Entscheidungsfindung und Alltag. Seine Vorstellung von kritischer Rationalität ist breiter als Habermas‘ Vorstellung von kommunikativer Rationalität, die Gefahr läuft, von unkritischen Ansätzen aufgeweicht zu werden, die Habermas‘ Betonung der Kommunikation für instrumentale Zwecke nutzen. Das Konzept der Kommunikation kann kritisch sein, ist es aber nicht notwendigerweise, während das Konzept einer Kritik der Ausbeutung und Herrschaft notwendigerweise kritisch ist. Die Kritik der Politischen Ökonomie der Medien und Kommunikation: die kritische Auseinandersetzung mit Medien und Kommunikation In seiner wichtigen Einführung in das Gebiet definiert Vincent Mosco die Politische Ökonomie der Kommunikation als „Untersuchung der sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere der Machtverhältnisse, die wechselseitig die Produktion, die Verteilung und den Konsum von Ressourcen, einschließlich der Kommunikationsressourcen, ausmachen“ (Mosco 2009, 2). Die Marxsche Politische Ökonomie der Kommunikation dezentriert die Medien, indem sie „die Analyse des Kapitalismus in den Vordergrund stellt, einschließlich der Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, der Kommodifizierung und der Produktion von Mehrwert, der Spaltungen und Kämpfe der sozialen Klassen, der Widersprüche und der oppositionellen Bewegungen“ (Mosco 2009, 94). Graham Murdock und Peter Golding (2005) argumentieren, dass die Kritische Politische Ökonomie der Kommunikation „das Wechselspiel zwischen der symbolischen und der ökonomischen Dimension der öffentlichen Kommunikation“ (60) analysiert und „wie das Machen und Nehmen von Bedeutung auf jeder Ebene durch die strukturierten Asymmetrien in den gesellschaftlichen Verhältnissen geformt wird“ (62). Mein Buch Grundlagen der Medienökonomie: Medien, Wirtschaft und Gesellschaft (Fuchs 2023c; englische Version: Media, Economy and Society: A Critical Introduction, Fuchs 2024) gibt eine Einführung in den Ansatz der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien (siehe auch Knoche 2024). Es versteht diesen Ansatz wie folgt: „Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien ist ein Ansatz, der sich der Gesellschaftstheorie, der empirischen Sozialforschung und der Moralphilosophie bedient, um die Rollen der Kommunikation und der Kommunikationssysteme (Medien, Kommunikationstechnologien) in der Gesellschaft zu analysieren, insbesondere die Interaktion von Politik und Wirtschaft im Kontext von Medien und Kommunikation. Sie untersucht, wie die Interaktion von Kommunikation, Politik und Wirtschaft aussieht und welche Rollen diese Interaktion in der Gesellschaft spielt. Sie betrachtet das dialektische Verhältnis von Wirtschaft und Politik als den wichtigsten Faktor, der Kommunikation und Gesellschaft prägt. Ein wichtiger Schwerpunkt ist die Analyse der Produktion, der Distribution und des Konsums von Information im Kontext der Gesellschaft. Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien ist oft eine kritische Analyse der Art und Weise, wie Kommunikation und Kommunikationssysteme in der kapitalistischen Gesell- <?page no="40"?> 40 1 Soziale Medien und Kritische Theorie schaft arbeiten und organisiert sind und wie sie sich auf die Gesellschaft und das Leben der Menschen in der Gesellschaft auswirken und wie sie mit ihr interagieren. Diese kritische Analyse wird auch als Kritik der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien bezeichnet . Besonderes Augenmerk wird auf die Analyse der kapitalistischen Produktion von Information, der Kommunikationsarbeit, der Produktion, der Distribution und des Konsums von Informationen und Kommunikation(-ssystemen) als Waren, des Raums und der Zeit der Kommunikation, der Interaktion von Politik und Medienwirtschaft, der Ideologiekritik, der Kommunikation im Kontext von Klassen- und gesellschaftlichen Konflikten und der Alternativen zur kapitalistischen Kommunikation (nicht-kapitalistische Kommunikation(ssysteme)) gelegt” (Fuchs 2023c, 98-99). Die Kritik der Politischen Ökonomie der Sozialen Medien interessiert sich insbesondere für die Machtverhältnisse, die die Produktion, Verteilung und Nutzung von Informationen durch Plattformen wie Facebook, Google, YouTube, Weibo, QQ, Snapchat, Instagram, Twitch, TikTok, LinkedIn, Pinterest, Tumblr, Blogger/ Blogspot, Wordpress, Wikipedia, WikiLeaks, Youku, RenRen, Douban, Tudou, WeChat, Whats- App, Baidu, Vk, Reddit, Imgur etc. Die Kritik der Politischen Ökonomie der Kommunikation untersucht Medienkommunikation im Kontext von Machtverhältnissen und der Totalität sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie beschäftigt sich auch mit Moralphilosophie und Praxis (Mosco 2009, 2-5). Sie ist ganzheitlich, historisch, dem Gemeinwohl verpflichtet und widmet sich moralischen Fragen von Gerechtigkeit und Gleichheit (Murdock und Golding 2005, 61). Golding und Murdock (1997) nennen fünf Merkmale der kritischen politischen Ökonomie der Medien:  Fokus auf die Totalität;  Fokus auf Historizität;  realistische and materialistische Epistemologie;  moralische and philosophische Grundlagen;  Fokus auf die Analyse der Macht im Kulturbereich und des Verhältnisses von privater und öffentlicher Kontrolle der Kommunikationsmittel. Vincent Mosco sowie Graham Murdock und Peter Golding skizzieren sieben Prinzipien, die der Ansatz der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien bei der Analyse von Medienphänomenen in der Gesellschaft verwendet (Mosco 2009, 2-4, 26-36; Murdock und Golding 2005): 1) die Ware und die Kommodifizierung; 2) Raum (lokal, regional, national, international, global); 3) Strukturierung (Klasse, Geschlecht, Rassismus); 4) Geschichte; 5) gesellschaftliche Totalität; 6) Moralphilosophie; 7) Praxis. Die Politische Ökonomie der Kommunikation analysiert, wie Medien- und Kommunikationsphänomene als Waren funktionieren, die auf Märkten verkauft werden. Dazu gehört auch ein Blick auf nichtwarenförmige Formen von Medien und Kommunikation (wie z. B. öffentlich-rechtliche Medien, Information als Geschenk usw.). Der <?page no="41"?> 1.4 Ansätze der Kritischen Theorie 41 Ansatz untersucht, wie Medien und Kommunikation in Raum und Zeit organisiert sind, wie Herrschaftsstrukturen , insbesondere Klasse, Geschlecht und Rassismus, mit den Medien interagieren, wie die Geschichte der Gesellschaft und der Medien interagieren, wie die Gesellschaft als Ganzes (als Totalität ) die Medien formt und von ihnen geformt wird, welche moralischen Fragen wir in Bezug auf die Medien stellen müssen und wie Fragen der politischen Praxis im Zusammenhang mit den Medien von Bedeutung sind. In Kapitel 4 meines Buches Grundlagen der Medienökonomie: Medien, Wirtschaft und Gesellschaft (Fuchs 2023c, 2024) werden Dimensionen einer Kritik der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien aufgezeigt:  D1: die Produktion von Information,  D2: die Zirkulation von Information,  D3: der Konsum der Information,  D4: die Wechselwirkungen zwischen der Medien- und Kommunikationsökonomie und dem politischen System,  D5: die Wechselwirkungen zwischen der Medien- und Kommunikationsökonomie und dem kulturellen System, das die Ideologiekritik einschließt,  D6: die nichtkapitalistische Medien- und Kommunikationswirtschaft,  D7: die Medien- und Kommunikationsaspekte der Produktionsverhältnisse (Klassenverhältnisse und Machtverhältnisse),  D8: die kapitalistischen Produktivkräfte in der Medien- und Kommunikationsökonomie,  D9: die Produktionsmittel in der Medien- und Kommunikationsökonomie,  D10: die Arbeitskräfte in der Medien- und Kommunikationsökonomie,  D11: der Produktions- und Arbeitsprozess in der Medien- und Kommunikationsökonomie, das Wo, Wann und Wie der Produktion,  D12: die Produkte, die der Arbeitsprozess in der Medien- und Kommunikationsökonomie hervorbringt (Gebrauchswerte, Waren, Kapital, Profit). Wichtige Themen der Kritik der Politischen Ökonomie der Kommunikation sind Medienaktivismus; Medien und soziale Bewegungen; die Kommodifizierung von Medieninhalten, Medienpublikum und Kommunikationsarbeit; Kapitalakkumulationsmodelle der Medien; Medien und Öffentlichkeit; Kommunikation und Raum-Zeit; die Konzentration von Unternehmensmacht in der Kommunikationsindustrie; Medien und Globalisierung; Medien und Imperialismus; Medien und Kapitalismus; Medienpolitik und staatliche Regulierung der Medien; Kommunikation und soziale Klasse, Geschlecht, Rasse; Hegemonie; die Geschichte der Kommunikationsindustrien; Medienkommerzialisierung; Medienhomogenisierung/ Diversifizierung/ Multiplikation/ Integration; Medien und Werbung, Medienmacht, digitale Arbeit, digitaler Kapitalismus, Medienkonzentration, öffentlich-rechtliche Medien, öffentlich-rechtliches Internet, kritische Analysen des Medienmanagements, etc. (Fuchs 2023c, 2024; Garnham 1990, 1995/ 1998, 2000; Hardy 2010, 2014; Mosco 2009; Wasko 2004). Kritik der Politischen Ökonomie und die Frankfurter Schule sind zwei kritische Theorien, aber brauchen wir wirklich zwei davon? Es gibt Verbindungen zwischen der Kritik der Politischen Ökonomie und der Betonung der Ideologiekritik durch die Frankfurter Schule. Für Murdock und Golding <?page no="42"?> 42 1 Soziale Medien und Kritische Theorie (1973, 4) sind die Medien Organisationen, die „Waren produzieren und verteilen", die Mittel zur Verbreitung von Werbung sind, und sie haben auch eine „ideologische Dimension“, indem sie „Ideen über wirtschaftliche und politische Strukturen“ verbreiten. Die Ansätze der Frankfurter Schule und der Kritik der Politischen Ökonomie der Medien und Kommunikation sind als komplementär zu verstehen. Im Ansatz der Frankfurter Schule ist die Ideologiekritik aus historischen Gründen stärker in den Vordergrund gerückt. Für Horkheimer und Adorno (1947/ 1988) zeigten der Aufstieg des deutschen Faschismus, die stalinistische Praxis und der amerikanische Konsumkapitalismus die Niederlage der revolutionären Potentiale der Arbeiterklasse (Habermas 1981a). Sie wollten erklären, warum die deutsche Arbeiterklasse Hitler folgte, was ihr Interesse an der Analyse des autoritären Charakters und der Medienpropaganda weckte. Der anglo-amerikanische Ansatz der Politischen Ökonomie der Medien und Kommunikation wurde von Leuten wie Dallas Smythe und Herbert Schiller in Ländern entwickelt, in denen kein Faschismus herrschte, was einer der Faktoren sein könnte, der die Unterschiede in der Betonung von Ideologie und Kapitalakkumulation erklären. Während der nordamerikanische Kapitalismus auf einer rein liberalen Ideologie und einer starken Konsumkultur beruhte, baute der deutsche Kapitalismus nach 1945 auf dem Erbe des Nationalsozialismus und einer starken Beharrlichkeit autoritären Denkens auf. Horkheimers (1967) Begriff der instrumentellen Vernunft und Marcuses (1967) Begriff der technologischen Rationalität eröffnen Verbindungen zwischen den beiden Ansätzen. Horkheimer und Marcuse betonen, dass im Kapitalismus die Tendenz besteht, die Handlungsfreiheit durch eine instrumentelle Entscheidungsfindung des Kapitals und des Staates zu ersetzen, sodass vom Individuum erwartet wird, nur zu reagieren und nicht zu agieren. Beide Konzepte basieren auf Georg Lukács' (1923) Begriff der Verdinglichung, der eine Neuformulierung des Fetischismusbegriffes von Marx (1867) ist. Lukács charakterisiert die Verdinglichung folgendermaßen: „Das Wesen der Warenstruktur ist bereits oft hervorgehoben worden, es beruht darauf, dass ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit und auf diese Weise eine ‚gespenstige Gegenständlichkeit‘ erhält, die in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen Menschen verdeckt“ (Lukács 1923, 257). Kapitalistische Medien sind Verdinglichungsformen im doppelten Sinne: [1] Erstens reduzieren sie den Menschen auf den Status des Konsumenten von Werbung und Waren. Kultur ist im Kapitalismus zu einem großen Teil mit der Warenform verbunden: Es gibt kulturelle Waren, die von den Konsumenten gekauft werden, und Publikumswaren, zu denen die Medienkonsumenten selbst werden, indem sie als Publikum an die Werbekunden der kapitalistischen Medien verkauft werden (siehe die Debatte über die Kommodifizierung des Publikums: Murdock 1978; Smythe 1977). [2] Zweitens muss sich der Kapitalismus, um seine Existenz zu reproduzieren, als bestmögliches (oder einzig mögliches) System präsentieren und bedient sich der Medien, um zu versuchen, die Vorherrschaft dieser Botschaft (in all ihren differenzierten Formen) zu sichern. Die erste Dimension bildet die ökonomische Dimension der instrumentellen Vernunft, die zweite die ideologische Form der instrumentellen Vernunft. Die kapitalistischen Medien sind notwendigerweise ein Mittel der Werbung und Kommodifizierung und Räume der Ideologie. Werbung und kulturelle Kommodifizierung machen den <?page no="43"?> 1.4 Ansätze der Kritischen Theorie 43 Menschen zu einem Instrument der wirtschaftlichen Profitakkumulation. Ideologie zielt darauf ab, den Glauben an das System des Kapitals und der Waren in die Subjektivität des Menschen einzuflößen. Das Ziel ist, dass das menschliche Denken und das Handeln der Menschen nicht über den Kapitalismus hinausgehen, dieses System nicht in Frage stellen, sich nicht gegen dieses System auflehnen und dadurch die Rolle von Instrumenten für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus spielen. Es ist natürlich eine wichtige Frage, inwieweit Ideologie immer erfolgreich ist und inwieweit sie in Frage gestellt und bekämpft wird, aber der entscheidende Aspekt der Ideologie ist, dass sie Strategien und Versuche umfasst, menschliche Subjekte zu Instrumenten der Reproduktion von Herrschaft und Ausbeutung zu machen. Eine kritische Medien- und Technologietheorie analysiert „die Gesellschaft als Terrain von Herrschaft und Widerstand und übt Kritik an Herrschaft und an der Art und Weise, wie die Medienkultur Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse reproduziert“ (Kellner 1995, 4). Sie ist „von einer Herrschaftskritik und einer Befreiungstheorie geprägt“ (Kellner 1989, 1; vgl. Kellner 2009). Frankfurter Schule und Kritik der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien Sowohl die Kritische Theorie der Frankfurter Schule als auch die Kritik der Politischen Ökonomie der Medien und der Kommunikation haben Kritik an der Rolle der Medienkommunikation bei der Ausbeutung und als Mittel der Ideologie geübt und analysieren ihre Rollen als potenzielles Mittel der Befreiung und des Kampfes. Beide Traditionen sind wertvolle, wichtige und komplementäre Ansätze, um soziale Medien kritisch zu analysieren. Der in diesem Buch vorgestellte Ansatz basiert methodisch auf einer Kombination aus der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und der Kritik der Politischen Ökonomie der Medien/ Kommunikation/ Information/ Kultur (zu diesem Ansatz siehe auch Fuchs 2009a, 2011b, Knoche 2024). Marx entwickelte eine Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus, was bedeutet, sein Ansatz ist: (a) eine Analyse und Kritik des Kapitalismus; (b) eine Kritik der liberalen Ideologie, des liberalen Denkens und der liberalen Wissenschaft; (c) Teil der transformativen Praxis. Basierend auf der methodologischen Verbindung von Frankfurter Schule und Kritik der Politischen Ökonomie mit einem besonderen Interesse an Karl Marx' Werken und dialektischer Philosophie stellt dieses Buch eine Grundlagen einer kritischen Theorie sozialer Medien d.h. es skizziert die vorherrschenden Formen der Kapitalakkumulation sozialer Medien, die Klassenverhältnisse und Formen der Mehrwertverwertung, die diesen Kapitalakkumulationsmodellen zugrunde liegen, untersucht Ausbeutung und Herrschaft sowie deren Interaktion im Kontext von sozialen Medien und analysiert Ideologien im Kontext der kapitalistischen sozialen Medien sowie die Potenziale und Grenzen alternativer sozialer Medien und die Kämpfe für eine gerechte Gesellschaft, die gemeingutorientierte digitale Medien ermöglicht. „Philosophie ist in Wissenschaft als Kritik aufbewahrt“ (Habermas 1973, 86). Wenn wir eine kritische Analyse der sozialen Medien durchführen wollen, dann brauchen wir eine kritische Philosophie als Grundlage. Die Tradition, die auf Hegel und Marx zurückgeht, ist die am besten geeignete Tradition der kritischen Philosophie für ein <?page no="44"?> 44 1 Soziale Medien und Kritische Theorie solches Projekt. Die dialektische Philosophie bietet eine solide philosophische und theoretische Fundierung für die kritische Medien- und Kommunikationswissenschaft (Fuchs 2011b, Kapitel 2 und 3). Sie eignet sich gut, um dazu beizutragen, Dualismen im Bereich der kritischen Medien- und Kommunikationswissenschaft (wie etwa die Dualismen von Struktur und Handlung, Subjekt und Objekt, Vernunft und Erfahrung, Technologie und Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Pessimismus und Optimismus, Risiken und Chancen, Arbeit und Vergnügen/ Freude, Entfremdung und Selbstverwirklichung usw.) zu überbrücken und einseitige Ansätze zu vermeiden. Das Ziel der kritischen Theorie ist nicht bloß die „Vermehrung des Wissens“ (Horkheimer 193, 626). Die Aufgabe dieses Buches besteht daher nicht nur darin, neues Wissen über soziale Medien zu produzieren, sondern kritische Einsichten in die Potenziale und Grenzen von sozialen Medien zu ermöglichen, die in Kämpfe für eine gerechte Gesellschaft einfließen können. Kritische Theorie zielt ab auf „das Bewusstmachen der Möglichkeiten, zu denen die geschichtliche Situation selbst herangereift ist” (Marcuse 1937, 647). „Die Spannung zwischen dem Seinkönnenden und dem Daseienden, zwischen dem, was der Mensch und die Dinge sein können, und dem, was sie faktisch sind, ist einer der zentralen Hebel der Theorie” (Marcuse 1936, 23). Dieses Buch analysiert die Rolle der sozialen Medien im zeitgenössischen Kapitalismus und die Potentiale und Grenzen der Überwindung des kapitalistischen Charakters der sozialen Medien und für die Etablierung eines wirklich partizipativen Internets im Kontext einer partizipativen Demokratie. Die Wirtschaftstheorie wird zur kritischen Theorie durch die Einsicht, dass die natürliche Objektivität des Kapitalismus nur ein Schein ist und dass es sich um eine spezifische historische Existenzform handelt, die der Mensch sich selbst gegeben hat. Dieses Buch will zu der Einsicht beitragen, dass der kapitalistische Charakter der sozialen Medien, d.h. ihre Verankerung in Profitlogik, Warenlogik, (personalisierter) Werbung und ausgebeuteter Arbeit, keine Notwendigkeit, sondern eine historische Konsequenz der kommerziellen und kapitalistischen Organisation des Internets ist. Die Dekonstruktion des Anscheins der Notwendigkeit des kapitalistischen Charakters sozialer Medien will zur Bewusstseinsbildung über und zum Kampf für ein öffentliches, gemeingutbasiertes Internet beitragen. Empfohlene Literatur und Übungen Übung 1.1: Karl Marx‘ Kritische Theorie Sehen Sie sich das Video „Politische Theorie - Karl Marx“ an. Es ist zu finden unter http: / / www.openculture.com/ 2018/ 01/ a-short-animated-introduction-to-karlmarx.html, und https: / / www.youtube.com/ watch? v=fSQgCy_iIcc&t=81s Das Video gibt eine kurze Einführung in Marx’ Analyse des Kapitalismus. Nachdem Sie sich das Video angesehen haben, fragen Sie sich und diskutieren Sie:  In welcher Hinsicht ist Marx’ Analyse und Kritik des Kapitalismus im Zeitalter des Internets und der sozialen Medien relevant? Übung 1.2: Was bedeutet es, kritisch zu sein? Organisieren Sie eine Podiums- oder Gruppendiskussion zu folgendem Thema:  Was bedeutet es, kritisch zu sein? <?page no="45"?> 1.4 Ansätze der Kritischen Theorie 45 Der Sinn der Diskussion besteht darin, unterschiedliche Auffassungen davon zu skizzieren, was es bedeutet, kritisch zu sein. Niemand will „unkritisch“ sein oder als „unkritisch“ bezeichnet werden. Aber es besteht keine Einigkeit darüber, was es bedeutet, kritisch zu sein. Manche verstehen unter Kritik die Fähigkeit, sich eine unabhängige Meinung zu bilden. Andere argumentieren, dass Kritik bedeutet, eine skeptische Haltung gegenüber jeglichem Wissen einzunehmen. Andere meinen, Kritik bedeute die Infragestellung vorherrschender Meinungen in öffentlichen Debatten. Eine weitere Position ist, dass mit Kritik die Kritik der Gesellschaft, der Machtstrukturen, der Herrschaft und Ausbeutung und der Kampf für eine klassenlose Gesellschaft gemeint ist. Vergewissern Sie sich, dass in der Diskussion unterschiedliche Positionen vertreten sind und diskutieren Sie, was es bedeutet, kritisch zu sein. Die Aufgabe des Publikums besteht darin, sich an der Diskussion zu beteiligen und danach jeweils einen Blog-Beitrag über die Debatte und ihre verschiedenen Argumente zu schreiben. Veröffentlichen Sie diese Kommentare online (z.B. auf medium.com) und verbreiten Sie sie über soziale Medien. Versuchen Sie, auf der Grundlage der Blog-Beiträge und mit Hilfe von Hashtags wie #critique, #criticaltheory, #criticism, #kritik, #kritischetheorie, #marx, #karlmarx usw. eine Online- Diskussion darüber zu starten, was es bedeutet, kritisch zu sein. Übung 1.3: Kritische Theorie, das Internet und die sozialen Medien In der Medien- und Kommunikationswissenschaft hat das Interesse an der marxistischen politischen Ökonomie zu einigen wichtigen Publikationen geführt. Ich selbst habe zur marxistischen Medien- und Kommunikationswissenschaft in der Form einer Reihe von Büchern beigetragen. Marx heute. Eine Einführung in die kritische Theorie der Kommunikation, Kultur, digitalen Medien und des Internets (Fuchs 2021) ist eine studentenfreundliche Einführung in die Anwendung von Marx’ Analysen in den Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften. Die Kapitel sind so geschrieben, dass sie unabhängig voneinander gelesen werden können. Lesen Sie die folgenden Kapitel im Buch Marx heute . Wenn Sie die Möglichkeit zur Gruppenarbeit haben, dann können Einzelpersonen oder Gruppen den Inhalt einzelner Kapitel den anderen präsentieren: Christian Fuchs. 2021. Marx heute. Eine Einführung in die kritische Theorie der Kommunikation, Kultur, digitalen Medien und des Internets . München: UVK/ utb. Kapitel 4: Waren, Kapital, Kapitalismus Kapitel 5: Arbeit und Mehrwert Kapitel 7: Entfremdung Kapitel 9: Ideologie Kapitel 11: Klassenkämpfe Diskutieren Sie: Wie helfen uns die in diesen Kapiteln vorgestellten Konzepte dabei, soziale Medien und das Internet kritisch zu verstehen? Wie lassen sich diese Konzepte von Marx auf den Bereich der digitalen Kommunikation im Internet und auf den sozialen Medien anwenden? Übung 1.4: Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule Max Horkheimer 1937. Traditionelle und kritische Theorie. Zeitschrift für Sozialforschung 6 (2): 245-294. https: / / archive.org/ details/ ZeitschriftFrSozialforschung6.Jg <?page no="46"?> 46 1 Soziale Medien und Kritische Theorie Herbert Marcuse 1937. Philosophie und kritische Theorie. Zeitschrift für Sozialforschung Jahrgang 6 (3) : 625-647. https: / / archive.org/ details/ ZeitschriftFrSozialforschung6.Jg Diese beiden Artikel sind zwei Grundlagentexte der Frankfurter Schule. Sie versuchen zu erklären, was Kritische Theorie ist. Übungen  Jede Person im Klassenzimmer schreibt auf, wie sie „kritisch sein“ definiert. Vergleichen Sie die Antworten und machen Sie eine Liste, welche Elemente der Kritik identifiziert wurden.  Diskutieren Sie in Gruppen und vergleichen Sie die Ergebnisse: Wie definieren Horkheimer und Marcuse kritische Theorie? Was sind die wichtigen Elemente der kritischen Theorie?  Vergleichen Sie Ihre eigenen Definitionen von Kritik in der ersten Übung mit dem Verständnis von Horkheimer und Marcuse. Argumentieren Sie, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es gibt.  Diskutieren Sie: Was sind Ziele und Aufgaben einer kritischen Theorie des Internets und der sozialen Medien? Übung 1.5: Die ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Karl Marx Karl Marx 1844. Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In Marx Engels Werke (MEW) Band 40 , 465-588. Berlin: Dietz Verlag. Die ökonomisch-philosophischen Manuskripte sind eine der frühesten Arbeiten von Marx über Arbeit, Kapital, Privateigentum, entfremdete Arbeit und Kommunismus. Es gilt allgemein als sein wichtigstes Werk zur Begründung einer humanistischen kritischen Theorie, die eine Gesellschaft schaffen will, in der alle Menschen ein gutes Leben führen. Fragen zur Diskussion:  Was ist für Marx das grundlegendste Problem des Kapitalismus?  Was versteht Marx unter Entfremdung?  Wie versteht Marx den Begriff des „Kommunismus“?  Wie können die Marxschen Konzepte des Kapitalismus, der Arbeit und der Entfremdung für ein kritisches Verständnis der sozialen Medien genutzt werden? <?page no="47"?> Was sind soziale Medien? Schlüsselfragen  Was bedeutet es, sozial zu sein?  Welche Arten von Gesellschaftstheorien gibt es?  Was sind soziale Medien?  Wie kann uns die Gesellschaftstheorie helfen zu verstehen, was an sozialen Medien sozial ist?  Wie sozial ist das World Wide Web? Schlüsselkonzepte  Internet  Soziale Medien  Web 1.0  Web 2.0  Web 3.0  Émile Durkheims Begriff der sozialen Tatbestände  Max Webers Begriffe des sozialen Handelns und der sozialen Beziehungen  Ferdinand Tönnies’ Begriff der Gemeinschaft  Karl Marx’ Begriff der kooperativen Arbeit  Kommunikation und Sozialität über Distanz in der COVID-19-Krise 2.1 Überblick Dieses Kapitel gibt eine Einführung zur Frage, wie man über soziale Medien denken kann. Sie werden sich mit der Frage beschäftigen: Was ist das Soziale an sozialen Medien? Eine der ersten Reaktionen, die viele Menschen haben, wenn sie den Begriff „soziale Medien“ hören, ist die Frage: „Sind nicht alle Medien sozial? “ Das hängt davon ab, wie man das Soziale definiert. Um die Bedeutungen dieses Begriffs zu verstehen, müssen wir in die soziologische Theorie einsteigen. Dieses Kapitel stellt einige Konzepte vor, was es bedeuten kann, sozial zu sein, und erörtert die Auswirkungen dieser Konzepte auf das Verständnis von sozialen Medien. Konkret werde ich die Konzepte der Sozialität von Émile Durkheim, Max Weber, Karl Marx und Ferdinand Tönnies vorstellen und sie auf die Erklärung der sozialen Medien anwenden. In Abschnitt 2.2 wird die Frage erörtert, was neue soziale Medien sind, und es werden einige grundlegende Merkmale der und Kritiken an den Begriffen „Web 2.0“ und „soziale Medien“ dargelegt. In Abschnitt 2.3 können Sie verschiedene Definitionen des Begriffes der sozialen Medien nachlesen. Ich weise in diesem Abschnitt darauf hin, dass wir eine Gesellschaftstheorie brauchen, um zu ver- <?page no="48"?> 48 2 Was sind soziale Medien? stehen, was an sozialen Medien sozial ist. Für diese Aufgabe werden einige Konzepte der soziologischen Theorie vorgestellt, die es uns ermöglichen, die Sozialität von sozialen Medien besser zu verstehen. Wir befassen uns daher mit den Gesellschaftskonzepten und Konzepten des Sozialen von vier Theoretikern: Émile Durkheim (1858-1917) war ein französischer Soziologe, der das Konzept der sozialen Tatbestände entwickelte. Max Weber (1864-1920) war ein deutscher Soziologe, der eine Theorie des sozialen Handelns und der sozialen Beziehungen erarbeitete. Karl Marx (1818-1883) war ein Gesellschaftstheoretiker, der eine kritische Theorie des Kapitalismus ausarbeitete. Kooperative Arbeit ist eines der Konzepte dieser Theorie. Ferdinand Tönnies (1855-1936) war ein deutscher Soziologe, der vor allem für seine Theorie der Gemeinschaft bekannt ist. In Abschnitt 2.4 wird erörtert, wie die Konzepte dieser vier Denker bei der Konstruktion eines Modells der sozialen Medien verwendet werden können. Es wird auch untersucht, wie man die Kontinuitäten und Veränderungen des World Wide Web empirisch untersuchen kann. In Abschnitt 2.5 wird ein Modell der Kommunikation in sozialen Medien vorgestellt. In Abschnitt 2.6 wird diskutiert, wie Alltagskommunikation und Alltagssozialität in der COVID-19-Krise neu organisiert wurden. In Abschnitt 2.7 werden Schlussfolgerungen gezogen. 2.2 Web 2.0 und soziale Medien Web 2.0 Die Begriffe „soziale Medien“ und „Web 2.0“ sind in den letzten Jahren sehr populär geworden, um Arten von World Wide Web (WWW)-Plattformen wie Blogs, Mikroblogs wie Twitter, Social Networking Seiten, Plattformen zum Teilen von nutzergenerierten Inhalten (Videos, Bilder, Dateien) oder Wikis zu beschreiben. Da das Wort „sozial“ in dem Begriff „soziale Medien“ eine wichtige Rolle spielt, stellt sich die Frage: Was ist sozial an den sozialen Medien? Der Begriff „Web 2.0“ wurde 2005 von Tim O'Reilly (2005a, 2005b), dem Gründer des Verlags O'Reilly Media, der sich auf den Bereich der Computertechnologie konzentriert, geprägt. O‘Reilly (2005a) nennt als Hauptmerkmale des Web 2.0: radikale Dezentralisierung, radikales Vertrauen, Partizipation statt Veröffentlichung, Benutzer: innen als Mitwirkende, reiche Benutzererfahrung, der Long Tail, das Web als Plattform, Kontrolle über die eigenen Daten, das Remixen von Daten, kollektive Intelligenz, bessere Software durch mehr Benutzer: innen, Spiel, unbestimmtes Benutzerverhalten. Er liefert die folgende eher formale Definition: „Web 2.0 ist das Netzwerk als Plattform, das alle angeschlossenen Geräte umfasst; Web 2.0-Anwendungen sind diejenigen, die die intrinsischen Vorteile dieser Plattform am besten nutzen: die Bereitstellung von Software als ständig aktualisierter Dienst, der immer besser wird, je mehr Menschen ihn nutzen; den Konsum und das Remixen von Daten aus verschiedenen Quellen, einschließlich einzelner Benutzer, während sie ihre eigenen Daten und Dienste in einer Form bereitstellen, die den Remix durch andere ermöglicht; die Schaffung von Netzwerkeffekten durch eine ‚Architektur der Partizipation‘; diese Anwendungen gehen über die Metapher der Webseite des Web 1.0 hinaus, um reichhaltige Benutzererfahrungen zu liefern “ (O’Reilly 2005b). O’Reilly erweckt den Eindruck, dass das WWW mit BitTorrent, Blogs, Flickr, Google, Tagging, Wikipedia und so weiter im Jahr 2005 radikal neu und radikal anders als das <?page no="49"?> 2.2 Web 2.0 und soziale Medien 49 frühere Web (1.0) war. O’Reilly (2005a) spricht folglich vom Web 2.0 als einer „neuen Plattform“, die „neue Anwendungen“ biete. Im Jahr 2000 kam es zu einer Krise der Internetwirtschaft. Der Zufluss von Finanzkapital hatte die Marktwerte vieler Internet-Unternehmen an den Börsen in die Höhe getrieben, aber die Profite konnten nicht mit den Versprechungen der hohen Börsenwerte standhalten. Das Ergebnis war eine Finanzblase (die sogenannte Dot.com- Blase), die im Jahr 2000 platzte und zum Bankrott vieler neu gegründeter Internetfirmen führte. Sie basierten hauptsächlich auf Venture Capital-Finanzinvestitionen und der Hoffnung, in der Zukunft Profiten zu erzielen, was zu einer Kluft zwischen Aktienwerten und den real akkumulierten Profiten führte. Die Diskussion über die Neuheit des „Web 2.0“ und der sozialen Medien passt gut in die Situation nach der Dot.com-Krise, in der Investoren überzeugt werden mussten, in neue Internet-Startup-Unternehmen zu investieren, was in der Zeit nach der Krise von 2000 schwierig war. Die Ideologie, dass das „Web 2.0“ etwas Neues und Anderes sei und neue wirtschaftliche und demokratische Potenziale habe, half, Investoren zu überzeugen, Kapital in Internetunternehmen zu investieren. Web 2.0 und soziale Medien wurden daher in der Situation der kapitalistischen Krise als Ideologien geboren, die darauf abzielten, die Krise zu überwinden und neue Sphären und Modelle der Kapitalakkumulation für die kapitalistische Internetwirtschaft zu etablieren. Das Sprechen von der Neuheit des WWW und des Internets zielte darauf ab, neue Kapitalanlagen in der digitalen Wirtschaft zu schaffen. Obwohl Tim O‘Reilly sicherlich der Meinung ist, dass „Web 2.0“ tatsächliche Veränderungen bezeichnet, sagt er, dass die entscheidende Tatsache dabei ist, dass die Nutzer: innen als kollektive Intelligenz den Wert von Plattformen wie Google, Amazon, Wikipedia oder Craigslist in einer „Gemeinschaft verbundener Nutzer: innen“ mitgestalten (O'Reilly und Battelle 2009, 1). Er räumt ein, dass der Begriff des Web 2.0 hauptsächlich geschaffen wurde, um den Bedarf an neuen wirtschaftlichen Strategien für Internetfirmen nach der „Dot-Com“-Krise zu befriedigen, in der das Platzen von Finanzblasen den Zusammenbruch vieler Internetfirmen verursachte. So stellt er in einem Papier, das fünf Jahre nach der Erfindung des Begriffs „Web 2.0“ veröffentlicht wurde, fest, dass diese Namensgebung „eine Aussage über das zweite Kommen des Web nach der Dotcom-Pleite“ sei. Er sprach auf einer Konferenz, die darauf abzielte, „das Vertrauen in eine Branche wiederherzustellen, die nach der Dotcom-Pleite vom Weg abgekommen war“ (ebd.). Wie neu sind soziale Medien? Matthew Allen (2012) und Trebor Scholz (2008) argumentieren, dass Social-Media- Anwendungen nicht neu sind und dass sich ihre Ursprünge bis weit vor 2005 zurückverfolgen lassen. Blogs gab es bereits Ende der 1990er Jahre, die Wiki-Technologie wurde 1994 von Ward Cunningham vorgeschlagen und erstmals 1995 veröffentlicht, Social-Networking-Sites gab es bereits 1995 (Classmates) und 1997 (Sixdegrees), Google wurde 1999 gegründet. Allen spricht davon, dass der Diskurs immer neuerer Versionen es ermöglichen würde, „über Produkte zu behaupten, dass sie neu sind“ (Allen 2012, 264), gleichzeitig aber auch „Kontinuität zu wahren und einen leichten Übergang von dem, was vorher war, zu versprechen“ (ebd.). Versionen wären Wege, um den Konsum zu fördern (ebd.). Wenn man von Neuheit spricht, muss man sich darüber im Klaren sein, ob man von der Neuheit der Technologie, der Nutzungsmuster oder der Machtverhältnisse spricht. <?page no="50"?> 50 2 Was sind soziale Medien? Allen und Scholz argumentieren, dass die Technologien, die „soziale Medien“/ „Web 2.0“ ausmachen, nicht neu sind. Was jedoch den Grad der Nutzung betrifft, so waren diese Technologien in den 1990er Jahren nicht populär und sind erst in jüngster Zeit populär geworden. Auf der Ebene der Machtverhältnisse des Internets ist es ebenso unwahrscheinlich, dass sich überhaupt nichts ändert, wie es unwahrscheinlich ist, dass es einen radikalen Wandel gibt, denn auf einer bestimmten Ebene seiner Organisation benötigt der Kapitalismus Veränderung und Neuheit, um gleich zu bleiben (System der Mehrwertproduktion, Ausbeutung und Kapitalakkumulation) und weiter zu bestehen. In seinem Buch Writing on the Wall: Social Media - The First 2.000 Years nimmt Tom Standage (2013) eine langfristige Perspektive ein und argumentiert, dass zur Zeit der Römer die soziale Kommunikation die Form von „Briefen und anderen Dokumenten annahm, die in Form von Papyrusrollen kopiert, kommentiert und mit anderen geteilt wurden“ (1-2). Soziale Medien wären demnach mindestens 2.000 Jahre alt. „Die Römer taten dies mit Papyrusrollen und Boten; heute tun Hunderte von Millionen Menschen die gleichen Dinge eher schneller und einfacher mit Hilfe von Facebook, Twitter, Blogs und anderen Internet-Tools. Die Technologien, um die es dabei geht, sind sehr unterschiedlich, aber diese beiden Formen der sozialen Medien, die durch zwei Jahrtausende voneinander getrennt sind, haben viele der zugrunde liegenden Strukturen und Dynamiken gemeinsam: Es handelt sich um Zwei-Wege-Konversationsumgebungen, in denen Informationen horizontal von einer Person zur anderen über soziale Netzwerke weitergeleitet werden, anstatt vertikal von einer unpersönlichen zentralen Quelle geliefert zu werden“ (Standage 2013, 3). 2.3 Die Notwendigkeit der Gesellschaftstheorie zum Verständnis der sozialen Medien Definitionen von Web 2.0 und sozialen Medien Michael Mandiberg argumentiert, dass der Begriff „soziale Medien“ mit mehreren Konzepten in Verbindung gebracht wurde: „der von den Unternehmensmedien favorisierte Begriff ‚nutzergenerierter Inhalt‘, Henry Jenkins‘ medienindustriefokussierte ‚Konvergenzkultur‘, Jay Rosens, die Menschen, die früher als das Publikum bekannt waren‘, die politisch durchdrungenen ‚partizipatorischen Medien‘, Yochai Benklers prozessorientierte ‚Peer-Produktion‘ und Tim O'Reillys computerprogrammorientiertes ‚Web 2.0‘“(Mandiberg 2012, 2). Es folgen einige Beispieldefinitionen von Web 2.0 und sozialen Medien, die in der Forschungsliteratur zu finden sind (in umgekehrter chronologischer Reihenfolge, die Liste enthält nur Beispiele und erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit). Als Übung können Sie diese Definitionen durchlesen, eine Liste der wichtigsten genannten Merkmale erstellen, prüfen, ob diese Merkmale auf eine von Ihnen selbst genutzte Social-Media-Plattform anwendbar sind und ob bestimmte Merkmale dieser Plattformen in der Liste und den Definitionen fehlen.  „Unter sozialen Medientechnologien verstehen wir jene digitalen Plattformen, Dienste und Anwendungen, die auf der Konvergenz von Content Sharing, öffentlicher Kommunikation und zwischenmenschlicher Verbindung aufbauen“ (Burgess, Marwick & Poell 2018, 1).  Skoric & Pang (2024, xviii) definieren soziale Medien folgendermaßen: "Social me- <?page no="51"?> 2.3 Die Notwendigkeit der Gesellschaftstheorie zum Verständnis der sozialen Medien 51 dia] (a) enable users to connect and communicate with others in their social network, (b) allow for mass-personal communication and (c) utilize UGC, as well as content from other media institutions in a variety of formats including but not limited to text, images, videos and audio.”  Die sozialen Medien „ermöglichen die gemeinsame Erstellung und ständige Bearbeitung multimodaler Inhalte durch mehrere Nutzer: innen, d.h. Inhalte, die mehrere Modalitäten vermischen (geschriebener Text, fotografische Bilder, Videos, Töne usw.). [Soziale Medien] [...] sind Online-Plattformen für [...], Vernetzung und Kreativität heute - Twitter, Facebook, Wikipedia, YouTube, Instagram usw.“ (Lindgren 2017, 29).  „Soziale Medien sind vernetzte Datenplattformen, die öffentliche und persönliche Kommunikation miteinander verbinden. [...] Wenn man sich auf das Wort ‚vernetzt‘ konzentriert, konzentriert man sich auf die technologischen Systeme und auf die Ideen über soziale Organisation, die sie verkörpern und ausdrücken. [...] Wenn man sich auf die Worte Daten und Plattform konzentriert, konzentriert man sich auf die Geschäftsmodelle und auf die Art und Weise, wie Unternehmen versuchen, die Möglichkeiten vernetzter digitaler Medien zu nutzen. [...] Und sich auf die Worte Öffentlichkeit und persönliche Kommunikation zu konzentrieren, bedeutet, sich auf die kulturellen Aspekte der sozialen Medien zu konzentrieren" (Meikle 2024, 21). Soziale Medien zeichnen sich durch „die Elemente Profile, Kontakte und Interaktion mit diesen Kontakten“ aus, sie „verwischen die Unterscheidung zwischen persönlicher Kommunikation und dem Rundfunkmodell von Nachrichten, die an niemanden im Besonderen gesendet werden“ (Meikle & Young 2012, 61). In sozialen Medien „manifestieren sich eine Konvergenz zwischen persönlicher Kommunikation (die eins zu eins mit anderen geteilt werden soll) und öffentlichen Medien (die mit niemandem im Besonderen geteilt werden sollen)” (Meikle & Young 2012, 68).  „Soziale Medien sind internetbasierte Kanäle, die es den Nutzer: innen ermöglichen, opportunistisch zu interagieren und sich selektiv selbst zu präsentieren, entweder in Echtzeit oder asynchron, sowohl mit einem breiten als auch mit einem kleinen Publikum, das aus nutzergenerierten Inhalten und der Wahrnehmung der Interaktion mit anderen einen Nutzen zieht” (Carr und Hayes 2015, 50, Kursiv im Original).  „Nutzergenerierte Inhalte sind das Lebenselixier der sozialen Medien. [...] Einzelpersonen und Gruppen erstellen benutzerspezifische Profile für eine Website oder App, die von einem Social-Media-Dienst gestaltet und gepflegt werden. [...] Social- Media-Dienste erleichtern den Aufbau sozialer Online-Netzwerke, indem sie ein Profil mit den Profilen anderer Personen und/ oder Gruppen verbinden” (Obar and Wildman 2015, 2-3).  „Ich verwende den Begriff soziale Medien, um Web-Seiten und Dienste zu bezeichnen, die in den frühen 2000er Jahren entstanden sind, darunter soziale Netzwerkseiten, Video-Sharing-Seiten, Blogging- und Microblogging-Plattformen und verwandte Tools, die es den Teilnehmer: innen ermöglichen, eigene Inhalte zu erstellen und zu teilen“ (boyd 2014, 6).  Soziale Medien sind „vernetzte Informationsdienste, die dazu bestimmt sind, vertiefte soziale Interaktion, Gemeinschaftsbildung, Gelegenheiten zur Zusammenarbeit und gemeinsame Arbeit zu unterstützen“ (Hunsinger und Senft 2014, 1).  Soziale Medien sind eine Umgebung, in der Informationen „von einer Person an eine andere Person entlang sozialer Verbindungen weitergegeben werden, um eine verteilte Diskussion oder Gemeinschaft zu schaffen“ (Standage 2013, 3). „Heute <?page no="52"?> 52 2 Was sind soziale Medien? sind Blogs die neuen Pamphlete. Microblogs und soziale Online-Netzwerke sind die neuen Kaffeehäuser. Media-Sharing-Sites sind die neuen alltäglichen Bücher. Das alles sind gemeinsam genutzte, soziale Plattformen, die es Ideen ermöglichen, von einer Person zur anderen zu gelangen, indem sie sich durch Netzwerke von Menschen bewegen, die durch soziale Bindungen miteinander verbunden sind, anstatt sich durch den privilegierten Engpass der Rundfunkmedien zwängen zu müssen“ (Standage 2013, 250).  „Schon das Wort ‚sozial‘ im Zusammenhang mit Medien impliziert, dass Plattformen nutzerzentriert sind und dass sie gemeinschaftliche Aktivitäten ermöglichen, so wie der Begriff ‚partizipatorisch‘ die menschliche Zusammenarbeit betont. In der Tat können soziale Medien als Online-Förderer oder Verstärker menschlicher Netzwerke gesehen werden - Netze von Menschen, die Verbundenheit als sozialen Wert fördern“ (van Dijck 2013, 11). „Infolge der Vernetzung der Plattformen entstand eine neue Infrastruktur: ein Ökosystem von Verbindungsmedien mit einigen wenigen großen und vielen kleinen Akteuren. Der Wandel von vernetzter Kommunikation zu 'plattformgebundener' Sozialität und von einer partizipatorischen Kultur zu einer Kultur der Konnektivität vollzog sich in einer relativ kurzen Zeitspanne von zehn Jahren“ (van Dijck 2013, 4).  Soziale Medien sind „die Technologien oder Anwendungen, die Menschen bei der Entwicklung und Pflege ihrer Social-Networking-Seiten nutzen. Dazu gehören die Veröffentlichung von Multimedia-Informationen (z.B. Text, Bilder, Audio, Video), ortsbezogene Dienste (z.B. Foursquare), Spiele (z.B. Farmville, Mafia Wars)“. (Albarran 2013, 2).  „Seit mindestens 2004 hat sich im Internet, genauer gesagt im Web, eine berüchtigte und umstrittene Verschiebung weg vom Modell der statischen Webseite hin zu einem sozialen Web oder Web 2.0-Modell vollzogen, bei dem sich die Möglichkeiten der Nutzer: innen, mit dem Web zu interagieren, vervielfacht haben. Es ist für einen Laien viel einfacher geworden, Texte, Bilder und Töne zu veröffentlichen und zu teilen. Es ist eine neue Topologie der Informationsverteilung entstanden, die auf ‘echten' sozialen Netzwerken basiert, aber auch durch beiläufige und algorithmische Verbindungen verbessert wurde“ (Terranova & Donovan 2013, 297).  „In den ersten zehn Jahren des Bestehens des Internets (von den 1990er Jahren bis Anfang oder Mitte der 2000er Jahre) waren Websites eher wie separate Gärten. [...] Das Web 2.0 ist wie ein kollektives Kleingartenwesen. Statt Einzelpersonen, die ihre eigenen Gärten pflegen, kommen sie zusammen, um gemeinsam in einem geteilten Raum zu arbeiten. [...] Das Herzstück des Web 2.0 ist die Idee, dass Online- Seiten und -Dienste umso mächtiger werden, je mehr die Nutzer: innen dieses Netzwerk potenzieller Kooperationspartner annehmen” (Gauntlett 2011, 4-5). Sie ist gekennzeichnet durch das Entstehen einer Kultur des „Machen und Tuns“ (Gauntlett 2011, 11) und dadurch, dass wir „unsere eigene Medienkultur schaffen und mit anderen zu teilen - ich meine, über lo-fi YouTube-Videos, exzentrische Blogs und selbstgemachte Websites, anstatt die traditionellen Medien Fernsehsender und Druckereien verwenden zu müssen“ (Gauntlett 2011, 18). Dinge online und offline zu machen, würde die Dinge miteinander verbinden und „eine soziale Dimension beinhalten und uns mit anderen Menschen verbinden“ (Gauntlett 2011, 3).  „Soziale Medien bedeuten eine Verlagerung von den HTML-basierten Verlinkungspraktiken des offenen Webs hin zu Likes und Empfehlung, die innerhalb geschlossener Systeme stattfinden. Das Web 2.0 zeichnet sich durch drei Merkmale aus: Es ist einfach zu benutzen, es erleichtert die Sozialität und es bietet den Benutzer: <?page no="53"?> 2.3 Die Notwendigkeit der Gesellschaftstheorie zum Verständnis der sozialen Medien 53 innen kostenlose Veröffentlichungs- und Produktionsplattformen, die es ihnen ermöglichen, Inhalte in jeder Form hochzuladen, seien es Bilder, Videos oder Texte“ (Lovink 2011, 5).  „Soziale Medien ist das neueste Schlagwort in einer langen Reihe von Schlagworten. Es wird oft verwendet, um die Sammlung von Software zu beschreiben, die es Einzelpersonen und Gemeinschaften ermöglicht, zusammenzukommen, zu kommunizieren, zu teilen und in einigen Fällen zusammenzuarbeiten oder zu spielen. In Technikerkreisen haben die sozialen Medien den früheren Lieblingsbegriff ‚Social Software‘ ersetzt. Akademiker: innen neigen immer noch dazu, Begriffe wie ‚computervermittelte Kommunikation‘ oder ‚computergestützte kooperative Arbeit‘ zu bevorzugen, um die Praktiken zu beschreiben, die sich aus diesen Werkzeugen ergeben. Und die Akademiker der alten Schule werden diese Tools sogar als Werkzuge der ‘Gruppenarbeit' kategorisieren. Die sozialen Medien werden von einem anderen Schlagwort angetrieben: ‚nutzergenerierte Inhalte‘ oder Inhalte, die von Teilnehmer: innen und nicht von Redakteur: innen beigesteuert werden“ (boyd 2009).  Soziale Medien und soziale Software sind Werkzeuge, die „unsere Fähigkeit erhöhen, miteinander zu teilen, zu kooperieren und kollektive Maßnahmen zu ergreifen, und das alles außerhalb des Rahmens traditioneller institutioneller Institutionen und Organisationen“ (Shirky 2008, 20-21). Die oben diskutierten Definitionen beschreiben verschiedene Formen der Online-Sozialität: kollektives Handeln, Kommunikation, Gemeinschaften, Verbinden/ Vernetzen, Kooperation/ Zusammenarbeit, die kreative Erstellung nutzergenerierter Inhalte, Spielen und Teilen. Sie zeigen, dass die Definition sozialer Medien ein Verständnis von Sozialität erfordert: Was bedeutet es, sozial zu sein und sozial zu handeln? Worum geht es beim Sozialen? Es gibt verschiedene Antworten auf diese Fragen. Das Gebiet, das sich mit dieser Art von Fragen befasst, wird als Gesellschaftstheorie oder soziologische Theorie bezeichnet. Es ist ein Teilgebiet der Soziologie. Um Antworten zu geben, müssen wir uns daher mit dem Forschungsfeld der Gesellschaftstheorie auseinandersetzen. Medien- und Gesellschaftstheorie Medien sind keine Technologien, sondern techno-soziale Systeme. Sie haben eine technologische Ebene von Artefakten, die eine soziale Ebene menschlicher Aktivitäten ermöglichen und einschränken, die Wissen schaffen, das mit Hilfe der Artefakte des technologischen Niveaus produziert, verbreitet und konsumiert wird. Es besteht eine rekursive dynamische Beziehung zwischen der technologischen und der sozialen Ebene der Medien. Die Medien basieren auf dem, was Anthony Giddens (1988) die Dualität von Struktur und Handeln nennt (siehe Abbildung 2.1): „Gemäß dem Begriff der Dualität von Struktur sind die Strukturmomente sozialer Systeme sowohl Medium wie Ergebnis der Praktiken, die sie rekursiv organisieren” (Giddens 1988, 77; siehe auch Fuchs 2003a, 2003b). Strukturen ermöglichen und beschränken zugleich Handlungen (Fuchs 2003b, 26). Gesellschaftliche Medien sind techno-soziale Systeme, in denen Informations- und Kommunikationstechnologien menschliche Aktivitäten ermöglichen und einschränken, die Wissen schaffen, das mit Hilfe von Technologien in einem dynamischen und reflexiven Prozess produziert, verteilt und konsumiert wird, sodass technologische Strukturen und menschliches Handeln miteinander verbunden werden. Das Internet besteht sowohl aus einer technologischen Infrastruktur als auch aus (inter)agierenden Menschen. Es ist kein Netzwerk von Computernetzwerken, sondern ein Netzwerk, das soziale Netzwerke und technologische Netzwerke von Computernetz- <?page no="54"?> 54 2 Was sind soziale Medien? werken miteinander verbindet. Die technische Netzwerkstruktur, ein globales Computernetzwerk von Computernetzwerken, das auf dem TCP/ IP-Protokoll (Transmission Control Protocol/ Internet Protocol) basiert, ist ein Modell, das zur Definition der Art und Weise dient, wie Daten im Internet formatiert, übertragen und empfangen werden. Dieses technische Netzwerk ist das Medium und das Ergebnis des menschlichen Handelns. Es ermöglicht und beschränkt menschliche Aktivität und menschliches Denken und ist das Ergebnis produktiver sozialer Kommunikations- und Kooperationsprozesse. Die technologische Struktur/ der technologische Teil des Internets ermöglicht und beschränkt menschliches Verhalten und wird selbst vom menschlichen kommunikativen Teil des Internets produziert und permanent reproduziert. Das Internet besteht aus einem technologischen Subsystem und einem sozialen Subsystem, die beide einen vernetzten Charakter haben. Zusammen bilden diese beiden Teile ein techno-soziales System. Die technologische Struktur ist ein Netzwerk, das menschliche Handlungen und soziale Netzwerke produziert und reproduziert und selbst von solchen Praktiken produziert und reproduziert wird. Wenn wir die Frage beantworten wollen, was an sozialen Medien und dem Internet sozial ist, dann haben wir es mit der Ebene des menschlichen Handelns zu tun. Auf dieser Ebene können wir verschiedene Formen der Sozialität unterscheiden. Sie entsprechen den drei wichtigsten klassischen Positionen der Gesellschaftstheorie, die von Émile Durkheim, Max Weber und Karl Marx repräsentiert werden (Elliott 2009, 6-7). Abbildung 2.1: Die Dialektik von Strukturen und Handeln Émile Durkheim: Das Soziale als soziale Tatbestände Das erste Verständnis von Sozialität basiert auf Émile Durkheims Begriff der sozialen Tatbestände: „Ein soziologischer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein <?page no="55"?> 2.3 Die Notwendigkeit der Gesellschaftstheorie zum Verständnis der sozialen Medien 55 von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt“ (Durkheim 1895/ 1961, 114) Alle Medien und alle Software sind sozial in dem Sinne, dass sie Produkte sozialer Prozesse sind. Menschen in sozialen Beziehungen produzieren sie. Sie objektivieren Wissen, das in der Gesellschaft produziert, angewendet und in sozialen Systemen genutzt wird. Wendet man Durkheims Idee der sozialen Tatbestände auf die Computertechnologie an, so bedeutet dies, dass alle Software-Anwendungen und Medien sozial sind, weil in ihnen soziale Strukturen fixiert und objektiviert sind. Diese Strukturen sind selbst dann vorhanden, wenn ein Benutzer allein vor einem Bildschirm sitzt und im World Wide Web nach Informationen surft, weil diese Informationen nach Durkheims Worten eine eigene Existenz haben, unabhängig von individuellen Erscheinungsformen. Web-Technologien sind also soziale Tatbestände. Max Weber: Das Soziale als soziale Beziehungen Das zweite Verständnis von Sozialität geht auf Max Weber zurück. Seine zentralen Kategorien der Soziologie sind soziales Handeln und soziale Beziehungen: „‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Weber 1922/ 1960, 5). „Soziale ‚Beziehung‘ soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen“ (26). Diese Kategorien sind für die Diskussion relevant, weil sie eine Unterscheidung zwischen individuellen und sozialen Aktivitäten ermöglichen: „Nicht jede Art von Handeln - auch von äußerlichem Handeln - ist ‚soziales‘ Handeln im hier festgehaltenen Wortsinn. Äußeres Handeln dann nicht, wenn es sich lediglich an den Erwartungen des Verhaltens sachlicher Objekte orientiert. Das innere Sichverhalten ist soziales Handeln nur dann, wenn es sich am Verhalten anderer orientiert. Religiöses Verhalten z.B. dann nicht, wenn es Kontemplation, einsames Gebet usw. bleibt. [...] Nicht jede Art von Berührung von Menschen ist sozialen Charakters, sondern nur ein sinnhaft am Verhalten des andern orientiertes eignes Verhalten“ (Weber 1922/ 1960, 18-19). Weber betont, dass das Verhalten eine sinnvolle symbolische Interaktion zwischen menschlichen Akteuren sein muss, um eine soziale Beziehung herzustellen. Für Weber ist Verhalten im Internet also nur sozial, wenn die Menschen miteinander kommunizieren. Das Surfen im WWW oder das Lesen eines Online-Textes sind für ihn nicht sozial. Ferdinand Tönnies: Das Soziale als Gemeinschaft Die Begriffe Gemeinschaft und Kooperation, wie sie von Tönnies und Marx ausgearbeitet wurden, bilden die Grundlage für ein drittes Verständnis des Sozialen als Zusammenarbeit/ Kooperation, wozu der Begriff der Gemeinschaft und der Begriff der kooperativen Arbeit zählen. Ferdinand Tönnies versteht das Soziale als Gemeinschaft. Für ihn ist die Gemeinschaft organisch, sozial und durch Gefühle der Verbundenheit geprägt, die Gesellschaft hingegen mechanisch, künstlich und durch Zwang und Zweckrationalität gekennzeichnet. „Die durch dies positive Verhältnis gebildete Gruppe heißt, als einheitlich nach innen und nach außen wirkendes Wesen oder Ding aufgefaßt, eine Verbindung. Das Verhältnis selber, und also die Verbindung, wird entweder als reales und organisches Leben <?page no="56"?> 56 2 Was sind soziale Medien? begriffen - dies ist das Wesen der Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bildung - dies ist der Begriff der Gesellschaft. […] Im allgemeinsten Sinne wird man wohl von einer die gesamte Menschheit umfassenden Gemeinschaft reden, wie es die Kirche sein will. Aber die menschliche Gesellschaft wird als ein bloßes Nebeneinander von einander unabhängiger Personen verstanden. […] Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares. Und dem ist es gemäß, daß Gemeinschaft selber als ein lebendiger Organismus, Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat und Artefact verstanden werden soll“ (Tönnies 2019, 124-126). Die Gemeinschaften müssen laut Tönnies innerhalb eines harmonischen Konsensus von Willen, Volksbräuchen, Glauben, Sitten, Familie, Dorf, Verwandtschaft, ererbtem Status, Landwirtschaft, Moral, essentiellem Willen und Zusammengehörigkeitsgefühl existieren. Bei Gemeinschaften geht es um Zusammengehörigkeitsgefühle und Werte. Für Tönnies ist also zum Beispiel eine private Gruppe auf Facebook oder WhatsApp, in der sich eine kleine Gruppe von Freunden trifft, um Neuigkeiten auszutauschen, sozial im Sinn einer Gemeinschaft. Ein Diskussionsforum, in dem sich Menschen politisch in die Haare kriegen und sich beschimpfen oder sogar bedrohen, ist für ihn hingegen nicht sozial und keine Gemeinschaft. Karl Marx: Das Soziale als kooperative Arbeit Marx erörtert gemeinschaftliche und kooperative Aspekte der Gesellschaft mit Hilfe des Begriffs der kooperativen Arbeit. Marx und Engels argumentierten, dass Kooperation das Wesen der Gesellschaft ist. Im Kapitalismus ist sie unter das Kapital subsumiert worden, sodass sie entfremdete Arbeit ist und nur in einer freien Gesellschaft voll entwickelt werden kann. Für Marx und Engels ist die Kooperation das Wesen der Gesellschaft: „Die Produktion des Lebens, sowohl des eignen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung, erscheint nun schon sogleich als ein doppeltes Verhältnis - einerseits als natürliches, andrerseits als gesellschaftliches Verhältnis -, gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck, verstanden wird. Hieraus geht hervor, dass eine bestimmte Produktionsweise oder industrielle Stufe stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenwirkens oder gesellschaftlichen Stufe vereinigt ist, und diese Weise des Zusammenwirkens ist selbst eine ‚Produktivkraft‘“ (Marx & Engels 1845/ 1846, 29-30). Die Kooperation ist eine Grundlage der menschlichen Existenz: „Durch das Zusammenwirken von Hand, Sprachorganen und Gehirn nicht allein bei jedem einzelnen, sondern auch in der Gesellschaft, wurden die Menschen befähigt, immer verwickeltere Verrichtungen auszuführen, immer höhere Ziele sich zu stellen und zu erreichen“ (Engels 1886, 288). Aber Kooperation ist auch die Grundlage des Kapitalismus: „Das Wirken einer größern Arbeiteranzahl zur selben Zeit, in demselben Raum (oder, wenn man will, auf demselben Arbeitsfeld), zur Produktion derselben Warensorte, unter dem Kommando desselben Kapitalisten, bildet historisch und begrifflich den Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktion“ (Marx 1867, 341). Marx argumentiert, dass Kapitalisten die kollektive Arbeit vieler Arbeiter: innen ausbeuten, indem sie sich den von diesen produzierten Mehrwert aneignen. Kooperation <?page no="57"?> 2.3 Die Notwendigkeit der Gesellschaftstheorie zum Verständnis der sozialen Medien 57 würde sich daher unter kapitalistischen Bedingungen in entfremdete Arbeit verwandeln. Dieser Antagonismus zwischen dem kooperativen Charakter der Produktion und der privaten Aneignung, der durch die kapitalistische Entwicklung der Produktivkräfte gefördert wird, ist ein Faktor, der Krisen des Kapitalismus ausmacht und zugleich auf eine kooperative Gesellschaft hinweist und diese vorwegnimmt: „Der Widerspruch zwischen der allgemeinen gesellschaftlichen Macht, zu der sich das Kapital gestaltet, und der Privatmacht der einzelnen Kapitalisten über diese gesellschaftlichen Produktionsbedingungen entwickelt sich immer schreiender und schließt die Auflösung dieses Verhältnisses ein, indem sie zugleich die Herausarbeitung der Produktionsbedingungen zu allgemeinen, gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktionsbedingungen einschließt“ (Marx 1894, 274). Eine voll entwickelte und wahre Menschlichkeit ist für Marx nur möglich, wenn der Mensch „all seine Gattungskräfte - was wieder nur durch das Gesamtwirken der Menschen möglich ist, nur als Resultat der Geschichte - herausschafft“ (Marx 1844b, 574). Für Marx ist eine kooperative Gesellschaft die Verwirklichung des kooperativen Wesens von Mensch und Gesellschaft. Daher spricht er auf der Grundlage des Hegelschen Wahrheitsbegriffs (d.h. der Übereinstimmung von Wesen und Existenz, der Art und Weise, wie die Dinge sein sollten und wie sie sind) von der „Reintegration oder Rückkehr des Menschen in sich, als Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung“, der „ wirkliche[n] Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen“ „als vollständige, bewusst und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen , d. h. menschlichen Menschen“ (Marx 1844b, 536). Marx (1875) spricht von solchen veränderten Bedingungen als der kooperativen Gesellschaft. Die Grundidee, die der Marxschen Vorstellung der Kooperation zugrunde liegt, ist, dass viele Menschen zusammenarbeiten, um Güter zu produzieren, die menschliche Bedürfnisse befriedigen, und dass daher auch das Eigentum an den Produktionsmitteln kooperativ sein sollte. Würde Marx heute leben und das Internet analysieren, so würde er sich insbesondere für das Phänomene der digitalen Arbeit und der internationalen Teilung der digitalen Arbeit im digitalen Kapitalismus (siehe die detailliertere Diskussion in Kapitel 4 dieses Buches sowie Fuchs 2014a, 2015a) interessieren. Digitale Waren wie etwa ein Computer werden von unterschiedlichen Arbeiter: innen in verschiedenen Teilen der Welt gemeinsam hergestellt. Diese Arbeiter: innen treffen sich nicht, sondern ihre Arbeit und ihre Ausbeutung ist über eine internationale Arbeitsteilung und globale Arbeitsmärkte organisiert. Es handelt sich bei der internationalen Teilung der digitalen Arbeit also um eine anonyme globale Form der Kooperation der digitalen Arbeitenden, die alle für computerproduzierende Konzerne wie etwa Acer, Apple, Asus, Dell, HP und Lenovo arbeiten und von diesen ausgebeutet werden. Marx hat aber auch die nichtkapitalistische, sozialistische Form der Kooperation im Auge und würde daher argumentieren, dass sich die ausgebeuteten Arbeiter: innen der Computerunternehmen politisch organisieren sollten, um über nationale Grenzen hinweg gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Marx würde außerdem bei einer Analyse der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts betonen, dass Computertechnologien wichtige Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft sind. Interessant ist, dass Marx bereits die Vision eines global vernetzten Informationssystems hatte. Natürlich sprach er Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nicht vom Internet, aber er nahm die zugrunde liegende Idee vorweg: Marx betont, dass die Globalisierung von Produktion und Zirkulation Institutionen erfordert, die es den Kapitalisten ermöglichen, sich über die komplexen Wettbewerbsbedingungen zu informieren: <?page no="58"?> 58 2 Was sind soziale Medien? „Da die Verselbständigung des Weltmarkts, if you please, (worin die Tätigkeit jedes einzelnen eingeschlossen) wächst mit der Entwicklung der Geldverhältnisse (Tauschwerts) und vice versa, der allgemeine Zusammenhang und die allseitige Abhängigkeit in Produktion und Konsumtion zugleich mit der Unabhängigkeit und Gleichgültigkeit der Konsumierenden und Produzierenden zueinander; da dieser Widerspruch zu Krisen führt etc., so wird gleichzeitig mit der Entwicklung dieser Entfremdung, auf ihrem eignen Boden, versucht, sie aufzuheben; Preiscourantlisten, Wechselkurse, Verbindungen der Handelstreibenden untereinander durch Briefe, Telegraphen etc. (die Kommunikationsmittel wachsen natürlich gleichzeitig), worin jeder einzelne sich Auskunft über die Tätigkeit aller andren verschafft und seine eigne danach auszugleichen sucht. (D. h., obgleich die Nachfrage und Zufuhr aller von allen unabhängig vor sich geht, so sucht sich jeder über den Stand der allgemeinen Nachfrage und Zufuhr zu unterrichten; und dies Wissen wirkt dann wieder praktisch auf sie ein. Obgleich alles dies auf dem gegebnen Standpunkt die Fremdartigkeit nicht aufhebt, so führt es Verhältnisse und Verbindungen herbei, die die Möglichkeit, den alten Standpunkt aufzuheben, in sich einschließen.) (Die Möglichkeit allgemeiner Statistik etc.) “ (Marx 1857/ 1858, 94). Obwohl Marx hier von Listen, Briefen und dem Telegrafen spricht, ist es bemerkenswert, dass er die Möglichkeit eines globalen Informationsnetzes sah, in dem „jeder einzelne sich Auskunft über die Tätigkeit aller andren verschafft“ und „Verhältnisse und Verbindungen“ herbeigeführt werden. Das Internet ist heute ein solches globales Informations- und Kommunikationssystem, das eine symbolische und kommunikative Ebene der Wettbewerbsmechanismen des Kapitalismus darstellt, aber auch neue Möglichkeiten bietet, um „den alten Standpunkt aufzuheben“. Tönnies' und Marx' Vorstellungen vom Sozialen haben die Idee gemeinsam, dass Menschen zusammenarbeiten, um neue Qualitäten der Gesellschaft hervorzubringen (nicht-physische, d.h. geteilte Gefühle, im Falle von Tönnies und wirtschaftliche Güter im Fall von Marx). 2.4 Soziale Medien mit Durkheim, Weber, Marx und Tönnies erklären Ein Modell menschlicher Sozialität Die drei Begriffe der Sozialität (Durkheims soziale Tatbestände, Webers soziales Handeln/ Beziehungen, Marx’ Begriff der kooperativen Arbeit, Tönnies’ Begriff der Gemeinschaft) können in ein Modell der menschlichen Sozialität integriert werden. Es basiert auf der Annahme, dass Wissen ein dreifacher dynamischer Prozess von Kognition, Kommunikation und Kooperation ist (Hofkirchner 2013; siehe auch Fuchs & Hofkirchner 2005; Hofkirchner 2002). Kognition ist die notwendige Voraussetzung für Kommunikation und die Voraussetzung für die Entstehung von Kooperation. Oder mit anderen Worten: Um zu kooperieren, muss man kommunizieren, und um zu kommunizieren, muss man kognizieren, also denken. Kognition umfasst die Wissensprozesse eines einzelnen Individuums. Sie sind sozial im Durkheimschen Sinne, weil die Existenz des Menschen in der Gesellschaft und damit die sozialen Beziehungen das menschliche Wissen prägen. Der Mensch kann nur existieren, indem er soziale Beziehungen mit anderen Menschen eingeht. In diesen Beziehungen interagieren sie mit der Hilfe von Symbolen - sie kommunizieren. Diese Ebene entspricht Webers Begriff der sozialen Beziehungen. In jeder sozialen Beziehung externalisiert der Mensch Teile <?page no="59"?> 2.4 Soziale Medien mit Durkheim, Weber, Marx und Tönnies erklären 59 seines Wissens. Infolgedessen beeinflusst dieses Wissen andere, die einen Teil ihrer Wissensstrukturen verändern und als Reaktion darauf Teile ihres eigenen Wissens externalisieren, was zu einer Differenzierung des Wissens des ersten Individuums führt. Eine bestimmte Anzahl von Kommunikationen erfolgt nicht nur sporadisch, sondern kontinuierlich in Zeit und Raum. In solchen Fällen besteht das Potenzial, dass Kommunikation zu Kooperation, zur gemeinsamen Produktion neuer Qualitäten, zu neuen sozialen Systemen oder neuen Gemeinschaften mit Zusammengehörigkeitsgefühlen führt. Dies sind die Ebenen der kooperativen Arbeit und der Gemeinschaft, die von Marx und Tönnies betont werden. Information (Kognition), Kommunikation und Kooperation sind drei ineinander verschachtelte und integrierte Formen der Sozialität (Hofkirchner 2013). Jedes Medium kann in einem oder mehreren dieser Sinne sozial sein. Alle Medien sind Informationstechnologien. Sie liefern den Menschen Informationen. Diese Informationen gelangen als soziale Tatbestände, die das Denken prägen, in den Bereich des menschlichen Wissens. Informationsmedien sind z.B. Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Plakate, Flugblätter, Filme, Fernsehen, Radio, CDs, DVDs. Einige Medien sind auch Kommunikationsmedien - sie ermöglichen den rekursiven Austausch von Informationen zwischen Menschen in sozialen Beziehungen. Beispiele sind Briefe in Liebesbeziehungen, der Telegraf und das Telefon. Brecht (1932), Enzensberger (1970/ 1997) und Smythe (in seinem Aufsatz „After bicycles, what? “; Smythe 1994, 230-244) haben die Möglichkeit diskutiert, dass die Rundfunktechnologien von Informationsin Kommunikationstechnologien umgewandelt werden. Vernetzte Computertechnologien sind Technologien, die Kognition, Kommunikation und Kooperation ermöglichen. Der klassische Begriff des Mediums beschränkte sich auf die sozialen Aktivitäten der Kognition und Kommunikation, während der klassische Begriff der Technologie sich auf den Bereich der Arbeit und der Produktion mit Hilfe von Maschinen (wie z.B. dem Fließband) beschränkte. Der Aufstieg der Computertechnologie und der Computernetzwerke (wie das Internet) hat die Konvergenz von Medien und Maschinen ermöglicht - der Computer unterstützt Kognition, Kommunikation und kooperative Arbeit (Produktion); er ist ein klassisches Medium und eine klassische Maschine zugleich. Darüber hinaus hat er die Konvergenz von Produktion, Verteilung (Kommunikation) und Konsum von Information ermöglicht - für diese drei Prozesse wird nur ein einziges Werkzeug, der vernetzte Computer, verwendet. Im Gegensatz zu anderen Medien (wie Presse, Rundfunk, Telegraf, Telefon) sind Computernetzwerke nicht nur Informations- und Kommunikationsmedien, sondern ermöglichen auch die kooperative Produktion von Informationen. In Diskussionen über die Neuartigkeit, Diskontinuitäten und Kontinuitäten des zeitgenössischen WWW kann man viel Verwirrung darüber finden, über welchen Begriff von Sozialität man eigentlich spricht. Zudem wird oft nicht darüber reflektiert, ob man von Kontinuitäten und Veränderungen der technologischen Ebene oder der Ebene der sozialen Beziehungen spricht. Letztere ist auch die Ebene der Machtverhältnisse in der Gesellschaft, d.h. die Ebene, auf der in entfremdeten Gesellschaften bestimmte Gruppen und Individuen versuchen, Ressourcenvorteile, Gewalt und Zwangsmittel (physische Gewalt, psychische Repression, Ideologie) zu nutzen, um Vorteile auf Kosten anderer zu erlangen. Wenn von Veränderungen der Medien oder des Internets die Rede ist, sollte immer angegeben werden, auf welcher Analyseebene (Technologie, Machtverhältnisse) und auf welche Dimension der Sozialität man sich bezieht. Die Frage, ob sich das Internet und das WWW in den letzten x Jahren verändert haben, hängt immer von der Analyseebene, der Granularität der Analyse und <?page no="60"?> 60 2 Was sind soziale Medien? dem verwendeten Verständnis und der analysierten Dimension der Sozialität ab. Unterschiedliche Annahmen über die Neuheit und das Alter, die Diskontinuität und Kontinuität der Medien, des Internets und des WWW beruhen auf unterschiedlichen Definitionen des Sozialen, unterschiedlichen Analyseebenen und unterschiedlichen Granularitätsebenen der Analyse. Die meisten dieser Diskussionen sind sehr oberflächlich und lassen ein Verständnis von Gesellschaftstheorie und Gesellschaftsphilosophie vermissen. Eine Hypothese dieses Buches ist, dass der Kapitalismus, um die Ungleichheit der Machtverhältnisse des Kapitalismus und der Kapitalakkumulation aufrechtzuerhalten, seine Produktivkräfte verändern muss, was die Veränderung seiner informationellen Produktivkräfte einschließt. Daher müssen sich die technologischen und informationellen Strukturen des Internets bis zu einem gewissen Grad verändern, um die Kontinuität von Warenkultur, Ausbeutung, Wertschöpfung und Kapitalakkumulation zu gewährleisten. Die Veränderungen der Medien und des Internets sind von komplexen, dialektischen und widersprüchlichen Kontinuitäten und Diskontinuitäten geprägt. Web 1.0, Web 2.0, Web 3.0 Wenn das Web (WWW) als ein techno-soziales System definiert wird, das die sozialen Prozesse der Kognition, Kommunikation und Kooperation umfasst, dann ist das gesamte Web im Durkheimschen Sinne sozial, weil es ein sozialer Tatbestand ist. Teile davon sind im Weberschen Sinne kommunikativ, während der gemeinschaftsbildende und kooperative Teil des Netzes nur im konkretesten Sinne von Tönnies und Marx sozial ist. Der Teil des Netzes, der sich mit Kognition befasst, ist ausschließlich sozial im Sinn von Durkheim, ohne sozial im Sinn von Weber, Tönnies und Marx zu sein. Der Teil, der sich mit Kommunikation befasst, ist sozial im Sinn von Weber und daher auch im Sinn von Durkheim. Und nur der dritte, kooperative Teil hat alle drei Bedeutungen des Sozialen. Ausgehend von dieser Unterscheidung können wir sagen, dass das Web 1.0 ein computerbasiertes vernetztes System menschlicher Kognition ist, das Web 2.0 ein computerbasiertes vernetztes System menschlicher Kommunikation, das Web 3.0 ein computerbasiertes vernetztes System menschlicher Kooperation (Fuchs 2008a; Fuchs et al. 2010). Tabelle 2.1 gibt einen Überblick über die Anwendung der verschiedenen Konzepte der Sozialität im WWW. Ansatz Vertreter Bedeutung der Sozialität im Internet und im WWW 1 Strukturalismus Émile Durkheim: soziale Tatbestände als fixe und objektivierte soziale Strukturen, die das soziale Verhalten beschränken und bedingen. Alle Computer, das Internet und alle WWW-Plattformen sind sozial, weil sie Strukturen sind, in denen sich menschliche Interessen, Verständnisse, Ziele und Absichten vergegenständlichen, da diese Plattformen bestimmte Funktionen in der Gesellschaft haben und soziales Verhalten beeinflussen. <?page no="61"?> 2.4 Soziale Medien mit Durkheim, Weber, Marx und Tönnies erklären 61 2 Handlungstheorien Max Weber: soziales Handeln als wechselseitige symbolische Interaktion. Nur WWW-Plattformen, die Kommunikation ermöglichen, sind sozial. 3 Theorien der Kooperation Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft als soziale Systeme, die auf Zusammengehörigkeitsgefühlen, gegenseitiger Abhängigkeit und moralischen Werten beruhen. Karl Marx: das Soziale als die kooperative Arbeit vieler Menschen, die zu kollektiven Gütern führt, die auch im kooperativen Besitz stehen sollten. Web-Plattformen, die die soziale Vernetzung von Menschen ermöglichen, Menschen in Gemeinschaften zusammenbringen und Gefühle des virtuellen Miteinanders vermitteln, sind sozial. Web-Plattformen, die die kooperative Arbeit und die kollaborative Produktion von digitalem Wissen ermöglichen, sind sozial. 4 Dialektik von Strukturen und Handeln Émile Durkheim : Kognition als sozial aufgrund konditionierender externer sozialer Faktoren Max Weber : kommunikatives Handeln Ferdinand Tönnies, Karl Marx : Gemeinschaftsbildung und kooperative Produktion als Formen der Zusammenarbeit/ Kooperation Web 1.0 als System der menschlichen Kognition. Web 2.0 als System der menschlichen Kommunikation. Web 3.0 als System der menschlichen Kooperation. Das Web als dynamisches dreifaches System der menschlichen Kognition, Kommunikation und Kooperation. Tabelle 2.1: Unterschiedliche Auffassungen von Sozialität im World Wide Web Die Unterscheidung zwischen den drei Dimensionen der Sozialität ist keine evolutionäre oder historische, sondern eine logische. Die Verwendung des Versions-Diskurses bringt die dialektisch-logische Verbindung der drei Modi von Sozialität zum Ausdruck:  Kommunikation basiert auf und erfordert Kognition, ist aber mehr als und anders als Kognition. <?page no="62"?> 62 2 Was sind soziale Medien?  Kooperation basiert auf und erfordert Kommunikation, ist aber mehr als und anders als Kommunikation.  Kommunikation ist eine hegelianische dialektische Aufhebung der Kognition, Kooperation ist eine dialektische Aufhebung der Kommunikation. Aufhebung bedeutet eine Beziehung zwischen Entitäten, in der eine Entität in der anderen erhalten bleibt und die andere Entität eine zusätzliche, von der ersten abweichende Qualität hat (für eine detaillierte Diskussion siehe Fuchs 2011b, Kapitel 2.4 und Kapitel 3.3). Dieser Unterschied eliminiert auch die erste Entität innerhalb der zweiten. Die Erhaltung der Qualitäten ist gleichzeitig eine Eliminierung - die beiden Entitäten sind voneinander verschieden. Eine, zwei oder alle drei Formen der Sozialität können (zu einem bestimmten Zeitpunkt der Analyse) bis zu einem gewissen Grad das WWW oder jedes andere Medium prägen. Die Aufgabe empirischer Studien, die auf theoretischen Konzeptionen des Sozialen basieren, besteht darin, die An- oder Abwesenheit und den Grad der Präsenz der drei Formen von Sozialität in einem bestimmten Medium zu analysieren. Die drei Formen der Sozialität (Kognition, Kommunikation, Kooperation) sind ineinander gekapselt. Jede Schicht bildet die Grundlage für die nächste, die neue Qualitäten hat. Abbildung 2.2 veranschaulicht die Einkapselung der drei Dimensionen der Sozialität im WWW. Abbildung 2.2: Die drei Dimensionen der Sozialität und Gesellschaftlichkeit des Webs Es ist unwahrscheinlich, dass sich das Web (verstanden als ein techno-soziales System, das auf der Interaktion von technologischen Computernetzwerken und sozialen Machtnetzwerken basiert) in den Jahren seit 2000 nicht verändert hat, weil sich das Kapital infolge der kapitalistischen Krise im Jahr 2000 neu organisiert hat, sodass es überleben und neue Sphären der Akkumulation finden kann. Es ist auch unwahrscheinlich, dass das Web seither etwas völlig Neues ist, denn, wie wir gesehen haben, ist das Internet ein komplexes techno-soziales System mit verschiedenen Organisations- und Sozialitätsebenen, die unterschiedliche Geschwindigkeiten und Tiefen des Wandels innerhalb des Kapitalismus aufweisen. <?page no="63"?> 2.4 Soziale Medien mit Durkheim, Weber, Marx und Tönnies erklären 63 Die empirische Untersuchung von Veränderungen des Webs Ob und wie sich das Web verändert hat, muss empirisch untersucht werden. Eine solche empirische Forschung sollte auf theoretischen Modellen basieren. Ich möchte ein Beispiel für die Analyse der Kontinuitäten und Diskontinuitäten des WWW geben. Wir wollen herausfinden, bis zu welchem Grad Kognition, Kommunikation und Kooperation, die drei Modi der Sozialität, bei den am meisten genutzten Web-Plattformen, die die technischen Strukturen des WWW in den Jahren 2002 und 2019 bildeten, vertreten waren. Die Statistiken basieren auf der Anzahl der durchschnittlichen Anzahl der Nutzer: innen in einem Dreimonatszeitraum. Nach den Behauptungen von O'Reilly (2005a, 2005b) war 2002 ein Jahr in der Ära des Web 1.0 und 2023 ein Jahr in der Ära des Web 2.0. Durch die Durchführung einer derartigen Analyse können wir die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der technischen Strukturen des WWW analysieren. Tabelle 2.2 zeigt die Ergebnisse. 9. Dezember 2002 (dreimonatiges Seitenranking auf der Grundlage von Seitenaufrufen und Seitenreichweite) April 2023 (einmonatiges Seitenranking auf der Grundlage von Seitenaufrufen und Seitenreichweite) Rang Web-Plattform Primäre Informationsfunktionen Rang Web-Plattform Primäre Informationsfunktionen 1 yahoo.com Kogn, Komm 1 google.com Kogn, Komm, Koop 2 msn.com Kogn, Komm 2 youtube.com Kogn, Komm 3 daum.net Kogn, Komm 3 facebook.com Kogn, Komm, Koop 4 naver.com Kogn, Komm 4 twitter.com Kogn, Komm 5 google.com Kogn 5 instagram.com Kogn, Komm, Koop 6 yahoo.co.jp Kogn, Komm 6 baidu.com Kogn, Komm 7 passport.net Kogn 7 wikipedia.org Kogn, Komm, Koop 8 ebay.com Kogn 8 yandex.ru Kogn, Komm 9 microsoft.com Kogn 9 yahoo.com Kogn, Komm 10 bugsmusic.co.kr Kogn 10 xvideos.com Kogn, Komm 11 sayclub.com Kogn, Komm 11 whatsapp.com Kogn, Komm, Koop 12 sina.com.cn Kogn, Komm 12 pornhub.com Kogn, Komm 13 netmarble.net Kogn, Komm, Koop 13 xnxx.com Kogn, Komm 14 amazon.com Kogn 14 amazon.com Kogn, Komm 15 nate.com Kogn, Komm 15 tiktok.com Kogn, Komm, Koop 16 go.com Kogn 16 live.com Kogn, Komm 17 sohu.com Kogn, Komm 17 openai.com Kogn, Komm 18 163.com Kogn, Komm 18 reddit.com Kogn, Komm, Koop 19 hotmail.com Kogn, Komm 19 docomo.ne.jp Kogn 20 aol.com Kogn, Komm 20 linkedin.com Kogn, Komm, Koop Kogn: 20 Komm: 13 Koop: 1 Kogn: 20 Komm: 18 Koop: 8 Tabelle 2.2: Informationsfunktionen der Top 20 Websites, Datenquellen: Jahr 2000 - alexa.com; Jahr 2023 - https: / / www.similarweb.com/ top-websites/ ; Kogn = Kognition, Komm = Kommunikation, Koop = Kooperation <?page no="64"?> 64 2 Was sind soziale Medien? Die Analyse zeigt, dass es Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Entwicklung der dominanten Plattformen des WWW in den Jahren 2002 und 2023 gibt. Im Jahr 2002 waren auf den 20 wichtigsten Webplattformen 20 Informationsfunktionen, 13 Kommunikationsfunktionen und eine Kooperationsfunktion verfügbar. Im Jahr 2023 sind auf den 20 wichtigsten Webplattformen 20 Informationsfunktionen, 18 Kommunikationsfunktionen und acht Kooperationsfunktionen verfügbar. Die Zahl der Plattformen, die auf rein kognitive Aufgaben ausgerichtet sind (wie Suchmaschinen), ist von sieben im Jahr 2002 auf zwei im Jahr 2023 zurückgegangen. Im Jahr 2023 lag die Zahl der Plattformen, die sowohl kommunikative als auch kooperative Funktionen aufweisen, bei acht. Im Jahr 2002 gab es nur eine Plattform mit kooperativen Merkmalen. Die technologischen Grundlagen für kommunikative und kooperative Sozialität haben quantitativ zugenommen. Die quantitative Zunahme der kooperativen Funktionen von eins auf acht hat mit dem Aufstieg von Facebook (Soziales Netzwerk), Twitter/ X (Microblog), Instagram (Foto- und Video-Sharing), Wikipedia (kollaborative Online-Enzyklopädie), WhatsApp (Instant Messaging), TikTok (Short-Form Video Sharing), Reddit (Content Rating-Plattform, Social News Aggregator) und LinkedIn (Business Social Network) zu tun. Die Statistiken deuten darauf hin, dass der Aufstieg der kooperativen Sozialität, der durch Social-Networking-Plattformen und Wikis unterstützt wird, und die Differenzierung der kognitiven und kommunikativen Sozialität (das Aufkommen von File- Sharing-Sites und Blogs, einschließlich Mikroblogs wie Twitter) bis zu einem gewissen Grad die technischen Strukturen des WWW verändert haben, um neue Modelle der Kapitalakkumulation und die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Charakters des WWW zu ermöglichen. Eine weitere bedeutende Veränderung ist der Aufstieg der Suchmaschine Google, die bei den Kapitalakkumulationsmodellen im Web Pionierarbeit geleistet hat, in dem Google personalisierte Werbung eingeführt hat, die auf die Interessen der Nutzer: innen zugeschnitten sind und auf der Überwachung des Online- Verhaltens und der persönlichen Interessen der Nutzer: innen im Internet beruht. Die Veränderung der technischen Strukturen des WWW hat die Kontinuität der Logik der Kapitalakkumulation im Internet nach der Dotcom-Blase ermöglicht. Wikipedia, eine gemeinnützige und nicht-kommerzielle Plattform, die sich durch Spenden der Nutzer: innen finanziert, hat die Szene betreten. Wikipedia ist die bisher einzige sehr erfolgreiche WWW-Plattform, die nicht auf einem Kapitalakkumulationsmodell basiert und die nichtprofitorientiert ist. 2.5 Ein Modell der Kommunikation auf sozialen Medien Die Untersuchung der Aktivitäten auf sozialen Medien ist aufgrund der Neuartigkeit von Blogs und sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter ein relativ junges Unterfangen. Ausgehend von den theoretischen Annahmen über den Informationsprozess (das in Abschnitt 2.3 vorgestellte Modell der Information als Kognition, Kommunikation und Kooperation) und die Gesellschaft (in Abschnitt 2.3) können wir Kommunikation auf sozialen Medien gesellschaftstheoretisch analysieren (vgl. Fuchs 2015, Kapitel 8; Fuchs & Trottier 2015; Trottier & Fuchs 2015). Einige konstitutive Merkmale der sozialen Medien in der modernen Gesellschaft werden nun diskutiert. <?page no="65"?> 2.5 Ein Modell der Kommunikation auf sozialen Medien 65 Integrierte Sozialität Soziale Medien ermöglichen die Konvergenz der drei Modi der Sozialität (Kognition, Kommunikation, Kooperation) in einer integrierten Sozialität. Das bedeutet, dass zum Beispiel auf Facebook ein Individuum auf der kognitiven Ebene einen multimedialen Inhalt wie ein Video erstellt, ihn veröffentlicht, damit andere ihn kommentieren können (die kommunikative Ebene), und anderen erlaubt, den Inhalt zu verändern und zu remixen, sodass neue Inhalte mit multipler Autorenschaft entstehen können. Ein Schritt führt nicht unbedingt zum nächsten, aber die Technologie hat das Potenzial, die Kombination aller drei Aktivitäten in einem Raum zu ermöglichen. Facebook fördert standardmäßig den Übergang von einer Stufe der Sozialität zur nächsten innerhalb desselben sozialen Raums. Integrierte soziale Rollen Soziale Medien wie Facebook basieren auf der Erstellung persönlicher Profile, die die verschiedenen sozialen und gesellschaftlichen Rollen im Leben eines Menschen reflektieren. In der heutigen modernen Gesellschaft neigen verschiedene soziale Rollen dazu, in verschiedenen sozialen Räumen zu konvergieren. Die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Leben sowie zwischen Arbeitsplatz und Wohnung sind durchlässig geworden. Habermas (1981a, 1981b) identifiziert die Systeme der Wirtschaft und des Staates sowie die Lebenswelt als zentrale Bereiche der modernen Gesellschaft. Die Lebenswelt lässt sich weiter in Kultur und Zivilgesellschaft unterteilen. In diesen Bereichen agieren wir in unterschiedlichen sozialen Rollen: zum Beispiel als Arbeitnehmer: innen und Konsument: innen im Wirtschaftssystem, als Klient: innen und Bürger: innen im Staatssystem, als Aktivistinnen und Aktivisten im sozio-politischen und im sozio-kulturellen Bereich als Liebende und Konsument: innen. Wir agieren auch als Familienmitglieder im privaten Bereich oder als Mitglieder von Fan-Gemeinden, Kommunen, Berufsverbänden usw. im soziokulturellen Bereich. Es ist eine neue Form flüssiger und poröser Sozialität entstanden, in der wir im selben sozialen Raum (wie zum Beispiel Facebook) in verschiedenen sozialen Rollen agieren. Auf sozialen Medien wie Facebook agieren wir in verschiedenen Rollen, aber alle diese Rollen werden auf einzelne Profile abgebildet, die von verschiedenen Personen beobachtet werden, die mit unseren verschiedenen sozialen Rollen zu tun haben. Das bedeutet, dass soziale Medien soziale Räume sind, in denen die sozialen Rollen tendenziell konvergieren und in einzelne Profile integriert werden. Integrierte und konvergierende Kommunikation auf sozialen Medien Auf sozialen Medien werden verschiedene soziale Aktivitäten (Kognition, Kommunikation, Kooperation) in unterschiedlichen sozialen Rollen, die zu unserem Verhalten in Systemen (Wirtschaft, Staat) und der Lebenswelt (Privatbereich, sozio-ökonomischer Bereich, sozio-politischer Bereich, sozio-kultureller Bereich) gehören, auf einzelne Profile abgebildet. In diesem Prozess werden Daten über a) soziale Aktivitäten innerhalb b) sozialer Rollen generiert. Das bedeutet, dass ein Facebook-Profil a1) persönliche Daten, a2) kommunikative Daten, a3) Daten zu sozialen Netzwerken/ Gemeinschaftsdaten in Bezug auf b1) private Rollen (Freund: in, Geliebte: r, Verwandte: r, Vater, Mutter, Kind usw.), b2) zivilgesellschaftlichen Rollen (soziokulturelle Rollen als Mitglieder von Fangemeinschaften, Nachbarschaftsvereinigungen usw.) enthält, b3) öffentliche Rollen (sozio-ökonomische und sozio-politische Rollen als Aktivist: innen und politisch denkende und handelnde Menschen) und b4) systemische Rollen (in der <?page no="66"?> 66 2 Was sind soziale Medien? Politik: Wähler: in, Bürger: in, Kunde/ Kundin, Politiker: in, Bürokrat: in usw.; in der Wirtschaft: Arbeitnehmer: in, Manager: in, Eigentümer: in, Käufer: in, Konsument: in usw.). Die verschiedenen sozialen Rollen und Aktivitäten tendieren zur Konvergenz, wie z.B. in der Situation, in der der Arbeitsplatz auch ein Spielplatz ist, auf dem Freundschaften und intime Beziehungen entstehen und aufgelöst werden und auf dem Freizeitaktivitäten durchgeführt werden. Das bedeutet auch, dass es sich bei der Überwachung auf sozialen Medien um eine integrierte Form der Überwachung handelt, bei der mit Hilfe von Profilen, die eine komplex vernetzte Vielzahl von Daten über Menschen enthalten, unterschiedliche (teils konvergierende) Aktivitäten in verschiedenen, teils konvergierenden sozialen Rollen überwacht werden. Der gesamte Kommunikationsprozess auf sozialen Medien ist eine Kombination und Vernetzung einer Vielzahl von Kommunikationsprozessen. Die Integration verschiedener Formen von Sozialität und sozialen Rollen auf sozialen Medien bedeutet, dass es unzählige mögliche soziale Funktionen gibt, die jede einzelne Plattform erfüllen kann. Einzelne Bürger: innen können sie nutzen, um mit anderen Bürger: innen im Kontext beliebig vieler sozialer Rollen zu kommunizieren, aber auch für Zwecke, die über die Rollen hinausgehen können. Für die gleichen Zwecke können sie auch mit Organisationen und Institutionen kommunizieren. Sie können auch einfach die Kommunikation verfolgen, an der einer dieser sozialen Akteure beteiligt ist. Auch Institutionen, einschließlich Staatsorgane, können all dies tun. 2.6 Die Veränderungen der Digitalen Kommunikation in der Coronavirus-Krise Die COVID-19-Krise Die Coronavirus-Krankheit (auch COVID-19 genannt) ist eine hoch ansteckende und gefährliche Atemwegserkrankung, die die Lungen infizierter Menschen befällt. Das Virus, das sich im Jahr 2020 ausbreitete, wird auch SARS-CoV-2 genannt. Der Einfachheit halber bezeichnen wir es in diesem Kapitel als „Coronavirus“. Es stammt von Tieren, wahrscheinlich Fledermäusen, und wurde auf den Menschen übertragen, möglicherweise durch das Schuppentier. Die erste gemeldete Infektion fand in Wuhan, der neuntgrößten Stadt Chinas, statt. Das Virus verbreitete sich weltweit. Es gibt verschiedene Typen des Coronavirus. Im März 2020 erklärte die Weltgesundheitsorganisation COVID-19 zur Pandemie. Die USA und Großbritannien hatten die größte absolute Zahl an Todesfällen. Diese beiden Länder sind die westlichen Staaten, in denen der Neoliberalismus unter Margaret Thatcher als britische Premierministerin und Ronald Reagan als US-Präsident seinen Ursprung hatte. Man spricht daher auch vom Neoliberalismus als „Thatcherismus“ und „Reagonomics“. Ein Merkmal von Thatcherismus und Reagonomics sind Kürzungen bei öffentlichen Dienstleistungen und die Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen. In den USA ist das Gesundheitssystem privat und wird von profitorientierten Unternehmen betrieben. Das britische Gesundheitssystem ist chronisch unterfinanziert. Infolgedessen waren die Gesundheitssysteme in den USA und in Großbritannien schlecht auf die Pandemie vorbereitet. Viele Beobachter: innen sind auch der Meinung, dass die Führer der beiden Länder - Donald Trump und Boris Johnson - die Pandemie nicht ernst genug nahmen und soziale Distanzierungsmaßnahmen zu spät und nur halbherzig durchsetzten. <?page no="67"?> 2.6 Die Veränderungen der Digitalen Kommunikation in der Coronavirus-Krise 67 Das Internet war in der COVID-19-Krise in zweierlei Hinsicht bedeutsam: 1. bei der durch die Internetkommunikation vermittelten Veränderungen der Sozialität; 2. Bei der Verbreitung von gefälschten Nachrichten über COVID-19 auf sozialen Medien. Die Internet-vermittelte Reorganisation der Sozialität in der COVID-19-Krise In der COVID-19-Krise gab es in vielen Ländern eine „Abriegelung“ des öffentlichen Lebens. Die alltägliche Kommunikation und die sozialen Beziehungen wurden dadurch radikal umgestaltet. Soziale Distanzierung wurde in vielen Teilen der Welt praktiziert. Dies war eine Reaktion auf die COVID-19-Krise. Soziale Distanzierung bedeutet nicht die Auflösung der sozialen Beziehungen. Es bedeutet vielmehr, dass die sozialen Beziehungen neu organisiert werden. In der Pandemiekrise vermieden die Menschen den persönlichen Kontakt. Die sozialen Beziehungen wurden neu organisiert, sodass die Online-Kommunikation eine vermittelnde Rolle spielte. Kommunikationstechnologien wie Telefon, soziale Medien, Messenger- und Videokommunikation und Kollaborationssoftware wie WhatsApp, Telegram, Zoom, Skype, Panopto, Blackboard Collaborate, Microsoft Teams, Jitsi, Discord, DingTalk, Tencent Meeting usw. wurden zur Vermittlung und Fernorganisation sozialer Beziehungen eingesetzt. Soziale Distanzierung bedeutet nicht die Vermeidung oder das Ende von Kommunikation. Sie ist vielmehr der Ersatz der durch Face-to-Face-Kommunikation durch vermittelte Kommunikation. In einer Pandemiekrise ist die vermittelte Kommunikation eine Strategie des Überlebens und der Vermeidung. Wer sich auf soziale Distanzierung einlässt, distanziert sich nicht von anderen Menschen. Vielmehr gibt es eine physische Distanzierung der Sozialität im Raum. Kommunikationstechnologien helfen dabei, Kommunikation und Sozialität über Distanz zu organisieren. Das verursacht gleichzeitig Probleme, weil es schwieriger ist, Emotionen online zu kommunizieren. Man kann seine Lieben online nicht so umarmen, berühren und fühlen, wie man es bei physischer Nähe tun kann. In der COVID-19-Krise erzeuget der Mangel an physischer Nähe bei der Online-Kommunikation im Vergleich zur Kommunikation von Angesicht zu Angesicht psychologischen Druck. In der modernen Gesellschaft übt der Mensch sein Alltagsleben in einer Vielzahl von sozialen Räumen aus. In einer routinemäßigen Weise verbringen wir bestimmte Zeitabschnitte zusammen mit anderen Menschen an bestimmten Orten, um routinemäßige Praktiken wie zum Beispiel unseren Beruf auszuüben. Wichtige Schauplätze unseres Alltagslebens in der modernen Gesellschaft sind das Zuhause, der Arbeitsplatz und die Bildungseinrichtungen (Kindergarten, Schule, Universität). Die Coronavirus- Krise führte zu einer grundlegenden Neuordnung der Zeit und des Raums des Alltagslebens. Viele Arbeitsplätze und öffentliche Räume wie Restaurants, Parks, Spielplätze, Cafés usw. wurden geschlossen. Die physische und soziale Differenzierung der Orte des Alltagslebens wurde aufgehoben. Das Zuhause war plötzlich nicht mehr nur der Ort des Familienlebens, sondern auch der Arbeitsplatz, die Schule, der Kindergarten, der Spielplatz, der Park, das Café usw. Im Sozialraum der Wohnung konvergierten verschiedene Sozialräume miteinander. Das Zuhause wurde zu einem konvergenten Raum, dem überlokalen Raum des Alltagslebens, in dem alle Orte, die wir regelmäßig besuchen, und alle unsere sozialen Praktiken und sozialen Rollen zusammenflossen. In der Coronavirus-Krise konvergierten die sozialen Räume und Orte der Arbeit, der Freizeit, der Bildung, der Öffentlichkeit, des Privatlebens, der Freundschaften, der <?page no="68"?> 68 2 Was sind soziale Medien? Familie am Ort des Zuhauses. Das Problem, das in einer solchen Situation entstehen kann, besteht darin, dass der Einzelne überfordert wird, wenn es schwierig wird, mehrere soziale Rollen wie z.B. Elternteil, Arbeitnehmer: in, Freund: in, Nachbar: in usw. - zur gleichen Zeit von einem Ort aus zu bewältigen. In der COVID-19-Krise war das Internet das wichtigste Kommunikationsmittel, das dazu beitrug, soziale Beziehungen über die Distanz vom Supra-Ort der Wohnung aus zu organisieren. Aber in dieser Krise konnte nicht jeder von zu Hause aus arbeiten. Vor allem die Beschäftigten in der kritischen Infrastruktur und die Handarbeiter: innen konnten dies nicht tun. Sie waren einem höheren Risiko ausgesetzt, sich mit dem Virus anzustecken oder arbeitslos zu werden als andere Arbeitnehmer: innen. Obdachlose, Arme, Alte, Schwache, Kranke und People of Colour waren besonders betroffen. Abbildung 2.3 veranschaulicht die Veränderungen in der Kommunikation und das Aufkommen des Homeoffice während der COVID-19-Pandemie. Sie nutzt die Unterscheidung des französischen Philosophen Henri Lefebvre (2002, 166, 216-218) zwischen dem Erlebten ( le vécu ) und dem Leben ( le vivre ). Das Erleben ist die Ebene der menschlichen Praktiken, das Leben ist die Ebene der sozialen und gesellschaftlichen Strukturen. Auf der strukturellen Ebene haben die Menschen spezifische soziale Rollen und sind Teil von sozialen Systemen, sozialen Strukturen, gesellschaftlichen Institutionen, dem Wirtschaftssystem, dem politischen System und dem kulturellen System. Solche Systeme haben spezifische Logiken, Regeln und Ressourcen. Abbildung 2.3: Alltag und Alltagskommunikation in der COVID-19-Pandemiekrise Kommunikationsmittel oder das, was manchmal als Medien bezeichnet wird, sind techno-soziale Systeme und Strukturen, die auf der Ebene des Lebens wirken. Kommunikationsmittel vermitteln ebenso wie andere soziale Strukturen die menschliche Kommunikation und menschliche Praktiken. Vermittlung bedeutet, dass die Medien menschliche Praktiken ermöglichen und einschränken. Wir können zwischen fünf Arten von Kommunikationsmitteln unterscheiden. Sie sind in Tabelle 2.3 dargestellt. <?page no="69"?> 2.6 Die Veränderungen der Digitalen Kommunikation in der Coronavirus-Krise 69 Rolle der technischen Vermittlung Beispiele Primäre Kommunikationstechnologien Menschlicher Körper und Geist, keine Kommunikationstechnologien werden zur Produktion, Distribution und Rezeption von Information verwendet Theater, Konzerte, Aufführungen, interpersonelle Kommunikation Sekundäre Kommunikationstechnologien Verwendung von Kommunikationstechnologien zur Produktion von Information Zeitungen, Magazine, Bücher, technologisch produzierte Kunst und Kultur Tertiäre Kommunikationstechnologien Verwendung von Kommunikationstechnologien zur Produktion und Rezeption von Information, nicht zur Distribution CDs, DVDs, Kassetten, Schallplatten, Blu-ray, Festplatten Quartäre Kommunikationstechnologien Verwendung von Kommunikationstechnologien zur Produktion, Distribution und Rezeption von Information TV, Radio, Film, Telefon, Internet Quintäre Kommunikationstechnologien Digitale Technologien zur Prosumtion (produktive Konsumtion), nutzergenerierte Inhalte Internet, soziale Medien Tabelle 2.3: Fünf Arten von Kommunikationsmitteln Während der COVID-19-Pandemie gab es drei Besonderheiten bei der Veränderung von Kommunikation und Sozialität:  Die sozialen Rollen der Menschen konvergierten, so dass sie zur gleichen Zeit im gleichen Raum, nämlich in ihren Wohnungen, in verschiedenen sozialen Rollen agierten. Die Trennung von und die Grenzen zwischen verschiedenen sozialen Systemen und sozialen Rollen brach damit zusammen.  Die Vermittlung von Kommunikation durch primäre Kommunikationsmittel brach zusammen. Das bedeutet, dass die technologisch nicht vermittelte, direkte, zwischenmenschliche Kommunikation auf ein Minimum reduziert wurde.  Kommunikationsmittel, die Live-Videokommunikation ermöglichen, wie Zoom und MS Teams, und quartäre Kommunikationstechnologien sowie quinäre Kommunikationstechnologien wie soziale Medien und Plattformen zum Austausch von nutzergenerierten Inhalten wurden zu zentralen Mitteln für die Organisation des Alltagslebens, der Alltagskommunikation und der Alltagsarbeit. Infolgedessen stiegen die Profite kapitalistischer Kommunikationsunternehmen wie Zoom, Microsoft und Facebook während der Pandemie sprunghaft an. Im Jahr 2019 lag der Jahresgewinn von Microsoft bei 39,2 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2020 stiegen der Profit des Unternehmens auf 44,3 Milliarden US-Dollar und im Jahr 2021 auf 61,3 Milliarden US-Dollar. im Jahr 2022 betrug der Profit 72,7 Milliarden US-Dollar und 2023 72.4 Milliarden US-Dollar 7 . Microsoft hat es nie geschafft, in das Zeitalter der sozialen Medien einzusteigen, was dem Unternehmen Probleme bereitete. Während der COVID-19-Pandemie verzeichnete das Unternehmen einen großen Profitzuwachs, was mit der Popularität einiger seiner Plattformen wie Microsoft Teams zu tun hatte. Eine weitere sehr wichtige Kommunikationsplattform während der Pandemie war Zoom. 7 Datenquelle: Microsoft SEC Filings, Form 10-K, Finanzjahre 2020, 2022, 2023. <?page no="70"?> 70 2 Was sind soziale Medien? Zoom Für viele digitale Konzerne war die COVID-19-Krise profitabel. Die Videokommunikationssoftware und -applikation des kalifornischen Unternehmens Zoom wurde von sehr vielen Menschen genutzt. Zoom akkumuliert Kapital, indem es monatliche Abonnementgebühren erhebt, die es seinen Nutzer: innen ermöglichen, Online-Videochats und -konferenzen abzuhalten. In den sechs Monaten bis Februar 2020 lag der Umsatz von Zoom bei 991,7 Millionen US-Dollar, ein Anstieg um 169 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2019. Der Profit des Unternehmens stieg im gleichen Zeitraum von 5,0 Millionen US-Dollar auf 212,2 Millionen US-Dollar 8 . Im Jahr 2021 belief sich der Gewinn von Zoom auf 672 Millionen US-Dollar. Im Jahr 2022 hat sich der Gewinn auf 1,38 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppelt. Im Jahr 2023 sank der Profit auf 104 Milliarden US-Dollar 9 . Während der COVID-19-Pandemie nahm die Zahl der Nutzer: innen von Zoom stark zu. Einzelpersonen und Organisationen zahlten Gebühren für die Nutzung der Plattform als Kommunikationsplattform. Zoom wurde auch in die Forbes-Rangliste der größten transnationalen Unternehmen der Welt aufgenommen, wo es in der Forbes- Liste 2022 auf Platz 1.184 stand 10 . Zoom meldete einen Anstieg der Meeting-Teilnehmer: innen von 200 Millionen im März 2020 auf 300 Millionen im April 202011. Zoom hat während der COVID-19-Pandemie enorme Gewinne erzielt, weshalb das Unternehmen auch in die Forbes 2000- Liste aufgenommen wurde. Zoom ist an der NASDAQ-Börse notiert. Der Aktienkurs stieg von 76,30 US-Dollar am 1. Januar 2020 auf 460,91 US-Dollar am 1. Oktober 2020. Am 10. Oktober 2023 war der Kurs auf 67,28 US$ gefallen12. 2.7 Schlussfolgerungen Die Analyse von Kontinuitäten und Diskontinuitäten des Netzes erfordert gesellschaftswissenschaftliche Grundlagen. Das WWW ist nicht einfach sozial, sondern bis zu einem gewissen Grad auf bestimmten Analyseebenen sozial. Diese Analyseebenen sind in soziologischen Konzeptionen der Sozialität begründet. Vergleicht man die Nutzung des WWW in den späten 1990er Jahren mit dem Ende der ersten Dekade des zweiten Jahrtausends, so zeigt sich, dass die Nutzungsmuster des WWW von Kontinuitäten und Diskontinuitäten geprägt sind. Informationen sind kontinuierlich präsent, die Kommunikation hat sich gewandelt, Web-Technologien der Kooperation sind häufiger genutzt und wichtiger geworden, sind aber nicht dominant. Das Web ist weder rein alt noch rein neu. Es ist ein komplexes techno-soziales System, das eingebettet ist in die Machtstrukturen des Kapitalismus, das sich auf bestimmten Ebenen in gewissem Umfang verändern muss, um die Kontinuität der internet-basierten Kapitalakkumulation zu ermöglichen. Dieses Kapitel befasste sich mit der Frage: Was ist das Soziale an den sozialen Medien? Die wichtigsten Ergebnisse sind folgende: 8 Datenquelle: Zoom SEC Filings, Form 8-K, 2. Juni 2020, https: / / investors.zoom.us 9 Datenquelle: Zoom SEC Filings, Form 10-K, 8. Mai 2023, https: / / investors.zoom.us 10 Datenquelle: https: / / www.forbes.com/ lists/ global2000/ , abgerufen am 1. Juni 2023. 11 https: / / blog.zoom.us/ wordpress/ 2020/ 04/ 22/ 90-day-security-plan-progress-report-april- 22/ , https: / / blog.zoom.us/ wordpress/ 2020/ 04/ 01/ a-message-to-our-users/ 12 Datenquelle: Yahoo Finance, https: / / finance.yahoo.com/ , abgerufen am 11. Oktober 2023. <?page no="71"?> 2.7 Schlussfolgerungen 71  Der Umgang mit der Frage „Was sind soziale Medien? “ erfordert ein Verständnis dafür, worum es beim Sozialen geht. In dieser Hinsicht ist es hilfreich, sich mit Gesellschaftstheorien und Konzepten der Sozialität auseinanderzusetzen. Zu den relevanten Konzepten von Sozialität gehören soziale Tatbestände (Émile Durkheim), Soziale Beziehungen/ soziales Handeln (Max Weber), kooperative Arbeit (Karl Marx) und Gemeinschaft (Ferdinand Tönnies).  Die Behauptungen über die Neuartigkeit und die Möglichkeiten des „Web 2.0“ und der „sozialen Medien“ wie Blogs, Social-Networking-Plattformen, Wikis, Microblogs oder Content-Sharing-Plattformen entstanden im Kontext der Dotcom-Krise der Internetwirtschaft und der daraus resultierenden Suche nach neuen Geschäftsmodellen und Ideologien, die Investor: innen und Nutzer: innen davon überzeugen sollen, neue Plattformen zu unterstützen. Die Ideologie der Neuheit will Investor: innen und Nutzer: innen anziehen.  Die meisten Social-Media-Technologien entstanden vor 2005, als Tim O’Reilly das Konzept des Web 2.0 etablierte. Wikis, Blogs, Social-Networking-Sites, Mikroblogs und Plattformen zum Teilen nutzergenerierter Inhalte sind jedoch seit der Mitte des ersten Jahrzehnts des zweiten Jahrtausends sehr populär geworden. Es ist sowohl unwahrscheinlich, dass sich das WWW in den Jahren 2000-2010 überhaupt nicht verändert hat, als auch unwahrscheinlich, dass es sich radikal verändert hat. Die kapitalistische Internet-Wirtschaft muss sich verändern und erneuern, um die Kontinuität der Kapitalakkumulation zu gewährleisten.  Die Gesellschaftstheorie kann uns helfen, die Struktur, das Wirken und die Dynamik der sozialen Medien besser zu verstehen.  Medien sind techno-soziale Systeme, in denen technologische Strukturen auf komplexe Weise mit sozialen Beziehungen und menschlichem Handeln interagieren. Machtstrukturen prägen die Medien und die sozialen Beziehungen der Medien. Bei der Analyse sozialer Medien sollte man sich über die Analyseebene im Klaren sein und diese erläutern.  In der Coronavirus-Krise wurden Sozialität und Kommunikation radikal umgestaltet. Das Zuhause wurde zu einem konvergenten Supra-Ort, von dem aus viel alltägliche Kommunikation über Distanzen hinweg organisiert wurde und die sozialen Rollen konvergierten. Kommunikationstechnologien vermittelten Alltagskommunikation und Alltagssozialität über räumliche Distanz hinweg. Empfohlene Literatur und Übungen Übung 2.1: Das Soziale In diesem Kapitel haben Sie über den Begriff des Sozialen in der Gesellschaftstheorie gelesen. Und Sie haben gelernt, wie man solche Definitionen verwendet, um darüber nachzudenken, was an sozialen Medien sozial ist. Es ist gut, wenn Sie das, was Sie gelesen haben, mit anderen diskutieren. Falls Sie in einer Klasse oder Studiengruppe sind, empfehle ich, dass sie eine Diskussion über die folgenden Fragen führen:  Was bedeutet es, sozial zu sein? Was ist Gesellschaft? Welches Verständnis von Sozialem und Gesellschaft brauchen wir, um „soziale Medien“ zu definieren? Welche Definition des Sozialen finden Sie am hilfreichsten? Was ist Ihre eigene Definition der sozialen Medien? <?page no="72"?> 72 2 Was sind soziale Medien? Wenn Sie auf individueller Basis arbeiten (oder als Ergebnis der Diskussion in Ihrer Klasse oder Studiengruppe), schreiben Sie einen Blog-Beitrag, in dem diese Fragen diskutiert werden, veröffentlichen Sie ihn online (z.B. auf medium.com oder einer anderen Plattform), verbreiten Sie ihn in sozialen Medien und versuchen Sie, andere in eine Online-Debatte einzubinden. Übung 2.2: Die Theorien von Max Weber und Émile Durkheim und die sozialen Medien Der deutsche Soziologe Max Weber (1864-1920) war einer der Begründer der Soziologie. Émile Durkheim (1858-1917) war ein wichtiger französischer Soziologe. In „Soziologische Grundbegriffe“ stellt Max Weber grundlegende Kategorien einer soziologischen Handlungstheorie vor, wie z.B. Handlung, soziales Handeln und soziale Beziehungen. Lesen Sie zunächst den Text und führen Sie dann die folgenden Aufgaben durch. Weber, Max. 1922/ 1960. Soziologische Grundbegriffe. Tübingen: Mohr Siebeck. Auch veröffentlicht als Kapitel in Webers Buch Wirtschaft und Gesellschaft : Weber, Max. 1922. Soziologische Grundbegriffe. In Wirtschaft und Gesellschaft , 1-30. Tübingen: J.C.B. Mohr. Diskutieren Sie in Gruppen und vergleichen Sie Ihre Ergebnisse:  Wie definiert Max Weber soziales Handeln?  Machen Sie eine Liste von Beispielen für Online-Aktivitäten, die in Webers Theorie sozial und nichtsozial sind.  Versuchen Sie, Beispiele für die vier Arten des sozialen Handelns zu finden, die Weber identifiziert.  Versuchen Sie, Beispiele für die vier Arten des sozialen Handelns nach Max Weber im Kontext des Internets zu finden, also vier Arten von sozialen Online- Handlungen. Versuchen Sie, eine Definition von sozialen Medien zu geben, die Max Webers Konzepte des sozialen Handelns und der sozialen Beziehungen verwendet. Machen Sie eine Liste von zehn Internet-Plattformen, Apps und Internet-Diensten, die Sie häufig nutzen. Verwenden Sie Ihre von Weber inspirierte Definition von sozialen Medien, um zu diskutieren, welche der Dienste in Ihrer Liste soziale Medien sind und welche nicht. Übung 2.3: Die Theorie von Karl Marx und die sozialen Medien Lesen Sie das folgende Kapitel: Karl Marx 1867. Das Kapital . Band 1. Berlin: Dietz Verlag. Kapitel 11: Kooperation. Kapital Band I ist eines der einflussreichsten Bücher des wirtschaftlichen Denkens. Es enthält ein Kapitel, in dem das Phänomen der kooperativen Arbeit und seine Rolle in der modernen Wirtschaft diskutiert wird. Diskutieren Sie in Gruppen und vergleichen Sie Ihre Ergebnisse:  Versuchen Sie, eine Definition von Kooperation und kooperativer Arbeit zu geben (dies setzt voraus, dass Sie auch den Begriff „Arbeit“ definieren).  Wie sieht Marx die Rolle der Kooperation im Kapitalismus? <?page no="73"?> Empfohlene Literatur und Übungen 73 Wie funktioniert die Kooperation bei Wikipedia-Artikeln? Versuchen Sie, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der vom Kapitalismus herbeigeführten Kooperation, die Marx beschreibt, und der Kooperation auf Wikipedia zu identifizieren. Was sind die Unterschiede und Gemeinsamkeiten? Übung 2.4: Sozialität und Kommunikation während de COVID-19-Pandemie Lesen Sie zunächst den folgenden Text über Kommunikation und soziale Beziehungen in der Coronavirus-Krise: Christian Fuchs: Alltagsleben und Alltagskommunikation im Coronavirus-Kapitalismus. tripleC: Communication, Capitalism & Critique 18 (1): 400-428. DOI: https: / / doi.org/ 10.31269/ triplec.v18i1.1168 Diskutieren Sie die folgenden Fragen:  Wie haben Sie die Coronavirus-Krise erlebt?  Wie haben sich Sozialität und Kommunikation in der Coronavirus-Krise verändert? Welche Herausforderungen und Probleme brachten diese Veränderungen mit sich? Gibt es konkrete Beispiele dafür?  Warum sind Falschnachrichten und Verschwörungstheorien in Krisen wie der COVID-19-Pandemiekrise so weit verbreitet?  Werfen Sie einen Blick auf eine beispielhafte Verschwörungstheorie zu COVID- 19 und versuchen Sie herauszufinden und zu dokumentieren, wie sie sich auf sozialen Medien verbreitet hat. <?page no="75"?> Big Data im digitalen Kapitalismus Schlüsselfragen  Was ist der digitale Kapitalismus?  Was ist Big Data?  Was ist die Rolle von Big Data im digitalen Kapitalismus?  Was sind die Implikationen von Big Data für Gesellschaft, Forschung und Wissenschaft?  Was sind die Probleme von Big Data?  Was sind die Probleme von Big Data-Analytics und Computational Social Science?  Was sind die Grundlagen der kritischen Erforschung digitaler und sozialer Medien? Schlüsselkonzepte  Kapitalismus  Digitaler Kapitalismus  Big Data  Big Data Analytics  Computational Social Science  Kritische Erforschung digitaler und sozialer Medien 3.1 Überblick Dieses Kapitel bietet eine Einführung dazu, wie man über Big Data nachdenken kann. Abschnitt 3.2 diskutiert den digitalen Kapitalismus. In Abschnitt 3.3 wird erläutert, was Big Data ist und welche Rolle Big Data im digitalen Kapitalismus spielt. In Abschnitt 3.3 wird der Begriff des Big Data-Kapitalismus eingeführt. In Abschnitt 3.4 werden die Probleme von Big Data umrissen. In Abschnitt 3.5 werden die Probleme der Erforschung sozialer Medien als Big Data Analytics und Computational Social Science diskutiert. Abschnitt 3.6 präsentiert Schlussfolgerungen. 3.2 Der digitale Kapitalismus Was ist Kapitalismus? Soziologen wie Werner Sombart (1916/ 1969), Max Weber (1922/ 2016, 106-108) und Thorstein Veblen (1915, 1) sowie Ökonomen wie Joseph Schumpeter (1939, 216; 1943, 83) und Thomas Piketty (2020, 202) haben den Kapitalismus als Wirtschaftssystem definiert und verstanden. Dies ist nicht falsch, da wir oft von der „kapitalistischen Wirtschaft“ sprechen. Die Logik des Kapitals und der Akkumulation hat jedoch größere Auswirkungen auf die Gesellschaft. Um den Kapitalismus zu verstehen, reicht es daher nicht aus, eine öko- <?page no="76"?> 76 3 Big Data im digitalen Kapitalismus nomische Analyse durchzuführen. Wir brauchen eine gesellschaftliche Analyse des Kapitalismus, die Analyse des Kapitalismus als Gesellschaft. Marx sprach von der „kapitalistischen Gesellschaft“ (z.B. Marx 1867, 28, 552, 672, 743) und der „kapitalistischen Produktionsweise“ (z.B. Marx 1867, 12, 19, 21, 22, 184, 246, 250, 254, 354, 374, 384, 385, 451, 455, 471, 505, 506, 528, 533, 539, 552, 555, 562, 580, 591, 618, 620, 653, 654, 657, 741, 745, 776, 778, 779, 787, 790, 791, 794, 795). Für Marx ist der Kapitalismus sowohl eine Art von Wirtschaft, eine ökonomische Produktionsweise, als auch eine Art von Gesellschaft, eine Gesellschaftsformation. Anders als Schumpeter, Sombart, Veblen und Weber, beschränkt Marx den Begriff des Kapitalismus nicht auf die Wirtschaft, sondern geht davon aus, dass Kapitalismus eine Dialektik von Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet. Der Kapitalismus ist sowohl eine Wirtschaft als auch eine Gesellschaft. Diese Unterscheidung zwischen einem wirtschaftlichen und einem gesellschaftlichen Verständnis des Kapitalismus besteht bis heute. Während zum Beispiel der französische Ökonom Thomas Piketty (2020, 154) den Kapitalismus als ein Wirtschaftssystem definiert, bei dem es um die ständige „Ausweitung des Privateigentums und der Akkumulation von Vermögenswerten“ geht, versteht Nancy Fraser den Kapitalismus nicht als „Wirtschaftsform, sondern als eine Gesellschaftsform, die es einer offiziell als solche bezeichneten Wirtschaft erlaubt, monetären Wert für Investoren und Eigentümer anzuhäufen, während sie den nicht ökonomisierten Reichtum aller anderen verschlingt“ (Fraser 2023, 12). Die Wirtschaft in Form der gesellschaftlichen Produktion spielt in der Gesellschaft eine besondere Rolle. Das Nicht-Ökonomische, so argumentiert Georg Lukács (1986, 448), wird vom Ökonomischen „umschrieben“. Die Wirtschaft, so Raymond Williams, „setzt Grenzen, übt Druck aus" (Williams 1973, 4) auf das Nicht-Ökonomische. Die Ökonomie bestimmt, wie Stuart Hall (2021, 156) schreibt, das Nicht-Ökonomische nicht in letzter Instanz, sondern in „erster Instanz“. „Der Kapitalismus ist eine Art der Gesellschaft, die auf dem Prinzip der Akkumulation von Kapital und Macht beruht und mit diesem Prinzip operiert” (Fuchs 2020a, 158). Er ist ein System, das die Akkumulation von Geldkapital in der Wirtschaft, die Akkumulation von Entscheidungsmacht im politischen System und die Akkumulation von Prestige und Ansehen im kulturellen System umfasst. Bei all diesen Akkumulationsprozessen gibt es Gewinner und Verlierer. Der Arbeit als entfremdete gesellschaftliche Produktion kommt in all diesen Bereichen der Akkumulation eine besondere Rolle zu. Im Kapitalismus umschreibt die Logik der Akkumulation die menschlichen Praktiken (Lukács), setzt Grenzen und übt Druck aus (Williams) und bestimmt die menschlichen Praktiken in erster Instanz (Hall). In einer kapitalistischen Gesellschaft spielt die Wirtschaft eine besondere Rolle, weil alle Bereiche der Gesellschaft durch die Logik der Akkumulation und die Klassenverhältnisse bedingt, geformt, beeinflusst und begrenzt werden. Tabelle 3.1 zeigt, wie wir die Akkumulation als allgemeinen Prozess in einer kapitalistischen Gesellschaft begreifen können. Im Kapitalismus nimmt die Entfremdung die Form von Akkumulationsprozessen an, die Klassen und Ungleichheiten schaffen. Der Kapitalismus basiert auf der Akkumulation von Kapital durch Kapitalist: innen in der Wirtschaft, auf der Akkumulation von Entscheidungsmacht und Einfluss durch Bürokrat: innen im politischen System und auf der Akkumulation von Ansehen, Aufmerksamkeit und Respekt durch Ideolog: innen, Influencer: innen und Prominente im <?page no="77"?> 3.2 Der digitale Kapitalismus 65 Bereich Zentraler allgemeiner Prozess Zentraler Prozess im Kapitalismus Zugrundeliegender Antagonismus des Kapitalismus Strukturdimension des Kapitalismus Wirtschaft Produktion von Gebrauchswerten Kapitalakkumulation Kapital vs. Arbeit Klassenverhältnis zwischen Kapital und Arbeit Politik Produktion von kollektiven Entscheidungen Akkumulation von Entscheidungsmacht und Einfluss Bürokratie vs. Bürger: innen Nationalstaat Kultur Produktion von Bedeutungen Akkumulation von Reputation, Aufmerksamkeit und Respekt Ideolog: innen, Prominente, Influencer: innen vs. Alltagsmenschen Ideologie Tabelle 3.1: Die Akkumulation als allgemeiner Prozess in der kapitalistischen Gesellschaft kulturellen System. Der Kapitalismus ist ein antagonistisches System. Seine Antagonismen (siehe Tabelle 3.1) treiben seine Entwicklung und Akkumulationsprozesse voran. Die Akkumulation ist ein antagonistisches Verhältnis, das nicht nur dominante Klassen und Gruppen konstituiert, sondern auch untergeordnete, beherrschte und ausgebeutete Gruppen wie die Arbeiterklasse in der kapitalistischen Wirtschaft, beherrschte Bürger: innen im kapitalistischen politischen System und mit Ideologien konfrontierte Alltagsmenschen im kulturellen System des Kapitalismus hervorbringt. Die antagonistischen Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft, die die Akkumulation vorantreiben, sind die Quelle von Ungleichheiten und Krisen, was bedeutet, dass der Kapitalismus ein von Natur aus negatives dialektisches System ist. Als Reaktion auf Krisen benötigen die herrschende Klasse und die herrschenden Gruppen Mechanismen, mit denen sie versuchen, die beherrschte Klasse und die beherrschten Gruppen in Schach zu halten, damit diese nicht rebellieren und aufbegehren. Der Kapitalismus ist daher auch ein ideologisches System, in dem die herrschenden Gruppen die Sündenbocklogik anwenden, um bestimmte Gruppen für die Übel und die Probleme der Gesellschaft verantwortlich zu machen. Das Sündenbockdenken beinhaltet die Logik des Freund-Feind-Schemas, in dem bestimmte Gruppen als Freunde und andere als Feinde, Sündenböcke für und Ursache von gesellschaftlichen Problemen präsentiert werden, die in Wahrheit strukturelle Ursachen haben. Das Freund-Feind- Schema kann zu Gewalt, Faschismus, Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus führen, wodurch dessen barbarische Potentiale freigesetzt werden. Krisen des Kapitalismus können faschismusproduzierende Krisen sein, die die Barbarei von einer Potenzialität in eine Realität verwandeln. Gesellschaftliche Kämpfe für Sozialismus und Demokratie sind ein Gegengewicht zu dieser Logik. In einer kapitalistischen Gesellschaft kontrollieren mächtige Akteure die natürlichen Ressourcen, das wirtschaftliche Eigentum, die politische Entscheidungsfindung und die kulturelle Bedeutungsgebung, was zu einer Akkumulation von Macht, Ungleichheiten und globalen Problemen geführt hat, darunter Umweltverschmutzung sowie die Degradierung und Erschöpfung der natürlichen Ressourcen im Natur-Gesellschaft- <?page no="78"?> 78 3 Big Data im digitalen Kapitalismus Verhältnis, sozioökonomische Ungleichheit im Wirtschaftssystem, Diktaturen und Krieg im politischen System sowie Ideologie und Missachtung im kulturellen System. Für Marx ist der Klassenwiderspruch ein zentraler Aspekt der kapitalistischen Wirtschaft. Die Arbeiterklasse produziert im unbezahlten Teil des Arbeitstages Mehrwert, der nicht bezahlt wird und vom Kapital angeeignet wird. „In der kapitalistischen Gesellschaft wird freie Zeit für eine Klasse produziert durch Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit” (Marx 1867, 552). Die Mitglieder der Arbeiterklasse sind durch den stummen Zwang des Arbeitsmarktes im Kapitalismus gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und Kapital, Waren, Mehrwert und Profite für die Kapitalistenklasse zu produzieren. Die kapitalistische Wirtschaft ist ein Klassensystem, in dem die Arbeiter: innen mithilfe von Produktionsmitteln, die Privateigentum der Mitglieder der Kapitalistenklasse sind, Waren produzieren. Diese Waren werden auf den Warenmärkten verkauft, damit Profit erzielt und Kapital akkumuliert werden kann. Die Klassenverhältnisse, in denen das Kapital die Arbeit ausbeutet, sind ein Hauptmerkmal der kapitalistischen Wirtschaft. Die Arbeiter: innen sind von den Produktionsbedingungen der Klassengesellschaft entfremdet, da sie nicht Eigentümer der Produktionsmittel und der Produkte ihrer Arbeit sind. Die Logik der Akkumulation ist nicht auf den Bereich der Wirtschaft beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf den politischen und kulturellen Bereich. Wir können daher von einer kapitalistischen Gesellschaft sprechen. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsform, in der die Masse der Menschen von den Bedingungen der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Produktion entfremdet ist, was bedeutet, dass sie die Bedingungen, die ihr Leben prägen, nicht kontrollieren können, was privilegierten Gruppen die Akkumulation von Kapital in der Wirtschaft, Entscheidungsmacht in der Politik und Ansehen, Aufmerksamkeit und Respekt in der Kultur ermöglicht. Entfremdung in der Wirtschaft bedeutet, dass die herrschende Klasse die Arbeitskraft der Arbeiterklasse ausbeutet. Entfremdung in nicht-wirtschaftlichen Systemen bedeutet Herrschaft, d.h. eine Gruppe profitiert auf Kosten anderer Gruppen durch Mittel der Kontrolle wie Staatsmacht, Ideologie und Gewalt. Im Kapitalismus finden wir die Akkumulation von Kapital in der Wirtschaft, die Akkumulation von Entscheidungsmacht und Einfluss in der Politik und die Akkumulation von Ansehen, Aufmerksamkeit und Respekt in der Kultur. Der entscheidende Aspekt ist nicht, dass es Wachstum gibt, sondern dass es den Versuch der dominanten Klasse und der dominanten Gruppen gibt, Macht auf Kosten anderer zu akkumulieren, die infolgedessen Nachteile haben. Die kapitalistische Gesellschaft basiert also auf einem wirtschaftlichen Ausbeutungsantagonismus zwischen den Klassen und gesellschaftlichen Herrschaftsantagonismen. Tabelle 3.2 zeigt die Ebenen und Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft. Mikroebene Mesoebene Makroebene Wirtschaftsstrukturen Waren, Geld Unternehmen, Märkte kapitalistische Wirtschaft politische Strukturen Gesetze Parteien, Regierung kapitalistischer Staat kulturelle Strukturen Ideologie Ideologie-produzierende Organisationen das kapitalistische Ideologiesystem Tabelle 3.2: Ebenen und Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft <?page no="79"?> 3.2 Der digitale Kapitalismus 65 Was ist der digitale Kapitalismus? In dem Buch Der digitale Kapitalismus: Arbeit, Entfremdung und Ideologie im Informationszeitalter hat der Autor der vorliegenden Arbeit die Analyse von Kommunikation und Kapitalismus in Bezug auf die digitalen Medien weiterentwickelt. Er versteht den digitalen Kapitalismus als eine besondere Dimension und Organisationsform der kapitalistischen Gesellschaft. „Der digitale Kapitalismus ist die Dimension der kapitalistischen Gesellschaft, in der Prozesse der Kapitalakkumulation, der Entscheidungsmacht und des Ansehens mithilfe digitaler Technologien vermittelt und organisiert werden und in der wirtschaftliche, politische und kulturelle Prozesse zu digitalen Waren und digitalen Strukturen führen. Digitale Arbeit, digitales Kapital, digitale Produktionsmittel, politische Online-Kommunikation, digitale Aspekte von Protesten und sozialen Kämpfen, Online- Ideologie und eine von Influencern dominierte digitale Kultur sind einige der Merkmale des digitalen Kapitalismus. Im digitalen Kapitalismus wird die Akkumulation von Kapital und Macht durch digitale Technologien vermittelt. Es gibt wirtschaftliche, politische und kulturell-ideologische Dimensionen des digitalen Kapitalismus. Der digitale Kapitalismus ist eine antagonistische Dimension der Gesellschaft, eine Dimension, die dafür steht, wie der ökonomische Klassenantagonismus und die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse durch die Digitalisierung geformt werden und diese prägen. Die Antagonismen des digitalen Kapitalismus sind der Klassenantagonismus zwischen digitaler Arbeit und digitalem Kapital, der politische Antagonismus zwischen digitalen Diktator: innen und digitalen Bürger: innen und der kulturelle Antagonismus zwischen digitalen Ideolog: innen und digitalen Menschen“ (Fuchs 2023a, 295). Der digitale Kapitalismus basiert auf der Akkumulation von digitalem Kapital in der Wirtschaft, der Akkumulation von digitaler Entscheidungsmacht im politischen System und der Akkumulation von Ansehen, Aufmerksamkeit und Respekt in der Kultur. Die Akkumulation ist eine wirtschaftliche Logik, die in der (digitalen) kapitalistischen Gesellschaft über die Wirtschaft hinausgeht und dort emergente Eigenschaften annimmt. Die ökonomische Logik der Akkumulation bestimmt nicht in letzter Instanz die Akkumulation in anderen Systemen des (digitalen) Kapitalismus, sondern in „erster Instanz“ (Hall 2021, 156). Die ökonomische Akkumulation umschreibt (Lukács 1986, 448), „setzt Grenzen, übt Druck aus“ (Williams 1973, 4) auf die nichtökonomische Akkumulation in der (digitalen) kapitalistischen Gesellschaft. Es gibt wirtschaftliche, politische und kulturell-ideologische Dimensionen des digitalen Kapitalismus. Der digitale Kapitalismus ist eine antagonistische Dimension der Gesellschaft, eine Dimension, die darstellt, wie der wirtschaftliche Klassenantagonismus und die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse durch die Digitalisierung geformt werden und diese prägen. Die Antagonismen des digitalen Kapitalismus sind der Klassenantagonismus zwischen digitaler Arbeit und digitalem Kapital, der politische Antagonismus zwischen digitalen Diktaturen und digitalen Bürger: innen und der kulturelle Antagonismus zwischen digitalen Ideolog: innen und digitalen Menschen. Die Akkumulation führt im digitalen Kapitalismus zu besonderen Formen der für den Kapitalismus charakteristischen Antagonismen. Tabelle 3.3 gibt einen Überblick und Beispiele für diese Antagonismen. Der digitale Kapitalismus ist eine antagonistische Gesellschaft, das heißt, er ist eine digitale Klassengesellschaft und eine digitale Herrschaftsform. <?page no="80"?> 80 3 Big Data im digitalen Kapitalismus Sphäre der Gesellschaft grundlegende Prozesse grundlegende Prozesse im digitalen Kapitalismus Beispiele Wirtschaft Kapital vs. Arbeit Digitales Kapital vs. digitale Arbeit, digitale Waren vs. digitale Gemeingüter (Commons) Die Monopolmacht von Google, Facebook, Apple, Amazon, Microsoft usw. Politik Bürokratie vs. Bürger: innen Digitale Diktatur vs. digitale Bürger: innen, digitaler Autoritarismus / Faschismus vs. digitale Demokratie Donald Trumps Verwendung von Twitter und anderen sozialen Medien Kultur Ideolog: innen / Stars und Prominente / Influencer: innen vs. Alltagsmenschen Digitale Ideolog: innen vs. digitale Menschen, digitaler Hass / digitale Spaltung / digitale Ideologie vs. digitale Freundschaften. Asymmetrische Aufmerksamkeitsökonomie in der Populärkultur auf sozialen Medien: die kulturelle Macht von Online-Influencern wie PewDiePie (> 100 Millionen Follower) Tabelle 3.3: Die Antagonismen des digitalen Kapitalismus Nachdem wir die Begriffe Kapitalismus und digitaler Kapitalismus erörtert haben, werden wir uns im nächsten Abschnitt auf Big Data im digitalen Kapitalismus konzentrieren. 3.3 Big Data im digitalen Kapitalismus Was ist „Big Data“? Ein relativ neues Konzept, ein neuer Trend, eine neue Entwicklung, ein neuer Hype und eine neue Ideologie sind „Big Data“. In der akademischen Debatte gibt es Bücher und eine wachsende Zahl von Artikeln, die sich mit „Big Data“ befassen. Einige von ihnen haben versucht zu definieren, worum es bei Big Data geht. Nach Mayer-Schönberger & Cukier (2013) beziehen sich Big Data „auf Dinge, die man im Großen tun kann, die man im Kleinen nicht tun kann, um neue Einsichten zu gewinnen oder neue Formen der Wertschöpfung zu schaffen“ (6). Big Data ist für diese Autoren „ein wichtiger Schritt in dem Bestreben der Menschheit, die Welt zu quantifizieren und zu verstehen“, sodass die „Vorherrschaft von Dingen, die vorher nie gemessen, gespeichert, analysiert und geteilt werden konnten, […] zur Datenbasis” wird (17-18). Die beiden Autoren konzentrieren sich ganz darauf, die positiven Möglichkeiten hervorzuheben, die ihrer Meinung nach die Analyse riesiger Datenmengen bietet. Wir wären jetzt in der Lage, „weit größere Datenmengen als früher zu verwalten, und die Daten [...] müssen nicht in aufgeräumten Reihen oder klassischen Datenbanktabellen platziert werden“ (6). Auch andere Forscher: innen betonen die riesige Datenmenge als definierendes Merkmal von Big Data. Für Manyika et al. (2011) beziehen sich Big Data „auf Datensätze, deren Größe die Möglichkeiten typischer Datenbanksoftware-Werkzeuge zur Erfassung, Speicherung, Verwaltung und Auswertung übersteigt”. Big Data „bezieht sich auf die Bewegung zur Analyse der zunehmend riesigen Informationsmengen, die an <?page no="81"?> 3.3 Big Data im Kapitalismus 65 verschiedenen Orten, aber hauptsächlich online und hauptsächlich in der Cloud gespeichert sind“ (Mosco 2014, 177). Big Data ist „die starke Zunahme der Mengen digitaler Daten in der heutigen Zeit, die als Produkte der Transaktionen der Nutzer: innen mit und der Erzeugung von Inhalten über digitale Medientechnologien sowie digitale Überwachungstechnologien wie CCTV- Kameras, RFID-Chips, Verkehrsmonitore und Sensoren zur Überwachung der natürlichen Umwelt erzeugt werden” (Lupton 2015, 94). Wir können als allgemeine Definition festhalten, dass Big Data die riesige Datenmenge ist, die durch groß angelegte Rechenoperationen erzeugt wird, um die Entwicklung bestimmter Aspekte der Gesellschaft oder der Natur zu analysieren und vorherzusagen. Ein mit Big Data verwandter Begriff ist Cloud-Computing. Während Big Data sich auf große Mengen digitaler Objekte bezieht, die auf Computern gespeichert werden, bezieht sich Cloud-Computing auf die Art und Weise, wie die Rechenressourcen für die Speicherung von Big Data genutzt werden. Es geht um die Geräte für und die Prozesse der Speicherung, Verarbeitung und Verteilung von Daten (Mosco 2014, 17), bei denen häufig eine bestimmte Gruppe gemeinsam auf die Daten zugreift. Es geht auch um die Speicherung riesiger Datenmengen in Datenzentren. Unkritische Darstellungen von Big Data erklären die Bedeutung von Big Data rein technologisch als Auswirkung des Mooreschen Gesetzes, das besagt, dass sich der Speicherplatz und die Rechenleistung von Computern alle 18 Monate verdoppelt. Der Anstieg der Rechenkapazität würde daher zu einem exponentiellen Wachstum der Datenspeicherung führen. „Die Dinge beschleunigen sich wirklich. Die Menge der gespeicherten Informationen wächst viermal schneller als die Weltwirtschaft, während die Rechenleistung von Computern neunmal schneller wächst“ (Mayer-Schönberger & Cukier 2013, 8). Die Logik der Quantifizierung ist nicht nur ein Merkmal der Informatik, der Mathematik und von Big Data. Die Steigerung der Menge der produzierten Güter, der Produktivität (Produktion pro Zeiteinheit), des Kapitals, der Macht, des Ansehens, der Sichtbarkeit usw. ist ein allgemeines Merkmal der kapitalistischen Gesellschaft. Der Kapitalismus basiert auf der Logik der Akkumulation. Big Data ist mit Big Capital (dem Großkapital) verbunden. Der Datenkapitalismus Einige Autoren haben den Begriff „Datenkapitalismus“ verwendet. Myers West (2019) zum Beispiel definiert diesen wie folgt: „Der Datenkapitalismus ist ein System, in dem die Kommerzialisierung unserer Daten eine asymmetrische Umverteilung von Macht ermöglicht, die zugunsten derjenigen Akteure gewichtet wird, die Zugang zu Informationen haben und in der Lage sind, diese sinnvoll zu nutzen” (Myers West 2019, 20). Daten sind technische Strukturen, die die Speicherung von Informationen ermöglichen, indem sie diese als eine Reihe von Nullen und Einsen darstellen. Ein Algorithmus ist eine Reihe von Anweisungen, die die Verarbeitung von Daten organisieren, sodass Berechnungen durchgeführt werden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Algorithmen spezifizieren Datenverarbeitungsoperationen. In der Regel werden Algorithmen als Softwarecode formuliert. Wo immer es etwas Digitales gibt, gibt es auch Daten als zugrundeliegende technische Darstellung von Anweisungen. Das Digitale <?page no="82"?> 82 3 Big Data im digitalen Kapitalismus ist mehr als nur Daten und Technik. Es gibt digitale Kommunikation und es gibt digitale Kommunikationsmittel. Digitale Kommunikation bezieht sich auf spezifische kommunikative Praktiken, die durch digitale Technologien vermittelt werden. Dazu gehören zum Beispiel das Tippen und Senden einer E-Mail oder einer Nachricht auf WhatsApp, das Hochladen oder Anschauen eines Videos auf YouTube oder das Hochladen eines Bildes auf Instagram. Digitale Kommunikationsmittel sind computerbasierte Technologien, die digitale Praktiken ermöglichen. Der Begriff des „digitalen Kapitalismus“ ist weiter gefasst als der des „Datenkapitalismus“. Digitaler Kapitalismus bezieht sich auf digitale Kommunikation, digitale Kommunikationsmittel und die Dialektik von digitaler Kommunikation und digitalen Kommunikationsmitteln, die in der kapitalistischen Gesellschaft stattfindet. Der Begriff des Datenkapitalismus, wie er von Myers West definiert wird, bezieht sich dagegen nur auf die Geschäftsmodelle von Unternehmen wie Google, Facebook und TikTok, die Daten zu Waren machen, um Kapital zu akkumulieren. Ein solcher Begriff des Datenkapitalismus lässt die digitale Arbeit und das Klassenverhältnis zwischen digitaler Arbeit und digitalem Kapital außen vor. Big Data im digitalen Kapitalismus Der Aufstieg von sozialen Medien und Internetplattformen wie Google, Facebook und TikTok, die Kapitalakkumulationsmodelle nutzen, die auf gezielter Werbung basieren, ging mit einer massiven Zunahme von Daten und Metadaten einher, die über Nutzer: innen und ihre Online-Aktivitäten gesammelt werden. Durch das Sammeln großer Datenmengen über jeden Aspekt des Online-Lebens der Nutzer: innen versuchen die kapitalistischen Internetplattformen, digitales Kapital zu akkumulieren. Sie versuchen, Werbung, Inhalte und Nachrichten zu personalisieren, indem sie viel über die Interessen und das Verhalten der Nutzer: innen in Erfahrung bringen. Daten sind zu einer strategischen Wirtschaftsressource im Kapitalismus geworden. Daten haben aber nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Dimension. Im Zeitalter der Versicherheitlichung, in dem es Ängste und Bedrohungen durch Terrorismus und Krieg gibt, versuchen die Nationalstaaten und ihre Institutionen wie die staatliche Verwaltung, die Polizei und die Geheimdienste, Big Data über die Bürger: innen zu sammeln und auf solche Datensammlungen zuzugreifen, um Terrorismus, Verbrechen und Gewalt zu verhindern. In autoritären Gesellschaften wird die digitale Überwachung außerdem eingesetzt, um die Meinungsfreiheit einzuschränken und die politische Kommunikation zu zensieren, damit in der Öffentlichkeit nur die vorherrschenden Ansichten geäußert werden und kritische Stimmen unterdrückt und kontrolliert werden. In der kapitalistischen Alltagskultur gibt es einen Wettbewerb zwischen Individuen um Aufmerksamkeit. Viele Nutzer: innen beteiligen sich an einem Wettlauf um die Akkumulation von Aufmerksamkeit, Likes und Followern, der durch digitale Technologien vermittelt wird. Sie erstellen und teilen viele Online-Inhalte, um Aufmerksamkeit zu erregen und Ansehen zu erlangen. Infolgedessen hat die Produktion von Big Data eine kulturelle Dimension. Tabelle 3.4 gibt einen Überblick über die Rolle von Big Data im digitalen Kapitalismus. Big Data spielt im digitalen Kapitalismus eine Rolle als wirtschaftliche, politische und kulturelle Ressource und Speicher, die von Unternehmen, Nationalstaaten, politischen und kulturellen Akteuren als Mittel zur Akkumulation von digitalem Kapital, Einfluss und Ansehen genutzt wird. <?page no="83"?> 3.3 Big Data im Kapitalismus 65 Sphäre der Gesellschaft Logik des digitalen Kapitalismus Big Data Wirtschaft Akkumulation von digitalem Kapital Big Daten über Nutzer: innen als strategische wirtschaftliche Ressourcen, die die Akkumulation von digitalem Kapital unterstützen Politik Akkumulation von Einfluss und Entscheidungsmacht im Kontext der Digitalisierung Big Data über die Bürger: innen, die die Versicherheitlichung der Gesellschaft ermöglichen und das Potenzial haben, politische Kontrolle, Zensur und Unterdrückung zu verstärken Kultur Anhäufung von Ansehen, Aufmerksamkeit und Respekt in digitalen Räumen Big Data, die aus der kulturellen Produktion auf digitalen Plattformen stammen und die Akkumulation von Ansehen, Aufmerksamkeit und Respekt in digitalen Räumen unterstützen Tabelle 3.4: Die Rolle von Big Data im digitalen Kapitalismus Der Kapitalismus ist eine komplexe Totalität der Gesellschaft, die aus vielen interagierenden Momenten besteht. Der digitale Kapitalismus ist eines dieser Momente. Im digitalen Kapitalismus wird die Akkumulation von Kapital und Macht durch digitale Technologien vermittelt. Big Data ist eine Dimension des digitalen Kapitalismus, in der die Vielfalt, Menge und Geschwindigkeit der Verarbeitung von Daten so hoch geworden ist, dass die menschliche Entscheidungsfindung in der Wirtschaft, im politischen System und in kulturellen Organisationen/ Institutionen Algorithmen überlassen wird, die mit Big Data arbeiten. Kapitalakkumulation und die Akkumulation von Macht basieren auf Algorithmen, die Big Data sammeln, analysieren und damit automatische Entscheidungen treffen, die den Menschen die Kontrolle entziehen. Die riesigen Datenmengen, die im digitalen Kapitalismus als Teil der Kapital- und Machtakkumulation gesammelt werden, führen zu Datenbeständen, auf die Unternehmen, der Staat, Kriminelle und andere, die versuchen, bestimmte Ziele innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu erreichen, tatsächlich oder potenziell zugreifen, wie z. B. die Akkumulation von Kapital, die Verhinderung von Terror, Krieg und Kriminalität, geopolitische Vorteile bei Rivalitäten zwischen Staaten, die Erzielung finanzieller Gewinne aus Verbrechen usw. Bei vielen der als Big Data gespeicherten Daten handelt es sich um personenbezogene Daten, die sensibel sind. Ihre Erhebung, Verarbeitung und Nutzung kann das Leben der Nutzer: innen beeinträchtigen. Big Data hat ein negatives Potenzial. Sie verletzen die Privatsphäre der Nutzer: innen und stellen eine Bedrohung für die Redefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Demokratie und die Öffentlichkeit dar. Michel Foucault (1926-1984) war ein französischer Philosoph, der sich für die Analyse der Macht interessierte. Sein bekanntestes Buch ist Überwachen und Strafen (Foucault 1977), eine Studie über die Geschichte der Überwachung in der modernen Gesellschaft. Der britische Soziologe David Beer (2019, 7) versteht den Datenkapitalismus als „eine Form des Kapitalismus, die durch Daten funktioniert, durch Daten informiert wird und sich auf Daten verlässt“. Aufbauend auf Foucaults Theorie der Überwachung spricht er vom Datenblick als konstituierendem Merkmal des Datenkapitalismus, der die Datengrenzen vorantreibt, sodass sich „die Reichweite und die Intensität datengeführter Prozesse intensiviert“ (32) werden, Menschen ständig überwacht werden, es zu einer Zunahme der „Datenakkumulation“ (127) kommt, und „datengeleitetes Denken“ (127) und der „automatisierte Datenblick“ (132) in die Entscheidungsfindung und „Ideale der Art und Weise, wie die Welt laufen sollte“ (127) eingebettet sind. Shoshana Zuboff ist eine Gesellschaftstheoretikerin, die vor allem für ihre Analysen <?page no="84"?> 84 3 Big Data im digitalen Kapitalismus der Rollen der Informations- und Überwachungstechnologien in der Gesellschaft bekannt ist. In ihrem Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (Zuboff 2018) diskutiert sie die Implikationen und Gefahren der Überwachung in der kapitalistischen Gesellschaft. Begriffe wie Datenkapitalismus (Beer 2019) oder Überwachungskapitalismus (Zuboff 2018) konzentrieren sich auf Aspekte der Überwachung im Kapitalismus. Es ist wichtig, zu sehen, dass Big Data und Überwachung nicht die einzige Dimension des Kapitalismus und des digitalen Kapitalismus darstellen. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft, die von der Ausbeutung der Arbeiterklasse durch das Kapital beherrscht wird, weshalb wir bei der kritischen Analyse des digitalen Kapitalismus der Analyse der Klassenbeziehungen und der Ausbeutung der digitalen Arbeit besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. Big Data spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle, ist aber nicht der dominierende Aspekt. Es gibt auch Themen wie die internationale Teilung der digitalen Arbeit, die digitale und KI-basierte Automatisierung der Arbeit, die Prekarität der digitalen Arbeit usw., die Schlüsseldimensionen des digitalen Kapitalismus sind. Der Kapitalismus ist eine komplexe Einheit aus verschiedenen Dimensionen des Kapitalismus, verschiedenen Kapitalismen. Man sollte den digitalen Kapitalismus und Datenkapitalismus weder ignorieren noch seine Rolle überbewerten: „Der zeitgenössische Kapitalismus ist eine komplexe Einheit verschiedener interagierender und sich gegenseitig übergreifender Kapitalismen, darunter der Finanzkapitalismus, der neoliberale Kapitalismus, der Imperialismus, der digitale/ kommunikative Kapitalismus, der hyperindustrielle Kapitalismus, der Mobilitätskapitalismus, der autoritäre Kapitalismus und der Big Data-Kapitalismus. [...] Die Strukturen der transnationalen Konzerne sind in unterschiedlichem Maße durch Finanzkapitalismus, Mobilitätskapitalismus, hyperindustriellen Kapitalismus und informationellen/ kommunikativen/ digitalen Kapitalismus gekennzeichnet. Und diese Dimensionen durchdringen sich wechselseitig” (Fuchs & Chandler 2019, 15-16). Marx (1867, Kapitel 6) unterscheidet zwischen konstantem Kapital und variablem Kapital. Konstantes Kapital ist der wirtschaftliche Wert der Materialien and Ressourcen, die zur Herstellung von Waren benötigt werden. Variables Kapital sind die Löhne der Arbeiter, die Waren herstellen. Es wird als variables Kapital bezeichnet, weil die Arbeit neue Produkte und Profit schafft. Es steigert den Wert der Ware. Maschinen sind eine Art von konstantem Kapital, das im Produktionsprozess von Waren für längere Zeit fixiert ist. Ihr Wert wird daher auch als fixes konstantes Kapital bezeichnet. Zirkulierendes konstantes Kapital wird im Gegensatz zum fixen konstanten Kaptial als Ressource relativ rasch im Produktionsprozess verbraucht. Im Zeitalter von Algorithmen, Social Media, Big Data und digitalen Maschinen ist das Verhältnis von fixem konstantem Kapital und variablem Kapital dynamischer geworden. Traditionell schufen Ingenieure und Ingenieurinnen Maschinen, die über einen längeren Zeitraum im Produktionsprozess eingesetzt wurden, bis sie physisch oder moralisch abgeschrieben wurden und ersetzt werden mussten. Digitale Maschinen arbeiten mit binären Daten. Der digitale Kapitalismus hat unser Leben mit Daten versehen. Unsere Online-Aktivitäten sind zu einem erheblichen Teil digitale Arbeit, die Daten produziert, die sowohl eine Ware sind als auch Teil des fixen Kapitals werden. Die Datenspeicherung ist ein inhärenter Bestandteil der digitalen Maschine. Einmal erstellt, werden Daten im digitalen Kapitalismus zu einem fixen, konstanten Kapital. Sie werden auf Servern als Teil der digitalen Maschine gespeichert, die die digitale Kapitalakkumulation ermöglicht. Daten sind aber auch der Baustein, das zirkulierende konstante Kapital, auf dessen Grundlage die digitale Arbeit neue Inhalte und Daten schafft. Im Bereich von Big Data konvergieren zirkulierendes konstantes Kapital und fixes konstantes Kapital tendenziell. Daten sind die Objektivierung der digitalen Arbeit, der menschlichen Sub- <?page no="85"?> 3.3 Big Data im Kapitalismus 65 jektivität, die online geht. Daten als konstantes Kapital sind daher eine Objektivierung des General Intellect, des allgemeinen menschlichen Wissens. Die Datafizierung verallgemeinert menschliches Wissen und fixiert es in Datenbanken, die auf Servern gespeichert werden. Die politische Ökonomie von Big Data Wie wir in Kapitel 1 untersucht haben, analysiert die Kritik der Politischen Ökonomie die Verknüpfung der wirtschaftlichen und politischen Dimensionen von Kommunikation und digitalen Medien und diskutiert sie im Hinblick auf Geschichte, Gesellschaft als Ganzes, moralische Fragen und ethisch-politische Implikationen. Big Data steht in einem breiteren gesellschaftlichen - wirtschaftlichen, politischen und ideologischen - Kontext: Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA haben wir den Vormarsch einer Kultur der Kontrolle, Überwachung, Angstmache, Sündenbockpolitik, Verdächtigungen, des Wettbewerbs und der Individualisierung miterlebt, in der Politik und Überwachung und Law & Order-Politik als Lösungen für das komplexe gesellschaftliche Problem des Terrorismus angesehen werden. Der militärisch-industrielle Komplex ist ein Begriff, der für die Verflechtung von Militär und Rüstungsindustrie verwendet wird. Zum Beispiel sind waffenproduzierende Unternehmen wie Lockheed Martin (USA), RTX Corporation (USA), Northrop Grumman (USA), Aviation Industry Corporation of China, Boeing (USA), General Dynamics (USA), BAE Systems (Großbritannien), China North Industries Group, L3Harris Technologies (USA) oder China South Industries Group Teil des militärisch-industriellen Komplexes. Ein präziserer Begriff ist militärisch-industrieller-kapitalistischer Komplex, da Kriegs- und Überwachungstechnologien, die vom Militär, der Polizei und den Geheimdiensten eingesetzt werden, nicht nur von einer Industrie produziert werden, sondern es Unternehmen gibt, die aus dem Verkauf solcher Technologien Profit machen. Gewalt, Krieg, Kontrolle und Töten sind ein kapitalistisches Geschäft. Die Ausweitung und Intensivierung der Überwachung und der Überwachungsideologie nach 9/ 11 führte zur Entstehung einer spezifischen Organisationsform des militärisch-industriellen-kapitalistischen Komplexes, nämlich des überwachungsindustriellen Internet-Komplexes, in dem Geheimdienste, Kommunikationskonzerne und private Sicherheitsfirmen zusammenarbeiten, um die Kommunikation der Bürger: innen in großem Maßstab zu überwachen. Edward Snowden hat die Existenz dieses Komplexes aufgedeckt, in dem Technologien und Programme wie Prism und XKeyScore zum Einsatz kommen. Autoritäre staatskapitalistische Länder wie China und Russland haben ihren eigenen Überwachungs-Industriekomplex aufgebaut, um die Bürger: innen zu kontrollieren, Informationen zu zensieren und die politische Opposition zu unterdrücken. Der Neoliberalismus ist einerseits eine marktfundamentalistische Ideologie, andererseits aber auch eine Regierungsform, die die Wirtschaft reguliert, indem sie die Macht des Kapitals stärkt und die Macht der Arbeit schwächt. Er treibt die Kommodifizierung und Privatisierung von fast allem voran und schwächt die Idee der öffentlichen Dienstleistungen und des Gemeinwohls. Die Ausdehnung und Intensivierung der Werbe- und Konsumkultur in den Bereich der Online-Daten ist Ausdruck einer groß angelegten kapitalistischen Privatisierung und Kommodifizierung unter neoliberalen Bedingungen. Kapitalistische Internetplattformen wie Facebook, Google und TikTok sammeln und speichern riesige Datenmengen. Diese digitalen Konzerne erfassen und speichern alle Informationen, die sie über ihre Nutzer: innen erhalten können, weil sie daran inter- <?page no="86"?> 86 3 Big Data im digitalen Kapitalismus essiert sind, diese zu kommerzialisieren, um daraus monetäre Profite zu erzielen. Facebook und Google sind keine Kommunikationsunternehmen. Sie verkaufen keinen Zugang zur Kommunikation, sie verkaufen Big Data zu Werbezwecken. Sie sind die größten Werbeagenturen der Welt, die als Maschinen der Big Data-Sammlung und der Kommodifizierung agieren. Der Neoliberalismus ist eine Form der Politik, die davon ausgeht, dass möglichst viele Bereiche der Gesellschaft als profitorientierte, warenverkaufende Konzerne organisiert werden sollten. Die Sammlung, Speicherung, Kontrolle und Analyse von „Big Data“ steht nicht nur im Kontext des überwachungsindustriellen Komplexes, sondern auch im Kontext des Neoliberalismus. Der Neoliberalismus hat die Kommodifizierung großer Teile unseres Lebens, einschließlich der Nutzung des Internets, beeinflusst. Der marxistische politische Ökonom David Harvey (2005, 165-172) nennt diesen Prozess die Kommodifizierung von allem (commodification of everything). Im Internet gibt es eine riesige Menge gezielter Werbung, die von Big Data angetrieben wird. Big Data zielt auf die Nutzer: innen ab und überwacht diese sowohl aus wirtschaftlichen Gründen (Verkauf von Anzeigen und Personalisierung der Werbung) als auch aus politischen Gründen (Kontrolle der Aktivitäten und Meinungen der Bürger: innen). Die Nutzer: innen werden als Kosument: innen und als potenzielle Terrorist: innen und Kriminelle ins Visier genommen. Mark Andrejevic (2013) argumentiert, dass Big Data im Kontext der Überwachung von Bürger: innen, Konsument: innen und Arbeitnehmer: innen durch Big Data steht. Big Data ist das „Paradoxon der ‚totalen Dokumentation‘“, bei dem die Bevölkerung als Ganzes das Ziel ist, das einer „Datenerfassung auf Bevölkerungsebene“ unterworfen wird (35). Aus einer politisch-ökonomischen Analyseperspektive betrachtet, bedeutet Big Data „Datenerfassung ohne Grenzen“ (36). Für Vincent Mosco (2014, 10) sind Big Data und Cloud-Computing Ausdruck der Kombination von „Überwachungskapitalismus“ und „Überwachungsstaat“ und Teil dessen, was er als militärischen Informationskomplex bezeichnet (9). Durch das Sammeln, Verarbeiten, Speichern, Bewerten, Verwalten und Verkaufen von Big Data dehnt der digitale Kapitalismus die instrumentelle Logik von Kapital und Bürokratie, Ausbeutung und Herrschaft auf immer mehr Bereiche der Gesellschaft aus, einschließlich des menschlichen Geistes und Körpers, unserer Wohnungen, öffentlichen Räume usw. Jack Qiu (2015, 1091) weist darauf hin, dass Big Data viele Probleme mit sich bringt. „Während die technologische Sphäre der sozialen Medien neu ist, ebenso wie das globale Phänomen der Big-Data-Verehrung, ist die ethische Frage nach dem ‚Zugang‘, der Privatisierung und der Kommerzialisierung der Gemeingüter ein altehrwürdiges Anliegen, das bis zu den Anfängen des kapitalistischen Weltsystems zurückreicht“ (Qiu 2015, 1091). Der nächste Abschnitt konzentriert sich auf einige grundlegende Probleme des Big Data-Kapitalismus. 3.4 Die Probleme von Big Data Es gibt vielfältige Gefahren und Implikationen, die Big Data in einer kapitalistischen Welt birgt. 3.4.1 Big Data als Ideologie Die Big-Data-Ideologie stellt die Massifizierung von verfügbaren, gesammelten, gespeicherten und analysierten Daten als eine riesige Chance für Wirtschaft und Gesell- <?page no="87"?> 3.4 Die Probleme von Big Data 65 schaft dar und neigt dazu, negative Aspekte außer Acht zu lassen. Ein Beispiel dafür ist ein wirtschaftlicher Reduktionismus, der Big Data nur in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt und das Produktivitätswachstum sieht. Dieses Argument wird typischerweise von Unternehmensberater: innen und neoliberalen Think-Tanks vorgebracht. Werfen wir einen Blick auf ein Beispiel aus einem Bericht des McKinsey Global Institute. McKinsey ist eines der größten Beratungsunternehmen der Welt. „Unsere Forschung kommt zu dem Ergebnis, dass Daten einen erheblichen Wert für die Weltwirtschaft schaffen können, indem sie die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und dem öffentlichen Sektor verbessern und einen erheblichen wirtschaftlichen Mehrwert für die Konsument: innen schaffen. [...] Wir stehen an der Schwelle zu einer enormen Welle von Innovation, Produktivität und Wachstum sowie neuen Formen des Wettbewerbs und der Wertschöpfung - allesamt angetrieben von Big Data, wenn Konsument: innen, Unternehmen und Wirtschaftssektoren ihr Potenzial nutzen“ (Manyika et al. 2011, 1-2). Eine damit verbundene Ideologie besteht darin, dass Big Data in positivistischer Manier zunächst als große Veränderung der Gesellschaft und als radikal neu und transformativ dargestellt wird, was in einem zweiten Schritt zu Behauptungen führt, dass Big Data nur positive Auswirkungen auf die Gesellschaft hat: Die „Big Data-Welt ist bereit, alles aufzurütteln, von Unternehmen und Wissenschaften über das Gesundheitswesen, die Regierung, das Bildungswesen, die Wirtschaft, die Geisteswissenschaften und jeden anderen Aspekt der Gesellschaft“ (Mayer- Schönberger & Cukier 2013, 11). „Der Nutzen für die Gesellschaft wird unermesslich sein, wenn Big Data Teil der Lösung drängender globaler Probleme wie der Bekämpfung des Klimawandels, der Ausrottung von Krankheiten und der Förderung von guter Regierungsführung und wirtschaftlicher Entwicklung wird“ (Mayer-Schönberger & Cukier 2013, 17). Einige nicht-ökonomische Fragen werden hier angesprochen, aber insgesamt sprechen solche Ansätze für eine technologische Lösung wirtschaftlicher, sozialer, politischer und kultureller Probleme. Sie sind techno-deterministisch. Daten als das „neue Öl“? Big Data als technologischer Fetisch Es gibt nicht nur Ideologien, die mit Hilfe von Technologien vermittelt werden, sondern auch Ideologien der Technologien. Was die digitalen Technologien betrifft, so finden wir nicht nur Ideologien im Internet, sondern auch Ideologien des Internets. Georg Lukács zwar nicht explizit den Begriff des „technologischen Fetischismus“, beschreibt aber, wie Technologien zu Fetischobjekten werden. Er spricht von der „Nutzbarmachung der […] fatalistisch-hingenommenen, unveränderbaren ‚Gesetze’ für bestimmte Zwecke des Menschen (zum Beispiel Technik)“ (Lukács 1923, 211). Im technologischen Fetischismus wird „die wirkliche Gegenständlichkeit“ der Maschine „dadurch entstellt, dass ihr ihre Funktion im kapitalistischen Produktionsprozess als ‚ewigen’ Wesenskern, als unablösbaren Bestand ihrer ‚Individualität’“ angedichtet wird (Lukács 1923, 335-336), ihr eine isolierte „Einzigartigkeit“ (Lukács 1923, 335) zugeschrieben wird, also ihr gesellschaftlicher und ökonomischer Kontext ausgeblendet wird. Im Zeitalter des digitalen Kapitalismus werden digitale Technologien wie das Internet, Social-Media-Plattformen, das Mobiltelefon, Big-Data-Technologien, das Internet der Dinge, Cloud Computing, Industrie 4.0/ industrielles Internet usw. oft als technolo- <?page no="88"?> 88 3 Big Data im digitalen Kapitalismus gische Fetische behandelt. Betrachten wir ein Beispiel. Die Wirtschaftspresse ist im Allgemeinen eine gute Quelle für die Beobachtung neuer Trends und Ideologien. Im Mai 2017 veröffentlichte das Wirtschaftsmagazin The Economist eine Titelgeschichte mit der Überschrift „The World’s Most Valuable Resource is no Longer Oil, but Data”: „A NEW commodity spawns a lucrative, fast-growing industry. […] A century ago, the resource in question was oil. Now similar concerns are being raised by the giants that deal in data, the oil of the digital era” (The Economist 2017). Google, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft seien „Titanen“ („titans”), die unaufhaltsam aussehen („look unstoppable”). „The giants’ success has benefited consumers. Few want to live without Google’s search engine, Amazon’s one-day delivery or Facebook’s newsfeed”. „Algorithms can predict when a customer is ready to buy, a jetengine needs servicing or a person is at risk of a disease”. Die Wirtschaftszeitschrift Fortune veröffentlichte ein Interview mit dem CEO von Intel, Brian Krzanich, zum Thema Big Data. Er sagte: „Oil changed the world in the 1900s. It drove cars, it drove the whole chemical industry. […] Data, I look at it as the new oil. It’s going to change most industries across the board“ (Gharib 2018). „Artificial [intelligence-based] data is not just gonna change business, it’s gonna change every person on this planet’s life in some positive way“. „I think if you go and talk to the employees, they’ve never seen the company on this level of pace of change and competitiveness. But I don’t think you can ever stand still and say that it’s fast enough in this technology world”. In seinem Buch Plattform-Kapitalismus argumentiert Nick Srnicek in einer Weise, die mit den Behauptungen des Economist und des Fortune Magazine vergleichbar ist, dass Daten das neue Öl sind. Er schreibt, „dass sich der fortgeschrittene Kapitalismus im 21. Jahrhundert um die Gewinnung und Nutzung eines besonderen Rohmaterials dreht: Daten” (Srnicek 2017, 41). „Genau wie Erdöl sind Daten ein Material, das gewonnen und raffiniert werden muss und dann in verschiedener Weise genutzt werden kann” (42-43). „Plattformen entstanden oft aus der internen Notwendigkeit, Daten zu handhaben, und daraus wurde bald eine effiziente Art und Weise, immer größere Mengen aufgezeichneter Daten zu monopolisieren, zu extrahieren, zu analysieren und zu nutzen” (45). „Plattformen sind Instrumente, um Daten zu gewinnen.” (51). Diese Beispiele zeigen einige typische Merkmale des technologischen Fetischismus:  Autonomie: Die Technik wird als unabhängig von den Machtstrukturen der Gesellschaft dargestellt. Die Technologie ist nicht in der Gesellschaft als Ganzes verortet. In den beiden Beispielen geht es vor allem darum, wie neue Technologien wie Big-Data- Technologien und Künstliche Intelligenz die Gesellschaft positiv verändern, ohne den Fokus darauf zu richten, wie sie in Klassenstrukturen, Ausbeutung und Herrschaft eingebettet sind.  Subjektivität: Die Technik und nicht der Mensch wird als ein handelndes Subjekt dargestellt („Oil changes“, etc., „[Data is] going to change most industries”, „[AI] changes every person on this planet’s life”). Ziel dieser Strategie ist es, technologische Entwicklungen als unvermeidlich, unveränderlich, unvermeidbar und unumkehrbar zu verdinglichen, indem sie als unabhängig vom menschlichen Willen und Handeln dargestellt werden. <?page no="89"?> 3.4 Die Probleme von Big Data 65  Revolution: Die technologischen Entwicklungen werden als revolutionär dargestellt, die schnell alles verändern („Data”=„new oil”, „data, the oil of the digital era”, „this level of pace of change [is never] fast enough in this technology world”). Das Ziel dieser Präsentationsstrategie ist, dass die Menschen die Technik nicht in Frage stellen und nicht die Möglichkeit in Betracht ziehen, bestimmte Technologien oder Aspekte davon rückgängig zu machen.  Technologie als eindimensionale Ursache, digitaler Determinismus: Die Technologie gilt als Ursache für gesellschaftliche Veränderungen („it’s gonna change every person on this planet’s life in some positive way”). Machtstrukturen und gesellschaftliche Widersprüche werden außer Acht gelassen.  Technologischer Optimismus und technologischer Pessimismus: Veränderungen in der Gesellschaft, die im Zusammenhang mit der Technologie stehen, werden entweder als rein positiv (Technologieoptimismus) oder rein negativ (Technologiepessimismus) bezeichnet. In den Beispielen wird zum Beispiel behauptet, dass Big Data den Konsument: innen nur Vorteile gebracht hat und nur wenige ohne Big Data leben wollen („[Big Data] has benefited consumers. Few want to live without [it]”) oder dass Algorithmen vorhersagen können, wann ein Mensch krankheits-gefährdet ist und das Leben eines jeden Menschen positiv verändern. Es wird nicht über tatsächliche oder potenzielle Schäden gesprochen, wie z. B. algorithmische Überwachung, algorithmische Diskriminierung, Nachteile aufgrund von Fehlern und falschen Vorhersagen usw. 3.4.2 Konsumkultur Der Big Data-Kapitalismus will die Welt in ein riesiges Einkaufszentrum verwandeln. Die Menschen sind fast überall mit Werbung konfrontiert, die kapitalistische Logik kolonialisiert die soziale, öffentliche und private Welt. Die Konsumkultur begann zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Aufstieg der Massenproduktion und des Massenkonsums. Die Löhne wurden erhöht, damit die Arbeiter: innen genug Geld hatten, um massenproduzierte Waren kaufen zu können. Die Unterhaltungsindustrie wurde zu einem wichtigen Teil des Kapitalismus und wurde zu einer Lebensform und einem Lebensstil. Das Einkaufszentrum wurde zu einem Symbol des Konsumkapitalismus. Der Neoliberalismus hat die Logik des Einkaufens auf immer mehr Bereiche unseres Lebens ausgedehnt. Die Werbung ist ein notwendiges Elixier des Konsumkapitalismus. Sie fördert den Kauf und Konsum von immer mehr Waren. Die Konsumkultur hat auch das Internet und die sozialen Medien kolonialisiert. Amazon ist zum Beispiel der größte Einzelhändler der Welt. Im Jahr 2022 war es das 6.-größte transnationale Unternehmen der Welt und erwirtschaftete im Finanzjahr 2022 einen Gewinn von 33,4 Milliarden US-Dollar 13 . Personalisierte Werbung nutzt Big Data, um zu versuchen, immer mehr Waren online zu verkaufen. 3.4.3 Instrumentelle Vernunft Big Data-basierte Algorithmen werden verwendet, um zu versuchen, menschliche Bedürfnisse zu berechnen, zu planen, zu überwachen und zu steuern, einschließlich des Konsums von Gütern, der Entscheidungsfindung und der Bildung von Ideen. David 13 Datenquelle: Forbes 2000 List of the World’s Largest Public Companies, Jahr 2022: Amazon Inc. <?page no="90"?> 90 3 Big Data im digitalen Kapitalismus Chandler (2015) argumentiert in diesem Zusammenhang, dass Big Data eine posthumane Welt verspricht, in der nicht Menschen, sondern „‚Daten‘ die Arbeit machen“ (848). Das bedeutet, dass Algorithmen häufig den Menschen bei der Entscheidungsfindung ersetzen. In der Welt der Politik ist die Folge davon eine algorithmische Politik, die „das Regieren auf einen fortlaufenden und technischen Anpassungsprozess reduziert und die Welt so akzeptiert, wie sie ist“ (835). Diese Entwicklung würde ein Modell der Herrschaft des Selbst fördern (838). Immer mehr Menschen benutzen Smart-Telefone, digitale Uhren und andere Geräte, um Big Data über sich selbst zu erstellen, die ihren Schlaf, ihren Körper, ihre Ernährung, ihre Bewegung, ihre Emotionen usw. überwachen. Sie quantifizieren ihr Selbst (siehe Moore 2017). Die Menschen arbeiten mehr, sind mehr gestresst und haben weniger Freizeit. Die wirkliche Lösung des daraus resultierenden Problems wäre eine Umverteilung der Arbeit, eine Verkürzung des Arbeitstages und eine geringere Betonung von Profit und Leistung in der Gesellschaft. Big Data-basierte Selbsthilfe über Big Data suggeriert die neoliberale Auslagerung von Verantwortung vom Staat auf Individuen und Gemeinschaften und ist daher ein Diskurs, den neoliberale Regierungen, Parteien und Politik unkritisch aufnehmen. Ideologische Parallelen sind die neoliberale Philosophie, dass man „tun sollte, was man liebt“, und das Konzept einer großen Gesellschaft („Big Society“), in der Individuen Kooperativen, Selbsthilfegruppen, Basisinitiativen und andere freiwillige zivilgesellschaftliche Projekte bilden, die den Wohlfahrtsstaat ersetzen. Das Problem ist, dass eine solche Auslagerung von Verantwortung die Einstellung und den Eindruck erwecken und verstärken kann, dass Einzelpersonen und Gemeinschaften für soziale Probleme und deren Lösungen verantwortlich sind, was die Aufmerksamkeit von den tatsächlich bestehenden Machtstrukturen ablenkt. Es besteht kein Zweifel, dass ein Staat, der Partizipation und Basisinitiativen fördert und unterstützt, eine dringend benötigte Entwicklung ist. Im neoliberalen Kapitalismus besteht jedoch die Tendenz, dass solche Initiativen nicht als Ergänzung, sondern als Ersatz für den Wohlfahrtsstaat gesehen werden. In der Big-Data-Analytik kommt der „Mensch erst relativ spät ins Bild (wenn überhaupt)“ (Chandler 2015, 837). Algorithmen spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Big- Data-Analyse und die Big Data-Forschung sind eher induktiv und untheoretisch. Sie arbeiten sich „‚hinunter‘ zur Kontextualisierung des Einzelfalls und versprechen damit eine personalisierte oder individualisierte Gesundheitsversorgung, politische Kampagnen oder Informationen zum Produktkauf. Big Data ‚bohrt‘ oder ‚gräbt‘ von der Masse der Daten zum Einzelfall hinunter“ (846). In der Big-Data-Analytik nimmt die instrumentelle Vernunft eine solche Form an, dass Algorithmen zu „Akteuren“ werden, die im Namen der Menschen Entscheidungen treffen und Bedürfnisse definieren und auf der Grundlage algorithmischer Logik Annahmen über menschliches Denken und Verhalten treffen. Das Problem ist, dass Algorithmen und Computer im Gegensatz zu Menschen keine Affekte, Ethik und Moral haben und nur auf der Grundlage der rein instrumentellen linearen Logik „IF Bedingung C THEN führe A aus“ handeln. Angesichts der Tatsache, dass der Mensch ein komplexes gesellschaftliches Wesen ist, ist eine solche lineare instrumentelle algorithmische Logik fehleranfällig und erzeugt falsch-positive Ergebnisse. Im wirtschaftlichen und politischen Leben kann die algorithmische Logik schwerwiegende Folgen haben, z.B. dass Menschen als Kriminelle oder Terroristen betrachtet werden, obwohl sie unschuldig sind, oder dass sie von Banken, Unternehmen oder öffentlichen Diensten diskriminiert werden. Algorithmen neigen zu einer neuen Gottesperspektive, die menschliche Ent- <?page no="91"?> 3.4 Die Probleme von Big Data 65 scheidungen und Handlungen automatisiert und dadurch totalitäre Potentiale schafft. Angesichts der Auswirkungen von Big Data steht die Forschung dringend „vor der Aufgabe, einen kritischen Ansatz neu zu beleben“ (Chandler 2015, 851). 3.4.4 Ungleichheit: Big Data Analytics als Waffe der mathematischen Zerstörung Die zunehmende Kommerzialisierung, die mit Big Data einhergeht, kann die soziale Ungleichheit verstärken. Algorithmen, die Entscheidungen treffen, haben keine moralischen Werte. Sie verstehen das Konzept von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nicht. Sie treffen Entscheidungen auf der Grundlage rein mathematischer Annahmen. Aber diese Annahmen begünstigen oft die Interessen der Reichen, Wohlhabenden und Mächtigen. Es gibt neue Formen der Diskriminierung, die eine rationale Diskriminierung und eine kumulative Benachteiligung mit sich bringen, die sich aus den in Datenbanken gespeicherten Daten ergeben, die Algorithmen aus Vorhersagen ableiten und die fehleranfällig sind (Gandy 2009). Das Internet wird dadurch zu einem klassenstrukturierten Raum der Ausbeutung und zu einem diskriminierenden Raum. Es gibt eine „große Datenkluft“ (Andrejevic 2014), die das Eigentum und die Kontrolle von Daten betrifft und Vorteile für die Mächtigen und Nachteile für die weniger Mächtigen mit sich bringt. Cathy O'Neil ist eine Mathematikerin, die in der Finanzindustrie tätig war. Sie verfügt über fundierte Kenntnisse darüber, wie Algorithmen und Big Data in der alltäglichen kapitalistischen Welt verwendet werden. Sie gab ihren Job auf, engagierte sich in der Occupy Wall Street-Bewegung und wurde Schriftstellerin. In ihrem Buch Weapons of Math Destruction (Waffen der mathematischen Zerstörung) argumentiert O‘Neil (2016), dass die Analyse von Big Data eine Waffe der mathematischen Zerstörung ist. Sie sagt, dass Big-Data-basierte Algorithmen und Systeme wie Kreditwürdigkeitsprüfungen, personalisierte Werbung, Leistungsbewertungen, algorithmischer Handel, prädikative Polizeiarbeit usw. oft „menschliche Vorurteile, Missverständnisse und Voreingenommenheit“ (3) in Software kodieren. Die verwendeten Algorithmen sind undurchsichtig, ihre Urteile stehen „jenseits von Streit und Anfechtbarkeit“ (3), selbst wenn sie falsch sind. Diese Algorithmen „tendieren dazu, die Armen zu bestrafen“ (8), organisieren das „Mikromanagement der Wirtschaft, von der Werbung bis zu Gefängnissen“ (12), „interpretieren Menschen falsch [...], indem diese in falsche Gruppen gesteckt werden und ihnen einen Job oder eine Chance auf ihr Traumhaus verweigert, wird“ (12). Algorithmen führen zu „willkürlichen Bestrafungen“ (13), und ihre Reichweite und ihr Ausmaß nehmen zu (31). Algorithmen schaden Menschenleben (31), „knallen Türen vor Millionen von Menschen zu, oft aus den fadenscheinigsten Gründen, und bieten keinen Anreiz“ (31). „Sie sind ungerecht“ (31) und führen zu einer „industriellen Produktion von Ungerechtigkeit“ (95). Das bedeutet, dass O‘Neil zeigt, dass der Big Data-Kapitalismus in der Praxis mit Diskriminierung arbeitet und Ungleichheiten verstärkt. 3.4.5 Der Überwachungskapitalismus: Die faschistischen Potentiale des Big Data-Kapitalismus Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der eine Vielzahl von Daten über Einzelpersonen zu großen persönlichen Datensätzen zusammengefügt werden: Körperdaten werden von Geräten an und in unserem Körper gesammelt, Chips werden in unser Gehirn eingesetzt, Bewegungen, Gesichter und Sprache werden von intelligenten <?page no="92"?> 92 3 Big Data im digitalen Kapitalismus CCTV-Systemen und Drohnenkameras in öffentlichen und privaten Räumen erkannt, intelligente Lautsprecher hören unsere privaten Gespräche und Telefonate ab, soziale Netzwerke zeichnen unser Online-Surfverhalten und unser Informations- und Kommunikationsverhalten auf, sämtliche Einkäufe werden aufgezeichnet, usw. Die Verwendung von prädiktiven Algorithmen auf einem solchen allgegenwärtigen System der Big Data-basierten Überwachung wird zwangsläufig zu Fehlern führen, da Algorithmen nur Zahlen verstehen, während Menschen Eigenschaften haben, die nicht quantifizierbar sind. Big-Data-basierte Überwachungssysteme bergen faschistische Gefahren in sich. Sie können zur Überwachung von Bürger: innen eingesetzt werden, die in einer faschistischen oder diktatorischen Gesellschaft dazu benutzt werden können, politische Gegner und Sündenböcke zu identifizieren, zu bestrafen, ins Gefängnis zu bringen oder sogar zu töten. Außerdem werden solche Sündenböcke in Ideologien benutzt, um von den wahren Ursachen der Probleme der Gesellschaft abzulenken. Kategorischer Verdacht bedeutet die Annahme, dass jeder Mensch ein potenzieller Terrorist und Krimineller ist und dass wir deshalb mehr Überwachung brauchen. Der kategorische Verdacht verwandelt die Unschuldsvermutung in eine Schuldvermutung, so dass jemand nicht „unschuldig ist, bis seine Schuld bewiesen ist“, sondern „schuldig und ein Terrorist, bis seine Unschuld bewiesen ist“. Terroristen sind meist nicht so dumm, ihre Pläne online zu kommunizieren. Die gesamte Logik der Überwachung durch Big Data basiert auf falschen Annahmen, da es keine technologische Lösung für komplexe politische und sozioökonomische Probleme gibt. Die Law & Order-Politik fördert faschistische Potentiale in der Gesellschaft. Die Big-Data-Überwachung hat sich in Zeiten der kapitalistischen Krise intensiviert. Krisenzeiten sind Zeiten der ideologischen Sündenbock-Politik, um die Aufmerksamkeit von den wahren und meist komplexen Ursachen gesellschaftlicher Probleme abzulenken. Zu den heutigen Sündenböcken gehören zum Beispiel osteuropäische Migrationsarbeiter: innen, die Europäische Union, Sozialhilfeempfänger: innen, Arbeitslose, Arme, schwarze Jugendliche, internationale Studierende, Immigranten, Muslime und Juden. Solche Ideologien lenken die Aufmerksamkeit von gesellschaftlichen Problemen, Ungleichheiten, prekären Arbeitsverhältnissen, Arbeitslosigkeit, usw. - also von den Problemen des Kapitalismus - ab. Krisen werden „ideologisch von den herrschenden Ideologien konstruiert, um Zustimmung zu gewinnen“ (Hall et al. 1978, 220-221). Die Überwachungsgesellschaft steht im Zusammenhang mit moralischen Paniken, die „die ideologischen Schlüsselformen sind, in denen eine historische Krise ‚erlebt und ausgefochten‘ wird“ (Hall et al. 1978, 221). Im schlimmsten Fall entsteht eine faschistische Big-Data-Gesellschaft, in der Bürger: innen präventiv inhaftiert und getötet werden, da Algorithmen auf der Grundlage von Big Data, die durch „intelligente“ Geräte gesammelt werden, voraussagen, dass jemand ein politisches Risiko darstellt, dass die Arbeit einer Person bald automatisiert wird, dass jemand gesundheitliche Risiken hat, dass jemand ein potentieller Krimineller oder Terrorist ist usw. Algorithmen können unser Leben nicht vollständig vorhersagen, weil Menschen keine Maschinen sind und nicht wie ein Algorithmus nach der Logik IF…THEN… ELSE funktionieren. 3.4.6 Ökologische Probleme Big Data führt zu einer Verschärfung von Umweltproblemen (Mosco 2014, 127-137; Mosco 2016, 520) aufgrund des hohen Energieverbrauchs, der für die Aufrechterhaltung von Rechenzentren und Cloud-Speicherung benötigt wird, und dem Anstieg der <?page no="93"?> 3.4 Die Probleme von Big Data 65 Anzahl digitaler Medientechnologien mit kurzer Lebensdauer, die als elektronischer Schrott in Entwicklungsländern entsorgt werden. Im Jahr 2012 verbrauchten Rechenzentren Strom, der der Leistung von 30 Kernkraftwerken entspricht 14 . Rechenzentren neigen dazu, Dieselgeneratoren als Backup-Stromversorgungssysteme einzusetzen (Mosco 2014, 133; Mosco 2016, 520). Sie produzieren Schadstoffe, die in die Luft und im Boden freigesetzt werden. Darüber hinaus benötigen Rechenzentren viel Energie, und der Großteil der weltweit produzierten Energie stammt aus nicht erneuerbaren Ressourcen und erhöht den Kohlendioxidausstoß. 3.4.7 Die Zunahme von Arbeitslosigkeit und prekärer Arbeit Big Data und Cloud-Computing können Arbeitsplätze gefährden, indem sie die Datenspeicherung sowie die Software-Bereitstellung und -Wartung von den internen IT- Abteilungen der Unternehmen an IT-Dienste auslagern (Mosco 2014, 155-174; Mosco 2016, 522-524). Dies kann auch zur Entlassung von Wissensarbeiter: innen führen, wenn Unternehmen davon ausgehen, dass Big Data-Analytik besseres Wissen liefern kann als das Fachwissen und die Fähigkeiten der Mitarbeiter: innen. Wenn Unternehmen Algorithmen mehr vertrauen als Menschen, kann dies erhebliche Folgen für die Arbeiter: innen haben. Da der digitale Positivismus von Big Data dazu neigt, „große Fehler“ zu produzieren (Mosco 2014, 199), erhöht die Substitution von Wissensarbeiter: innen durch Algorithmen auch das Risiko einer zunehmenden wirtschaftlichen Verwundbarkeit. Angesichts des überwiegend unregulierten Charakters der digitalen Arbeit neigt das Crowdsourcing von Arbeitskräften in die Cloud über Plattformen wie Amazon Mechanical Turk dazu, prekäre, unsichere Arbeit zu schaffen, die Druck auf andere Arbeitsplätze ausübt. 3.4.8 Das Internet der Dinge Das Sammeln, Verarbeiten, Analysieren und Bewerten großer Datenmengen treibt nicht nur die sozialen Medien voran, sondern auch die Anwendungen des Internets der Dinge und neue Formen der Künstlichen Intelligenz. Dazu gehören z.B. intelligente Lautsprecher wie Amazon Alexa Echo, Apple Siri oder Google Home; selbstfahrende vernetzte Autos, intelligente Zähler und Thermostate, intelligente Toaster und Toiletten, intelligente Straßenlampen, der Amazon Dash Button, die Apple-Uhr und andere intelligente Uhren, mit dem Internet verbundene Roboter-Rasenmäher, Kühlschränke und Roboter-Staubsauger, mit dem Internet verbundene militärische und zivile Drohnen usw. Vincent Mosco (2017) argumentiert, dass das nächste Internet (Next Internet) die Konvergenz von Big Data, Cloud Computing und dem Internet der Dinge ist Der kapitalistische Charakter des „Next Internet“ birgt eine Reihe ernsthafter Risiken, wie die Überwachung unserer intimsten Räume, wozu unsere Wohnungen, unsere Schlafzimmer und unsere Körper gehören; die Kommerzialisierung von allem; Sicherheitsbedrohungen (das Hacken des Internets der Dinge kann die Gesellschaft unterbrechen); unvorhersehbare Risiken und Unfälle; eine Kultur der ständigen Selbstüberwachung, die Stress verursacht und die Introjektion der instrumentellen Vernunft in die menschlichen Subjekte fördert; sich ausbreitender Militarismus; negative Auswirkungen auf die Umwelt; steigende Arbeitslosigkeit als Folge der KI-basierten Auto- 14 www.nytimes.com/ 2012/ 09/ 23/ technology/ data-centers-waste-vast-amounts-ofenergy-belying-industry-image.html, abgerufen am 27. September 2016. <?page no="94"?> 94 3 Big Data im digitalen Kapitalismus matisierung; neue Formen der Ausbeutung; die Ausweitung der Marktkonzentration und der Macht von Apple, Google, Amazon und Facebook; neue Ungleichheiten und Formen der Diskriminierung usw. (Bunz & Meikle 2018, Gandy 2009, Moore 2017, Mosco 2017). 3.4.9 Die klügste Technologie ist immer dümmer als der dümmste Mensch Die Komplexität unserer Gedanken, Moralvorstellungen und sozialen Beziehungen kann niemals vollständig durch „intelligente“ („smarte“) digitale Technologien erfasst werden. Die intelligenteste Technologie ist immer dümmer als der dümmste Mensch. Was „intelligente“ Technologien, die Sensoren, Big Data und das Internet der Dinge nutzen, bewirken, ist, dass sie unser Leben auf Millionen von Datenpunkten reduzieren, die sie sammeln, speichern, analysieren und aus denen sie Korrelationen herstellen, die als Ursache und Rückschlüsse auf unser Leben, unsere Vorlieben, Interessen, unser zukünftiges Verhalten, unsere Risikofaktoren usw. interpretiert werden. Aber Menschen sind mehr als Datenpunkte. Wir sind lebendige, soziale Wesen, die Gefühle und Moral haben. Wir haben ein Unbewusstes, das unsere Gedanken beeinflusst. Wir sind manchmal glücklich und manchmal traurig. Wir sind zu Liebe fähig und brauchen die Liebe. Dies sind komplexe menschliche Qualitäten, die sich nicht berechnen lassen. Computer und Maschinen im Allgemeinen haben keine Vorstellung von Liebe und Moral. Man kann Liebe nicht auf einem Computer simulieren, obwohl populäre Filme wie Her von Spike Jonze uns glauben machen wollen, dass sich Menschen in intelligente Betriebssysteme verlieben können, die mit ihnen sprechen. Wir sollten uns an die Warnung des Computer-Ethikers Joseph Weizenbaum (1976) erinnern, dass der Anwendbarkeit von Computern Grenzen gesetzt sind. Computer scheinen mächtige Maschinen zu sein. Wenn sie den Menschen ersetzen, besteht die Gefahr des Verlustes von Autonomie, Freiheit und Demokratie: „Jede menschliche Intelligenz ist somit auf sehr viele Bereiche des Denkens und Handelns gar nicht anwendbar. […] Was könnte offensichtlicher sein als die Tatsache, dass ein Computer über noch soviel Intelligenz verfügen kann, wie immer er diese erwirbt, sie muss zwangsläufig und immer gegenüber wirklich menschlichen Problemen absolut fremd sein. Allein schon die ausgesprochene Frage: »Gibt es irgend etwas, das ein Richter (oder ein Psychiater) weiß, was wir einem Computer nicht mitteilen können? « ist eine ungeheure Schamlosigkeit. […] Computer können juristische Entscheidungen treffen und psychiatrische Urteile fällen. Sie können auf viel ausgesuchtere Weise Münzen werfen als das geduldigste menschliche Wesen. Der Punkt ist, dass ihnen solche Aufgaben nicht übertragen werden sollten. Sie können sogar imstande sein, in einigen Fällen zu »korrekten« Entscheidungen zu gelangen - aber immer und unausweichlich auf einer Grundlage, die kein Mensch willentlich akzeptieren sollte. Es hat viele Diskussionen über »Computer und menschliches Denken« gegeben. Der Schluß, der sich mir aufdrängt, ist hier, daß die relevanten Probleme weder technischer noch mathematischer, sondern ethischer Natur sind. Sie können nicht dadurch gelöst werden, daß man Fragen stellt, die mit »können« beginnen. Die Grenzen in der Anwendung von Computern lassen sich letztlich nur als Sätze angeben, in denen das Wort »sollten« vorkommt. Die wichtigste Grundeinsicht, die uns daraus erwächst, ist die, dass wir zur Zeit keine Möglichkeit kennen, Computer auch klug zu machen, und dass wir deshalb im Augenblick Computern keine Aufgaben übertragen sollten, deren Lösung Klugheit erfordert. […] Computersysteme regen nicht zum Nachdenken an, <?page no="95"?> 3.5 Der digitale Positivismus 65 das zu einer wirklich menschlichen Beurteilung führen könnte“ (Weizenbaum 1977, 299-300, 315). Im nächsten Abschnitt wird ein besonderes Problem von Big Data im Bereich der Forschung erörtert: der digitale Positivismus. 3.5 Der digitale Positivismus: Die Erforschung sozialer Medien als Big Data Analytics und Computational Social Science Der Aufstieg von Big Data und sozialen Medien hat auch die Wissenschaft verändert. In den Sozialwissenschaften hat er zu dem geführt, was Deborah Lupton (2015) digitale Soziologie nennt. Die digitale Soziologie umfasst: a) professionelle digitale Praxis, bei der Sozialwissenschaftler „digitale Werkzeuge als Teil der soziologischen Praxis - zum Aufbau von Netzwerken, zur Erstellung eines Online-Profils, zur Bekanntmachung und zum Austausch von Forschungsergebnissen und zur Unterweisung von Studenten“ (15) verwenden; b) Analysen der Nutzung digitaler Technologien; c) digitale Datenanalyse. Im Zusammenhang mit letzterer ist es auch in Mode gekommen, von digitalen Methoden zu sprechen (Rogers 2013). Der vierte Aspekt der digitalen Soziologie ist d) die kritische digitale Soziologie, unter der Lupton (2015, 16) die „reflexive Analyse digitaler Technologien auf der Grundlage der Sozial- und Kulturtheorie“ versteht. Es gibt viele Formen der Gesellschafts- und Kulturtheorie, und in gewisser Weise sind alle Formen der Sozialforschung eine Reflexion über und aus der Gesellschaft. Für mich ist die kritische digitale Soziologie eine besondere Reflexion über die Rolle der digitalen Technologien in der Gesellschaft, nämlich eine Reflexion, die von einer kritischen und marxistischen Theorie geprägt wird, die versucht, Kapitalismus und Herrschaft sowie ihre möglichen Alternativen zu verstehen. Es besteht in der Tat ein Widerspruch zwischen der kritischen Soziologie als dem vierten Bereich der digitalen Soziologie und Big-Data-Analytics, die Teil von Luptons drittem Bereich der digitalen Soziologie sind. Ein wichtiger Trend in der Internet-Forschung ist Big Data-Analytics, auch bekannt als Computational Social Science. Es handelt sich um eine Form der Analyse, die sich darauf konzentriert, große Datenmengen von Social-Media-Plattformen zu sammeln und vorwiegend quantitativ zu analysieren. Digitaler Positivismus: Probleme von Big Data Analytics Das Problem mit vielen dieser Ansätze besteht darin, dass sie statistische und computergenerierte Forschungsergebnisse oft nicht mit einer breiteren Analyse menschlicher Bedeutungen, Interpretationen, Erfahrungen, Einstellungen, moralischer Werte, ethischer Dilemmata, Nutzungsweisen, Widersprüche und makrosoziologischer Implikationen der sozialen Medien verbinden. Es besteht die Gefahr, dass eine Abwertung oder Ignoranz der Bedeutung von Philosophie, Theorie, Kritik und qualitativer Analyse in der Internetanalyse die administrative Forschung (Lazarsfeld 1941) vorantreibt, die sich vorwiegend damit befasst, wie Technologien und Verwaltung effizienter und effektiver gestaltet werden können. Jürgen Habermas (1973) paraphrasierend können wir sagen, dass der digitale Positivismus einen „Absolutismus reiner [digitaler, quantitativer] Methodologie“ (14) betreibt, die Bildungs- und Aufklärungsrolle der <?page no="96"?> 96 3 Big Data im digitalen Kapitalismus Wissenschaft vergisst, den „ Sinn von Erkenntnis “ vergisst (90) und „zur Immunisierung der [Internet-]Wissenschaften gegen Philosophie“ (89) führt. Vincent Mosco (2016, 2014) beschreibt den Glauben an die radikale und transformative Kraft von Big Data-Analytics als digitalen Positivismus und Vergötzung der Cloud. Big Data ist „ein Mythos, eine Geschichte über die Beschwörung nicht von Weisheit, die aus der fehleranfälligen Intelligenz der Menschen mit all unseren bekannten Einschränkungen stammt, sondern der Weisheit der reinen Daten, die in der Cloud gespeichert sind“ (Mosco 2014, 193). Der „heiße neue Beruf des Datenwissenschaftlers kennt nur quantitative Ansätze“ (Mosco 2014, 197). „[Big Data Analytics] ist inhärent fehlerhaft, da subjektive Zustände wie Glück, Depression oder Zufriedenheit für verschiedene Menschen unterschiedliche Bedeutungen haben [...] Es ist ungewiss, was schlimmer ist: dass Big Data Probleme durch zu starke Vereinfachung behandelt oder dass dabei diejenigen Probleme ignoriert werden, die eine sorgfältige Behandlung der Subjektivität erfordern, einschließlich langer Beobachtung, Tiefeninterviews und einer Wertschätzung der sozialen Bedeutungsproduktion“ (Mosco 2014, 198). „[Big Data Analytics] entwertet auch die Forschung, die sich auf historische, theoretische und disziplinäre Verständnisse eines Fachgebiets stützt“ (Mosco 2016, 524) und „neigt dazu, Kontext und Geschichte zu vernachlässigen“ (Mosco 2014, 201). Der digitale Positivismus kann schwerwiegende negative Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft haben, weil Big Data „große Fehler mit großen Folgen enthalten und verbergen kann“ (Mosco 2014, 205). Rein quantitative Analysen von Big Data, die auf sozialen Medien gesammelt wurden, sind oft relativ bedeutungslos. Sie zeigen, welche dominanten Themen und Akteure es gibt, und zeigen oft schöne und farbenfrohe Bilder, wie z.B. Netzwerkgraphen, aber es fehlt ihnen das Verständnis dafür, warum die Nutzer: innen auf bestimmte Weise handeln, wie Ideologien ausgedrückt und in Frage gestellt werden, welche Bedeutungen die Nutzer: innen den Daten geben, welche ethischen Implikationen Entwicklungen in der Datenwelt für die Gesellschaft und die Menschen haben, welche Alternativen zu den damit verbundenen Problemen bestehen und so weiter. Ich argumentiere nicht gegen Forschung, die Daten von sozialen Medien und im Internet sammelt, sondern weise nur darauf hin, dass das wissenschaftliche Verständnis von sozialen Medien und Big Data die etablierten Methoden der Sozialforschung wie Interviews, Umfragen, Fokusgruppen, Inhaltsanalyse und kritische Diskursanalyse benötigt. Diese Methoden sind im digitalen Zeitalter nicht altmodisch und veraltet, sondern hochaktuell und wichtig. All diese Methoden sind notwendig, um die Rolle der digitalen Medien in der Informationsgesellschaft zu verstehen. Es ist aber auch sinnvoll, derartige Methoden mit der Sammlung von Online-Daten und kritischen, interpretativen, kreativen, künstlerischen und theoriegeleiteten Methoden und Ansätzen der Online-Forschung zu kombinieren. Anstelle einer groß angelegten quantitativen Analyse dieser Daten ist die kritische digitale Soziologie gut beraten, sich kleinerer Stichproben zu bedienen und diese mit Hilfe qualitativer Analysemethoden (kritische Bildanalyse, Ideologiekritik, kritische Diskursanalyse, qualitative Text-/ Inhaltsanalyse usw.) zu analysieren und mit Hilfe der Gesellschaftsphilosophie kritisch zu interpretieren. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel weg von Big Data-Analytics hin zu kritischen Methoden der Erforschung sozialer Medien. <?page no="97"?> 3.5 Der digitale Positivismus 65 Der Mainstream der Erforschung sozialer Medien ist die quantitative Methode der Big Data-Analytics. Dieser Ansatz unterscheidet sich sehr von der Ideologiekritik, die die Struktur, den Kontext und die Implikationen von Ideologien verstehen will. Das vorherrschende Paradigma des digitalen Positivismus hat auch der kritischen Forschung Grenzen gesetzt. Die Entwicklung kritischer Methoden der Erforschung sozialer Medien ist ein interessanter Aspekt der kritischen Analyse digitaler und sozialer Medien (zur Diskussion der Rolle der kritischen Diskursanalyse als Teil der kritischen Erforschung sozialer Medien siehe Fuchs 2016b, 2016c, 2017a, 2018a, 2018b, 2018c, 2020c; KhosraviNik 2013, KhosraviNik 2017, KhosraviNik und Unger 2016; Unger, Wodak und KhosraviNik 2016). Auch neue Fragen der Forschungsethik, die mit informierter Zustimmung und der Grenze zwischen privater und öffentlicher Kommunikation im Kontext sozialer Medien zu tun haben, sind entstanden (weitere Informationen zur Forschungsethik bei der Analyse sozialer Medien finden sich in: British Psychological Society 2009, 2013; Fuchs 2018a, Richterich 2018, Townsend et al. 2016, Zimmer 2010a, Zimmer 2010b, Zimmer and Proferes 2014). Kritische digitale Methoden 15 Die digitalen Medien haben die Methoden in den Sozial- und Geisteswissenschaften bis zu einem gewissen Grad verändert. Dies bedeutet nicht, dass die traditionellen Methoden veraltet sind, auch wenn viele die übertriebene Behauptung aufstellen, dass dies der Fall sei. Es bedeutet vielmehr, dass das Repertoire an Methoden der Sozialforschung gewachsen ist. Es gibt jedoch Machtstrukturen, die den Einsatz digitaler Methoden prägen. Es ist ein neuer digitaler Positivismus entstanden, der den Mainstream der digitalen Methoden bildet und in der Tat das gesamte Feld der digitalen Medienforschung prägt. Dieser Mainstream basiert auf den Methoden der Big Data-Analytics und der Computational Social Science. Es ist ein Paradigma, bei dem es um Quantifizierung, Mathematik und Berechnung geht. Solche Ansätze zielen darauf ab, die Welt auf der Grundlage der Analyse von großen Datenbeständen und Datenströmen zu erklären und berechenbar zu machen. Das Problem ist, dass uns Big Data-Analytics nicht alles sagt, was zählt. Sie kann menschliche Motivationen, Gefühle, Erfahrungen, Normen, Moralvorstellungen, Werte, Interpretationen, Bedenken, Ängste, Hoffnungen usw. nicht richtig untersuchen. Solche Phänomene sind nicht quantifizierbar. Der digitale Positivismus birgt die Gefahr, dass die Informatik die Sozial- und Geisteswissenschaften kolonialisiert und dass die Informatik die Praxis der interpretativen Methoden, der kritischen Theorie, der Philosophie und der Ethik ersetzt. Wenn Sie Programmieren lernen müssen, um ein: e Sozialwissenschaftler: in zu werden, dann werden aus Bachelor- und Master-Abschlüssen Informatik-Abschlüsse und es bleibt nicht genug Zeit für die zeitaufwendigen, wichtigen Aktivitäten der kritischen Theorie, die das Lesen und Schreiben von Theoriebüchern und Essays, die Beschäftigung mit normativen Fragen und Moralphilosophie, die Dekonstruktion von Ideologien, die Schaffung qualitativer Alternativen usw. einschließt. Ich sage nicht, dass digitale Methoden keine Rolle spielen sollten oder dass sie nicht genutzt und weiterentwickelt werden sollten. Ich plädiere vielmehr für die Entwick- 15 Danksagung: Teile der Absätze im Rest dieses Abschnitts wurden erstmals in einer früheren Version im folgenden Artikel veröffentlicht: Christian Fuchs. 2019. What is Critical Digital Social Research? Five Reflections on the Study of Digital Society. Journal of Digital Social Research 1 (1): 10-16. https: / / doi.org/ 10.33621/ jdsr.v1i1.7; Verwendung mit Genehmigung des Journal of Digital Social Research. <?page no="98"?> 98 3 Big Data im digitalen Kapitalismus lung und den Einsatz alternativer, kritischer digitaler Methoden, die eher qualitativ als quantitativ sind, mit traditionellen Methoden kombiniert werden, kleine anstelle großer Datensätze verwenden, auf kritischer Theorie basieren, kreativ, experimentell und partizipativ sind, Machtstrukturen analysieren und darauf abzielen, zur Schaffung einer auf Gemeingütern basierenden Gesellschaft beizutragen. Die Logik der Business School hat die Universitäten kolonialisiert und die universitäre Bildung zur Ware gemacht. Wenn man die Logik der Computerwissenschaft zur Logik der Business School hinzufügt, dann ergibt sich eine Mischung, die digitale Forschung für Unternehmen anstelle von kritischer Forschung über die digitale Gesellschaft fördert. Oft verbirgt sich eine solche wirtschaftsorientierte Agenda unter dem Schlagwort der „Interdisziplinarität“. Gemeint ist in der Regel: „Sozial- und Geisteswissenschaftler: innen sollten sich dafür einsetzen, dass Unternehmen dabei unterstützt werden, digitale Innovationen zu schaffen, die sie gewinnbringend verkaufen können. Arbeiten Sie zusammen mit und für die Googles, Microsofts, Apples und andere Kapitalisten dieser Welt“. Forschungsförderungsorganisationen haben diese Agenda zügig umgesetzt und vergeben unter dem Schlagwort der Innovation von digitalen Methoden beträchtliche Summen an Steuergeldern an die digitalen Positivist: innen. Kritische Theorie und Philosophie des Digitalen Der ehemalige Herausgeber des neoliberalen Digital-Tech-Magazins Wired Chris Anderson (2008) behauptet, dass Big Data-Analytics die Theorieentwicklung unnötig macht und zum Ende und zum Tod der Theorie führt. Digitale Positivist: innen sind in der Tat kaum Expert: innen für Gesellschaftstheorie und für politische, soziale und moralische Philosophie. Sie haben keine Verwendung für solche Ansätze. In ihren Schriften reduziert sich „Theorie“ auf (meist schlechte) Definitionen einiger Schlüsselbegriffe. Das Problem ist, dass die gesamte Agenda der Big Data-Analytics gescheitert ist, da sie nicht die richtigen kritischen Fragen stellt, die für die Schaffung einer guten Gesellschaft von Bedeutung sind. Der digitale Positivismus ist ein Ausdruck des bürgerlichen wissenschaftlichen Bewusstseins. Er ist sich nicht bewusst, dass es eine Welt außerhalb der Daten gibt. Wenn wir die digitale Gesellschaft untersuchen wollen, müssen wir nicht nur die Logik der Daten verstehen, sondern auch, wie Menschen Daten und die digitale Gesellschaft erleben. Theorie und Philosophie spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, denn sie können uns helfen, die großen Fragen und Veränderungen, die die Gesellschaft durchmacht, systematisch zu verstehen. Im digitalen Positivismus wird die Rolle der Ethik meist auf die Forschungsethik im Zusammenhang mit dem Einsatz digitaler Methoden reduziert. Begriffe wie digitale Medienethik, Internet-Forschungsethik, Social-Media-Forschungsethik etc. werden in diesem Zusammenhang verwendet. Natürlich gibt es wichtige forschungsethische Fragen, die es zu stellen gilt. Sie beziehen sich auf die Verwischung der Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, die informierte Zustimmung, den Datenschutz usw. Aber die Ethik spielt eine größere Rolle in der Erforschung digitaler Medien: Sie ist ein Mittel, um Fragen zu stellen, wie eine gute Informationsgesellschaft und ein gutes Internet aussehen sollen, und um Antworten auf diese Fragen zu diskutieren. Dazu brauchen wir die Auseinandersetzung mit einem breiten Spektrum ethischer Ansätze, einschließlich der marxistischen und kritischen Ethik, der Tugendethik, der deontologischen Ethik, der konsequentialistischen Ethik, der feministischen Ethik, der Umweltethik, nicht-westlicher Versionen der Ethik usw. Der digitale Positivismus hat normalerweise keine Verwendung für eine solche Version von Ethik, <?page no="99"?> 3.5 Der digitale Positivismus 65 da seine Forscher dazu neigen, keine großen Fragen über Gesellschaft, Machtstrukturen und die normativen Grundlagen von Kommunikation und Gesellschaft zu stellen. Ein typisches Beispiel für die Instrumentalisierung der Ethik sind Förderprogramme, die eine obligatorische ethische Prüfung eingeführt haben. Häufig suchen Projekte, die hochgradig unmoralische Technologien entwickeln, die zur Tötung, Überwachung oder Kontrolle von Menschen eingesetzt werden, nach „Ethik-Expert: innen", die sich Konsortien anschließen und ein paar Peanuts bekommen, während die Hauptfördermittel an diejenigen gehen, die moralisch höchst problematische Forschung betreiben. Diese Ethiker: innen werden oft instrumentalisiert, um moralisch fragwürdige Forschung als „ethisch einwandfrei“ abzusegnen. Es mangelt an Finanzmitteln für Forschung und Projekte, die wirklich und vollständig auf die ethischen und kritischen Dimensionen der neuen Technologien ausgerichtet sind. Die Analyse digitaler Medien und die Forschungsförderung sollte der systematischen, kritischen Anwendung von Gesellschaftstheorien und Ethik mehr Aufmerksamkeit schenken. Dies ist Teil davon, kritische digitale Forschung zu praktizieren. Internationale und globale digitale Forschung Digitale Netzwerke ermöglichen internationale und globale Kommunikation. Viele Analysen digitaler Medien, des Internets und sozialer Medien, einschließlich Dissertationen, Monographen und in Zeitschriften veröffentlichte Artikel, konzentrieren sich auf die digitale Kommunikation im Kontext einzelner Nationalstaaten. Wir brauchen mehr international vergleichende Studien, die sich auf die großen Fragen und Probleme konzentrieren, mit denen die Menschen in der Wirtschaft, Politik und Kultur des Weltsystems konfrontiert sind. Es gibt eine Reihe globaler Probleme, die die Menschen in vielen Teilen der Welt betreffen und die wichtige Kontexte für Kommunikation, Kultur, Medien, kreative Arbeit und das Digitale bilden. Wir brauchen eine internationalistische digitale Sozialforschung. Oft fehlen einfach die Zeit, das Fachwissen und die finanziellen Mittel, um international vergleichende Forschung zu betreiben. Förderorganisationen konzentrieren sich typischerweise auf methodologischen Nationalismus und methodologischen Regionalismus und fördern nicht die internationale und globale Zusammenarbeit, die Wissenschaftler: innen aus Entwicklungsländern auf akademischer und finanzieller Ebene gleichberechtigt einbezieht. Es bestehen nach wie vor große Limitierungen und Herausforderungen für die Einrichtung wirklich internationaler und globaler Forschung. Kritische Sozialforschung des Digitalen Die kritische Erforschung digitaler und sozialer Medien praktiziert und experimentiert mit neuen Formen des kritischen Publizierens, konzentriert sich auf das Digitale als Thema kritischer Theorie und kritischer Forschung und nicht als Feld oder Disziplin; stellt große Fragen, die für die Schaffung einer guten Informationsgesellschaft von Bedeutung sind, die die globalen Probleme, mit denen die Menschheit heute konfrontiert ist, überwindet; entwickelt und verwendet kritische digitale Methoden, die mit traditionellen Methoden interagieren; entwickelt kritische Theorien und politische, soziale und moralische Philosophie im Kontext des Digitalen weiter; und ist methodologisch internationalistisch. Die kritische Sozialforschung des Digitalen wendet sich gegen den digitalen Positivismus der Big Data-Analytics und der Computational Social Research. <?page no="100"?> 100 3 Big Data im digitalen Kapitalismus 3.6 Schlussfolgerungen Wir können die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels zusammenfassen:  Der digitale Kapitalismus ist nicht nur eine Wirtschaft, sondern eine Dimension eines Gesellschaftstyps, einer Gesellschaftsformation. Er ist die Dimension der kapitalistischen Gesellschaft, in der Prozesse der Kapitalakkumulation, der Akkumulation von Entscheidungsmacht und der Akkumulation von Reputation mit Hilfe digitaler Technologien vermittelt und organisiert werden.  Big Data ist charakterisiert durch die große Masse, Vielfalt und Geschwindigkeit der Daten. Big Data bedeutet ein extrem hohes Datenvolumen, das die Kapazität menschlicher Berechnungen übersteigt, eine immense Datenvielfalt und den Transport, die Durchführung der Speicherung und Analyse von Big Data sowie der auf Big Data basierenden Entscheidungsfindungsprozesse mit sehr hoher Geschwindigkeit.  Big Data spielt im digitalen Kapitalismus eine Rolle als wirtschaftliche, politische und kulturelle Ressource, die von Unternehmen, Nationalstaaten sowie politischen und kulturellen Akteuren als Mittel zur Akkumulation von digitalem Kapital, Einfluss und Ansehen genutzt wird.  Big Data ist eine Dimension des digitalen Kapitalismus, in der die Vielfalt, Menge und Geschwindigkeit der Verarbeitung von Daten so hoch geworden ist, dass die menschliche Entscheidungsfindung in der Wirtschaft, im politischen System und in kulturellen Organisationen/ Institutionen Algorithmen überlassen wird, die mit Big Data arbeiten. Kapitalakkumulation und Macht basieren dabei auf Algorithmen, die Big Data sammeln, analysieren und automatische Entscheidungen treffen, die den Menschen die Kontrolle entziehen.  Der Big Data-Kapitalismus bringt viele Probleme mit sich. Er fördert neoliberale Ideologie, Konsumismus, instrumentelle Vernunft, Ungleichheiten, Waffen der mathematischen Zerstörung, eine Überwachungsgesellschaft, faschistische Potentiale, Umweltprobleme, Prekarität, Entmenschlichung und digitalen Positivismus.  Big Data-Analytics ist eine Form des digitalen Positivismus, die kritische Forschung und qualitative Forschung im Allgemeinen zu untergraben droht. Big Data- Analytics geht mit einer Vielzahl von Problemen einher, darunter die Verschärfung und Vertiefung von Ungleichheiten, Überwachung, Kapitalismus und instrumentelle Vernunft.  Die kritische Sozialforschung des Digitalen und sozialer Medien stellt die Hegemonie des digitalen Positivismus in Frage. Sie praktiziert und experimentiert mit neuen Formen des kritischen Publizierens; konzentriert sich auf das Digitale als Thema kritischer Theorie und kritischer Forschung und nicht als Feld oder Disziplin; stellt große Fragen, die für die Schaffung einer guten Informationsgesellschaft von Bedeutung sind, die die globalen Probleme der Menschheit von heute überwindet; entwickelt und verwendet kritische digitale Methoden, die mit traditionellen Methoden interagieren; entwickelt kritische Theorien und politische, soziale und moralische Philosophie im Kontext des Digitalen weiter; und ist methodologisch internationalistisch. Die kritische Erforschung digitaler und sozialer Medien stellt den digitalen Positivismus der Big-Data-Analytics und der Computational Social Science in Frage. <?page no="101"?> Empfohlene Literatur und Übungen 65 Empfohlene Literatur und Übungen Übung 3.1: Big Data als Waffe der mathematischen Zerstörung Cathy O’Neil 2016. Weapons of Math Destruction. How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy. London: Penguin. Cathy O’Neil hat einen akademischen Hintergrund in Mathematik. Sie arbeitete an Universitäten, bis sie sich entschied, die akademische Welt zu verlassen und in der Big Data-Industrie zu arbeiten. Nach einer Weile verließ sie diese Industrie angewidert und wurde eine Occupy Wall Street-Aktivistin. Ihr Buch Weapons of Math Destruction ist eine aufschlussreiche, reichhaltige Kritik der Big Data-Analytics. O’Neil diskutiert viele Beispiele für die gefährlichen Potenziale und Realitäten von Big Data. Lesen Sie die Einleitung, ein von Ihnen ausgewähltes Kapitel und den Schluss von O’Neils Buch. Diskutieren Sie:  Welche Beispiele von Big-Data-Anwendungen diskutiert O’Neil?  Was waren die negativen Auswirkungen von Big Data in dem Beispiel?  Wie beurteilt Cathy O’Neil Big Data-Analytics? Wie beurteilen Sie Big Data- Analytics? Übung 3.2: Automatisierte Medien Mark Andrejevic ist Professor für Medienwissenschaften und hat viele wichtige Erkenntnisse zur kritischen Theorie der Überwachung, des Internets und der Populärkultur beigetragen. In dem Buch Automated Media untersucht er die Gefahren von KI- und Big Data-basierten Algorithmen. Lesen Sie die folgenden zwei Kapitel aus dem Buch: Kapitel 1: The Subject of Automation Kapitel 4: Pre-emption Diskutieren Sie:  Was versteht Mark Andrejevic unter automatisierten Medien? Versuchen Sie, selbst einige Beispiele für automatisierte Medien zu finden.  Wie hängen automatisierte Medien mit Big Data und Algorithmen zusammen?  Welche Rolle spielt das, was Foucault das Panopticon nennt, im Zusammenhang mit Big Data?  Welche potenziellen negativen Folgen haben die automatisierten Medien? Wie schätzen Sie diese Gefahren ein? Was muss getan werden, um negative Folgen der Datensammlung für Mensch und Gesellschaft zu vermeiden? Übung 3.3: Big Data im digitalen Kapitalismus David Chandler & Christian Fuchs, Hrsg. 2019. Digital Objects, Digital Subjects: Interdisciplinary Perspectives on Capitalism, Labour and Politics in the Age of Big Data . London: University of Westminster Press. DOI: https: / / doi.org/ 10.16997/ book29 Dieses Buch ist das Ergebnis einer Konferenz, auf der verschiedene Aspekte des Big Data-Kapitalismus diskutiert wurden. Die Konferenzvorträge sowie Reflexionsbeiträge zu jedem Vortrag/ Kapitel werden in diesem Band vorgestellt. <?page no="102"?> 102 3 Big Data im digitalen Kapitalismus Wählen Sie ein Kapitel aus dem Buch und die Antwort auf diesen Text aus. Wenn Sie in einem Seminar mit kleinen Gruppen arbeiten, dann sollte jede Gruppe ein anderes Kapitel und Antwortkapitel auswählen. Diskutieren Sie:  Welche Probleme des Big Data-Kapitalismus und der Rolle der digitalen Technologien und der Daten in der Gesellschaft werden in diesem Kapitel behandelt?  Welchen Ansatz verfolgt das Kapitel und was sind die Merkmale dieses Ansatzes?  Was sind die Hauptpunkte der Antwort auf das Kapitel? Wo stimmen der/ die Verfasser: in des Kapitels und der/ die Verfasser: in in der Antwort überein und wo bestehen Meinungsverschiedenheiten?  In welcher Hinsicht stimmen Sie den in den Beiträgen dargelegten Punkten zu oder nicht zu? Warum bzw. warum nicht? Was ist Ihre eigene Position? <?page no="103"?> II. Plattformen <?page no="105"?> Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien Schlüsselfragen  Welche Ideologien und Mythen umgeben die sozialen Medien?  Was ist mit der politischen Ökonomie der sozialen Medien gemeint und wie funktioniert sie?  Was ist digitale Arbeit und welche Rolle spielt sie in der politischen Ökonomie der sozialen Medien? Schlüsselkonzepte  Politische Ökonomie der sozialen Medien  Digitale Arbeit  Ideologien der sozialen Medien  Kulturindustrie  Digitale Kulturindustrie  Kapitalistische Kolonialisierung der sozialen Medien  Prosumtion  Prosument  Publikumsware  Internet-Daten und Aufmerksamkeitsware  Personalisierte Werbung  Prosumenten-Überwachung  Panoptische Sortierung  Internationale Teilung der digitalen Arbeit 4.1 Überblick Die Kritik der politischen Ökonomie analysiert die strukturellen Merkmale des Kapitalismus, wie etwa die Ursachen von Krisen. Ideologiekritik analysiert die Behauptungen, die über die Realität aufgestellt werden, und wie wahr sie sind. Wenn man die Macht verstehen will, dann muss man sowohl die Ideologie als auch die politische Ökonomie analysieren. Für eine kritische Analyse der sozialen Medien bedeutet dies, dass wir sowohl ideologische Aspekte als auch die politische Ökonomie in den Blick nehmen müssen. Streng genommen sind kritische politische Ökonomie und Ideologie nicht zwei getrennte Bereiche der Analyse, sondern miteinander verbunden. In seinem Hauptwerk Das Kapital beginnt Karl Marx die Analyse mit der Ware. Er argumentiert, dass die Ware die Zell- und Elementarform des Kapitalismus ist: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als <?page no="106"?> 106 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien seine Elementarform“ (Marx 1867, 125). Im gleichen Kapitel argumentiert er, dass Warenstrukturen dazu neigen, als natürlich dargestellt und aufgefasst zu werden, sodass sie als natürliche Teile der Gesellschaft erscheinen und nicht als Konstrukte, die der Legitimierung von Machtstrukturen dienen. Ideologien, die durch die Medien verbreitet werden, sind eine spezifische Form des Fetischismus. Die Analysen der Warenform der Medien und der Ideologien in den Medien gehören in einer Analyse, die sich der Kritik der politischen Ökonomie bedient, zusammen (Fuchs 2015a, Kapitel 3). Aufgabe dieses Kapitels ist es, eine Einführung in die kritische Analyse der Machtstrukturen sozialer Medien zu geben. Zu diesem Zweck soll erläutert werden, wie die Mehrwertproduktion und -verwertung auf kapitalistischen Social- Media-Plattformen funktioniert, d.h. es werden Aspekte der Arbeit und der Kapitalakkumulation analysiert. Ich weise auf die Grenzen der Partizipation auf sozialen Medien hin (Abschnitt 4.2), stelle den Marxschen Kreislauf der Kapitalakkumulation vor (4.3), den ich auf soziale Medien anwende (4.4). In Abschnitt 4.5 wird der Begriff der internationalen Teilung der digitalen Arbeit diskutiert. In Abschnitt 4.6 werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Facebook-Arbeit, Sklavenarbeit und Hausarbeit diskutiert. Abschließend folgen einige Schlussfolgerungen (Abschnitt 4.6). 4.2 Die Grenzen der Partizipation auf sozialen Medien Oft hört man Behauptungen, dass soziale Medien partizipatorisch sind und die Macht der Menschen ausweiten. Aber die Macht ist auf sozialen Medien asymmetrisch verteilt. Der amerikanische Cultural Studies-Autor Henry Jenkins argumentiert, dass soziale Medien auch ein Ausdruck der partizipatorischen Kultur sind. Er definiert partizipatorische Kultur als eine Kultur, „in der Fans und andere Konsumenten eingeladen sind, sich aktiv an der Schaffung und Verbreitung neuer Inhalte zu beteiligen“ ( Jenkins 2008, 331). Sie umfasst auch „Teilnehmer: innen, die miteinander interagieren“ ( Jenkins 2008, 3). Jenkins, Ford und Green (2013, 1) argumentieren, dass soziale Medien ein Publikum einbeziehen, das „aktiv“ die „Medienströme“ (2) gestaltet, sodass die Kultur „viel partizipativer“ (1) wird. Allerdings ist die Macht in den sozialen Medien asymmetrisch verteilt, eine Tatsache, die von Jenkins und seinen Kolleg: innen eher ignoriert wird. In Kapitel 3 der ersten und zweiten englischen Auflage des Buches Social Media: A Critical Introduction sowie in der ersten deutschen Auflage ( Soziale Medien und Kritische Theorie ) wird die Kritik am partizipatorischen (sozialen, digitalen) Medienansatz von Henry Jenkins ausführlicher dargestellt (Fuchs 2014c, Kapitel 3; Fuchs 2017d, Kapitel 3; Fuchs 2018e, Kapitel 3). Die Grenzen von YouTube Man sollte die politische Ökonomie von Social-Media-Plattformen analysieren, bevor man über ihren partizipatorischen Charakter urteilt. Wenn es z.B. Asymmetrien in Bezug auf die Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit gibt, dann ist es fraglich, ob kapitalistische soziale Medien wirklich partizipativ sind. Es reicht daher nicht aus, die ermöglichenden und begrenzenden Potenziale des Internets hervorzuheben, sondern man muss vielmehr die tatsächliche Verteilung von Vor- und Nachteilen analysieren. Es ist auch wichtig, die negativen Aspekte der sozialen Medien zu erforschen, um den unkritischen Internet-Optimismus zu mildern, der eine ideologische Manifestation <?page no="107"?> 4.2 Die Grenzen der Partizipation auf sozialen Medien 107 der Suche nach neuen Kapitalakkumulationsmodellen ist, die die Arbeit der Nutzer: innen ausbeuten wollen, um die Profitrate in der digitalen Medienindustrie zu erhöhen. Kritiker: innen haben in diesem Zusammenhang betont, dass der Web 2.0-Optimismus unkritisch und eine Ideologie ist, die den Unternehmensinteressen dient (Fuchs 2011b; van Dijck und Nieborg 2009) oder dass die Nutzer: innen sozialer Medien eher passive Nutzer: innen als aktive Schöpfer: innen sind (van Dijck 2009). Rang Titel Typ Eigentümer Anzahl der Aufrufe 1 Pinkfong Kids’ Songs & Stories - Baby Shark Dance Kindermusik SmartStudy (Samsung Publishing) 12,9 Milliarden 2 Luis Fonsi - Despacito Musik Universal Music (Vivendi) 8,2 Milliarden 3 LooLoo Kids - Johny Johny Yes Papa Kindermusik Mora TV 6,7 Milliarden 4 Cocomelon Nursery Rhymes - Bath Song Kindermusik Moonbug Entertainment (Candle Media) 6,2 Milliarden 5 Ed Sheeran - Shape of You Musik Warner Music 6,0 Milliarden 6 Wiz Khalifa - See You Again Musik Warner Music 5,9 Milliarden 7 ChuChu TV - Phonics Song With Two Words Kindermusik ChuChu TV 5,3 Milliarden 8 Cocomelon Nursery Rhymes - Wheels on the Bus Kindermusik Moonbug Entertainment (Candle Media) 5,2 Milliarden 9 Mark Ronson - Uptown Funk Musik Sony Music 4,9 Milliarden 10 Miroshka TV - Learning Colors: Colorful Eggs on a Farm Kindermusik Miroshka TV 4,9 Milliarden 11 Psy - Gangnam Style Musik YG Entertainment (vertrieben von Universal) 3,4 Milliarden 12 Masha and the Bear - Recipe for Disaster Kinderunterhal tung Animaccord Animation Studio 4,6 Milliarden 13 El Chombo - Dame Tu Cosita Musik Sony Music 4,4 Milliarden 14 Crazy Frog - Axel F Musik Mach 1 Records, Ministry of Sound 3,9 Milliarden 15 Maroon 5 - Sugar Musik Universal Music (Vivendi) 3,9 Milliarden Tabelle 4.1: Die meistgesehenen YouTube-Videos aller Zeiten, Datenquelle: https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_most-viewed_YouTube_videos, abgerufen am 2. Juni 2023 <?page no="108"?> 108 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien Alle der 15 meistgesehenen YouTube-Videos drehen sich um Unterhaltung und Musik (Tabelle 4.1). Die drei großen globalen Musikkonzerne Universal, Warner und Sony spielen dabei eine wichtige Rolle. Auch in den früheren Ausgaben dieses Buches und seines Kapitels über die politische Ökonomie der sozialen Medien habe ich Listen der meistgesehenen YouTube-Videos aufgenommen. Die zweite englische Auflage enthielt eine Liste der meistgesehenen YouTube-Videos bis zum Jahr 2015. Die Urheberrechte an diesen Videos wurden alle von den „großen drei“ Musikkonzernen Universal, Sony und Warner kontrolliert (vgl. Fuchs 2017d, 123). In der dritten englischen Auflage wurde eine Liste mit den zehn meistgesehenen YouTube-Videos bis Oktober 2019 präsentiert (Fuchs 2021b, 75). Unter den Top-10 befanden sich zwei Kindermusikvideos. In der aktuellen, in der vierten Auflage dieses Buches veröffentlichten Liste (siehe Tabelle 4.1) finden sich unter den fünfzehn Videos, die bis Juni 2023 am häufigsten auf YouTube angesehen wurden, sieben Kindervideos, darunter das meistgesehene YouTube-Video aller Zeiten, der „Baby Shark Dance“. Sechs dieser sieben Kindervideos waren Musikvideo. Diese Kindermusikvideos wurden von den Unternehmen Samsung Publishing aus Südkorea, Mora TV aus Rumänien, Candle Media aus den USA, ChuChu TV aus Indien und Miroshka TV aus Russland produziert. In Ländern mit einer starken Tradition der öffentlich-rechtlichen Medien wie dem Vereinigten Königreich und Deutschland spielen die öffentlich-rechtlichen Medien eine wichtige Rolle bei der Unterhaltung von Kindern. Im Vereinigten Königreich betreibt die BBC zwei Fernsehsender für Kinder, CBeebies und CBBC. In Deutschland gibt es den Kinderkanal (KiKA), einen gemeinsam von den beiden öffentlich-rechtlichen Medien ARD und ZDF betriebenen Kanal. Diese Kanäle sind werbefrei. Die vorherrschenden Kinderkanäle auf YouTube werden von privaten, profitorientierten Unternehmen betrieben, die mit Werbung Gewinne erzielen. Um beliebte Kinderlieder und Kindersendungen auf YouTube sehen zu können, müssen sich Kinder auch Werbung ansehen. Gezielte Werbung ist auf YouTube immer präsenter, länger und lästiger geworden. Während sie früher übersprungen werden konnten, ist es heute üblich, dass man sich zwei volle Werbeblöcke ansehen muss, bevor man ein YouTube-Video sehen kann. Oft kann man die Werbung nicht überspringen. Die Bombardierung von Kindern mit Werbung ist ein Versuch, sie zu Warenkonsumenten zu formen und zu erziehen, die die kommerzielle Konsumkultur, die Warenwelt und die kapitalistische Unterhaltungskultur lieben. Auf You- Tube werden Kinder nicht in erster Linie als Menschen, sondern als Konsumenten behandelt. Werbung und Unterhaltungslogik dominieren YouTube. Die Grenzen von Facebook Technologie, Sport, Musik, Unterhaltung und Marken sind auf Facebook sehr beliebt (siehe Tabelle 4.2). Mächtige rechte Politiker wie Narendra Modi und Donald Trump dominieren die Aufmerksamkeit, die den politischen Facebook-Gruppen zuteilwird, während progressive politische und intellektuelle Persönlichkeiten wie Bernie Sanders, Michael Moore, Jeremy Corbyn, Karl Marx, Noam Chomsky, Lula und Alexandria Ocasio-Cortez eine viel geringere Anzahl von Fans haben (Tabelle 4.2). Was die Nachrichtenmedien auf Facebook betrifft, so hatte der staatliche chinesische Fernsehsender CGTN im Jahr 2023 die meisten Follower. Im Vergleich dazu hatte BBC News 60 Millionen, CNN 34 Millionen Follower, New York Times 18 Millionen, Al Jazeera English 14 Millionen, The Guardian 8,5 Millionen und Democracy Now! 1,2 Millionen. CGTN hat viel Geld in Facebook-Werbung investiert, um die Nachrichtenseite mit der größten Anzahl an Followern zu werden (Gilbert 2019). CGTN wird vom chinesischen Staat kontrolliert und berichtet daher nicht über Nachrichten, die Kritik an der chinesischen Regierung enthalten. <?page no="109"?> 4.2 Die Grenzen der Partizipation auf sozialen Medien 109 Rang Facebook-Seite Art der Seite Anzahl der Fans 1 Facebook Internetunternehmen 186 Millionen 2 Cristiano Ronaldo Unterhaltung: Sport 163 Millionen 3 Samsung Multimedia-Unternehmen 162 Millionen 4 Mr. Bean Unterhaltung: Komödie 136 Millionen 5 5-Minute Crafts Entertainment: DIY 126 Millionen 6 Shakira Unterhaltung: Musik 122 Millionen 7 CGTN chinesisches staatliches Nachrichtenmedium 119 Millionen 8 Real Madrid C.F. Unterhaltung: Sport 117 Millionen 9 Will Smith Unterhaltung: Musik, Filme 114 Millionen 10 Lionel Messi Unterhaltung: Sport 114 Millionen Barack Obama ehemaliger US-Präsident 56 Millionen Narendra Modi Rechtsaußen-Politiker 48 Millionen Donald Trump rechts-rechter Politiker und ehemaliger US-Präsident 34 Millionen Joe Biden US-Präsident 11 Millionen Recep Tayyip Erdoğan rechts-rechter Politiker 10 Millionen Bernie Sanders sozialistischer Politiker 5,6 Millionen Luiz Inácio Lula da Silva sozialistischer Präsident von Brasilien 5,6 Millionen Michael Moore Produzent alternativer Medien 2,5 Millionen Jeremy Corbyn sozialistischer Politiker 1,6 Millionen Karl Marx politischer Philosoph, Kommunist 1,4 Millionen Noam Chomsky politischer Intellektueller 1,5 Millionen Alexandria Ocasio-Cortez sozialistische Politikerin 1,8 Millionen Slavoj Žižek politischer Philosoph 0,5 Millionen Tabelle 4.2: Die meistgefolgten Facebook-Seiten Datenquelle: https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_most-followed_Facebook_pages, abgerufen am 2. Juni 2023 <?page no="110"?> 110 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien Die Grenzen von Google Die Top-Suchbegriffe, die 2010 bei Google verwendet wurden, zeigen, dass die 12 am häufigsten verwendeten Suchbegriffe keine politischen Themen enthielten. Stattdessen gab es mehr Interesse an Whitney Houston, Gangnam Style, Hurricane Sandy, iPad 3, Diablo 3, Kate Middleton, Olympics 2012, Amanda Todd, Michael Clarke Duncan, Big Brother Brazil 12 16 . Die am häufigsten gesuchten Google-Schlüsselwörter im Jahr 2014 waren Robin Williams, World Cup, Ebola, Malaysia Airlines, ALS Ice Bucket Challenge, Flappy Bird, Conchita Wurst, ISIS, Frozen, Sochi Olympics. Sieben der zehn am häufigsten verwendeten Suchbegriffe hatten mit Unterhaltung zu tun, zwei mit Katastrophen (Ebola-Virus-Epidemie, Absturz der Malaysia Airlines-Flüge 370 und 17) und nur einer mit Politik (ISIS). Tabelle 4.3 zeigt die fünf meistgesuchten Suchbegriffe auf Google für die Jahre 2018 bis 2023. Von den 25 Suchbegriffen sind 20 auf Unterhaltung und Spektakel ausgerichtet. 13 der 25 Top-Suchbegriffe beziehen sich auf Sport, insbesondere Kricket, Fußball und Basketball. Das meistverwendete Suchwort auf Google im Jahr 2023 war ebenfalls aus dem Bereich der Unterhaltung, nämlich „YouTube“ (siehe Tabelle 4.3). Unterhaltung und Sport sind die Themen, für die sich Internet-Nutzer: innen am meisten interessieren und nach denen sie bei Google suchen. Politik und Gesellschaft sind von deutlich geringerer Bedeutung. Rang Jahr Fokus Schlagwort Typus 1 2018 Global World Cup Unterhaltung (Sport [Fußball]) 2 2018 Global Avicii Unterhaltung (Musik), Tod als Spektakel 3 2018 Global Mac Miller Unterhaltung (Musik) 4 2018 Global Stan Lee Unterhaltung (Comics), Tod als Spektakel 5 2018 Global Black Panther Unterhaltung (Superheldenfilm) 1 2019 Global India vs South Africa Unterhaltung (Sport [Kricket]) 2 2019 Global Cameron Boyce Unterhaltung (Film), Tod als Spektakel 3 2019 Global Copa America Unterhaltung (Sport [Fußball]) 4 2019 Global Bangladesh vs India Unterhaltung (Sport [Kricket]) 5 2019 Global iPhone 11 Technologie 1 2020 Global Coronavirus Gesundheitskrise 2 2020 Global Election results Politik 3 2020 Global Kobe Bryant Unterhaltung (Sport [Basketball]), Tod als Spektakel 4 2020 Global Zoom Technologie 16 http: / / www.google.com/ zeitgeist, abgerufen am 2. Juli 2013. <?page no="111"?> 5 2020 4.2 Die Grenzen der Partizipation auf sozialen Medien 111 Global IPL Unterhaltung (Sport [Kricket]) 1 2021 Global Australia vs India Unterhaltung (Sport [Kricket]) 2 2021 Global India vs England Unterhaltung (Sport [Kricket]) 3 2021 Global IPL Unterhaltung (Sport [Kricket]) 4 2021 Global NBA Unterhaltung (Sport [Basketball]) 5 2021 Global Euro 2021 Unterhaltung (Sport [Fußball]) 1 2022 Global Wordle Unterhaltung (Online-Spiele) 2 2022 Global India vs England Unterhaltung (Sport [Kricket]) 3 2022 Global Ukraine Politik 4 2022 Global Queen Elizabeth Sensationslust (Tod als nationales und internationales Spektakel) 5 2022 Global Ind VS SA Unterhaltung (Sport [Kricket]) 1 2023 Global YouTube Unterhaltung (Videos) Tabelle 4.3: Die am häufigsten verwendeten Schlüsselwörter in Google-Suchen 2018 (USA), 2019-2023 (weltweit) Datenquellen: https: / / trends.google.com/ trends/ yis/ 2018/ GLOBAL, https: / / trends.google.com/ trends/ yis/ 2019/ GLOBAL/ , https: / / trends.google.com/ trends/ yis/ 2020/ GLOBAL/ , https: / / trends.google.com/ trends/ yis/ 2021/ GLOBAL/ , https: / / trends.google.com/ trends/ yis/ 2022/ GLOBAL/ , abgerufen am 2. Juni 2023 https: / / www.similarweb.com/ blog/ marketing/ seo/ top-keywords/ , abgerufen am 25. Januar 2024 Die Grenzen von Twitter Twitter ist eine der beliebtesten Social-Media-Plattformen. Der Blogger Andrew Sullivan (2009) schrieb nach den iranischen Protesten von 2009, dass „die Revolution getwittert werden wird“, was zum Mythos der Twitter-Revolutionen beitrug 17 . Können aussagekräftige politische Debatten mit Kurznachrichten geführt werden? Kurze Texte laden zu vereinfachenden Argumenten ein und sind Ausdruck der Kommerzialisierung, Oberflächlichkeit, Boulevardisierung und Beschleunigung der Kultur. Tabelle 4.4 zeigt die fünfzehn Twitter-Profile mit der höchsten Followerzahl im Jahr 2023. Neun von ihnen befassen sich mit Unterhaltung, vier mit Politik und Regierung und zwei mit der kapitalistischen Wirtschaft. Nachdem Elon Musk im Oktober 2022 Twitter für 44 Milliarden US-Dollar gekauft hatte, wurde sein Twitter-Profil sehr sichtbar, so dass er der meistgefolgte Twitter-Nutzer wurde. Unterhaltung und Kapitalismus dominieren die Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit auf Twitter. Politische Themen und Profile sind präsent, aber nicht dominant. Politik auf Twitter hat einen stratifizierten Charakter. Barack Obama ist die einzige Ausnahme von der Hegemonie der Unterhaltung in den Top Ten der meistgefolgten Twitter-Nutzer: innen. Tabelle 4.4 17 http: / / www.theatlantic.com/ daily-dish/ archive/ 2009/ 06/ the-revolution-will-be-twittered/ 200478/ , abgerufen am 20. August 2011. <?page no="112"?> 112 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien zeigt auch, dass die Politik auf Twitter eine stratifizierte Aufmerksamkeitsökonomie hat: Während liberale und rechte Politiker (liberal: Barack Obama; rechts: Narendra Modi, Donald Trump) eine sehr große Anzahl von Followern haben, ist die Zahl der Follower bei Vertretern linker und sozialistischer Politik, wie Alexandria Ocasio- Cortez, Bernie Sanders, Lula, Michael Moore, Greta Thunberg, Jeremy Corbyn, Democracy Now! , David Harvey, Noam Chomsky und Slavoj Žižek, deutlich geringer. Rang Twitter-Profil Typus Anzahl der Follower 1 Elon Musk @elonmusk Wirtschaft: Kapitalist 142 Millionen 2 Barack Obama @barackobama Politik: liberaler Politiker 133 Millionen 3 Justin Bieber @justinbieber Unterhaltung: Musik 113 Millionen 4 Cristiano Ronaldo @cristiano Unterhaltung: Sport 109 Millionen 5 Rihanna @rihanna Unterhaltung: Musik 108 Millionen 6 Katy Perry @katyperry Unterhaltung: Musik 108 Millionen 7 Taylor Swift @taylorswift13 Unterhaltung: Musik 93 Millionen 8 Narendra Modi @narendramodi Politik: Rechter Politiker 89 Millionen 9 Donald Trump @RealDonaldTrump Politik: Rechter Politiker 87 Millionen 10 Ariana Grande @ArianaGrande Unterhaltung: Musik 85 Millionen 11 Lady Gaga @ladygaga Unterhaltung: Musik 84 Millionen 12 YouTube @YouTube Wirtschaft: kapitalistische Internet-Plattform 79 Millionen 13 The Ellen DeGeneres Show @TheEllenShow Unterhaltung: Comedy- Talkshow 76 Millionen 14 Kim Kardashian @KimKardashian Unterhaltung: Medienpersönlichkeit 75 Millionen 15 NASA @NASA Regierung: Raumfahrtbehörde 74 Millionen Alexandria Ocasio-Cortez @AOC linke Politikerin 13,4 Millionen Bernie Sanders @BernieSanders linker Politiker 15,4 Millionen Luiz Inácio Lula da Silva @LulaOficial linker Politiker 7,9 Millionen Michael Moore @MMFlint linker Filmemacher 5,8 Millionen Greta Thunberg @GretaThunberg Klima-Aktivistin 5,7 Millionen <?page no="113"?> 4.2 Die Grenzen der Partizipation auf sozialen Medien 113 Jeremy Corbyn @jeremycorbyn linker Politiker 2,5 Millionen Democracy Now! @democracynow progressives Nachrichtenmedium 0,8 Millionen David Harvey @profdavidharvey marxistischer Theoretiker 0,2 Millionen Noam Chomsky @ChomskyDotInfo kritischer Intellektueller 0.05 million Slavoj Žižek @Slavojiek kritischer Intellektueller 0.1 million Tabelle 4.4: Twitter-Nutzerprofile mit der höchsten Anzahl von Followern Datenquelle: https: / / socialblade.com/ twitter/ top/ 50/ followers, abgerufen am 2. Juni 2023. Die Grenzen von Instagram Instagram ist die weltweit beliebteste Website für das Teilen von Fotos. Kevin Systrom und Mike Krieger gründeten die Plattform im Jahr 2010. Im Jahr 2012 erwarb Facebook Instagram für 1 Milliarde US-Dollar. Ende 2019 war Instagram die 30. meistbesuchte Web-Plattform der Welt. Im April 2023 war Instagram die fünft-meistbesuchte Website der Welt18. Tabelle 4.5 zeigt eine Übersicht über die am häufigsten gefolgten Profile auf Instagram. Rang Instagram-Profil Typus Anzahl der Follower 1 Instagram @instagram Internet-Plattform / Unternehmen 640 Millionen 2 Cristiano Ronaldo @cristiano Unterhaltung: Sport 587 Millionen 3 Lionel Messi @leomessi Unterhaltung: Sport 466 Millionen 4 Selena Gomez @selenagomez Unterhaltung: Musik, Film 419 Millionen 5 Kylie Jenner @kyliejenner Unterhaltung: Prominente 392 Millionen 6 Dwayne Johnson @therock Unterhaltung: Sport 382 Millionen 7 Ariana Grande @arianagrande Unterhaltung: Musik, Film 372 Millionen 8 Kim Kardashian @kimkardashian Unterhaltung: Prominente 358 Millionen 9 Beyoncé @beyonce Unterhaltung: Musik 310 Millionen 10 Khloé Kardashian @khloekardashian Unterhaltung: Prominente 307 Millionen Greta Thunberg @GretaThunberg Klima-Aktivistin 14,7 Millionen Luiz Inácio Lula da Silva, @LulaOficial linker Politiker 12,9 Millionen 18 Datenquelle: https: / / www.similarweb.com/ top-websites/ , abgerufen am 2. Juni 2023. <?page no="114"?> 114 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien Alexandria Ocasio-Cortez @AOC linke Politikerin 8,6 Millionen Bernie Sanders @BernieSanders linker Politiker 6,6 Millionen Michael Moore @michaelfmoore linker Filmemacher 0,9 Millionen Democracy Now! @democracynow progressives Nachrichtenmedium 0,4 Millionen Tabelle 4.5: Instagram-Profile mit der höchsten Follower-Anzahl, Datenquelle: https: / / socialblade.com/ twitter/ top/ 50/ followers, abgerufen am 2. Juni 2023 Die zehn meistgefolgten Instagram-Konten sind alle auf Unterhaltung ausgerichtet. Eines davon ist eine kommerzielle Internet-Plattform (Instagram), neun davon werden von einzelnen Unterhaltern betrieben. Politik ist auf Instagram präsent, hat aber im Vergleich zur Unterhaltung einen Minderheitenstatus. Es ist einfacher, mit Bildern zu unterhalten als kritisches Denken zu fördern, weil das Bild Teil einer ephemeren Medienkultur ist, die oberflächliches Engagement und einen schnellen Informationsfluss fördert. Kritik hingegen erfordert Zeit für Engagement und Diskussion, die herkömmliche soziale Medien nicht bieten. Die Grenzen von TikTok TikTok ist eine Kurzvideoplattform, die von dem chinesischen kapitalistischen Unternehmen ByteDance betrieben wird. TikTok ist vor allem bei jungen Menschen sehr beliebt. Tabelle 4.6 zeigt die TikTok-Profile mit der höchsten Anzahl an Followern. Im Jahr 2023 waren die zehn TikTok-Konten mit den meisten Followern alle auf Unterhaltung ausgerichtet, darunter Profile, die sich auf Tanzen, Lippensynchronisation, Comedy, Musik, Sport, Kochen und Magie konzentrieren. Will Smith und The Rock sind die beiden Top-TikToker, die in der traditionellen Unterhaltungsbranche außerhalb von TikTok zu Berühmtheiten wurden. Die anderen acht sind TikTok- und Online-Berühmtheiten, die über soziale Medien berühmt und einflussreich wurden. Rang TikTok-Profil Typus Anzahl der Follower 1 Khabane lame @khaby.lame Unterhaltung: Komödie 160 Millionen 2 Charli D’Amelio @charlidamelio Unterhaltung: Tanzen 151 Millionen 3 Bella Poarch @bellapoarch Unterhaltung: Lippensynchronisation 93 Millionen 4 Addison Rae @addisonre Unterhaltung: Tanzen 89 Millionen 5 MrBeast @mrbeast Unterhaltung: Verschiedenes 83 Millionen 6 Zach King @zachking Unterhaltung: Magie 77 Millionen 7 Kimberly Loaiza @kimberly.loaiza Unterhaltung: Tanzen 75 Millionen <?page no="115"?> 8 4.2 Die Grenzen der Partizipation auf sozialen Medien 115 Will Smith @willsmith Unterhaltung: Musik, Filme 73 Millionen 9 Burak Özdemir @cznburak Unterhaltung: Kochen, Verschiedenes 71 Millionen 10 The Rock @therock Unterhaltung: Sport [Wrestling] 71 Millionen Luiz Inácio Lula da Silva, @lulaoficial Linker Politiker 4,3 Millionen Alexandria Ocasio-Cortez @aocinthehouse Linker Politikerin 0,6 Millionen Bernie Sanders @bernie Linker Politiker 1,4 Millionen Democracy Now! @dem_now Progressives Nachrichtenmedium 0,03 Millionen CNN @cnn Nachrichten 1,8 Millionen BBC News @bbcnews Nachrichten 1,5 Millionen New York Times @nytimes Nachrichten 0,16 Millionen The Guardian @guardian Nachrichten 0,18 Millionen Al Jazeera @aljazeeraontiktok Nachrichten 0,16 Millionen Tabelle 4.6: TikTok-Nutzerprofile mit der höchsten Anzahl an Followern, Datenquelle: https: / / socialblade.com/ tiktok/ , abgerufen am 2. Juni 2023 Im Jahr 2023 betrug die durchschnittliche Länge von TikTok-Videos, die von Konten gepostet wurden, die viele Follower haben und deren Videos viele Aufrufe erhalten, 42 Sekunden 19 . Man kann jemanden in 42 Sekunden zum Lachen bringen, aber es ist schwierig, in 42 Sekunden über komplexe politische Ereignisse zu berichten oder politische Argumente zu komplexen gesellschaftlichen Problemen zu präsentieren. Das ist der Grund, warum die Unterhaltung auf TikTok so dominant ist, während Politik, Nachrichten und Bildung es auf dieser Plattform schwer haben. Politiker: innen und Nachrichtenmedien haben in der Regel nur eine vergleichsweise geringe Anzahl von Anhängern auf TikTok. Im Juni 2023 hatte BBC News zum Beispiel 60 Millionen Follower auf Facebook, aber nur 1,5 Millionen auf TikTok. YouTube-Videos können mehrere Stunden lang sein, was auch die Veröffentlichung von Dokumentationen und Debatten ermöglicht. Ein TikTok-Reel hatte dagegen im Jahr 2023 eine maximale Länge von neunzig Sekunden, ein TikTok-Video-Post eine maximale Länge von zehn Minuten. TikTok ist sozusagen die schlimmste, kommerziellste, oberflächlichste, und am meisten beschleunigte Social-Media-Plattform. Sie fördert eine schnelle, oberflächliche Kultur, der es an Zeit und Raum für Engagement, Diskussionen und die Entfaltung komplexer Argumente fehlt. Die Kulturindustrie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno werden von vielen als Begründer und Schlüsselfiguren der sogenannten Frankfurter Schule, einer Denkschule der kritischen Theorie, angesehen. Sie waren in der Frühphase des Instituts für Sozialfor- 19 Datenquelle https: / / www.statista.com/ statistics/ 1372569/ tiktok-video-duration-bynumber-of-views, abgerufen am 2. Juni 2023. <?page no="116"?> 116 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien schung an der Universität Frankfurt einflussreich. Als kritische Intellektuelle mit jüdischem Familienhintergrund mussten sie nach der Machtergreifung Hitlers 1933 aus Deutschland fliehen in die USA und kehrten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurück. Ihr Buch Dialektik der Aufklärung (Horkheimer & Adorno 2002) ist eine klassische Arbeit der kritischen Theorie. Das Kapitel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ ist ein einflussreicher Text in der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Die Kulturindustrie ist eines der Konzepte, das uns bei einer Aktualisierung der kritischen Theorie im 21. Jahrhundert dabei hilft, die Rolle der sozialen Medien im Kapitalismus zu verstehen. Im „Kulturindustrie“-Kapitel analysieren Horkheimer und Adorno (2002) die Kommodifizierung und Industrialisierung der Kultur im Kapitalismus. In diesem Zusammenhang prägten sie den Begriff der Kulturindustrie. In der Kulturindustrie nimmt die Kultur die Warenform an: „Was man den Gebrauchswert in der Rezeption der Kulturgüter nennen könnte, wird durch den Tauschwert ersetzt, an Stelle des Genusses tritt Dabeisein und Bescheidwissen, Prestigegewinn an Stelle der Kennerschaft. Der Konsument wird zur Ideologie der Vergnügungsindustrie, deren Institutionen er nicht entrinnen kann“ (Horkheimer & Adorno 1947/ 1988, 167). Kapitalistische Konzerne sind nicht an Kultur als der Sphäre der Bedeutungsgebung des Lebens und der Gesellschaft im Allgemeinen interessiert, sondern daran, den Menschen über die Kultur etwas zu verkaufen und sie zu beeinflussen. Konzerne reduzieren Menschen auf den Status von Kund: innen, Konsument: innen und Arbeiter: innen. Die Kulturindustrie sieht die Menschen als pure Instrumente an. Instrumentelle Vernunft bedeutet, dass Menschen zu Instrumenten für die Förderung politisch-ökonomischer Interessen gemacht werden. „Die Industrie ist an den Menschen bloß als an ihren Kunden und Angestellten interessiert und hat in der Tat die Menschheit als ganze wie jedes ihrer Elemente auf diese erschöpfende Formel gebracht” (175). Die Kulturindustrie unterwirft die menschliche Bedeutungsgebung der Warenform. Sie beutet Kulturschaffende aus, um Gewinne zu erwirtschaften, macht Kultur zur Ware, fördert die Werbung als ihr „Lebenselixier“ (192), um alle Arten von Waren zu verkaufen, und fördert eine allgemeine Atmosphäre und einen Lebensstil des Konsums, wodurch Waren gefeiert werden, was den Interessen der Unternehmen zugutekommt. Horkheimer and Adorno sagen: „Amüsement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus” (163). „An der Einheit der Produktion soll der Freizeitler sich ausrichten” (149). Im Kapitalismus wird die Arbeit von instrumenteller Logik geprägt. Wir sind gezwungen, zu arbeiten, um zu überleben. Arbeit ist nicht nur ein Instrument zum Überleben, sondern in erster Linie ein Instrument, das den Interessen der Kapitalistenklasse dient, Kapital zu akkumulieren und auf Kosten der Arbeiterklasse reicher zu werden. Die Kulturindustrie ist ein Mittel, um die Logik der instrumentellen Vernunft in Kultur, Alltag und Freizeit zu verbreiten. Freizeit und Alltag sind im Kapitalismus Mittel, die die Interessen der Kapitalistenklasse durchsetzen. Die Warenform und die Logik des Kaufens und Verkaufens dringen in fast jede Nische der menschlichen Existenz ein. Die meisten derer, die wie ich Horkheimer und Adornos Analyse folgen, haben nichts gegen Spaß und Unterhaltung. Unterhaltung, Lachen und Spaß sind zusammen mit Kommunikation, Information, Politik und Bildung Schlüsselaspekte der menschlichen Existenz und Kultur. Das Problem ist, dass die Kultur, wenn sie von der Unterhaltung dominiert wird und oberflächliche, boulevardähnliche Formen annimmt, Zeit und Raum für politische Information, Kommunikation und Engagement verdrängt. Dar- <?page no="117"?> 4.4.2 Die Grenzen der Partizipation auf sozialen Medien 117 über hinaus legitimiert und erzwingt die Warenkultur den Kapitalismus ideologisch, indem sie die Grundannahme, dass Waren ein Gut und die natürliche Form der Organisation menschlichen Lebens sind, verbreitet und unhinterfragt lässt. YouTube, Facebook, Google, Twitter, Instagram und TikTok sind Erscheinungsformen der Kulturindustrie. Sie sind vor allem auf Unterhaltung ausgerichtet, was die Präsenz und Auseinandersetzung mit Politik in der Öffentlichkeit verdrängt. Die kapitalistischen sozialen Medien bilden eine digitale Kulturindustrie, die unterhält und von den Problemen der Gesellschaft ablenkt. Sie sind digitale Boulevardmedien, die die Boulevardisierung der Öffentlichkeit und der Kultur vorantreiben. „Hey, hier geht es nicht um Geld. Es geht um Freundschaft, Fürsorge, Zuneigung, Gemeinschaft.“ Machen wir ein Gedankenexperiment. Sie laden Ihre besten Freunde und Ihre engsten Familienmitglieder zu einem Abendessen ein, um Freundschaft, Familie und Gemeinschaft zu feiern. Sie verbringen viel Zeit in der Küche und kochen ein köstliches Abendessen. Das tun Sie gern, da Sie damit etwas für Ihre Freunde und Ihre Familie tun, die Ihnen so viel bedeuten. Sie sind die wichtigsten Menschen in Ihrem Leben. Einen schönen Abend mit gutem Essen zu verbringen und über das Leben zu plaudern, ist eine Möglichkeit, Gemeinschaft, Freundschaft, Familie und Liebe zu feiern. Stellen Sie sich nun vor, der Abend ist vorbei, und bevor Ihre Freunde nach Hause gehen, sagen sie alle zu Ihnen: „Das war so ein schöner Abend mit leckerem Essen. Ich danke dir vielmals. Hier sind 50 Euro von jedem von uns, um den Preis des Abends zu bezahlen“. Wie würden Sie reagieren? Sie würden sich beleidigt fühlen und vielleicht etwas sagen wie: „Hey, hier geht es nicht um Geld. Es geht um Freundschaft, Fürsorge, Zuneigung, Gemeinschaft. Geld hat damit nichts zu tun. Ich fühle mich wirklich beleidigt, wenn ihr mich dafür bezahlen wollt, dass ich ein Abendessen für euch als meine Freunde koche und diesen Abend ausrichte“. Das Beispiel zeigt, dass die Logik des Geldes nicht eine natürliche Eigenschaft, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis ist. Geld ist gegen die Logik von Liebe, Gemeinschaft und Fürsorge gerichtet. Horkheimer und Adorno betonen, dass die Logik von Geld, Waren und Konzernen eine befremdliche Wirkung auf Kultur und menschliche Beziehungen hat. Sie sagen uns, dass das Leben mehr ist als Waren, Einkaufen, Verkaufen. Ihre Angst ist, dass unser Leben zutiefst beschädigt wird, wenn der Alltag in ein riesiges Einkaufszentrum verwandelt wird. Sie argumentieren für ein Leben außerhalb des Einkaufszentrums und für freie Flächen, die frei von Werbung und Waren sind. Die digitale Kulturindustrie Konzerne und die Logik von Werbung und Waren dominieren die Kultur des Internets, der sozialen Medien und der Apps. Große transnationale Konzerne kontrollieren das Internet und die sozialen Medien, um Profite zu akkumulieren. Die digitale Kulturindustrie ist die Totalität der sozialen Sphären der digital vermittelten Information, Kommunikation und Gemeinschaft, die auf der Warenlogik basieren. Im digitalen Kapitalismus dominiert die Warenform als eine Vielzahl von digitalen Waren den Alltag in der digitalen Kultur. Es gibt nicht nur eine, sondern viele Modelle der Kapitalakkumulation in der digitalen Kulturindustrie. Das bedeutet, dass Unternehmen im Internet, auf sozialen Medien, Apps usw. eine Vielzahl von Modellen entwickelt haben, die Kultur zur Ware zu machen und damit Profit zu erzielen. Tabelle 4.7 gibt einen Überblick über eine Reihe von Kapitalakkumulationsmodellen in der digitalen Kulturindustrie. <?page no="118"?> 118 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien Modell Beispielunternehmen bzw. Plattform Ware Digitale Inhalte als Waren Microsoft, Adobe, Electronic Arts Digitaler Inhalte/ Code Digitales Finanzkapital PayPal, Coinbase Digitale Finanzdienstleistungen Hardware-Modell Apple, HP, Dell Computerhardware Netzwerk-Modell AT&T, Verizon, BT Zugang zu digitalen Netzwerken Modell der Online-Werbung Google, Facebook, YouTube, TikTok, Instagram Personalisierte Werbung Modell des Online-Handels Amazon, Alibaba, eBay Verschiedene Waren (Güter und Dienste), die online bestellt werden Modell der Sharing Economy mit Bezahlung pro Dienstleistung (Pay per Service) Uber, Upwork, Deliveroo Dienstleistungen, die mit der Hilfe von Online-Plattformen organisiert werden Modell der Sharing Economy mit einer Rente auf Rente Airbnb, Hiyacar, Drivy Miete von Gütern mit der Hilfe von Online-Plattformen Modell der digitalen Abos Netflix, Spotify, Amazon Prime, Disney Plus, Apple Music Zugang zu einer Bibliothek mit digitalen Ressourcen Gemischte Modelle Spotify, Online-Zeitungen, Apple Kombination verschiedener Modelle Tabelle 4.7: Kapitalakkumulationsmodelle in der digitalen Kulturindustrie Die kapitalistische Kolonialisierung der sozialen Medien Das Internet hat einen überwiegend kapitalistischen Charakter. Soziale Medien sind nicht ausschließlich ein Ausdruck der kommerziellen Kultur. Unternehmen, Werbung, Stars, kommerzielle Unterhaltung und Konsumkultur haben gemeinsam, dass sie Waren verkaufen wollen, um Profite zu erzielen. Sie spielen eine sehr wichtige Rolle auf sozialen Medien. Soziale Medien stellen in einer kapitalistischen Welt nicht automatisch eine Öffentlichkeit oder einen partizipatorischen demokratischen Raum dar. Die vorherrschende Tendenz ist, dass Unternehmen und kapitalistische Logik soziale Medien kolonialisieren. Multimediakonzerne, Prominente und Werbung, die Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit dominieren, sind die zentrale Phänomene auf kapitalistischen sozialen Medien. Politik ist ein Minderheitsthema in den sozialen Medien. Der kritische Theoretiker Georg Lukács argumentiert, dass Ideologie „etwas objektiv an dem Wesen der gesellschaftlichen Entwicklung Vorbeigehendes, sie nicht adäquat Treffendes und Ausdrückendes” (Lukács 1923, 62) ist. Eine Ideologie ist eine Behauptung über einen bestimmten Status der Welt, die nicht der tatsächlichen Realität entspricht. Sie versucht, menschliche Subjekte zu täuschen, um gesellschaftliche Veränderungen zu verhindern. Sie ist falsches Bewusstsein (Lukács 1971, 83). Werbung und Kommerzkultur als Ideologie, die den Menschen ein besseres Leben durch den Warenkonsum verspricht, dominieren die Welt der sozialen Medien. <?page no="119"?> 4.2 Die Grenzen der Partizipation auf sozialen Medien 119 Jürgen Habermas’ (1990, 267-292) Hauptsorge über die Werbung ist, dass sie das Potenzial hat, die Öffentlichkeit zu entpolitisieren. Dies ist zum einen auf partikularistische Interessen zurückzuführen: „Die Öffentlichkeit übernimmt Funktionen der Werbung. Je mehr sie als Medium politischer und ökonomischer Beeinflussung eingesetzt werden kann, um so unpolitischer wird sie im Ganzen und dem Schein nach privatisiert” (267). Auf der anderen Seite sagt Habermas, dass der Einfluss der wirtschaftlichen Logik auf die Medien zu einer Boulevardisierung der Medien führt: „Die Personalisierung von Sachfragen, die Vermischung von Information und Unterhaltung, eine episodische Aufbereitung und die Fragmentierung von Zusammenhängen schießen zu einem Syndrom zusammen, das die Entpolitisierung der öffentlichen Kommunikation fördert” (456). Je mehr Werbung und Warenlogik die Social-Media-Kommunikation prägen, desto weniger Raum gibt es für eine nichtkommerziell orientierte Kommunikation, die nicht die Logik von Marken, Unternehmen und Warenkonsum, sondern die der Öffentlichkeit und des Gemeinwohls in den Vordergrund stellt. Soziale Medien sind nicht von Natur aus ein Ausdruck der neoliberalen Kultur. Es gibt viele verschiedene Plattformen, die auf unterschiedliche Weise gestaltet sind. Facebook, Instagram, YouTube, TikTok und Twitter sind um individuelle Profile herum aufgebaut und basieren auf der Akkumulation von Reputation durch Vorlieben, Favoriten, Re-Tweets, etc. sowie der Akkumulation von Followern und Freunden. Sie stellen die Logik der Darstellung des individuellen Selbst in den Vordergrund, nicht die Bildung kollektiver Identitäten. Die dominanten sozialen Medien und ihre individualistische Logik könnten durchaus von „Ich-Medien“ zu „Wir-Medien“, von Individualismus zu Solidarität, von Facebook, MySpace und YouTube zu OurBook, OurSpace und OurTube umgewandelt werden. Wikipedia, zum Beispiel, basiert auf einer viel kollektiveren Logik. Der Aufstieg der individualistisch gestalteten sozialen Medien fand nicht zufällig in einer Zeit der Erosion öffentlicher Dienste, öffentlicher Räume und öffentlich-rechtlicher Medien statt. Gleichzeitig haben Bewegungen, die die Logik der Commons und der Öffentlichkeit in den Vordergrund stellen wollen, diese Entwicklungen in Frage gestellt. Obwohl es eine gewisse Bedeutung von kleinen Öffentlichkeiten der Kommunikation gibt, die soziale Beziehungen in spezialisierten Interessengruppen fördern, gibt es eindeutig auch einen Bedarf an großen Öffentlichkeiten, die eine große Menge von Menschen in der Gesellschaft erreichen können. Soziale Medien sind konvergente Medien, die größere Öffentlichkeiten vernetzen können. Wenn wir alle nur in Mikroöffentlichkeiten leben würden, dann wäre die öffentliche Kommunikation völlig zersplittert, und es würde schwierig werden, das öffentliche Leben zu organisieren. Auch im Zeitalter der sozialen Medien besteht ein Bedarf an großen mediatisierten Öffentlichkeiten. Sicherlich könnten die öffentlich-rechtlichen Medien die Idee der nutzergenerierten Inhalte ernster nehmen, als sie es derzeit tun, um die Bürger: innen stärker in die Produktion von Inhalten einzubinden. Ich will damit sagen, dass Mikroöffentlichkeiten im Internet allein nicht ausreichen und drohen, die Öffentlichkeit zu fragmentieren. Das Internet und die sozialen Medien sind heute in erheblichem Maße stratifizierte, nicht-partizipatorische Räume, und es bedarf eines alternativen, nichtkapitalistischen Internets (vgl. Fuchs 2011b, Kapitel 7, 8 und 9). Große Konzerne kolonisieren soziale Medien und dominieren deren Aufmerksamkeitsökonomie. Auch wenn Twitter und Mobiltelefone die politischen Rebellionen, Proteste und Revolutionen in Ländern wie Algerien, Bahrain, Ägypten, Iran, Jordanien, Libyen, Marokko, Tunesien und dem Jemen im Jahr 2011 unterstützten und die Veröffentlichung von Videos über die Auswirkungen der Herrschaft (wie das Video über den Tod von Neda Soltani bei den iranischen Protesten 2009 oder das Video über den Tod von Ian Tomlinson bei den Lon- <?page no="120"?> 120 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien doner Anti-G20-Protesten 2009) die Kommunikation von Protest unterstützen kann, sollte man diese Potenziale nicht überschätzen. Es gibt keine Twitter-, Facebook- oder YouTube-Revolutionen. Nur Menschen, die unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen leben und sich kollektiv organisieren, können Rebellionen und Revolutionen durchführen. Technologie an sich ist keine Revolution. Auf den kapitalistischen sozialen Medien ist die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt: Große Unternehmen und in geringerem Maße auch politische Akteure dominieren und zentralisieren daher die Rede-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Meinungsbildung auf sozialen Medien. Die liberalen Freiheiten schlagen auf den kapitalistischen sozialen Medien in ihr Gegenteil um. Angesichts der Bedeutung des Kapitalismus auf sozialen Medien erscheint es sowohl notwendig als auch machbar, das „Web 2.0“ nicht als ein partizipatorisches System zu theoretisieren, sondern durch die Verwendung negativerer, kritischer Begriffe wie Klasse, Ausbeutung und Mehrwert. Dies erfordert, dass wir die Analyse der sozialen Medien in den Werken der Gründungsfigur der Kritik der politischen Ökonomie - Karl Marx - verankern. 4.3 Der Zyklus der Kapitalakkumulation Karl Marx’ Hauptwerk Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie wurde im neunzehnten Jahrhundert geschrieben. Aber Marx war ein sehr visionärer Denker, der über die Auswirkungen der neuen Medien seiner Zeit (wie z.B. des Telegrafen) auf Wirtschaft und Gesellschaft nachdachte. Er war ein praktizierender kritischer Journalist. Er analysierte die Dialektik der modernen Technologie und nahm das Entstehen der Wissensarbeit und dessen, was einige heute als Informationsgesellschaft bezeichnen, vorweg. Deshalb kann uns die Lektüre und Interpretation von Marx' Kapital und anderer Werke von Marx aus medien- und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive im Informationszeitalter wichtige kritische Erkenntnisse über den digitalen Kapitalismus und den Informationskapitalismus liefern. Abbildung 4.1: Der Prozess der Kapitalakkumulation <?page no="121"?> 4.3 Der Zyklus der Kapitalakkumulation 121 Eine Erklärung der Symbole in Abbildung 4.1: G Geld W Waren Ak Arbeitskraft Pm Produktionsmittel P Produktion W‘ eine neue Ware G‘ mehr Geld c cir zirkulierendes konstantes Kapital c fix fixes konstantes Kapital v variables Kapital In den drei Bänden von Das Kapital (Marx 1867, 1885, 1894) analysiert Marx den Akkumulationsprozess des Kapitals. Dieser Prozess, wie er von Marx beschrieben wird, ist in Abbildung 4.1 visualisiert. Die Kapitalakkumulation ist ein dynamischer Prozess. Marx beschreibt sie als einen Kreislauf, in dem Geld, das Unternehmen investiert haben, in mehr Geld verwandelt wird. Kapital ist Geld, das sich vermehrt. Marx enthüllt, wie dieser Prozess funktioniert. Bei der Kapitalakkumulation kaufen Kapitalist: innen Arbeitskraft und Produktionsmittel (Rohstoffe, Technologien usw.), um die Produktion neuer Waren zu organisieren, die mit der Erwartung verkauft werden, Geld zu verdienen, das teilweise wieder investiert wird. Marx unterscheidet zwei Sphären der Kapitalakkumulation: die Zirkulationssphäre und die Produktionssphäre. In der Zirkulationssphäre transformiert das Kapital seine Wertform. Zunächst wird Geld G in Waren verwandelt (aus der Sicht des Kapitalisten als Käufer): Der Kapitalist kauft die Waren Arbeitskraft Ak und Produktionsmittel Pm. So beginnt der Akkumulationsprozess. Ein Kapitalist braucht Geld, mit dem er operieren kann, um Maschinen zu kaufen, die Arbeitskraft zu bezahlen usw. Banken, die Kredite an Unternehmen vergeben, spielen dabei eine wichtige Rolle. Der Prozess G-W basiert auf den beiden Käufen G-Ak und G-Pm. Dies bedeutet, dass die Arbeiter: innen aufgrund privater Eigentumsstrukturen nicht Eigentümer: innen der Produktionsmittel, der von ihnen hergestellten Produkte und des von ihnen erwirtschafteten Profits sind. Kapitalist: innen besitzen diese Ressourcen. In der Produktionssphäre P wird ein neues Gut produziert: Der Wert der Arbeitskraft und der Wert der Produktionsmittel werden dem Produkt hinzugefügt. Die Wertform der Arbeitskraft ist das variable Kapital v (das als Lohn beobachtet werden kann), die Wertform der Produktionsmittel das konstante Kapital c (das als Gesamtpreis der Produktionsmittel/ Produktionsgüter, einschließlich Maschinen, Geräte, Gebäude, Rohstoffe usw., beobachtet werden kann). In der Produktionssphäre stoppt das Kapital seine Metamorphose, sodass der Kapitalverkehr zum Erliegen kommt. Die Arbeiter: innen produzieren in der Produktionssphäre P eine neue Ware W‘, indem sie die Produktionsmittel benutzen. Sie produzieren auch den neuen Wert V‘ der Ware W‘. V' enthält den Wert des notwendigen konstanten und variablen Kapitals und den Mehrwert Δm des Mehrprodukts (V‘ = c + v + Δs). Unbezahlte Arbeit erzeugt Mehrwert und Profit. Der Mehrwert ist der Teil des Arbeitstages, der unbezahlt ist. Er ist der Teil des Arbeitstages (gemessen in Stunden), der für die Erzielung von Profit verwendet wird. Der Profit gehört nicht den Arbeiter: innen, sondern den Kapitalist: innen. Kapitalist: innen zahlen nicht für die Produk- <?page no="122"?> 122 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien tion von Mehrwert. Deshalb ist die Produktion von Mehrwert ein Prozess der Ausbeutung. Der Wert V‘ der neuen Ware nach der Produktion ist V' = c + v + m. Nachdem die Arbeiter: innen die Ware oder eine größere Anzahl von Waren produziert haben, müssen diese Güter verkauft werden, damit Profit erzielt wird. Die Ware verlässt dann die Produktionssphäre und gelangt wieder in die Zirkulationssphäre, wo das Kapital seine nächste Metamorphose vollzieht: Es wird aus der Warenform wieder in die Geldform umgewandelt, wenn die Ware auf dem Markt verkauft wird. Der Mehrwert wird in Geldform realisiert. Ein monetärer Gewinn entsteht, wenn die Ware zu einem Preis verkauft wird, der über ihren Produktionskosten liegt. Das anfängliche Geldkapital G nimmt nun die Form G' = G + ΔG an; es ist um einen ΔG erhöht worden. Kapitalakkumulation bedeutet, dass der produzierte Mehrwert/ Profit (teilweise) reinvestiert/ kapitalisiert wird. Der Endpunkt eines Prozesses G' wird zum Ausgangspunkt eines neuen Akkumulationsprozesses. Ein Teil von G‘, G1, wird reinvestiert. Akkumulation bedeutet die Aggregation von Kapital durch Investition und die Ausbeutung der Arbeit im Kapitalkreislauf G-W .. P.. W’-G', bei dem das Endprodukt G' zu einem neuen Ausgangspunkt G wird. Der Gesamtprozess macht den dynamischen Charakter des Kapitals aus. Kapital ist Geld, das durch die Ausbeutung wertschöpfender Arbeit ständig zunimmt. Waren werden zu Preisen verkauft, die höher sind als die Investitionskosten, sodass Geldprofit erwirtschaftet wird. Marx argumentiert, dass eine entscheidende Eigenschaft der Kapitalakkumulation darin besteht, dass der Profit eine emergente Eigenschaft der Produktion ist, die von der Arbeit produziert wird, aber den Kapitalisten gehört. Ohne Arbeit könnte kein Profit gemacht werden. Die Arbeiter: innen sind gezwungen, in Klassenverhältnisse einzutreten und Profit zu produzieren, um zu überleben, was dem Kapital die Aneignung von Mehrwert ermöglicht. Der Begriff des Mehrwerts ist das Hauptkonzept der Theorie von Marx, mit dem er zeigen will, dass der Kapitalismus eine Klassengesellschaft ist. „Die Theorie des Mehrwerts ist infolgedessen unmittelbar die Theorie der Ausbeutung“ (Negri 1991, 74). Man kann hinzufügen: Die Theorie des Mehrwerts ist die Klassentheorie und infolgedessen die politische Forderung nach einer klassenlosen Gesellschaft. Kapital ist nicht Geld an sich, sondern Geld, das durch Akkumulation vermehrt wird - „geldheckendes Geld” (Marx 1867, 170). Marx argumentiert, dass der Wert der Arbeitskraft die durchschnittliche Zeit ist, die für die Produktion von überlebensnotwendigen Gütern benötigt wird (notwendige Arbeitszeit). Die Löhne stellen den Wert der notwendigen Arbeitszeit auf der Ebene der Preise dar. Mehrarbeitszeit ist Arbeitszeit, die die notwendige Arbeitszeit überschreitet, unbezahlt bleibt, von den Kapitalisten unentgeltlich angeeignet und in monetären Profit umgewandelt wird. Mehrwert „ist seiner Substanz nach Materiatur unbezahlter Arbeitszeit. Das Geheimnis von der Selbstverwertung des Kapitals löst sich auf in seine Verfügung über ein bestimmtes Quantum unbezahlter fremder Arbeit“ (Marx 1867, 556). Die Produktion des Mehrwerts ist die „differentia specifica der kapitalistischen Produktion” (Marx 1867, 647) und „das treibende Interesse und das schliessliche Resultat des kapitalistischen Produktionsprozesses” (Marx 1864b, 5). Im nächsten Abschnitt werden wir erörtern, wie der Marxsche Zyklus der Kapitalakkumulation uns hilft, das Kapitalakkumulationsmodell der werbefinanzierten Social Media-Plattformen besser zu verstehen. <?page no="123"?> 4.4 Kapitalakkumulation und soziale Medien 123 4.4 Kapitalakkumulation und soziale Medien Dallas Smythe und die Publikumsware im Zeitalter der sozialen Medien 1977 veröffentlichte Dallas Smythe seinen bahnbrechenden Artikel Communications: Blindspot of Western Marxism (Smythe 1977), in dem er argumentierte, dass der westliche Marxismus der komplexen Rolle der Kommunikation im Kapitalismus nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt habe. Auf die Veröffentlichung des Artikels folgte eine wichtige Grundsatzdebatte der Medienökonomie, die bekannt wurde als die Debatte des blinden Flecks (Blindspot-Debate) (Livant 1979; Murdock 1978). Smythe antwortete auf Murdock (Smythe 1994, 292-299). Es folgte ein weiterer Artikel von Smythe zum selben Thema ( On the Audience Commodity and its Work : Smythe 1981/ 2006, 22-51). Im Zeitalter der personalisierten Online-Werbung und des digitalen Kapitalismus haben Smythes Werke neue Bedeutung erlangt (Fuchs 2012a; McGuigan and Manzerolle 2014). Smythe (1977, 1981/ 2006) argumentiert, dass Medienunternehmen im Falle von Werbung als Profitmodell das Publikum als Ware an Werbetreibende verkaufen: „Die materielle Realität im Monopolkapitalismus besteht darin, dass die gesamte Nicht- Schlafzeit des größten Teils der Bevölkerung Arbeitszeit ist. [...] Von der Arbeitszeit außerhalb des Jobs ist der größte einzelne Block die Zeit des Publikums, die an Werbetreibende verkauft wird. [...] In ‚ihrer‘ Zeit, die an Werbetreibende verkauft wird, erfüllen Arbeitnehmer (a) wesentliche Marketingfunktionen für die Hersteller von Konsumgütern und (b) arbeiten an der Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft“ (Smythe 1977, 3). „Da Publikumsmacht produziert, verkauft, gekauft und konsumiert wird, hat sie einen Preis und ist eine Ware. [...] Ihr Zuschauer steuert eure unbezahlte Arbeitszeit bei und erhaltet im Gegenzug das Programmmaterial und die explizite Werbung“ (Smythe 1981/ 2006, 233, 238). Mit dem Aufkommen von nutzergenerierten Inhalten, frei zugänglichen Social-Networking-Plattformen und anderen frei zugänglichen Plattformen, die durch Online- Werbung Profit machen - eine Entwicklung, die unter Kategorien wie Web 2.0, Social Software und Social-Networking-Sites subsumiert wird - scheint das WWW den Akkumulationsstrategien des Kapitals in traditionellen Massenmedien wie Fernsehen oder Radio nahe zu kommen. Benutzer: innen, die Fotos und Bilder hochladen, an der Wand posten und Kommentare schreiben, E-Mails an ihre Kontakte schicken, Freunde akkumulieren oder andere Profile auf Facebook durchsuchen, stellen eine eigentümliche Warenform, die Publikumsware, dar, die an Werbetreibende verkauft wird. Der Unterschied zwischen der Publikumsware in den traditionellen Massenmedien und im Internet besteht darin, dass im letzteren Fall die Benutzer auch Produzent: innen von Inhalten sind, es nutzergenerierte Inhalte gibt, die Benutzer: innen eine permanente kreative Aktivität, Kommunikation, Gemeinschaftsbildung und Inhaltsproduktion betreiben. Die Tatsache, dass die Nutzer: innen im Internet aktiver sind als beim Empfang von Fernseh- oder Radioinhalten, ist auf die dezentrale Struktur des Internets zurückzuführen, die eine Many-to-Many-Kommunikation ermöglicht. Aufgrund der permanenten Aktivitäten der Rezipient: innen und ihres Status als Prosument: innen kann man sagen, dass im Falle von kapitalistischen sozialen Medien die Publikumsware eine Internet-Prosumenten-Datenware ist (Fuchs 2010c). <?page no="124"?> 124 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien Dallas Smythe (1977) argumentierte, dass das Publikum im kommerziellen Rundfunk Arbeit verrichtet, die eine Publikumsware schafft. Bei kapitalistischen sozialen Medien kann man von einer Prosumer-Datenware im Internet sprechen, die durch digitale Arbeit erzeugt wird (Fuchs 2014a, Kapitel 4 und 11). Diese unterscheidet sich qualitativ in einer Reihe von Aspekten von der Publikumsware:  Kreativität, Prosumtion, soziale Beziehungen: Das Publikum produziert Bedeutungen, die sie Inhalten zuschreiben. Nutzer: innen sozialer Medien produzieren auch Daten, Inhalte und soziale Beziehungen.  Überwachung der Nutzer: innen: Publikumsstudien basieren im Rundfunk- und Printbereich traditionell auf Studien mit kleinen Stichproben des Publikums. Die Analysen des Nutzerverhaltens auf kapitalistischen sozialen Medien findet ständig statt und ist total und algorithmisch. Die Kommodifizierung des Publikums auf sozialen Medien basiert auf der ständigen Echtzeit-Überwachung einer Vielzahl von Aktivitäten aller Nutzer: innen.  Personalisierung: Werbung ist auf sozialen Medien zielgerichtet und personalisiert.  Prädiktive Algorithmen: Die Nutzungsanalyse verwendet prädiktive Algorithmen (wenn Ihnen A gefällt, mögen Sie vielleicht auch B, weil 100 000 Menschen, die A mögen, auch B mögen).  Algorithmische Auktionen: Die Preise der personalisierten Werbung werden oft auf der Grundlage algorithmischer Auktionen festgelegt (Pay-per-View, Pay-per-Click) Die globale politische Ökonomie der Werbung Personalisierte Werbung ist das dominierende Kapitalakkumulationsmodell der Social-Media-Plattformen. In den 1980er Jahren war die Zeitungswerbung die dominierende Werbeform. Auf sie entfielen weit über vierzig Prozent der weltweiten Werbeausgaben. In den 1990er Jahren ging der Anteil der Zeitungswerbung an den gesamten Werbeeinnahmen kontinuierlich zurück, während der Anteil der Fernsehwerbung zunahm. Im Jahr 2001 übertraf der Anteil der Fernsehwerbung den der Zeitungen. Fernsehwerbung wurde zur dominierenden Werbeform. Mit der Entstehung des WWW und seiner Kommerzialisierung in den 1990er Jahren entstand ein neues Werbemedium. Seit Ende der 1990er Jahre stieg der Anteil der digitalen Werbung an den weltweiten Werbeeinnahmen kontinuierlich an. Besonders nach dem Beginn der neuen Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 beschleunigte sich das Wachstum der digitalen Werbung. Die Expansion der digitalen Werbung ging vor allem zu Lasten der Zeitungs- und Zeitschriftenwerbung. In der Situation der Wirtschaftskrise waren die Inserenten wohl der Meinung, dass personalisierte Internetwerbung eine sicherere Investition ist als die Zeitungswerbung. Im Jahr 2009 gingen die weltweiten Werbeeinnahmen von 477 Milliarden US-Dollar auf 416 Milliarden US-Dollar zurück (Quelle aller Daten zur Werbung: World Advertising Research Center [WARC] Adspend Datenbank). Angesichts schrumpfender Werbeausgaben wurden die Unternehmen wählerisch bei der Frage, wo sie ihre Werbebudgets ausgaben, und entschieden sich zunehmend mehr für den Kauf digitaler Anzeigen als für traditionelle Werbung. Es ist jedoch unbekannt, ob personalisierte Online-Anzeigen in Bezug auf den Warenverkauf effektiver sind, da viele Benutzer: innen In-Video-Werbung, textbasierte und <?page no="125"?> 4.4 Kapitalakkumulation und soziale Medien 125 fotobasierte Online-Werbung als störend empfinden, Adblock-Software verwenden oder Online-Werbung ignorieren. Im Jahr 2017 wurde der Anteil der Online-Werbung an den weltweiten Werbeeinnahmen zur dominierenden Werbeform und übertraf den Anteil des Fernsehens. Im Jahr 2019 lag der Anteil der digitalen Werbung bei 47,9 Prozent, der des Fernsehens bei 30,6 Prozent. Die Printwerbung in Zeitungen und Zeitschriften war zusammen auf ein Allzeittief von 9,0 Prozent der weltweiten Werbeeinnahmen gefallen. Auf Fernsehwerbung entfielen 30,6 Prozent, auf Radiowerbung 5,3 Prozent, auf Kinowerbung 0,5 Prozent und auf Außenwerbung 6,7 Prozent. Die Werbung auf Mobiltelefonen, ein Teil der digitalen Werbung, machte 30,4 Prozent der gesamten weltweiten Werbeausgaben aus, was darauf zurückzuführen ist, dass ein signifikanter Teil der Online-Aktivitäten über Apps auf Mobiltelefonen und Tablets abgewickelt wird. Im Jahr 2024 entfielen 65,1 % der weltweiten Werbeausgaben auf digitale Werbung, 20,8 % auf Fernsehen, 5,2 % auf Außenwerbung, 3,6 % auf Radio, 3,1 % auf Zeitungen, 1,8 % auf Zeitschriften und 0,4 % auf das Kino 20 . Die Werbeausgaben und Werbeprofite haben sich von den klassischen Medien auf das Internet, die sozialen Medien und die mobilen Medien verlagert. Google und Facebook dominieren zusammen die digitale Werbung. Im Jahr 2022 erzielte Google weltweit Werbeeinnahmen in Höhe von 253,528 Milliarden US-Dollar. 21 . Die kombinierten Werbeeinnahmen der beiden Werbegiganten in der Höhe von 367,17 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 machten 64,7 % der weltweiten digitalen Werbeeinnahmen und 45,4 % der gesamten Werbeeinnahmen weltweit aus 22 . Google und Facebook bilden ein Duopol, das den globalen Markt für digitale Werbung beherrscht. Kapitalakkumulation auf kapitalistischen sozialen Medien Abbildung 4.2 zeigt den Prozess der Kapitalakkumulation auf kapitalistischen sozialen Medien, die durch den Verkauf personalisierter Werbung finanziert werden. Erinnern wir uns daran, dass für Marx konstantes Kapital der Wert der im Produktionsprozess eingesetzten Ressourcen wie Maschinen und Rohstoffe ist. Variables Kapital ist der Wert der Arbeitskraft, der sich in den Löhnen ausdrückt, die den Arbeiter: innen gezahlt werden. Social-Media-Unternehmen investieren Geld (G) für den Kauf von Kapital: Technologien (Serverplatz, Computer, organisatorische Infrastruktur usw.) und Arbeitskraft (bezahlte Mitarbeiter: innen). Dies sind das konstante Kapital (c) und das variable Kapital (v1). Wie in jedem Kapitalakkumulationsprozess müssen auch Social- Media-Unternehmen eine Ware produzieren, die auf dem Markt verkauft wird, um Profit machen zu können. Im Falle von Google, YouTube, Facebook oder Twitter ist es jedoch nicht so offensichtlich, was die Ware ist. Wir Nutzer: innen zahlen nicht für den Zugang zu diesen Plattformen oder für jede einzelne Suche, die wir bei Google durchführen. Der Zugang und die Nutzung dieser Plattformen ist keine Ware, sondern 20 Datenquelle: Statista, https: / / www.statista.com/ statistics/ 269333/ distribution-of-globaladvertising-expenditure/ , abgerufen am 2. Juni 2023. 21 Datenquelle: Alphabet SEC Filings, Finanzjahr, Form 10-K. 22 Datenquellen für globale Werbeeinnahmen und globale digitale Werbeeinnahmen: https: / / www.statista.com/ statistics/ 236943/ global-advertising-spending/ , https: / / www.statista.com/ statistics/ 237974/ online-advertising-spending-worldwide/ , abgerufen am 2. Juni 2023. <?page no="126"?> 126 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien wird kostenlos zur Verfügung gestellt, was dazu beiträgt, Milliarden von Nutzer: innen auf die Plattformen zu locken. Es handelt sich um so eine Art Gratisessen im Internet. Das Ergebnis des Produktionsprozesses P1 ist keine Ware, die direkt verkauft wird, sondern vielmehr werden Social-Media-Dienste produziert (spezifische Plattformen), die den Nutzer: innen ohne Bezahlung zur Verfügung gestellt werden. Als Konsequenz aus diesem Umstand hat sich die Managementliteratur darauf konzentriert, herauszufinden, wie man aus kostenlosen zur Verfügung gestellten Internet-Diensten Profit machen kann. Abbildung 4.2: Kapitalakkumulation auf kapitalistischen Social Media-Plattformen, die auf personalisierter Werbung beruht Was ist die Ware, die Social-Media-Unternehmen verkaufen? Viele von ihnen verkaufen personalisierte Werbeflächen an Werbekunden. Die dominanten kapitalistischen sozialen Medien sind Werbefirmen, die riesige Mengen von Benutzerdaten verarbeiten, die für die Personalisierung und den Verkauf von Anzeigen verwendet werden. Die angestellten Mitarbeiter: innen, die Social-Media-Online-Umgebungen schaffen, auf die die Benutzer: innen zugreifen, produzieren einen Teil des Mehrwerts. Die Benutzer: innen verwenden die Plattform zur Generierung von Inhalten, die sie hochladen (nutzergenerierte Inhalte). Das konstante und variable Kapital, das die Social-Media-Unternehmen (c, v1) investieren und das in den Online-Umgebungen objektiviert wird, ist die Voraussetzung für die Aktivitäten der Nutzer: innen im Produktionsprozess P2. Ihre Produkte sind nutzergenerierte Inhalte, personenbezogene Daten und Transaktionsdaten über ihr Surf- und Onlineverhalten und das Kommunikationsverhalten auf sozialen Medien. Die Plattform-Nutzer: innen investieren eine gewisse Arbeitszeit v2 in diesen Prozess. Kapitalistische soziale Medien verkaufen die Nutzer: innen - ihre Aufmerksamkeit auf Werbung - als Publikumsware an Werbekunden zu einem Preis, der größer ist als das investierte konstante und variable Kapital. Ständige Online-Aktivitäten (Lesen, Posten, Ansehen, Kommentieren von Inhalten usw.) einer großen Zahl von Nutzer: innen sowie die Sammlung, Speicherung und Analyse großer Datenmengen über die Aktivitäten der Nutzer: innen sind für die Erstellung, Personalisierung und den Verkauf digitaler Anzeigen erforderlich. Den in dieser Ware enthaltenen Mehrwert schaffen zum Teil die Nutzer: innen und zum Teil die Mitarbeiter: innen der Unternehmen. Der Unterschied besteht darin, dass <?page no="127"?> 4.4 Kapitalakkumulation und soziale Medien 127 die Nutzer: innen unbezahlt sind und daher hochgradig ausgebeutet werden. Die Internet-Daten- und Aufmerksamkeits-Ware enthält nutzergenerierte Inhalte, Transaktionsdaten, die Möglichkeit der Werbetreibenden, Werbung auf virtuellen Werbeflächen zu präsentieren, und die Aufmerksamkeitszeit von Bündeln von Nutzer: innen, die bestimmte Eigenschaften teilen. Sobald diese Ware an Werbekunden verkauft wird, verwandelt sie sich in Geldkapital, und der Mehrwert wird in Geldkapital umgewandelt. Ein Gegenargument gegen die Ansicht, dass kommerzielle soziale Medien die Internet-Prosument: innen ausbeuten, ist, dass diese als Gegenleistung für ihre Arbeit Zugang zu einem Dienst erhalten. Man kann hier allerdings einwenden, dass der Zugang zu einer Dienstleistung nicht als Gehalt angesehen werden kann, weil die Nutzer „dieses Gehalt nicht weiter umwandeln können [...] [Sie] können damit kein Essen kaufen“ (Bolin 2011, 37) Schattenarbeit Die Auslagerung von Arbeit an Konsument: innen ist eine allgemeine Tendenz des zeitgenössischen Kapitalismus. Denken Sie z.B. an Selbstbedienungstankstellen, die Selbstmontage von IKEA-Möbeln, Hausarbeit, Pendelzeit, das Waschen des Mülls vor der Entsorgung, Geldautomaten, Selbstbedienungsautomaten, Verbuchungsautomaten in Supermärkten, die Kultur der unbezahlten Praktika, Check-in-Automaten auf Flughäfen, Fahrkartenautomaten an U-Bahn-, Zug- und Busbahnhöfen, automatische Servicekioske in privatisierten Postämtern, Verkaufsautomaten; Selbstbedienungsbars in Restaurants, Schnellrestaurants usw. Schattenarbeit ist im zeitgenössischen Kapitalismus allgegenwärtig (Lambert 2015). Und sie ist unbezahlt. Das Wertgesetz auf sozialen Medien Marx formulierte das Wertgesetz: Je „größer die zur Herstellung eines Artikels notwendige Arbeitszeit, desto größer sein Wert“ (Marx 1867, 55). Das Wertgesetz gilt auch für kommerzielle sozialen Medien: Je mehr Zeit ein: e Nutzer: in auf kommerziellen Social Media verbringt, desto mehr Daten über seine Interessen und Aktivitäten sind verfügbar und desto mehr Werbung wird ihm/ ihr präsentiert. Nutzer: innen, die viel Zeit online verbringen, schaffen mehr Daten und mehr Wert (Arbeitszeit), der potenziell in Profit verwandelt werden kann. Zeit ist eine wichtige Dimension bei der Bestimmung des Werbepreises auf sozialen Medien: die Anzahl der Klicks auf eine Anzeige, die Anzahl der Aufrufe einer Anzeige oder Ziel-URL, die Anzahl der Eingaben eines Schlüsselworts, die Zeit, die eine bestimmte Benutzergruppe auf der Plattform verbringt, die Anzahl der Aufrufe einer Anzeige usw. sind wichtige Einflussfaktoren. Darüber hinaus beeinflussen die verwendeten Gebotsmaxima sowie die Anzahl der Anzeigenkunden, die um eine Online-Werbefläche konkurrieren, die Anzeigenpreise. Bei der Pay-per-View-Methode verdienen Facebook und Google mehr mit einer Anzeige, die auf eine Gruppe abzielt, die viel Zeit auf Facebook verbringt. Je größer die Zielgruppe, desto höher sind in der Regel die Profite von Facebook und Google. Beim Pay-per-Click-Verfahren verdienen Facebook und Google nur dann Geld, wenn die Nutzer: innen auf eine Anzeige klicken. Studien zufolge liegt die durchschnittliche Klickrate bei 0,1 Prozent (Comscore 2012). Das bedeutet, dass Facebook und Google tendenziell mehr Profit erzielen, wenn die Anzeigen mehr Nutzer: innen präsentiert werden (beim Pay-per-View-Verfahren) und wenn mehr Nutzer: innen Zeit damit verbringen, auf Werbungen zu klicken (beim Pay-per-Click-Verfahren). Generell lässt sich sagen, dass die Profite von Google und Facebook tendenziell umso höher sind, je höher die Gesamtaufmerksamkeitszeit (Klicks auf Anzeigen, Aufrufe <?page no="128"?> 128 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien von Anzeigen) für die Anzeigen ist. Die Größe einer Zielgruppe und die durchschnittliche Zeit, die diese Gruppe auf den Plattformen verbringt, bestimmt die Aufmerksamkeitszeit. Online-Zeit auf kapitalistischen sozialen Medien ist sowohl Arbeitszeit als auch Aufmerksamkeitszeit: Die Plattformen überwachen alle Aktivitäten, die zu Datenwaren führen. Auf kapitalistischen sozialen Medien produzieren die Nutzer: innen während ihrer Online-Zeit Datenwaren. Im Pay-per-View-Modus ist die spezifische Onlinezeit bestimmter Zielgruppen auch die Aufmerksamkeitszeit, die für Facebook, Google, usw. einen Profit erzielt. Im Pay-per-Click-Modus ist die gewinnbringende Aufmerksamkeitszeit nur der Teil der Online-Zeit, den die Benutzer: innen für das Anklicken von Anzeigen aufwenden, die ihnen präsentiert werden. In beiden Fällen ist die Online-Zeit entscheidend für (a) die Produktion von Datenwaren und (b) die Erzielung von Profit aus dem Verkauf der mithilfe der digitalen Überwachung generierten Werbeflächen. Sowohl die Überwachung der Online-Zeit (in der Produktionssphäre) als auch der den Online-Werbungen gewidmeten Aufmerksamkeitszeit (in der Zirkulationssphäre) spielt eine wichtige Rolle im Kapitalakkumulationsmodell der kapitalistischen sozialen Medien. Fixes konstantes Kapital (z.B. Gebäude, Maschinen) ist Kapital, das der Kapitalist erwirbt und für einen längeren Zeitraum im Produktionsprozess fixiert (Marx 1885, Kapitel 8). Zirkulierendes konstantes Kapital ist dagegen ein Rohstoff, der in der Produktion sofort verbraucht und erneuert wird (Marx 1885, Kapitel 8). Die Lohnarbeitenden (v1) eines Social-Media-Unternehmens (z.B. Facebook), das personalisierte Werbung (v1) einsetzt, produzieren die Software-Plattform, die als fixes Kapital in den Produktionsprozess einfließt und von den Nutzer: innen zur Produktion von Daten (Profildaten, Kommunikationsdaten, Inhalte, Daten zu sozialen Netzwerken, Daten zum Surfverhalten) verwendet wird. Immer dann, wenn ein: e Nutzer: in (= unbezahlte: r Arbeiter: in, v2) auf Facebook online ist, überträgt er/ sie Teile des Wertes der Plattform und des Wertes seiner bestehenden persönlichen Daten auf eine Datenware und schafft einen neuen Wert in Form von neu verbrachter Online-Zeit, die zusätzliche Daten erzeugt, die in Form von gespeicherten Daten in die Datenware W' eingehen. Die Facebook-Plattform ist ein Mittel der Informationsproduktion - ein fixes konstantes Kapital. Sie ist ein von den Nutzer: innen bei ihrer Nutzungsarbeit verwendetes Produktionsmittel, das sie zur Produktion von Inhalten und Daten einsetzen. Diese Daten werden gespeichert, und wenn ein: e Benutzerin auf die Plattform zugreift, werden die gespeicherten Daten zur Erstellung und Aktualisierung des persönlichen Profils verwendet. Die persönlichen Daten sind also Teil des fixen konstanten Kapitals, das im Produktionsprozess fixiert bleibt und die Aktivitäten der Nutzer: innen ermöglicht. Dieselben Daten sind auch der Ausgangspunkt für die Online-Aktivitäten der Nutzer: innen auf ihren Profilen. Sie erstellen neue Inhalte auf der Grundlage bestehender Inhalte, treten mit Kontakten in Verbindung und kommunizieren. Daher sind personenbezogene Daten gleichzeitig fixes konstantes Kapital und zirkulierendes konstantes Kapital - ein Produktionsmittel, das Information, Kommunikation und Vernetzung ermöglicht und die Ressource, auf deren Grundlage und aus der die Nutzungsarbeit neue Daten schafft. Auf Plattformen wie Facebook konvergieren das zirkulierende konstante Kapital und das fixe konstante Kapital tendenziell. Die Arbeit der Nutzer: innen (= Online-Aktivität) schafft den Wert (die gesamte von den Nutzer: innen online verbrachte Zeit bzw. die Durchschnittsonlinezeit pro Zeiteinheit) und den neuen Inhalt (die neu generierten und gespeicherten Daten) der Ware. Die gesamte Ware wird Teil des fixen Kapitals von Facebook, das in den <?page no="129"?> 4.4 Kapitalakkumulation und soziale Medien 129 Produktionsprozess reinvestiert wird: Die vorhandenen Daten werden für die Organisation des Facebook-Profils des Nutzers verwendet und bei der Erstellung eines aktualisierten Nutzerprofils wiederverwendet. Das Profil des Benutzers/ der Benutzerin wird in einer Datenbank gespeichert und vom Nutzer/ von der Nutzerin immer dann aktualisiert, wenn er/ sie sich bei Facebook einloggt oder wenn er/ sie eine Website besucht, die mit Facebook verbunden ist. Ein: e Werbekund: in wählt beim Einrichten von zielgerichteten Anzeigen auf Facebook eine bestimmte Anzahl von Nutzer: innen aus. Der Kunde bzw. die Kundin kauft bestimmte Teile der Bildschirmdarstellung bestimmter Nutzergruppen, die nur während des Aufenthalts des Nutzers/ der Nutzerin auf Facebook existieren, d.h. der/ die Nutzer: in produziert diese Räume durch sein/ ihr Online-Verhalten und die von ihm/ ihr generierten Daten. Die Nutzer: innen produzieren selbst Werbeflächen. Diese Werbeflächen werden entweder als Ware verkauft, wenn die Nutzer: innen sie anklicken (Pay-per-Click) oder wenn sie online sind (Pay-per-View). Die Werbeflächen sind in dem Moment, in dem sie hergestellt werden, d.h. in dem Moment, in dem eine personalisierte Werbung algorithmisch generiert und auf dem Bildschirm visualisiert wird, eine Ware. Im Pay-per-Click-Modus stellt sich die Frage, ob diese Ware verkauft werden kann oder nicht, d.h. zu welchem Grad/ Anteil der Präsentationen von Werbungen die Nutzer: innen auf Anzeigen klicken. Was ist der Wert einer einzelnen personalisierten Online-Werbung? Es ist die durchschnittliche Anzahl an Minuten, die eine bestimmte Benutzergruppe auf Facebook verbringt, geteilt durch die durchschnittliche Anzahl an personalisierten Anzeigen, die ihnen in diesem Zeitraum präsentiert werden. Die Werbekunden von Facebook füllen die Online-Anzeigenflächen mit ihren Gebrauchswertversprechen, die die Nutzer: innen vom Kauf bestimmter Waren überzeugen wollen. Das bedeutet, dass die Arbeit, die Facebook-Nutzer: innen leisten, in den Kapitalakkumulationsprozess anderer Unternehmen im Bereich der Zirkulation eingeht, wo die Waren W' in Geldkapital G’ umgewandelt werden (W’-G'). Die Arbeit der Facebook- Nutzer: innen ist ein Online-Äquivalent zur Transportarbeit - ihre Online-Aktivitäten tragen dazu bei, Gebrauchswertversprechen an sich selbst zu transportieren. Marx (1885) erachtete Transportarbeiter: innen als produktive Zirkulationsarbeiter: innen. Facebook-Nutzer: innen sind produktive Online-Zirkulationsarbeiter: innen, die die Kommunikation von Werbeideologien im Internet organisieren. Die geschlechtsspezifische Publikumsware auf sozialen Medien Eileen Meehan hat das Konzept der geschlechtsspezifischen Publikumsware eingeführt. Werbetreibende sind in erster Linie an gutgläubigen Konsumenten interessiert, die „das notwendige Einkommen, den Zugang und den Wunsch haben, als treue Kund: innen Markengüter zu kaufen und gewohnheitsmäßig von Impulsen geleitete Kaufentscheidungen zu machen [...] Je größer die Zahl der gutgläubigen Zuschauer: innen, desto höher der von den Sendern verlangte Werbepreis“ (Meehan 2002, 244). „Die Überbewertung des männlichen Publikums spiegelt den Sexismus des Patriarchats ebenso wider wie die Überbewertung des gehobenen Publikums den Klassencharakter des Kapitalismus reflektiert [...] Aus dieser Perspektive ist das Fernsehen so strukturiert, dass es jeden, der nicht zur Publikumsware der weißen, 18bis 34-jährigen, heterosexuellen, englischsprachigen, gehobenen Männer gehört, diskriminiert. [...] Fernsehen ist ein Instrument der Unterdrückung“ (Meehan 2002, 248). Ausgehend von Meehan führt Tamara Shepherd (2014) das Konzept der geschlechtsspezifischen Publikumsware auf sozialen Medien ein. Sie argumentiert, dass „wie Frauen, die oft unsichtbar daran arbeiten, den Kreislauf von Reproduktion und <?page no="130"?> 130 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien Produktion aufrechtzuerhalten, auch die Arbeit der Nutzer: innen auf Facebook ignoriert wird, um die Plattform als Kommunikationsnetzwerk lebensfähig zu halten, die auf den von den Nutzer: innen beigetragenen Inhalten basiert" (Shepherd 2014, 162). Werbung auf sozialen Medien würde genauso wie im Fernsehen geschlechtsspezifisch gestaltet werden: Die Kategorisierung von Werbezielgruppen „auf der Grundlage des Geschlechts (und auch anderer stereotyper Merkmale wie Klasse, Rasse, ethnische Zugehörigkeit und Alter) funktioniert als eine Art Diskriminierung, indem diesen verschiedenen Zielmärkten ein unterschiedlicher Wert beigemessen wird“ (164). Kylie Jarrett (2015) verfolgt einen marxistisch-feministischen Ansatz für den Vergleich der digitalen Arbeit und der digitalen Arbeit der Nutzer: innen sozialer Medien: „Erstens ist die Arbeit, die bei beiden Arbeitsformen anfällt, körperlich, weist aber bedeutende kognitive, affektive und kommunikative Elemente auf. [...] Darüber hinaus nimmt die Konsumarbeit in Bezug auf die Generierung von Mehrwert eine ähnliche Stellung ein wie die Hausarbeit. [...] Es besteht also mehr als nur eine oberflächliche Ähnlichkeit zwischen den Arten von Tätigkeiten, die mit der Konsumarbeit verbunden sind, und den mit der Hausarbeit verbundenen Tätigkeiten. Beide arbeiten in einem Regime fast totaler Ausbeutung und erzeugen einen Mehrwert, indem sie die Produktionskosten senken. Zusätzlich, und das ist wichtig zu betonen, sind beide an der Reproduktion der Gesellschaft beteiligt“ ( Jarrett 2015, 209, 210-212). Wenn Sie werbefinanzierte soziale Medienplattformen wie YouTube, Instagram, TikTok, Twitter usw. nutzen, sind Sie ein: e digitale: r Arbeiter: in, die/ der unbezahlte Arbeit verrichtet, die von den Digitalgiganten ausgebeutet wird. Die Arbeit der Nutzer: innen ist nur eine Form der digitalen Arbeit. Im nächsten Abschnitt werden wir uns auf andere Formen der digitalen Arbeit konzentrieren. 4.5 Die internationale Teilung der digitalen Arbeit Der iSlave hinter dem iPhone Apple war laut der Forbes 2000-Liste der größten transnationalen Konzerne im Jahr 2018 das 9. größte Unternehmen der Welt 23 . In den Jahren 2021 und 2022 stand Apple auf Platz sieben der Forbes 2000-Liste, im Jahr 2023 auf Platz zehn. Die Entwicklung der Gewinne von Apple ist in Tabelle 4.8 dargestellt. Vergleicht man die Geschäftsjahre 2013 und 2023, so hat Apple seine jährlichen Profite um den Faktor 2,6 gesteigert. Apple ist einer der größten Konzerne der Welt. Im Jahr 2018 entfielen 62,8 Prozent der Nettoumsätze von Apple auf den Verkauf von iPhones, 7,1 Prozent auf den Verkauf von iPads, 9,6 Prozent auf den Verkauf von Macs, 14,0 Prozent auf Dienstleistungen, 6,6 Prozent auf andere Produkte (AirPods, Apple TV, Apple Watch, Beats, HomePod, iPod usw.) 24 . Im Jahr 2023 machten iPhones 52,3 Prozent des Nettoumsatzes von Apple aus, Macs 7,7 Prozent, iPads 7,4 Prozent, Dienstleistungen 22,2 Prozent und andere Produkte 10,4 Prozent 25 . Das iPhone ist also das wichtigste und wertvollste Produkt von Apple, das einen großen Teil der Einnahmen und Profite des Unternehmens ausmacht. 23 http: / / ww.forbes.com/ global2000/ list, abgerufen am 17. Juni 2020. 24 Apple SEC Filings, Formular 10-K, Finanzjahr 2018, https: / : investor.apple.com, abgerufen am 21. Oktober 2019. 25 Datenquelle: Apple SEC Filings, Formulae 10-K, Finanzjahr 2023, https: / / investor.apple. com, abgerufen am 8. November 2023. <?page no="131"?> 4.5 Die internationale Teilung der digitalen Arbeit 131 Jahr Profit 2013 37,0 Milliarden US$ 2014 39,5 Milliarden US$ 2015 53,4 Milliarden US$ 2016 45,7 Milliarden US$ 2017 48,4 Milliarden US$ 2018 59,5 Milliarden US$ 2019 55,3 Milliarden US$ 2020 57,4 Milliarden US$ 2021 94,7 Milliarden US$ 2022 99,8 Milliarden US$ 2023 97,0 Milliarden US$ Tabelle 4.8: Apples Profite, Datenquelle: Apple, SEC Filings, Form 10-K, verschiedene Jahre Berechnungen zufolge machen die Löhne der chinesischen Arbeitskräfte für die Herstellung eines iPhones nur 1,8 Prozent des iPhone-Preises aus, Apples Profit hingegen 58,5 Prozent (Chan, Pun & Selden 2013, 107) und der Profit von Apples Zulieferern, wozu die taiwanesische Firma Hon Hai Precision gehört, die auch als Foxconn bekannt ist, 14,3 Prozent. Im Jahr 2023 kostete das iPhone 14 Pro Max 1099 US$. Der hohe Preis hat nicht mit den Lohnkosten zu tun, sondern damit, dass Apple im Durchschnitt pro verkauftem iPhone 643 US$ Profit macht und Foxconn 157 US$ Gewinn. Die Arbeiter: innen, die das Telefon in einer Foxconn-Fabrik montieren, erhalten hingegen insgesamt nur 20 US$ Lohn . Die hohen Kosten des iPhones sind die Folge einer hohen Profitrate und einer hohen Ausbeutungsrate, die durch die Organisation der digitalen Arbeit in einer internationalen Arbeitsteilung erreicht werden. Im Jahr 2018 war Foxconn (auch bekannt als Hon Hai Precision) der fünftgrößte Arbeitgeber der Welt 26 . Im Jahr 2011 hatte Foxconn seine chinesische Belegschaft auf eine Million Arbeitskräfte aufgestockt, wobei es sich mehrheitlich um junge, vom Land kommende Wanderarbeiter: innen handelte (SACOM 2011). Bei Foxconn werden zum Beispiel das iPad, der iMac, das iPhone, der Amazon Kindle und verschiedene Konsolen (von Sony, Nintendo und Microsoft) gefertigt. Im Jahr 2022 war Foxconn das 123. größte Unternehmen der Welt mit einem Gewinn von 4,99 Milliarden US-Dollar und einem Umsatz von 214,6 Milliarden US-Dollar im Geschäftsjahr 2021 27 . Im Jahr 2023 war es das 116. größte Unternehmen der Welt mit einem Profit von 4,75 Milliarden US-Dollar und einem Umsatz von 222,3 Milliarden US-Dollar im Finanzjahr 2022 28 . Students & Scholars Against Corporate Misbehaviour (SACOM) (2011) berichtete, dass chinesische Foxconn-Beschäftigte, die iPhones, iPads, iPods, MacBooks und andere Hardware herstellen, mit der Einbehaltung von Löhnen, erzwungenen und unbezahlten Überstunden, Exposition gegenüber Chemikalien, militärartigen Managementmethoden, niedrigen Löhnen, mangelnder Arbeitssicherheit, dem Mangel an 26 Datenquelle: https: / / www.statista.com/ statistics/ 264671/ top-20-companies-based-onnumber-of-employees/ , abgerufen am 21. Oktober 2019. 27 Datenquelle: https: / / www.forbes.com/ lists/ global2000/ , Jahr 2022, abgerufen am 2. Juni 2023. 28 Datenquelle: https: / / www.forbes.com/ lists/ global2000/ , Jahr 2023, abgerufen am 8. Juni 2023. <?page no="132"?> 132 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien öffentlichen Einrichtungen und so weiter konfrontiert sind. Im Jahr 2010 unternahmen 18 Foxconn-Arbeiter: innen einen Selbstmordversuch, von denen 14 erfolgreich waren 29 . SACOM beschreibt die Foxconn-Arbeiter: innen als „iSklaven/ iSklavinnen hinter dem iPhone“ 30 . Dieses Beispiel zeigt, dass die Ausbeutung und Überwachung digitaler Arbeit, d.h. Arbeit für die Kapitalakkumulation im Bereich der Produktion und des Verkaufs digitaler Waren, keineswegs auf die unbezahlte Arbeit der Internet- Nutzer: innen beschränkt ist, sondern verschiedene Formen von Arbeit umfasst - wie zum Beispiel die Arbeit der Internet-Nutzer: innen, die Lohnarbeit in westlichen Unternehmen für die Produktion von Anwendungssoftware oder sklavenähnliche Arbeit, bei der unter unmenschlichen Bedingungen Hardware (und teilweise Software) in Entwicklungsländern produziert wird (Chan 2013, Chan et al. 2020, 2013, Chan and Pun 2010, Fuchs 2014a, Hong 2011; Qiu 2009, 2012, 2016; Sandoval 2013, 2014; Zhao 2008). Hier ist ein Auszug aus den Schilderungen, die sich in den SACOM-Berichten über die Arbeitsbedingungen bei Foxconn finden: „Vorgesetzte schreien Arbeiter: innen in unflätiger Sprache an. Die Arbeiter: innen erleben Druck und Erniedrigung. Die Arbeitnehmer: innen werden gewarnt, dass sie durch Roboter ersetzt werden könnten, wenn sie nicht effizient genug sind. Abgesehen von Beschimpfungen durch Vorgesetzte gibt es noch andere Formen der Bestrafung, wie das Schreiben von Geständnisschreiben und das Kopieren der Zitate des CEO. Die Mehrheit der Beschäftigten muss während der Arbeitsschichten zehn Stunden lang stehen. Es gibt keine Pause, wie von Foxconn versprochen. Einige Arbeiterinnen und Arbeiter leiden nach der Arbeit an Beinkrämpfen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter haben zusätzliche Arbeitsbelastungen oder müssen die zweite Essenspause im Rahmen der Vereinbarung ‚durchgehender Schichten‘ überspringen. [...] Am Eingang jedes Gebäudes gibt es einen Arbeitsplatz, an dem die Identität der Arbeiterinnen und Arbeiter überprüft wird“ (SACOM 2011). In den Jahren 2017 und 2018 dokumentierte SACOM, dass 16bis 19-jährige Schülerinnen und Schüler Praktika in der Computerfabrik Quanta in Chongqing absolvierten, wo die Apple Watch produziert wird (SACOM 2017, 2018). Quanta ist der exklusive Hersteller von Apple-Uhren. Im Jahr 2020 stand der taiwanesische Hersteller auf Platz 835 der weltweit größten Unternehmen 31 . SACOM dokumentierte, dass die Fabrikarbeit nichts mit den Hauptfächern der Jugendlichen in der Schule zu tun hatte, dass es üblich war, in 12-Stunden-Schichten zu arbeiten und dass die Arbeit erzwungen wurde, weil die Schüler: innen „ihr Abschlusszeugnis nicht erhalten können, ohne das obligatorische Praktikum zu absolvieren“ (SACOM 2018, 3). Hier sind einige Zitate der befragten Schüler: innen: „Wir sind wie Roboter an den Produktionslinien. Täglich wiederholen wir denselben Vorgang hunderte und tausende Male, wie ein Roboter” (SACOM 2018, 9). „Ich habe bei dem Praktikum nichts gelernt. Meine Aufgabe ist es, Kabel auf Hauptplatinen einzustecken. Ich habe keine Ahnung, welche Funktion das hat. Ich habe einen Vorgesetzten danach gefragt. Er sagte mir nur, dass es mich nichts angeht und dass meine einzige Aufgabe darin besteht, es einzustecken” (SACOM 2018, 14). 29 https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Foxconn_suicides, abgerufen am 21. Oktober 2019. 30 Ebd. 31 Datenquelle: Forbes 2000 Liste für das Jahr 2020, https: / / www.forbes.com/ global2000, abgerufen am 17. Juni 2020. <?page no="133"?> 4.5 Die internationale Teilung der digitalen Arbeit 133 „Dies ist ein obligatorisches Praktikumsprogramm. Unser Abschlusszeugnis wird von der Schule einbehalten, wenn wir uns weigern zu kommen” (SACOM 2018, 15). „Unsere Schule sagte uns, dass unser Abschluss aufgeschoben werde, wenn wir das Praktikum nicht machen“ (SACOM 2018, 15). China Labor Watch (2019) führte eine Studie über die Arbeitsbedingungen in der Foxconn-Fabrik in Zhengzhou durch, wo die Hälfte aller iPhones der Welt hergestellt wird. Verletzungen der Arbeitnehmerrechte wurden dokumentiert: „Während der Hochsaison werden reguläre Kündigungen von Arbeitnehmer: innen nicht genehmigt. [...] Im Jahr 2018 machten die Leiharbeiter: innen 55 % der Belegschaft aus. Das chinesische Arbeitsrecht schreibt vor, dass der Anteil der Leiharbeiter: innen 10% der Belegschaft nicht überschreiten darf. Im August 2019 waren rund 50% der Belegschaft Leiharbeiter: innen. [...] Während der Hauptproduktionssaison müssen studentische Arbeiter: innen Überstunden machen. Nach den Bestimmungen für Studentenpraktika dürfen Studierende jedoch keine Überstunden oder Nachtschichten leisten. [...] Das chinesische Arbeitsrecht schreibt vor, dass Arbeiter: innen nicht mehr als 36 Überstunden pro Monat leisten dürfen. Während der Hauptproduktionssaison leisten die Arbeiter: innen von Zhengzhou Foxconn jedoch mindestens 100 Überstunden pro Monat. Es gab Zeiten, in denen die Beschäftigten für je 13 Arbeitstage einen Ruhetag oder sogar nur einen Ruhetag im Monat hatten. [...] Wenn das Arbeitskontingent bis zum Ende der Schicht nicht erledigt ist, müssen die Arbeiter: innen Überstunden leisten, und dafür werden sie nicht bezahlt. Wenn es bei der Arbeit Anomalien gibt, müssen sie Überstunden machen, bis das Problem gelöst ist, und die während dieser Zeit geleistete Arbeit ist ebenfalls unbezahlt. Manchmal müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter für Nachtsitzungen anwesend sein, und diese Zeit ist unbezahlt. [...] Der Vorsitzende der Gewerkschaft wird immer von der Fabrik ernannt und nicht von den Arbeiter: innen gewählt, und der Vorsitzende ist immer der Abteilungsleiter oder Manager. [...] Verbale Beschimpfungen sind in der Fabrik üblich”. China begegnete der COVID-19-Pandemie mit einer Null-COVID-Strategie, die groß angelegte Lockdowns mit Ausgangssperren vorsah. Im Spätherbst 2022 breitete sich eine COVID-Welle in China aus, auch in den Foxconn-Fabriken. Viele Arbeiter: innen verließen die Fabriken, weil sie befürchteten, „in Quarantäne mit unzureichenden Lebensmitteln gezwungen zu werden“ (China Labor Watch 2022). In Berichten wurde betont, dass Foxconn-Beschäftigte, die sich mit dem Virus infiziert hatten, wie Sachen und Vieh gehalten wurden: „Zhengzhou ist der Hauptstandort von Foxconn für die Produktion von iPhones. [...] Die Produktion läuft weiter, ungeachtet der Kreuzinfektionen und der Anhäufung kranker Arbeiter. [...] Das Management schlug keine Produktionspause vor. Dies führte zum späteren Ausbruch der Epidemie in der Fabrik. Am 14. Oktober begann die Fabrik mit der Einführung einer ‚geschlossenen Produktion‘; die Bewegung der Arbeiter zwischen der Produktionslinie und dem Schlafsaal wird streng kontrolliert, und die Mobilität zwischen der Fabrik und dem Außenbereich wird auf ein Minimum reduziert. [...] viele Hersteller im ganzen Land entscheiden sich für die Closed-Loop- Produktion, indem sie die Arbeiter innerhalb der Fabrik einsperren und sie bitten, nur zwischen dem Fließband und ihrem Schlafsaal zu pendeln [...] der geschlossene Kreislauf ist nur ein Mittel, um die Produktion aufrechtzuerhalten; die Gesundheit der Arbeiter und die Sicherheit des Lebens der Patienten sind zweitrangig [...] die Arbeiter, die aus dem Schlafsaal in die Quarantänestationen gebracht wurden, wurden unbeaufsichtigt gelassen und mussten daher über soziale Medien um Hilfe bitten. [...] <?page no="134"?> 134 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien Nachdem alle Mitbewohner Symptome wie Fieber, Schnupfen und Atembeschwerden zeigten, erhielten sie keine Medikamente oder medizinische Behandlung. [...] Bei der so genannten ‚Quarantäne‘ handelte es sich lediglich um eine räumliche Verlegung der Arbeiter von einem Ort zum anderen; der neue Ort bietet nicht nur keine Bedingungen für eine alleinige Quarantäne, sondern es fehlt auch an einer anschließenden medizinischen Versorgung und Lebensmittelverteilung. [...] In der Zwischenzeit werden die in der Fabrik verbliebenen Arbeiter gezwungen, inmitten des Ausbruchs von Covid-19 weiterzuarbeiten. [...] Die sanitären Anlagen im Schlafsaalbereich können mit dem sich ansammelnden Müll nicht Schritt halten, was zu besorgniserregenden sanitären Bedingungen führt, die das Leben der Arbeiter noch unsicherer machen [...] Viele Arbeiter wollen jedoch inmitten des Chaos nicht mehr weiterarbeiten und wollen einfach nur in Sicherheit bleiben. Leider gibt es keine Möglichkeit, Foxconn zu verlassen; das Management des ‚geschlossenen Kreislaufs‘ bedeutet, dass die Beschäftigten das Hafengebiet, in dem sich Foxconn befindet, nicht ohne Sondergenehmigung verlassen können. Einige Beschäftigte verzichteten schließlich auf ihren Lohn und beschlossen, aus der Fabrik zu fliehen. [...] Aus der Meldung ging auch hervor, dass ein Teil des Drucks auf Foxconn, die Arbeit zu beschleunigen, ‚von Apple‘ kam. Das Werk in Zhengzhou verfügt über mehr als 90 Produktionslinien und beschäftigt rund 350.000 Mitarbeiter. Es ist auch die Hauptproduktionsstätte von Foxconn für Apples iPhones, die die Hälfte des weltweiten iPhone-Absatzes ausmachen. Gerade jetzt, in der Hochsaison der Produktion, arbeitet Foxconn mit Hochdruck an Apples neuestem Produkt, dem iPhone 14” (China Labor Watch 2022). Die Foxconn-Selbstmorde fanden 2010 statt, was zu vielen öffentlichen Berichten über die Arbeitsbedingungen in der Lieferkette von Apple und anderen Hardware-Herstellern führte. Mehr als zehn Jahre später versucht Apple, die öffentliche Meinung zu steuern, indem es jährlich einen Bericht zur Lieferantenverantwortung herausgibt und in PR- und Corporate Social Responsibility (CSR)-Aktivitäten investiert, die versuchen, das Unternehmen in einem positiven Licht darzustellen. Forschungsberichte von NGOs dokumentieren jedoch mehr als zehn Jahre später immer noch entsetzliche Arbeitsbedingungen, darunter Zwangsarbeit, lange, unbezahlte Überstunden, ein Mangel an Ruhezeiten, gelbe Gewerkschaften, verbale Beschimpfungen usw. Seit 2010 ist Apple profitabler geworden und war 2023 das zehntgrößte Unternehmen der Welt 32 . Die Profite von Apple stammen aus unmenschlichen Arbeitsbedingungen und einer extrem hohen Ausbeutung chinesischer Arbeiter: innen. Die Freude an Telefon und Computer ist das Blut und der Schweiß der Afrikaner: innen und Asiat: innen Viele Smartphones, Laptops, Digitalkameras, mp3-Player usw. werden aus Mineralien (z.B. Kobalt, Gold, 3TGs [= Wolfram {Tungsten}, Tantal, Zinn {Tin}, Gold]) hergestellt, die in den Minen der Demokratischen Republik Kongo (DRC) und anderer Länder unter sklavenähnlichen Bedingungen und anderen harten Arbeitsbedingungen abgebaut werden (Fuchs 2014a, Kapitel 6). Schätzungen zufolge gab es im Jahr 2021 49,6 Millionen moderne Sklav: innen. 33 Der Global Slavery Index (2018b) schätzt, dass es 2018 über eine Million moderne Sklaven in der Demokratischen Republik Kongo (DRK) gab, einem Land, das von 32 Datenquelle: Forbes 2000 List, Jahr 2023, https: / / www.forbes.com/ lists/ global2000/ , abgerufen am 13. Oktober 2023. 33 Daenquelle. Global Slavery Index, https: / / www.walkfree.org/ global-slavery-index/ map/ #mode=data, abgerufen am 2. Juni 2023. <?page no="135"?> 4.5 Die internationale Teilung der digitalen Arbeit 135 Krieg, Konflikten und politischen Unruhen heimgesucht wurde und für den Abbau von Konfliktmineralien berüchtigt ist. Für das Jahr 2021 wird die Zahl der modernen Sklaven in der DRK auf 407.000 geschätzt 34 (Global Slavery Index 2023a). Im Jahr 2023 berichtete der Global Slavery Index (2023c), dass die Demokratische Republik Kongo zu den Ländern gehört, in denen Krieg und Konflikte zu einer hohen Anfälligkeit für Sklaverei führen: „Die Länder mit langwierigen Konflikten gehören zu den Ländern mit der höchsten Gesamtanfälligkeit für moderne Sklaverei und weisen dementsprechend auch eine hohe Prävalenz moderner Sklaverei auf. Zu diesen Ländern gehören Afghanistan, Syrien, Nigeria, die Demokratische Republik Kongo (DRK), Mali, Pakistan, Irak, die Zentralafrikanische Republik, Sudan und Libyen“. Der Global Slavery Index (2018b, 2023a, 2023b, 2023c) schätzt, dass es im Jahr 2018 über eine Million moderne Sklav: innen in der Demokratischen Republik Kongo gab, einem Land, das von Krieg, Konflikten und politischen Unruhen heimgesucht wird und das berüchtigt für die Gewinnung von Konfliktmineralen ist. Der Global Slavery Index (2018a) betont, dass zu Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts die moderne Sklaverei nach wie vor eine Realität ist, auch bei der Gewinnung von Mineralien, die die physische Grundlage der Elektronik und der Informations- und Kommunikationstechnologien bilden. Ein Bericht aus dem Jahr 2018 schätzt, dass es in der DRK mehr als 255.000 handwerklich arbeitende Kobaltminenarbeiter: innen gab, darunter mindestens 35.000 Kinder, die teilweise nur sechs Jahre alt sind (Kara 2018). Im Jahr 2017 wurden 60 Prozent des weltweiten Kobaltvorkommens in der DRK abgebaut. Im Jahr 2021 wurden weltweit 131.000 metrische Tonnen Kobalt gefördert. 93.011 Tonnen oder 71 Prozent wurden in der Demokratischen Republik Kongo gefördert (British Geological Survey 2023, 15). Jede Batterie, mit der ein Telefon, ein Laptop oder ein Tablet betrieben wird, benötigt Kobalt als Grundmaterial. In seinem Buch Cobalt Red. How the Blood of the Congo Powers our Lives ( Wie das Blut des Kongo unser Leben bestimmt ) zieht Siddharth Kara (2023) ein Fazit aus mehr als zwanzig Jahren Forschung über Konfliktmineralien: „In meiner einundzwanzigjährigen Forschungsarbeit über Sklaverei und Kinderarbeit habe ich noch nie ein so extremes Ausbeutungsverhalten aus Profitgründen erlebt wie am unteren Ende der globalen Kobaltlieferketten. Die gigantischen Unternehmen, die Produkte verkaufen, die kongolesisches Kobalt enthalten, sind Billionen wert, doch die Menschen, die ihr Kobalt aus dem Boden holen, fristen ein Leben in extremer Armut und unermesslichem Leid. [...] Die Tech-Barone von heute werden Ihnen eine ähnliche Geschichte über Kobalt erzählen. Sie werden Ihnen erzählen, dass sie die internationalen Menschenrechtsnormen einhalten und dass ihre jeweiligen Lieferketten sauber sind. [...] Die Wahrheit ist jedoch folgende: Ohne ihre Nachfrage nach Kobalt und die immensen Gewinne, die sie durch den Verkauf von Smartphones, Tablets, Laptops und Elektrofahrzeugen erzielen, würde die gesamte Blut-für-Kobalt-Wirtschaft nicht existieren. Darüber hinaus kann das unvermeidliche Ergebnis eines gesetzlosen Kampfes um Kobalt in einem verarmten und vom Krieg zerrissenen Land nur die vollständige Entmenschlichung der Menschen sein, die am unteren Ende der Kette ausgebeutet werden“. Die internationale Teilung der digitalen Arbeit in der Internetwirtschaft Die Existenz des Internets in seiner gegenwärtigen dominanten kapitalistischen Form beruht auf verschiedenen Arbeitsformen: die relativ hoch bezahlte Lohnarbeit von Software-Ingenieuren und Ingenieurinnen im Westen; Software-Ingenieure und 34 Ebd. <?page no="136"?> 136 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien -Ingenieurinnen in Entwicklungsländern, die einen Bruchteil des Lohns ihrer Kollegen im Westen verdienen, schlecht bezahlte Dienstleistungsarbeiter: innen in Call- Centern, die das Internet nutzen; kreative, aber prekäre Freiberufler, die digitale Produkte und Dienstleistungen produzieren; die unbezahlte Arbeit der Nutzer: innen, stark ausgebeutete tayloristische Montagearbeit in China; hochgiftige Elektroschritt- Arbeit, bei der Menschen Computerhardware zerlegen; Sklavenarbeit in Entwicklungsländern, wo „Konfliktmineralien” als Grundlage der Computerhardware abgebaut werden (Fuchs 2014a). Es gibt einen Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit, der durch Ausbeutung konstituiert wird. Internationale Kommunikationsmittel in der Form des Telegrafen und internationale Nachrichtenagenturen spielten bereits im Imperialismus der Zeit des Ersten Weltkriegs eine Rolle. Sie halfen, Handel, Investitionen, Akkumulation, Ausbeutung und Krieg auf internationaler Ebene zu organisieren und zu koordinieren. Hundert Jahre später sind qualitativ unterschiedliche Informations- und Kommunikationsmittel wie der Computer, das Laptop, Tablets, das Internet, Mobiltelefone und soziale Medien entstanden. Die Produktion von Information und Informationstechnologien ist eingebettet in eine internationale Teilung der Informationsarbeit. Es gibt neue Technologien, aber Kapitalismus, Imperialismus, Klasse und Ausbeutung bilden nach wie vor das Herzstück der Gesellschaft und der internationalen Beziehungen und prägen die Modi der Informationsproduktion, -verteilung und -nutzung, die im 21. Jahrhundert so wichtig sind. Inhaltsmoderation im Schatten sozialer Medien Im Buch Behind the Screen: Content Moderation in the Shadows of Social Media , untersucht Sarah T. Roberts (2019) die Arbeit von Moderator: innen von Social-Media-Inhalten, eine Art von Arbeit, die für die Nutzer: innen unsichtbar ist und hinter ihren Bildschirmen stattfindet, oft an Orten wie Manila auf den Philippinen. Inhalts-Moderator: innen „sind professionelle Leute, die dafür bezahlt werden, Inhalte, die auf die Social-Media-Plattformen des Internets hochgeladen werden, zu überprüfen [...] [...] [Sie] bewerten und urteilen über Online-Inhalte, die von den Nutzer: innen erzeugt werden, und entscheiden, ob diese Inhalte erhalten bleiben können oder gelöscht werden müssen“ (Roberts 2019, 1). Zu solchen Inhalten gehören Videos und Bilder, die Terror, Mord, die sexuelle Ausbeutung von Kindern, andere Formen von Gewalt, Hassreden, Drohungen, Frauenfeindlichkeit, Faschismus, Rassismus usw. zeigen. Sarah Roberts Buch und andere kulturelle Werke wie Moritz Riesewiecks und Hans Blocks Film The Cleaners machen die Realität der unsichtbaren Arbeit für die Öffentlichkeit sichtbar. Roberts zeigt, dass die Inhaltsmoderation als Teil der internationalen Arbeitsteilung stattfindet. Die Philippinen sind eine Drehscheibe der Inhaltsmoderation. Eine solche Auslagerung ermöglicht es Social-Media-Plattformen, die Arbeitskosten zu senken. Rassismus verbindet sich hier mit Kapitalismus, weil das Outsourcing es den Unternehmen ermöglicht, niedrige Löhne zu zahlen. Arbeit wie die Inhaltsmoderation ist sehr belastend und kann negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben. Hochprofitable westliche Plattformen können es sich leisten, hohe Löhne für belastende Arbeit zu zahlen und Job-Rotation zu nutzen, sodass die Arbeiterinnen und Arbeiter diese Arbeit nur für wenige Stunden pro Woche verrichten, während der restlichen Arbeitszeit andere Arbeiten verrichten oder dafür bezahlt werden, dass sie als Ausgleich für das, was sie sehen müssen, tun, was sie wollen. Viele Plattformen entscheiden sich jedoch dafür, solche Arbeit an People of Colour im Globalen Süden auszulagern, die in der Verarbeitung des Gesehenen nicht unterstützt <?page no="137"?> 4.5 Die internationale Teilung der digitalen Arbeit 137 werden und unter höchst prekären Bedingungen arbeiten. Das kapitalistische Outsourcing offenbart sein rassistisches Gesicht. Roberts identifziert mehrere Typen der Inhaltsmoderation: Inhaltsmoderation, die von Plattformen im eigenen Haus durchgeführt wird; spezialisierte Unternehmen, die als Content-Management- und Moderationsvermittler für Kunden arbeiten; Call-Center- Arbeit und digitale Akkordarbeit als Mikroarbeit auf Plattformen wie Amazon Mechanical Turk und Upwork. Gemeinsame Merkmale der Arbeit in der Inhaltsmoderation sind die Verwendung von Zeitverträgen „in Niedriglohn- und Niedrigstatus-Umgebungen“ (50), dass die Arbeit „repetitiv, unangenehm“ (50) ist, der weitgehend unsichtbare Status dieser Arbeit und dass die Arbeiter: innen potenziell „traumaerzeugendem Material [...] ausgesetzt sind, während sie einen digitalen Akkordlohn erhalten, der [...] in keinem Verhältnis zu den psychologischen Gefahren“ der Arbeit steht (68). Inhaltsmoderator: innen genehmigen und löschen Inhalte. Sie stellen die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit von nutzergenerierten Inhalten auf Social-Media-Plattformen her. Bei der Faktenüberprüfung (Fact Checking) sind solche Arbeiten viel sichtbarer und erhalten den Status von Journalist: innen und Wissensprofis. Die Ergebnisse der Faktenprüfung werden veröffentlicht und oft in Nachrichtensendungen und an anderen Orten öffentlich diskutiert. Im Falle der Inhaltsmoderation und bleibt die Arbeit selbst für die Masse der Internet-Nutzer: innen unsichtbar. Die Genehmigung oder Löschung von Inhalten ist nicht einfach eine unproduktive Form der Informationsverarbeitung, sondern führt zu „sauberen“ Plattformen, die relativ frei von belastenden Inhalten bleiben. Nutzer: innen, die nicht beunruhigt sind, sondern von dem, was sie sagen, unterhalten werden, kaufen mit größerer Wahrscheinlichkeit ein. Die Putzer: innen digitaler Inhalte, die wie Toilettenreiniger mit niedrigen Löhnen bezahlt werden und mit Prekarität konfrontiert sind, schaffen ein Umfeld, das dem Einkaufen förderlich ist, sodass die Internet-Nutzer: innen nicht davon abgelenkt werden, positiv auf personalisierte Werbung zu reagieren. Auf kommerziellen Social-Media-Plattformen trägt die Arbeit der Inhaltsmoderator: innen direkt zum Verkauf von Werbung und damit indirekt zum Verkauf der beworbenen Waren bei. Die Studie von Sarah Roberts (2019, Kapitel 6) zeigt, dass es unwahrscheinlich ist, dass automatisierte, KI-basierte Werkzeuge in absehbarer Zeit in der Lage sein werden, den größten Teil der Inhaltsmoderation durchzuführen. Sie argumentiert, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass kapitalistische Plattformen bereit sind, die Arbeitsbedingungen von Inhaltsmoderator: innen zu verbessern, weil sie darauf abzielen, ihre Profite zu maximieren (214-215), sodass digitale Arbeitskämpfe das notwendige Mittel sind, um die Beschäftigungsbedingungen dieser Arbeiter: innen zu verbessern und die psychischen Belastungen, denen sie ausgesetzt sind, zu verringern. Die Studie von Roberts zeigt ein Beispiel dafür, wie der Kapitalismus mit Rassismus und Sexismus verbunden ist. Der Kapitalismus hat faschistische Potentiale und rassistische und sexistische Realitäten. Die Notwendigkeit der Moderation von Social- Media-Inhalten ist ein Ausdruck und eine Manifestation des gewalttätigen und hasserfüllten Charakters des Kapitalismus. Die internationale Teilung der digitalen Arbeit Kritische Wissenschaftler: innen führten den Begriff der neuen internationalen Arbeitsteilung (NIAT) in den 1980er Jahren ein, um zu betonen, dass die Entwicklungsländer zu billigen Quellen für Industriearbeitskräfte geworden sind und transnationaler Konzerne (TNK) eine wichtige Rolle im Kapitalismus spielt (Fröbel, Heinrichs & Kreye 1983). Die NIAT steht im Zentrum der Informationswirtschaft und der digitalen Wirtschaft, die Information und Informations- und Kommunikationstechnologien <?page no="138"?> 138 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien (IKT) produzieren. Bestimmte Formen der körperlichen Arbeit erzeugen Informationstechnologien, die dann von den Arbeitnehmer: innen in der Medien- und Kulturwirtschaft zur Produktion von Informationsinhalten (Musik, Filme, Daten, Statistiken, Multimedia, Bilder, Videos, Animationen, Texte, Artikel usw.) in digitaler Form genutzt werden. Informationsinhalte werden mit der Hilfe von Informationstechnologien produziert, verbreitet und konsumiert. Technologie und Inhalt sind dialektisch miteinander verbunden, sodass die Informationswirtschaft gleichzeitig physisch und nicht-physisch ist. Die Informationsökonomie ist weder ein Überbau noch immateriell, sondern vielmehr eine spezifische Form der Organisation der Produktivkräfte, die den Basis-/ Überbau-Dualismus durchbricht und die Information und Informations- und Kommunikationstechnologie zu einer unmittelbaren Produktivkraft macht. Abbildung 4.3: Die internationale Teilung der digitalen Arbeit, Quellen: Fuchs 2014a, 2015. Abbildung 4.3 zeigt ein Modell der wichtigsten Produktionsprozesse, die an der internationalen Teilung der digitalen Arbeit beteiligt sind. An jedem Produktionsschritt/ Arbeitsprozess sind menschliche Subjekte (S) beteiligt, die Technologien/ Arbeitsinstrumente (T) auf Arbeitsobjekte (O) anwenden, sodass ein neues Produkt entsteht. Die eigentliche Grundlage der digitalen Arbeit ist ein extraktiver Arbeitskreislauf, in dem Bergleute Mineralien gewinnen. Diese Mineralien gehen als Objekte in den nächsten Produktionsprozess ein, in dem Montagearbeiter: innen in der verarbeitenden Industrie in physischen Arbeitsprozessen IKT-Komponenten erzeugen. Diese Komponenten gehen als Objekte in den nächsten Arbeitszyklus ein: Monteure/ Monteurinnen bauen digitale Medientechnologien zusammen und nehmen dabei IKT- Komponenten als Input. Verarbeitende und Monteure/ Monteurinnen sind Industriearbeiter: innen, die an der digitalen Produktion beteiligt sind. Das Ergebnis dieser Arbeit sind digitale Medientechnologien, die in verschiedene Formen der Informationsarbeit als Werkzeuge für die Produktion, Verteilung, Zirkulation, Prosumtion und den Konsum verschiedener Arten von Informationen eingehen. <?page no="139"?> 4.5 Die internationale Teilung der digitalen Arbeit 139 Digitale Arbeit „Digitale Arbeit“ ist kein Begriff, der nur die Produktion von digitalen Inhalten beschreibt. Es handelt sich vielmehr um eine Kategorie, die die gesamte digitale Produktion umfasst, die ein Netzwerk extraktiver, industrieller und informationeller Arbeitsformen beinhaltet, die die Existenz und Nutzung digitaler Medien ermöglicht. Die an der digitalen Produktionsweise beteiligten Subjekte (S) - Bergleute, Monteure/ Monteurinnen, Informationsarbeitende und verwandte Arbeiter: innen - stehen in spezifischen Produktionsverhältnissen, die entweder Klassenbeziehungen oder Nichtklassenbeziehungen sind. Was in Abbildung 4.3 als S bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit eine Beziehung S1 - S2 zwischen verschiedenen Subjekten oder Subjektgruppen. In der heutigen kapitalistischen Gesellschaft sind die meisten dieser digitalen Produktionsverhältnisse tendenziell durch Lohnarbeit, Sklavenarbeit, unbezahlte Arbeit, prekäre Arbeit und freiberufliche Arbeit geprägt. Die internationale Teilung der digitalen Arbeit ist ein komplexes Netzwerk, das global miteinander verbundene Ausbeutungsprozesse beinhaltet, wie z.B. die Ausbeutung kongolesischer Sklavenarbeiter: innen, die Mineralien abbauen, die als physische Grundlage für IKT-Komponenten dienen, die von Millionen von hochausgebeuteten fordistischen Lohnarbeitenden in Fabriken wie Foxconn zusammengebaut werden; niedrig bezahlte Software-Ingenieure in Indien; hoch bezahlte und überarbeitete Software-Ingenieure und Software-Ingenieurinnen bei Google und anderen westlichen Software- und Internetunternehmen; prekäre Freiberufler: innen in globalen Städten, die digitale Technologien zur Schaffung und Verbreitung von Kultur nutzen; Elektroschrott-Arbeiter: innen, die Computerhardware zerlegen und dadurch mit giftigen Materialien in Berührung kommen, und so weiter (Fuchs 2014a, 2015). Digitale Werktätigkeit ist eine spezifische Form der Werktätigkeit, bei der Körper, Geist oder Maschinen oder eine Kombination aller oder einiger dieser Elemente als Arbeitsinstrumente eingesetzt werden, um die Natur, der Natur entnommene Ressourcen oder Kultur und menschliche Erfahrungen so zu organisieren, dass digitale Güter produziert werden. Digitale Arbeit ist entfremdete digitale Werktätigkeit. Es ist digitale Werktätigkeit, die sich in Klassenverhältnissen abspielt. Im Kapitalismus produziert digitale Arbeit digitale Waren, die verkauft werden, damit Unternehmen Kapital akkumulieren. Digitale Arbeit umfasst alle Arbeit, die an der Produktion von digitalen Waren beteiligt ist. Kylie Jarrett (2022) und Alessandro Gandini (2021) plädieren für eine engere Definition der digitalen Arbeit. Jarrett beschränkt die digitale Arbeit auf „drei grob definierte Kategorien von Arbeitenden“ ( Jarrett 2022, 22) in der digitalen Industrie. Gandini (2021) schreibt, dass das weite Verständnis von digitaler Arbeit als internationale digitale Arbeitsteilung im Gegensatz zu einem engen Verständnis von digitaler Arbeit als „Ausbeutung unbezahlter Nutzeraktivitäten und persönlicher Daten für die Wertschöpfung“ (374) ein „leerer Signifikant ist, der nicht mehr in der Lage ist, einem klar unterscheidbaren kritischen oder analytischen Zweck zu dienen“ (370). In Erweiterung von Gandinis Ansicht definiert Jarrett (2022, 23, 25) digitale Arbeit folgendermaßen: „Die erste Kategorie, die unter das konzeptionelle Dach fällt, ist die Nutzerarbeit . Diese beschreibt die unbezahlte, nicht vertraglich geregelte Arbeit auf Social- Media-Plattformen. [...] Die zweite Gruppe besteht aus den plattformvermittelten Arbeiter: innen . […] Die dritte Art von Arbeitenden werde ich als formelle Arbeiter : innen bezeichnen, um bezahlte Arbeitende zu erfassen, die mehr oder weniger Vollzeit oder auf kontinuierlicher Basis in der digitalen Medienbranche beschäftigt sind”. Für Jarrett (2022, 28) ist digitale Arbeit „ die Arbeit von Nutzer: innen, plattformvermittelten <?page no="140"?> 140 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien Arbeiter: innen und formalen Arbeiter: innen, die innerhalb der digitalen Medienindustrie Wert schafft “. Peter Goodwin (2022) weist auf das Problem der theoretischen Inkonsistenz hin, mit dem solche aufzählenden Verständnisse von digitaler Arbeit konfrontiert sind. „Sie zählen einfach auf, was digitale Arbeit ist, ohne ein theoretisches Unterscheidungskriterium zu haben. Sie schließen die versklavten kongolesischen Minenarbeiter, mit denen Christian Fuchs sein Buch Digital Labour and Karl Marx (Fuchs 2014a) eröffnete, und die ‚iSlaves‘ in China, die bei Foxconn Apple-Telefone herstellen und deren Bedingungen von Jack Linchuan Qiu (2016) so eindringlich beschrieben werden, nicht ein" (Goodwin 2022, 213). Der kollektive digitale Arbeiter Für die Existenz digitaler Waren reicht es nicht aus, dass ein: e einzige: r Arbeiter: in aktiv ist. Es gibt eine internationale Teilung der digitalen Arbeit. Marx führte den Begriff des kollektiven Arbeiters ein. In der digitalen Industrie finden wir einen globalen kollektiven digitalen Arbeiter. Der globale kollektive digitale Arbeiter schafft digitale Ressourcen als „ein gesellschaftliches, [als] […] das gemeinsame Produkt eines Gesamtarbeiters, d.h. eines kombinierten Arbeitspersonals, dessen Glieder der Handhabung des Arbeitsgegenstandes näher oder ferner stehn. Mit dem kooperativen Charakter des Arbeitsprozesses selbst erweitert sich daher notwendig der Begriff der produktiven Arbeit und ihres Trägers, des produktiven Arbeiters” (Marx 1867, 531). Der Begriff der internationalen digitalen Arbeitsteilung hat Parallelen mit Toni Negris Konzept des gesellschaftlichen Arbeiters, womit er eine „neue Arbeiterklasse“ meint, die sich „nun über die gesamte Sphäre der Produktion und Reproduktion erstreckt“ (Negri 1988, 209). Die Arbeiter: innen in der digitalen Industrie haben unterschiedliche Arbeitsbedingungen, werden aber alle vom digitalen Kapital ausgebeutet, was ein verbindendes Merkmal ist. Als kollektive Arbeiterinnen und Arbeiter schaffen sie nicht nur kollektiv digitale Ressourcen und eine digitale Umgebung, sie werden auch alle vom Kapital kollektiv ausgebeutet, was sie zu einem kollektiven Subjekt macht, das die Fähigkeit besitzt, sich zu vereinen und gegen das Kapital zu kämpfen. Digitale Arbeiter: innen in der internationalen Arbeitsteilung, vereinigt euch! Viele Formen der Arbeit in der internationalen Arbeitsteilung sind unsicher und prekär. Sie zeichnen sich durch schlecht bezahlte oder unbezahlte Arbeit, lange Arbeitszeiten, fehlende soziale Sicherheit und so weiter aus. Hausfrauen haben im Rahmen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung traditionell harte, unbezahlte Arbeit im Haushalt verrichtet. Hausfrauisierung ist der Prozess der Verwandlung von Arbeitenden in prekäre Arbeitende, die unter Bedingungen arbeiten, die mit denen von Hausfrauen vergleichbar sind, einschließlich unbezahlter Arbeit (Mies 1988; Werlhof, Mies & Bennholdt-Thomsen 1983). Viele digitale Arbeiterinnen und Arbeiter teilen das Merkmal, dass sie wie Hausfrauen sind, die in den inneren Kolonien des Kapitalismus arbeiten und durch hohe Ausbeutung der Arbeit hohe Profite erzielen. Bei der Analyse der internationalen Arbeitsteilung sollte man sich auf diese Gemeinsamkeiten konzentrieren, um zu zeigen, dass unabhängig davon, wie unterschiedlich die Kontexte der Ausbeutung in der internationalen Teilung der digitalen Arbeit sind, die Ausbeutung von Arbeiter: innen in dieser Arbeitsteilung die gleiche Ursache hat: den <?page no="141"?> 4.6 Digitale Arbeit auf Faceboo, Sklavenarbeit und Hausarbeit 141 globalen Kapitalismus. Die Verbundenheit dieser Arbeiter: innen aufzuzeigen, unterstreicht die Bedeutung der internationalen Organisation der Arbeiterklasse im Kampf gegen die Ausbeutung. Warum ist es wichtig, ein solch einheitliches Konzept der digitalen Arbeit zu haben? Nick Dyer-Witheford (2014, 175) gibt eine Antwort: „Den globalen Arbeiter zu benennen, bedeutet, eine Karte zu erstellen; und eine Karte ist auch eine Waffe“. Die Ausbeutungsrate variiert je nach Art und Ort der Tätigkeit. Im Falle hochbezahlter Wissensarbeiter: innen wie zum Beispiel Softwareingenieure und Softwareingenieurinnen zahlt das Kapital relativ hohe Löhne, um zu versuchen, ihren hegemonialen Konsens zu erlangen, während schlecht bezahlte Wissensarbeiter: innen, Benutzer: innen, Hard- und Softwareproduzent: innen und Mineralien fördernde Bergleute in Entwicklungsländern mit prekären Arbeitsbedingungen und in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlichen Formen von Sklaverei und Ausbeutung konfrontiert sind, die insgesamt dazu beitragen, die Profite des Kapitals durch Minimierung der Lohnkosten zu steigern. Gratis arbeitende Internet-Nutzer: innen, die die Publikums- und Datenware bei der Online-Werbung und andere Gratiswaren beim Internet- Crowdsourcing herstellen, und die Arbeiter: innen in den „Konfliktminen“ haben gemeinsam, dass sie unbezahlt sind. Der Unterschied besteht darin, dass die Ersteren durch ihre Ausbeutung Vergnügen gewinnen, während die Letzteren durch ihre Ausbeutung, die das Vergnügen der Ersteren ermöglicht, Schmerzen erleiden und sterben. Der Hauptnutzen aus dieser Situation ist monetärer Natur und geht an Unternehmen wie Google, Apple und Facebook, die Teil des heutigen Systems der Sklavenhalterei sind. Für die Ausbeutung digitaler Arbeitskräfte sind verschiedene Formen der Kontrolle erforderlich. Selbstbeherrschung und Spielarbeit, also Arbeit, die sich wie Spiel und Spaß anfühlt (Playbour = Play & Labour), aber Teile des Wertes schaffen, sind nur ein Teil des Arbeitsprozesses, der seine Grundlage in einer rassistischen Produktionsweise und Ausbeutung von Arbeiter: innen in Entwicklungsländern hat. Die Ausbeutung von spielerischer Arbeit basiert auf den Schmerzen, dem Schweiß, dem Blut und dem Tod von Arbeiter: innen in sklavenartigen Zuständen, die die physischen Grundlagen der im digitalen Kapitalismus benutzten Hardware herstellen. Das kapitalistische Internet und der digitale Kapitalismus brauchen für ihre Existenz sowohl Spielplatz als auch Mühsal, sowohl Spaß als auch Elend, sowohl biopolitische Macht als auch Disziplinarmaßnahmen, sowohl Selbstkontrolle als auch Überwachung. Das Beispiel der Foxconn-Fabriken und der kongolesischen Konfliktmineralien zeigt, dass die Ausbeutung von Internet-Spielarbeit als eine ihrer Voraussetzungen die blutige tayloristische und sklavenförmige Ausbeutung von manuellen digitalen Arbeiter: innen hat. Beide Formen der Ausbeutung sind im digitalen Kapitalismus durch die internationale Arbeitsteilung dialektisch miteinander verknüpft. Sie sind unterschiedlich, bedingen aber einander. 4.6 Digitale Arbeit auf Facebook, Sklavenarbeit und Hausarbeit: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Wir haben in diesem Buch bereits gesehen, dass die Nutzer: innen von Facebook und anderen werbebasierten sozialen Medienplattformen unbezahlte digitale Arbeitskräfte sind. Es gibt aber auch andere Formen der unbezahlten Arbeit, wie die Arbeit von Sklaven und Hausarbeitenden. Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Formen unbezahlter Arbeit, einschließlich der Nutzung von <?page no="142"?> 142 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien Facebook, und wie unterscheiden sie sich von der Lohnarbeit? In diesem Abschnitt werden diese Fragen erörtert. Digitale Hausarbeit und Reproduktionsarbeit Reproduktionsarbeit ist Arbeit, die den Menschen und die Gesellschaft reproduziert und damit auch das Kapital reproduziert. Beispiele dafür sind Hausarbeit, Kindererziehung durch die Eltern, das öffentliche Gesundheitswesen und die öffentliche Bildung. Diese Aktivitäten schaffen gebildete, gesunde, geschickte und gesellige Arbeiter: innen. Aber das Kapital zahlt nicht oder kaum für die Arbeit, die in die Produktion dieser Dienstleistungen fließt. Der entscheidende Unterschied in der Analyse der verschiedenen Arbeitsformen ist der zwischen Lohnarbeit und unbezahlter Arbeit. Produktive Arbeit ist Arbeit, die einen Mehrwert erzeugt. Sklavenarbeit, Reproduktionsarbeit und unbezahlte Facebook-Arbeit haben gemeinsam, dass sie unbezahlt sind, aber durch ihre Integration in die kapitalistische Gesellschaft dennoch einen Mehrwert schaffen. Sie sind daher Formen der produktiven Arbeit. Nicht alle Online-Aktivitäten sind Arbeit. Beispielsweise ist das Hören von Musik auf Spotify auf der Grundlage eines Monatsabonnements werbefrei. Die Konsument: innen schaffen keine Ware, sondern konsumieren lediglich Musik, für die sie durch ein Abo bezahlen. Das Abo ist die Ware. Nicht alle digitalen Arbeitskräfte sind unbezahlt. Beispielsweise neigen die Goldfarmer bei World of Warcraft oder Online-Freelancer dazu, ihre Arbeit über das Internet abzuwickeln und digitale Outputs zu produzieren, werden aber meist bezahlt. In diesem Abschnitt konzentrieren wir uns als Beispiel auf die Nutzung von Facebook, wenn wir von digitaler Arbeit sprechen. Kylie Jarrett ist eine marxistisch-feministische Gesellschaftswissenschaftlerin, die sich unter anderem mit dem Verhältnis von Kapitalismus und Patriarchat im Kontext von sozialen Medien und digitaler Arbeit beschäftigt hat. In ihrem Buch Feminism, Labour and Digital Media: The Digital Housewife verwendet Jarrett (2016) den Begriff der digitalen Hausfrau, um Parallelen zwischen unbezahlter Online-Arbeit und der Haus- und Reproduktionsarbeit aufzuzeigen. Sie argumentiert, dass der/ die gesellschaftliche Arbeiter: in nicht im gegenwärtigen Kapitalismus entstanden ist, sondern in der Form von Hausarbeit immer schon ein wesentlicher Teil der Mehrwertproduktion im Kapitalismus gewesen ist. Zu den Parallelen zwischen Hausarbeit und Facebook-Arbeit gehört, dass beide unentgeltlich sind und zwei Gebrauchswerte produzieren, von denen nur einer eine Ware ist (Lohnarbeit im Fall der Hausarbeit, Daten im Fall der Facebook-Arbeiterin). Affekte und soziale Beziehungen bilden den zweiten Gebrauchswert. Jarrett argumentiert, dass sowohl die Hausarbeiterin als auch der/ die Facebook-Arbeiter: in veräußerliche und unveräußerliche Objekte produzieren (123). Die ersten sind „unveräußerliche Gebrauchswerte wie Vergnügen, soziale Solidarität und der allgemeine Intellekt“ (98). „Konsumarbeit ähnelt nicht nur deshalb der Hausarbeit, weil sie unbezahlt ist und außerhalb der formellen Fabrikmauern in der vermeintlich freien Zeit stattfindet. Sie ist ihr auch deshalb verwandt, weil sie ein Ort der sozialen Reproduktion ist: ein Ort der Herstellung und Neuerstellung der sozialen, affektiven, ideologischen und psychologischen Seinszustände, die mit den entsprechenden kapitalistischen Subjektivitäten übereinstimmen (können)“ (71). Digitale Hausfrauen „äußern sich selbst, ihre Meinungen und erzeugen gesellschaftliche Solidarität mit anderen auf kommerziellen digitalen Medien, während sie gleichzeitig einen wirtschaftlichen Mehrwert für diese Webplattformen schaffen“ (4). <?page no="143"?> 4.6 Digitale Arbeit auf Facebook, Sklavenarbeit und Hausarbeit 143 Sowohl Hausarbeit als auch Facebook-Arbeit haben einen Bezug zum Warenkonsum: gekaufte Konsumgüter gehören zu den Gütern, die die Hausarbeit in lebens- und arbeitserhaltende Subsistenzmittel verwandelt. Im Konsumkapitalismus erfahren die Konsument: innen über die Werbung von der Existenz bestimmter Waren oder indem sie sich die Regale in einem Geschäft anschauen. Publikumsarbeit und Nutzerarbeit erzeugen Aufmerksamkeit und Daten, die für die Präsentation und Personalisierung von Werbung und den Verkauf von Waren verwendet werden. Publikumsarbeit und digitale Arbeit auf kommerziellen sozialen Medien sind daher der Teil der Reproduktionsarbeit, der Waren erzeugt, die den Werbetreibenden helfen, Profite zu erzielen, damit Konsumgüter verkauft und konsumiert werden. Hausarbeit verwandelt Konsumgüter in Subsitzenzmittel, die das Überleben und die Verkäuflichkeit der Arbeitskraft ermöglichen. Sklaverei und Rassismus im Zeitalter der digitalen Arbeit Der Kapitalismus entfremdet die Menschen, indem er sie zwingt, ihre Arbeitskraft an Kapitalisten zu verkaufen. Die Menschen werden also in Klassenverhältnisse strukturell hineingezwungen. Sie müssen ihre Arbeitskraft verkaufen, um überleben zu können. Aber Ausbeutung und Klasse sind älter als die Lohnarbeit und der Kapitalismus. Denken Sie an die Millionen von Sklav: innen, die von Afrika in westliche Länder transportiert und versklavt wurden, um auf Plantagen und in Privathaushalten zu arbeiten. Die Sklavenarbeit ist eine völlig entmenschlichte Arbeit. Sie beraubt die Menschen ihres Rechts auf Leben und reduziert sie auf den Status der Dinge. Der Sklavenhalter kann mit den Sklav: innen, die er besitzt, tun, was ihm gefällt. Wenn sie nicht tun, was er sagt, kann er sie töten, ohne rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Dem Sklavenhalter ist es erlaubt, die Sklav: innen, die er besitzt, auszubeuten, zu vergewaltigen, zu foltern und zu töten. Auch im heutigen Kapitalismus gibt es Dutzende Millionen Sklaven. Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Lohn-, Sklaven-, Reproduktionsarbeit und Facebook-Arbeit betrifft ihren rechtlichen Status und die Frage, was die Arbeiterinnen und Arbeiter zur Arbeit veranlasst. Körper und Geist der Sklavenarbeiter: innen sind ein Privateigentum, das im Besitz des Sklavenhalters steht. Sklaverei ist die am meisten entfremdete Form der Arbeit, was bedeutet, dass Sklav: innen keine Rechte haben, sodass der Sklavenhalter sie behandeln kann, wie es ihm gefällt. Was also die Sklav: innen zur Arbeit zwingt ist in letzter Instanz die Angst, getötet zu werden oder körperliche Gewalt zu erfahren. In der Sklaverei unterscheidet sich der arbeitende Slave „nur als instrumentum vocale <sprachbegabtes Werkzeug> von dem Tier als instrumentum semivocale <stimmbegabtem Werkzeug> und dem toten Arbeitszeug als instrumentum mutum <stummen Werkzeug>“ (Marx 1867, 210, Fußnote 17). Was Marx in diesem Zitat erklärt, ist, dass der/ die Sklave/ Sklavin für den Sklavenhalter ein reines Instrument ist, das er wie ein Tier oder ein Werkzeug verwendet, mit dem Unterschied, dass der Sklave/ die Sklavin im Gegensatz zum Ding und zum Tier sprechen und kommunizieren kann. Während der Sklave/ die Sklavin ständig mit dem Tode bedroht ist, ist dies bei der Lohnarbeit nur in besonderen Fällen der Fall, z.B. wenn von den Arbeiter: innen lebensbedrohliche Arbeiten wie das Aufräumen von Atommüll verlangt werden. Anders als der Sklave/ die Sklavin besitzt der/ die Lohnarbeiter: in sich selbst. Das bedeutet, dass der/ die Lohnarbeiter: in bestimmte gesetzlich garantierte Rechte hat, darunter eine Begrenzung der Arbeitszeit, Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, Mindestlohnbestimmungen, das Recht, eine Gewerkschaft zu gründen und ihr beizutreten, usw. Sklav: innen werden diese Rechte verweigert. <?page no="144"?> 144 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien In Kapital Band 1 formuliert Marx (1867, 742) die Unfreiheit der Lohnarbeit als die doppelte Freiheit der Arbeit. Die moderne Arbeit ist frei, weil sie bessergestellt ist als die Sklav: innen (obwohl die Sklaverei im globalen Kapitalismus weiter existiert), aber sie ist auch unfrei, weil sie gezwungen ist, vom Kapital ausgebeutet zu werden und in Klassenverhältnisse einzutreten, um überleben zu können. Geist und Körper der Proletarier: innen sind nicht wie die Sklav: innen das Privateigentum der herrschenden Klasse, sondern sie erleben vielmehr das, was Marx (1867, 765) den „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ nennt. Er meint damit den Zwang des Marktes, der die einfachen Menschen sterben lässt, wenn sie kein Geld haben, das es ihnen erlaubt, Waren zu kaufen, was viele dazu zwingt, Lohnarbeiter: innen zu werden. Ein spezifischer Anteil der Frauen erlebt häusliche Gewalt und wirtschaftliche Abhängigkeit, die sie zwingt, gegen ihren Willen Reproduktionsarbeit zu verrichten, und die ihnen Angst macht, ihren Partner zu verlassen. Direkte Gewalt kann also ein Zwangsmittel sein, die zur Ausübung von Hausarbeit führt. Aber auch Pflichtgefühl, Solidarität und Liebe sind wichtige Triebkräfte der Reproduktionsarbeit. Die Hausarbeit kann häufig Mischformen von Liebe und Hass, Schmerz und Vergnügen, Spiel und Arbeit, Fürsorge und Gewalt, Gefühlen der Selbstverwirklichung und Entfremdung beinhalten. Zwang nimmt auf Facebook andere Formen an als bei Hausarbeit, Lohnarbeit oder Sklavenarbeit. Facebook-Arbeit wird normalerweise nicht durch physische Gewalt und psychische Gewalt erzwungen, sondern durch Monopolmacht, die eine spezifische Form der strukturellen Kontrolle darstellt. Die absolute Marktdominanz von Facebook und Google und ihre restriktiven Nutzungsbedingungen und Datenschutzbestimmungen zwingen die Nutzer: innen, diese Plattformen zu nutzen, wenn sie nicht unter sozialen und informationellen Nachteilen leiden wollen. Viele Ereignisse wie Partys, Treffen von Freund: innen, Konferenzen usw. werden heute nur mehr online und dabei insbesondere auf sozialen Medien organisiert. Ist man nicht auf sozialen Medien präsent, so wird es schwieriger, dass man wichtige Infos bekommt und an wichtigen sozialen Zusammenkünften teilnehmen kann. Es wäre ein Fehler, anzunehmen, dass der Aufstieg des Kapitalismus und der Lohnarbeit der Sklaverei ein Ende bereitet hat. Obwohl die Sklaverei älter ist als die Lohnarbeit, existiert sie im Kapitalismus in spezifischen Formen weiter. Jack Qiu ist ein kritischer chinesischer Medien- und Kommunikationswissenschaftler. In seinem Buch Goodbye iSlave: A Manifesto for Digital Abolition, führt Qiu (2016) den Begriff der iSklaverei (iSlavery) ein. Er weist darauf hin, dass die Sklaverei auch im 21. Jahrhundert, in dem das iPhone zu einem der wichtigsten Werkzeuge für die Organisation des Lebens geworden ist, noch immer eine Realität ist. Qiu stützt sein Verständnis der Sklaverei auf das Sklavereiabkommen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1926, das den Besitz einer Person durch eine andere Person als das Hauptmerkmal der Sklaverei sieht. Das bedeutet, dass ein Sklave/ eine Sklavin, wie wir weiter oben in diesem Abschnitt in dem Marx-Zitat über Sklaverei gesehen haben, ein reines Instrument des Sklavenhalters ist, der den Sklaven/ die Sklavin völlig entmenschlicht. Die Bellagio- Harvard-Richtlinien über die Rechtlichen Parameter der Sklaverei (Qiu 2016, 189-196) legen fest, dass zum Besitz einer Person der Kauf, die Übertragung oder der Verkauf der Person, die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft oder Sexualität, die Handhabung einer solchen ausbeuterischen Nutzung, der Gewinn aus der Nutzung einer Person, die Übertragung des Sklaven/ der Sklavin auf eine andere Person (z.B. einen Erben oder Nachfolger) oder physische oder psychische Misshandlung gehören können. Diese Definitionen stehen im Einklang mit Marx‘ Verständnis von Sklaverei, das den un- <?page no="145"?> 4.6 Digitale Arbeit auf Facebook, Sklavenarbeit und Hausarbeit 145 freien Charakter eines Sklaven/ einer Sklavin in den Vordergrund stellt, sodass er/ sie nicht im Besitz seines eigenen Körpers und Geistes ist. Schätzungen zufolge gab es im Jahr 2018 weltweit 40 Millionen Sklaven (Walk Free Foundation 2018), wobei es eine hohe absolute Zahl von Sklaven und Sklavinnen in Indien, China, Pakistan, Nordkorea, Nigeria, Iran, Indonesien, der Demokratischen Republik Kongo, Russland und den Philippinen gibt (ebd.). Wir haben bereits erörtert, dass Sklaverei im Zusammenhang mit dem Abbau von Konfliktmineralen die physische Grundlage digitaler Technologien bildet. Qiu (2016) dokumentiert, wie Foxconn-Arbeiter: innen, die iPhones, iPads und andere digitale Geräte fertigen, „enorme Schwierigkeiten [...] zu kündigen“ hatten und wie „studentische Praktikant: innen massenhaft als billige und unfreiwillige Arbeitskräfte eingesetzt wurden“ (47). Er zeigt, wie Zwangsarbeit und die Unfreiheit, eine Beschäftigung zu kündigen, als zwei Arten von Sklaverei in der Fertigungsindustrie innerhalb der internationalen Teilung der digitalen Arbeit (ITDA) existieren. Qiu dokumentiert auch die Weigerung von Foxconn, den Arbeiter: innen ihre Löhne auszuzahlen, gewalttätige und missbräuchliche Fabrikwächter und die Kontrolle der Freizeit und Schlafenszeit der Foxconn-Arbeiter: innen. Das Beispiel zeigt auch, dass Lohnarbeit eine Form der Sklaverei sein kann. Qiu kommt zu dem Schluss, dass das Managementsystem von Foxconn als „sklavereiähnliche Institutionen und Praktiken“ betrachtet werden sollte (2016, 82). Zu den Formen der ausgeübten Kontrolle gehören physische Gewalt und strukturelle, bürokratische Kontrolle (Zwangspraktika; Lohnzurückhaltung; Verträge, die nicht aufgelöst werden können, usw.), sodass jede Kontrolle der Arbeitszeit (ihr Beginn und ihr Ende) gewaltsam der Entscheidungsmacht der Arbeiterinnen und Arbeiter entzogen wird. Es gibt Gründe, die dagegensprechen, den Begriff der Sklaverei auf jede Form der Ausbeutung auszudehnen. Sklavenarbeit, Reproduktionsarbeit und Facebook-Arbeit haben gemeinsam, dass es sich dabei um unbezahlte und hoch ausgebeutete Arbeitsformen handelt, bei denen tendenziell die gesamte Arbeitszeit zur Mehrarbeitszeit, also zur unbezahlten Arbeitszeit, wird. Aber es gibt auch einen Unterschied in Bezug auf die Schwierigkeit, Arbeit abzulehnen, d.h. in Bezug auf die politische Dimension der politischen Ökonomie, die die menschliche Tätigkeit, die Arbeitskraft und die Arbeitszeit regelt. Normale Lohnarbeiter: innen können aufgrund ihrer doppelten Freiheit am Ende des Arbeitstages die Fabrik oder das Büro ihres Arbeitgebers verlassen. Sie müssen dorthin zurückkehren, um einen Lohn zu verdienen, aber sie können sich auch für die Suche nach einer anderen Arbeit entscheiden, was eine relative Freiheit innerhalb der Unfreiheit ist. Im Gegensatz zum Lohnarbeiter kann der kongolesische Bergarbeiter, der Coltan mit vorgehaltener Waffe abbaut, das Bergwerk nicht verlassen, ohne erschossen zu werden. Er ist ein Sklave. Einige Foxconn-Arbeiter: innen können die Fabrik nicht verlassen, weil sie Tag und Nacht in ihren Verträgen und in den Fabrikmauern eingesperrt sind. Auch sie sind Sklav: innen. Und wie verhält es sich mit den Facebook-Nutzer: innen? Sind sie auch Sklav: innen? Sie verbringen viel Zeit auf der Plattform, können sich aber auch abmelden, Computer und Telefon absichtlich ausschalten, um zu schlafen, mit Freunden und Familie zu reden, Liebe zu machen, einen ungestörten Spaziergang in der Natur zu genießen usw. Die Ablehnung der Arbeit in der sozialen Fabrik durch den/ die Facebook-Nutzer: in ist viel einfacher zu erreichen als die Verweigerung der Arbeit durch die kongolesischen Bergleute. Beide Arten der Arbeit sind hochgradig ausgebeutet, aber der kongolesische Bergarbeiter ist ein Sklave und der Facebook-Nutzer nicht. Nichtsdestotrotz haben alle Arbeiter: innen und alle Klassenverhältnisse bestimmte Dimensionen <?page no="146"?> 146 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien der Sklaverei, weil Arbeiter: innen in allen Klassenverhältnissen auf bestimmte Weise zur Arbeit gezwungen werden. Das ist auch der Grund, warum Marx vom Lohnarbeiter als „Lohnsklave“ spricht (z.B. Marx 1894, 609). Die Ausbeutung der Lohnarbeitenden, der Sklavenarbeit, der Hausarbeit und der Facebook-Arbeit sind in gewisser Hinsicht unterschiedlich, aber auch in anderer Hinsicht vergleichbar. Nur der kollektive Aufstand von Sklav: innen und anderen Arbeiter: innen, die von transnationalen Konzernen ausgebeutet werden, also ihre kollektive Verweigerung der Arbeit und die Suche nach Alternativen, können dem Kapitalismus und der Sklaverei ein Ende setzen. Sklav: innen können Hausarbeitende und digitale Arbeiter: innen sein, aber nicht alle Hausarbeitenden und digitalen Arbeiter: innen sind Sklav: innen im klassischen Sinne des Wortes. Eine Hausarbeiterin ist eine Sklavin, wenn sie Gewalt erlebt, die ihr Angst macht, eine Beziehung voller Missbrauch zu verlassen. Ein digitaler Arbeiter ist ein digitaler Sklave, wenn er beispielsweise durch Schuldknechtschaft gezwungen wird, als Goldfarmer für eine Spielefirma zu arbeiten und deshalb nicht die reale Option hat, den Job zu kündigen. Sklav: innen haben keine politischen und sozialen Rechte. Lohnarbeiter: innen haben spezifische soziale Rechte in Bezug auf Lohn, soziale Sicherheit und gewerkschaftliche Vertretung. Hausarbeitende haben nur begrenzte soziale Rechte, z.B. in Bezug auf den Bezug von Kindergeld. Als Facebook-Arbeiter: in hat man keine besonderen sozialen Rechte und meist nur sehr begrenzte gesetzliche Rechte in Bezug auf Privatsphäre und Datenschutz. Während der/ die Lohnarbeiter: in ein vertragliches und rechtlich durchsetzbares Recht hat, für die geleistete Arbeit einen Lohn zu erhalten, haben Sklav: innen, Hausarbeitende und Facebook-Arbeiter: innen kein solches Recht, wodurch ihre Ausbeutung als unbezahlte Arbeiter: innen ermöglicht wird. Aber nicht die gesamte digitale Arbeit und Hausarbeit ist unbezahlt. Teile davon werden als Vertragsarbeit verrichtet. Bezahlte Pflegekräfte und Reinigungskräfte sind ein Beispiel dafür. Dabei handelt es sich in der Regel um niedrig bezahlte Arbeiten, die häufig von Migrant: innen und Frauen verrichtet werden. Die Überschneidung von Reproduktionsarbeit und Lohnarbeit hat tendenziell einen rassistischen und patriarchalen Charakter. Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsform, die auf der Akkumulation von Kapital und Macht beruht. Das Patriarchat ist ein System, in dem Männer die Rolle von Patriarchen übernehmen, die die Wirtschaft, Politik und Kultur dominieren. Rassismus ist eine Ideologie und ideologische Praktik, die bestimmte Gruppen, deren Mitglieder eine andere Kultur, eine andere Herkunft oder eine andere Hautfarbe haben als die Mehrheit, zum Sündenbock macht und sie auf unfaire Weise behandelt. Klasse, Patriarchat und Rassismus sind wichtige Dimensionen von Facebook und der digitalen Arbeit. Digitale Hausarbeit ist eine besondere Form der Publikums- und Reproduktionsarbeit, die einen bedeutenden Teil des Alltagslebens ausmacht. Genauso wie die Hausarbeit ist sie unbezahlt, wird ausgebeutet und produziert eine eigentümliche Ware. Sklaverei und Rassismus spielen auch im digitalen Kapitalismus eine wichtige Rolle. Der digitale Kapitalismus und damit verbundene Phänomene wie soziale Medien, digitale Arbeit, mobile Kommunikation und Big Data sind Teil der jüngsten Entwicklungen des Kapitalismus. Der Rassismus nimmt im Kapitalismus eine spezifische Form an. Zwangsarbeit und Kinderarbeit bilden eine wichtige Dimension der internationalen Teilung der digitalen Arbeit. Beispiele finden sich etwa bei den afrikanischen und asiatischen Bergleuten und Montagearbeiter: innen, die Teil der internationalen Teilung der digitalen Arbeit sind. Struktureller Rassismus und Sexis- <?page no="147"?> 4.6 Digitale Arbeit auf Facebook, Sklavenarbeit und Hausarbeit 147 mus prägen die internationale Teilung der digitalen Arbeit (ITDA). Während Menschen in Entwicklungsländern die am meisten ausgebeuteten, unfreien und prekären Arbeitsformen in der ITDA ausüben, ist die digitale Arbeitsaristokratie der hochbezahlten Software-Ingenieure überwiegend weiß und männlich. Während hochqualifizierte und hochbezahlte Management- und Wissensarbeit in erster Linie von Weißen dominiert wird, sind niedrig bezahlte prekäre Dienstleistungsjobs in den USA eher eine Domäne der People of Colour. Algorithmen neigen dazu, rassistische Ideologien zu reproduzieren, die People of Colour diskriminieren, weil diese Technologien davon ausgehen, dass solche Menschen arm und daher weniger wertvolle Konsument: innen sind als weiße Nutzer: innen. Zeitgenössischer Rassismus wird in sozialen Medien sowohl kommuniziert als auch in Frage gestellt. Im digitalen Kapitalismus finden wir in der internationalen Teilung der digitalen Arbeit ein Zusammenwirken verschiedener Arbeitsformen - bezahlte Arbeit, unbezahlte Arbeit, Reproduktionsarbeit und die digitale Arbeit der Nutzer: innen. Die wirtschaftliche Dimension der Wechselbeziehung dieser Arbeitsformen besteht darin, dass der Kapitalismus Milieus der Ausbeutung benötigt und schafft, um die Profitabilität der Konzerne aufrechtzuerhalten. Er ist bestrebt, die Kapitalakkumulation durch Minimierung der Arbeitskosten zu maximieren. Die Diversifizierung der Arbeit ergibt sich aus dem Profitimperativ. Arbeitsformen wie Sklaverei, prekäre Arbeit, Freiberuflertum, unbezahlte Nutzungsarbeit oder Hausarbeit sind ein Ausdruck dieser Diversifizierung. Sie hat zur Folge, dass transnationale digitale Medienkonzerne hohe Profite erzielen. Der Kapitalismus basiert auf der Aneignung von Mehrarbeit und Mehrwert durch die Kapitalistenklasse. Da der Arbeitstag aus zwei Teilen besteht, der notwendigen Arbeit und der Mehrarbeit, d.h. aus bezahlter Arbeit und unbezahlter Arbeit, enthält jede Arbeit im Kapitalismus unbezahlte Arbeit. Es liegt im Interesse der Kapitalistenklasse, die unbezahlte Arbeitszeit zu maximieren. Étienne Balibar (2013) argumentiert in diesem Zusammenhang, dass „das, was den Kapitalismus charakterisiert, eine Normalisierung der Überausbeutung ist. Die Kehrseite davon ist ein Klassenkampf, der dazu neigt, Grenzen zu setzen. Unbezahlte Arbeit ist nicht unproduktiv, sondern stellt vielmehr eine überausgebeutete Form produktiver Arbeit dar, die ohne Lohn einen Mehrwert erzeugt. Rassismus, Nationalismus, Sexismus und andere Ideologien können wirtschaftliche, politische und kulturelle Surplus-„Löhne“ oder, besser ausgedrückt, Formen wirtschaftlicher, politischer und kultureller Macht für dominante Gruppen erzeugen. Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den drei diskutierten Formen der unbezahlten Arbeit, nämlich Sklavenarbeit, Reproduktionsarbeit und Facebook- Arbeit. Diese drei Formen der Arbeit wurden auch mit der Lohnarbeit verglichen. Tabelle 4.9 bietet einen zusammenfassenden Überblick. <?page no="148"?> 148 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien Dimension Aspekt Lohnarbeit Sklavenarbeit Reproduktionsarbeit Unbezahlte Arbeit der Nutzer: innen auf Facebook 1) Wirtschaft Produktionsmittel Gehirn, Körper, Werkzeuge Gehirn, Körper, Gebärmutter und Genitalien (Sklavinnen), Werkzeuge Gehirn, Körper, Gebärmutter, Genitalien, Werkzeuge Gehirn, Körper, Computer, Online-Plattformen Arbeitsprodukt Gebrauchswerte und Waren, die sich im Besitz des Kapitals befinden Gebrauchswerte und Waren, die im Besitz der Sklavenhalter stehen; Sklaven; Sklavinnen; Arbeitskräfte Waren und Gebrauchswerte für das Kapital: Arbeitskräfte; Gebrauchswert: Affekte, soziale Beziehungen, Subsistenzmittel Waren und Gebrauchswerte für das Kapital: Datenware, Aufmerksamkeit; Gebrauchswert: soziale Beziehungen, Affekte Arbeitsräume Fabrik, Büro, soziale Fabrik Plantage (wozu auch zeitgenössische Plantagen wie etwa profitorientierte, privatwirtschaftliche Gefängnisse gehören) Haushalt, soziale Fabrik Internet Arbeitszeit Teilung zwischen Arbeitszeit und Freizeit, notwendiger Arbeitszeit (bezahlt) und anderer Arbeitszeit (unbezahlt) Sklavenhalter kontrollieren die Lebenszeit der Sklaven und können diese Zeit nach ihrem Belieben in Arbeitszeit verwandeln, alle Arbeitszeit der Sklav: innen ist unbezahlt, der Sklavenhalter hat das durch das Gesetz garantierte Recht, den/ die Sklavin zu töten, also seine/ ihre Lebenszeit zu beenden a) die gesamte Arbeitszeit ist unbezahlt; die Löhne der Lohnarbeitenden eines Haushalts werden benutzt, um Konsumgüter als Produktionsmittel der Hausarbeitenden zu kaufen; b) Bezahlte Reproduktionsarbeitende, die freiberuflich tätig sind oder vom Staat angestellt sind oder für kapitalistische Firmen arbeiten Online-Zeit als unbezahlte Arbeitszeit <?page no="149"?> 4.6 Digitale Arbeit auf Facebook, Sklavenarbeit und Hausarbeit 149 2) Politik Löhne und Sozialleistungen Löhne, rechtlich garantierte staatliche Sozialleistungen (Arbeitslosenversicherung, Gesundheitsversicherung, Pensionssystem) kein Lohn, nur unbezahlte Arbeit, keine rechtlich garantierten Sozialleistungen a) keine Löhne, unbezahlte Arbeit, begrenzte rechtlich garantierte Sozialleistungen (Kinderbeihilfe) b) Niedrig bezahlte Arbeit (Putzkräfte, Babysitter, Pflegekräfte) keine Löhne, unbezahlte Arbeit, keine rechtlich garantierten Sozialleistungen Rechtliche Aspekte der Arbeit doppelt freie Arbeit: Arbeitsvertrag und Arbeitsrecht, persönliche Freiheit, „Lohnsklaverei“ doppelt unfreie Arbeit: kein Arbeitsvertrag und kein Arbeitsrecht, keine Menschenrechte, Unfreiheit der Person: die Körper der Sklaven stehen im Besitz des Sklavenhalters unfreie Arbeit: kein Arbeitsvertrag und kein Arbeitsrecht, Familienrecht, volle oder teilweise oder keine Freiheit der Person Selbstregulierung kapitalistischer Unternehmen (Nutzungsbedingungen und Datenschutzbedingungen als Arbeitsverträge, die den Nutzer: innen keine Rechte einräumen), Datenschutzgesetzgebung Politische Repräsentation der Arbeitenden Gewerkschaften, Arbeiterparteien Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, antirassistische Bewegung feministische Bewegung Bewegung zum Schutz der Privatsphäre, Verbraucherschutzgruppen, Gewerkschaften digitaler Arbeiter: innen (? ) Arbeitskämpfe und Forderungen Streiks, Sabotage, Besetzungen, Arbeiterkooperativen; Lohnforderungen, Verkürzung des Arbeitstages, bessere Arbeitsbedingungen Sklavenrebellionen: politische Freiheit, Gleichheit Proteste: Gleichheit, Löhne für Hausarbeit, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Abschaffung und Vergesellschaftung der Hausarbeit Proteste, Adblocker, Plattform-Kooperativen: partizipatorische Mediengebühr, Steuer auf Online-Werbung und digitales Kapital, öffentlichrechtliche Internetplattformen; Löhne für die Nutzung von Facebook, Google usw. <?page no="150"?> 150 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien Repression und Kontrolle der Arbeitenden der stumme Zwang ökonomischer Verhältnisse, struktureller Zwang durch den Arbeitsmarkt Körperliche Gewalt, Morddrohungen, Vergewaltigung körperliche und sexuelle Gewalt, soziale Verantwortung, wirtschaftliche Abhängigkeit Monopolmacht, soziale Nachteile 3) Kultur und Ideologie Ideologie, mit der Repression der Arbeitenden ausgeübt wird Warenfetischismus, Lohnarbeitsfetischismus Rassismus Sexismus, umgekehrter Warenfetischismus umgekehrter Warenfetischismus Tabelle 4.9: Charakteristika von vier Typen der Arbeit Der Kapitalismus braucht das, was Rosa Luxemburg (1913) als Milieus der ursprünglichen Akkumulation bezeichnet, um zu überleben. Formen der unbezahlten Arbeit bilden solche Milieus. Die Hausarbeit ist traditionell ein solches Ausbeutungsmilieu, das den Kapitalismus und die Lohnarbeit am Leben erhält. Hausarbeit ist laut Maria Mies (1988) die „Überausbeutung von Nichtlohnarbeitenden (Frauen, Kolonien, Bauern), auf Basis derer die Ausbeutung der Lohnarbeit möglich ist”. Bei der Überausbeutung kommt es „zur Externalisierung oder Exterritorialisierung der Kosten, die sonst von den Kapitalisten gedeckt werden müssten“ (Mies 1988, 138). Hausfrauisierung bedeutet die Ausdehnung von Überausbeutung und unbezahlter Arbeit in Bereiche jenseits der Hausarbeit, sodass Arbeit so transformiert wird, dass sie einige Parallelen zu den Bedingungen der Hausarbeit aufweist (Werlhof, Mies & Bennholdt-Thomsen 1983; Mies 1988; Fuchs 2014a). Hausfrauisierte Arbeit hat Eigenschaften der Hausarbeit wie etwa „keine permanente Beschäftigung, niedrigste Löhne, längste Arbeitszeiten, monotonste Arbeit, keine gewerkschaftliche Organisation, keine Qualifizierung, keinen Aufstieg, keine Rechte und keine soziale Sicherheit“ (Werlhof, Mies & Bennholdt-Thomsen 1983, 115). Facebook-Arbeit ist ebenso wie unbezahlte Praktika und die Arbeit des Prekariats eine Form der hausfrauisierten Arbeit. Unbezahlte Arbeitsformen werden anders ausgebeutet als Lohnarbeit, da sie überausgebeutete Milieus der ursprünglichen Akkumulation bilden. Wie kann unbezahlte Arbeit heute am besten sichtbar gemacht werden, um Widerstand zu leisten und sie zu überwinden? Jegliche Arbeit basiert auf einem bestimmten Grad an Mehrarbeit. Bei der unbezahlten Arbeit wird die Zeit der Mehrarbeit auf ein Maximum ausgedehnt. Eine universelle Grundeinkommensgarantie, die aus der Besteuerung von Kapital finanziert wird, ist eine progressive politische Forderung, die auf der Forderung nach Löhnen für Hausarbeit aufbaut und diese erweitert. Das sozialistische universelle Grundeinkommen zielt darauf ab, den Menschen jenseits der Verwertung einen autonomen Raum und eine autonome Zeit zur Verfügung zu stellen, damit die Grundlagen für das Denken, Leben, Produzieren, Konsumieren und Nutzen jenseits der Logik des Kapitals gestärkt werden können. <?page no="151"?> 4.7 Schlussfolgerungen 151 4.7 Schlussfolgerungen Die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels lassen sich wie folgt zusammenfassen:  Kapitalistische soziale Medien sind nicht partizipatorisch: Große Unternehmen, die Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit zentralisieren und Politik, insbesondere alternative Politik, marginalisieren, dominieren die sozialen Medien.  Management-Gurus, Marketingstrategien und unkritische Akademiker: innen feiern die demokratischen Potenziale der sozialen Medien und vernachlässigen Aspekte des Kapitalismus. Ihre Annahmen sind Ideologien, die die kapitalistische Herrschaft verstärken.  Kapitalistische soziale Medien nutzen Kapitalakkumulationsmodelle, die auf der Ausbeutung der unbezahlten Arbeit von Internet-Nutzer: innen und auf der Kommodifizierung von nutzergenerierten Inhalten und Daten über das Nutzungsverhalten basieren, die als Ware an Werbetreibende verkauft werden. Personalisierte Werbung und wirtschaftliche Überwachung sind wichtige Aspekte dieses Kapitalakkumulationsmodells. Die Kategorie der Publikumsware wird im Bereich der sozialen Medien in die Kategorie der Internet-Daten- und Aufmerksamkeitsware transformiert.  Die Ausbeutung der Arbeit, die eine Daten- und Aufmerksamkeitsware im Internet produziert, ist Ausdruck einer Phase des Kapitalismus, in der die Grenzen zwischen Spiel und Arbeit verschwimmen und die Ausbeutung der Spielarbeit (Playbour = Play & Labour) zu einem neuen Prinzip geworden ist. Ausbeutung fühlt sich dabei eher nach Spaß an und wird Teil der Freizeit.  Es gibt eine internationale Teilung der digitalen Arbeit. Die Existenz digitaler Medien basiert auf verschiedenen Formen der Arbeit und unterschiedlichen Graden der Ausbeutung: die digitale Arbeitsaristokratie hochbezahlter Arbeiter in Internetfirmen, schlecht bezahlte prekäre Wissensarbeiter: innen, unbezahlte Internet- Nutzer: innen, hochausgebeutete Arbeiter in Entwicklungsländern; Sklavenarbeiter: innen, die Mineralien fördern, die als Rohstoffe der Computerhardware verwendet werden usw.  Kommerzielle, auf personalisierter Werbung beruhende soziale Medien sind Sphären der Ausbeutung der Spielarbeit der Nutzer: innen und zugleich Objekte ideologischer Mystifikationen. Ideologien sozialer Medien idealisieren diese Plattformen, um die Aufmerksamkeit von ihrem Klassencharakter abzulenken oder die Anziehungskraft auf Investoren und die Schaffung und Ausweitung von Sphären der Kapitalakkumulation zu fördern. Kommerzielle soziale Medien zeigen, dass Ausbeutung/ Kapitalakkumulation und Ideologie zwei wichtige und miteinander verwobene Dimensionen der Medien im Kapitalismus sind (Golding und Murdock 1978).  Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sklavenarbeit, Hausarbeit und digitaler Arbeit der Facebook-Nutzung. Alle drei sind unbezahlte, wertschaffende Tätigkeiten, die dem Kapital zugutekommen. Als unbezahlte Arbeitsformen werden alle drei Arten von Arbeit stark ausgebeutet. Der Unterschied liegt in den Formen der Kontrolle: Sklaven werden durch tatsächliche physische Gewalt und die Drohung, getötet zu werden, wenn sie ihre Arbeit verweigern, kontrolliert. Die Lohnabhängigen sind dem strukturellen, stummen Zwang des Marktes ausgesetzt. Im Falle der Hausarbeit sind soziales Engagement, wirtschaftliche Abhängigkeit, phy- <?page no="152"?> 152 4 Die Macht und politische Ökonomie sozialer Medien sische und sexuelle Gewalt Formen der Kontrolle. Facebook-Nutzer: innen werden durch die Monopolmacht der Plattform und die Androhung sozialer Benachteiligungen zur Nutzung gezwungen, wenn sie nicht auf der Plattform präsent sind. Empfohlene Literatur und Übungen Übung 4.1: Bezahlte und unbezahlte Arbeit Dieses Kapitel hat einen Überblick über verschiedene Formen der digitalen Arbeit gegeben und argumentiert, dass die Nutzung von Google, Facebook, TikTok, Twitter, Instagram, Snapchat usw. eine besondere Art der unbezahlten digitalen Arbeit darstellt. Diskutieren Sie in Gruppen und präsentieren Sie Ihre Ergebnisse:  Welche Art von bezahlter Arbeit haben Sie schon geleistet? Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht? Fühlten Sie sich ausgebeutet?  Denken Sie an verschiedene Arten von unbezahlter Arbeit, wie unbezahlte Praktika und die Nutzung von Facebook. Was unterscheidet diese Arten von Arbeit von der Lohnarbeit?  Ist es in Ordnung, dass Facebook, Google usw. durch den Verkauf der Aufmerksamkeit der Nutzer: innen und großer Datenmengen an Werbetreibende jedes Jahr Gewinne in Höhe von vielen Milliarden US-Dollar erzielen?  Stimmen Sie dem Argument zu, dass Facebook und Google die Nutzer: innen ausbeuten? Warum bzw. warum nicht? In welcher Hinsicht kann man von Ausbeutung sprechen? Übung 4.2: Die Fertigung des iPhones Die folgenden zwei Texte bieten eine Analyse der Ausbeutung von Arbeiter: innen des Hardware-Montageunternehmens Foxconn: Jack L. Qiu 2016. Goodbye iSlave: A Manifesto for Digital Abolition . Urbana, IL: University of Illinois Press. Kapitel 3: Manufacturing iSlave. Marisol Sandoval 2013. Foxconned Labour as the Dark Side of the Information Age. Working Conditions at Apple’s Contract Manufacturers in China . tripleC: Communication, Capitalism & Critique 11 (2): 318-347 DOI: https: / / doi.org/ 10.31269/ triplec.v11i2.481 Lesen Sie zunächst die beiden Texte. Erörtern Sie dann die Rolle billiger, stark ausgebeuteter Arbeitskräfte in der internationalen Teilung der digitalen Arbeit. Diskutieren Sie danach, warum es die internationale Teilung der digitalen Arbeit gibt. Denken Sie schließlich darüber nach, wie eine Welt ohne der Ausbeutung der digitalen Arbeiter: innen aussehen würde. Übung 4.3: Arbeitsbedingungen in der internationalen Teilung der digitalen Arbeit Besuchen Sie die Webseiten von China Labor Watch (http: / / chinalaborwatch.org) und Good Electronics (https: / / goodelectronics.org). Suchen Sie nach einem Bericht über die Ausbeutung von Hardware-Arbeiter: innen in Montagebetrieben. Lesen Sie den Text. Wenn Sie in einer Gruppe arbeiten, kann jeder von Ihnen verschiedene Berichte lesen und Sie können sich gegenseitig den Inhalt präsentieren. <?page no="153"?> Empfohlene Literatur und Übungen 153 Diskutieren Sie:  Warum ist die in dem Bericht beschriebene Arbeit eine Form der digitalen Arbeit?  Was sind die Merkmale der in dem Bericht beschriebenen Arten von Arbeit?  Mit welchen Problemen sehen sich diese Arbeiter: innen konfrontiert?  Und was kann gegen diese Probleme unternommen werden? Übung 4.4: Die Relevanz der Debatte des Blinden Flecks und Dallas Smythes Begriff der Publikumsware für die politische Ökonomie der sozialen Medien Dallas W. Smythe 1977. Communications: Blindspot of Western Marxism. Canadian Journal of Political and Social Theory 1 (3): 1-27. Dallas W. Smythe 1981/ 2006. On the Audience Commodity and its Work. In Media and Cultural Studies , ed. Meenakshi G. Durham and Douglas M. Kellner, 230-256. Malden, MA: Blackwell. Graham Murdock 1978. Blindspots About Western Marxism: A Reply to Dallas Smythe. In The Political Economy of the Media I , ed. Peter Golding and Graham Murdock, 465-474. Cheltenham: Edward Elgar. 1977 veröffentlichte Dallas Smythe seinen bahnbrechenden Artikel „Communications: Blindspot of Western Marxism “ (Smythe 1977), in dem er argumentierte, dass der westliche Marxismus der komplexen Rolle der Kommunikation im Kapitalismus nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt habe. Auf die Veröffentlichung des Artikels folgte eine wichtige Grundsatzdebatte der Mediensoziologie, die als Debatte des Blinden Flecks bekannt wurde (Livant 1979; Murdock 1978; Smythe antwortete mit einer Erwiderung auf Murdock: Smythe 1994, 292-299). Es folgte ein weiterer Artikel von Smythe zum gleichen Thema: „On the Audience Commodity and its Work“ (Smythe 1981, 22-51). Fragen Sie sich:  Was sind die Hauptargumente von Dallas Smythe?  Was sind die Hauptkritikpunkte von Graham Murdock?  Es gibt verschiedene Arten von Medienwaren. Denken Sie über verschiedene profitorientierte Medien und die Art und Weise nach, wie sie Geld verdienen. Was sind die von diesen Medien verkauften Waren? Versuchen Sie, eine vollständige und systematische Typologie von Medienwaren zu erstellen.  Wie unterscheidet sich die Ware im Falle von kapitalistischen sozialen Medien von anderen Medienwaren?  Wie unterscheidet sich die Publikumsware im Falle von Fernsehwerbung von der Datenware und den von Google und Facebook verkauften personalisierten Werbungen? <?page no="155"?> Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? Schlüsselfragen  Wie funktioniert die politische Ökonomie von Google?  Wie ist Google kritisiert worden?  Welche Ideologien gibt es über Google? Wie sieht Google sich selbst und wie möchte es von anderen gesehen werden? Was ist die Realität hinter den Google- Ideologien? Schlüsselkonzepte  Überwachung  Ideologie  Googologie (Google-Ideologie)  Neuer Geist des Kapitalismus  Personalisierte Werbung  Datenschutzerklärung  Nutzungsbedingungen  Algorithmen der Unterdrückung  Rassistische Algorithmen  Digitale Arbeit  Spielarbeit (Play Labour Playbour)  Absolute Mehrwertproduktion  Steuervermeidung  Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen 5.1 Überblick In den frühen Tagen des World Wide Web gab es viele Suchmaschinen, die die Internet-Nutzer: innen zum Navigieren im Web benutzten. Einige Suchmaschinen verfügten über textbasierte Suchen. Andere waren geordnete Verzeichnisse. Beispiele waren Altavista, Excite, Infoseek, Lycos, Magellan und Yahoo! Am Ende des zweiten Jahrtausends entstand die Suchmaschine Google. Sie verwendet einen Algorithmus namens PageRank, der die Ergebnisse einer Suche danach anordnet, wie viele Links zu den einzelnen Ergebnisseiten führen. Google verwendet automatisierte Software-Agenten, die das WWW durchforsten und Links zu bestimmten Webseiten zählen und deren Ergebnisse analysieren. Im Laufe der Jahre hat sich Google zur dominanten Suchmaschine der Welt entwickelt. Die Suche von Google basiert auf einer einzigen Box als Benutzeroberfläche, wodurch sie für die meisten Nutzer: innen sehr intuitiv und einfach ist. <?page no="156"?> 156 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? Die Allgegenwart von Google Tim O‘Reilly (2005a) argumentiert, dass Google „der Standardträger“ des Web 2.0 und sozialer Medien ist, da diese Suchmaschine nicht wie herkömmliche Softwareprodukte in verschiedenen Versionen verkauft wird, sondern „als Dienstleistung“ mit „kontinuierlicher Verbesserung" und „kontextsensitiver“ Werbung verfügbar ist. Im Jahr 2023 war Googles Suchmaschine die Webplattform mit den meisten Zugriffen und seine Videoplattform YouTube die am zweithäufigste genutzte Webplattform der Welt 35 . Jährlich werden bei Google Billionen von Suchanfragen durchgeführt. Google ist im Alltag allgegenwärtig geworden - es prägt die Art und Weise, wie wir Informationen in Kontexten wie Arbeitsplatz, Privatleben, Kultur, Politik, Haushalt, Einkauf, Konsum, Unterhaltung, Sport usw. suchen, organisieren und wahrnehmen. Der Ausdruck „googeln“ hat sogar Einzug in den Wortschatz einiger Sprachen gehalten. Das Oxford English Dictionary definiert „to google“ als „Wörter in die Suchmaschine Google™ eingeben, um Informationen über jemanden / etwas zu finden“ 36 . Im Duden befindet sich das Wort „googeln“ seit 2004 37 . Dieses Kapitel analysiert Googles Macht, seine Vor- und Nachteile sowie die Chancen und Risiken, die Google mit sich bringt. Eine kritische Analyse von Google geht über eine moralische Verurteilung oder moralische Feier hinaus, sondern versucht vielmehr, die Bedingungen und Widersprüche zu verstehen, die Googles Existenz und seine Nutzer: innen prägen. Dieses Kapitel will daher auch einen Beitrag zur Kontextualisierung normativer Fragen zu Google in der politischen Ökonomie der heutigen Gesellschaft leisten. Abschnitt 5.2 analysiert Googles Kapitalakkumulationsmodell. In Abschnitt 5.3 werden die ideologischen Implikationen von Google diskutiert. In Abschnitt 5.4 werden die Arbeitsbedingungen bei Google untersucht. In Abschnitt 5.5 werden die guten und schlechten Seiten von Google erörtert. Abschnitt 5.6 konzentriert sich auf Googles Beziehungen zum Staat, insbesondere in Bezug auf Fragen, die die Monopolmacht des Konzerns auf dem Suchmaschinenmarkt und die Umstände betreffen, unter denen dieser Konzern die Zahlung von Steuern vermieden hat. In Abschnitt 5.6 werden Schlussfolgerungen gezogen. 5.2 Googles politische Ökonomie Googles Wirtschaftsmacht Google, das 1998 von Larry Page und Sergey Brin gegründet wurde, wurde am 19. August 2004 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt (Vise 2005, 4). Google erwarb viele andere Unternehmen, darunter die Video-Sharing-Plattform YouTube für 1,65 Milliarden US-Dollar im Jahr 2006, das Online-Werbeunternehmen DoubleClick für 3,1 Milliarden US-Dollar im Jahr 2008 (Stross 2008, 2), Motorola Mobility im Jahr 2012 für 12 Milliarden US-Dollar (Motorola wurde von Google 2014 an Lenovo verkauft), das Unternehmen für künstliche Intelligenz DeepMind für rund 650 Millionen US-Dollar im Jahr 2014, das Technologieunternehmen Dropcam, das Wi-Fi-Videostreaming-Kameras herstellt, für 555 Millionen US-Dollar im Jahr 2014, den Cloud-Dienstleister Orbit- 35 Datenquelle: https: / / www.similarweb.com/ top-websites, abgerufen am 3. Juni 2023. 36 Oxford Learner’s Dictionaries: google (verb): https: / / www.oxfordlearnersdictionaries.com/ definition/ english/ google, abgerufen am 3. Juni 2023. 37 https: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ googeln, abgerufen am 26. Januar 2024. <?page no="157"?> 5.2 Googles politische Ökonomie 157 era für 100 Millionen US-Dollar im Jahr 2016, das Datenanalyse-Unternehmen Apigee für 625 Millionen US-Dollar im Jahr 2016, die Hälfte des Forschungs- und Design-Personals und Smartphone-orientiertes geistiges Eigentum der taiwanesischen Telekommunikationsausrüstungsfirma HTC für 1,1 Milliarden US-Dollar im Jahr 2017, das Business-Intelligence- und Datenanalyse-Unternehmen Looker für 2,6 Milliarden US- Dollar im Jahr 2019, das Unternehmen Fitbit, das tragbare Fitnesstechnologien und Aktivitätstracker herstellt, für 2,1 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 oder das Cybersicherheitsunternehmen Mandiant für 5,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 38 . In der Forbes 2000-Liste der größten transnationalen Unternehmen der Welt hat Google sein Ranking rapide verbessert. Im Jahr 2004 stand es auf Platz 904. Im Jahr 2020 war es das 13. größte transnationale Unternehmen der Welt, im Jahr 2022 das 11. größte und im Jahr 2023 das 7. größte 39 (Datenquellen: Forbes 2000). Die jährlichen Gewinne von Google sind rasch gestiegen und haben sich auch nach kurzfristigen Einbrüchen in Jahren wie 2017 und 2022 erholt (siehe Abbildung 5.1). Abbildung 5.1: Die Entwicklung der Profite von Google, in Milliarden US-Dollar Datenquelle: Alphabet/ Google SEC-Filings, Formular 10-K, verschiedene Jahre Der weltweite Umsatz von Google lag 2021 bei 257,6 Milliarden US-Dollar 40 . Im selben Jahr betrug das BIP der ärmsten Länder der Welt (gemessen an der absoluten Höhe des BIP) 262,9 US-Dollar 41 . Das bedeutet, dass die Einnahmen von Google so groß waren, wie die Wirtschaftskraft von 62 Ländern zusammen, was die enorme ökonomische Macht des Digitalgiganten zeigt. 38 https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_mergers_and_acquisitions_by_Alphabet, abgerufen am 3. Juni 2023. 39 Datenquelle: Forbes 2000, diverse Jahre. 40 Datenquelle: Alphabet, SEC Filings Form 10-K, Finanzjahr 2022. 41 Datenquelle: World Bank Data, BIP in US$, abgerufen am 3. Juni 2023. <?page no="158"?> 158 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? Personalisierte Werbung Personalisierte Werbung ist das Kapitalakkumulationsmodell von Google. Im Jahr 2018 erzielte das Unternehmen 85 Prozent seiner Gesamteinnahmen aus Werbung, im Jahr 2019 83 Prozent 42 , im Jahr 2022 79,3 Prozent und im Jahr 2023 77,4 Prozent 43 . Als die neue Weltwirtschaftskrise 2008 begann, fielen die weltweiten Werbeeinnahmen absolut von 476,9 Milliarden US-Dollar auf 416,9 Milliarden US-Dollar im Jahr 2009 44 . Da in der Krise Unternehmen in Konkurs gingen und Einnahmen und Gewinne schrumpften, wurde weniger in Werbung investiert und die Unternehmen in der Krise zögerten, Geld für Werbung auszugeben. Google wurde durch die Krise nicht geschädigt. Es baute seine Profite aus der Werbung weiter aus (siehe Abbildung 5.1). Im Verlauf der Krise wuchs der Anteil der digitalen Werbung an den weltweiten Werbeeinnahmen weiterhin rapide an, und die Anteile der Print- und Rundfunkwerbung an den globalen Werbeumsätzen gingen weiter zurück. Im Jahr 2017 überstieg der Anteil der digitalen Werbung an den weltweiten Werbeeinnahmen zum ersten Mal den des Fernsehens. Auf das Fernsehen entfielen 34,7 Prozent der weltweiten Werbeausgaben, auf das Internet 39,7 Prozent. Im Jahr 2019 betrug der Anteil der Internet-Werbung an den weltweiten Werbeeinnahmen 47,9 Prozent. 30,6 Prozent entfielen auf die Fernsehwerbung, 6,7 Prozent auf die Außenwerbung, 6,4 Prozent auf Zeitungsanzeigen, 5,3 Prozent auf Radiowerbung und 2,6 Prozent auf Zeitschriftenanzeigen 45 . Google ist der dominierende Akteur in der digitalen Werbung. Das Unternehmen profitierte von der Krise 2008, da in solchen Zeiten „die Werbetreibenden sich mehr um die Kosten und direkten Ergebnisse ihrer Werbekampagnen sorgen“ und Google gute Möglichkeiten bietet, „die Wirksamkeit der Kampagne zu kontrollieren und zu messen“ (Girard 2009, 215). In der Sprache der Nichtmarketingforschung bedeutet dies, dass Google eine Form der Werbung anbietet, die auf der genauen Überwachung der Nutzer: innen basiert. Google-Werbekunden wissen sehr viel darüber, wer wann auf ihre Anzeigen klickt. Die Überwachung macht Google-Werbung vorhersehbar. Kapitalistische Unternehmen versuchen, die Unvorhersehbarkeit von Investitionen zu kontrollieren, insbesondere in Krisenzeiten, und begrüßen daher die Google-Werbung, da sie auf einer Form der wirtschaftlichen Nutzerüberwachung basiert. Werbetreibende finden Online-Werbung sicherer als andere Werbeformen, weil sie personalisiert und auf Zielgruppen maßgeschneidert ist und auf der Überwachung von Konsument: innen und Nutzer: innen basiert. Die kapitalistische Krise 2008 beschleunigte diese Verschiebung von der traditionellen Werbung hin zur Online-Werbung, weil Unternehmen in Krisen besonders Angst vor dem Bankrott und vor Verlusten haben. Googopol: Googles Monopol bei der Online-Suche und sein Status als weltgrößte Werbeagentur Tabelle 5.1 zeigt Schätzungen der Anteile von Suchmaschinen an weltweit durchgeführten Web-Suchen und den Konzentrationsgrad dieses Marktes im Jahr 2023. 42 Datenquelle: Alphabet, SEC Filings Formular 10-K für die Finanzjahre 2018 und 2019. 43 Datenquelle: Alphabet, SEC Filings Form 10-K für das Finanzjahr 2022. 44 Datenquelle: World Advertising Research Center (WARC). 45 Datenquelle für alle globalen Werbedaten: World Advertising Research Center (WARC). <?page no="159"?> 5.2 Googles politische Ökonomie 159 Suchmaschine a (Anteil in %) a 2 Google 82,60% 6822,76 Bing 8,05% 64,80 Baidu 3,79% 14,36 Yahoo! 2,41% 5,81 Yandex 1,99% 3,96 DuckDuckGo 0,80% 0,64 Naver 0,13% 0,02 Ecosia 0,10% 0,01 Ask 0,07% 0,00 AOL 0,02% 0,00 Qwant 0,02% 0,00 Daum 0,01% 0,00 Seznam 0,01% 0,00 HHI: 6912,37 Tabelle 5.1: Herfindahl-Hirschman-Index (HHI) des Suchmaschinenmarktes, Datenquelle: Schätzung des Anteils der globalen Web-Recherchen, die auf Desktop-Computern, Mobiltelefonen und Tablets von Januar bis Mai 2023 durchgeführt wurden, https: / / netmarketshare.com/ search-engine-market-share.aspx, abgerufen am 4. Juni 2023 Der Herfindahl-Hirschman-Index (HHI) ist eine mathematische Methode zur Berechnung des Konzentrationsgrades eines Marktes. Er verwendet die folgende Formel (Noam 2009, 47): f = Anzahl der an einer Branche beteiligten Firmen j, Sij = der Marktanteil des Unternehmens i in der Branche j. HHI < 1,000: niedrige Marktkonzentration 1,000 < HHI < 1,800: Markt mit moderater bis mittlerer Konzentration HHI > 1,800: hoch konzentrierter Markt Zur Berechnung des HHI wird der Marktanteil jedes Unternehmens quadriert und anschließend werden alle quadrierten Werte addiert. Wenn man dies für den globalen Suchmaschinenmarkt auf der Grundlage der Daten in Tabelle 5.1 tut, dann stellt man fest, dass der HHI bei etwa 6.900 liegt, was ein Hinweis darauf ist, dass diese Online- Industrie eine extrem hohe Konzentration aufweist. Google kontrolliert mehr als 80 Prozent aller durchgeführten Web-Suchanfragen, was bedeutet, dass es in diesem Bereich der Internetaktivitäten ein De-facto-Monopol besitzt. Google, Facebook, Baidu und ähnliche Online-Giganten sind keine Kommunikationsunternehmen. Sie verkaufen weder digitale Inhalte noch den Zugang zu Online-Platt- <?page no="160"?> 160 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? formen. Sie gehören zu den größten Werbeunternehmen der Welt. Sie verkaufen die Aufmerksamkeitsdaten der Nutzer: innen als Ware an Werbetreibende, die im Gegenzug den Nutzer: innen personalisierte Anzeigen präsentieren können. ABCDEFGoogle: Von Google Inc. zu Alphabet Inc. Im Jahr 2015 reorganisierte Google seine Unternehmensstruktur und gründete die Muttergesellschaft Alphabet Inc. Sie ernannte Larry Page zum CEO, Sergey Brin zum Präsidenten und Eric Schmidt zum Executive Chairman des Verwaltungsrats. Die Aktien von Google Inc. wurden in Aktien von Alphabet Inc. umgewandelt. Google, das sich auf das Kern-Suchgeschäft von Alphabet konzentriert, ist eine der Tochtergesellschaften des neuen Unternehmens. Sundar Pichai wurde im Oktober 2015 zum CEO von Google ernannt. Google wurde eine Tochtergesellschaft von Alphabet. Weitere Tochtergesellschaften sind Calico (Langlebigkeit, Biotechnologie), CapitalG (privates Beteiligungskapital), Chronicle (Cybersicherheit), DeepMind (künstliche Intelligenz), GV (Risikokapital), Fiber (Breitband-Internet und Kabelfernsehen), Intrinsic (Robotik), Isomorphic Labs (Arzneimittelforschung), Jigsaw (globale Herausforderungen), Loon (Internetzugang zu abgelegenen und ländlichen Gebieten), Makani (luftgestützte Windturbinen), Mineralien (nachhaltige Landwirtschaft), Sidewalk Labs (urbane Innovation), Verily Life Sciences, Waymo (selbstfahrende Fahrzeuge), Wing (Drohnengestützte Lieferung), X („Moonshots“: radikale bahnbrechende Technologien) 46 . Warum hat Google seine Unternehmensstruktur geändert? Ein Teil der Antwort mag darin bestehen, dass ein großes Unternehmen, das eine enorme Menge an Kapital kontrolliert und in vielen Bereichen tätig ist, als eine zentrale Einheit schwer zu verwalten ist. Ein anderer Aspekt könnte sein, dass Teile der Aktivitäten von Google das Kerngeschäft bilden, das profitabel sein sollte, während andere Teile eher strategische und teilweise experimentelle Aktivitäten sind, von denen nicht unbedingt erwartet wird, dass sie profitabel sind, zumindest nicht kurz- oder mittelfristig. Mehrere Tochtergesellschaften zu haben, die Verluste machen, kann sich als vorteilhafter erweisen als ein einziges großes Unternehmen, das Profite und Verluste zusammenfasst. Wenn profitable und unprofitable bzw. nicht so profitable Teile eines Unternehmens voneinander getrennt werden können, dann kann es einfacher sein, Investoren anzuziehen, indem man ihre Aufmerksamkeit auf die positiven Finanzdaten lenkt. Google als Kerngeschäft berichtet nun seine Ergebnisse getrennt von anderen, nicht such- und werbebezogenen Investitionen von Alphabet, was eine bessere Möglichkeit ist, Investoren zufriedenzustellen. Google geriet in der Europäischen Union unter Druck, die im Juni 2015 ein Kartellverfahren gegen den Konzern einleitete und argumentierte, dass die Suchmaschine seine eigenen Online-Handelsaktivitäten begünstigt. Möglicherweise war die Umstrukturierung auch ein Versuch von Google, seine Kritiker in juristischen Auseinandersetzungen zu besänftigen, indem das Unternehmen seine Bereitschaft zu organisatorischen Veränderungen unter Beweis stellte und sich für das Argument rüstete, dass die veränderte Unternehmensstruktur weniger Kapitalkonzentration bedeutet. Dieser Gedanke geht auch aus dem Brief hervor, den Larry Page an die Öffentlichkeit schrieb, um die Gründung von Alphabet zu erklären: „Our company is operating well today, but we think we can make it cleaner and more accountable. So we are creating a new company, called Alphabet. […] Alphabet is 46 Die neuesten Entwicklungen und Aktualisierungen finden Sie unter: https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Alphabet_Inc <?page no="161"?> 5.2 Googles politische Ökonomie 161 mostly a collection of companies. The largest of which, of course, is Google. This newer Google is a bit slimmed down, with the companies that are pretty far afield of our main Internet products contained in Alphabet instead“ 47 . GV und CapitalG sind die Kapitalinvestitionsunternehmen von Alphabet, wozu auch Venture-Kapital-Investitionen gehören. Venture-Kapital ist riskant, weil es unsicher ist, ob neue Unternehmen, in die investiert wird, florieren und Profite erzielen können. Alphabet trennt sein relativ stabiles und profitables Suchgeschäft von risikoreichem Finanzkapital, indem es diese Vermögenswerte in verschiedenen Unternehmen verwaltet, die als Tochtergesellschaften von Alphabet agieren. Der Reichtum und die Macht der Google-Eigentümer Ken Auletta (2010, 19) behauptet in seinem Buch Googled, dass Google ein egalitäres Unternehmen ist und dass Brin, Page und Schmidt bescheidene Gehälter haben. Im Jahr 2023 kontrollierten Brin und Page zusammen über 85,9 Prozent der Klasse-B-Ak- Jahr Larry Page Sergey Brin Eric Schmidt Vermögen Page Vermögen Brin Vermögen Schmidt 2004 43 43 165 4 4 1,5 2005 16 16 52 11 11 4 2006 13 12 51 14 14,1 5,2 2007 5 5 48 18,5 18,5 6,5 2008 14 13 59 15,8 15,9 5,9 2009 11 11 40 15,3 15,3 5,5 2010 11 11 48 15 15 5,5 2011 15 15 50 16,7 16,7 6,2 2012 13 13 45 20,3 20,3 7,5 2013 13 14 49 24,9 24,4 8,3 2014 13 14 49 31,5 31 9,3 2015 10 11 48 33,3 32,6 9,9 2016 9 10 36 38,5 37,5 11,3 2017 9 10 35 44,6 43,4 12,6 2018 6 9 33 53,8 52,4 14,4 2019 6 7 33 55,5 53,5 14,2 2023 5 7 36 114 110 20 Tabelle 5.2: Entwicklung der Rangfolge der drei reichsten Direktoren von Google in der Liste der 400 reichsten Amerikaner: innen, Datenquelle: Forbes 400 List of the Richest Americans, verschiedene Jahre, Nettovermögen in Milliarden US$, https: / / www.forbes.com/ forbes-400/ , abgerufen am 13. Oktober 2023 47 https: / / abc.xyz, abgerufen am 4. Juni 2023. <?page no="162"?> 162 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? tien von Google und 51,3 Prozent der gesamten Stimmrechte des Unternehmens 48 . Kann man von wirtschaftlicher Bescheidenheit sprechen, wenn einzelne Personen die große Mehrheit des Vermögens und der Entscheidungsmacht eines Unternehmens kontrollieren? Page und Brin steigerten ihr persönliches Vermögen in den Jahren 2004- 2023 um den Faktor 28, Schmidt um den Faktor 13 49 . Sie gehören zu den reichsten Amerikanern und Menschen überhaupt. Google ist nicht mehr oder weniger „böse“ als jedes andere kapitalistische Unternehmen. Es handelt sich um ein gewöhnliches kapitalistisches Unternehmen, das Gewinne anhäuft, und infolgedessen wächst der persönliche Reichtum einiger weniger auch durch die Ausbeutung vieler. Google-Mitbegründer Larry Page avancierte von der 43. reichsten Person der USA im Jahr 2004 zur 5. reichsten Person im Jahr 2023; Google-Mitbegründer Sergey Brin war zusammen mit Page 2004 die 43. reichste Person der USA und 2023 die 7. reichste. Das Vermögen von Page stieg von 4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2004 auf 113 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023. Brins Vermögen stieg von 4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2004 auf 110 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023. Im Antagonismus zwischen den Vielen und den Wenigen sind die Vielen im Fall von Google die Milliarden Nutzer: innen der Plattform. Wie Google Kapital akkumuliert Google ist eines der weltweit profitabelsten Unternehmen im Allgemeinen und auch in der Medienbranche. Aber wie genau erzielt Google diesen Gewinn? Wie akkumuliert dieser Konzern Kapital? Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine politökonomische Analyse des Kapitalakkumulationszyklus von Google. Einige bestehende Analysen von Google stehen in der Tradition der Politischen Ökonomie 50 . In Abschnitt 4.4 dieses Buches habe ich, ausgehend von Dallas Smythes (1981/ 2006) Konzept der Publikumsware, den Begriff der Big Data-Ware zur Analyse der politischen Ökonomie der sozialen Medien eingeführt. Google indexiert nutzergenerierten Inhalt, der ins Web hochgeladen wird, und fungiert damit als Meta-Ausbeuter aller Produzent: innen nutzergenerierter Inhalte. Ohne nutzergenerierten Inhalt von unbezahlten Nutzer: innen könnte Google keine Stichwortsuche durchführen. Daher beutet Google alle Benutzer: innen aus, die WWW-Inhalte erstellen. Nutzer: innen der Google-Dienste leisten unbezahlte produktive mehrwert-generierende Arbeit für Google. Zu diesen Arbeiten gehören zum Beispiel die Suche nach einem Schlüsselwort auf dem Suchportal von Google oder die Suche nach einem Video auf YouTube, die Suche nach einem Buch auf Google Books, die Suche nach einem Schlüsselwort auf Google, das Senden einer E-Mail über GMail, die Suche nach einem Ort auf Google Maps, das Erstellen oder Bearbeiten eines Dokuments auf GoogleDocs, die Pflege oder das Lesen eines Blogs auf Blogger, das Hochladen von Bildern auf Google Photos, die Übersetzung eines Satzes mit Google Translate, das Spielen eines Spiels auf Google Play Games, die Suche nach akademischen Arbeiten auf Google Scholar, die gemeinsame Nutzung von Daten in der Google-Cloud über Google Drive, 48 Alphabet, Proxy Statement 2023, https: / / abc.xyz/ investor/ , abgerufen am 13. Oktober 2023. 49 Datenquelle: Forbes 400 List of the Richest Americans, https: / / www.forbes.com/ forbes- 400/ , abgerufen am 13. Oktober 2023. 50 Siehe zum Beispiel: Bermejo 2009; Jakobsson and Stiernstedt 2010; Kang and McAllister 2011; Lee 2011, 2017, 2019; Mager 2012, 2014; Pasquinelli 2009; Petersen 2008; Vaidhyanathan 2011; Wasko and Erickson 2009. <?page no="163"?> 5.2 Googles politische Ökonomie 163 die Erstellung von Bildern auf Google Drawings, die Erstellung von Folien auf Google Slides, die Durchführung von Berechnungen auf Google Sheets, die Organisation von Umfragen auf Google Forms, die Verwaltung von Mailinglisten über Google Groups, die Durchführung von Videokonferenzen über Google Hangouts und so weiter. Google generiert und speichert Daten über die Nutzung dieser Dienste, um personalisierte Werbung zu ermöglichen. Es benutzt diese Daten zum Verkauf von Werbung an Werbekund: innen, die Anzeigen schalten, die auf die Aktivitäten, Suchvorgänge, Inhalte und Interessen der Nutzer: innen der Google-Dienste ausgerichtet sind. Google betreibt die wirtschaftliche Überwachung von Nutzerdaten und Nutzeraktivitäten, wodurch es die Nutzer: innen kommerzialisiert und unendlich ausbeutet und die Nutzer: innen und ihre Daten als Prosumerware im Internet an Werbekunden verkauft, um Geld zu verdienen. Google ist die ultimative wirtschaftliche Überwachungsmaschine und die ultimative Maschine zur Ausbeutung der Nutzer: innen. Es instrumentalisiert alle Nutzer: innen und alle ihre Daten zur Profiterzielung. Google zahlt nicht für den Umstand, dass es Webinhalte als Ressource verwendet, obwohl die Ergebnisse den Nutzer: innen bei der Suche nach Schlüsselwörtern zur Verfügung gestellt werden, so dass Daten über Nutzer: innen generiert werden, die an Werbekunden verkauft werden. Google profitiert monetär von der Ausweitung des Web und der nutzergenerierten Inhalte. Je mehr Websites und Inhaltes es im WWW gibt, deste mehr Inhalte und Seiten kann Google indizieren, um Suchergebnisse zu liefern. Je mehr und je bessere Suchergebnisse es gibt, desto wahrscheinlicher ist es, dass Nutzer: innen Google nutzen und mit Werbeanzeigen konfrontiert werden, die ihren Suchanfragen entsprechen und auf die sie klicken können. Je mehr Nutzer: innen es von Googles Diensten gibt, desto mehr Daten über die Nutzer: innen der Dienste werden gespeichert und ausgewertet. Google verkauft Anzeigen, die den Suchbegriffen entsprechen, an Anzeigenkunden, die um Werbepositionen konkurrieren (Google AdWords). Es gibt Auktionen für Werbeplätze, die an bestimmte Suchbegriffe und Bildschirmpositionen gebunden sind. Google legt die Mindestgebote fest. Werbungen, auf die häufiger geklickt wird, werden in der Regel an einer besseren Position auf den Google-Ergebnisseiten angezeigt (Girard 2009, 31; siehe auch die detaillierte Beschreibung des Google-Auktionsalgorithmus für Werbeanzeigen in Kapitel 5). Nutzer: innen, die Suchanfragen mit bestimmten Schlüsselwörtern durchführen, werden durch spezifische Werbungen angesprochen. Google AdSense ermöglicht es Website-Betreibern, Google-Werbungen auf ihren Websites einzubinden und für jeden Klick auf eine Anzeige Einnahmen zu erzielen. Google teilt einen Teil der Werbeeinnahmen mit den Website-Betreibern, die am AdSense-Programm teilnehmen. Die Werbungen können gezielt bestimmten Nutzergruppen präsentiert werden. Dazu sammelt Google eine Vielzahl von Informationen über die Nutzer: innen. Es führt eine Überwachung der Nutzer: innen durch. Es ist wichtig zu untersuchen, welche Art von Daten über Nutzer: innen Google sammelt, überwacht und verwertet. Google als Überwachungsmaschine und Kontrollapparat Die Überwachung von Nutzerdaten ist ein wichtiger Teil der Geschäftstätigkeit von Google. Sie wird jedoch unter Googles politische Ökonomie subsumiert, d.h. Google betreibt eine Überwachung der Nutzer: innen zum Zweck der Kapitalakkumulation. Die Google-Überwachung ist daher eine Form der wirtschaftlichen Überwachung. Im <?page no="164"?> 164 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? Jahr 2013 enthüllte Edward Snowden die Existenz eines überwachungsindustriellen- Internet-Komplexes, in dem große Kommunikationsunternehmen wie Google und Facebook mit Geheimdiensten wie der National Security Agency (NSA) zusammenarbeiten. Snowdens Enthüllungen zeigen, dass wirtschaftliche und politische Überwachung eng miteinander verknüpft sind. Google ist ein privates Unternehmen, das ein wirtschaftliches Interesse daran hat, große Datenmengen über Internet-Nutzer: innen und deren Aktivitäten zu sammeln, zu speichern und zu verwerten. Nach dem 11. September haben viele Staaten ihren Charakter als Überwachungsgesellschaften erweitert und verstärkt. Sie entwickelten die Idee, dass Terrorismus durch groß angelegte Überwachung verhindert werden kann. Deshalb gibt es sowohl ein wirtschaftliches als auch ein politisches Interesse an den Daten, die Plattformen wie Google und Facebook speichern. Geheimdienste können die auf solchen Plattformen gesammelten Daten abgreifen. Die Überwachung ist jedoch nicht auf Plattformen wie Google und Facebook beschränkt. In China gibt es ein eigenes Überwachungssystem, das nicht nur auf Internetplattformen, sondern auf einer allgemeineren Ebene funktioniert: die Great Firewall of China. Sie überwacht, filtert und zensiert die gesamte Internetkommunikation in China. Die Motivation ist in erster Linie politischer Natur. In China findet eine allgemeine politische Überwachung der gesamten Internetkommunikation statt. Darüber hinaus führen private Plattformen eine Überwachung der Nutzer: innen durch, um Kapital zu akkumulieren. Google verwendet einen leistungsstarken Suchalgorithmus. Die Details des Page- Rank-Algorithmus sind geheim. Kleine, automatisierte Programme (Webspiders) durchsuchen das WWW, der Algorithmus analysiert alle gefundenen Seiten, zählt die Anzahl der Links zu jeder Seite, identifiziert Schlüsselwörter für jede Seite und erstellt eine Rangfolge ihrer Wichtigkeit. Die Ergebnisse können über die einfache Benutzeroberfläche, die Google zur Verfügung stellt, kostenlos genutzt werden. Google entwickelt immer neuere Dienste, die wiederum kostenlos angeboten werden. Der Page- Rank-Algorithmus ist eine Form der Überwachung, die das WWW durchsucht, bewertet und indexiert. Google hat sich zu einer Suchkultur entwickelt, die sich darin ausdrückt, dass die Leute, wenn sie etwas herausfinden wollen, sagen: „Ich werde das googeln“, „Ich muss das bei Google nachschauen“ oder „Ich werde etwas darüber recherchieren [was bedeutet, dass man es googeln wird]“. Das Problem dieser Suchkultur ist, dass sie auf einem proprietären Algorithmus basiert, der Google gehört und dessen Quellcode nicht öffentlich zugänglich ist und der nicht mit Blick auf das öffentliche Interesse entwickelt wurde. Er ist daher offen für Manipulationen und privilegiert im Allgemeinen die Akteure, die viel Online-Sichtbarkeit haben, gegenüber denen, die kulturell weniger mächtig sind. Das Prinzip der Privilegierung der kulturell Mächtigen bedeutet, dass Nutzer: innen, wenn sie auf der ersten oder zweiten Ergebnisseite von Google jemanden oder etwas nicht finden, manchmal dazu neigen, es als nicht existent zu deklarieren. Google ist dadurch zu einem mächtigen Mechanismus geworden, der konstruiert, wie die Nutzer: innen die Realität sehen. Dass etwas nicht auf der ersten Ergebnisseite von Google steht, schließt jedoch nicht aus, dass es für viele Menschen sinnvoll und wichtig ist oder sein kann. Astrid Mager (2012, 2014) charakterisiert den Suchalgorithmus von Google als algorithmische Ideologie, die in den Algorithmus eingebaut ist und hegemonial durch die Suchpraktiken der Nutzer: innen reproduziert wird. <?page no="165"?> 5.3 Googologie: Google und Ideologie 165 Die Diskussion zeigt, dass Google als Unternehmen nicht nur wirtschaftlich mächtig ist, sondern dass seine wirtschaftliche Macht und Überwachung mit politischer Überwachung und kultureller Kontrolle der Realitätsdefinition verknüpft sind. Google ist eine Überwachungsmaschine und ein Kontrollapparat. 5.3 Googologie: Google und Ideologie Die Ideologie von Googles Datenschutzerklärung Google ist ein rechtmäßig eingetragenes Unternehmen mit Hauptsitz in Mountain View, Kalifornien in den Vereinigten Staaten von Amerika. Seine Datenschutzbestimmungen sind ein typischer Ausdruck der Ideologie der Selbstregulierung, bei der der Staat Unternehmen erlaubt, alles zu tun, was sie wollen. Beim Datenschutz können sie es sich dann selbst richten, wie sie persönliche Nutzerdaten verarbeiten. „Die Selbstregulierung wird immer unter der Wahrnehmung leiden, dass sie eher symbolisch als real ist, weil diejenigen, die für die Umsetzung verantwortlich sind, diejenigen sind, die ein persönliches Interesse an der Verarbeitung personenbezogener Daten haben“ (Bennett und Raab 2006, 171). Die Nutzungsbedingungen und Datenschutzbestimmungen von Google sind die rechtlichen Grundlagen der wirtschaftlichen Nutzerüberwachung. Google sammelt Daten über das Verhalten seiner Nutzer: innen auf seinen eigenen Plattformen und im gesamten WWW. In den Datenschutzbestimmungen von Google ist festgelegt, dass das Unternehmen die persönlichen Daten der Nutzer: innen verwenden darf, um ihnen personalisierte Werbung zu zeigen: „We use the information we collect to customize our services for you, including providing recommendations, personalized content, and customized search results. […] Depending on your settings, we may also show you personalized ads based on your interests. For example, if you search for ‘mountain bikes’, you may see an ad for sports equipment on YouTube. […] We use automated systems that analyze your content to provide you with things like customized search results, personalized ads, or other features tailored to how you use our services. […] We may combine the information we collect among our services and across your devices for the purposes described above. For example, if you watch videos of guitar players on YouTube, you might see an ad for guitar lessons on a site that uses our ad products. Depending on your account settings, your activity on other sites and apps may be associated with your personal information in order to improve Google’s services and the ads delivered by Google” (Google Privacy Policy, version from January 15, 2024). Google nutzt Datenschutzbestimmungen und Nutzungsbedingungen, die eine groß angelegte wirtschaftliche Überwachung der Nutzer: innnen zum Zwecke der Kapitalbildung ermöglichen. Werbekunden von Google, die Google AdWords verwenden, können Anzeigen beispielsweise nach Stichwörtern, Land, dem genauen Standort der Nutzer: innen und der Entfernung von einem bestimmten Ort, der Sprache der Nutzer: innen, der Art des verwendeten Geräts (Desktop-/ Laptop-Computer, Mobilgerät (spezifizierbar)), dem verwendeten Mobilfunkbetreiber (spezifizierbar), dem Geschlecht oder der Altersgruppe zielgerichtet schalten. Wenn man kein Google-Konto anmeldet, sondern einfach nur bei Google sucht, werden automatisch zielgerichtete Werbungen aktiviert. In den Google-Anzeigeneinstellungen können die Nutzer: innen personalisierte Werbung deaktivieren (https: / / adssettings.google.com). Da es sich um eine Opt-out- und nicht um eine Opt-in-Option <?page no="166"?> 166 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? handelt, ist es unwahrscheinlich, dass der große Teil der Nutzer: innen davon Gebrauch macht. Wenn man nicht bei Google angemeldet ist, muss man diese Einstellungen außerdem in jedem Browser und auf jedem Gerät, das man verwendet, separat aktivieren. Die Standardeinstellung ist maximale Personalisierung und Datenerfassung. Die Nutzer: innen müssen Maßnahmen ergreifen, um die Überwachung zu reduzieren. Ein Opt-out führt nicht zur Freiheit von der Online-Werbung, sondern zur Bereitstellung nicht-personalisierter Werbung. Bei der Registrierung eines neuen Google-Kontos kann man auswählen, ob personalisierte Werbung oder „allgemeine Werbung“ angezeigt werden soll. Google listet die Option „Personalisierte Werbung einblenden“ an erster und „Allgemeine Werbung einblenden“ an zweiter Stelle auf. Es wird auch darauf hingewiesen, dass die Werbungen, die bei der zweiten Option angezeigt werden, „möglicherweise weniger relevant“ sind. Die Informationen sind nicht neutral formuliert. Die Reihenfolge der Optionen soll dazu führen, dass mehr Nutzer: innen personalisierte Werbung auswählen. In Anbetracht der Tatsache, dass es über viele Jahre hinweg viel öffentliche Kritik an der Verletzung der Privatsphäre durch Internetplattformen gegeben hat, gab es eine Entwicklung von Google und anderen Plattformen, die zunächst keine Opt-out-Möglichkeit für gezielte Werbung anboten, dann eine Opt-out-Möglichkeit mit Opt-in für personalisierte Werbung als Standardoption anboten und schließlich die Nutzer: innen bei der Registrierung eines Google-Kontos zwischen Opt-in und Opt-out wählen ließen. Man muss ein Google-Konto registrieren, um zwischen dem Opt-in und dem Opt-out für zielgerichtete Werbung wählen zu können. Komplexe Nutzungsbedingungen Die Datenschutzbestimmungen von Google/ YouTube aus dem Jahr 2011 (Version vom 20. Oktober 2011) hatten 10.917 Zeichen, während die Datenschutzbestimmungen für 2012 (Version vom 27. Juli 2012) 14.218 Zeichen enthielten, was einem Anstieg von rund 30 Prozent entspricht. Die Version vom 19. August 2015 besteht aus 17.380 Zeichen, was einer Zunahme von 22 Prozent im Vergleich zur Ausgabe von 2012 entspricht. Die Version vom 15. Oktober 2019 hat 29.182 Zeichen und ist damit 68 Prozent länger als die Version von 2015. Die Version vom 15. Dezember 2022 hat 54.829 Zeichen. Die Datenschutzbestimmungen von Google aus dem Jahr 2022 sind 88 Prozent länger als die Version von 2019 und 167 Prozent länger als die Version von 2011. Die Version, die am 15. Januar 2024 in Kraft trat, 61.273 Zeichen lang, was eine weitere Steigerung um 12 Prozent bedeutet im Vergleich zur Version von Dezember 2022. Die Datenschutzbestimmungen von Google haben an Länge und Komplexität zugenommen. Dadurch wird es für die Nutzer: innen schwieriger zu verfolgen, wie das Unternehmen mit personenbezogenen Daten umgeht. Algorithmen der Unterdrückung In ihrem Buch Algorithms of Oppression: How Search Engines Reinforce Racism , zeigt Safiya Umoja Noble (2018), dass Googles Algorithmen die Fehldarstellung und Fehlklassifizierung in Form von diskriminierenden, rassistischen, sexistischen, frauenfeindlichen und hasserfüllten Suchergebnissen bei Suchanfragen, die mit People of Colour, schwarzen Frauen und Juden/ Jüdinnen zu tun haben, bei der Verwendung von Schlüsselwörtern wie „schwarze Mädchen“, „schön“, „hässlich", „warum sind Schwarze so“ usw. vorangetrieben haben. Sie zeigt, dass „algorithmische Unterdrückung nicht nur ein Fehler im System ist, sondern vielmehr grundlegend für das Betriebssystem des Webs“ (10). <?page no="167"?> 5.3 Googologie: Google und Ideologie 167 Google hat die Position eingenommen, dass seine Algorithmen neutral sind und dass es nicht schuld ist an den Ergebnissen, die die Algorithmen produzieren. Google manipuliert Ergebnisse, wenn seine Anzeigenkunden dafür bezahlen, ist jedoch skeptisch, was die Korrektur der in den Algorithmen verankerten Bias anbelangt. Googles Algorithmen sind proprietär, was bedeutet, dass sie eine Black Box sind, die nicht öffentlich untersucht und diskutiert werden kann. „Aufgrund des Mangels an Afroamerikaner: innen und Menschen mit tieferen Kenntnissen der schmutzigen Geschichte des Rassismus und Sexismus im Silicon Valley, werden Produkte ohne sorgfältige Analyse ihrer möglichen Auswirkungen auf eine Vielzahl von Menschen entwickelt. Wenn die Software-Ingenieure von Google nicht für das Design ihrer Algorithmen verantwortlich sind, wer ist es dann“ (66). Initiativen, bei denen schwarze Mädchen „lernen, wie man programmiert“, reichen laut Noble nicht aus, da es grundlegende strukturelle Probleme des Kapitalismus und Rassismus gibt, die das Silicon Valley prägen (66). Algorithmischer Rassismus Land Geschlecht Vorgeschlagenes Cost-per- Click-Gebot, in US-Dollar USA männlich 3,59 USA weiblich 3,55 Norwegen männlich 4,48 Norwegen weiblich 4,27 Zentralafrikanische Republik männlich 0,23 Zentralafrikanische Republik weiblich 0,17 Demokratische Republik Kongo männlich 0,23 Demokratische Republik Kongo weiblich 0,20 Malawi männlich 0,35 Malawi weiblich 0,26 Tabelle 5.3: Das von Facebook vorgeschlagene Cost-per-Click-Gebot für Benutzer: innen ab 18 Jahren, basierend auf Standort und Geschlecht (Datenquelle: Facebook-Anzeigen- Manager, Zugriff am 30. Oktober 2016). Rassismus, Nationalismus, Sexismus und andere Ideologien können für bestimmte Gruppen in der Gesellschaft, in der Regel weiße Männer, wirtschaftliche, politische und kulturelle Vorteile bringen. Wie hängt dieser Ansatz mit dem Bereich der digitalen Arbeit zusammen? Eileen Meehan (2002) führte den Begriff der geschlechtsspezifischen Publikumsware ein. Die Werbeindustrie neigt dazu, Werbung auf Sexismus zu gründen und „jeden außerhalb der Publikumsware weißer, 18bis 34-jähriger, heterosexueller, englischsprachiger, gehobener Männer zu diskriminieren“ (Meehan 2002, 220). Norwegen und die USA gehören zu den reichsten und am weitesten entwickelten Ländern der Welt, während die Zentralafrikanische Republik, die Demokratische Republik Kongo und Malawi zu den drei ärmsten Ländern gehören. Tabelle 5.3 zeigt das vom Facebook-Anzeigenmanager vorgeschlagene Cost-per-Click-Gebot anzeigt, das <?page no="168"?> 168 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? man bei der Werbeflächenversteigerung auf Facebook bieten sollte, wenn man Nutzern eines bestimmten Geschlechts in einem bestimmten Land Werbung präsentieren will. Versicherungsbezogene Begriffe sind die teuersten Suchwörter für Werbung bei Google 51 . Mit dem Google Keyword Planner kann man die durchschnittlichen Mindest- und Höchstgebote für bestimmte Keywords in bestimmten Ländern ermitteln. Ich habe dieses Tool verwendet, um herauszufinden, wie viel der Kauf des obersten Google-Suchanzeigenplatzes in einer algorithmischen Gebotsauktion von Google mindestens und maximal kostet. Die Ergebnisse sind in Tabelle 5.4 dargestellt. Das Schlüsselwort wurde in der in dem jeweiligen Land vorherrschenden Sprache verwendet. Die Ergebnisse zeigen, dass Werbungen, die mit der Suche nach „Versicherung“ kombiniert werden, in reichen Ländern viel teurer sind als in armen Ländern. Land HDI 2022 Sprache der Schlagwortsuche Schlüsselwort "Versicherung": Top of page bid: minimale und maximale Kosten für Platzierung der Werbung oben am Bildschirm Global 0,99-10,32 Norwegen 2 Norwegisch 1,81-4,19 Island 3 Isländisch 0,76-2,25 Australien 5 Englisch 1,75-12,79 Dänemark 6 Dänisch 4,21-7,85 Schweden 7 Schwedisch 1,35-4,47 Irland 8 Englisch 2,25-5,88 Deutschland 9 Deutsch 1,96-3,71 Großbritannien 18 Englisch 1,17-3,12 USA 21 Englisch 3,40-14,17 Südsudan 191 Englisch 0,17-2,59 Niger 189 Französisch 0,09-1,39 Mali 186 Französisch 0,04-1,54 Mosambik 185 Portugiesisch 0,13-0,50 Sierra Leone 181 Englisch 0,09-0,32 Demokratische Republik Kongo 179 Französisch 0,05-0,89 Liberia 178 Englisch 0,78-1,63 Nigeria 163 Englisch 0,10-0,76 Tabelle 5.4: Minimale und maximale Preise für das Schlüsselwort „Versicherung“ in ausgewählten reichen und armen Ländern (das Schlüsselwort „Versicherung“ wurde in der landesweit dominierenden Sprache verwendet) Datenquelle: Daten von Google Keyword Planner, abgerufen am 5. Juni 2023 51 Datenquelle: https: / / www.wordstream.com/ articles/ most-expensive-keywords, abgerufen am 5. Juni 2023. <?page no="169"?> 5.4 Arbeit bei Google 169 Die Daten deuten darauf hin, dass die Algorithmen von Facebook und Google auf einer klassistischen, sexistischen und rassistischen Logik basiert, indem sie davon ausgehen, dass Nutzer: innen in ärmeren Ländern und ärmere Nutzer: innen weniger wertvolle Konsument: innen sind, d.h. weniger wahrscheinlich auf Anzeigen klicken und beworbene Waren kaufen, als männliche Nutzer und Nutzer; innen in reichen Ländern. Die Datenware ist von der Klassengesellschaft, geschlechtsspezifisch und rassistisch geprägt. Die von Kylie Jarrett (2016) als digitale Hausfrauen bezeichneten Nutzer: innen, die unbezahlt arbeiten, so wie es Hausfrauen traditionell getan haben, werden nicht nur vom Digitalkapital ausgebeutet, sondern diese Ausbeutung wird mit patriarchalischer und rassistischer algorithmischer Diskriminierung kombiniert, die davon ausgeht, dass die arme und die weibliche digitale Hausfrau ökonomisch weniger wert ist als die männliche, reiche digitalen Hausfrau. Daher geht sie davon aus, dass der Preis für einen Klick des „minderwertigen Publikums“ geringer sein sollte als der des „überlegenen Publikums“. Als nächstes werden wir einige Aspekte der Arbeit bei Google analysieren. 5.4 Arbeit bei Google Bei Google arbeiten: Spaß und gutes Essen? Wie ist es, bei Google zu arbeiten? In der Beschreibung seiner Unternehmenskultur verspricht das Google, dass es viel Spiel und Spaß im Unternehmen gibt. Außerdem sei das Essen großartig und kostenlos und interessante Leute würden das Unternehmen besuchen: „Our headquarters has come a long way from its humble roots in a Menlo Park garage, but our innovative Silicon Valley spirit is stronger than ever. On our largest campus, we work on cutting-edge products that are changing the way billions of people use technology. Onsite benefits like fitness and wellness centers embody our philosophy that taking care of Googlers is good for all of us. Build team skills with a group cooking class or coffee tasting, ride a gBike to one of our cafés, or work up a sweat in a group class. Here at the Googleplex, we’re looking for innovators, collaborators, and blue-sky thinkers. We’re looking for you” 52 . Die Realität der Arbeit bei Google: lange Arbeitszeit Ist die Realität der Arbeit bei Google so, wie es das Unternehmen verspricht? Ich habe Googles Behauptungen empirisch getestet. Glassdoor ist eine Internet-Plattform, die sich folgendermaßen beschreibt: „a free jobs and career community that offers the world an inside look at jobs and companies“ 53 . Die Plattform betreibt eine „database of company reviews, CEO approval ratings, salary reports, interview reviews and questions, benefits reviews, office photos and more. Unlike other job sites, all of this information is shared by those who know a company best - the employees” 54 . Ich analysierte Jobbewertungen für Google, die einen Jobtitel in Verbindung mit dem 52 www.google.co.uk/ about/ careers/ locations/ mountain-view/ , abgerufen am 3. Juni 2023. 53 http: / / www.glassdoor.com/ about/ index_input.htm, abgerufen am 15. März 2013. 54 https: / / www.glassdoor.com/ about-us/ , abgerufen am 23. Oktober 2019. <?page no="170"?> 170 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? Schlüsselwort „Software“ enthielten. Dies ergab insgesamt 307 Stellenanzeigen, die zwischen dem 5. Februar 2008 und dem 15. Dezember 2012 geschrieben wurden. Darüber hinaus analysierte ich einen Thread auf der Social-News-Plattform reddit (www.reddit.com/ ), in dem Menschen gebeten wurden, anonym über die Arbeitsbedingungen bei Google zu berichten 55 . Ich suchte und analysierte Postings, in denen Arbeiter: innen über Arbeitszeitfragen sprachen. Die 307 Postings bei Glassdoor wurden zwischen dem 5. Februar 2008 und dem 15. Dezember 2012 geschrieben. Daraus ergab sich eine Stichprobe von 75 Postings, 10 aus dem reddit Thread und 65 von Glassdoor. Glassdoor berechnet Gehaltsdurchschnitte für bestimmte Arbeitspositionen. Am 17. Januar 2013 betrug das Durchschnittsgehalt für einen Google-Software-Ingenieur laut Glassdoor in den USA 112.915 Dollar (N = 2744) und für einen leitenden Software- Ingenieur 144.692 Dollar (N = 187). Im November 2015 belief sich das Durchschnittsgehalt für einen Google-Software-Ingenieur in den USA laut Glassdoor auf 127.227 Dollar (N = 4879) und für einen leitenden Software-Ingenieur auf 162.171 Dollar (N = 435) 56 . Im Januar 2024 lag das durchschnittliche Gehalt eines Google-Software-Ingenieurs in den USA bei 253.301 Dollar ( N= 45,705) und für einen leitenden Software- Ingenieur bei 332.630 Dollar ( N= 2,747) 57 . Das durchschnittliche Gehalt eines Anwendungssoftware-Entwicklers im Jahr 2012 in Kalifornien war 105.806 Dollar und im Jahr 2015 121.646 Dollar (Datenquelle: State of California Employment Development Department 58 ), Im Jahr 2023 betrug das durchschnittliche Gehalt eines Software-Ingenieurs in Kalifornien 189.587 Dollar 59 . Die Daten zeigen, dass Google Gehälter zu zahlen scheint, die deutlich über dem Durchschnitt liegen. In der durchgeführten Analyse wurden in 18 Postings positive Aspekte der Arbeitszeit bei Google erwähnt: 14 (78 Prozent) von ihnen gaben an, dass sie es schätzen, dass es flexible Arbeitszeiten gibt. Eine Minderheit gab an, dass es eine gute Work-Life-Balance gibt (3,17 Prozent) oder dass sie regelmäßig acht Stunden am Tag arbeiten (1,5 Prozent). Achtundfünfzig Postings erwähnten negative Aspekte der Arbeitszeiten bei Google. Das Thema, auf das sich alle diese 58 Postings ausschließlich in Bezug auf die Arbeitszeit konzentrierten, waren lange Arbeitszeiten und eine daraus resultierende schlechte Work-Life-Balance. Das Bild, das sich aus dieser Analyse ergibt, ist, dass Googles Angestellte sehr viele Überstunden machen und dass sie das Gefühl haben, dass die angenehme Arbeitsumgebung mit kostenlosem Essen, Sporteinrichtungen, Restaurants, Cafés, Veranstaltungen, Tech-Talks und anderen Vergünstigungen die Mitarbeiter: innen dazu ermutigt, länger zu bleiben und zu arbeiten, und dass lange Arbeitszeiten nicht etwas sind, das formell vom Management diktiert wird, sondern dass sie vielmehr in die Unternehmenskultur eingebaut sind. Es besteht ein großer Gruppendruck durch Kolleg: innen, die viele Stunden arbeiten. Google gibt bei der Beschreibung seiner Unternehmenskultur indirekt zu, dass die Arbeitzeit untypisch ist: „Despite our size and expansion, 55 http: / / www.reddit.com/ r/ AskReddit/ comments/ clz1m/ google_employees_on_ reddit_ fire_up_your_throwaway, abgerufen am 26. September 2016. 56 http: / / www.glassdoor.com, abgerufen am 4. November 2015. 57 https: / / www.glassdoor.com/ , abgerufen am 16. Januar 2024. 58 https: / / www.edd.ca.gov/ , abgerufen am 3. Mai 2020. 59 https: / / labormarketinfo.edd.ca.gov/ , abgerufen am 16. Januar 2024. <?page no="171"?> 5.4 Arbeit bei Google 171 Google still maintains a start-up culture. Google is not a conventional corporation, and our workdays are not the typical 9 to 5” 60 . Bei der Arbeit an der dritten englischen Auflage dieses Buches im Jahr 2019 habe ich mir noch einmal die Kommentare zu den Arbeitszeiten bei Google auf Glassdoor angesehen. Ich suchte nach allen Kommentaren von Google-Ingenieuren und Ingenierinnen, die zwischen dem 1. Januar und dem 23. Oktober 2019 auf Glassdoor abgegeben wurden. Ich fand 46 Kommentare, die sich explizit auf die Arbeitszeit bezogen. 33 (72%) von ihnen hatten negativen Charakter. Das einzige Thema, das in Bezug auf die Arbeitszeiten erwähnt wurde, war wiederum die Kultur der langen Arbeitszeiten. Hier sind einige Beispielkommentare: „Google is evil, long hours sometimes”. „Was very hard work that would sometimes take weekends”. „Lack of free time”. „no work-life balance” „terrible work/ life balance”. „Hours - you are expected to give everything to the company; little time for a personal life”. „Very stressing job and much overtime”. „Heavy workload. Staying at the office until the late hours just trying to get work done”. „Stop burying people in work and burning out engineers”. „Work/ life balance is nearly non-existent and, as a result, there are increasing levels of burnout within the organization”. „Prepare to work all day and night long” Im Jahr 2023, als ich die vierte englische Auflage dieses Buches schrieb, führte ich eine weitere Suche nach Google-Jobbewertungen auf Glassdoor durch. Ich filterte die Bewertungen mit dem Schlüsselwort hour* und konzentrierte mich auf die Analyse aller Stellenanzeigen, die in dem Fünfmonatszeitraum vom 1. Januar 2023 bis zum 31. Mai 2023 veröffentlicht wurden 61 . Die Suche führte zu N=145 Beiträgen. In 112 von 145 Beiträgen gab es negative Kommentare zu den Arbeitszeiten und der Work-Life- Balance bei Google, was einem Anteil von 77,2 Prozent entspricht. Hier sind einige Beispiele: „Long hours tiring and stressful”; „toxic work culture that leaves people working all hours. Recent layoffs have left people at all levels afraid to say no, making everything worse”; „Lots of hours Always working Never off ”; „Bad managers and long hours”; „Depending on your team, the culture can get a bit toxic (as in work hours and the fact that all their benefits and pros are just ways to get you to work even more). So I will admit that it is kinda a cult lol”; „High pressure environment and long hours”; 60 Google culture. https: / / www.google.com/ intl/ en/ jobs/ students/ lifeatgoogle/ culture/ , abgerufen am 15. März 2013. 61 Datenquelle: http: / / glassdoor.com, Suche durchgeführt am 2. Juni 2023. <?page no="172"?> 172 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? „I guess the old ‘Don't be evil’ mantra died a long time ago here. Get ready to work long hours and have no vacation time, too.”; „People who push back on only working 100% of the time are seen as ‘not a team player’. Don’t be fooled - free lunches, remote work setups, and massages are just ways to keep you overworking.”; „horrible work-life balance and bad hours”; „Work lots of hours. Meetings all day and evenings spent following up in email. Constant fires that disrupt your day and everything is urgent.”; „mentally draining long hours no work life balance”; „Advice to Management: More time off ”. Im Zeitraum zwischen 2012 und 2023 haben sich die Dinge bei Google nicht geändert: Die Mitarbeiter: innen mögen es, in einem Unternehmen mit hohem Ansehen zu arbeiten, finden ihre Arbeitsaufgaben interessant, mögen die Vergünstigungen wie kostenloses Essen und hassen die Arbeitszeit, die vielen Überstunden und die mangelnde Work-Life-Balance. Arbeit bei Google bedeutet Leben bei Google: Google als Arbeit, Google als Freizeit, Google als Leben. Das bedeutet, dass die Google-Arbeiter: innen kein Leben außerhalb des Unternehmens haben. Wenn das Unternehmen, für das man arbeitet, zum Leben wird, so ist dies das Ende eines guten Lebens. Es ist ein beschädigtes Leben. Viele Überstunden? Macht nichts, schlafen Sie einfach unter Ihrem Schreibtisch, wie die ehemalige Google-Vizepräsidentin Marissa Mayer ... Wohin können lange Arbeitszeiten und viele Überstunden führen? Dazu, dass Mitarbeiter: innen unter ihrem Schreibtisch schlafen, um die Leistung zu maximieren. Die ehemalige Google-Vizepräsidentin Marissa Mayer berichtet über ihre Zeit bei Google: „Ein Teil von Google war, dass es die richtige Zeit war und wir eine großartige Technologie hatten, aber der andere Teil war, dass wir wirklich, wirklich hart gearbeitet haben. [...] Es waren 130-Stunden-Wochen. Die Leute sagen: ‚Es gibt nur 168 Stunden in einer Woche, wie schaffen Sie das? ‘ Nun, wenn man strategisch vorgeht, wann man duscht und unter dem Schreibtisch schläft, kann man es schaffen” (Walker 2012). Die letzte Konsequenz eines solchen Verhaltens ist, dass es kein Leben außerhalb von Google gibt - das Leben wird zu Google. Es ist dann sehr eindimensional. Einerseits neigen Google-Mitarbeiter: innen dazu, lange Arbeitszeiten zu haben und viele Überstunden zu machen, während andererseits die Bürozeiten völlig flexibel sind und das Management es nicht als negativ empfindet, wenn jemand nicht von 9 bis 17 Uhr arbeitet. Was an Google sehr auffällig ist, ist eine Managementstrategie, die weiche und soziale Formen des Zwangs einsetzt: Es gibt keine formale vertragliche Verpflichtung, Überstunden zu leisten, aber die Unternehmenskultur basiert auf projektbezogener Arbeit, sozialem Druck zwischen Kolleg: innen, Wettbewerb, positiver Identifikation mit der Arbeit, einer Spaß- und Spielkultur, leistungsabhängiger Beförderung, Anreizen dazu, lange am Arbeitsplatz zu bleiben (Sport, Restaurants, Cafés, Massagen, soziale Veranstaltungen, Vorträge usw.) und einer Verwischung der Grenzen zwischen Arbeit und Spiel. Infolgedessen neigen die Mitarbeiter: innen dazu, viel und lange zu arbeiten, ihre Work-Life-Balance wird gestört und Google wird zum Synonym für das Leben selbst: die Lebenszeit wird zur Arbeitszeit und zu Zeit, die damit verbracht wird, Wert für Google zu schaffen. <?page no="173"?> 5.4 Arbeit bei Google 173 Google ist ein prototypisches Unternehmen für die Verwirklichung dessen, was Luc Boltanski und Éve Chiapello (2003) den neuen Geist des Kapitalismus nennen 62 - die antiautoritären Werte der politischen Revolte von 1968 und der später entstehenden Neuen Linken, wie Autonomie, Spiel, Freiheit, Spontaneität, Mobilität, Kreativität, Vernetzung, Visionen, Offenheit, Pluralität, Informalität, Authentizität und Emanzipation, sind unter die Logik des Kapitals subsumiert worden. Die Studentenbewegung von 1968 forderte, „das menschliche Potenzial an Autonomie, Selbstorganisation und Kreativität freizusetzen” (Boltanski & Chiapello 2003, 84). Diese moralischen Werte werden heute in der Kulturarbeit verwirklicht, allerdings um den Preis von Ungleichheiten, mangelnder Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Stress, Unsicherheit usw. Boltanski und Chiapello argumentieren, dass die neuen Managementmethoden Arbeit auf Projektbasis organisieren: „In der neuen Welt ist alles möglich, weil Kreativität, Reaktivität und Flexibilität als neue Schlagwörter gelten. Niemand ist mehr durch seine Zugehörigkeit zu einer Abteilung limitiert oder der Macht eines Chefs völlig unterstellt, denn alle Grenzen sind kraft der Projekte übertretbar” (134). Die beiden Autoren kritisieren, dass die neuen Formen des Managements zwar Kreativität und Partizipation fördern und dabei die Sprache der 68er-Bewegung missbrauchen, die reale Arbeitswelt aber zu Überlastung, Prekarität, mangelnder Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Ungleichheit usw. führt. Absolute Mehrwertproduktion bei Google In der Frühzeit des Kapitalismus, die Marx in Das Kapital Band 1 (1867) beschreibt, wurde die Verlängerung des Arbeitstages durch Kontrolle, Überwachung, Disziplinarmaßnahmen und Legitimation durch staatliche Gesetze erreicht (siehe Fuchs 2016a & 2017e, Kapitel 10, für eine detaillierte Diskussion der Marxschen Analyse des Arbeitstages im Kapitalismus und der Kämpfe um die Verkürzung der Arbeitszeit). Der Preis dafür war eine Zunahme von Klassenkämpfen, die auf eine Arbeitszeitverkürzung drängten. Googles Hauptmethode zur Steigerung der Mehrwertproduktion ist ebenfalls die absolute Mehrwertproduktion, d.h. die Verlängerung des Arbeitstages, aber sie verfolgt einen anderen Ansatz: Der Zwang ist ideologisch und sozial, er ist in die Unternehmenskultur des Spaßes und der Spielarbeit (Playbour) eingebaut und wird auch durch Gruppendruck ausgeübt. Das Ergebnis ist, dass die durchschnittliche Gesamtarbeitszeit und die unbezahlten Arbeitsstunden pro Arbeitnehmer tendenziell steigen. Marx beschrieb diesen Fall als eine spezifische Methode der absoluten und relativen Mehrwertproduktion, bei der die Produktivität und Intensität der Arbeit konstant bleiben, während die Länge des Arbeitstages variabel ist: wenn der Arbeitstag verlängert wird und der Preis der Arbeit (Löhne) gleichbleibt, „wächst mit der absoluten die relative Größe des Mehrwerts. Obgleich die Wertgröße der Arbeitskraft absolut unverändert bleibt, fällt sie relativ. [...] Hier [...] ist der relative Größenwechsel im Wert der Arbeitskraft das Resultat eines absoluten Größenwechsels des Mehrwerts” (Marx 1867, 549). Was Marx in dieser Passage erklärt, ist, dass die Löhne relativ gesehen eher sinken, je mehr Überstunden die Arbeitnehmer unbezahlte Überstunden leisten, weil sie dann zusätzlichen Mehrwert und Profit schaffen. Angesichts des großen Anteils von Kom- 62 Für eine Anwendung dieses Konzepts auf die Kritik von Internet-Ideologien siehe Fisher 2010a, 2010b. <?page no="174"?> 174 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? mentaren, die besagen, dass lange Arbeitszeiten bei Google üblich sind, ist es offensichtlich, dass Google die absolute Mehrwertproduktion nutzt. Der Fair US Labor Standards Act (Abschnitt 13 (a) 17) sieht eine Befreiung der Unternehmen von Überstundenbezahlung für Computersystemanalytiker: innen, Softwareingenieure und -ingenieurinnen oder ähnliche Arbeiter: innen vor, wenn sie mindestens 27,63 US-Dollar pro Stunde verdienen. Diese Regelung gilt mit Sicherheit für die Software-Ingenieure bei Google. Laut Glassdoor verdiente ein durchschnittlicher Junior-Software-Ingenieur, der in den USA für Google arbeitet, im Jahr 2023 176.000 US-Dollar pro Jahr 63 . Nehmen wir an, ein solcher Software-Ingenieur leistet im Durchschnitt 25 unbezahlte Überstunden pro Woche zusätzlich zu den üblichen 40 Stunden pro Woche. Der Wochenlohn beträgt 3.385 US-Dollar (50 x 25 = 1,250). Berechnet auf der Grundlage einer 40-Stunden- Woche beträgt der Stundenlohn 85 US-Dollar. Wenn der Angestellte 50 Wochen im Jahr arbeitet, dann schafft er 1.250 unbezahlte Überstunden im Wert von 106,250 US- Dollar, wenn man davon ausgeht, dass eine Stunde mit 85 US$ bezahlt wird. Die bezahlte Arbeitszeit beträgt 40 Stunden x 52 Wochen = 2.080 Stunden pro Jahr. Die unbezahlte Mehrarbeitszeit beträgt 1.250 Stunden pro Jahr. Die gesamte Jahresarbeitszeit beträgt also 2.080 + 1.250 = 3.330 Stunden. Die 3.330 Stunden werden mit nur 176.000 US$ vergütet, was bedeutet, dass der tatsächliche Stundenlohn des Arbeiters von 63 US$ auf nur 39,53 US$ pro Stunde sinkt (176.000 US$ Jahresgehalt / 3.300 Stunden). Je mehr unbezahlte Überstunden die Softwareentwickler: innen machen, desto niedriger wird der tatsächliche Stundenlohn, da es keine Überstundenvergütung gibt. Proteste und Organisation Am 1. November 2018 verließen mehr als 20.000 Google-Mitarbeiter: innen auf der ganzen Welt das Unternehmen, um gegen sexuelle Belästigung und den Umgang des Unternehmens mit solchen Fällen zu protestieren. Ebenfalls im Jahr 2018 unterzeichneten 1.400 Google-Mitarbeiter eine interne Petition, in der sie moralische Bedenken bezüglich der Pläne für eine zensierte Suchmaschine für China äußerten. Im August 2019 unterzeichneten mehr als 1.000 Google-Mitarbeiter eine Petition, in der sie das Unternehmen unter Berufung auf Menschenrechtsverletzungen aufforderten, nicht für die US-Einwanderungs- und Grenzbehörden zu arbeiten. Im Mai 2019 organisierten Google-Mitarbeiter: innen Sitzstreiks als Proteste gegen die Vergeltungsmaßnahmen des Unternehmens gegen protestierende Arbeiter: innen (Lecher 2019). Bloomberg berichtete im Oktober 2019, dass Google-Mitarbeiter: innen die Schaffung eines Tools kritisierten, das die Raumreservierung von Mitarbeiter: innen überwacht und mit dessen Hilfe potenzielle Versuche der Arbeitenden, sich gewerkschaftlich oder anderswertig politisch zu organisieren, überwacht werden können (Gallagher 2019). Die gewerkschaftliche Organisationsgrad ist im Technologiesektor historisch gesehen äußerst gering. Der Google-Arbeiter Andrew Normal Wilson entdeckte, dass prekäre Arbeiter: innen im Googleplex beschäftigt wurden. Er drehte ein Video darüber und wurde entlassen 64 . Das Video enthüllte die Existenz einer unterprivilegierten, prekären Schattenbelegschaft bei Google. Das Video mit dem Titel „Workers Leaving the Googleplex“ verbreitete sich im Internet. Der Titel ist eine Anspielung auf den Film „Arbeiter 63 Datenquelle: http: / / www.glassdoor.com, abgerufen am 5. Juni 2023. 64 https: / / vimeo.com/ 15852288, abgerufen am 24. Oktober 2019. <?page no="175"?> 5.4 Arbeit bei Google 175 verlassen die Fabrik“ der Brüder Lumière aus dem Jahr 1895, einem der ersten Filme, die je gedreht wurden. Heute gibt es bei Google mehr Zeitarbeiter: innen und Leiharbeiter: innen als reguläre Angestellte (Wakabayashi 2019, Wong & Koran 2019). Sie werden von Agenturen angestellt, zu Google entsandt und verfügen häufig nicht über eine ausreichende medizinische Versorgung (Bergen & Eidelson 2018). Im Jahr 2019 stimmten Leiharbeiter: innen in Pittsburgh, die bei der Outsourcing-Firma HCL America beschäftigt sind und in Google-Büros eingesetzt werden, für eine gewerkschaftliche Organisierung (Wakabayashi 2019). Eine Google-Gewerkschaft und Streiks bei Google Im Januar 2023 entließ Google 12.000 Mitarbeiter: innen. Ein Arbeiter, der seinen Job verlor, kommentierte: „At the end of the day, and probably at the beginning of the day, there is an abiding devotion to revenue and seemingly endless growth. […] And that comes without any thought to employees’ welfare in the end” (Duffy and Thorbecke 2023). Innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten Ende 2022 und Anfang 2023 entließen Amazon, Facebook, Google und Microsoft zusammen mehr als 50.000 Arbeitende (Duffy 2023). Viele große Internet-Unternehmen haben ihre Umsätze und Gewinne während der COVID-19-Pandemie gesteigert, als ein großer Teil der Weltbevölkerung von zu Hause arbeitete und viel Zeit online verbrachte. Die Rolle des Home Office, der Online-Arbeit und der online verbrachten Zeit ging zurück, als die Pandemie endete und die Arbeiter: innen in die Büros zurückkehrten. Die wirtschaftliche Lage nach der Pandemie und der Krieg in der Ukraine führten zu Inflation, Angst vor dem Bankrott und wirtschaftlichem Niedergang. Infolgedessen gingen der Konsum und die Investitionen in Werbung und Online-Dienste zurück. Digitalgiganten wie Amazon, Microsoft, Apple, Google/ Alphabet und Facebook/ Meta hatten ihre Belegschaft während der Pandemie erheblich vergrößert (Duffy 2023). Sie schienen ein neues, dauerhaftes Wachstum erwartet zu haben. Als die Umsätze und Gewinne zurückgingen, taten sie das, was kapitalistische Unternehmen sehr oft als Erstes tun: Sie entließen Arbeiter: innen. Ein Vergleich der Beschäftigung im Jahr 2022 mit den Zahlen von Anfang 2023 zeigt, dass Alphabet/ Google die Zahl seiner Beschäftigten um sechs Prozent, Microsoft um vier Prozent, Facebook/ Meta um 13 Prozent, Snapchat um 21 Prozent und Twitter um 49 Prozent reduziert hatte (Duffy 2023). Der Gewinn von Alphabet im ersten Quartal sank um acht Prozent von 16,4 Milliarden US-Dollar Ende März 2022 auf 15,1 Milliarden US-Dollar Ende März 2023 65 . Der jährliche Gewinn von Facebook sank um 41 Prozent von 39,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 auf 23,2 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 66 . Der Gewinn von Facebook im ersten Quartal sank um 24 Prozent von 7,5 Milliarden US-Dollar Ende März 2022 auf 5,7 Milliarden US-Dollar Ende März 2023 67 . Google-CEO Sundar Pichai (2023) erklärte die Entlassungen im Jahr 2023 wie folgt: „Wir werden schwierige Wirtschaftszyklen durchlaufen“, die eine „Umstrukturierung unserer Kostenbasis“ erfordern. Pichai verwendet eine antihumanistische Sprache, die zeigt, dass Arbeiter: innen in der kapitalistischen Logik nur eine Ressource sind 65 Datenquelle: Alphabet SEC Filings Form 10-Q, 31. März 2023. 66 Datenquelle: Facebook SEC Filings Form 10-K für die Finanzjahre 2021 und 2022. 67 Datenquelle: Facebook SEC Filings Form 10-Q, 31. März 2023. <?page no="176"?> 176 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? und Dinge, die „umstrukturiert“ werden, wenn die kapitalistische Maschine einen Ölwechsel benötigt. Kapitalistische Technologieunternehmen wie Google und Facebook präsentieren sich als freundliche Familienbetriebe. Krisensituationen, in denen Arbeitnehmer entlassen und ausrangiert werden wie alte Dinge, die man loswerden will, offenbaren den ideologischen Charakter der freundlichen Familienatmosphäre. Der Kapitalismus ist ein krisenanfälliges System. Und Wirtschaftskrisen bedeuten Elend, Arbeitsplatzverluste und Unglücklichsein. Der Traum von einem reibungslosen digitalen Kapitalismus mit endlosem Wirtschaftswachstum ist eine Ideologie. In den Bewertungen der Arbeitsbedingungen bei Google, die auf Glassdoor.com veröffentlicht wurden, betonen Google-Mitarbeiter, dass die Entlassungen die toxische Arbeitskultur bei Google verschärft haben: „Perpetually understaffed, huge bloat of red tape, and toxic work culture that leaves people working all hours. Recent layoffs have left people at all levels afraid to say no, making everything worse”; „Layoffs were brutal all around (to those impacted & to those who still remain employed)”; „Hasn’t been ‘Googley’ for at least 10 years. People are lured by promises of an engineering paradise when in fact it’s just a soulless machine that serves lunch. Layoff handling exposes how completely normal of a business Google is, and has been for some time”; „Perks are being suspended or cut, mass layoffs occurred without warning, and the already haphazard hiring pipeline has been frozen on and off. Upper management maintains that this is all the result of economic headwinds and long term strategy, versus propping up the wealth of the major shareholders”; „Lay-offs were executed in inhumane manner” „Cons: You might get laid off on a Friday Morning with no prior notice”; „I was laid off with no warning and no reasoning after being lied to for months by management about not considering layoffs and how ‘we’ can withstand the storm, removed my access at 3AM was cut off from everyone and my team didn’t even try to text or email me to check to see if I was ok because they’re just happy it wasn’t them. Stop trying to act like you care about other people, because you clearly don’t. For a company that supposedly cares about mental health, you sure cause a lot of trauma” „Free food if you don’t get laid off ”. Die Arbeit bei Google macht nicht nur Spaß. Lange Arbeitszeiten, sexuelle Belästigung, schlechte Behandlung von Leiharbeiter: innen, Diskriminierung, autoritäres Management, die Beteiligung an militärischen Projekten usw. werden von einer beträchtlichen Anzahl von Google-Beschäftigten als Formen der Entfremdung empfunden, gegen die sich auch Widerstand wie Streiks und gewerkschaftliche Organisierung formiert hat. Im Jahr 2021 wurde die Alphabet Workers Union gegründet. In ihrem Leitbild heißt es: „Our union strives to protect Alphabet workers, our global society, and our world. We recognize our power as Alphabet workers - full-time employees, temporary employees, vendors, and contractors - comes from our solidarity with one another and our <?page no="177"?> 5.4 Arbeit bei Google 177 ability to collectively act to ensure that our workplace is equitable and Alphabet acts ethically” 68 . Die Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende der Alphabet Workers Union schrieben in einem Artikel in der New York Times , dass Google/ Alphabets Profit über die Belange der Arbeiter: innen stellt: „To those who are skeptical of unions or believe that tech companies are more innovative without unions, we want to point out that these and other larger problems persist. Discrimination and harassment continue. Alphabet continues to crack down on those who dare to speak out, and keep workers from speaking on sensitive and publicly important topics, like antitrust and monopoly power. […] We are the workers who built Alphabet. We write code, clean offices, serve food, drive buses, test self-driving cars and do everything needed to keep this behemoth running. We joined Alphabet because we wanted to build technology that improves the world. Yet time and again, company leaders have put profits ahead of our concerns. […] Everyone at Alphabet - from bus drivers to programmers, from salespeople to janitors - plays a critical part in developing our technology. But right now, a few wealthy executives define what the company produces and how its workers are treated. This isn’t the company we want to work for. We care deeply about what we build and what it’s used for. We are responsible for the technology we bring into the world. And we recognize that its implications reach far beyond the walls of Alphabet. […] [Google] is used by billions of people across the world. It has a responsibility to prioritize the public good. It has a responsibility to its thousands of workers and billions of users to make the world a better place” (Koul and Shaw 2021). Der digitale Technologiesektor weist seit langem einen niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad auf. Der Neoliberalismus hat die Gewerkschaften im Allgemeinen geschwächt. Die Tech-Kultur im Silicon Valley basiert auf der Ideologie, dass der digitale Kapitalismus frei von Klassenkonflikten ist. Mit relativ hohen Löhnen, einer entspannten Atmosphäre und attraktiven Arbeitsumgebungen haben die Tech-Manager: innen versucht, den Eindruck zu erwecken, dass es keinen Unterschied zwischen digitalem Kapital und digitaler Arbeit gibt und dass Arbeiter: innen und Manager: innen in digitalen Unternehmen die gleichen Interessen haben. Die Realität der Ausbeutung und Diskriminierung bei Google und anderen digitalen kapitalistischen Unternehmen entlarvt die Falschheit dieses Anscheins. Da das Kapital global geworden ist, ist es auch notwendig, dass die Gewerkschaften global agieren und sich global organisieren, um die Macht des globalen Kapitals besser herauszufordern. Die Politischen Ökonomen Vincent Mosco und Catherine McKercher argumentieren in diesem Zusammenhang, dass angesichts der Tatsache, dass Kommunikation ein globales Phänomen ist, die Kommunikationsarbeiter: innen der Welt sich in „einer großen Gewerkschaft“ zusammenschließen sollten, damit die Arbeiter: innen „in der gesamten Wissensindustrie sich vereinigen“ (Mosco und McKercher 2008, 42). Petitionen, Proteste zu verschiedenen Themen, Sitzstreiks, Versuche der gewerkschaftlichen Organisierung usw. zeigen, dass die Arbeiter: innen bei Google die Fähigkeit haben, die Ideologie der Unternehmensleitung, Ausbeutung und Ungerechtigkeiten im Tech-Sektor in Frage zu stellen. Die einzige Möglichkeit, wie Arbeiter: innen 68 https: / / www.alphabetworkersunion.org/ about-us, abgerufen am 23. August 2023. <?page no="178"?> 178 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? ihre Macht gegenüber dem Management stärken können, besteht darin, dass die Google-Arbeiter: innen eine Gewerkschaft gründen, idealerweise eine global vernetzte Gewerkschaft, die in allen Ländern tätig ist, in denen Google aktiv ist. Google beutet nicht nur Software-Ingenieure und -Ingenieurinnen aus, die viele Überstunden machen. Der Konzern beutet auch viele Leiharbeitende aus, die mit prekären Bedingungen konfrontiert sind. Und er beutet auch die Nutzer: innen der Google-Plattformen aus. Daher sollte eine Google-Gewerkschaft eine Gewerkschaft aller bezahlten, unbezahlten und prekären Google-Arbeiter: innen, einschließlich der Nutzer: innen, sein. Gemeinsam können diese Arbeiter: innen gegen Google streiken und die Online-Aktivitäten des Konzerns stilllegen und blockieren, um Forderungen durchzusetzen. Aber Google ist nicht das reine Böse. Das Unternehmen ist, wie ich im Folgenden darlegen werde, zugleich der digitale Gott und der digitale Teufel. 5.5 Google: Gott und der Teufel in einem Unternehmen Viele populärwissenschaftliche Darstellungen von Google feiern den Konzern als großartig, während viele sozialwissenschaftliche Analysen auf die Gefahren dieses digitalen Riesen hinweisen. Man sollte über einseitige Bewertungen von Google hinausgehen und dialektisch denken: Google ist gleichzeitig das Beste und das Schlechteste, was je im Internet passiert ist. Google ist metaphorisch gesprochen böse wie die Figur des Teufels und gut wie die Figur Gottes. Google ist der dialektische Gottesteufel. Google gehört zu den besten Internet-Plattformen, da seine Dienste das tägliche Leben der Menschen verbessern und unterstützen können. Diese Dienste können den Menschen helfen, Informationen zu finden und zu organisieren, auf öffentliche Informationen zuzugreifen, zu kommunizieren und mit anderen zusammenzuarbeiten. Google hat das Potenzial, die Kapazitäten der Kognition, Kommunikation und Kooperation von Menschen in der Gesellschaft erheblich zu verbessern. Google ist eine Manifestation der produktiven und sich vergesellschaftenden Kräfte des Internets. Das Problem sind nicht die von Google bereitgestellten Technologien, sondern die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die diese Technologien organisieren und prägen. Das Problem besteht darin, dass Google bei der Bereitstellung seiner Dienste notwendigerweise die Nutzer: innen ausbeutet und sich an der Überwachung und Kommerzialisierung nutzerorientierter Daten beteiligen muss. Der kapitalistische Charakter von Google führt zu einer Vielzahl von Problemen wie Ausbeutung der Nutzer: innen und Angestellten, Verletzungen der Privatsphäre, klassistische, rassistische und sexistische Algorithmen, die Förderung des Konsumismus und Individualismus etc. Marx und der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen Karl Marx sprach von einem Antagonismus der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen [...] Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um” (Marx 1859, 9). „In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern <?page no="179"?> 5.5 Google: Gott und der Teufel in einem Unternehmen 179 Destruktionskräfte (Maschinerie und Geld) - und was damit zusammenhängt, dass eine Klasse hervorgerufen wird, welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen; welche aus der Gesellschaft herausgedrängt, in den entschiedensten Gegensatz zu allen andern Klassen forciert wird eine Klasse, die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder“ (Marx & Engels 1845/ 1846, 69). Die Google prägenden Klassenverhältnisse, in denen alle Google-Nutzer: innen und Webnutzer: innen von Google ausgebeutet werden und in denen die Privatsphäre all dieser Personen zwangsläufig durch die Geschäftsaktivitäten von Google verletzt wird, sind zerstörerische Kräfte - sie zerstören die Privatsphäre der Nutzer: innen und das Interesse der Menschen, vor Ausbeutung geschützt zu werden. Google im und jenseits des Kapitalismus Die kognitiven, kommunikativen und kooperativen Potenziale von Google weisen über den Kapitalismus hinaus. Google ist Teil dessen, was Marazzi (2010, 2012) und andere als Kommunismus des Kapitals bezeichnen, nämlich die Schaffung kommunistischer Grundlagen und Keimformen innerhalb des Kapitalismus. Diese Potentiale verwirklichen sich jedoch nicht automatisch und nicht von alleine. Es bedarf der Praxis der Menschen, um die Gesellschaft zu verändern. Die soziale und kooperative Dimension der kapitalistischen sozialen Medien antizipiert und verweist auf „Elemente der neuen Gesellschaft […], die sich im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben” (Marx 1871, 343); neue Verhältnisse, die „im Schoß der alten Gesellschaft selbst“ heranreifen (Marx 1859, 9). Es „regen sich Kräfte und Leidenschaften im Gesellschaftsschoße, welche sich von ihr gefesselt fühlen“ (Marx 1867, 789); eine „Masse gegensätzlicher Formen“, die konstitutiv für die „auf dem Tauschwert “ beruhende Gesellschaft sind, aber „ebenso viel Minen sind, um sie zu sprengen“ (Marx 1857/ 1858, 93). Google ist eine Art Hexenmeister des Kapitalismus, der einen Zauberspruch anwendet, den der Hexer nicht mehr kontrollieren kann und der den Kapitalismus selbst in Frage stellt: „Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor” (Marx & Engels 1848, 467). Auf der Ebene der technologischen Produktivkräfte sehen wir, dass Google die Vergesellschaftung, den kooperativen und gemeingutorientierten Charakter der Online- Produktivkräfte fördert: Google-Tools stehen kostenlos zur Verfügung, Google Documents ermöglicht die gemeinschaftliche Erstellung von Dokumenten; G+, GMail und Blogger ermöglichen die soziale Vernetzung und Kommunikation, YouTube unterstützt die gemeinsame Nutzung von Videos, Google Scholar und Google Books tragen dazu bei, einen besseren Zugang zu weltweitem akademischen Wissen zu schaffen, und so weiter. All dies sind Anwendungen, die den Menschen großen Nutzen bringen können. Aber auf der Ebene der Produktionsverhältnisse ist Google eine profitorientierte, werbefinanzierte Kapitalakkumulationsmaschine, die die Nutzer: innen und ihre Daten zu einer Ware macht. Und eine groß angelegte Überwachung und die immanente Untergrabung des intrinsischen Wertes der Privatsphäre der liberalen Demokratie sind die Folge. Die Werte der liberalen Demokratie schlagen dadurch als Konsequenz des Wirtschaftsliberalismus in ihr Gegenteil um und sind ihre eigene <?page no="180"?> 180 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? immanente Kritik. Auf der Ebene der Produktivkräfte antizipieren Google und andere Plattformen ein gemeingutbasiertes öffentliches Internet, durch das alle Vorteile haben, während Google gleichzeitig eine Form der Freiheit (freier Zugang zu Dienstleistungen) ermöglicht, die durch Online-Überwachung und die Kommodifizierung der Nutzer: innen funktioniert und die Privatsphäre der Nutzer: innen bedroht. Google ist ein prototypisches Beispiel für die Antagonismen zwischen vernetzten Produktivkräften und kapitalistischen Produktionsverhältnissen in der kapitalistischen Informationsökonomie (Fuchs 2008). „Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen” (Marx & Engels 1848, 468). Der Klassencharakter von Google begrenzt seine immanenten Potenziale, die das menschliche Leben verbessern können. Diese Potenziale können im Kapitalismus nicht verwirklicht werden. Die kritische Diskussion, die darauf hinweist, dass Google die die Überwachungsgesellschaft fördert, weist auf Googles immanente Schranken als kapitalistisches Unternehmen hin. Google ist eine antagonistische Form, menschliches Wissen zu organisieren. Marx wies darauf hin, dass Wissen und andere Produktivkräfte Schranken des Kapitals darstellen: „Die Schranke des Kapitals ist, dass diese ganze Entwicklung gegensätzlich vor sich geht und das Herausarbeiten der Produktivkräfte, des allgemeinen Reichtums etc., Wissens etc. so erscheint dass [...] [d]iese gegensätzliche Form [...] verschwindend [ist] und die realen Bedingungen ihrer eignen Aufhebung [produziert]” (Marx 1857/ 1858, 447). Google hat die realen Bedingungen für seine eigene Aufhebung geschaffen. Es ist ein Fehler, zu argumentieren, dass Google aufgelöst werden sollte, oder zu sagen, dass Alternativen zu Google benötigt werden oder dass seine Dienstleistungen eine Gefahr für die Menschheit darstellen. Vielmehr würde Google seinen antagonistischen Charakter verlieren, wenn es enteignet und in eine öffentliche, gemeinnützige, nichtkommerzielle Organisation umgewandelt würde, die dem Gemeinwohl dient. Solche angeeigneten Technologien müssten auch neugestaltet und neu eingesetzt werden, damit sie die Logik des Individualismus, des Wettbewerbs, der Rangfolgen, der Diskriminierung und der Macht, die ihnen heute innewohnt, überwinden und die Logik des Gemeinwohls vollständig verwirklichen und praktizieren. Der Suchalgorithmus von Google müsste in einen Open-Source- und einen öffentlich-rechtlichen Algorithmus umgewandelt werden, das Prinzip der Privilegierung mächtiger Akteure müsste neu überdacht werden, der Kauf von Aufmerksamkeit bei personalisierter Werbung müsste gemeinsam mit der Werbung abgeschafft werden, Rassismus und Diskriminierung müssten aus dem Design der Algorithmen eliminiert werden, und es müssten neue Wege gefunden werden, die Ergebnisse über eine reine Konzentration auf die ersten zehn Ergebnisse hinaus zu visualisieren. Google enteignet und beutet Internet- Nutzer: innen aus, indem es ihre Inhalte und Nutzerdaten kommerzialisiert und kommodifiziert. Safiya Noble (2019) argumentiert, dass Technologieentwickler: innen eine ethische Ausbildung und „eine Bildung über die Geschichte von marginalisierten Menschen“ (70) benötigen. Der Mangel an kritischem Denken und kritischer Analyse im Informatikstudium fördert Ungerechtigkeiten und unterdrückende Algorithmen. Sie argumentiert, dass „öffentliche Suchalternativen“ (86), die im öffentlichen Besitz stehen und von öffentlichen Organisationen betrieben werden, keine automatische Lösung <?page no="181"?> 5.6 Google und der Staat: Monopolmacht und Steuervermeidung 181 sind, sondern eine Grundlage für die Überwindung von unterdrückerischen Algorithmen. Die beste Lösung ist die Enteignung des Google-Enteigners - die Umwandlung von Google in eine öffentliche Suchmaschine. Google steht gleichzeitig für die universellen und die partikularistischen Interessen im Internet. Das Unternehmen steht für die Idee der Weiterentwicklung eines Internets für die gesamte Menschheit und für die Realität der absoluten Ausbeutung der Menschheit für kapitalistische Zwecke. Google ist der universelle Ausbeuter und hat Technologien geschaffen, die eine universelle Menschheit voranbringen können, wenn die Menschen in einem Akt der universellen Aneignung als universelles Subjekt handeln und sich und diese Technologien von Ausbeutung und Klassenverhältnissen befreien. 5.6 Google und der Staat: Monopolmacht und Steuervermeidung Monopolmacht Die Europäische Union definiert einen Markt als konzentriert, wenn ein Akteur über eine beträchtliche Marktmacht von 40 Prozent oder mehr verfügt. Im Jahr 2012 begann die US Federal Trade Commission mit der Untersuchung, ob sie eine Kartellklage gegen Google einleiten sollte, stellte die Untersuchung jedoch ein. Im Frühjahr 2015 startete die Europäische Union eine Kartellklage gegen Google. Sie argumentierte, dass Google Suchergebnisse zu Gunsten seiner eigenen Shopping-Dienste manipuliert habe. Im Jahr 2017 verhängte die EU gegen Google eine Geldstrafe in Höhe von 2,4 Milliarden Euro wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht und Missbrauchs der Marktdominanz im Hinblick auf die privilegierte Behandlung von Google Shopping in den Suchergebnissen. Die EU argumentierte, dass Google seine Monopolmacht durch die Manipulation von Google Shopping-Suchanfragen missbraucht habe. Dies führte zu einer erheblichen Steigerung der Einnahmen für Google, da ein hoher Prozentsatz der Suchanfragen zu Einkäufen auf Google Shopping führte. Im Juli 2018 verhängte die EU gegen Google eine Geldstrafe in Höhe von 4,34 Milliarden Euro, weil Telefon- und Tablet-Hersteller, die Googles Betriebssystem Android als Betriebssystem installieren wollten, auch die Google-Suchanwendung und Chrome installieren mussten. Google bezahlte Hardware-Hersteller dafür, dass sie ihre Apps ausschließlich auf Androidbasierter Hardware installierten. Im März 2019 verhängte die EU gegen Google eine Geldbuße in der Höhe von 1,5 Milliarden Euro, weil Google Exklusivitätsklauseln in Verträgen verwendete, die Webseiten, die AdSense verwenden, die Nutzung anderer Online-Werbedienste untersagten. Google AdSense ist das Programm von Google, bei dem andere Webseiten Google-Suchfelder anzeigen und Teile der dadurch erzielten Werbeeinnahmen verdienen. Die drei Beispiele von Google Shopping, Android und Google AdSense zeigen, dass Googles Monopolmacht zum Missbrauch dieser Macht geführt hat, damit Google seine Marktdominanz ausweiten kann. Die einzige wirkliche Herausforderung der Macht von Google besteht darin, das Unternehmen in ein öffentliches Dienstleistungsunternehmen zu verwandeln. Da es in den meisten Teilen der Welt liberale und keine sozialistischen Regulierungsformen der Ökonomie gibt, ist ein solcher Schritt bisher nicht unternommen worden. <?page no="182"?> 182 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? Kapitalistische Inhaltsindustrie vs. Kapitalistische Offenheits- Industrie Robert Thomson, Chief Executive Officer (CEO) der News Corporation, schrieb in einem Brief an die EU über Google: „Das Unternehmen hat sich von einem wunderbar lebhaften, kreativen Start-Up aus dem Silicon Valley zu einer riesigen, mächtigen, oft nicht rechenschaftspflichtigen Bürokratie entwickelt. [...] Diese Entwicklung spiegelt die exponentielle Entwicklung von einem Unternehmen, das offen ist, zu einem Unternehmen, das selektiv geschlossen und bereit ist, seine dominante Marktposition auszunutzen, um den Wettbewerb zu ersticken“ (Scott 2014). News Corp ist der verlegerische Arm des Imperiums von Rupert Murdoch. Es ist wie viele Verlagshäuser von der Krise der Nachrichtenindustrie und der Verlagerung der Werbeinvestitionen von Print auf Online betroffen. Dies ist auch einer der Gründe, warum News Corp 2013 in zwei Unternehmen aufgeteilt wurde: News Corporation (Verlagswesen) und das profitablere 21st Century Fox-Unternehmen, das in der Fernseh- und Filmindustrie tätig ist. Im Jahr 2019 wurde die Mehrheit der Vermögenswerte von 21st Century Fox an die Walt Disney Company verkauft. Die übrigen Vermögenswerte, wie z.B. die Fernsehsender von Fox, wurden in einem neuen Unternehmen, Fox Corporations, organisiert. Die News Corporation verkauft Zeitungen, Zeitschriften und den Zugang zu Online- Zeitungen. Sie ist Teil der Medieninhaltsindustrie, die Inhalte als Handelsware verkauft. Google hingegen ist Teil dessen, was man als Offenheits-Industrie bezeichnen könnte, die offenen Zugang zu Inhalten bietet, aber personalisierte Werbung oder andere Mechanismen zur Kapitalakkumulation einsetzt. Dass News Corp das Kartellverfahren gegen Google unterstützt, zeigt, dass es einen Wettbewerb und einen Widerspruch zwischen der kapitalistischen Inhaltsindustrie und der Offenheits-Industrie gibt. Beide konkurrieren in der kapitalistischen Medienindustrie um Profite. Große Konzerne in diesen Branchen, die die Konzentration vorantreiben, neigen dazu, die Gewinne ihrer Konkurrenten als Bedrohung ihrer eigenen Profitabilität zu sehen. Bei einer solchen Rivalität geht es jedoch um Marktdominanz. Ein medienkapitalistisches Unternehmen beneidet die Macht eines anderen Monopolisten und möchte dessen Rolle einnehmen. Eine solche Logik stellt die kapitalistische Logik der Medienmärkte nicht in Frage. Sowohl die Inhaltsals auch die Offenheits-Industrie basieren auf der Logik der Kommodifizierung und Kapitalakkumulation, die der Öffentlichkeit als solcher schadet. Google hat die kartellrechtlichen Vorwürfe der EU rechtlich angefochten. Der Konzern argumentierte zum Beispiel, dass es seine Nutzer: innen nicht ausbeuten und seine Marktdominanz missbrauchen könne, da es keine Handelsbeziehung zwischen Google und seinen Nutzer: innen gebe: „Die Einwände [der EU] berücksichtigen nicht angemessen, dass die Suche kostenlos ist. [...] Die Feststellung eines Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung setzt eine ‚Handelsbeziehung‘ voraus, wie sie durch die ständige Rechtsprechung bestätigt wird. Zwischen Google und seinen Nutzer: innen besteht keine Handelsbeziehung” (Vincent 2015). Das Problem dieses Arguments besteht darin, dass die Nutzer: innen auf komplexe Weise in die Marktbeziehungen von Google verstrickt sind: Google spricht seine Nutzer: innen auf der Grundlage ihres Such- und Online-Verhaltens an. Es handelt mit <?page no="183"?> 5.6 Google und der Staat: Monopolmacht und Steuervermeidung 183 Verhaltensdaten als Ware. Dadurch beutet Google die Nutzer: innen aus. Wenn es stimmt, dass Google die Rangliste der Ergebnisse zugunsten seiner eigenen Einkaufsseiten manipuliert, dann bedeutet dies, dass Google neben der Ausbeutung der Nutzer: innen diese zum Einkaufen bevorzugt auf bestimmte Google-eigene Seiten lenken will, was die Profite des Unternehmens weiter erhöht. Das bedeutet eine Doppelstrategie, bei der versucht wird, die Aufmerksamkeit der Nutzer: innen so zu steuern, dass sie auf personalisierte Werbungen klicken und im Falle der Suche nach bestimmten Produkten zum Kauf auf die Google-eigenen Online-Shops gelenkt werden. Steuervermeidung Google hat seinen europäischen Sitz in Irland, von wo aus der Konzern seine europäischen Einnahmen organisiert. Von Irland aus werden die Gewinne in die Niederlande und von dort auf die Bermuda-Inseln transferiert, wo Google keine Körperschaftssteuer zahlen muss. Diese Strategie der Steuervermeidung ist auch als „Double Irish“ bekannt geworden. Transnationale Konzerne wie Google, Amazon, Facebook, Starbucks, Apple usw. sind immer wieder dafür kritisiert worden, Steuern zu vermeiden. Globale digitale Unternehmen melden häufig Patente für Algorithmen und Technologien in Steueroasen an, von denen aus sie operieren. Ihre wirtschaftlichen Aktivitäten sind global und werden zu einem großen Teil über oder im Internet, also einem globalen Informations- und Kommunikationsnetzwerk, abgewickelt. Rechtsvorschriften, die Unternehmen regulieren, werden meist auf der Ebene des Nationalstaates und teilweise auf der Ebene von Regionen erlassen, wie zum Beispiel im Falle der EU-Gesetzgebung. Es besteht ein Antagonismus zwischen dem globalen Kapitalismus und der nationalstaatlichen Politik. Nationalstaaten haben Schwierigkeiten, das globale Kapital zu regulieren, weil letzteres sich der nationalstaatlichen Regulierung entziehen kann, indem es seine Produktion und Finanzströme in andere Länder auslagert. Google leitet seine europäischen Einnahmen zunächst über seinen irischen Hauptsitz und dann auf die Bermuda-Inseln weiter, wo es keine Steuern zahlt. In einem Interview mit dem Ausschuss für öffentliche Finanzen (Public Accounts Committee) des britischen Parlaments in einer Untersuchung zur Steuerumgehung gab der damalige britische Geschäftsführer von Google, Matt Brittin, zu, dass Googles europäischer Hauptsitz in Irland dem Zweck dient, niedrige Steuern zu zahlen: „Wir sprachen bei der letzten Anhörung über die Bermudas, und ich habe bestätigt, dass wir die Bermudas tatsächlich nutzen. Offensichtlich ist Bermuda ein Niedrigsteuergebiet“ (House of Commons Committee of Public Accounts 2013). Konfrontiert mit Googles niedrigen Körperschaftssteuern, die in Großbritannien gezahlt werden, sagte dessen damaliger Vorsitzender Eric Schmidt, dass „Leute, die wir [Google] in Großbritannien beschäftigen, mit Sicherheit britische Steuern zahle“" (BBC 2013). Schmidts Argument ist, dass Google keine Steuern zahlen müsse, weil die Mitarbeiter: innen des Konzerns Steuern zahlen. Aber Steuern sollten von Kapital und Arbeit bezahlt werden, nicht nur von der Arbeiterklasse. Google denkt, dass es etwas Besonderes ist, dass es ein so großer technologischer Innovator ist, dass es das Privileg verdient, keine Steuern zahlen zu müssen, und dass es ausreicht, dass seine Angestellten Einkommenssteuer zahlen. Die Besteuerung von digitalem Kapital Während soziale Medienunternehmen für Offenheit, die Weitergabe von Nutzerdaten und ein Ende der Privatsphäre plädieren, um ihre Gewinne zu maximieren, fordern sie Abschottung, Geheimhaltung und finanzielle Privatsphäre, wenn es um ihre eigenen globalen Finanzen, Profite und Steuern geht. <?page no="184"?> 184 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? Es hat ernsthafte Versuche gegeben, eine Steuer auf transnationales digitales Kapital einzuführen. Die Europäische Union hat versucht, eine Digitalsteuer einzuführen. Die Idee war eine Steuer auf digitale Dienste, die für alle digitalen Unternehmen gilt, die weltweit einen Jahresumsatz von mehr als 750 Millionen Euro und einen Jahresumsatz in der EU von mindestens 50 Millionen Euro haben. Das bedeutet, dass diese Steuer auf die Digitalgiganten wie Apple, Microsoft, Alphabet/ Google, Amazon und Facebook abzielte. Die Idee dieser Steuer, wie sie von der Europäischen Kommission konzipiert wurde, besteht darin, die Einnahmen der Digitalgiganten mit 3 Prozent zu besteuern. Im Entwurf der Kommission für eine Richtlinie zur Besteuerung digitaler Dienstleistungen wurde das Konzept der digitalen Betriebsstätte verwendet. Eine digitale Betriebsstätte ist eine signifikante virtuelle Präsenz eines Unternehmens in einem Land. Das bedeutet, dass ein solches Unternehmen etwas in diesem Land verkauft und dafür nicht unbedingt eine physische oder rechtliche Tochtergesellschaft oder Niederlassung in diesem Land hat. Das Rechtskonzept der digitalen Betriebsstätte versucht, Steuervermeidung und die Auslagerung und geografische Weiterleitung von Finanzströmen durch die Unternehmen zu unterbinden. Im März 2019 fanden die EU-Mitgliedsstaaten keine Einigung über die Umsetzung der Richtlinie zur Einführung einer Digitalsteuer. Dänemark, Irland, Finnland und Schweden lehnten die Einführung ab. Die weitere Diskussion über die Steuer wurde formell verschoben, bis die OECD zu einer Einigung kommt. Im Projekt „Base Erosion and Profit Shifting“ (BEPS, Gewinnkürzung und Gewinnverlagerung) der OECD arbeiten 130 Länder an der Frage zusammen, wie globale Unternehmen besteuert werden sollen. Im Rahmen des BEPS-Projekts (Base Erosion and Profit Shifting) der OECD arbeiteten 130 Länder gemeinsam an der Frage, wie globale Unternehmen besteuert werden sollten. Im Oktober 2021 stimmten 136 Länder dem OECD-Vorschlag zu, eine globale Mindestkörperschaftssteuer von 15 Prozent einzuführen. Die Grundidee besteht darin, in vielen Ländern relativ harmonisierte Kapitalsteuersätze zu erreichen, so dass es keine oder nur geringe Anreize für die Verlagerung von Unternehmenserträgen ins Ausland gibt, um Steuern zu vermeiden. Die Mindestkörperschaftssteuer gilt für große transnationale Unternehmen mit einem weltweiten Jahresumsatz von mehr als 750 Millionen Euro. Eine Gewinnsteuer in der Höhe von 15 Prozent ist natürlich besser, als wenn das globale Kapital keine Steuern zahlt. Es ist jedoch ein niedriges Niveau. Das globale Kapital hat in den letzten Jahrzehnten riesige Profite gemacht und macht weiterhin große Gewinne. In Anbetracht der Tatsache, dass es einen Antagonismus zwischen dem globalen Kapital und der globalen Arbeit gibt und der Neoliberalismus durch eine globale Politik der Lohndrückerei, der Privatisierung und des Abbaus des Sozialstaates das Kapital auf Kosten der Arbeit begünstigt hat, sollte eine höhere globale Körperschaftssteuer von mindestens 25 bis 30 Prozent eingeführt werden. Die Einnahmen könnten für den Aufbau von Wohlfahrtsstaaten des 21. Jahrhunderts und die Förderung der sozialen Gleichheit verwendet werden. Die Zukunft wird zeigen, ob die Höhe der gezahlten Unternehmenssteuern steigen wird oder ob das transnationale Kapital neue Wege finden wird, um die Zahlung von Steuern weiterhin zu umgehen. Dieses Kapitel hat gezeigt, dass es viele Probleme der kapitalistischen Organisation des Internets gibt, die auf der Logik der Kapitalakkumulation beruht. Wir haben gesehen, dass zu diesen Problemen Monopolmacht, die Ausbeutung digitaler Arbeit, Steuervermeidung, die Verschärfung und Ausweitung von Ungleichheiten, unterdrückerische <?page no="185"?> 5.7 Schlussfolgerungen 185 Algorithmen, ideologische Kontrolle, Verletzungen der Privatsphäre usw. gehören. Eine kritische Herangehensweise in der Forschung bedeutet, dass wir an der Frage interessiert sind, wie Alternativen zur Ausbeutung und Herrschaft geschaffen werden können. In Bezug auf das Internet ist in der Diskussion, die in diesem Buch geführt wird, deutlich geworden, dass alternative Internetplattformen benötigt werden. Solche Alternativen sind zum Beispiel die Schaffung von öffentlich-rechtlichen Internetplattformen und Plattformkooperativen. Google könnte verstaatlicht oder kommunalisiert werden. Das bedeutet, dass es zum Beispiel von einem globalen Netzwerk öffentlicher Universitäten betrieben werden könnte, das von gemeinnützigen Software-Engineering-Kooperativen unterstützt wird. Öffentliche Internet-Plattformen und Plattform- Kooperativen werden in Kapitel 11 dieses Buches weiter erörtert (siehe auch Boucas 2020 zu den Aussichten für ein alternatives Internet). 5.7 Schlussfolgerungen Die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels können wir wie folgt zusammenfassen:  Das Kapitalakkumulationsmodell von Google basiert auf der Ausbeutung und Kommodifizierung der Nutzer: innen auf Basis der wirtschaftlichen Überwachung der Interessen und Aktivitäten der Nutzer: innen (demografische, technologische, wirtschaftliche, politische, kulturelle, ökologische Daten), ihrer Kommunikation, sozialen Netzwerken und Zusammenarbeit. Die Daten der Nutzer: innen werden zum Zweck der Akkumulation von Geldkapital durch personalisierte Werbung verwendet.  Die interne Unternehmensideologie von Google basiert auf der Förderung der Spielarbeit. Google zeigt keine Sensibilität für Datenschutzfragen, was im Widerspruch zu seiner Philosophie steht, nichts Böses tun zu wollen.  Google sagt, dass die Arbeit in den Büros des Konzern Spaß und Spiel ist. Empirische Analysen deuten darauf hin, dass die Arbeit bei Google hoch bezahlt ist und auf vielen Überstunden basiert, was zu einem Mangel an Work-Life-Balance und zu Stress führen kann.  Der kommerzielle und kapitalistische Charakter von Google hat zur Entwicklung von unterdrückerischen Algorithmen geführt, die diskriminierend sind.  Viele Analysen von Google sind undialektisch. Sie übersehen, dass die Aktivitäten von Google in den kapitalistischen Antagonismus zwischen vernetzten Produktivkräften und Klassenverhältnissen eingebettet sind. Google treibt die Vergesellschaftung der vernetzten Produktivkräfte voran und nutzt diese gleichzeitig als Destruktionskräfte zur Ausbeutung der Nutzer: innen. Google ist der Teufel und Gott zugleich. Der Konzern fördert die Übel des Kapitalismus und gleichzeitig die Grundlagen des Gemeinwesens und einer gemeinnützigen Gesellschaft und einer auf Gemeingütern basierenden Wirtschaft jenseits der Warenform.  Genau wie andere transnationale Unternehmen, darunter Facebook, Amazon und Starbucks, hat Google es vermieden, Steuern zu zahlen, indem es sich komplexer Unternehmens- und Finanznetzwerke bedient, die Profite in Länder und Inseln mit niedrigen oder gar keinen Kapitalsteuern umleiten. Während die kapitalistische Wirtschaft und das Internet, über das Google, Amazon und Facebook ihre Geschäfte abwickeln, global sind, findet die Besteuerung innerhalb des Nationalstaates statt. Die neoliberale Regierungsführung hat die Möglichkeiten der Unternehmen gefördert, Steuern zu umgehen und dafür nicht belangt zu werden, was in <?page no="186"?> 186 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? Zeiten von Sparmaßnahmen, die zu Kürzungen der öffentlichen Ausgaben führen, besonders zynisch ist.  Das Internet ist ein global verteilter technologischer Raum der Information, Kommunikation und Kooperation, der sich über nationale Grenzen hinaus erstreckt. Online-Interaktionen und Online-Geschäftsvorgänge erstrecken sich daher tendenziell über Zeitzonen und Länder hinweg. Internet-Dienstleister und Unternehmen, die Anwendungen speichern und Benutzer: innen, die aktiv sind, indem sie solche Anwendungen nutzen, und Unternehmen, die online investieren, befinden sich oft in verschiedenen Ländern. Die Besteuerung erfolgt hauptsächlich auf nationaler Basis, was einen Widerspruch zwischen dem globalen Internet und der globalen Wirtschaft einerseits und den Nationalstaaten andererseits schafft, der sich in der Frage ausdrückt, wo Google und andere Unternehmen Steuern zahlen sollen.  Globale Konzerne werden immer alle verfügbaren und notwendigen Mittel nutzen, um ihre kapitalistischen Interessen durchzusetzen. Die einzige Möglichkeit, die Macht von Google richtig einzuschränken, besteht darin, Google zu einem öffentlichen Dienst und einem Gemeingut zu machen.  Man sollte über Google auf Basis der Kritik der Warenlogik und der Ideologie nachdenken, gleichzeitig aber auch sehen, wie sich aus eben dieser Logik mögliche Alternativen ergeben. Karl Marx betonte, dass die Globalisierung von Produktion und Zirkulation Institutionen erfordert, die es dem Einzelnen ermöglichen, sich über komplexe Zusammenhänge zu informieren. Er sprach davon, dass Institutionen entstehen, „worin jeder einzelne sich Auskunft über die Tätigkeit aller andren verschafft“, und dass „Verbindungen“ durch „Briefe, Telegraphen etc.“ hergestellt werden“ (Marx 1857/ 1983, 94). Ist diese Passage nicht die perfekte Beschreibung des Konzepts der Suchmaschine? Wir können also sagen, dass nicht Larry Page und Sergey Brin Google erfunden haben, sondern dass Karl Marx der wahre Erfinder der Suchmaschine Google war. Aber wenn das Denken von Marx für das Konzept der Suchmaschine entscheidend ist, sollten wir dann nicht auch über das Konzept einer öffentlichen Suchmaschine nachdenken?  Wie könnte eine öffentliche Suchmaschine aussehen? Google-Dienste könnten von gemeinnützigen Organisationen, z. B. Universitäten (Maurer et al. 2007, 74), betrieben und mit öffentlichen Mitteln unterstützt werden. Ein Dienst wie Google Books könnte dann der Menschheit dienen, indem er das Wissen aller Bücher allen Menschen frei zugänglich macht, ohne privaten Gewinn daraus zu ziehen. Eine öffentliche Suchmaschine benötigt keine Werbefinanzierung, wenn es sich um ein gemeinnütziges Unterfangen handelt. Auf diese Weise könnten die Ausbeutung und Überwachung der Nutzer: innen und die Probleme der Verletzung der Privatsphäre, die im Mittelpunkt von Google stehen, vermieden werden.  Die Einrichtung eines öffentlichen Googles könnte zur Auflösung des privaten Geschäfts von Google führen. Dies ist möglicherweise nur möglich, wenn ein Commons-basiertes Internet in einer Commons-basierten Gesellschaft etabliert wird und die Software-Dienste von Google so umgestaltet werden, dass sie die Logik der Commons vollständig widerspiegeln. Dazu müssen die ersten Schritte hin zu einer gerechten Menschheit und einem gerechten Internet unternommen werden. Dazu gehört zum Beispiel der Vorschlag, Google gesetzlich dazu zu verpflichten, Werbung als Opt-in-Option anzubieten und die Überwachung des Überwachers durch die Schaffung und Unterstützung von Watchdog-Organisationen zu gewährleisten, <?page no="187"?> Empfohlene Literatur und Übungen 187 die die Probleme und Widersprüche von Google und anderen Digitalkonzernen dokumentieren.  Ein anderes Google ist möglich, aber dazu bedarf es eines Klassenkampfes für und gegen Google, um die humanistischen (kognitiven, kommunikativen, kooperativen) Potenziale von Google durch die Überwindung seiner Klassenverhältnisse freizusetzen. Empfohlene Literatur und Übungen Übung 5.1: Abschaffung von Silicon Valley, Abschaffung von Google Wendy Liu ist Software-Ingenieurin und ehemalige Gründerin von Tech-Start-ups. Sie hat sich von einer begeisterten Anhängerin zu einer Kritikerin des Silicon Valley und des digitalen Kapitalismus gewandelt. In ihrem Buch Abolish Silicon Valley erzählt sie ihre Geschichte, auch ihre Zeit bei Google, und plädiert für eine Alternative zum kapitalistischen Technologiemodell des Silicon Valley. Lesen Sie alle (empfohlene Option) oder einige der Kapitel in Wendy Lius Buch: Wendy Liu. 2021. Abolish Silicon Valley. How to Liberate Technology From Capitalism . London: Repeater Books. Kapitel 1: No Girls on the Internet Kapitel 2: Googleyness Kapitel 10: Stupid Environment Kapitel 11: A New Industrial Model Kapitel 12: Epilogue Diskutieren Sie die folgenden Fragen:  Welche Kritik übt Wendy Liu an Silicon Valley und Google?  Was bedeutet es, das Silicon Valley abzuschaffen?  Welche Alternativen schlägt die Autorin vor? Übung 5.2: Kritik an Google Suchen Sie nach Dokumenten, Interviews, Nachrichtenartikeln, Berichten von kritischen Wissenschaftler: innen, kritischen Journalisten: innen, Gewerkschaften, Vertreter: innen der Zivilgesellschaft, Verfechter: innen der Privatsphäre und des Datenschutzes, Verbraucherschützer: innen sowie Watchdog-Organisationen, die Google kritisieren. Fassen Sie die wesentlichen Kritikpunkte zusammen. Finden Sie heraus, wie Google reagiert hat. Diskutieren Sie, welche Einschätzungen Sie überzeugender finden und begründen Sie Ihre Einschätzungen. Lesen Sie die neuesten Nutzungsbedingungen und Datenschutzbestimmungen von Google. Erstellen Sie eine systematische und geordnete Liste der Daten, die Google über die Nutzer: innen sammelt. Besprechen Sie, welche Daten Google für personalisierte Werbung verwendet. Finden Sie heraus, wie genau diese Form der Werbung funktioniert. Stellen Sie sich die folgenden Fragen:  Welche Daten verwendet Google über Sie für personalisierte Werbung? <?page no="188"?> 188 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine?  Gibt es Mechanismen zur Begrenzung von Googles personalisierter Werbung? Halten Sie diese für ausreichend? Warum? Warum nicht?  Wie beurteilen Sie personalisierte Werbung politisch?  Gibt es alternative Organisationsmodelle für soziale Medien, die keine personalisierte Werbung einsetzen? Welche? Wie sollten soziale Medien Ihrer Meinung nach am besten organisiert werden? Übung 5.3: Gewerkschaftliche Organisation bei Google Die Arbeit bei Google macht nicht nur Spaß. Die langen Arbeitszeiten und die politischen Probleme von Google, wie z.B. die Beteiligung an militärischen Projekten, werden von den Arbeitenden als Formen der Entfremdung wahrgenommen, gegen die sich auch Widerstand in Form von Streiks und gewerkschaftlicher Organisierung formiert hat. Lesen Sie zunächst die beiden folgenden Artikel und sehen Sie sich dann das Video an: Jim Edwards. 2016. Google Employees Confess all the Things They Hated Most About Working at Google. Business Insider, 12. Dezember 2016. https: / / www.businessinsider.com/ google-employees-worst-things-about-working-at-google-2016- 12 Parul Koul und Chewy Shaw. 2021. We Built Google. This Is Not the Company We Want to Work For. The New York Times, 4. Januar 2021. https: / / www.nytimes.com/ 2021/ 01/ 04/ opinion/ google-union.html Left Nite: Alex Gorowa. Interview with Alex Gorowara from the Alphabet Workers Union, a union of Google workers https: / / www.youtube.com/ watch? v=Dwr3-rkgirI Diskutieren Sie:  Wie beurteilen Sie die Managementmethoden bei Google?  Warum haben die Arbeiter: innen bei Google eine Gewerkschaft gegründet?  Wie sehen ein idealer Arbeitsplatz und ein ideales Unternehmen in der Digitalbranche aus?  Wie können schlechte Arbeitsbedingungen vermieden werden?  Wie sollten Arbeitnehmer auf schlechte Arbeitsbedingungen reagieren? Übung 5.4: Auf dem Weg zu einer globalen Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung Das folgende Kapitel der Politischen Ökonomen Vincent Mosco und Catherine McKercher befasst sich mit der Notwendigkeit einer großen Gewerkschaft für die Kommunikationsarbeiter: innen der Welt: Vincent Mosco and Catherine McKercher. 2008. The Laboring of Communication. Lanham, MD: Lexington Books. Kapitel 2: Theorizing Knowledge Labor Lesen Sie zunächst das Kapitel von Mosco und McKercher. Diskutieren Sie dann die folgenden Fragen:  Was verstehen Mosco und McKercher unter Arbeitskonvergenz? <?page no="189"?> Empfohlene Literatur und Übungen 189  Wie können sich die Kommunikations- und Wissensarbeiter: innen der Welt zusammenschließen und vereinigen?  Wie können Arbeitende die Macht globaler Konzerne wie Google herausfordern? Übung 5.5: Algorithmen der Unterdrückung Lesen Sie die folgenden zwei Kapitel in Safiya Nobles Buch Algorithms of Oppression : Safiya Umoja Noble. 2018. Algorithms of Oppression. How Search Engines Reinforce Racism. New York: New York University Press. Kapitel 1: A Society, Searching & Kapitel 2: Searching for Black Girls Diskutieren Sie:  Welche Rolle spielt der Rassismus im Zusammenhang mit Google?  Was sind Algorithmen der Unterdrückung?  Wie hängen Algorithmen der Unterdrückung mit dem Kapitalismus zusammen?  Was kann man gegen Algorithmen der Unterdrückung unternehmen? Übung 5.6: Google und Ideologiekritik Zum Verständnis von Google ist es sinnvoll, sich mit klassischen (Stuart Hall, Herbert Marcuse) und neueren (Evgeny Morozov) Versionen der Ideologiekritik auseinanderzusetzen. Stuart Hall, Chas Critcher, Tony Jefferson, John Clarke and Brian Roberts. 1978. Policing the Crisis: Mugging, the State and Law and Order . London: Macmillan. Kapitel 9: The Law-and-Order Society: Towards the “Exceptional State” (S. 273- 323). Herbert Marcuse. 1941. Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologien In Herbert Marcuse: Schriften Band 3: Aufsätze aus der „Zeitschrift für Sozialforschung“ , 286-319. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Evgeny Morozov. 2013. To Save Everything, Click Here: Technology, Solutionism and the Urge to Fix Problems That Don’t Exist . London: Allen Lane. Kapitel 1: Solutionism and its Discontents. Kapitel 2: The Nonsense of “the Internet” - and How to Stop It. Stuart Hall ist einer der wichtigsten Vertreter der Kulturwissenschaften. Herbert Marcuse war neben Horkheimer und Adorno der wichtigste Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Evgeny Morozov ist ein Schriftsteller, der sich kritisch mit Internetfetischismus und Technozentrismus auseinandersetzt. Fragen Sie sich:  Was beschreiben Stuart Hall et al. als charakteristische Elemente von Ideologien und moralischen Paniken während der Krise der 1970er Jahre?  Machen Sie eine Liste der Merkmale der technologischen Rationalität, die Herbert Marcuse identifiziert. <?page no="190"?> 190 5 Google: Eine gute oder böse Suchmaschine?  Versuchen Sie zu definieren, was Evgeny Morozov unter Internet-Solutionismus und Internet-Zentrismus versteht. Versuchen Sie, einige Beispiele in der Tagespresse zu finden. Versuchen Sie auch Beispiele zu finden, die sich auf Google beziehen.  Diskutieren Sie, ob und wie die Begriffe des Tech-Solutionismus (Fetischismus der technischen Machbarkeit) und des Internet-Zentrismus mit Stuart Hall et al. als Analyse von Ideologien in Krisenzeiten und Herbert Marcuses Begriff der technologischen Rationalität zusammenhängen. <?page no="191"?> Facebook und WhatsApp: Überwachung im Zeitalter der Falschnachrichten Schlüsselfragen  Wie funktioniert die politische Ökonomie von Facebook und Whats-App?  Wie ist Facebook kritisiert worden?  Welche Ideologien existieren auf und über Facebook?  Welche Auswirkungen haben der Cambridge Analytica-Skandal, die Internet Research Agency und Falschnachrichten in den sozialen Medien? Schlüsselkonzepte  Digitale Arbeit  Personalisierte Werbung  Metaverse  Die Ideologie der „Likes“  Überwachung  Postfaktizität  Falschnachrichten (Fake News)  Anti-soziale soziale Medien 6.1 Überblick Facebook ist die beliebteste Social-Networking-Seite (SNS). SNS sind webbasierte Plattformen, die verschiedene Medien-, Informations- und Kommunikationstechnologien integrieren; die zumindest die Generierung von Profilen, die Informationen zur Beschreibung der Nutzer: innen anzeigen, sowie die Anzeige von Verbindungen (Verbindungsliste), die Herstellung von Verbindungen zwischen Nutzer: innen, die auf ihren Verbindungslisten angezeigt werden, und die Kommunikation zwischen Nutzer: innen ermöglichen (Fuchs 2009b). Mark Zuckerberg, Eduardo Saverin, Dustin Moskovitz und Chris Hughes, die damals Harvard-Studenten waren, gründeten 2004 Facebook. Der Film The Social Network (Columbia Pictures, 2010) beschreibt die Geschichte von Facebook als ein Haufen talentierter Harvard-Studenten, die es aufgrund einer guten Idee schafften, Milliardäre zu werden und den amerikanischen Traum, reich und berühmt zu werden, verwirklichten. Der Film umrahmt die Geschichte in individualistischen Begriffen und vernachlässigt es, zu zeigen, dass Facebook, wie die meisten großen Technologieunternehmen im Silicon Valley, Millionen an Risikokapital von Peter Thiel, Accel Partners, Jim Breyer und anderen erhielt, was seine Expansion als Unternehmen ermöglichte. Der Film vertritt die ideologische Ansicht, dass im amerikanischen Traum eine gute Idee wie Facebook jeden berühmt und beliebt machen kann. In Wirklichkeit hat natürlich nur eine sehr kleine Elite das Glück, reich und berühmt zu werden, gerade weil andere nicht wohlhabend sind. Im Jahr 2006 wurde Facebook <?page no="192"?> 192 6 Influencer-Kapitalismus von einem College-Netzwerk in ein allgemeines soziales Netzwerk umgewandelt, das allen offensteht. Von da an stieg die Zahl seiner Nutzer: innen rasch an. In diesem Kapitel wird Facebook kritisch analysiert. In Abschnitt 6.2 wird die politische Ökonomie von Facebook erörtert. In Abschnitt 6.3 wird die politische Ökonomie von WhatsApp analysiert. Abschnitt 6.4 untersucht die politische Ökonomie des Metaversums. In Abschnitt 6.5 geht es um die Facebook-Ideologie der „Likes“ und des Likens. Abschnitt 6.6 analysiert die Internet Research Agency und den Cambridge Analytica-Skandal als Beispiele für Falschnachrichten auf sozialen Medien. In Abschnitt 6.7 wird Shoshana Zuboffs Konzept des Überwachungskapitalismus im Kontext von Facebook/ Meta diskutiert. Abschnitt 6.8 zieht Schlussfolgerungen. 6.2 Facebooks politische Ökonomie Die Profite von Facebook Seit dem 1. Februar 2012 ist Facebook ein börsennotiertes Unternehmen. Facebook erzielt fast seine gesamten Einnahmen aus der Werbung: 98,3 Prozent im Jahr 2009, 94,6 Prozent im Jahr 2010, 85 Prozent im Jahr 2011, 84 Prozent im Jahr 2012, 89 Prozent im Jahr 2013, 92 Prozent im Jahr 2014, 95 Prozent im Jahr 2015, 97 Prozent im Jahr 2016, 98 Prozent im Jahr 2017, 99 Prozent im Jahr 2018, 97,9 Prozent im Jahr 2020, 97,5 Prozent im Jahr 2021, 97,5 Prozent im Jahr 2022 und 97,8 Prozent im Jahr 2023 69 . Facebook verwendet ein werbebasiertes Kapitalakkumulationsmodell, das von einem konstanten Zufluss von Werbeinvestitionen und der Überzeugung der in Werbung investierenden Unternehmen abhängt, dass bestimmte Formen der Werbung in bestimmten Medien ihre Profite steigern können. Abbildung 6.1 zeigt die Entwicklung der Profite von Facebook in den Jahren 2007-2019. Die Profite von Facebook wuchsen von 229 Millionen US-Dollar im Jahr 2009 auf 39,4 Milliarden im Jahr 2021, was einer Steigerung um den Faktor 172,1 entspricht. Am 17. Mai 2012 wurde Facebook ein börsennotiertes Unternehmen. Seine Aktien wurden zu einem Anfangspreis von 38 US-Dollar pro Stück angeboten. Facebook erhöhte seine Position in der Liste der größten transnationalen Unternehmen der Welt von 1071 im Jahr 2013 auf 39 im Jahr 202070. Im Jahr 2023 war es das 31. größte transnationale Unternehmen der Welt 71 . Nach kurzen Gewinneinbrüchen wie in den Jahren 2019 und 2022 haben sich die Profite von Facebook immer wieder rasch erholt. Mit den Profiten von Facebook wuchs auch der Reichtum seines Gründers und CEO massiv. Zwischen 2011 und 2019 steigerte Mark Zuckerberg sein Vermögen um den Faktor 4,6 auf über 60 Milliarden US-Dollar 72 . Im Jahr 2019 war er die sechstreichste Person der Welt 73 . Im Jahr 2023 war Zuckerberg mit einem Vermögen von 64,4 Milliarden US-Dollar der 16. reichste Mensch der Welt 74 . 69 Datenquelle: Facebook SEC Filings, Form 10-K, diverse Finanzjahre. 70 Datenquelle: Forbes 2000 List of the World’s Largest Public Companies. 71 Datenquelle: Forbes 2000 List, Jahr 2023. 72 Datenquelle: Forbes List of the World’s Billionaires. 73 Ebd. 74 Datenquelle: Forbes’ List of the Richest People in the World, Liste für 2023 https: / / www.forbes.com/ billionaires/ , abgerufen am 9. Juni 2023. <?page no="193"?> 6.2 Facebooks politische Ökonomie 193 Abbildung 6.1: Die Entwicklung der Profite von Facebook, 2007-2023, in Milliarden US$ Datenquelle: SEC Filings, Formular S1 Registration Statement: Facebook, Inc.; Formular 10-K: Annual Financial Report, verschiedene Jahre Kommodifizierung und digitale Arbeit auf Facebook In Anlehnung an Dallas Smythes (1977, 1981/ 2006) Konzept der Publikumsware wurde in Kapitel 4 die politische Ökonomie der personalisierten Werbung auf sozialen Medien diskutiert. Die Überwachung der Nutzeraktivitäten und die Kommerzialisie- <?page no="194"?> 194 6 Influencer-Kapitalismus rung der Nutzer: innen steht im Mittelpunkt der Kapitalakkumulationsstrategie vieler kommerzieller sozialer Medien. Bei der Überwachung auf Facebook handelt es sich um die Überwachung von Prosument: innen, die dynamisch nutzergenerierte Inhalte erstellen und teilen, Profile und Daten durchsuchen, mit anderen interagieren, Gemeinschaften beitreten, erstellen und aufbauen und Informationen mitgestalten. Die kapitalistische Plattform überwacht und erfasst kontinuierlich persönliche Daten und Online-Aktivitäten. Sie speichert, sammelt, kombiniert und analysiert Daten. Auf diese Weise werden detaillierte Benutzerprofile erstellt und Facebook weiß über die persönlichen Interessen und das Online-Verhalten der Benutzer: innen Bescheid. Facebook verkauft Werbeflächen an Kund: innen. Es verwendet alle überwachten persönlichen Daten, um Bündel von Benutzergruppen zu erstellen, die bestimmte Merkmale aufweisen (z.B. weiblich, Altersgruppe 19-35 Jahre, an Rockmusik interessiert, in Frankreich oder im Vereinigten Königreich lebend). Die Aufmerksamkeit dieser Nutzerbündel wird an Werbetreibende verkauft, die dafür bezahlen, dass ihre Werbeanzeigen gezielt auf den Profilen der Zielgruppen präsentiert werden. Die Betreiber von kapitalistischen Plattformen kommodifizieren die Daten und die Aufmerksamkeit der Facebook-Nutzer: innen. Dieser Prozess führt dazu, dass die Nutzer: innen verstärkt der Warenlogik ausgesetzt sind. Sie sind doppelte Objekte der Kommodifizierung: Die Produkte ihrer Subjektivität sind Waren, und durch diese Kommodifizierung wird ihr Bewusstsein, während sie online sind, permanent der Warenlogik in Form von Werbung ausgesetzt. Die meiste Online-Zeit ist Werbezeit. Auf Facebook macht sich personalisierte Werbung die persönlichen Daten, Interessen, Interaktionen, das Informationsverhalten der Nutzer: innen und auch Interaktionen mit anderen Websites zunutze. Während Sie Facebook verwenden, interagieren Sie nicht nur mit anderen und surfen auf Profilen - all diese Aktivitäten werden von Werbung umrahmt, die Ihnen präsentiert wird. Diese Werbungen entstehen durch die permanente Überwachung Ihrer Online-Aktivitäten. Solche Anzeigen stellen nicht unbedingt die tatsächlichen Bedürfnisse und Wünsche der Konsument: innen dar, da die Anzeigen auf berechneten Annahmen beruhen, während die realen Bedürfnisse der Menschen viel komplexer und spontaner sind. Die Anzeigen spiegeln hauptsächlich Marketing-Entscheidungen und wirtschaftliche Machtverhältnisse wider: Sie bieten nicht einfach nur Vorschläge zum Kauf bestimmter Waren, sondern Vorschläge von Unternehmen, die genug Geld für den Kauf von Werbeflächen zur Präsentation bestimmter Waren haben. Facebook als eine Überwachungsmaschine Michel Foucault war ein französischer Philosoph, der am besten bekannt ist für seine Theorie der Überwachung in dem Buch Überwachen und Strafen (Foucault 1976). Er versteht unter Überwachung die Sammlung von Informationen über die Menschen, um ihr Verhalten zu kontrollieren. Er nennt diese Kontrolle Disziplinarmacht und argumentiert, dass Überwachung eine Form von Disziplinarmacht ist. Überwachung ist die systematische Sammlung und Nutzung von Informationen, um Einzelpersonen und Gruppen zu beherrschen (Fuchs 2011c, 2013a). Verallgemeinert man Marx’ Analyse des Kapitalismus, so kann man sagen, dass moderne Herrschaft auf die Anhäufung von Geld (wirtschaftliche Macht), Entscheidungsmacht (politische Macht) und Reputation/ Definitionsmacht (kulturelle und ideologische Macht) abzielt. Kombiniert man Marx und Foucault (1976), kann man sagen, dass Überwachung eine systema- <?page no="195"?> 6.2 Facebooks politische Ökonomie 195 tische Sammlung und Nutzung von Informationen für die Akkumulation von Macht ist (siehe auch Fuchs 2013). Facebook ist ein kapitalistisches Unternehmen, das als Überwachungsmaschine fungiert. Es akkumuliert Kapital mithilfe von personalisierter Werbung. Facebook schneidet die Werbung auf die Konsuminteressen der Nutzer: innen zu. Social-Networking- Seiten eignen sich besonders gut für personalisierte Werbung, da sie eine große Menge an persönlichen Daten, Vorlieben und Abneigungen der Nutzer: innen speichern und kommunizieren, die es Algorithmen ermöglichen, zu erkennen und zu berechnen, welche Produkte die Nutzer: innen wahrscheinlich kaufen werden. Dies erklärt, warum personalisierte Werbung die Haupteinnahmequelle und das Geschäftsmodell der meisten profitorientierten Social-Networking-Seiten ist. Facebook setzt auf Massenüberwachung, weil es die persönlichen Daten und das Nutzungsverhalten von mehreren hundert Millionen Nutzer: innen speichert, vergleicht, bewertet und verkauft. Diese Massenüberwachung ist aber gleichzeitig personalisiert und individualisiert, weil die detaillierte Analyse der Interessen und des Surfverhaltens jedes Nutzers und der Vergleich mit dem Online-Verhalten und den Interessen anderer Nutzer: innen es Facebook ermöglicht, die Nutzer: innen in Konsumenten-/ Interessen-Gruppen zu sortieren und jedem/ jeder einzelnen Nutzer: in Werbung zukommen zu lassen, die auf der Grundlage algorithmischer Auswahl- und Vergleichsmechanismen die Konsuminteressen der Nutzer: innen widerspiegeln soll. Die Facebook- Überwachung ist eine Massen-Selbst-Überwachung (Fuchs 2011a). Massen-Selbst- Überwachung (Fuchs 2011a) ist die Schattenseite der Massen-Selbst-Kommunikation (Castells 2009) unter kapitalistischen Bedingungen. Damit diese Form der Internet- Überwachung funktioniert, sind der ständige Input und die Aktivität der Nutzer: innen erforderlich. Die spezifischen Merkmale des Web 2.0/ sozialer Medien, insbesondere das Hochladen von nutzergenerierten Inhalten und permanente Kommunikationsflüsse, ermöglichen diese Form der Überwachung. Gebühren für werbefreie Versionen von Facebook und Instagram Im November 2023 führte Meta eine Kombination aus Werbung und Abonnement als Kapitalakkumulationsmodell auf Facebook und Instagram in der EU ein. Den Nutzer: innen in den EU-Ländern wurde angeboten, die auf gezielter Werbung basierenden Versionen der beiden Plattformen weiterhin gratis zu nutzen oder eine Gebühr für werbefreie Versionen zu entrichten. Die anfängliche Gebühr betrug 9,99 € pro Monat für die Nutzung auf WWW-basierten Browsern und 12,99 € für die Nutzung auf Handy-Apps. Die Nutzer: innen mussten nicht getrennt für Facebook und Instagram zahlen. Eine Gebühr galt für alle ihre Konten, die mit ihrem registrierten Profil verknüpft waren. Meta argumentiert, dass es dieses Modell eingeführt hat, um die Datenschutzrichtlinien der EU einzuhalten. Das EU-Gesetz über digitale Märkte schreibt vor, dass Plattformen die ausdrückliche Zustimmung der Nutzer: innen für deren Überwachung zum Zweck der gezielten Werbung einholen müssen. Meta sagt, dass die Bereitstellung einer werbefreien Option bedeutet, dass eine solche Zustimmung vorliegt, da die Nutzer: innen sich für eines von zwei Geschäftsmodellen entscheiden müssen. Das Unternehmen behauptet, dass es damit einem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) folgt: „The option for people to purchase a subscription for no ads balances the requirements of European regulators while giving users choice and allowing Meta to continue serving all people in the EU, EEA and Switzerland. In its ruling, the CJEU expressly recognised that a <?page no="196"?> 196 6 Influencer-Kapitalismus subscription model, like the one we are announcing, is a valid form of consent for an ads funded service“ (Meta Platforms 2023). Der Privatsphäre-Aktivist Max Schrems argumentiert gegen Meta, dass man für den Schutz der Privatsphäre nicht bezahlen sollte, ebenso wenig wie man nicht „ für das Wahlrecht oder das Recht auf freie Meinungsäußerung bezahlen “ müssen sollte, denn sonst würden „ nur die Reichen in den Genuss dieser Rechte kommen“ (noyb 2023, Kursivschrift im Original). Meta zwingt seine Nutzer: innen dazu, entweder einer die Privatsphäre verletzenden Überwachung in Verbindung mit der Ausbeutung ihrer digitalen Arbeitskraft zuzustimmen oder eine beträchtliche Summe für ein Modell zu zahlen, das weniger in die Privatsphäre eingreift. Es gibt keinen in die Plattformen eingebauten Datenschutz ( Privacy by Design ). Vielmehr müssen die Nutzer: innen für mehr Privatsphäre bezahlen. In beiden Fällen ist der Profit von Meta das Ergebnis und die Leitlogik. Facebooks Profitrate Die Profitrate wird berechnet als: PR = Profit / Investitionskapital. Die Investitionskosten werden durch die Gesamteinnahmen abzügloch des Profits approximiert. Je höher die Profitraterate, desto profitabler ist ein Unternehmen. Die zwanzig größten Informationsunternehmen hatten im Jahr 2019 eine durchschnittliche Gewinnquote von 18,9 Prozent, was eine sehr hohe Profitabilität darstellt (Datenquelle: Forbes 2000 Liste der weltgrößten Unternehmen für das Jahr 2019). Das bedeutet, dass die Gewinne der großen Informationskonzerne fast 20 Prozent ihrer Investitionen ausmachten. Facebook hatte eine Profitrate von 39,6 Prozent, mehr als doppelt so hoch wie die durchschnittliche Profitrate. Im Jahr 2019 war Facebook das profitabelste Digital- und Informationsunternehmen der Welt. Im Jahr 2022 sank der Profit von Facebook von 39,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 auf 23,2 Milliarden (siehe Tabelle 6.1). Die wirtschaftliche Lage nach der Pandemie und der Krieg in der Ukraine führten zu Inflation, Angst vor dem Bankrott und wirtschaftlichem Niedergang. Infolgedessen gingen der Konsum und die Investitionen in Werbung und Online-Dienste zurück. Facebook war von dieser Situation betroffen. Im Jahr 2023 stieg der Gewinn von Facebook aber wieder signifikant an und erreichte den bis dahin zweithöchsten Wert (siehe Tabelle 6.1). Tabelle 6.1 zeigt die Profitrate aller 16 Medien- und Digitalkonzerne, die im Jahr 2023 zu den Top-100 der weltweit größten 100 Unternehmen gehörten. Für diese Unternehmen sind Daten über ihre jährlichen Einnahmen und Profite verfügbar. Zieht man die Profite von den Einnahmen ab, erhält man das jährliche Investitionskapital. Dividiert man den Profit durch das Investitionskapital, so erhält man die Profiterate. Multipliziert man den resultierenden Faktor mit 100, erhält man die Profitrate in Prozent. Tabelle 6.1 zeigt die Ergebnisse der Berechnungen. Im Jahr 2022 hatte Facebook trotz eines Gewinnrückgangs immer noch eine Profitrate von 22,4 %, die der durchschnittlichen Profitrate (22,3 %) aller Medien- und Informationsunternehmen entsprach, die in den Top-100 der Forbes Global 2000-Liste der weltweit größten Unternehmen für 2023 aufgeführt waren (siehe Tabelle 6.1). Die Profitrate von Facebook war auch höher als die durchschnittliche Profitrate der 100 größten Unternehmen der Welt, die bei 18,2 % lag. <?page no="197"?> 6.2 Facebooks politische Ökonomie 197 Rang Unternehmen Hauptquartier Gründungsjahr Umsatz (Mrd. US$) Profit (Mrd. US$) Profitrate (in %) 7 Alphabet USA 1998 282,85 58,59 26,1% 9 Microsoft USA 1975 207,59 69,02 49,8% 10 Apple USA 1976 385,1 94,32 32,4% 14 Samsung Group Südkorea 1938 220,07 34,49 18,6% 22 Verizon Communications USA 1983 136,19 21,59 18,8% 25 China Mobile Hongkong 1997 140,53 18,76 15,4% 31 Meta Platforms USA 2004 117,35 21,44 22,4% 33 Tencent Holdings China 1998 82,41 27,26 49,4% 36 Amazon USA 1994 524,9 4,29 0,8% 41 Deutsche Telekom Deutschland 1995 120,72 8,41 7,5% 44 Taiwan Semiconductor Taiwan 1987 75,03 33,57 81,0% 51 Comcast USA 1963 120,11 5,66 4,9% 54 Alibaba Group China 1999 128,26 4,46 3,6% 56 Nippon Telegraph & Telephone Japan 1952 97,36 9,00 10,2% 57 Sony Japan 1946 85,15 6,92 8,8% 80 Oracle USA 1977 47,96 8,37 21,1% 87 Walt Disney USA 1923 84,07 3,32 4,1% 93 Cisco Systems USA 1984 53,16 11,30 27,0% Durchschnittliche Profitrate in der Medien- und Digitalbranche 22,3% Durchschnittliche Profitrate der 100 größten Unternehmen der Welt 18,2% Tabelle 6.1: Die Profitraten der weltweit größten Medien- und Digitalkonzerne im Jahr 2022 (Datenquelle: Forbes Global 2000 List, Jahr 2023) <?page no="198"?> 198 6 Influencer-Kapitalismus Facebook benötigt keine großen Mengen an Arbeitskräften, nur einige Software-Ingenieure und -Ingenieurinnen sowie Marketingexpert: innen. Die Hauptarbeiter: innen, die den wirtschaftlichen Wert von Facebook schaffen, sind seine Nutzer: innen. Die Nutzer: innen sind unbezahlt, was die niedrigen Investitionskosten und hohen Profite von Facebook ermöglicht. Die relativ hohe Profitrate von Facebook ist auf die hohe Ausbeutung der Nutzer: innen zurückzuführen, die unbezahlte Arbeit und Mehrwert schaffen. Zu der Zeit, als Facebook wegen des Cambridge Analytica-Skandals unter extremer öffentlicher Beobachtung und Kritik stand (siehe Abschnitt 6.7 in diesem Kapitel), war das Unternehmen das profitabelste Digital- und Informationsunternehmen der Welt und konnte seine Gewinne weiter steigern. Entlassungen Im Herbst 2022 entließ Facebook/ Meta Platforms 11.000 Mitarbeiter: innen. Im März 2023 kündigte der Digitalriese die Entlassung von weiteren 10.000 Mitarbeiter: innen an. Infolgedessen sank die Zahl der Beschäftigten von 86.482 zum 31. Dezember 2022 auf 77.114 zum 31. März 2023 75 . In seinem Jahresfinanzbericht begründete Meta den Stellenabbau wie folgt: „Zu Beginn der COVID-19-Pandemie verlagerte sich die Welt rasch ins Internet, und die Welle des Online-Handels führte zu einem beschleunigten Umsatzwachstum. Viele sagten voraus, dass dies eine dauerhafte Beschleunigung sein würde, die auch nach dem Ende der Pandemie anhalten würde. Stattdessen kehrte nicht nur der Online- Handel zu früheren Trends zurück, sondern auch das schwierigere makroökonomische Umfeld und die Beschränkungen unserer Tools für die Ausrichtung und Messung von Anzeigen trugen neben anderen Faktoren zu einem Rückgang unserer Einnahmen bei “ 76 . Da das Kapitalakkumulationsmodell von Facebook auf Werbung basiert und die Werbeeinnahmen die allgemeine Situation der kapitalistischen Wirtschaft widerspiegeln, hängen die Rentabilität und die Einnahmen des Unternehmens von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung ab. Lange Zeit haftete den Silicon-Valley-Unternehmen der Nimbus des endlosen Wachstums und der hohen Profitabilität an. In Wirklichkeit sind sie krisenanfällig, genau wie der Kapitalismus als Ganzes. Der Kapitalismus ist ein krisenanfälliges System. Da der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Tech-Unternehmen eher gering ist, waren die Beschäftigten von Facebook auf die Entlassungen schlecht vorbereitet und leisteten keinen Widerstand in Form von Streiks. Die Entlassungen im digitalen Technologiesektor zeigen, dass die digitalen Arbeiter: innen eine starke, globale, einheitliche Gewerkschaft brauchen, damit sich die digitalen Arbeiter: innen der Welt zusammenschließen und für gute Arbeitsbedingungen in einer guten Gesellschaft kämpfen. Facebooks Übernahme anderer Unternehmen Die Übernahmestrategie von Facebook besteht darin, andere Online-Technologieanbieter zu kaufen, die entweder direkt mit Facebook konkurrieren könnten oder die es dem Unternehmen ermöglichen, seine eigene Plattform und seine Dienstleistungen in anderen technologischen Bereichen zu verbessern. Die wichtigsten Übernahmen 75 Datenquelle: Meta Platforms SEC-Filings Form 10-K, Finanzjahr 2022; Meta Platforms SEC-Filings Form 10-Q, erstes Vierteljahr 2023 76 Meta Platforms SEC-Filings Form 10-K, Finanzjahr 2022. <?page no="199"?> 6.3 Die politische Ökonomie von WhatsApp 199 von Facebook waren das neurale Schnittstellen-Start-Up-Unternehmen CTRL-labs (2019, zwischen 0,5 und 1 Milliarde US-Dollar), das Armbänder entwickelt, die elektrische Signale vom Gehirn zu Computern übertragen, der Anbieter von Instant-Messaging-Apps für Mobiltelefone WhatsApp (2014, 19 Milliarden US-Dollar), das Online- Video-Werbeunternehmen LiveRail (2014, 500 Millionen US-Dollar), Oculus Virtual Reality, das Head-Mounted-Displays herstellt (2014, 2 Milliarden US-Dollar), das Werbetechnologieunternehmen Atlas (2013, 100 Millionen US-Dollar), die Foto-Sharing- Plattform Instagram (2012, 1 Milliarde US-Dollar), das Gesichtserkennungs-Softwareunternehmen Face.com (2012, 100 Millionen US-Dollar) und der Entwickler mobiler Anwendungen Snaptu (2011, 70 Millionen US-Dollar). WhatsApp und Instagram sind Beispiele für soziale Medien, die mit Facebook konkurrierten, was dazu führte, dass Facebook nach der Übernahme der Unternehmen horizontal in die sozialen Medien integriert wurde. Die Übernahmen von CTRL-labs, Oculus, Atlas, Face.com und Snaptu sind Beispiele für die vertikale Integration, wodurch Facebook seine Dienstleistungen auf andere Bereiche wie Werbung, Mobiltelefone und Foto-Tagging ausweitete. Zusammengenommen stellen diese Übernahmen einen Fall von Konglomeration innerhalb des Medientechnologiesektors dar. Der Kauf von WhatsApp im Jahr 2014 verschaffte Facebook eine starke Präsenz auf dem Markt der mobilen Online-Kommunikation. Instagram ist zu einem sehr beliebten sozialen Netzwerk geworden, das sich auf das Teilen von Bildern konzentriert. Durch diese Übernahme konnte Facebook seine Präsenz im Bereich der Content-Sharing- Netzwerke verstärken. 6.3 Die politische Ökonomie von WhatsApp Brian Acton und Jan Koum gründeten 2009 den Messaging- und Voice-over-IP-Dienst WhatsApp. Im Jahr 2014 erwarb Facebook WhatsApp für 19 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2019 hatte WhatsApp 1,5 Milliarden aktive Nutzer: innen; der durchschnittliche Nutzer rief WhatsApp 23 Mal am Tag auf (99Firms 2019). Im Jahr 2023 gab es über 2 Milliarden monatlich aktive Nutzer: innen von WhatsApp (99Firms 2023). Im Jahr 2023 waren die am häufigsten heruntergeladenen Apps, gemessen an der Anzahl der Downloads, folgende: (1) TikTok, (2) Instagram, (3) Facebook, (4) WhatsApp, und (5) CapCut (BusinessOfApps 2023). Während Meta Plaforms/ Facebook Eigentümer von Instagram, Facebook und WhatsApp ist, gehören die beliebtesten Apps TikTok und CapCut dem chinesischen Unternehmen ByteDance. Während Facebook das globale App-Geschäft im Jahr 2019 noch stark dominierte, ist danach ByteDance zu seinem Hauptkonkurrenten geworden (siehe auch Kapitel 10 in diesem Buch, in dem eine Analyse der politischen Ökonomie von TikTok vorgestellt wird). Im Jahr 2012 erklärte WhatsApp in seinen Nutzungsbedingungen, dass seine Eigentümer keine Fans von Werbung sind. Sie erkannten auch implizit die Einsicht von Dallas Smythe an, dass das Publikum und die Nutzer: innen von werbefinanzierten Medien das Produkt und der Rohstoff sind: „We are not fans of advertising. WhatsApp is currently ad-free and we hope to keep it that way forever. We have no intention to introduce advertisement into the product, but if we ever do, will update this section“ 77 . 77 www.whatsapp.com/ legal/ , Version vom 7. Juli 2012, aufgerufen am 3. November 2015. <?page no="200"?> 200 6 Influencer-Kapitalismus „These days companies know literally everything about you, your friends, your interests, and they use it all to sell ads. […] Remember, when advertising is involved you the user are the product. “ 78 Angesichts dieser Kritik an der Werbung ist es interessant, dass WhatsApp an Facebook verkauft wurde. Facebook kontrolliert zusammen mit Google den Großteil der personalisierten digitalen Werbung und erzielt fast seine gesamten Einnahmen aus Anzeigen. Facebook hat verschiedene Optionen für die Einführung der Warenform auf WhatsApp: [1] Facebook kann WhatsApp unberührt von der Warenform lassen und den Dienst über Facebook- und Instagram-Einnahmen finanzieren. [2] Facebook kann textund/ oder audio-basierte Werbeformen oder personalisierte Werbung auf WhatsApp verwenden. Wenn WhatsApp-Telefongespräche durch Spracherkennungssoftware überwachen und personalisierte Werbung die Gespräche unterbrechen würde, wäre es wahrscheinlich, dass Nutzer: innen ziemlich unzufrieden wären. Es würde ihnen klar werden, dass die Überwachung und Sammlung von Big Data sogar ihre privaten Telefongespräche betreffen. [3] die Überwachung von WhatsApp-Daten und die Vernetzung von WhatsApp-Daten mit Facebook- und Instagram-Daten, um personalisierte Werbung auf Facebook und Instagram, aber nicht auf WhatsApp anbieten zu können. [4] Facebook kann eine Kommodifizierungsstrategie einführen, die nicht auf Werbung basiert, wie etwa die Erhebung von Gebühren für bestimmte Dienstleistungen. Es kann zum Beispiel spezielle Dienste für Unternehmen anbieten, die kostenpflichtig sind, und eine Zahlungsfunktion, bei der für alle oder bestimmte Transaktionen eine geringe Gebühr erhoben wird. WhatsApp hat solche Dienste eingeführt, nämlich WhatsApp Business und WhatsApp Pay. 2024 war die Datenschutzrichtlinie von WhatsApp vom 4. Januar 2021 in Kraft. Sie legt fest, dass WhatsApp Nachrichten, Fotos, Videos, Sprachanrufe und Dateien nicht zentral speichert. Zu den Daten, die es über Nutzer: innen speichert, gehören Profildaten, Standortdaten, Aktivitätsdaten, Protokolldaten, Gerätedaten und Verbindungsdaten. Die Richtlinie betont: „Respect for your privacy is coded into our DNA. Since we started WhatsApp, we've built our services with a set of strong privacy principles in mind. […] We still do not allow third-party banner ads on our Services. We have no intention to introduce them, but if we ever do, we will update this Privacy Policy” 79 . WhatsApp ist gemäß seinen Datenschutzrichtlinien berechtigt, Benutzerdaten mit anderen Facebook-Diensten zu teilen und solche Daten auch von anderen Facebook- Diensten zu erhalten: „As part of the Meta Companies, WhatsApp receives information from, and shares information […] with, the other Meta Companies. We may use the information we receive from them, and they may use the information we share with them, to help 78 http: / / blog.whatsapp.com/ index.php/ 2012/ 06/ why-we-dont-sell-ads/ , aufgerufen am 9. April 2014. 79 WhatsApp Privacy Policy, Version vom 19. Dezember 2019, https: / / www.whatsapp.com/ legal? eea=0#privacy-policy, aufgerufen am 9. Juni 2023. <?page no="201"?> 6.3 Die politische Ökonomie von WhatsApp 201 operate, provide, improve, understand, customize, support, and market our Services and their offerings, including the Meta Company Products ” 80 . WhatsApp kann die Metadaten der Nutzer: innen mit Facebook und Instagram teilen, die diese für personalisierte Werbung verwenden. Das bedeutet, dass, wenn ich über mein Telefon einen WhatsApp-Anruf an ein bestimmtes Unternehmen tätige, Facebook diese Informationen erhalten und mir eine Werbung präsentieren kann, die von einem Unternehmen bezahlt wird, das mit dem Unternehmen konkurriert, das ich über WhatsApp angerufen habe. Kim Doyle kommentiert die politische Ökonomie von WhatsApp: „Durch die Übernahme von WhatsApp wird die Menge der für Facebook verfügbaren Daten potenzieller Nutzer: innen erweitert. […] Mobile Technologien erzeugen größere Datenmengen über Kund: innen in Verbindung mit Facebook-Profilen; dies ist eine beeindruckende Datenquelle. Die Übernahme von WhatsApp könnte Facebook in die Lage versetzen, den Nutzer: innen mit Hilfe eines Authentifizierungsprogramms integrierte Zwillingskonten anzubieten, die Facebook Einblicke in den Standort der Nutzer: innen und die Nachrichtenmuster geben könnten - alles unschätzbare Informationen für die Marketingkund: innen von Facebook” (Doyle 2015, 60, 61). WhatsApp bietet eine Business-App, mit der Unternehmen ihre Kundenkontakte verwalten und Nachrichten beantworten und automatisieren können. Dafür gibt es die WhatsApp Business API, mit der Facebook Geld verdient. Unternehmen müssen für den Zugang zu diesem Service bezahlen. Die API ermöglicht es Nutzer: innen beispielsweise, mit Unternehmen in Kontakt zu treten und etwas zu bestellen, und es findet eine automatisierte Interaktion mit dem Kunden statt, sodass eine Bestellung aufgegeben wird. 2023 führte WhatsApp WhatsApp Pay ein, einen Zahlungsdienst. Er wurde zunächst in Indien und Brasilien eingeführt. WhatsApp-Nutzer: innen können Händler, die ein WhatsApp-Geschäftskonto haben, über WhatsApp Pay bezahlen. Sie können auch Geld an andere Nutzer: innen senden. Für die Zahlungen wird eine geringe Gebühr erhoben. Mit der Einführung von WhatsApp Business und WhatsApp Pay hat Meta Strategien zur Kommodifizierung und Kapitalakkumulation der App eingeführt. WhatsApp ist die erfolgreichste und am weitesten verbreitete Messaging-App der Welt. WeChat von Tencent ist eine vergleichbare App mit Schwerpunkt auf dem chinesischen Markt (siehe Chen et al. 2018). Zu den Funktionen von WeChat gehören textbasierte zwischenmenschliche Nachrichten und Gruppennachrichten, Audio- und Videochats, Telefonkonferenzen, Dateitransfer, Spiele, Scannen von QR-Codes, Social-Media-Profile (Moments), Unternehmensprofile und -dienste (Official Accounts) sowie Online-Zahlungen (WePay). Bei WeChat gibt es Stichwort-Filterung, Stichwort-Zensur und staatliche Überwachung (Chen, Mao & Qiu 2018, 42). Chinesische Internet-Nutzer: innen nutzen WeChat nicht nur zur Kommunikation, sondern auch zur Organisation von Dienstleistungen wie Taxifahrten, Flügen oder Arztterminen. So werden z.B. die meisten Fahrten mit Didi Chuxing, Chinas Äquivalent zu Uber, auf Didis WeChat-Konto bestellt und über WePay bezahlt. Chen, Mao & Qiu (2018) beschreiben WeChat als super-klebrige Megaplattform, die es ermöglicht, Apps 80 WhatsApp Privacy Policy, Version vom 4. Januar 2021, https: / / www.whatsapp.com/ legal/ privacy-policy, abgerufen am 21. September 2023. <?page no="202"?> 202 6 Influencer-Kapitalismus innerhalb einer App zu „kleben“, um viel Online-Aufmerksamkeitszeit der Nutzer: innen auf WeChat zu „kleben“. Im Jahr 2022 erwirtschaftete Tencent 52 Prozent seiner Einnahmen aus WeChat-Online-Diensten, 15 Prozent aus Online-Werbung und 33 Prozent aus anderen Diensten wie Cloud-Services und Finanztechnologien (wie WePay) 81 . Die Kommunikation über Messaging-Apps hat einen weniger öffentlichen und eher zwischenmenschlichen Charakter als bei Facebook. Facebook erwarb WhatsApp im Jahr 2014. Angesichts des kapitalistischen Charakters von Facebook ist es offensichtlich, dass das Unternehmen bei Übernahmen einen Profitimperativ hat. Die Diskussion hat gezeigt, dass Facebook eine Vielzahl von Möglichkeiten hat, wie man versuchen kann, die massive Menge an persönlichen Nutzerdaten, die von Milliarden von Nutzer: innen auf WhatsApp generiert werden, zu monetarisieren. Im Jahr 2022 erwirtschaftete Facebook einen Gesamtumsatz von 116,609 Milliarden US-Dollar. 113,642 Milliarden US-Dollar, das sind 97,5 % der Gesamteinnahmen 2022, stammen aus dem Verkauf von Werbeanzeigen. 808 Millionen US-Dollar, d. h. 0,7 % der Gesamteinnahmen 2022, stammen aus dem Verkauf von Apps ohne Werbung, zu denen auch WhatsApp-Dienste gehören. Im Vergleich zu WhatsApp hat Facebook ein Geschäftsmodell, das sehr stark auf Werbung basiert. Die Zukunft wird zeigen, ob Facebook an dem werbebasierten Kapitalakkumulationsmodell festhält oder seine Akkumulationsstrategie umstellt. 6.4 Die Politische Ökonomie des Metaverse Im Jahr 2021 änderte Facebook seinen Firmennamen in Meta Platforms und kündigte an, dass es ein Metaverse schaffen wolle. Das Metaversum, das Facebook plant und schaffen will, ist eine Virtual-Reality-Plattform, in die die Nutzer: innen mit der Hilfe von Augmented-Reality-Headsets eintauchen. „Der Schwerpunkt von Meta liegt darauf, das Metaverse zum Leben zu erwecken und Menschen dabei zu helfen, Kontakte zu knüpfen, Gemeinschaften zu finden und Unternehmen aufzubauen. Es wird Ihnen ermöglichen, mit anderen Menschen eindringliche Erfahrungen zu teilen, auch wenn Sie nicht zusammen sein können - und Dinge gemeinsam zu tun, die Sie in der physischen Welt nicht tun könnten. Es ist die nächste Entwicklung in einer langen Reihe sozialer Technologien und läutet ein neues Kapitel für unser Unternehmen ein” (Meta Platforms 2021). In einem Vortrag kündigte Mark Zuckerberg den Übergang von Facebook zu Meta Platforms an: „Die nächste Plattform und das nächste Medium werden sogar noch immersiver sein, ein verkörpertes Internet, bei dem man mittendrin ist und nicht nur zuschaut. Wir nennen dies das Metaverse. Man wird fast alles tun können, was man sich vorstellen kann, sich mit Freunden und der Familie treffen, arbeiten, lernen, spielen, einkaufen, kreativ sein und ganz neue Kategorien nutzen können, die nicht wirklich zu dem passen, was wir heute über Computer oder Telefone denken. [...] Sie werden das Gefühl haben, dass Sie zusammen in einer anderen Welt sind, nicht nur allein an Ihrem Computer. [...] Stellen Sie sich vor, Sie setzen Ihre Brille oder Ihr Headset auf, und schon sind Sie in Ihrem Zuhause. Dort sind Teile Ihres physischen Zuhauses virtuell nach- 81 Datenquelle: Tencent Holdings Limited, 2022 Annual Report. <?page no="203"?> 6.4 Die politische Ökonomie von Metaverse 203 gebildet, es gibt Dinge, die nur virtuell möglich sind, und es gibt einen unglaublich inspirierenden Blick auf das, was Sie am schönsten finden. [...] Avatare werden so alltäglich sein wie heute Profilbilder, aber statt eines statischen Bildes werden sie lebendige 3D-Darstellungen von Ihnen sein [...] Ich glaube, das Metaverse ist das nächste Kapitel für das Internet, und es ist das nächste Kapitel für unser Unternehmen” (Zuckerberg 2021). Warum hat Facebook solche Pläne zur Schaffung einer neuen Plattform angekündigt? Facebook als Plattform steht im harten Wettbewerb mit anderen Plattformen wie TikTok. Das Unternehmen hat einen Rückgang der Einnahmen und des Profits zu verzeichnen. WhatsApp ist eine sehr beliebte App, aber es ist schwierig, damit Profit zu machen. Daher sucht Facebook nach neuen Wegen, um Kapital zu akkumulieren. Eine völlig neue Plattform verspricht neue Wege der Profitgenerierung. In den 1990er Jahren wurde viel darüber gesprochen, wie unsere Erfahrungen und die Medienwelt durch Virtual-Reality-Technologien wie VR-Headsets, Datenhandschuhe und Datenanzüge verändert werden würden. Es stellte sich heraus, dass die Nutzer: innen es vorzogen, nicht in künstliche Realitäten einzutauchen oder künstliche Avatare zu verwenden, sondern ihre eigene Identität zu nutzen, um mit anderen auf eine Weise zu kommunizieren, die keine künstlichen Prothesen wie VR-Headsets erfordert. Eine Grenze von VR-Systemen ist, dass große Headsets nicht im Alltag getragen werden können. In Zukunft könnten sie miniaturisiert oder in normale Brillen eingebaut werden. Mark Zuckerberg (2021) sagt, dass „das ultimative Ziel hier echte Augmented-Reality-Brillen sind“. Die Frage ist jedoch, ob die Nutzer: innen wirklich daran interessiert sind, künstliche VR-Welten zu bevölkern und darin zu kommunizieren. Second Life ist eine immersive virtuelle Online-Welt, die 2003 von Linden Lab geschaffen wurde. Es war eine frühe Version dessen, was Facebook als Metaverse bezeichnet. Eine Zeit lang wurde Second Life viel diskutiert und oft als das nächste große Ding im Internet dargestellt. Es stellte sich jedoch heraus, dass es nicht mit Facebook und YouTube konkurrieren konnte, die viel populärer wurden. Die Nutzung von Second Life ging zurück und wurde unpopulär. Zuckerbergs Metaverse klingt wie eine Rückkehr zu Second Life, eine Wiederbelebung und Weiterentwicklung davon. Facebook hat Second Life verdrängt. Angesichts der Krise kehrt Facebook zu der Idee von Second Life zurück, die es zu integrieren versucht, um eine neue Plattform zu schaffen, die Nutzer: innen und Werbekunden anzieht. Da Second Life gescheitert ist, ist es ungewiss, ob eine aktualisierte Version davon erfolgreich sein wird oder nicht. Letztendlich geht es bei der Idee des Metaversums nur um Werbung und Profit, wie Zuckerberg (2021) zugibt: „Genau wie im heutigen Internet werden mehr Menschen die Freiheit haben, ein Geschäftsmodell zu finden, das für sie funktioniert, sei es in Form von Auftragsarbeiten, Trinkgeldern, Abonnements, Werbung oder anderen Monetarisierungsinstrumenten, die nur im Metaverse Sinn machen”. Im Jahr 2022 hatte Meta mit Rentabilitätsproblemen zu kämpfen. Im November 2022 baute Meta Platforms 11.000 Stellen ab. Im Frühjahr 2023 kündigte das Unternehmen weitere 10.000 Entlassungen an. Während OpenAIs ChatGPT auf großes Interesse stieß, interessierte sich niemand für Metas Horizon Worlds, ein Virtual-Reality-Computerspiel, das ein VR-Headset erfordert und eine Art Metaverse-Prototyp darstellt. <?page no="204"?> 204 6 Influencer-Kapitalismus Im Jahr 2023 kündigte Zuckerberg an, dass Meta sich mehr auf generative KI konzentrieren will, was der Anfang vom Ende der Vision eines Metaverse sein könnte 82 . 6.5 Facebook und die „Like“-Ideologie Die Emotions-Schaltflächen Bei Facebook geht es nicht nur darum, Inhalte zu posten. Viele der Leser: innen dieses Buches haben wahrscheinlich schon häufig Texte, Bilder oder Videos auf Facebook oder der Tochterplattform Instagram gepostet. Es gibt aber auch einen emotionalen Aspekt von Facebook. Wir drücken Emotionen auf Facebook und Instagram aus, indem wir die Postings anderer Nutzer: innen mögen. Heutzutage erlaubt Facebook auch, Emotionen wie Liebe, Lachen, Überraschung, Traurigkeit und Wut auszudrücken. Es gibt eine emotionale Dimension der sozialen Medien, die mit der Produktion nutzergenerierter Inhalte einhergeht. Emoticons sind nichts Neues und nicht spezifisch für soziale Medien. Sie existierten bereits vor der Gründung von Facebook in Online-Chatrooms und E-Mails. Auf Facebook produzieren wir nicht nur Inhalte, sondern teilen auch Emotionen. Laut Jacob Johannsen (2019) ist unsere digitale Arbeit gleichzeitig eine affektive Arbeit, bei der es „um Beziehungen, Kommunikation, Leidenschaft und Individualität“ (117) geht und die „ein intensiver, psychischer Prozess“ (109) ist. Sie haben wahrscheinlich tausend Dinge in sozialen Medien „ge-liked“, und „Like“-Knöpfe, die funktional oder inkonsequent erscheinen mögen, sind in Wirklichkeit die emotionale Dimension der digitalen Arbeit. Sie zeigen, wie zentral Profit und Kontrolle für Facebook sind. Facebook fördert eine Ideologie der Sympathie in Form seines „Like-Buttons“. Facebook will eine affirmative Atmosphäre verbreiten, in der Menschen nur zustimmen und nicht widersprechen oder Unzufriedenheit und Uneinigkeit ausdrücken. Es war eine häufige Langzeitkritik an Facebook, dass Nutzer: innen sich über die Eindimensionalität des Like-Buttons beklagten. Am 24. Februar 2016 führte Facebook neue Reaktionsschaltflächen ein, die neben „Gefällt mir“ auch „Liebe“, „Haha“, „Umarmung“, „Wow“, „traurig“ und „wütend“ enthalten. Es ist zu beachten, dass bei der Gestaltung dieser Buttons eine Tendenz zu positiven Emotionen besteht: Vier der sieben Schaltflächen drücken positive Emotionen aus und nur zwei negative („Traurig“, „Wütend“). Außerdem sind sie in Form eines Buttons mit der Bezeichnung „Gefällt mir“ organisiert: Wenn man schnell auf diesen Button klickt, dann wird die Option „Gefällt mir“ aktiviert. Nur wenn man den Cursor auf die Schaltfläche „Gefällt mir“ stellt, ohne zu klicken, erscheinen alle sieben Schaltflächen, und man kann auf eine davon klicken. In diesem Pop-up-Button-Dialog befindet sich das „Gefällt mir“ Symbol am nächsten zum Cursor und das „Wütend“-Symbol am weitesten entfernt. Dieses Design macht „Gefällt mir“ wahrscheinlicher als den Ausdruck von Wut. Werbetreibende, Marken und Unternehmen, die Kampagnen auf Facebook-Seiten durchführen, können sich daher sicherer fühlen, dass Nutzer: innen ihre Produkte und Postings eher mögen als nicht mögen. 82 Mark Zuckerberg, Facebook-Posting, 27. Februar 2023, https: / / www.facebook.com/ story.php? story_fbid=pfbid0vvSykpAEXpHHaK- KyWMZ423TCq3qQDKtLu7m4XiRfUEYRrxzwpdewh3yYepnc1Bsrl&id=4&mibextid=qC1gEa&_rdr, abgerufen am 8. Juni 2023. <?page no="205"?> 6.5 Facebook und die "Like"-Ideologie 205 Abbildung 6.2: Ein Beispiel für „Gefällt mir“ auf Facebook zu der Zeit, als es nur einen einzigen Emotions-Button („Like“) gab. Abbildung 6.3: Ein weiteres Beispiel für Emotionen, auf einem Posting von der Facebook- Seite der Gedenkstätte Auschwitz. Abbildung 6.2 zeigt ein Beispiel für das Problem der Like-Ideologie auf Facebook. Vielen Leuten gefiel ein Posting auf der Facebook-Seite der Auschwitz-Gedenkstätte, in dem es heißt, dass am 1. November 1942 659 niederländische Juden und Jüdinnen in den Gaskammern von Auschwitz ermordet wurden 83 . Man kann davon ausgehen, dass 83 Das “Ich mag Auschwitz”-Facebook-Beispiel wurde von Bunz (2013, 138) in den akademischen Diskurs eingeführt. <?page no="206"?> 206 6 Influencer-Kapitalismus die meisten Nutzer: innen, die „Like“ drückten, keine Neonazis sind, sondern vielmehr ihre Bestürzung über das Geschehene zum Ausdruck bringen wollten. Doch der Positivismus von Facebook erlaubte es nicht, dieses Gefühl zu kommunizieren. „Die Seite des Museums der Auschwitz-Gedenkstätte auf Facebook ist ein gutes Beispiel, um zu skizzieren, wie unsere gesellschaftlichen Diskurse nun der Affirmation von Facebook unterworfen sind“ (Bunz 2013, 139). Das Beispiel zeigt, dass Facebook-Inhalte unsere Emotionen ansprechen und uns dazu bringen wollen, auf Postings zu reagieren. Abbildung 6.3 zeigt ein weiteres Beispiel von der Seite der Auschwitz-Gedenkstätte auf Facebook aus einer Zeit, als die Vielfalt der emotionalen Buttons schon lange eingeführt worden war. Das Posting berichtet über einen Fall der Ermordung von 500 Juden und Jüdinnen in Auschwitz. Unter den ausgedrückten Emotionen finden wir 631 „traurige“ Nutzer: innen, 340 „Mag“-Reaktionen, 42 Ausdrücke von „Liebe“. Positiv ist, dass nun eine Mehrheit der Nutzer: innen (62 Prozent) ihre Trauer über Auschwitz zum Ausdruck bringt. Aber 34 Prozent klickten auf den „Gefällt mir“-Button und 4 Prozent auf den „Liebe“-Button. Es ist davon auszugehen, dass es unter diesen Nutzer: innen einen gewissen Anteil Faschisten gibt, die der Shoah zujubeln. Aber andere sind vielleicht einfach so daran gewöhnt, etwas auf Facebook zu „mögen“ und keine Traurigkeit auszudrücken, was zeigt, dass die Pluralisierung der emotionalen Buttons zu keinem Ende der positivistischen Ideologie der „Likes“ bei Facebook geführt hat. Coca-Cola ist eines der größten Unternehmen der Welt: Im Jahr 2023 stand es auf Platz 96 der Forbes-Liste der größten transnationalen Konzerne der Welt. Seine Profite beliefen sich 2022 auf 9,9 Milliarden US-Dollar 84 . Angesichts solcher Gewinne kann Coca-Cola auch viel in seine Marken-, Marketing- und Werbestrategie investieren. Coca-Cola ist auch eines der mächtigsten und sichtbarsten Unternehmen auf Facebook. Im Juni 2023 hate die Facebook-Seite von Coca-Cola 109 Millionen Follower und war die zehntgrößte und -beliebteste Facebook-Seite 85 . Werfen wir einen Blick auf einen Facebook-Beitrag von Coca-Colas Facebook-Seite. Das Posting wurde am 10. Dezember 2018 erstellt. Es lautete: „It’s beginning to feel a lot like Christmas! Make sure you stock up on Coca-Cola this festive season. #HolidaysAreComing [image of a can of Coca-Cola Zero with an image on Santa Claus drinking a coke printed onto the can] “ 86 In diesem Beispiel suggeriert Coca-Cola, dass Coke Zero das richtige Getränk für Weihnachten ist. Künstliche Süßstoffe in Erfrischungsgetränken sind umstritten. Cola ist im Allgemeinen ein umstrittenes Getränk. Viele Eltern möchten nicht, dass ihre Kinder es trinken. In dem Beispiel gab es etwa 3.731 „Likes“, 227 „Loves“, 107 „Angry“- Reaktionen, 34 „Haha“-Reaktionen, 5 „Wow“-Reaktionen und 5 „Sad“-Reaktionen. Das bedeutet, dass der Anteil der negativen Reaktionen („Wütend“ und „Traurig“) mit nur 3 Prozent extrem niedrig war. Im Vergleich zu früheren Facebook-Zeiten ist es heute durchaus möglich, auf der Plattform auch negative Emotionen zu äußern. Aber die positivistische Facebook-Kultur des Likens bringt Unternehmensseiten viele positive Reaktionen und resultiert meist nur in einer Minderheit von kritischen Reaktionen. Die Ideologie und Kultur der „Likes“ bei Facebook hat sich auch nach der Einführung einer Variation emotionaler Buttons fortgesetzt. 84 Datenquelle: Forbes 2000, 2023 Liste, https: / / www.forbes.com/ lists/ global2000/ , abgerufen am 9. Juni 2023. 85 Datenquelle: https: / / socialblade.com/ facebook/ top/ 50/ likes, abgerufen am 9. Juni 2023. 86 https: / / www.facebook.com/ cocacolaGB/ posts/ 2175513452688855, aufgerufen am 20. Februar 2020. <?page no="207"?> 6.6 Die Internet Research Agency und der Cambridge Analytica-Skandal 207 6.6 Die Internet Research Agency und der Cambridge Analytica- Skandal: Falschnachrichten auf Facebook Seit 2008 eine neue Weltwirtschaftskrise begann, die auch in politische Krisen umschlug, haben sich die Gesellschaften stärker polarisiert. Nicht nur die Ungleichheiten haben weiter zugenommen, sondern auch die öffentliche Meinung ist gespalten, und die Bürgerinnen und Bürger sind sich oft grundlegend uneins über Fragen wie nationale und globale Identität, die Wünschbarkeit von Migration, ob Länder Flüchtlingen Asyl gewähren oder sie im Meer ertrinken lassen sollte, wenn sie unsichere Fahrten auf Booten unternehmen, um Krieg und Terror zu entgehen, usw. Während der COVID-19-Pandemie herrschte eine große Uneinigkeit zwischen den Befürwortern und den Gegnern von Abriegelungsmaßnahmen. Es entstanden Verschwörungstheorien und Fake News über COVID-19, die im Internet kursierten (siehe Fuchs 2022d). In der Weltpolitik kam es zu einer starken Polarisierung zwischen China und Russland auf der einen Seite und den USA, der EU und der NATO auf der anderen Seite. Der russische Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 hat die politische Polarisierung der Weltpolitik weiter vertieft. Seit den 1970er Jahren hat der Aufstieg des Neoliberalismus in vielen Ländern zu einer Zunahme der Ungleichheiten geführt. Die Gesellschaft wurde stärker polarisiert. Öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Bildung, Pensionen usw. wurden teilweise privatisiert. Die Löhne vieler Arbeiter: innen haben stagniert, während die Gewinne gestiegen sind und die Reichen reicher geworden sind. Die Transformation des Kapitalismus war der Kern der Ungleichheiten. Nationalismus und Rassismus haben zugenommen, insbesondere seit der Krise von 2008, und haben die Aufmerksamkeit von den wahren Ursachen der Krisen und Ungleichheiten abgelenkt (siehe Fuchs 2020c, 2018b). Minderheiten sind für die Probleme, die der Kapitalismus verursacht hat, verantwortlich gemacht worden. Diese mehrfache Polarisierung der Weltgesellschaft ging mit dem Entstehen von Echokammern, postfaktischer Politik und Falschnachrichten einher. Politische Kommunikation findet zunehmend in Online-Filterblasen statt, in denen die Bürger: innen nur noch auf Quellen hören, deren politische Meinung sie teilen, und nur noch mit gleichgesinnten Bürger: innen sprechen, die die gleiche Weltanschauung teilen. Viele Bürger: innen suchen nicht mehr nach Fakten und Beweisen, sondern glauben an das, was zu ihrer Weltanschauung und Ideologie passt. Die Politik wird inzwischen von Emotionen und einem Misstrauen gegenüber Fakten bestimmt. Mit Hilfe der sozialen Medien haben Falschnachrichten, die als Fakten und Nachrichten getarnte Lügen sind, begonnen, sich online zu verbreiten. Im Klima der postfaktischen Politik glaubt eine beträchtliche Anzahl von Bürger: innen an Falschmeldungen, insbesondere wenn sie die Angst vor Tod und sozialer Erniedrigung ausnutzen und Minderheiten für soziale Missstände verantwortlich machen, die in Wirklichkeit komplexe Ursachen haben. Alt-Right Plattformen wie Breitbart, Donald Trumps Truth Social, Drudge Report, Gab, Gettr, InfoWars, Daily Caller, Daily Wire, WorldNetDaily (WND) usw. sind entstanden, die rechts-rechte Propaganda und Ideologie online verbreiten. Die Allgegenwart der Falschnachrichten ist Ausdruck des Aufstiegs des autoritären Kapitalismus (siehe Fuchs 2018a und Kapitel 9 in diesem Buch). Filterblasen Im Buch The Filter Bubble argumentiert Eli Pariser, dass die algorithmische Kultur die Homogenität von Meinungen fördert sowie Kontroversen, konstruktive Meinungs- <?page no="208"?> 208 6 Influencer-Kapitalismus verschiedenheiten und Begegnungen zwischen Personen, die unterschiedliche Meinungen und Weltanschauungen vertreten, entmutigt: „Auf sich allein gestellt, dienen Personalisierungsfilter einer Art unsichtbarer Selbst- Propaganda, indem sie uns mit unseren eigenen Ideen indoktrinieren, unsere Sehnsucht nach Vertrautem verstärken und uns die Gefahren vergessen lassen, die im dunklen Territorium des Unbekannten lauern. In der Filterblase gibt es weniger Raum für die zufälligen Begegnungen, die Einsicht und Lernen bringen. [...] Erstens umgibt uns die Filterblase mit Ideen, mit denen wir bereits vertraut sind (und denen wir bereits zustimmen), sodass wir in unserem geistigen Rahmen zu selbstbewusst werden. Zweitens entfernt sie aus unserer Umgebung einige der Schlüsselreize, die uns zum Lernen bewegen. [...] Die Filterblase neigt dazu, die Bestätigungsverzerrung dramatisch zu verstärken - in gewisser Weise ist sie so konzipiert “ (Pariser 2011, 15, 84, 88). Denken Sie an die Menschen und Seiten, denen Sie auf Twitter, Facebook, YouTube, Instagram oder TikTok folgen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele von ihnen Menschen sind, die Ihre Weltanschauung im Großen und Ganzen teilen und mit denen Sie in vielen Fragen übereinstimmen. Darum geht es bei Filterblasen. In der Welt der Filterblasen werden politische Diskussionen schwieriger, und die Entstehung und Entwicklung der Kultur der Falschnachrichten wird unterstützt. „Das gravierendste politische Problem von Filterblasen ist, dass sie es immer schwieriger machen, öffentlich zu diskutieren“ (Pariser 2011, 155). Fake News aus Russland Der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 war der Höhepunkt von Putins Opposition zum Westen. Während Putins Regime früher auf sanftere Formen der Macht wie die Verbreitung von Fake News setzte, um den Westen zu destabilisieren, beschloss er 2022, Krieg und die Androhung eines Atomkriegs als Konfliktmittel einzusetzen. Die Verbreitung von Fake News auf Facebook und anderen Medien ist Teil des russischen Informationskrieges, mit der versucht wird, den Westen herauszufordern und zu stören. Über die Trollfarm Internet Research Agency (IRA) hat Russland versucht, sich in Wahlen in anderen Ländern einzumischen. Dies hat der Gründer der IRA und ehemalige enge Putin-Verbündete Jewgeni Prigoschin, der auch die paramilitärische Wagner-Gruppe gegründet hat, zugegeben. Er sagte über die IRA: „Wir haben uns eingemischt, wir mischen uns ein und wir werden uns einmischen” (Sauer 2022). Die Internet Research Agency beschäftigte mehr als 1.000 Online-Trolle, die Fake News im Internet verbreiten (Frye 2021, 140). Tweets, YouTube-Videos, Instagram- und Facebook-Postings, gefälschte Social-Media-Konten, Bots, personalisierte Werbung, Hacking und Online-Trolle wurden zur Verbreitung von Fake News eingesetzt, um Wahlen und die Politik in anderen Ländern zu beeinflussen. Nach der Rebellion der Wagner-Gruppe im Jahr 2023 wurde die IRA aufgelöst. Zwischen September und November 2016 wurden auf Facebook mindestens 3.000 politische Werbungen aus Russland geschaltet, die auf US-Bürger: innen abzielten (Isaac & Shane 2017; Shane & Goel 2017). Schätzungen zufolge haben 126 Millionen US-Nutzer: innen solche Inhalte allein auf Facebook gesehen (Isaac & Wakabayashi 2017). Es gibt Hinweise darauf, dass bereits früher ähnliche Werbungen auf Facebook geschaltet wurden (Keating, Schaul & Shapiro 2017). Es wird vermutet, dass viele dieser Postings und Anzeigen von der Internet Research Agency erstellt wurden, einer so genannten „Trollfarm“, die gefälschte Nachrichten, gefälschte Konten und gefälschte Aufmerksamkeit im Internet erzeugt, um den Eindruck zu erwecken, dass es eine große <?page no="209"?> 6.6 Die Internet Research Agency und der Cambridge Analytica-Skandal 209 Unterstützung für bestimmte Politiker: innen, Parteien oder Themen gibt (Chen 2015). Einem Bericht zufolge hat die Internet Research Agency zwischen Januar 2015 und August 2017 80.000 politisch polarisierende und spaltende Inhalte auf Facebook gepostet (Isaac and Wakabayashi 2017). Derselbe Bericht besagt, dass auch Instagram von mehr als 120.000 mit Russland verknüpften politischen Inhalten betroffen war. Der Sonderausschuss für Geheimdienste des US-Senats (US Senate Select Committee on Intelligence) untersuchte die Einmischung Russlands in die US-Präsidentschaftswahlen 2016. Besonderes Augenmerk wurde auf die Aktivitäten der Internet Research Agency (IRA) gelegt, einer Trollfarm mit Sitz in Sankt Petersburg, die laut Mueller- Bericht „von Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin und von ihm kontrollierten Unternehmen, darunter Concord Management and Consulting LLC und Concord Catering, finanziert wurde“ (Mueller 2019, 14). „Anfang bis Mitte 2016 umfasste die Tätigkeit der IRA die Unterstützung der Trump-Kampagne und die Verunglimpfung der Kandidatin Hillary Clinton. Die IRA tätigte verschiedene Ausgaben zur Durchführung dieser Aktivitäten, einschließlich des Kaufs politischer Werbung in sozialen Medien im Namen von US-Personen und -Einrichtungen. Einige IRA-Mitarbeiter gaben sich als US-Personen aus und kommunizierten auf elektronischem Wege mit Personen, die mit der Trump-Kampagne in Verbindung standen, und mit anderen politischen Aktivisten, um politische Aktivitäten zu koordinieren, darunter auch die Veranstaltung von politischen Kundgebungen“ (Mueller 2019, 14). Zwei Forscherteams analysierten die von der IRA auf Twitter, YouTube, Instagram und Facebook veröffentlichten Daten für den Zeitraum von 2013 bis 2018 (Howard et al. 2018, New Knowledge 2018). Die Social-Media-Unternehmen stellten diese Daten dem US Senate Select Committee on Intelligence zur Verfügung, was den Forscher: innen die Durchführung von Analysen ermöglichte. Diesen Berichten zufolge investierte die IRA 25 Millionen US-Dollar in die gezielte Ansprache von US-Wähler: innen und erreichte 77 Millionen Engagements auf Facebook, 187 Millionen auf Instagram und 73 Millionen auf Twitter (New Knowledge 2018, 6-7). Facebook schätzt, dass 126 Millionen Nutzer: innen auf Facebook erreicht wurden (Isaac and Wakabaysashi 2017; New Knowledge 2018, 8). Insgesamt 10,4 Millionen Tweets, 1.110 YouTube-Videos, 116.000 Instagram-Posts und 61.500 einzigartige Facebook-Posts (New Knowledge 2018, 7) stammten von der IRA. Im Jahr 2016 gab es monatlich durchschnittlich 564 IRA-Facebook-Anzeigen, 2.442 Facebook-Posts, 2.611 Instagram-Posts und 57.247 Tweets (Howard et al. 2018, 5). Auf Facebook und Instagram wurden vor allem schwarze Wähler: innen ins Visier genommen, die man überzeugen wollte, nicht wählen zu gehen. Aber auch linke und rechte Wähler: innen wurden ins Visier genommen. Der Inhalt war pro-Trump und anti-Clinton ausgerichtet. Auf Facebook wurden 3,3 Millionen Follower, 30,4 Millionen Shares, 37,6 Millionen Likes und 3,3 Millionen Kommentare erreicht (New Knowledge 2018, 21, 32). Auf Instagram wurden 3,4 Mio. Follower, 183 Mio. Likes und 4,0 Mio. Kommentare erreicht (New Knowledge 2018, 32). 3.519 Werbungen wurden auf Instagram und Facebook geschaltet (New Knowledge 2018, 34). „Zu den individualisierten [Twitter-]Konten, die zur Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahlen genutzt wurden, gehörten @TEN_GOP [...]' @jenn_abrams (behauptet, eine Trump-Anhängerin aus Virginia zu sein, mit 70 000 Followern); @Pamela_Moore13 (behauptet, eine Trump-Anhängerin aus Texas zu sein, mit 70 000 Followern); und @America_1st_ (eine einwanderungsfeindliche Persona mit 24 000 Followern). Im Mai 2016 richtete die IRA das Twitter-Konto @march_for_trump ein, das von der IRA organisierte Kundgebungen zur Unterstützung der Trump-Kampag- <?page no="210"?> 210 6 Influencer-Kapitalismus ne ankündigte” (Mueller 2019, 27). Die IRA organisierte auch Pro-Trump-Kundgebungen (Mueller 2019, 29, 31, 32). Der Höchststand der IRA-Facebook-Werbungen wurde zum Zeitpunkt der ersten US- Präsidentschaftsdebatte zwischen Clinton und Trump am 26. September 2016 erreicht (Howard et al. 2018, 15). 1.087 (38,1 Prozent) einer Stichprobe von 2.855 analysierten gezielten Werbungen konzentrierten sich auf Afroamerikaner: innen (Howard et al. 2018, 23). Die analysierten Werbungen erreichten insgesamt 3.136.946 Anzeigenklicks (Howard et al. 2018, 23) und 33.679.119 Anzeigenimpressionen (Howard et al. 2018, 23). Die Kosten für diese Anzeigen beliefen sich auf insgesamt 4.911.680 Rubel (rund 75.000 US-Dollar). (Howard et al. 2018, 23). Facebook sagt, „dass gefälschte Konten, die mit der IRA in Verbindung stehen, zwischen Juni 2015 und August 2017 etwa 100.000 Dollar für mehr als 3.000 Facebook- und Instagram-Werbungen ausgegeben haben” (Stretch 2018, 4). Auf Twitter setzte die IRA Bots ein, um die Reaktionen auf Beiträge zu verstärken (Mueller 2019, 26; see also Isaac & Wakabayashi 2017). Während die Zahl der gezielten Werbungen und YouTube-Videos vergleichsweise gering war, war die Zahl der Tweets, Facebook- und Instagram-Posts relativ hoch. Es „ist wahrscheinlich, dass die organischen Posts auf Facebook, nicht die Werbungen, die größte Reichweite hatten“ (Howard et al. 2018, 13). Die Beiträge, die die IRA in Social-Media-Werbung investierte, sind im Vergleich zu den Investitionen der Trump- Kampagne eher gering. Aber die Gesamtinvestition des Unternehmens in der Höhe von 25 Millionen US-Dollar in US-Aktivitäten entspricht 29 Prozent der geschätzten 85,7 Millionen US-Dollar, die die Trump-Kampagne in Social-Media-Werbung investierte. Der Großteil der russischen Aktivitäten und Investitionen scheint nicht in algorithmische Aktivitäten (wie gezielte Werbung oder Bots) geflossen zu sein, sondern in menschliche Trollarbeit, die falsche und irreführende Inhalte erzeugt und verbreitet. „Auf dem Höhepunkt des Wahlkampfs 2016 waren mehr als 80 Personen beschäftigt, die sichere virtuelle private Netzwerkverbindungen zu in den Vereinigten Staaten gemieteten Computerservern nutzten, um zu verschleiern, dass sie sich in Russland befanden. Von dort aus gaben sie sich als amerikanische Aktivist: innen aus, schickten E- Mails, gaben Ratschläge und leisteten Zahlungen an echte Amerikaner: innen, denen vorgegaukelt wurde, sie seien Teil der gleichen Sache” (Shane & Mazzetti 2018). „Dutzende von IRA-Mitarbeiter: innen waren für den Betrieb von Konten und Personas auf verschiedenen US-amerikanischen Social-Media-Plattformen verantwortlich. [...] Anfänglich erstellte die IRA Social-Media-Konten, die vorgaben, die persönlichen Konten von US-Personen zu sein. [...] Anfang 2015 begann die IRA, größere Social-Media- Gruppen oder öffentliche Social-Media-Seiten einzurichten, die (fälschlicherweise) vorgaben, mit US-amerikanischen politischen und Graswurzel-Organisationen verbunden zu sein. In einigen Fällen erstellte die IRA-Konten, die echte US-Organisationen imitierten. [...] Häufiger erstellte die IRA Konten im Namen fiktiver US-Organisationen und Basisgruppen und nutzte diese Konten, um sich als Anti-Immigrationsgruppen, Tea-Party-Aktivist: innen, Black-Lives-Matter-Demonstrant: innen und andere soziale und politische Aktivist: innen in den USA auszugeben” (Mueller 2019, 22). Investigative Reporter: innen eines Netzwerks von Journalist: innen, die für Medien wie The Guardian , Der Spiegel und The Washington Post arbeiten, zeigten, dass das russische Unternehmen NTC Vulkan „Hacking- und Desinformationswerkzeuge“ entwickelt hat und „mit dem Föderalen Sicherheitsdienst oder FSB, dem inländischen Spionagedienst, den operativen und nachrichtendienstlichen Abteilungen der Streit- <?page no="211"?> 6.6 Die Internet Research Agency und der Cambridge Analytica-Skandal 211 kräfte, bekannt als GOU und GRU, und dem SVR, Russlands Auslandsgeheimdienst, verbunden ist“ (Harding et al. 2023). „Ein weiteres System, das als Amezit bekannt ist, ist eine Blaupause für die Überwachung und Kontrolle des Internets in den Regionen unter russischem Kommando und ermöglicht auch Desinformation über gefälschte Profile in sozialen Medien“ (Harding et al. 2023). Die Polarisierung der Weltpolitik geht einher mit Versuchen, das politische System und die Wahlen des Gegners durch die Verbreitung von Fake News im Internet, Hacking, Überwachung und Spionage zu stören. Der Fall der russischen Internet Research Agency unter der Leitung von Jewgeni Prigoschin, der auch die paramilitärische Wagner-Gruppe gegründet hat, zeigt, dass in der stark polarisierten Weltpolitik Fake News als Mittel des Informationskrieges eingesetzt werden Der Cambridge Analytica-Skandal Im Frühjahr 2018 deckte der Guardian Versuche auf, Wahlen über personalisierte Falschnachrichten auf Facebook und anderen Social-Media-Plattformen zu manipulieren (Cadwalladr & Graham-Harrison 2018, Cadwalladr 2018; Rosenberg, Confessore & Cadwalladr 2018; Kang und Frenkel 2018). Der Cambridge Analytica-Skandal entfaltete sich. Der Guardian berichtete, dass das Datenanalyse-Unternehmen Cambridge Analytica ein anderes Unternehmen, Global Science Research (GSR), damit beauftragte, gefälschte Online-Persönlichkeitstests auf Facebook durchzuführen. Die Facebook-Entwicklerplattform ermöglichte es Entwicklern von Facebook-Apps, persönliche Daten von Nutzer: innen zu sammeln. Diesen Berichten zufolge wurden persönliche Daten wie Freundschaftsdaten und Ähnliches von rund 90 Millionen Nutzer: innen gesammelt (Kang & Frenkel 2018). Die New York Times berichtete, dass die Datenverletzung es Cambridge Analytica und Global Science Research ermöglichte, „die private Social-Media-Aktivität eines großen Teils der amerikanischen Wählerschaft auszunutzen und Techniken zu entwickeln, die der Arbeit des Unternehmens an der Kampagne von Präsident Trump im Jahr 2016 zugrundelagen“ (Rosenberg, Confessore & Cadwalladr 2018). Es wurde berichtet, dass die Daten zur Implementierung von auf Wähler: innen ausgerichtete personalisierte politische Werbung und Falschnachrichten im Kontext von Wahlen verwendet wurden. Steve Bannon ist ein rechts-rechter Ideologe, der als Stabschef von Donald Trump im Weißen Haus fungierte und eine einflussreiche Rolle bei der Gründung und Leitung von Breitbart spielte. Er war auch der Vizepräsident von Cambridge Analytica. Die Überwachung arbeitet hinter dem Rücken der Nutzer: innen. Die Nutzer: innen, die von Cambridge Analytica überwacht wurden, wussten nicht, was vor sich ging. Es wurde erst später aufgrund von investigativen Reportern, Informanten und parlamentarischen Untersuchungen klar, was passiert war. Bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 wurde der digitale Wahlkampf von Trump als Project Alamo bezeichnet. Theresa Hong, die für den digitalen Arm von Donald Trumps Wahlkampf arbeitete, sagte in einem BBC-Interview, dass Cambridge Analytica „mit dem Alamo-Datensatz daherkam“, der für das Personalisieren von Anzeigen auf Facebook verwendet wurde 87 . Im US Senate Select Committee on Intelligence (2017) sagte Colin Stretch, Vizepräsident und Chefsyndikus von Facebook, dass die Trump- und Clinton-Kampagnen personalisierte Werbungen auf Facebook für ins- 87 BBC Stories, Tweet from March 21, 2018. https: / / twitter.com/ bbcstories/ status/ 976415490993283073, abgerufen am 9. Juni 2023. <?page no="212"?> 212 6 Influencer-Kapitalismus gesamt 81 Millionen US-Dollar kauften. Brad Parscale, Digital Director von Trump, sagte in einem Interview, dass die Trump-Kampagne personalisierte Werbungen auf Facebook, Google und Twitter schaltete, 80 Prozent davon auf Facebook (CBS 2017). Nach Angaben der Wahlkampffinanzierungsdaten der Federal Election Commission gab Trump für seine Kampagne insgesamt 361.671.328,4 US-Dollar aus. Den Daten zufolge wurden 6,3 Millionen US-Dollar für Datendienste ausgegeben, von denen 5,9 Millionen US-Dollar an Cambridge Analytica gingen. Die Firma Giles-Parscale von Brad Parscale erhielt insgesamt 87,8 Millionen US-Dollar für die Entwicklung von Websites, digitale Beratung und Online-Werbung. Davon wurden 85,3 Millionen US- Dollar für Online-Werbung ausgegeben. Darüber hinaus deuten die Daten darauf hin, dass Trumps Kampagne direkt 300.000 US-Dollar an Twitter und 79.717,6 US-Dollar an Facebook für Online-Werbung zahlte. Wenn Parscales Information stimmt, dass rund 80 Prozent der Online-Anzeigen auf Facebook geschaltet wurden, dann muss Trumps Kampagne rund 70 Millionen US-Dollar für Facebook-Werbung ausgegeben haben. Wenn die Schätzung von insgesamt 85,7 Millionen US-Dollar, die für Online- Werbung ausgegeben wurden, richtig ist, dann bedeutet dies, dass fast ein Viertel des Kampagnenbudgets von Trump für Online-Werbung ausgegeben wurde. Die kanadische Firma Aggregate IQ arbeitete an der Entwicklung des Ripon-Tools, das Christopher Wylie, der für Cambridge Analytica gearbeitet hatte und der Informant ist, dessen Informationen den Skandal auslösten, „das Software-Tool war, das die Algorithmen aus den Facebook-Daten nutzte“ (Digital, Culture, Media and Sport Committee 2019, 45). Laut Facebook schaltete AIQ 1.398 Anzeigen mit einem Gesamtwert von 2.032.860 US-Dollar für die Pro-Brexit-Kampagnen Vote Leave, BeLeave, Veterans for Britain und DUP Vote to Leave (Facebook Ireland 2018). 88,3 Prozent der Anzeigen und 79,7 Prozent des Anzeigenwerts bezogen sich auf Vote Leave, die Kampagne, an der Politiker wie Boris Johnson und Gisela Stuart beteiligt waren (Facebook Ireland 2018). Laut dem Chief Operating Officer von AggregateIQ belief sich der Gesamtbetrag, den diese Organisationen an das Unternehmen zahlten, auf mehr als 3,6 Millionen Pfund, wovon rund 80 Prozent von Vote Leave bezahlt wurden (Digital, Culture, Media and Sport Committee 2019, 50). Im Jahr 2020 lieferte ein Leck von mehr als 100.000 Cambridge Analytica-Dokumenten Hinweise auf die Existenz einer „globalen Infrastruktur einer Operation zur Manipulation von Wähler: innen im ‚industriellen Maßstab‘“ in 68 Ländern (Cadwalladr 2020). 2019 verhängte die Federal Trade Commission gegen Facebook eine Geldstrafe in Höhe von 5 Milliarden US-Dollar wegen Verletzung der Privatsphäre von Nutzern: innen im Zusammenhang mit dem Cambridge Analytica-Skandal. Der Datenskandal um Cambridge Analytica hat bei vielen Menschen Besorgnis über das Geschäftsmodell der personalisierten Werbung von Social-Media-Unternehmen und dessen Gefahren für die Demokratie ausgelöst. Der Cambridge Analytica-Skandal war möglich, da die Regulierung der Datenverarbeitung für kapitalistische Zwecke lax ist und auf der Idee der Selbstregulierung der Unternehmen basiert, die es Facebook, Google und andere digitale Unternehmen ermöglicht, massive Mengen an Nutzerdaten zu sammeln und diese zur Erzielung von Profiten zu nutzen. Facebook baut auf der Idee auf, dass das Sammeln und Speichern von möglichst vielen Daten über Nutzer: innen gut für die Erzielung von Gewinnen ist. Personenbezogene Daten als Big Data, die für den Verkauf und die Schaltung personalisierter Online-Werbung verwendet wird, ist das zugrundeliegende Geschäftsprinzip der kapitalistischen sozialen Medien, einschließlich Facebook, Google und Twitter. <?page no="213"?> 6.6 Die Internet Research Agency und der Cambridge Analytica-Skandal 213 Die Diskussion zeigt, dass die Privatsphäre der Nutzer: innen verletzt wurde und dass eine riesige Menge an Big Data für die personalisierte Werbung in Wahlkampagnen gesammelt wurde. Die Nutzer: innen wurden nicht um ihre Zustimmung zu dieser Datenverarbeitung gefragt. Die Überwachung funktioniert auf unsichtbare und intransparente Weise. Sie ist schwer zu erkennen. Der Cambridge Analytica-Skandal scheint die Fähigkeit der Trump-Kampagne beeinflusst zu haben, Nutzer: innen der sozialen Medien ins Visier zu nehmen. Einerseits ist es sicherlich eindimensional, davon auszugehen, dass soziale Medien die Ursache für den Aufstieg von politischen Trump sind, weil es viele Faktoren gibt, die beim Aufstieg des rechten Autoritarismus eine Rolle spielen, darunter Veränderungen der Klassenstruktur, zunehmende Ungleichheiten, Krisen, zunehmende wirtschaftliche, politische, kulturelle und soziale Entfremdung, die Schwäche der politischen Linken, die Verbreitung von Ideologie und politischer Angst, die Antagonismen der kapitalistischen Globalisierung usw. (Fuchs 2018b, 2017c). Auf der anderen Seite ist es auch kurzsichtig, zu argumentieren, dass soziale Medien bei politischen Veränderungen keine Rolle spielen. In einer antagonistischen, klassenförmigen Gesellschaft haben soziale Medien einen antagonistischen Charakter und sind ein Feld gesellschaftlicher Kämpfe, in dem sich die Antagonismen der Gesellschaft ausdrücken. Es überrascht nicht, dass im digitalen Kapitalismus Gruppen, Bewegungen, Parteien und Politiker: innen, die politisch rechts, links oder in der Mitte stehen, versuchen, soziale Medien als Mittel der politischen Kommunikation zu nutzen. Dass gerade die Rechtsextremen die sozialen Medien zur Verbreitung von Falschmeldungen und Ideologie genutzt haben, könnte mit einer Kombination mehrerer Faktoren zu tun haben, wie dem allgemeinen Aufstieg der Rechtsextremen im Kontext der allgemeinen Krise des Kapitalismus, ihrer Skrupellosigkeit bei der Manipulation der Öffentlichkeit, den erheblichen Geld- und Ressourceninvestitionen in Online-Medienkampagnen und der Empfänglichkeit ihrer Anhänger für emotionsgeladene, ideologische Geschichten, die nicht auf Fakten, sondern auf den moralischen und politischen Werten des rechten Autoritarismus aufbauen. Cambridge Analytica ist eine Geschichte darüber, wie die Kombination aus rechtsextremer Ideologie, digitalem Kapitalismus und neoliberaler Politik die Demokratie bedroht: Rechts-rechte Aktivisten und Bewegungen fördern den Einsatz fragwürdiger und manipulativer Informations- und Kommunikationsstrategien in der Politik. Rechts-rechte Ideologen tun alles Notwendige und setzen alle erforderlichen Mittel ein, um Wahlen zu gewinnen. Kapitalistische Social-Media-Plattformen funktionieren nach der Logik „je mehr Daten und Engagement auf unserer Plattform, desto mehr Werbungen können potenziell verkauft werden“. Ihr profitorientierter Charakter hat sie dazu veranlasst, Schnittstellen für die Nutzung von Daten Dritter zu öffnen, die für die politisch-ökonomische Überwachung und die Erhebung von Daten unter Verletzung der Privatsphäre verwendet wurden. Personalisierte Werbungen und Werbealgorithmen sind auf Profitmaximierung programmiert. Personalisierte Anzeigen werden nicht durch Menschen, sondern durch Algorithmen gesteuert. Die fetischistische Logik der Algorithmen ist blind für den Inhalt der Anzeigen. Diesen Softwareprogrammen ist es egal, ob Schokoladekuchen, Windeln oder rechtsextreme Ideologie beworben werden. Social-Media-Unternehmen haben kein Interesse an menschlicher Kontrolle, weil das Geld kostet und weniger Profit bedeutet. <?page no="214"?> 214 6 Influencer-Kapitalismus Der neoliberale Staat glaubt, dass die Selbstregulierung von Unternehmen die beste Form der Regulierung ist, was insbesondere in den USA zu laxen Datenschutzbestimmungen und in die Privatsphäre eindringenden Praktiken von Unternehmen im Allgemeinen und Online-Unternehmen im Besonderen geführt hat. Der Cambridge Analytica-Skandal ist charakteristisch für die Entstehung des autoritären Kapitalismus (siehe Fuchs 2018b und Kapitel 9 in diesem Buch). Der autoritäre Kapitalismus ist eine Form des Kapitalismus, bei der die Gesetze der Demokratie missachtet und verletzt werden. Massenüberwachung und die Manipulation von Wahlen sind zwei Ausdrucksformen des Autoritarismus. Mark Andrejevic (2020, 11) argumentiert, der Skandal zeige, wie „die automatisierte Verarbeitung der gesammelten Daten zu einem Sammelsurium an schlussfolgernden Informationen führte“. Ziel war es, „die Wähler: innen nicht nur zu überzeugen, sondern auch Unsicherheit, Zweifel und Misstrauen auf eine Weise zu schüren, die politische Rivalen benachteiligt und die Wahlbeteiligung unterdrückt“ (11). Der breitere Kontext ist „eine postpolitische Technokratie, in der wichtige gesellschaftliche Entscheidungen zunehmend auf automatisierte Systeme verlagert werden. Die politische Herausforderung für die absehbare Zukunft wird darin bestehen, die Subsumtion von Subjektivität und Urteilsvermögen unter automatisierte Medien anzufechten“ (21). Christopher Wylie (2019, 16), der Whistleblower, der dem Guardian geholfen hat, den Skandal um Cambridge Analytica (CA) aufzudecken, und der ehemalige Forschungsdirektor von CA war, argumentiert, dass der „datenindustrielle Prozess“, der Menschen als Daten betrachtet, die Grundlage des CA-Skandals bildet. Er argumentiert, dass es nichts gab, das CA darin hinderte, das zu tun, was es tat, „und so ertrank das Unternehmen ungehindert“ die Nutzer: innen „in einem Strudel der Desinformation, mit vorhersehbar katastrophalen Ergebnissen“ (228). Eine andere Whistleblowerin, die ehemalige Direktorin für Geschäftsentwicklung bei Cambridge Analytica Brittany Kaiser, argumentiert, der Skandal sei charakteristisch für die „Datenkriege, mit denen unsere Demokratie konfrontiert ist“ (Kaiser 2019, 4). Kaiser schreibt, dass Cambridge Analytica in den USA seine Arbeit weitgehend darauf konzentrierte, „Wechselwähler: innen“ online ins Visier zu nehmen, weil diese Wähler: innen als „Persuadables“ galten, die manipuliert werden konnten, für die Republikaner zu stimmen (Kaiser 2019, 92). Cambridge Analytica und die politisch-ökonomische Überwachung Facebook ist eine wirtschaftliche Überwachungsmaschine. Der Konzern sammelt, speichert und analysiert riesige Mengen von Big Data über die Interessen, Verbindungen, Inhalte und das Online-Verhalten der Nutzer: innen, um personalisierte Werbung zu verkaufen. Die wirtschaftliche Online-Überwachung hat Mark Zuckerberg zu einem der reichsten Menschen der Welt und Facebook zu einem hochprofitablen Unternehmen gemacht. Facebook basiert auf der Logik „Big Data ist gut, Big Data bedeutet Profit“. Daher fördert Facebook den Datenverkehr in Form von Klicks, Uploads und dem Verweilen auf Profilen und Seiten, sodass Nutzer: innen mehr Zeit auf Facebook verbringen, was sich in mehr Präsentationen von Werbung, mehr wirtschaftlicher Überwachung, mehr Big Data und damit potenziell mehr Werbeklicks und Profit niederschlägt. Es war die Profitlogik, die Facebook dazu veranlasste, seine API (Programmierschnittstelle) für Entwickler zu öffnen. Rechte Demagogen, Organisationen, Gruppen und Bewegungen werden alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um Ideologie zu verbreiten. Sie respektieren die <?page no="215"?> 6.6 Die Internet Research Agency und der Cambridge Analytica-Skandal 215 Privatsphäre, die Demokratie und die Menschenrechte nicht. Im Cambridge Analytica- Skandal haben sie die wirtschaftliche Überwachungsmaschine von Facebook benutzt, um eine politische Überwachungsmaschine aufzubauen, eine Datenbank mit Milliarden von persönlichen Dateneinträgen von zig Millionen Nutzern: innen. Wirtschaftliche und politische Überwachung überschneiden sich und kommen sowohl den Profitinteressen von Facebook als auch den politischen Interessen der Rechten zugute. Das Ergebnis war eine politisch-ökonomische Überwachungsmaschine, die die Demokratie bedroht. Die Diskussion der Frage, inwieweit personalisierte Falschnachrichten Einfluss auf Wahlen haben und nehmen können, ist mühselig. Sie konzentriert sich oft auf Aspekte des Konsums und der Nutzung und lässt oft die Produktion außer Acht. Der Skandal ist, dass es rechts-rechte Organisationen gibt, die Falschnachrichten produzieren, die sie mit Hilfe von Datenüberwachung (Big Data-basierte digitale Überwachung) gezielt an die Wählerinnen und Wähler richten. Bei den Falschnachrichten geht es um die Produktion von Inhalten und nicht so sehr um Nutzung und Reaktionen. Falschnachrichten sind eine Bedrohung für die Demokratie, sobald solche Nachrichten produziert werden, weil sie die Absicht haben, die Politik zu manipulieren. Der Schaden für die Demokratie ist bereits angerichtet, wenn die Falschnachrichten produziert und online gestellt werden. Postfaktizität Der ehemalige republikanische Sprecher des US-Repräsentantenhauses Newt Gingrich behauptete, dass die Tatsache, dass die Gewaltverbrechen zurückgegangen seien, „nur Ihre Ansicht“ (die Ansicht des Interviewers) sei. Er sagte: „Die Liberalen sind der Ansicht, dass es eine ganze Reihe von Statistiken gibt, die theoretisch richtig sein mögen, aber nicht dort, wo die Menschen sind. [...] Die Menschen fühlen sich mehr bedroht. [...] Als politischer Kandidat schließe ich mich den Gefühlen der Menschen an und überlasse Ihnen die Theoretiker: innen“ (zitiert in: McIntyre 2018, 3-4). In der Brexit-Kampagne sagte der konservative Politiker und damalige Justizminister Michael Gove: „Ich denke, die Menschen in diesem Land haben genug von Expert: innen von Organisationen mit Akronymen, die sagen, dass sie wissen, was das Beste ist, und immer falsch liegen“ 88 . Das Oxford Dictionary definiert „post-truth“ (Postfaktisches) als „Umstände, unter denen Menschen eher auf Gefühle und Überzeugungen als auf Fakten reagieren“ 89 . Diese Definition betont die emotionalen Aspekte der Falschnachrichten. Ein ähnlicher Punkt wird im Cambridge Dictionary angeführt. Es spricht von der Postfaktizität als „einer Situation, in der Menschen eher ein Argument akzeptieren, das auf ihren Emotionen und Überzeugungen beruht, als eines, das auf Fakten beruht“ 90 . McIntyre (2018, 173) definiert Falschnachrichten als „Informationen, die absichtlich so erstellt werden, dass sie wie tatsächliche Nachrichten aussehen, um eine politische Wirkung zu erzielen“. Postfaktische Politik ordnet Fakten politischen Gesichtspunkten unter (McIntyre 2018, 11). Postfaktizität „läuft auf eine Form der ideologischen Vorherrschaft hinaus, wobei ihre Praktiker: innen versuchen, jemanden dazu zu 88 http: / / www.youtube.com/ watch? v=GGgiGtJk7MA, abgerufen am 28. Oktober 2019. 89 https: / / www.oxfordlearnersdictionaries.com/ definition/ english/ post-truth? q=posttruth, abgerufen am 17. Oktober 2023. 90 https: / / dictionary.cambridge.org/ dictionary/ english/ post-truth, abgerufen am 17. Oktober 2023. <?page no="216"?> 216 6 Influencer-Kapitalismus zwingen, an etwas zu glauben, ob es dafür gute Beweise gibt oder nicht. Und das ist ein Rezept für politische Herrschaft“ (McIntyre 2018, 13). Die Definition von McIntyre betont Aspekte der Informationsmanipulation und Desinformation. Peter Dahlgren definiert das Postfaktische als „ein im Entstehen begriffenes neues erkenntnistheoretisches Regime, in dem die emotionale Reaktion die Oberhand über sachliche Beweise und begründete Analysen gewinnt. Genauigkeit und Transparenz machen Platz für algorithmische Analysen dessen, was Menschen lieber hören“ (Dahlgren 2018, 25). Dahlgren sieht die Falschnachrichten als einen neuen ideologischen Modus, weshalb er von einem „epistemischen Regime“ spricht. Ausgehend von dieser Diskussion können wir sagen, dass die postfaktische Politik mehrere Merkmale aufweist:  Fakten werden für falsch erklärt.  Lügen werden für wahr erklärt.  Es gibt ein Misstrauen gegenüber Expert: innen, Liberalen und Sozialist: innen.  Es wird nicht an das geglaubt, was faktisch und rational ist, sondern an das, was man gemäß seiner Ideologie und seinen Gefühlen glauben will.  Demagog: innen versuchen, Expert: innen und politische Gegner: innen zum Sündenbock zu machen, indem sie behaupten, dass sie eine Elite bilden, die das Volk hasst und es für dumm hält.  Demagog: innen, die falsche Informationen verbreiten, behaupten, dass sie auf der Seite des Volkes stehen, das ihre Ideologie teilt, und dass Eliten absichtlich die Realität voreingenommen und falsch darstellen.  Das Postfaktische findet oft in geschlossenen Filterblasen statt und wird über soziale Medien verbreitet. Falschnachrichten Der Cambridge Analytica-Skandal ist eine Geschichte darüber, wie sich die Falschnachrichten auf Facebook verbreiten. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darüber nachzudenken, was Falschnachrichten sind. Das Collins English Dictionary erklärte „Fake News“ zum Wort des Jahres 2017. Collins definiert die Falschnachrichten als „falsche, oft sensationelle Informationen, die unter dem Deckmantel der Nachrichtenberichterstattung verbreitet werden“ 91 . Nach der Definition des Cambridge Dictionary sind Falschnachrichten „falsche Geschichten, die Nachrichten zu sein scheinen, die im Internet oder mit Hilfe anderer Medien verbreitet werden und die in der Regel zur Beeinflussung politischer Ansichten oder als Scherz erfunden wurden“ 92 . Die Definition des Macmillan-Lexikons lautet „eine Geschichte, die als eine echte Nachricht dargestellt wird, aber in Wirklichkeit nicht wahr ist und darauf abzielt, die Menschen zu täuschen“ 93 . Zusammengenommen betonen diese Definitionen Falschheit, Sensationslust, Online-Verbreitung und Täuschung als Merkmale der Falschnachrichten 91 https: / / www.collinsdictionary.com/ dictionary/ english/ fake-news, aufgerufen am 27. Oktober 2019. 92 https: / / dictionary.cambridge.org/ dictionary/ english/ fake-news, aufgerufen am 27. Oktober 2019. 93 https: / / www.macmillandictionary.com/ dictionary/ british/ fake-news, aufgerufen am 27. Oktober 2019. <?page no="217"?> 6.6 Die Internet Research Agency und der Cambridge Analytica-Skandal 2 17 Es gibt eine wachsende Zahl empirischer Studien über Falschnachrichten 94 . Es ist aber auch wichtig, darüber nachzudenken, was Falschnachrichten eigentlich sind und wie sie am besten definiert werden können. Hier sind einige weitere Definitionen von Falschnachrichten:  „Fake News sind irreführende Informationen (Fehlinformationen)” (McBrayer 2021, 4).  Fake News sind „absichtliche, öffentlich publizierte Fabrikationen/ Desinformationen/ Falschmeldungen/ Lügen, die als echte Nachrichten ausgegeben werden” (Farmer 2021, 1).  Fake News sind „Falschinformationen, die den Stil der aktuellen Nachrichten nachahmen” (Zimdars 2020, 2).  Desinformation ist „die absichtliche Schaffung und Weitergabe falscher und/ oder manipulierter Informationen, die darauf abzielt, das Publikum zu täuschen und in die Irre zu führen, entweder um Schaden anzurichten oder um politischen, persönlichen oder finanziellen Gewinn zu erzielen“ (House of Commons Digital, Culture, Media and Sport Committee 2019, 7).  Falschnachrichten sind Nachrichten, die „absichtlich irreführende Elemente in ihrem Inhalt oder Kontext enthalten. Ein Kernmerkmal der zeitgenössischen Falschnachrichten ist, dass sie online weit verbreitet sind“ (Bakir & McStay 2018, 154).  Falschnachrichten sind „intentionale Desinformation (Erfindung oder Fälschung bekannter Fakten) für politische und/ oder kommerzielle Zwecke, dargestellt als echte Nachrichten“ (McNair 2017, 46)  „Wir definieren ‚Falschnachrichten‘ als fabrizierte Informationen, die den Inhalt von Nachrichtenmedien in der Form nachahmen, nicht aber im organisatorischen Ablauf oder in der Absicht. Den Falschnachrichten fehlt es wiederum an den redaktionellen Normen und Prozessen der Nachrichtenmedien, um die Genauigkeit und Glaubwürdigkeit der Informationen zu gewährleisten. Falschnachrichten überschneiden sich mit anderen Informationsstörungen, wie Fehlinformationen (falsche oder irreführende Informationen) und Desinformationen (falsche Informationen, die absichtlich verbreitet werden, um Menschen zu täuschen)“ (Lazer et al. 2018, 1094).  „Wir definieren ‚Falschnachrichten‘ als Nachrichtenartikel, die absichtlich und nachweislich falsch sind und die Leser: innen in die Irre führen könnten“ (Allcott & Gentzkow 2017, 213).  Falschnachrichten sind „die absichtliche Darstellung (typischerweise) falscher oder irreführender Behauptungen als Nachrichten, wobei die Behauptungen von vornherein irreführend sind. […] Das heißt, der Urheber einer Falschnachricht beabsichtigt entweder, dass eine spezifische Behauptung, aufgrund ihres spezifischen Inhalts irreführend ist, oder er setzt bewusst einen Prozess der Nachrichtenproduktion und -präsentation ein, der zu falschen oder irreführenden Behauptungen führen soll. Was die zeitgenössischen Falschnachrichten zu einem neuartigen Phänomen macht und ihnen ihre Bedeutung verleiht, ist das Ausmaß, in dem systemische Merkmale, die der Gestaltung der Quellen und Kanäle, über die Falschnachrichten 94 Für empirische Studien über Falschnachrichten siehe zum Beispiel: Allcott & Gentzkow (2017); Kollanyi, Howard &Woolley (2016); Silverman (2016); Silverman & Singer-Vine 2016); Shao et al. (2018); Woolley & Guilbeault (2019). <?page no="218"?> 218 6 Influencer-Kapitalismus verbreitet werden, inhärent sind, ihre Verbreitung gewährleisten. Letzteres, so möchte ich sagen, verleiht der aktuellen Flut an Falschnachrichten, wie sie vor allem in den elektronischen sozialen Medien auftritt, eine gewisse Dringlichkeit“ (Gelfert 2018, 85-86, 111). Nach diesen Definitionen sind die Falschnachrichten faktisch falsch, werden online überwiegend in sozialen Medien verbreitet, es mangelt ihnen an journalistischen Berufsnormen und sie versuchen, systematisch und absichtlich in die Irre zu führen und falsch zu informieren. Aber „Falschnachrichten“ sind nicht neu. Sie begannen viel früher als das Zeitalter des Internets und der sozialen Medien. Im August 1835 brachte beispielsweise die New York Sun eine sechsteilige Geschichte, in der behauptet wurde, dass Leben auf dem Mond entdeckt worden sei, darunter „eine kleine Rentierart, der Elch, der gehörnte Bär und der zweibeinige Biber“ sowie menschliche Fledermäuse, die „zweifellos unschuldige und glückliche Geschöpfe“ seien. Der „Great Moon Hoax“ erhöhte die Auflage der Zeitung. Edward S. Herman und Noam Chomsky sind zwei wichtige politische Ökonomen der Kommunikation. In ihrem Buch Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media beschäftigen sich Herman und Chomsky (1988) mit der Art und Weise, wie Informationen manipuliert werden. Sie entwickelten das, was sie das „Propaganda-Modell“ genannt haben: Der kapitalistische und ideologische Charakter der Medien führt zu Voreingenommenheit und zur Widerspiegelung von partikualistischen Interessen in den Nachrichten (zur Diskussion der Aktualität dieses Modells siehe die Beiträge in Pedro-Carañana, Broudy & Klaehn 2018). Herman und Chomsky argumentieren, dass es fünf Faktoren gibt, die als Filter wirken und Verzerrungen der Nachrichten verursachen: a) Privateigentum, Profitorientierung und Monopole; b) Werbung; c) mächtige Akteure als Nachrichtenquellen; d) „Flak”: die Lobbyarbeit mächtiger Organisationen, e) Ideologie (im Lukács'schen Sinne verstanden als Versuche, falsche Darstellungen der Realität zu schaffen, um Klasse, Herrschaft und Kapitalismus zu legitimieren). Wenn in einer Klassengesellschaft politische Ökonomie und Ideologie zu bestimmten Voreingenommenheiten der kapitalistischen Medien führen, so zeigen alle Medien, die als profitorientierte Unternehmen betrieben werden, einige Aspekte und Grade von Falschheit. Die Inhalte von Qualitätsmedien sind sicherlich viel weniger verzerrt und ideologisch als jene von Boulevardmedien, Öffentlich-rechtliche Medien und Community-Medien sind alternative Medien, die versuchen, solche Verzerrungen zu vermeiden. Da solche Medien ebenfalls in einer kapitalistischen Gesellschaft operieren müssen, sehen sie sich aber mit Problemen wie Ressourcenknappheit oder Versuchen politischer Akteure, die Berichterstattung und Entscheidungsfindung zu beeinflussen, konfrontiert. Im digitalen Kapitalismus muss das Propaganda-Modell Phänomene wie algorithmisch gesteuerte Nachrichten und Sichtbarkeit, personalisierte und algorithmische Online-Werbung, Native Advertising, Branden Content, die Online- Aufmerksamkeitsökonomie, politische Bots, Online-Hass, Filterblasen, Ideologien des und im Internet, digitale Arbeit, digitale Überwachung, digitale Kriegsführung und die Boulevardisierung und Beschleunigung von Online-Informationen berücksichtigen (siehe Fuchs 2018d). <?page no="219"?> 6.6 Die Internet Research Agency und der Cambridge Analytica-Skandal 219 Der Cambridge Analytica-Skandal hat gezeigt, wie sich die Falschnachrichten in den vernetzten Informations- und Kommunikationsräumen der sozialen Medien online verbreiten. Doch die Falschnachrichten sind nicht neu. Sie sind mindestens so alt wie die Boulevardpresse, der sie als Mittel zur Steigerung ihrer Einschaltquoten, Verkäufe, Anzeigenpreise und Profite dienen. Lügen, Skandalisierung und Boulevardisierung sind Profitstrategien. Falschnachrichten sind Nachrichten, die vorgeben, ein wahres Bild der Welt zu vermitteln, aber nicht der Realität entsprechen. Auf diese Weise wird versucht, die Menschen falsch zu informieren und die Realität durch die Verbreitung von Lügen zu manipulieren. Falschnachrichten lassen sich besser als Falschmeldungen im Sinne des marxistischen Begriffs „falsches Bewusstsein“ charakterisieren, d.h. Ideologien, die die Form von Lügen und manipulierten Informationen annehmen, um den wahren Zustand bestimmter Aspekte der Gesellschaft zu verschleiern. Falsches Bewusstsein ist eine Bewusstseinsform mit bestimmten Eigenschaften, „etwas objektiv an dem Wesen der gesellschaftlichen Entwicklung Vorbeigehendes, sie nicht adäquat Treffendes und Ausdrückendes“ (Lukács 1923, 223). Der populäre slowenische Philosoph Slavoj Žižek (2020, 103) argumentiert, die Standardgeschichte über die Falschnachrichten sei, dass ein „Tod der Wahrheit“ proklamiert werde und dass die Liberalen „bequem den privilegierten Boden der Wahrhaftigkeit besetzen und beide Seiten, Alt-Right und radikale Linke, ablehnen“. Er betont, dass der Tod der Wahrheit nicht erst vor kurzem begonnen hat, da in den kapitalistischen Medien „viele Menschenrechtsverletzungen und humanitäre Katastrophen unsichtbar blieben, vom Vietnamkrieg bis zur Invasion des Irak“ (105). Žižek weist darauf hin, dass die Alternative nicht darin besteht, auf postmoderne Weise alle Wahrheiten in Frage zu stellen und zu erklären, dass es keine Wahrheit gibt. Vielmehr sollte man akzeptieren, dass „die menschliche Geschichte immer von einem bestimmten Standpunkt aus erzählt wird“ (104). Diese „interessengeleiteten Standpunkte sind letztlich nicht alle gleich wahr - einige sind ‚wahrheitsgemäßer‘ als andere“ (104). Žižek argumentiert, man müsse sich genau überlegen, was „Wahrheit“ und „Falschheit“ im Zusammenhang mit der Diskussion um die Falschnachrichten bedeutet. Schauen wir uns an, was er über den Cambridge Analytica-Skandal zu sagen hat: In „unserem gesellschaftlichen Leben ist die universelle Wahrheit nur denen zugänglich, die sich für die Emanzipation einsetzen, nicht denen, die versuchen, eine ‚objektive‘ Gleichgültigkeit aufrechtzuerhalten. [...] Es gibt nicht nur wahre und falsche Daten, es gibt auch wahre und falsche subjektive Standpunkte, da diese Standpunkte selbst Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind. [...] Wenn man z.B. die Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands vom Standpunkt des Leidens der von ihm Unterdrückten erzählt, d.h. wenn wir uns in unserer Erzählung von einem Interesse an der universalen menschlichen Emanzipation leiten lassen, so handelt es sich nicht nur um einen anderen subjektiven Standpunkt: eine solche Geschichtserzählung ist auch immanent ‚wahrer‘, da sie die Dynamik der gesellschaftlichen Totalität, die den Nazismus geboren hat, adäquater beschreibt. Nicht alle ‚subjektiven Interessen‘ sind gleich - nicht nur, weil einige ethisch den anderen vorzuziehen sind, sondern weil ‚subjektive Interessen‘ nicht außerhalb der gesellschaftlichen Totalität stehen, sondern selbst Momente der gesellschaftlichen Totalität sind, die von aktiven (oder passiven) Teilnehmern an gesellschaftlichen Prozessen gebildet werden“ (Žižek 2020, 105, 104). Žižek erinnert uns hier daran, dass es bei Wahrheit und Falschheit nicht nur um die Frage geht, ob etwas faktisch richtig oder falsch ist, sondern dass es sich dabei auch um eine Frage der Ideologie und der Weltanschauung handelt. Für ihn hat der Cam- <?page no="220"?> 220 6 Influencer-Kapitalismus bridge Analytica-Skandal mit der Verbreitung der rechten Ideologie zu tun. Und er sieht eine solche Ideologie als politisch und moralisch falsch an, weil sie sich gegen die universellen Rechte der Menschen richtet. Claire Wardle (2017) argumentiert, dass es verschiedene Arten von Fehlinformationen und Desinformationen gibt: irreführende Informationen, die Themen parteiisch umrahmen; die Nachahmung von Quellen; das Fabrizieren von Inhalten; die irreführende Verwendung von Überschriften, Bildern und Bildunterschriften auf eine Art und Weise, die vom Inhalt nicht unterstützt wird; die Verwendung falscher Kontextinformationen; und die Manipulation von Informationen, Ton oder Bildern. Die Falschheit von Falschmeldungen kann sich auf den Informationsgehalt, den Kontext, den Präsentationsstil und die Verwendung von Text, Bildmaterial, Ton oder Audiovision beziehen. Wardle (2017) bezieht auch Nachrichtensatire und -parodie, die „keine Absicht haben, Schaden anzurichten“, aber „das Potential haben, zu täuschen“, in eine Typologie von Fehl- und Desinformation mit ein. Tandoc, Lim & Ling (2018) nehmen Nachrichtensatiren und Nachrichtenparodien neben Nachrichtenfälschung, Fotomanipulation, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit (einschließlich Native Advertising) und Propaganda in ihre Typologie der Falschnachrichten auf. Sie machen deutlich, dass Nachrichtensatiren und Nachrichtenparodien nicht die Absicht haben, zu täuschen. Da diese Genres darauf abzielen, falsche und überzogene Behauptungen nicht als Nachrichten, sondern als künstlerische Mittel der Unterhaltung und Kritik einzusetzen, deren letztendliches Ziel darin besteht, Gelächter zu erzeugen, sollten Nachrichtensatire und Nachrichtenparodie nicht als „gefälschte“ Nachrichten/ Falschnachrichten charakterisiert werden. Sie sind Formen der Kunst und keine Nachrichten. Sowohl Nachrichten als auch Kunst sind Formen der Kultur. Die Komödie ist eine Kunstform, die darauf abzielt, Menschen zum Lachen zu bringen, während das Ziel von Nachrichten darin besteht, einem breiten Publikum über neue faktische Entwicklungen in der Gesellschaft zu berichten, die von Bedeutung sind. Abbildung 6.4: Ein Tweet von Donald Trump über „Falschnachrichten“ Quelle: Twitter, @RealDonaldTrump, gepostet am 17. Februar 2017, https: / / twitter.com/ realdonaldtrump/ status/ 832708293516632065 Die Verwendung des Begriffs „Fake News“ ist etwas problematisch, da Donald Trump und andere rechte Demagogen ihn übernommen haben, um zu versuchen, die Kritik an ihren politischen Programmen zu diskreditieren. Sachlich wahre Informationen werden dabei oft als „gefälscht“ dargestellt, während echte Falschnachrichten, die <?page no="221"?> 6.6 Die Internet Research Agency und der Cambridge Analytica-Skandal 221 sachlich falsch sind, als wahr dargestellt werden. Lügen werden als Wahrheit, Wahrheit als Lüge dargestellt. Trump twitterte zum Beispiel über Medien, die kritisch über ihn berichtet haben - New York Times , NBC, ABC, CBS und CNN -, dass sie Falschnachrichten verbreiten und Feinde des amerikanischen Volkes sind (siehe Abbildung 6.4): „The FAKE NEWS media (failing @nytimes, @NBCNews, @ABC, @CBS, @CNN) is not my enemy, it is the enemy of the American People! ” 95 . Donald Trump ist eine Falschnachrichten-Fabrik (Holloway 2017), die behauptet, glaubwürdige Nachrichtenmedien seien gefälscht, um die Aufmerksamkeit von den Halbwahrheiten und Unwahrheiten abzulenken, die er online, insbesondere auf Twitter, verbreitet. Zu Trumps Falschnachrichten gehören zum Beispiel: Obama sei ein kenianischer Muslim, der nie die Columbia University besucht habe; Hillary Clinton sei zu krank gewesen, um als Präsidentin zu dienen; Tausende und Abertausende Muslime hätten in New Jersey den 11. September bejubelt; Millionen von Menschen in den USA hätten am 8. November 2016 illegal gewählt usw. Falschmeldungen sind so alt wie die Boulevardmedien. Neu ist die Art und Weise, wie Falschmeldungen organisiert werden: Sie sind von den traditionellen Medien in das vernetzte Online- und Social-Media-Umfeld übergegangen, in dem sich Falschmeldungen, die oft in Troll-fabriken durch schlecht bezahlte Falschnachrichtenarbeit erzeugt werden, durch personalisierte Werbung, persönliche Netzwerke, falsche Profile und durch Bot-generierte Aufmerksamkeit und Likes verbreiten. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass Falschnachrichten technologische Ursachen haben und aufgrund der technologischen Möglichkeiten zur Erstellung und Verbreitung digitaler Inhalte existieren, die versuchen, zu täuschen, die Realität manipulieren und erfundene/ fantastische Geschichten als Fakten berichten. Technologien bestimmen nicht die Gesellschaft und das menschliche Verhalten, sondern sind vielmehr in die Widersprüche und Komplexitäten der Gesellschaft eingebettet. Daher gibt es keine technologischen Lösungen für die Probleme, die mit Falschnachrichten, politischen Bots und falschen Berichten in den sozialen Medien verbunden sind. Lösungen müssen sich darauf konzentrieren, die Gesellschaft durch Gesetzgebung, Regulierung und Medienreformen zu verändern. Wahrheit gibt es nur in einer klassenlosen Gesellschaft Farkas & Schou (2020, 155) argumentieren, dass Falschmeldungen uns daran erinnern, dass die Demokratie zerbrechlich ist und dass wir als Antwort darauf „die Demokratie neu beleben“ müssen, zusammen mit „Gleichheit, Stimme, Gerechtigkeit, dem Allgemeinwohl und Fürsorge“. Das Problem ist, dass Klassengesellschaften und herrschaftsförmige Gesellschaften eine Ideologie benötigen, um sich zu legitimieren und die Unterdrückten und Ausgebeuteten zu täuschen. Lügen, Ideologie und Falschheit gibt es daher in jeder Klassengesellschaft. Die Wahrheit existiert nur in einer klassenlosen Gesellschaft. Eine klassenlose Gesellschaft ist die Wahrheit der Gesellschaft. Solange es Klassenkämpfe und Klassengegensätze gibt, wird es auch Kämpfe um Information und Wahrheit geben. Medienreformen wie die Unterstützung unabhängiger, gemeinnütziger Organisationen zur Überprüfung von Fakten, die politische Behauptungen auf Wahrheit und 95 Twitter, @RealDonaldTrump, 17. Februar 2017, https: / / twitter.com/ realdonaldtrump/ status/ 832708293516632065 <?page no="222"?> 222 6 Influencer-Kapitalismus Falschheit überprüfen, sind sicherlich notwendig. Der Ersatz der Algorithmen durch bezahlte menschliche Arbeit von Faktenprüfer: innen und Wissensspezialist: innen kann dazu beitragen, die von den Falschnachrichten ausgehenden Gefahren für die Demokratie zu verringern. Faktenüberprüfung funktioniert nicht, wenn sie einfach nur aus Crowdsourcing besteht, sondern sie erfordert vielmehr eine angemessene Finanzierung für die Aufrechterhaltung der Vollzeitbeschäftigung von Faktenprüfer: innen. Es ist sinnvoll, dass große Social-Media-Unternehmen gesetzlich verpflichtet werden, entweder je nach Anzahl ihrer aktiven monatlichen Nutzer: innen direkt eine bestimmte Anzahl von Faktenprüfer: innen einzustellen oder mit einer bestimmten Anzahl von Mitarbeiter: innen unabhängiger, gemeinnütziger Faktenprüfungsorganisationen zusammenzuarbeiten und deren Dienste zu bezahlen. Wenn Social-Media- Plattformen gesetzlich verpflichtet sind, einen Alarmknopf für Falschnachrichten einzuführen, der eine Faktenprüfung auslöst, wenn eine bestimmte Anzahl von Nutzer: innen die Schaltfläche in Bezug auf ein bestimmtes Inhaltselement anklicken, dann könnte ein Fortschritt erzielt werden. Ein Verbot von personalisierter politischer Online-Werbung würde es den sozialen Medien nicht mehr erlauben, Nutzer: innen, die über IP-Adressen innerhalb des gesetzgebenden Landes auf das Internet zugreifen, personalisierte politische Werbung zu präsentieren. Die Einführung einer solchen Maßnahme ist nur dann wirksam, wenn sie mit Strafen für Verstöße gegen das Verbot politischer Online-Werbung einhergeht. Solche Strafen können nur dann angemessen durchgesetzt werden, wenn der Gesetzgeber nicht den Werbekunden, sondern die werbende Online-Plattform als Täter definiert. Werbekunden können sich überall auf der Welt befinden, was die Durchsetzung von Strafen von einem Land aus erschwert. Deshalb sollte die werbetreibende Plattform rechtlich haftbar sein. Um wirksam zu sein, sollte der Strafzuschlag auf einen signifikanten Anteil des weltweiten Jahresumsatzes des betroffenen Online-Unternehmens festgelegt werden. Da die Falschnachrichten zu einem globalen Problem geworden sind, ist es wahrscheinlich, dass andere Länder nachziehen werden, sobald ein Land beginnt, personalisierte politische Online-Werbung zu verbieten. Die Kultur der Falschnachrichten kann nur überwunden werden, wenn alternative Formen der politischen Online-Kommunikation aktiv gefördert werden. Dies erfordert neuartige Online-Plattformen und neue Formate, die Nachrichten und politische Kommunikation verlangsamen und als Slow Media (langsame Medien) wirken. In Europa gibt es eine lange Tradition der öffentlich-rechtlichen Medien. Es gibt kein europäisches Äquivalent zu Twitter, YouTube und Facebook. Regulatorische Änderungen, die es öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten erlauben, Online-Formate und Social-Media-Plattformen (wie Club 2.0 und andere Formate) anzubieten, die darauf abzielen, politische Kommunikation und langsame, werbefreie Medien zu fördern und solche Aktivitäten angemessen zu finanzieren, sind eine gute Möglichkeit, eine alternative Kultur der politischen Kommunikation zu etablieren, die die Kultur der Falschnachrichten schwächt. Die Förderung von öffentlich-rechtlichen Internet-Plattformen ist ein Schritt zur Überwindung der Kultur der Falschnachrichten. Parlamentarische Untersuchungen der Falschnachrichten Der Der Cambridge Analytica-Skandal weckte Besorgnis über die Gefahren, die die Datenüberwachung für die Demokratie darstellt. Einige Parlamente haben daher Untersuchungen über Falschnachrichten aufgenommen. Im Vereinigten Königreich führte der Ausschuss für Digitales, Kultur, Medien und Sport des parlamentarischen Unterhauses eine Untersuchung über Desinformation und Falschnachrichten durch. <?page no="223"?> 6.6 Die Internet Research Agency und der Cambridge Analytica-Skandal 223 Der US-Kongress untersuchte das gleiche Thema. Mark Zuckerberg weigerte sich, vor dem britischen Parlament mündlich auszusagen, musste aber vor dem Europäischen Parlament und dem US-Kongress erscheinen (siehe US-Kongress 2018a, 2018b). Am 10. April 2018 befragten der Justizausschuss des US-Senats und der Ausschuss für Handel, Wissenschaft und Verkehr des US-Senats Zuckerberg zu den Falschnachrichten auf Facebook. Am 11. April sagte Zuckerberg vor dem Ausschuss für Energie und Handel des US-Repräsentantenhauses aus. Bei diesen Anhörungen agierte Mark Zuckerberg als der unwissende CEO. Seine häufigste Antwort auf die Hunderte von Fragen, die ihm in den beiden Anhörungen gestellt wurden, lautete: „Ich weiß es nicht“ und „Ich weiß es nicht aus dem Stegreif, aber wir können uns mit Ihnen darüber in Verbindung setzen“. Hier ist eine typische Sequenz aus diesen Anhörungen: „Senator Dean Heller: My kids have been on Facebook and Instagram for years. How long do you keep a user’s data? Mark Zuckerberg: Sorry, can ... Heller: How long do you keep a user’s data, once they - after - after they’ve left? If they - if they choose to delete their account, how long do you keep their data? Zuckerberg: I don’t know the answer to that off the top of my head. I know we try to delete it as quickly as is reasonable. We have a lot of complex systems, and it work - takes a while to work through all that“ (US Congress 2018a). Zuckerberg agierte als der große Donald-Rumsfeld-Imitator. Rumsfeld, der damalige US-Verteidigungsminister, rechtfertigte den US-Krieg im Irak mit folgenden Worten: „There are known unknowns. That is to say, there are things that we now know we don’t know. But there are also unknown unknowns. There are things we do not know we don’t know“. Zuckerberg antwortete auf Fragen zu Facebooks Datenüberwachung und digitalem Kapitalismus überwiegend mit der Logik des bekannten Unbekannten und des unbekannten Unbekannten. Slavoj Žižek (2004) argumentiert, Rumsfeld habe bewusst übersehen, dass „die Hauptgefahren im ‚unbekannten Wissen‘ liegen“, „den Dingen, von denen wir nicht wissen, dass wir sie wissen“, „den geleugneten Überzeugungen, Vermutungen und obszönen Praktiken, von denen wir vorgeben, sie nicht zu kennen, obwohl sie den Hintergrund unserer öffentlichen Werte bilden“. In einer öffentlichen Anhörung leugnete Zuckerberg etwas über das verborgene Wissen und die Werte, die dem digitalen Kapitalismus zugrunde liegen, zu wissen. Er leugnete, dass ihm das Hintergrundwissen seiner und der alltäglichen Praktiken von Facebook bekannt sei. In der Senatsanhörung sagte Zuckerberg, dass sich Facebook „nicht wie ein Monopol anfühlt“ (US Congress 2018a). Zuckerberg „spürt“ und „fühlt“ sicherlich die wachsenden Geldbeträge auf seinen Bankkonten, also weiß er über Monopole sehr gut Bescheid. Aber er sagt, er spüre keine Monopolstrukturen. Er will nicht an die umfassenderen Auswirkungen der monopolistischen Praktiken der Kapitalakkumulation auf die Gesellschaft denken, was zeigt, dass das Kapital blind ist für seine eigenen negativen Merkmale und Auswirkungen auf die Gesellschaft. Die Implikation ist jedoch, dass das Kapital nicht freiwillig etwas tun wird, um seine eigenen negativen Auswirkungen abzuschwächen. Es ist daher eine politische Aufgabe, dem Kapital über das Gesetz, den Staat und die Zivilgesellschaft grundlegende Verhaltensregeln aufzuzwingen. <?page no="224"?> 224 6 Influencer-Kapitalismus In den parlamentarischen Anhörungen entschuldigte sich Zuckerberg wiederholt für den Cambridge Analytica-Skandal: „Mark Zuckerberg: We didn’t take a broad enough view of our responsibility, and that was a big mistake. And it was my mistake. And I’m sorry. I started Facebook, I run it, and I’m responsible for what happens here. […] It's not enough to just connect people. We have to make sure that those connections are positive. It’s not enough to just give people a voice. We need to make sure that people aren’t using it to harm other people or to spread misinformation. And it’s not enough to just give people control over their information. We need to make sure that the developers they share it with protect their information, too. Across the board, we have a responsibility to not just build tools, but to make sure that they’re used for good. It will take some time to work through all the changes we need to make across the company, but I’m committed to getting this right. This includes the basic responsibility of protecting people’s information, which we failed to do with Cambridge Analytica“ (US Congress 2018a). Man kann sich dafür entschuldigen, dass man zu viel Salz in die Suppe getan hat und seine Familienmitglieder sie deshalb nicht essen können. Aber man kann sich nicht für den digitalen Kapitalismus entschuldigen. Der Kapitalismus ist ein System. Diejenigen, die den digitalen Kapitalismus als CEOs, Manager: innen und Aktionäre/ Aktionärinnen unterstützen, treffen eine bewusste Entscheidung, Kapital zu akkumulieren und reich werden zu wollen, indem sie die Ausbeutung von digitaler Arbeit und die Kommodifizierung von Daten vorantreiben. Facebook, Google und andere digitale Giganten haben sich bewusst dafür entschieden, personalisierte Werbung und Datenüberwachung als ihr Kapitalakkumulationsmodell voranzutreiben. Das Sammeln von Daten liegt in ihrem wirtschaftlichen Interesse. Der Schutz der Privatsphäre schadet ihren Profiten. Das Modell der personalisierten Werbung stellt die Profite über die Demokratie. Wenn es Facebook ernst damit wäre, Verletzungen der Privatsphäre zu vermeiden, hätte es personalisierte Werbung längst abgeschafft und sich in eine gemeinnützige Organisation verwandelt. Der digitale Riese profitiert vom digitalen Kapitalismus und vom digitalen Autoritarismus. Facebook hat eine lange Geschichte der Entschuldigung für Verletzungen der Privatsphäre, aber immer wieder tauchen neue Probleme und Entschuldigungen auf. Christopher Wylie, der Whistleblower im Cambridge Analytica-Skanal, argumentiert, dass, wenn „Facebook eine weitere Entschuldigungstour unternimmt und lautstark bekennt, dass ‚wir uns mehr Mühe geben werden‘, seine leere Rhetorik nichts anderes ist als die Gedanken und Gebete eines Technologieunternehmens, das sich damit zufrieden gibt, von dem Status quo der Untätigkeit zu profitieren“ (Wylie 2019, 229). Angesichts ungeregelter, neoliberaler Politikregime, die Datenschutz nicht richtig durchsetzen und Unternehmensmonopole nicht zerschlagen, hat es nicht genug finanziellen Druck gegeben, damit die digitalen Giganten ihre kapitalistischen Praktiken signifikant verändern. Es ist keine Überraschung, dass Zuckerbergs Hauptvorschlag bei den Anhörungen im Kongress, was geändert werden sollte, folgendermaßen lautete: „A.I. tools that can identify certain classes of bad activity proactively and flag it for our team at Facebook“, „new A.I. tools that do a better job of identifying fake accounts that may be trying to interfere in elections or spread misinformation“ (US Congress 2018a) <?page no="225"?> 6.6 Die Internet Research Agency und der Cambridge Analytica-Skandal 225 „rely on and build sophisticated A.I. tools that can help us flag certain content“ (US Congress 2018b). Für Zuckerberg gibt es technologische Lösungen für politisch-ökonomische Probleme. Algorithmen und KI sind aber Teil des Problems, nicht die Lösung. Alexandria Ocasio-Cortez vs. Mark Zuckerberg Im Oktober 2019 musste Zuckerberg vor dem Finanzdienstleistungsausschuss des US- Repräsentantenhauses über den Plan von Facebook aussagen, die Krypto-Währung Libra einzuführen. Der Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, die den 14. Kongressbezirk New Yorks vertritt, befragte ihn zu Cambridge Analytica, Falschnachrichten und politischen Anzeigen: „Alexandria Ocasio-Cortez: Would I be able to run advertisements on Facebook targeting Republicans in primaries saying that they voted for the Green New Deal? I mean, if you’re not fact-checking political advertisements, I’m just trying to understand the bounds here. What’s fair game? Mark Zuckerberg: Congresswoman, I don’t know the answer to that off the top of my head. I think probably? O-C: So you don’t know if I’ll be able to do that? Z: I think probably. O-C: Do you see a potential problem here with a complete lack of fact-checking on political advertisements? Z: Well, Congresswoman, I think lying is bad. And I think if you were to run an ad that had a lie, that would be bad . That’s different from it being, from it, from … in our position, the right thing to do to prevent your constituents or people in an election from seeing that you had lied. O-C: So you won’t take down lies, or you will take down lies? I think this is just a pretty simple yes or no. […] I’m not talking about spin, I’m talking about actual disinformation. Z: Yes, in most cases, in a democracy, I believe that people should be able to see for themselves what politicians, that they may or may not vote for, are saying […] O-C: So you won’t take them down . Z: They can judge their character for themselves . […] O-C: Can you explain why you’ve named The Daily Caller, a publication welldocumented with ties to white supremacists, as an official fact-checker for Facebook. Z: Congresswoman, sure. We actually don’t appoint the independent fact-checkers. They go through an independent organization called the Independent Fact- Checking Network that has a rigorous standard for who they allow to serve as a fact-checker“ 96 . Zuckerberg argumentiert, dass sich die Wähler: innen ihre eigene Meinung bilden sollten, auch über Falschnachrichten, und dass Facebook deshalb politische Anzeigen nicht auf Fakten überprüfen und die, die Lügen präsentieren, nicht löschen will. 96 Datenquelle: https: / / www.c-span.org/ video/ ? 465293-1/ facebook-ceo-testimony-housefinancial-services-committee (Transkription, abgerufen am 26. März 2024) <?page no="226"?> 226 6 Influencer-Kapitalismus Facebook scheint alle Formen von Werbung als wichtiges Geschäft zu sehen und will daher keine Kontrollen durchführen. Zuckerberg sieht nicht die Verbindung von Kapitalismus und Faschismus und ist der Meinung, dass faschistische Anzeigen eine legitime Form der Werbung sind. Er gibt auch keine angemessene Antwort auf die Frage über die Tatsache, dass Facebook eine Partnerschaft mit Check Your Fact, einer Tochtergesellschaft der rechts-rechten Plattform Daily Caller, eingegangen ist (siehe Rupar 2019). Falschnachrichten, die in sozialen Medien verbreitet werden, haben überwiegend rechten Charakter. Facebook ermöglicht von Rechts-Rechten finanzierten Organisationen, Fakten zu überprüfen. Dieses Kapitel hat gezeigt, dass die Falschnachrichten mit den Widersprüchen der Gesellschaft und insbesondere mit der Polarisierung der politischen Welt zu tun haben. In der vorausgegangenen Diskussion hat sich gezeigt, dass die Existenz der Falschnachrichten nicht ohne weiteres technologisch oder anderweitig aus der Welt geschaffen werden kann, da es sich um ein ideologisches Phänomen handelt. Wir müssen die Antagonismen und Probleme überwinden, die die Gesellschaften polarisiert haben. Was helfen könnte, ist ein Verbot politischer Werbung und personalisierter Anzeigen. Social-Media-Plattformen profitieren monetär vom Datenfluss auf ihren Plattformen. Viele von ihnen werden daher nicht freiwillig auf politische und andere Werbung verzichten. Daher scheint es auch wichtig zu sein, die kapitalistischen sozialen Medien in gemeinnützige, Commons-basierte, nicht-kommerzielle, werbefreie Plattformen umzuwandeln. Anti-soziale soziale Medien 97 Angesichts des Cambridge Analytica-Skandals begannen Kommentatoren über den antisozialen und unsozialen Charakter von Facebook zu sprechen. So schrieb beispielsweise die Financial Times plötzlich vom „antisozialen Netzwerk“ (Kuchler 2018). Der Cambridge Analytica-Skandal hat den antisozialen Charakter der „sozialen Medien“ aufgezeigt. Das Problem der plötzlichen Entdeckung antisozialer Medien in der Mainstream-Öffentlichkeit besteht darin, dass dieselben Kommentator: innen, Expert: innen und Medien jahrelang die kapitalistischen sozialen Medien als die neueste große Sache feierten, die alles verändern und alles besser machen würde. Dabei übersahen sie, dass Asozialität dem digitalen Kapitalismus immanent und in ihn eingebaut ist. 2018 ist nicht nur das Jahr, in dem der Cambridge Analytica-/ Facebook-Skandal zum Ausbruch kam, sondern zufällig auch das Jahr, in dem wir das zweihundertjährige Jubiläum von Karl Marx feierten. Und es ist Karl Marx, dessen Theorie das mächtigste Werkzeug ist, um den unsozialen und antisozialen Charakter der kapitalistischen „sozialen“ Medien und des digitalen Kapitalismus zu enthüllen. Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844 sind ein frühes philosophisches Werk von Marx (1844b), in dem er die Kritik am Kapitalismus als antisoziales System am kraftvollsten formuliert, indem er den Begriff der Entfremdung 97 Eine frühere Version des folgenden Materials in diesem Abschnitt und dem folgenden Abschnitt wurde unter einer Creative-Commons-Lizenz CC-BY online veröffentlicht: Christian Fuchs. 2018. What Would Marx Have Said About Facebook and Cambridge Analytica? Open Democracy , 20. November 2018, https: / / www.opendemocracy.net/ en/ opendemocracyuk/ what-would-marx-have-said-about-facebook-Cambridge Analytica/ . Die frühere Fassung wurde angepasst, überarbeitet und erweitert. <?page no="227"?> 6.6 Die Internet Research Agency und der Cambridge Analytica-Skandal 227 prägt. Für Marx ist der Mensch ein soziales und gesellschaftliches Wesen, weil die Menschen das soziale Leben und die Gesellschaft gemeinsam produziert. Die soziale und gesellschaftliche Produktion macht den sozialen Charakter des Menschen aus: „Nicht nur das Material meiner Tätigkeit ist mir - wie selbst die Sprache, in der der Denker tätig ist - als gesellschaftliches Produkt gegeben, mein eignes Dasein ist gesellschaftliche Tätigkeit; darum das, was ich aus mir mache, ich aus mir für die Gesellschaft mache und mit dem Bewußtsein meiner als eines gesellschaftlichen Wesens” (Marx 1844b, 538). „Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung - erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit andern zugleich vollbrachten Lebensäußerung - ist daher eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens. Das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden, so sehr auch - und dies notwendig - die Daseinsweise des individuellen Lebens eine mehr besondre oder mehr allgemeine Weise des Gattungslebens ist, oder je mehr das Gattungsleben ein mehr besondres oder allgemeines individuelles Leben ist “ (Marx 1844b, 538-539). Um den sozialen Charakter des Menschen zu betonen, spricht Marx auch vom Menschen als Gattungswesen . Marx argumentiert, dass Herrschaft und Klassenstrukturen zu einer Kluft zwischen der Existenz des Menschen in der heutigen Gesellschaft und seinem sozialen Wesen führen. Der Kapitalismus stellt die Nicht-Identität des Wesens und der Existenz des Menschen dar. Der Kapitalismus entfremdet den Menschen von seinem sozialen Wesen. Entfremdung konstituiert den unsozialen und antisozialen Charakter des Kapitalismus. Marx (1844b, 562) argumentiert, dass Arbeitsteilung, Klassenstrukturen und Warenaustausch zur Beherrschung der Gesellschaft durch das „ungesellschaftliche Sonderinteresse“ führen. Die Folge sind vier Formen der Entfremdung (Marx 1844b, 516-518): 1) der Mensch ist von der Natur entfremdet; 2) die Menschen sind von ihrem Körper und Geist, also ihrer Subjektivität entfremdet; 3) der Mensch ist entfremdet vom „Produkt seiner Arbeit, seiner Lebenstätigkeit” (Marx 1844, 517) und auch von 4) anderen Menschen und der Gesellschaft. In entfremdeten Strukturen und Gesellschaften haben Menschen keine Kontrolle über die Dinge, Strukturen, Ressourcen und sozialen Beziehungen, die sie produzieren und mit denen sie produzieren. Marx‘ Konzept der Entfremdung ist nicht nur eine Kritik der Lohnarbeit und des Privateigentums an den Produktionsmitteln, die den Menschen ökonomisch vom Eigentum entfremden und ihn von dem entfremden, das er gemeinsam mit anderen in der Wirtschaft produziert und das sich im Privateigentum des Kapitals befindet. Die Entfremdungstheorie ist auch eine Kritik an politischen Systemen und Institutionen, die den Menschen von der Einflussnahme auf Entscheidungen ausschließt. Die Kritik der Entfremdung ist eine Kritik der wirtschaftlichen und politischen Herrschaft und der Forderung nach politischer Demokratie und wirtschaftlicher Demokratie. Im Kontext von Cambridge Analytica bedeutet Entfremdung, dass der Skandal eine Manifestation der mangelnden Kontrolle der Nutzer: innen darüber ist, was mit ihren Daten auf Facebook geschieht. Sie werden wirtschaftlich von der Plattform <?page no="228"?> 228 6 Influencer-Kapitalismus entfremdet, die so viele Daten wie möglich speichert und sammelt, um Kapital zu akkumulieren. Auf der Ebene der Politik und der Ideologie bedeutet Cambridge Analytica die Entfremdung der Bürger: innen voneinander und die Verbreitung von politischem Hass und Nationalismus. Nationalismus spaltet die Menschen. Er ist eine Form der politischen und kulturellen Entfremdung. Der Cambridge Analytica-Skandal ist nicht einfach eine Geschichte über Falschnachrichten, gefälschte Aufmerksamkeit, gefälschte Berichte, gefälschte Persönlichkeitstests und gefälschte Werbung auf sozialen Medien. Es ist eine Geschichte über die Schnittmenge von rechter digitaler Ideologie, digitalem Kapitalismus und digitalem Neoliberalismus: Rechts-rechte Ideologen und Bewegungen werden alles tun, was nötig ist, um ihre Ziele zu erreichen, einschließlich der Nutzung digitaler Medien auf alle Arten, die für die Verbreitung von Propaganda und den Sieg über politische Feinde notwendig sind. Die politische Kultur der Falschnachrichten ist Ausdruck des Freund-Feind-Schemas in einer stark polarisierten politischen Welt, die von neuem Nationalismus und rechtem Autoritarismus beherrscht wird (Fuchs 2018b, 2018c, 2020b). Facebook ist der Inbegriff des digitalen Kapitalismus : Der Konzern behandelt persönliche Daten als Ware, um personalisierte Werbung zu verkaufen. Personalisierte Werbung wird von Algorithmen getrieben, die blind für den Inhalt des Beworbenen sind. Für Facebook spielt es keine Rolle, ob es in der Werbung um Schokoladenkekse oder Faschismus geht - es geht nur darum, personalisierte Werbung, um des Profit willens zu verkaufen. Es ist daher keine Überraschung, dass Facebook höchst problematische Datenpraktiken toleriert hat. Die Logik des digitalen Kapitalismus ist: Je mehr Online- Aktivitäten, Daten und Metadaten generiert werden, desto mehr potenzieller Profit entsteht. Als Folge davon geraten Profitabilität und die wirtschaftliche Freiheit des Kapitalismus jedoch in Widerspruch zu politischer Freiheit (Demokratie) und sozialer Freiheit (Fairness). Der Kapitalismus basiert auf einer verallgemeinerten Warenproduktion durch Arbeiter: innen, die die von ihnen geschaffenen Waren nicht besitzen. Waren sind Kapital, das für Kapitalist: innen Gewinne abwirft. Die unbezahlte digitale Arbeit der Nutzer: innen produziert Big Data, die Facebook vermarktet und in Profit verwandelt. Die Nutzer: innen von werbebasierten sozialen Medienplattformen sind digitale Arbeiter: innen, das digitale Proletariat des 21. Jahrhunderts. Aufgrund der Ideologie, dass das, was gut für die Profite kapitalistischer Unternehmen ist, auch gut für die Gesellschaft ist, sind neoliberale Politik und Politiker beim Schutz der Privatsphäre und der Regulierung digitaler Unternehmen nachlässig. Die Selbstregulierung der Unternehmen funktioniert nicht. Es hat sich gezeigt, dass sie Bedrohungen der Demokratie leicht vorantreiben kann. Der Cambridge Analytica-Skandal ist nur die Spitze des Eisbergs der digitalen Entfremdung: Digitale Unternehmen entfremden Nutzer: innen von Daten und Plattformen. Nutzer: innen haben keine Kontrolle über die Privatsphäre. Der Neoliberalismus entfremdet die Bürger vom Zugang zu Gemeinschaftsgütern, die für ein menschenwürdiges Leben notwendig sind. Rechtsextreme Demagogen entfremden die Gesellschaft von der Demokratie. Die Vergesellschaftung anti-sozialer sozialer Medien Nach den Cambridge Analytica Skandal haben Liberale mehr Regulierung und Datenschutz gefordert. Aber es gibt keine einfache Lösung für die strukturellen Probleme des digitalen Kapitalismus. Was kann getan werden? Wir müssen unsoziale <?page no="229"?> 6.7 Überwachungskapitalismus? 229 soziale Medien sozialisieren/ vergesellschaften. Politische Akte der digitalen Vergesellschaftung/ Sozialisation ziehen verschiedene Maßnahmen nach sich: Ein Verbot personalisierter politischer Online-Werbung reduziert die Gefahren der Werbung für die Demokratie. Es kann nur wirksam sein, wenn hohe Strafen für die Missachtung des Verbots eingeführt und vollstreckt werden. Eine solche Maßnahme kann als Ausgangspunkt auch in einer einzigen nationalstaatlichen Gerichtsbarkeit eingeführt werden. Aber auch internationale Regelwerke sind notwendig und wünschenswert. Eine andere Maßnahme besteht darin, die algorithmische Tätigkeit durch bezahlte menschliche Arbeit von hoch qualifizierten und gut bezahlten Faktenprüfer: innen und Wissensspezialist: innen zu ersetzen. Die wichtigste Maßnahme ist die Infragestellung und Zerschlagung der Monopole der kapitalistischen Digitalkonzerne. Wir brauchen neue Arten von Online-Plattformen, die die digitalen Gemeinschaftsgüter und digitale öffentlichen Dienste fördern. Öffentlich-rechtliche Mdien sollten ermutigt und rechtlich in die Lage versetzt werden, ihre eigenen Social-Media-Plattformen aufzubauen und zu betreiben, z.B. ein öffentlich-rechtliches YouTube, das von einem Netz von öffentlich-rechtlichen Medien wie BBC, ARD, France Télévisions, RAI, PBS usw. betrieben wird. Die Besteuerung von Online-Werbung und anderen digitalen Gewinnen würde eine Finanzierungsgrundlage für die Finanzierung alternativer sozialer Medien schaffen und das Problem lösen, dass digitale Unternehmen Steuern vermeiden. Dadurch könnte eine partizipatorische Mediengebühr ermöglicht werden, die den Bürger: innen einen jährlichen Öffentlichkeits-Scheck gibt. Die Menschen spenden dann das erhaltene Geld für gemeinnützige Medienprojekte. Facebook, Twitter und Google könnten in gemeinnützige Plattform- Kooperativen umgewandelt werden, die nicht im Besitz und unter der Kontrolle von Aktienanteilseignern sind, sondern von den Nutzer: innen selbst verwaltet werden. Die Überwindung der Bedrohungen, die der Gesellschaft und der Demokratie durch unsoziale soziale Medien drohen, erfordert die Förderung der digitalen Gemeingüter als Alternative zum digitalen Kapitalismus. 6.7 Überwachungskapitalismus? Shoshana Zuboff ist Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Harvard Business School. Zuboffs (2018) Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus ist ein wichtiger Beitrag zur Untersuchung der Überwachung. Sie charakterisiert die heutige Gesellschaft als Überwachungskapitalismus: „Überwachungskapitalismus beansprucht einseitig menschliche Erfahrung als Rohstoff zur Umwandlung in Verhaltensdaten. […] Überwachungskapitalisten wissen alles über uns, während ihre Operationen so gestaltet sind, uns gegenüber unkenntlich zu sein. Überwachungskapitalisten entziehen uns unermessliche Mengen neuen Wissens, aber nicht für uns; sie sagen unsere Zukunft nicht zu unserem, sondern zu anderer Leute Vorteil voraus“ (22, 26). Zuboff kommentiert den Cambridge Analytica-Skandal wie folgt: „Cambridge Analytica hatte jedoch nicht nur die Grundmethoden des Überwachungskapitalismus - Rendition, Verhaltensüberschuss, Maschinenintelligenz, Vorhersageprodukte, Größen-, Diversifikations- und Aktionsvorteile - auf den Wahlkampf übertragen, das finstere Abenteuer lieferte darüber hinaus auch Anschauungsmaterial für die taktischen Erfordernisse des Überwachungskapitalismus. Die Operationen des Unternehmens zielten darauf ab, durch Geheimniskrämerei für Unwissenheit zu sorgen und das Bewusstsein des Einzelnen ganz bewusst zu umgehen. Wylie [der frühere Cambridge Analytica-Forschungsdirektor und spätere Whistleblower Christopher <?page no="230"?> 230 6 Influencer-Kapitalismus Wylie] bezeichnet das als ‚Informationskrieg‘ und räumt zu Recht die Asymmetrien von Wissen und Macht ein, die für die Verhaltensmodifikationsmittel von so grundsätzlicher Bedeutung sind“ (322). Für Zuboff ist die Überwachung das Hauptmerkmal des gegenwärtigen Kapitalismus. Die wirtschaftliche Überwachung durch Facebook, die Enthüllungen von Edward Snowden und der Cambridge Analytica-Skandal zeigen, dass das Sammeln von Informationen und die Nutzung digitaler Medien zur Kontrolle des Menschen ein wichtiges Merkmal des Kapitalismus sind. Der Schriftsteller Evgeny Morozov (2019) schrieb eine lange Rezension von Zuboffs Buch. Er argumentiert, dass Zuboff die Überwachung auf Kosten des Kapitalismus betont. Es gibt aber auch andere wichtige informationsbasierte Prozesse, die Schlüsselmerkmale des gegenwärtigen Kapitalismus sind und die für Zuboff nicht wichtig sind:  die Ausbeutung von informationsproduzierender und digitaler Arbeit in Klassenverhältnissen  die Verwaltung/ Governance/ Regulierung von Informationen im Bereich der politischen Macht;  die Schaffung von falschem Bewusstsein im Bereich der Ideologie. Digitaler/ informationeller/ kommunikativer Kapitalismus ist ein passenderer Begriff als Überwachungskapitalismus. Überwachung ist eines der Mittel zur Förderung von Ausbeutung, Kontrolle/ Beherrschung und Manipulation/ Ideologie im Kapitalismus. Zuboff argumentiert, dass der „Überwachungskapitalismus ein völlig neuer Akteur der Geschichte“ sei (Zuboff 2018, 29). Aber Strukturen und Systeme wie der Kapitalismus handeln nicht, nur Menschen handeln und haben bestimmte Interessen. Zuboff beschäftigt sich zu wenig mit der Analyse von Klassenstrukturen. Auch die Überwachung von Sklaven, tayloristische Zeit- und Bewegungsstudien usw. waren Überwachungsmethoden, die in Klassengesellschaften und im Kapitalismus zur Extraktionvon Mehrarbeit eingesetzt wurden. Die Überwachung ist nicht neu, sondern Teil von Klassengesellschaften. Zuboff geht von einem Dualismus von Arbeit und Erfahrung aus: „Anstatt von Arbeit nährt der Überwachungskapitalismus sich von jeder Art menschlicher Erfahrung“ (Zuboff 2018, 24). „So gesehen sind die Produkte und Dienstleistungen des Überwachungskapitalismus mitnichten die Objekte eines Wertaustauschs“ (10). Zuboff spricht von einem „Verhaltensüberschuss“, Der von der Arbeit unabhängig ist. Es fehlt eine Analyse der digitalen Arbeit, der Mehrwertproduktion und dem Tauschwert der menschlichen Subjektivität und der digitalen Erfahrung. Zuboff unterschätzt die Rolle der Arbeit im Kapitalismus. Einen Kapitalismus, der unabhängig von der Arbeit ist, gibt es nicht. In der sozialen und gesellschaftlichen Fabrik ist jeder Aspekt der menschlichen Erfahrung zur Arbeit geworden. Der Kapitalismus beutet Erfahrung, Subjektivität und Kommunikation als Arbeit aus. Die Überwachung ist eines der Werkzeuge der Klassengesellschaft. Zuboff (2018, 23) argumentiert, dass der Überwachungskapitalismus „eine neue Spezies von Macht, die ich als Instrumentarismus bezeichne“, hervorbringe. Das Ziel der instrumentären Macht sei es, „ uns selbst zu automatisieren“ (23). Die instrumentelle Vernunft ist nicht spezifisch für den zeitgenössischen Kapitalismus, sondern ein Aspekt aller Klassengesellschaften. In der Dialektik der Aufklärung verdeutlichen Horkheimer & Adorno (1947), dass die instrumentelle Vernunft in der Klassengesellschaft auftritt als „Instrumente der Herrschaft, die alle erfassen sollen, Sprache, Waffen, <?page no="231"?> 6.8 Schlussfolgerungen 231 schließlich Maschinen“ (51). Im Kapitalismus gehören zu solchen Machtinstrumenten u.a. die bürgerliche Wirtschaft, der Positivismus, die kapitalistische Maschinerie, die Ideologie und die Kulturindustrie. Die Vernunft „dient als allgemeines Werkzeug, das zur Verfertigung aller ändern Werkzeuge taugt […] Endlich hat sich ihr alter Ehrgeiz, reines Organ der Zwecke zu sein, erfüllt“ (Horkheimer & Adorno 2018, 43). In der kapitalistischen Wirtschaft gibt es die Instrumentalisierung der menschlichen Arbeit. Der Nationalstaat ist eine Form der politischen Instrumentalisierung. Er instrumentalisiert menschliche Entscheidungsgewalt. Die Ideologie instrumentalisiert das menschliche Bewusstsein. Wirtschaftliche, politische und ideologische Instrumentalisierung sind charakteristisch für die Klassengesellschaft und nicht nur für das, was Zuboff als Überwachungskapitalismus bezeichnet. Neu ist, dass, wenn die Gesellschaft zu einer sozialen Fabrik wird, die Instrumentalisierung weite Bereiche der Gesellschaft und der menschlichen Erfahrung erreicht. Zuboffs Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Analyse von Überwachung und Gesellschaft. Es ist hilfreich für ein besseres Verständnis der digitalen Überwachung, erkennt aber nicht die Bedeutung der Arbeit an, einschließlich der digitalen Arbeit von Nutzer: innen, die Daten, Inhalte und soziale Beziehungen online produzieren, die von Facebook und Mächten wie Cambridge Analytica überwacht werden und für wirtschaftliche, politische und ideologische Zwecke instrumentalisiert werden. 6.8 Schlussfolgerungen Die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels können wir wie folgt zusammenfassen:  Das Kapitalakkumulationsmodell von Facebook kommodifiziert die digitale Arbeit der Nutzer: innen.  Der Fall der russischen Internet Research Agency unter der Leitung von Jewgeni Prigoschin, der auch die paramilitärische Wagner-Gruppe gegründet hat, zeigt, dass in der stark polarisierten Weltpolitik Fake News als Mittel des Informationskriegs eingesetzt werden.  Der Cambridge Analytica-Skandal hat gezeigt, wie das Zusammenspiel von rechtsextremer Ideologie, digitalem Kapitalismus und Neoliberalismus zu einer politischökonomischen Überwachung geführt hat, die Falschnachrichten an Nutzer: innen sozialer Medien richtet und die Demokratie bedroht. Dieser Skandal hat den antisozialen Charakter von Social Media offenbart.  Der Cambridge Analytica-Skandal wurde in der öffentlichen und akademischen Debatte als „Falschnachrichten“ und postfaktische Politik bezeichnet. Dieses Kapitel hat gezeigt, dass der Skandal in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext steht, nämlich dem Aufstieg des autoritären Kapitalismus, wirtschaftlichen und politischen Krisen, explodierenden Ungleichheiten und einer stark polarisierten politischen Welt, in der sich Nationalismus und Rassismus verstärken und ausgeweitet haben.  Post-Faktizität ist ein etwas unspezifischer Begriff, während der Begriff „Fake News“ durch die Verwendung des Begriffs durch Trump und andere rechte Autoritäten für die Medien, die ihnen kritisch gegenüberstehen, diskreditiert wurde. In diesem Kapitel wurde vorgeschlagen, dass Falschnachrichten mit Ideologie, Manipulation, Verheimlichung, Lüge usw. zu tun haben. Der Begriff weist auch auf die rechtsgerichteten politischen und wirtschaftlichen Interessen hin, denen die Verbreitung der Falschnachrichten dient. <?page no="232"?> 232 6 Influencer-Kapitalismus  Facebook ist eine Überwachungsmaschine. Shoshana Zuboffs Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus weist darauf hin, dass es Verbindungen zwischen digitaler Überwachung und digitalem Kapitalismus gibt. Was in ihrem Buch eher fehlt, ist das Phänomen der Ausbeutung digitaler Arbeit durch kapitalistische Plattformen wie Facebook und Google. Die Überwachung ist eines der Mittel zur Instrumentalisierung. Im Kapitalismus steht sie im Zusammenhang mit der Ausbeutung von Arbeit, politischer Herrhaft und Ideologie. Empfohlene Literatur und Übungen Übung 6.1: Kritik an Facebook Suchen Sie nach Dokumenten, Interviews, Nachrichtenartikeln und Berichten von kritischen Wissenschaftler: innen, kritischen Journalisten: innen, Vertreter: innen der Zivilgesellschaft, Befürworter: innen der Privatsphäre und des Datenschutzes, Konsumentschutzorganisationen und Watchdog-Organisationen, die Facebook kritisieren. Fassen Sie die wesentlichen Kritikpunkte zusammen. Vergleichen Sie diese Kritikpunkte damit, wie sich Facebook präsentiert. Finden Sie heraus, ob und wie Facebook auf solche Kritikpunkte reagiert hat. Dokumentieren Sie diese Reaktionen. Diskutieren Sie, welche Beurteilungen Sie überzeugender finden und begründen Sie Ihre Urteile. Übung 6.2: Cambridge Analytica Informieren Sie sich über den Cambridge Analytica-Skandal. Lesen Sie die folgenden Nachrichtenartikel als Ausgangspunkt: Carole Cadwalladr & Emma Graham-Harrison. 2018. Revealed: 50 Million Facebook Profiles Harvested for Cambridge Analytica in Major Data Breach. The Guardian Online . 17. März 2018 . https: / / www.theguardian.com/ news/ 2018/ mar/ 17/ Cambridge Analytica-facebookinfluence-us-election, abgerufen am 17. Oktober 2023. Carole Cadwalladr. 2018. “I Made Steve Bannon’s Psychological Warfare Tool”: Meet the Data War Whistleblower. The Guardian Online . 18. März 2018. https: / / www.theguardian.com/ news/ 2018/ mar/ 17/ data-war-whistleblower-christopher-wylie-faceook-nix-bannon-trump, abgerufen am 17. Oktober 2023. Suchen Sie nach weiteren Artikeln über Cambridge Analytica. Diskutieren Sie die folgenden Fragen:  Was genau geschah im Cambridge Analytica-Skandal?  Wie ist der Skandal öffentlich geworden?  Warum ist so etwas wie dieser Skandal möglich?  Welche Veränderungen in der Gesellschaft und Veränderungen des Internets müssen stattfinden, damit solche Formen der Massenüberwachung nicht mehr stattfinden können? <?page no="233"?> Empfohlene Literatur und Übungen 233 Übung 6.3: Was sind Fake News und Fehlinformationen / Desinformationen? Lesen Sie den folgenden Artikel, in dem die Medien- und Politikwissenschaftlerin Claire Wardle eine Typologie der Falschnachrichten skizziert: Claire Wardle. 2017. Fake News. It’s Complicated. First Draft . February 16, 2017. https: / / medium.com/ 1st-draft/ fake-news-its-complicated-d0f773766c79, abgerufen am 17. Oktober 2023. Wardle identifiziert sieben Arten von Falsch- und Desinformation. Diskutieren Sie: Versuchen Sie, Beispiele für Online-Inhalte für jede der sieben Arten von Falsch- und Desinformation zu finden, die Wardle skizziert. Denken Sie darüber nach, wie der Cambridge Analytica-Skandal mit der Typologie von Claire Wardle zusammenhängt. Wie definieren Sie selbst Falsch-/ Desinformation und Falschnachrichten? Versuchen Sie, Definitionen aufzuschreiben. Wenn Sie in einer Gruppe oder Klasse arbeiten, dann stellen Sie sich gegenseitig die von Ihnen erstellten Definitionen vor. Übung 6.4: Fakten-Check und Fake News Full Fact ist eine Organisation zur Überprüfung der Fakten (siehe https: / / fullfact.org). Mit dem Aufkommen der heutigen postfaktischen Politik und der heutigen Falschnachrichten wird das Fact-Checking viel diskutiert. Full Fact überprüft politische Behauptungen, die in der Öffentlichkeit aufgestellt werden, auf ihre Richtigkeit. Die Organisation dokumentiert, ob solche Behauptungen wahr oder falsch sind und widmet jeder Überprüfung Artikel. Besuchen Sie die Website von Full Fact. Wählen Sie eine Faktenprüfung aus, die wichtig und interessant aussieht. Lesen Sie zunächst die Behauptung, die von Full Fact geprüft wurde. Führen Sie dann selbst eine Recherche durch, um zu entscheiden, ob die Behauptung wahr oder falsch ist. Lesen Sie danach den vollständigen Artikel von Full Fact. Diskutieren Sie:  Warum sind die Falschnachrichten zu einer so großen Sache geworden?  Wie haben Sie herausgefunden, dass die analysierte Behauptung wahr oder falsch ist?  Wie hat Full Fact die Wahrheit bzw. Falschheit der analysierten Behauptung herausgefunden?  Was kann man am besten gegen Falschnachrichten und ihre Verbreitung auf sozialen Medien unternehmen? Übung 6.5: Überwachungskapitalismus und Facebook Shoshana Zuboffs Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus ist einflussreich und wurde breit diskutiert. Lesen Sie die Einleitung des Buches und einen Teil davon: Shoshana Zuboff. 2018. Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Einleitung: Heimat oder Exil in der digitalen Zukunft & Teil II: Der Vormarsch des Überwachungskapitalismus (Kapitel 7-11). <?page no="234"?> 234 6 Influencer-Kapitalismus Diskutieren Sie: Was ist der Überwachungskapitalismus? Welche Aspekte des Überwachungskapitalismus prägen Facebook? Welche Probleme diskutiert Zuboff im Zusammenhang mit Facebook? Führen Sie eine Suche nach Rezensionen von Zuboffs Buch in wissenschaftlichen Zeitschriften und Nachrichtenmedien durch. Wenn Sie in einer größeren Gruppe arbeiten, dann kann jede Person eine Rezension lesen und Sie können sich gegenseitig die Inhalte und Punkte dieser Rezensionen vorstellen. Diskutieren Sie: Welche Stärken und Schwächen heben die Rezensionen hervor? In welchen Punkten stimmen Sie mit den Rezensionen und Zuboff überein bzw. wo sind Sie anderer Meinung? Übung 6.6: Überwachungskapitalismus Evgeny Morozov ist ein kritischer Tech-Autor. Er schrieb eine ausführliche Rezension von Shoshanna Zuboffs Buch. Lesen Sie, was er über Zuboff zu sagen hat: Evgeny Morozov, 2019. Capitalism’s New Clothes. The Baffler, 4. Februar 2019, https: / / thebaffler.com/ latest/ capitalisms-new-clothes-morozov, abgerufen am 28. Oktober 2019. Diskutieren Sie:  Was sind Morozovs Hauptkritikpunkte an Zuboff ?  Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Ansätze, die Zuboff und Morozov skizzieren?  Sind Sie eher mit Zuboff oder mit Morozov einverstanden? Warum? <?page no="235"?> Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein im Zeitalter von TikTok, Instagram, YouTube und Snapchat Schlüsselfragen  Was ist ein: e Social Media-Influencer: in?  Wie funktioniert die politische Ökonomie des Influncer-Kapitalismus auf Instagram, YouTube und Snapchat?  Wer sind die Gewinner und Verlierer im Influencer-Kapitalismus?  Warum ist der Influencer-Kapitalismus ideologisch?  Was sind die Potenziale sozialistischer Influencer: innen? Wie unterscheidet sich sozialistisches Influencing vom Influencer-Kapitalismus? Schlüsselkonzepte  Influencer: in  Influencer-Kapitalisus  Kulturindustrie  Verdinglichtes Bewusstsein  Ideologie  Sozialistische Influencer: innen 7.1 Übersicht Der Fussballer Cristiano Ronaldo, die Musikerin Ariana Grande und der professionelle Ringer Dwayne Johnson gehören zu den Personen, die die meisten Follower auf Instagram haben. Sie sind bekannte, prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Sie sind Berühmtheiten. Aber Berühmtheiten machen im Zeitalter des digitalen Kapitalismus und der sozialen Medien Veränderungen durch. In diesem Kapitel befassen wir uns mit einigen dieser Veränderungen. Das Auftauchen von Prominenten als Populärkultur hat mit der kapitalistischen Kulturindustrie zu tun, die die Kultur zur Ware macht, und mit der Säkularisierung in modernen Gesellschaften, in denen der Einzelne nach weltlichen Substituten für den Gottesdienst sucht (Rojek 2001, 13). Wir können hinzufügen, dass das Entstehen von Fangemeinden, Fanverhalten und Stars auch durch die Suche des Einzelnen nach Glück in einer unglücklichen, entfremdeten Welt beeinflusst werden. Das Phänomen der Prominenten und Stars ist der Ausdruck des Wunsches der Menschen, glücklich sein zu wollen und anerkannt zu werden in einer Welt, in der es Ungleichheiten der Macht und einen Mangel an Anerkennung gibt. Das Phänomen der Stars ist eine Manifestation des Wunsches der Fans nach gesellschaftlicher Anerkennung. Fangemeinschaften und Stars haben bis zu einem gewissen Grad auch mit sexueller Lust zu tun. Berühmtheiten sind älter als die Kulturindustrie und der <?page no="236"?> 236 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein Kapitalismus. Rojek (2001, 30) argumentiert, dass Alexander der Große (356 v. Chr. - 323 v. Chr.) einer der ersten Prominenten war. Im 20. Jahrhundert fand die Prominenten- und Fankultur im Kontext der Massenmedien (Film, Musikaufnahmen, Fernsehen, Radio) und des Reality-TV statt. Im 21. Jahrhundert haben wir das Entstehen von Internet-Promis erlebt, zu denen sowohl traditionelle Prominente gehören, die außerhalb des Internets berühmt wurden und in sozialen Medien präsent sind, als auch Influencer: innen, deren Ruhm Online-Fan- Gemeinden zugeschrieben wird, die bestimmte Benutzer: innen zu Prominenten machen. Bei den Influencern handelt es sich um eine Art von Internet-Berühmtheit. Sie sind „berufliche, nachhaltige und hochgradig als Warenzeichen vermarktete Social-Media-Stars", die in der Lage sind, „eine beträchtliche Anhängerschaft auf ihren Social-Media-Plattformen anzuziehen und zu halten" (Abidin 2018, 71). Viele Influencer: innen nutzen mehrere Plattformen wie TikTok, die Foto-Sharing-Plattform Instagram von Facebook, YouTube von Google/ Alphabet, Snapchat, Live-Streaming-Plattformen wie Twitch (Amazon) und Periscope (Twitter), Crowdfunding-Plattformen wie Patreon oder Kickstarter oder IndieGoGo, Facebook, Twitter, Tumblr, Pinterest usw. Gemeinsam ist Instagram, YouTube, Snapchat und Twitch - Plattformen, die bei Influencern besonders beliebt sind -, dass sie Manifestationen dessen sind, was Leaver, Highfield und Abidin (2020) visuelle Social-Media-Kulturen nennen. „Die Aufmerksamkeitsökonomie ist heute primär visuell, und Instagram bleibt ein Synonym für den visuellen Zeitgeist“ (Leaver, Highfield & Abidin 2020, 216). Allen verschiedenen Arten von Stars des 20. und 21. Jahrhunderts ist gemeinsam, dass sie nicht selbst gemacht sind, sondern Phänomene, die in der und durch die kapitalistische Kulturindustrie existieren. Die meisten Stars werden von kapitalistischen Unternehmen, die Unterhaltung, Lebensstil, Marken oder Werbung verkaufen, unterstützt, präsentiert, vermittelt und bezahlt. Die Prominentenindustrie stellt Prominente her (Turner 2014). Berühmtheit „entspricht dem Wachstum der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und ihrer Implantation in die Sphäre der kulturellen Produktion“ (Williamson 2016, 154) und ist „eine der kapitalistischen Gesellschaft angemessene Form des Ruhms“ (Williamson 2016, 1). Berühmtheit ist eine kulturelle Dimension des Kapitalismus. Die Kurzvideo-Plattformen TikTok (im Besitz von ByteDance) und Snapchat (im Besitz von Snap Inc.), die Videoplattform YouTube (im Besitz von Google/ Alphabet) und die Foto- und Videoplattform Instagram (im Besitz von Facebook/ Meta Platforms) sind beliebte Influencer-Plattformen. In einer 2022 durchgeführten Umfrage unter jungen US-Amerikaner: innen im Alter von 16 bis 25 Jahren gaben 41,10 % im Westen, 38,89 % im Nordosten, 36,10 % im Süden und 33,15 % im Mittleren Westen an, dass sie Social Media Influencer: innen werden wollen (Langdon 2022). 14,75 % gaben an, dass Influencer: in die einzige Berufswahl ist, die sie sich vorstellen können. In einer Umfrage aus dem Jahr 2019 antwortete ein Drittel der US-amerikanischen und britischen Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren, dass sie Vlogger/ YouTuber werden wollen (Berger 2019). In der Future-Shopper-Umfrage 2019 sagten „mehr als die Hälfte (55%) unserer [...] Umfrageteilnehmer: innen [im Alter von 6 bis 16 Jahren, N=4.003], dass sie ein Produkt kaufen möchten, wenn ihr Lieblings-Instagram- oder -YouTube-Star es tragen oder benutzen würde“ (Cox 2019). In der Altersgruppe der 12bis 15-jährigen britischen You- <?page no="237"?> 7.2 Die politische Ökonomie des Influencer-Kapitalismus 237 Tube-Nutzer: innen folgten 2017 52 Prozent Influencer: innen auf YouTube (OfCom 2018, 6). Der Influencer-Kapitalismus ist keine Kapitalismusform, sondern eine Ideologie, die behauptet, dass es durch die Aktivität auf Social-Media-Plattformen wie TikTok, Instagram, Snapchat und YouTube große Chancen gibt, reich und berühmt zu werden. Der Influencer-Kapitalismus ist der Traum, die Fantasie und der Wunsch der Nutzer: innen, zu Stars zu werden, die einen Reichtum an sozialen Beziehungen, Geld, Einfluss, Vorlieben, positiven Kommentaren usw. akkumulieren. Der Influencer-Kapitalismus ist eine Internet-Manifestation der ideologischen Behauptung des amerikanischen Traums, dass im Kapitalismus jeder die gleiche Chance hat, vom Tellerwäscher zum Milliardär zu werden, indem er eine gute Idee hat und an sich selbst glaubt. Während die USA oft als das „Land der tausend Möglichkeiten“ dargestellt werden, präsentieren die Gurus des neoliberalen Internet-Individualismus TikTok, Instagram, Snapchat und You-Tube als die Online-Räume der tausend Möglichkeiten. Dieses Kapitel bietet eine Analyse der Grundlagen des Influencer-Kapitalismus. Es zeigt, dass es kein Zufall ist, ein berühmter Influencer zu werden, sondern auf die kapitalistischen Aktivitäten von Talent-Agenturen, Medienunternehmen, Risikokapitalgebern und Werbetreibenden zurückzuführen ist. Abschnitt 7.2 erörtert die politische Ökonomie des Influencer-Kapitalismus. Abschnitt 7.3 analysiert die Ideologie des Influencer-Kapitalismus. In Abschnitt 7.4 wird gefragt, ob es Alternativen zu kapitalistischen Influencern, nämlich sozialistische Influencer, geben kann oder nicht. Abschnitt 7.5 zieht Schlussfolgerungen. 7.2 Die politische Ökonomie des Influencer-Kapitalismus Influencer: innen auf sozialen Medien Influencer: innen sind Online-Prominente, die Inhalte schaffen, die auf digitalen Plattformen verbreitet werden, und die eine Fangemeinde mit signifikanter Größe haben, deren Mitglieder sich emotional mit den Influencer: innen verbunden fühlen und deren Inhalte verfolgen und sich regelmäßig mit ihnen auseinandersetzen, indem sie Markenartikel, die auf den Kanälen und Seiten der Influencer: innen beworben werden, mögen, kommentieren oder kaufen. Die Influencer: innen „haben Ruhm, der den sozialen Medien eigen ist, wie z.B. dem You-Tube-Star oder dem Twitter-Nutzer, der viele Follower hat. Sie existieren innerhalb vieler Interessengruppen und Subkulturen neben den Kult- und Genre-Fangemeinschaften“ (Marwick 2016, 338). Virtuelle Influencer: innen sind „CGI oder virtuelle Berühmtheiten, die überhaupt keine physische Form haben, sondern geschaffen, gestaltet, erzählt und verwaltet werden, um eine bestimmte Botschaft oder Marke zu fördern oder zu verkaufen“ (Leaver, Highfield & Abidin 2020, 200). Lil Miquela ist ein Beispiel für einen virtuellen Instagram-Influencer. Im Jahr 2016 gegründet, hatte @lilmiquela im 1,8 Millionen Follower auf Instagram im Juni 2020 und 2,7 Millionen im Oktober 2023 98 . Lil Miquela warb für Marken wie Calvin Klein und Prada. Sie hat auch Musikstücke wie „Not 98 https: / / www.instagram.com/ lilmiquela, abgerufen am 11. Juni 2020 und am 19. Oktober 2020. <?page no="238"?> 238 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein Mine“, „Automatic“, „Money“ und „Wasted“ veröffentlicht, die Millionen von Aufrufen auf YouTube erreicht haben. Werfen wir einen Blick auf einige Beispiele von Social Media Influencer: innen. Charli D'Amelio, Khaby Lame, MrBeast, Ryan ToysReviews Unter Berücksichtigung der Einnahmen, des Engagements (Anzahl der Likes, Shares, Kommentare), der Anzahl der Follower und des Unternehmertums (Gründung von Unternehmen) stufte Forbes (2022) Charli D'Amelio als die zweiterfolgreichste Social Media Influencerin im Jahr 2022 ein. Ihr Umsatz im Jahr 2021 betrug 17,5 Millionen US-Dollar (Forbes 2022). Sie ist sehr beliebt auf TikTok, wo sie Tanzvideos postet. Sie und ihre Familie werden von der United Talent Agency betreut. Ihre ältere Schwester Dixie trat in ihre Fußstapfen und wurde ebenfalls eine sehr beliebte TikTokerin, die Tanzvideos postet. Ihre Familie hat ein Familienunternehmen namens D'Amelio Family Enterprises gegründet. Charli D‘Amelio hat unter anderem für Sabra Hummus, Dunkin‘ Donuts, Snap, Hulu und Prada gearbeitet. In Zusammenarbeit mit der Kosmetikmarke Morphe haben sie und ihre Schwester eine neue Kosmetikmarke gegründet. Sie veröffentlichte ein Buch bei Abrams Books und lieh einer Figur im Animationsfilm „StarDog and TurboCat“ ihre Stimme. Sie investierte in die Banking-App Step, die sich an Teenager richtet. Khaby Lame ist ein sehr beliebter Influencer auf TikTok und Instagram. Er postet Comedy-Videos. Er hat für Marken wie Hugo Boss, Pepsi, Netflix und Paris Saint- Germain geworben. Forbes (2022) stufte ihn als den acht erfolgreichsten Influencer im Jahr 2022 ein. Sein Einkommen lag 2021 bei 10 Millionen US-Dollar (Forbes 2022). Zusammen mit seinem Manager Alessandro Riggio gründete Lame die Social-Media- Agentur Iron Corporation. Riggio wurde Lames Manager, als dieser nur 1.000 Instagram-Follower und 100.000 auf TikTok hatte (Lundberg Toresson 2022). MrBeast ist ein sehr beliebter YouTuber und TikToker, der Videos von Stunts und Herausforderungen, Turnieren, die er leitet, Gameplay-Videos, lustige Videos usw. postet. Forbes (2022) führt ihn als den erfolgreichsten Social-Media-Influencer: innen des Jahres 2022 auf. Sein Umsatz im Jahr 2021 betrug 54 Millionen US-Dollar (Forbes 2022). Er gründete die Restaurantkonzept-App „MrBeast Burger and Feastables“, ein Unternehmen, das den Schokoriegel MrBeast Bars verkauft. Reed Duchschers Talentagentur Night Media verwaltet MrBeast. Night Media hilft nach eigenen Angaben „den einflussreichsten Künstlern der Welt, ihr volles Potenzial als Entertainer und Unternehmer auszuschöpfen“ 99 . Ryan ToysReviews ist ein YouTube-Kanal, der sich an Kinder richtet. Er wurde 2015 gegründet. Zu sehen sind der „Kidfluencer“ Ryan Kaji, geboren 2011, und seine Zwillingsschwestern Emma und Kate. Die Videos zeigen, wie Ryan und die Mädchen Spielzeug auspacken und damit spielen. Im Jahr 2022 wurde das Gesamtvermögen von Ryan‘s World auf 35 Millionen US-Dollar und das durchschnittliche Monatseinkommen auf 1,11 Millionen US-Dollar geschätzt 100 . Im Jahr 2022 stufte Forbes (2022) Ryan als den 23. erfolgreichsten Influencer ein und gab an, dass seine Einnahmen im Jahr 2021 27 Millionen US-Dollar betrugen. Neben den Einnahmen aus Werbung und 99 https: / / www.night.co/ #about, abgerufen am 12. Juni 2023. 100 https: / / filmora.wondershare.com/ youtube/ ryan-kaji-net-worth.html, abgerufen am 12. Juni 2023. <?page no="239"?> 7.2 Die politische Ökonomie des Influencer-Kapitalismus 239 Sponsoring verdient Ryan‘s World auch Geld mit einer Walmart-Spielzeuglinie namens „Ryan‘s World“ 101 , Ryan-Zahnbürsten und Ryan-Zahnpasta. Ryans Eltern haben einen Marketing- und Merchandising-Vertrag mit dem Kindermedienunternehmen PocketWatch (Spangler 2017). PocketWatch wurde mithilfe von Risikokapital von Third Wave Digital, Jon Landau, UTA Ventures, Downey Ventures und WME gegründet. Im Jahr 2018 wurde die Spiele-App „Tag With Ryan“ veröffentlicht, die sich an Kinder richtet. PocketWatch produzierte die TV-Serie „Ryan's Mystery Playdate“, die im April 2019 auf Nick Jr. Premiere feierte, einem von Nickelodeon betriebenen Pay- TV-Sender für Kinder. Eines der meistgesehenen Videos von Ryan World ist „HUGE EGG Surprise Toys Challenge with Inflatable Water Slide“ (HUGE EGG-Überraschungsspielzeug-Challenge mit aufblasbarer Wasserrutsche), in dem Ryan Plastik- Überraschungseier öffnet, die Disney-Autos wie Lightning McQueen, Paw Patrol- Spielzeug und Disney-Marvel-Superhelden wie Spiderman enthalten. Es gibt weder im Video noch in der YouTube-Überschrift einen Hinweis darauf, dass das Video-Werbung für Markenspielzeug macht. Ryan ToysReview ist in die Kritik geraten. Die grundlegende Kritik besteht darin, dass der Kanal versucht, Kinder zu Konsumjunkies zu machen, die sich nicht darüber bewusst sind, dass sie beim Ansehen von YouTube ständig mit versteckter Werbung konfrontiert werden: „Können junge Zuschauer den Unterschied zwischen Werbung und Produktbesprechungen auf dem beliebten YouTube-Kanal Ryan ToysReview erkennen? Die Watchdog-Gruppe Truth in Advertising sagt nein. Am Mittwoch reichte sie eine Beschwerde bei der Federal Trade Commission ein, in der sie die Verwalter des Kanals beschuldigt, Kinder durch ‚gesponserte Videos, die oft das Aussehen und das Gefühl von organischen Inhalten haben‘ zu täuschen. [...] Fast 90 Prozent der Ryan ToysReview-Videos enthielten mindestens eine bezahlte Produktempfehlung, die sich an Vorschulkinder richtete, eine Gruppe, die zu jung ist, um zwischen einem Werbespot und einer Rezension zu unterscheiden, argumentierte Truth in Advertising in ihrer Beschwerde. Zu den Sponsoren des Senders gehören Walmart, Hasbro, Netflix, Chuck E. Cheese und Nickelodeon, so Truth in Advertising. Viele Kinder erkennen Werbung erst im Alter von 8 oder 9 Jahren, sagte Josh Golin, der Geschäftsführer der Kampagne für eine werbefreie Kindheit. [...] Letzten Monat baten mehrere Senatoren die Kommission, Ryan ToysReview zu untersuchen. Sie sagten, der YouTube-Kanal habe zwei Werbespots für die Fast-Food-Kette Carl‘s Jr. veröffentlicht, ohne offen zu legen, dass es sich dabei um Werbeanzeigen handelte” (Hsu 2019). Kinder im Vorschul- und Grundschulalter verstehen nicht so leicht, was Werbung ist. Die Verwischung der Grenze zwischen Inhalt und Werbung bei Markeninhalten wie den Videos von Ryan‘s World macht es für Kinder noch schwieriger, das Konzept der Werbung zu verstehen, dass Werbung oft lügt und täuscht, uns dazu bringen will, Waren zu kaufen, den Kapitalismus und die Konsumkultur als die bestmögliche Welt darstellt usw. Unabhängig von der Frage, welche Auswirkungen versteckte Werbung in Kidfluencer-Videos tatsächlich auf Kinder hat, ist es beunruhigend, dass es solche Videos gibt, die den Konsumkapitalismus und die Werbekultur propagieren. Die Beispielsfälle der Instagram- und YouTube-Influencer: innen zeigen, dass Internet- Influencing ein kapitalistisches Geschäft ist. Ein berühmter Influencer zu werden, ist 101 http: / / www.walmart.com/ browse/ toys/ ryan-s-world-toys/ 4171_3438149_5568688, abgerufen am 12. Juni 2023. <?page no="240"?> 240 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein kein Zufall, sondern auf die kapitalistischen Operationen von Talent-Agenturen, Medienunternehmen, Venture-Kapital-Unternehmen und Werbetreibenden zurückzuführen. Reiche Influencer: innen und proletarisierte Plattform-Arbeiter: innen Influencer: innen verbringen viele Stunden am Tag damit, Online-Inhalte zu erstellen, ihr Online-Selbst aufzubauen und zu pflegen und sich mit ihrer Internet-Fangemeinde auseinanderzusetzen. Influencing ist kein Status, sondern ein Prozess und eine Reihe von Praktiken (Marwick 2016). Berühmte Online-Influencer: innen verdienen nicht nur ihren Lebensunterhalt im Internet, sondern sind auch recht wohlhabend oder reich. Sie machen sich selbst zu Marken und Waren, die ständig online vermarktet werden. Andere häufig verwendete Bezeichnungen für „Influencer“ sind „Internet- Prominente“, „Mikro-Prominente“, „Creators“, „Celebrity Endorsers“ oder „Social Media/ Internet-Stars“. Im Influencer-Kapitalismus bedeutet die Akkumulation von Sichtbarkeit, Inhalten, Klicks, Likes, Followern und Kommentaren wirtschaftliches Kapital. Die kleine Zahl der Internet-Nutzer: innen, die in der Lage sind, hohe Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit zu erlangen, kann reich und berühmt werden, während viele andere, die versuchen oder wünschen, berühmt zu werden, scheitern und proletarisierte Plattformarbeiter: innen bleiben, die versuchen, ihren Lebensunterhalt online zu verdienen, aber ein Dasein als prekäre Freiberufler: innen fristen. TikTok und andere Plattformen „können eine profitable Plattform für Top-Influencer: innen sein“, die 50.000- 100.000 US-Dollar oder mehr pro gesponsertem Beitrag verdienen, aber „die Verteilung von Glück und Ruhm ist extrem unausgeglichen: eine sehr kleine Anzahl von Influencer: innen zieht den Großteil der Likes, Kommentare und Sponsoreneinnahmen an“ (Kaye, Zeng & Wikström 2022, 152). Proletarier: innen ist ein anderes Wort für ein Mitglied der Arbeiterklasse. Berühmt wurde der Begriff durch den Schlachtruf von Marx und Engels „Proletarier aller Länder, vereinigt euch! “ im Manifest der Kommunistischen Partei (Marx & Engels 1848). Im Zeitalter von Instagram hat sich die Arbeit verändert. Internet-Arbeiter: innen versuchen, ihren Lebensunterhalt online zu verdienen. Einige von ihnen tun dies durch die Nutzung von Instagram, YouTube und anderen Plattformen. Aber nur wenige von ihnen werden zu reichen und berühmten Stars. Die Mehrheit von ihnen bleibt eher unbekannt und hat ein begrenztes Einkommen. Sie sind digitale Proletarierinnen und Proletarier. Proletarische (Möchtegern-)Influencer: innen präsentieren Markenprodukte oft kostenlos auf ihren Profilen oder beziehen sich auf sie. Sie leisten unbezahlte digitale Arbeit, um „ihre Portfolios aufzubauen und in der Hoffnung, von potenziellen Sponsoren entdeckt zu werden“ (Leaver, Highfield & Abidin 2020, 115). Wie bei traditionellen Stars gibt es Netzwerkeffekte bei der Schaffung und dem Wachstum von Online-Influencer-Fangemeinden (Adler 2006, Budzinski und Gaenssle 2018): Fans sind gerne Teil einer großen Gemeinschaft von Gleichgesinnten, mit denen sie das gleiche Interesse teilen und mit denen sie sich über das gemeinsame Interesse austauschen können. Auf Social-Media-Plattformen gibt es im Vergleich zu traditionellen Medien wie Fernsehen, Radio und Zeitschriften eine erhöhte und nahezu konstante Sichtbarkeit nicht nur der Stars, sondern auch der Fans untereinander. Ein: e berühmte: r Influencer: in zu werden, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis der kapitalistischen Aktivitäten von Talentagenturen, Medienunternehmen, Risikokapitalgebern und Werbetreibenden. <?page no="241"?> 7.2 Die politische Ökonomie des Influencer-Kapitalismus 241 Talentagenturen und Produktplatzierungen TikToker, YouTubers, Snapchatters und Instagrammer sind durch ihre Kooperationen mit Talent-Agenturen wie Creative Artists Agency, WME, ICM Partners, United Talent Agency, Team 10 oder Gleam Futures bekannt geworden und arbeiten mit Medien- und Unterhaltungsunternehmen wie Maker Studios/ Disney Digital Networks, NBC, Fox, ABC, Disney, RTL Group, Penguin, YouTube oder Walmart zusammen. Auf TikTok, YouTube, Instagram und Snapchat wird oft verschwiegen, dass es sich bei Videos und Bildern um bezahlte Produktplatzierungen oder gesponserte Inhalte (Branded Content) handelt. Eine Umfrage (N=57) unter YouTube-Influencer: innen zeigte, dass 65 Prozent Produktplatzierungen genutzt hatten und dass Multi-Channel- Netzwerke eine wichtige Rolle bei der Organisation von Verträgen der Influencer: innen mit Markenunternehmen spielten, die zu bezahlten Produktplatzierungen führten (Gerhards 2019). Berühmte TikToker, YouTuber, Snapchatter und Instagrammer arbeiten oft nicht einfach nur für Talent-Agenturen, Werbeagenturen und Medienunternehmen, sondern agieren selbst als Kapitalist: innen, indem sie Markenartikel wie Kosmetika, Schmuck, Apps, Fanartikel, Haushaltsprodukte, Schmuck, Spielzeug usw. entwickeln und verkaufen. Diese Waren verkaufen sich, weil die sozialen Beziehungen zwischen Influencer: innen und ihren Fans eine Kultur der Verbundenheit geschaffen haben, durch die die Influencer: innen Ansehen und die emotionale Bindung ihres Publikums aufbauen. Diese Online-Reputation schlägt sich in Markennamen nieder, die es Influencer: innen, die große Anhängergruppen haben, ermöglichen, Waren zu verkaufen und Kapital zu akkumulieren. Laut dem Forbes-Magazin verdienten die Top-10 YouTube-Stars im Jahr 2018 zusammen 180,5 Millionen US-Dollar (Robehmed und Berg 2018). Reiche TikToker, YouTuber, Instagrammer und Snapchatter sind nicht einfach eine digitale Arbeiteraristokratie, die sich durch den Verkauf von Online-Anzeigen und Produktplatzierungen in Videos und auf Bildern selbst vermarktet und zur Ware macht. Viele von ihnen sind auch Teil der kapitalistischen Klasse in der digitalen Industrie. Der Influencer Jake Paul sagt über seinen Status als Kapitalist: „Vieles, was ich tue, ist geschäftlich bedingt. Letztendlich bin ich am Ende des Tages ein Vermarkter. [...] Unternehmer zu sein ist etwas, das mir sehr am Herzen liegt. [...] Eine meiner beiden Top-Fähigkeiten ist es, im Geschäft und einfach innovativ zu sein, mir Sachen auszudenken, sie zu vermarkten und sie für eine Masse von Menschen attraktiv zu machen, also in der Lage zu sein, Verkäufe und Einnahmen zu steigern” 102 . Sichtbarkeitsarbeit Die Anthropologin und Internetforscherin Crystal Abidin (2016) prägte in einer Studie über die Follower von Instagram-Influencer: innen den Begriff der Sichtbarkeitsarbeit. Damit meint sie „die Gratis-Arbeit der Anhänger“ (89), die in der Verwendung von Hashtags, @mentions, User-Tags, Kommentaren, der Beantwortung von Fragen, der Markierung von Freunden, der Teilnahme an Wettbewerben, dem Regramming von Postings, der Beantwortung von Postings zu bestimmten Inhalten oder der Beschäftigung mit Advertorials besteht, um „von produktiven Elite-Nutzern bemerkt zu werden“ (90). Infolgedessen verstärken Follower „die Verbreitung von Inhalten“ (87). Die Follower der Social Media-Influencer: innen sehen, klicken, teilen, mögen, kom- 102 https: / / www.youtube.com/ watch? v=2d-z5zAvv5E, abgerufen am 19. Oktober 2023. <?page no="242"?> 242 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein mentieren und beschäftigen sich auf verschiedene Weisen mit Inhalten wie Videos und Bildern und helfen so, diese Inhalte zu verbreiten und Aufmerksamkeit für sie zu schaffen. Influencer: innen verdienen Geld, indem sie in ihren Postings Waren bewerben (Produktplatzierungen), die entweder als Werbung gekennzeichnet sind oder nicht und/ oder indem sie die Werbeeinnahmen mit der Plattform teilen, auf der sie tätig sind (wie das YouTube-Partnerprogramm, bei dem die Nutzer: innen mindestens 1.000 Abonnenten und 4.000 Anschauungsstunden in den letzten 12 Monaten haben müssen, um teilnehmen zu können und 55 Prozent der Netto-Werbeeinnahmen, die ihr Inhalt erzielt, verdienen können 103 ). David Arditi (2023, 96) argumentiert, dass solche Influencer: innen „digitale Plakatwände für Vermarkter und Marken“ sind. Das Publikum der Plattformen produziert Aufmerksamkeit, soziale Beziehungen, Affekte und Big Data, die dazu beitragen, den Verkauf der beworbenen Waren zu fördern. Sie leisten Sichtbarkeitsarbeit, die Waren an die Nutzer: innen selbst und andere Nutzer: innen vermarktet. Eine solche Arbeit ist auch affektive Arbeit und Aspirationssarbeit, weil die Nutzer: innen durch ihre Onlineaktivitäten den Wunsch, die Phantasie und die Aspiration, von anderen gesehen und anerkannt zu werden, ausleben. Im Influencer-Kapitalismus beuten nicht nur kapitalistische Social-Media-Plattformen, sondern auch gewinnbringende Influencer: innen, die mit Plattformen und Markenunternehmen zusammenarbeiten, die alltäglichen Nutzer: innen und Fans aus. Einige Fans von Influencer: innen versuchen selbst zu Influencer: innen zu werden, fristen aber ein Dasein als prekäre Freiberufler. Sie versuchen, ihren Lebensunterhalt auf TikTok, YouTube, Instagram und Snapchat zu verdienen, scheitern aber. Andere Fans haben kein berufliches Interesse an Social-Media-Plattformen, genießen es aber, Fans zu sein, die sich Anerkennung als solche wünschen. Multi-Channel-Netzwerke Noch komplizierter wird der Influencer-Kapitalismus durch die Tatsache, dass viele Influencer: innen mit Talent-Agenturen und Multi-Channel-Netzwerken (MCN) arbeiten, wie z.B. AboveAverage, AwesomenessTV, Brave Bison, BroadbandTV, DanceOn, Diagonal View, Gleam Futures, Kin Community, Mediakraft Networks, TYT Network oder Uuum. MCN sind oft mit YouTube verbunden und unterstützen Influencer: innen in den Bereichen Promotion, Management, Verkauf, Publikumsentwicklung, Partnermanagement und Werbeorganisation (Hou 2019). Sie erhalten in der Regel einen prozentualen Anteil an den Werbeeinnahmen, die die Influencer: innen erzielen (Cunningham und Craig 2019, 115). MCN vermitteln zwischen Influencer: innen, Plattformen und Werbetreibenden. Influencer: innen profitieren von der affektiven Arbeit, der digitalen Arbeit, der Sichtbarkeitsarbeit und der Aspirationsarbeit der Internet-Nutzer: innen. Da es die Nutzer: innen sind, die wirtschaftlichen Wert schaffen, stammen die Profite, die die Talent-Agenturen und Multi-Channel-Netzwerke erzielen, aus der Ausbeutung der digitalen Arbeit der Online-Fans. Influencer: innen als erreichte und zugeschriebene Berühmtheiten Für Chris Rojek (2001, 18) sind erreichte Berühmtheiten Stars „aufgrund ihrer künstlerischen oder sportlichen Leistungen“, während zugeschriebene Berühmtheiten „das Ergebnis der konzentrierten Darstellung eines Individuums als bemerkenswert oder außergewöhnlich durch kulturelle Vermittler“ sind. Rojek trennt diese beiden Typen nicht, sondern sieht sie als häufig in Mischformen auftretend. 103 Siehe https: / / support.google.com/ youtube/ answer/ 72851? hl=en-GB, abgerufen am 19. Oktober 2023. <?page no="243"?> 7.2 Die politische Ökonomie des Influencer-Kapitalismus 243 Internet-Prominente wie Charli D’Amelio, Khaby Lame, MrBeast, Bella Poarch, Addison Rae, Zach King, Kimberley Loaiza, Lele Pons, PewDiePie, DanTDM und Zoella sind das, was Alice Marwick (2013, 117) als erreichte Internet-Stars charakterisiert. Sie benutzen soziale Medien als Werkzeug für ihre „Selbstdarstellungsstrategie, die die Schaffung einer Rolle, das Teilen persönlicher Informationen über sich selbst, den Aufbau intimer Verbindungen, um die Illusion von Freundschaft oder Nähe zu erzeugen, die Anerkennung eines Publikums und die Identifizierung als Fans sowie die strategische Offenlegung von Informationen zur Vergrößerung oder Erhaltung dieses Publikums“ (117) umfasst. Marwick argumentiert, dass Internet-Stars sich selbst zur Ware machen (117). Sie sind Marken. Self-Branding ist „die strategische Schaffung einer Identität, die beworben und an andere verkauft werden soll“ (166). Internet-Influencer: innen sind aber nicht nur erreichte Berühmtheiten, sondern vor allem auch zugeschriebene Berühmtheiten. Sie wären nichts ohne die Aufmerksamkeit, Vorlieben, Kommentare und Sichtbarkeit, die ihnen ihre Fans und Anhänger: innen durch ihre sichtbarkeitserzeugende digitale Arbeit verleihen. Die Warenlogik des Influencer-Kapitalismus Wir müssen die Analyse dessen vertiefen, was es genau bedeutet, sich selbst und seine Identität zu verkaufen und zu einem Markenzeichen zu machen. Eine Ware ist ein Gut, das auf einem Markt verkauft wird. Die Ware ist, wie Marx (1867, 49) feststellt, die „Elementarform“ des Kapitalismus. Das bedeutet, dass im Kapitalismus profitorientierte Unternehmen Waren produzieren, verteilen und verkaufen, um Kapital zu akkumulieren. Die Arbeiterklasse produziert Waren und Wert, die Profit abwerfen. Die Videos und Bilder, die Influencer: innen regelmäßig auf YouTube, Snapchat und Instagram hochladen, sind keine Waren. Nutzer: innen können auf solche Inhalte ohne Bezahlung zugreifen. Wenn ein: e Influencer: in in einer YouTube Premium-Produktion auftritt, für die sie/ er bezahlt wird, oder einen Roman schreibt, der von einem kommerziellen Verlag veröffentlicht wird, für den er/ sie eine Pauschale und einen bestimmten Anteil der Einnahmen erhält, dann sind sie Lohnarbeiter: innen, die vom Kapital ausgebeutet werden. Wenn Influencer: innen Mode oder andere Waren kreieren, die sie in einem Webshop verkaufen, um Gewinn zu erzielen, dann sind sie Arbeiter-Kapitalisten, Freiberufler, die Kapital akkumulieren und sich dabei selbst ausbeuten. Anders verhält es sich, wenn sie als gemeinnützige Unternehmen operieren oder zusammen mit anderen eine Kulturkooperative bilden, also selbstverwaltete gemeinnützige Unternehmen, die sich in kollektivem Besitz befinden und von den Arbeiter: innen demokratisch kontrolliert werden. Aber wie ist die Rolle der Ware im Falle von Inhalten, die einem Influencer durch die Teilung von Werbeeinnahmen oder Produktplatzierung Gewinn bringen? Ohne das Video oder die Bilder, die der Influencer auf TikTok, YouTube, Snapchat oder Instagram hochlädt, könnte kein Gewinn erzielt werden. Aber der Inhalt selbst ist keine Ware. Er ist das, was Marx (1885) als fixes, konstantes Kapital bezeichnet, Mittel zur Herstellung von Waren. Fixes konstantes Kapital ist ein Mittel zur Warenproduktion. Es „verrichtet also während einer kürzern oder längern Periode in stets wiederholten Arbeitsprozessen stets wieder dieselben Funktionen. So z.B. Arbeitsgebäude, Maschinen etc., kurz alles, was wir unter der Bezeichnung Arbeitsmittel zusammenfassen” (Marx 1885, 158). Das fixe konstante Kapitel „verlässt nie die Produktionssphäre“ (Marx 1885, 158-59). Das Content-Portfolio von Influencern erweitert sich, aber als Ganzes stellt es einen Kanal dar, der für längere Zeit im Produktionsprozess der <?page no="244"?> 244 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein sozialen Medien fixiert bleibt, um Nutzer: innen anzuziehen, die Aufmerksamkeit erzeugen und sich mit den Inhalten beschäftigen. Fixes Kapital überträgt einen gewissen Wert auf die verkaufte Ware, aber es schafft keinen neuen Wert. Influencer: innen sind Schöpfer von kreativen Mitteln der Online-Produktion, die ihre Anhänger konsumieren und einsetzen, um Aufmerksamkeit und Engagement zu erzeugen, die an Werbetreibende verkauft werden. Werbeanzeigen und Produktplatzierung sind wichtige Einnahmequellen für viele Internet-Prominente, die eine große Zahl von Anhängern haben. Solche Influencer: innen sind Kapitalisten, die zusammen mit Plattformen die Nutzer: innen ausbeuten. Die Aufmerksamkeit der Nutzer: innen ist die Ware, die in aggregierter Form an Werbetreibende verkauft wird. Die Inhalte der Influencer, die mit Werbeanzeigen und/ oder Produktplatzierungen und den Aktivitäten der Nutzer: innen gepaart sind, und die Big Data, die die Nutzer: innen generieren, fungieren als fixes Kapital, das die Aufmerksamkeitsware ermöglicht. Influencer: innen vermarkten sich selbst, d.h. sie verwenden Strategien, um sich dem Publikum als seriöses Konsumgut zu präsentieren und dessen Wünsche, Aufmerksamkeit, Unterstützung, Vorlieben und Engagements anzuziehen, damit das Publikum als Ware an Werbetreibende verkauft werden kann und die auf sozialen Medien beworbenen Waren kauft. Die komplexe und hybride Klassenposition der Influencer: innen und die Influencer-Industrie als Kulturindustrie Influencer: innen haben oft eine komplexe, hybride Klassenposition. Sie sind Unternehmer des Selbst, die sich selbst vermarkten, um auf vielfältige Weise Einkommen zu erzielen. Potenziell sind sie Kapitalisten, Arbeiter-Kapitalisten (Freiberufler) und Lohnarbeiter. Welche Klassenposition ein: e Influencer: in hat, hängt von der Mischung aus Aktivitäten, Strategien und Plattformen ab, die sie/ er benutzt. In ihrem Buch Dialektik der Aufklärung prägen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1947/ 1988, 128-176) in dem berühmten Kapitel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ den Begriff der Kulturindustrie, um die Subsumption der Kultur unter die Warenform und die auf Profiterzielung abzielenden Aktivitäten kapitalistischer Unternehmen zu bezeichnen. Mit dem Aufkommen des Konsumkapitalismus des 20. Jahrhunderts wurden immer mehr Aspekte der Kultur unter die Logik der Ware, des Kapitals, des Tauschwerts und des Profits subsumiert. Die Kulturindustrie ist der Prozess, in dem der „Gebrauchswert in der Rezeption der Kulturgüter […] durch den Tauschwert ersetzt [wird], anstelle des Genusses tritt Dabeisein und Bescheidwissen, Prestigegewinn an Stelle der Kennerschaft” (Horkheimer & Adorno 1947/ 1988, 167). Unternehmen im Kultursektor, die darauf abzielen, Kapital zu akkumulieren, kümmern sich nicht um den Einzelnen als Menschen und Bürger, sie sehen ihn nur als Konsument und reduzieren ihn auf seinen Status als Verbraucher, Käufer und Arbeitenden. „Die Industrie ist an den Menschen bloß als an ihren Kunden und Angestellten interessiert und hat in der Tat die Menschheit als ganze wie jedes ihrer Elemente auf diese erschöpfende Formel gebracht” (155). Die Phänomene der Social-Media-Influencer: innen und des Influencer-Kapitalismus zeigen, dass Social-Media-Plattformen wie YouTube, Snapchat und Instagram, die es den Nutzer: innen ermöglichen, audiovisuelle Inhalte wie Bilder und Videos zu erstellen, zu teilen, zu liken und zu kommentieren und Gemeinschaften von Anhängern um solche Kanäle und Profile herum aufzubauen, sind in die Kulturindustrie des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts eingebettet und ein konstitutiver Teil davon. Die Influencer-Industrie ist eine Kulturindustrie, die auf der Inhaltsebene von Social-Media- Plattformen operiert. Social-Media-Creators, die ihren Lebensunterhalt verdienen <?page no="245"?> 7.3 Die Ideologie des Influencer-Kapitalismus 245 und mit TikTok, Instagram, Snapchat und YouTube berühmt und reich werden wollen, haben einen komplexen Klassenstatus und bilden oft Mischformen aus Arbeitern, Freiberuflern und Kapitalisten. Nur wenige von ihnen schaffen es, erfolgreiche, hochprofitable kapitalistische Unternehmen zu gründen, die sie reich machen. Viele von ihnen leisten unbezahlte, schlecht bezahlte oder prekäre Arbeit, bei der sie Markengüter und andere Waren promoten. Die Warenlogik in Form der Vermarktung des Selbst, die ständige Propagierung der Logik des Warenkonsums durch die Influencer: innen, die Aufmerksamkeit des Fan-Publikums als Ware, die ständige Präsentation versteckter und sichtbarer Werbung in der Form von Produktplatzierungen und personalisierter Werbung sowie die Bewerbung einer Reihe von Influencer-Waren (Bücher, Ausbildungskurse, Spielzeug, Mode, Fanartikel usw.) stellen Schlüsselaspekte der Kulturindustrie des Influencer-Kapitalismus dar. Im nächsten Abschnitt werden ideologische Aspekte des Influencer-Kapitalismus erörtert. 7.3 Die Ideologie des Influencer-Kapitalismus Die Idealisierung des Influencer-Kapitalismus Stuart Cunningham und David Craig sind zwei Kulturanalytiker, die in dem Buch Social Media Entertainment eine Analyse der Social-Media-Industrie liefern, für die sie Interviews mit vielen Manager: innen geführt haben. Cunningham und Craig (2019, 12) räumen ein, dass Forscher: innen wie Duffy (2017) und Abidin (2016) gezeigt haben, dass der Versuch, seinen Lebensunterhalt als TikTok-, YouTube-, Snapchat- oder Instagram-Influencer: innen zu verdienen, oft prekäre Arbeit bedeutet, aber sie behaupten, dass „solche Bedingungen immer noch fast einen günstigen Vergleich mit dem durchschnittlichen Anwärter in Hollywood zulassen, einer Branche, die dafür berüchtigt ist, jahrelang unterbezahlte Arbeit sowie Lehre in giftigen und anspruchsvollen Positionen zu verlangen“. Das Problem ist, dass es zynisch ist und den proletarisierten Kulturarbeiter: innen nicht hilft, wenn man ihnen sagt, dass die Prekarität in einem Sektor der Kulturindustrie weniger entfremdend ist als in einem anderen. Die TikTok-, YouTube-, Snapchat- und Instagram-Influencer: innen, die Millionen von Anhängern haben, sind keine gewöhnlichen, alltäglichen Nutzer: innen, sondern Teil einer kleinen Social-Media-Elite, die sich voll und ganz auf die neoliberale digitale Kultur einlässt und sie lebt. Cunningham und Craig (2019, Kapitel 5) stellen eine Reihe von Beispielen für den kulturpolitischen Fokus von Social-Media-Influencer: innen vor und argumentieren, dass Influencer: innen nicht unpolitisch sind. Das Problem besteht darin, dass die beiden Autoren die Diskussion auf Identitätspolitik beschränken, ohne die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Kritik an Unternehmen, Klasse und Kapitalismus auf TikTok, Instagram, YouTube und Snapchat auch nur einmal zu erwähnen. Identitätspolitik, einschließlich der Fokussierung auf grünen Konsum, veganen Lebensstil und ethischen/ nachhaltigen Kapitalismus, erlaubt es, bestimmte Lebensstile und Waren zu feiern und zu vermarkten, was bedeutet, dass Sponsoren gefunden werden können, die für die Produktplatzierung und die Propagierung eines grünen Kapitalismus zahlen. Im Gegensatz dazu hätten antikapitalistische, sozialistische Influencer: innen Probleme, Unternehmenssponsoren zu gewinnen, und sind oft der Meinung, dass sie ihre sozialistischen Werte verraten würden, wenn sie Geld von denen annehmen würden, die sie kritisieren. Das sozialistische Vlogging auf kapitalistischen sozialen <?page no="246"?> 246 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein Medien hat Grenzen, da es nicht in das Schema des Zelebrierens von Waren, Individualismus, Konsumismus und Neoliberalismus passt. Wenn Lauren Singer „Null-Abfall-Hautpflege und Make-up“ auf ihrem YouTube-Kanal „Trash is for Tossers“ („Müll ist für Vollidioten“) präsentiert 104 , so kann sie sicherlich Sponsoren finden, die sie für die Vermarktung grüner Waren und des grünen Kapitalismus bezahlen. Solche Videos sind keine Form der Kulturpolitik, sondern eher die Förderung einer bestimmten Art von kapitalistischen Konzernen, also ein Abfeiern des Kapitalismus. Cunningham und Craig führten 150 Interviews, vorwiegend mit Managern, aber auch mit 33 Influencer: innen. Obwohl in den Cultural Studies Kultur als gewöhnlich und alltäglich betrachtet wird und sich deren Vertreter: innen für die Analyse des gewöhnlichen Lebens interessieren (Williams 1958, Kultur als „whole way of life“), konzentrierten sich Cunningham und Craig fast ausschließlich auf Influencer: innen, die eine hohe Anzahl von Followern haben, wie Brent Rivera and Tati Westbrook, die im Jahr 2023 rund 30 Millionen bzw. 10 Millionen Follower auf YouTube hatten 105 . Die befragten Influencer: innen sind das, was die Autoren als „geschäftstüchtige Schöpfer“ (11, 79), „Schöpfer-Unternehmer“ (12) oder „Online-Schöpfer-Unternehmer“ (220) bezeichnen. Das Problem ist, dass normale Nutzer: innen, die versuchen, ihren Lebensunterhalt auf TikTok, YouTube, Instagram und Snapchat zu verdienen und proletarisierte digitale Arbeitende sind, fehlen. Der Fokus von Cunningham und Craig liegt nicht auf der gewöhnlichen Online-Kultur, sondern auf ungewöhnlichen, außergewöhnlichen Individuen, die die Elite der TikToker, YouTuber, Snapchatter und Instagrammer bilden und eine Aura und Erscheinung der Alltäglichkeit besitzen, die sie als ein Mädchen oder einen Jungen von nebenan erscheinen lassen. Analysen und Berichte wie die von Cunningham und Craig erwecken den falschen Eindruck, dass YouTube und Instagram Räume der unbegrenzten Möglichkeiten sind, in denen jeder berühmt werden kann. Kann man auf Instagram und YouTube berühmt werden? Werfen wir einen Blick auf einige der Behauptungen, die wir in der Populärkultur darüber finden können, wie man ein berühmter TikTok-, Instagram- oder YouTube- Star wird. Amber Venz Box, eine Influencerin mit 100.000 Followern auf Instagram und CEO von rewardStyle, gibt in der Zeitschrift Cosmopolitan folgende Tipps für Benutzer: innen, die auf Instagram berühmt werden wollen: „1. Erstelle wertvolle Inhalte: [...] Es ist wichtig sicherzustellen, dass du etwas erstellst, das für deine Follower interessant ist und ihnen einen Wert bietet. Was kannst du ihnen beibringen? 2. Poste konsequent [...] 3. Baue eine Gemeinschaft auf [...] 4. Sei offen für Veränderungen (und neue Plattformen) [...] 5. [...] Stell sicher, dass du dein Geschäft diversifizierst, mit mehreren Einnahmequellen arbeitest und niemals zufrieden bist“ (Baxter-Wright 2018). In der Zeitschrift T e en Vogue gaben die Lebensmittel-Instagrammerinnen Gloria Chin, Tiffany Lopinsky, Brittany DiCapua und Jerrelle Guy Tipps darüber, was „sie so erfolgreich gemacht hat“: 104 Siehe: https: / / www.youtube.com/ watch? v=W1XFlrK7488 105 Siehe: https: / / www.youtube.com/ @brentrivera and https: / / www.youtube.com/ @Tati, abgerufen am 10. Oktober 2023. <?page no="247"?> 7.3 Die Ideologie des Influencer-Kapitalismus 247 „Sei leidenschaftlich auf deinem Profil. [...] Gib deinem Kanal Individualität [...] Poste das Essen, das du (und alle anderen) genießt [...] Entwickel eine ‚Marke‘: Dies geht im Sinne der Individualität. Gestalte dein Profil anders als die anderen, indem du ein Logo oder etwas machst, das deine Inhalte als deine eigenen kennzeichnet [...] Bleib mit deinen Anhängern und anderen Profilen in Kontakt [...] Poste genau die richtige Menge“ (Spoon U 2017). In der Zeitschrift Seventeen Magazine erschien ein Beitrag über Instagrammer Jen Selter’s Tipps, wie man „in kürzester Zeit mehr Anhänger für Instagram gewinnt“. Selter hat 13 Millionen Anhänger bei Instagram. „Sei dir selbst treu. ‚Du wirst nur dann eine Gemeinschaft von Followern schaffen, wenn du über Dinge schreibst, die du wirklich liebst, und dabei echt bleibst‘, sagte Jen. ‚Tu, was du liebst, und teil es mit der Welt‘, sagte sie. ‚Gleichgesinnte Menschen werden dann folgen! ‘ [...] Jeden Tag posten [...] Kenne deine Sachen. [...] Jen: ‚Mach dich zur Expertin auf deinem Gebiet! Werde kreativ! ‘ [ ...] Bleib positiv“ (Twersky 2019). Auf die Frage, wie man ein berühmter Influencer werden kann, gibt TikTok-Star Charli D‘Amelio die folgenden Tipps, um in den sozialen Medien erfolgreich zu sein: „Sei spontan! Seien Sie behaglich! Posten Sie einfach, was Ihnen gefällt - nicht nur, um eine Anhängerschaft zu gewinnen. [...] trage, was dir gefällt. Poste Bilder, die dir gefallen, auch wenn es keine Influencer-Bilder sind. Du musst nicht 24/ 7 aufgetakelt sein, um ein gutes Foto zu machen. [...] Finde einen Filter, den du liebst. Meiner ist ein VSCO-Filter, den ich personalisiert habe [...] Sei du selbst und hab‘ Spaß dabei! ” (D’Amelio 2020, 74). All diese Aussagen haben mit Ideologie zu tun. Erinnern wir uns kurz daran, worum es bei der Ideologie geht (siehe auch Abschnitt 1.3 „Was ist kritische Theorie? “ in Kapitel 1). Eine Ideologie ist eine Behauptung, die nicht der Realität entspricht und die die Realität verzerrt, manipuliert oder verheimlicht, um partikularistische Interessen zu fördern, die von Ausbeutung und Herrschaft profitieren. Es gibt mehrere Gründe, warum solche Behauptungen ideologisch und konstitutiv für den Influencer-Kapitalismus als Ideologie sind:  Individualismus : Solche Behauptungen fördern den Mythos, dass jeder berühmt werden kann, wenn sie oder er hart genug und unermüdlich arbeitet. Individualismus findet sich in Formulierungen, die die Nutzer: innen von YouTube und Instagram motivieren wollen, unermüdlich und beständig am Aufbau ihrer Online-Identität als Marke zu arbeiten. Zu solchen Formulierungen gehören Interpellationen wie „schaffe wertvolle Inhalte“, „poste jeden Tag“, „baue eine Gemeinschaft auf“, „diversifiziere dein Geschäft“, „sei leidenschaftlich“, „schaffe Individualität“, „entwickle eine Marke“, „mache dein Konto anders“, „bleibe engagiert“, „tue und teile, was du liebst“, „sei authentisch“, „poste jeden Tag“ usw. Solche Richtlinien sind ideologisch, denn sie verbergen, dass diese Bemühungen zeitintensiv sind und dass man entweder reich sein oder sehr prekär arbeiten muss, um den Luxus der riesigen Zeitmenge aufzuwenden, die benötigt wird, um eine große Anzahl von Followern zu schaffen, die sich ständig mit den geposteten Inhalten beschäftigen.  Positivistischer Influencer-Kapitalismus: Ideologische Darstellungen des Influencer-Kapitalismus behaupten, dass Influencing positive Auswirkungen hat. Sie ignorieren negative Merkmale. Der Influencer- Kapitalismus vertritt eine positivistische Logik, die sich auf das Glück konzentriert und den Konsum als Lösung für das Unglücklichsein fördert. Er leugnet die Exis- <?page no="248"?> 248 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein tenz von tatsächlichem Unglück im Kapitalismus und vertieft das Unglück des Einzelnen, indem er den Konsum als proklamierte Lösung für soziale und sozialpsychologische Probleme fördert, deren Ursachen jedoch in Wahrheit nur politisch überwunden werden können (siehe Johannsen 2019).  Leugnung und Vernachlässigung von Ungleichheit und Risiken: Solche Behauptungen sind ideologisch, weil sie lediglich von den Geschäftsmöglichkeiten der sozialen Medien sprechen und den Hinweis auf die Ungleichheiten und Risiken des Influencer-Kapitalismus vernachlässigen. Wie in der Ideologie des amerikanischen Traums werden TikTok, Instagram und YouTube als ein Land mit Millionen von Möglichkeiten dargestellt. Es wird nicht erwähnt, dass nur sehr wenige Personen, die es versuchen, reiche und berühmte Influencer: innen werden, während viele andere scheitern, unbezahlte oder schlecht bezahlte und prekäre Arbeit verrichten, unbekannt bleiben usw. Im Influencer-Kapitalismus werden Influencer: innen als gewöhnliche, alltägliche Individuen dargestellt, die genau wie wir sind. Das Problem ist, dass sie berühmt und wohlhabend sind, weil sie aus privilegierten Verhältnissen kommen, Glück hatten oder perfekt in die vorherrschenden Ideologien des Kapitalismus, Konsumismus und Sexismus passsen.  Patriarchalischer und sexistischer Influencer-Kapitalismus: Der Influencer-Kapitalismus reproduziert traditionelle Geschlechterbilder, in denen Frauen oft als schön, sozial und gebildet und Männer als wettbewerbsorientiert, technikaffin und lustig konstruiert werden (siehe Bishop 2018a, 2018b; Budzinski und Gaenssle 2018). Werbetreibende wählen häufig Influencer: innen als ihre Markenbotschafter: innen, weil sie stereotype Ideale und Modelle von Schönheit, Perfektion, Fitness, Gesundheit, Jugend, Ruhm und Anerkennung repräsentieren. Im Prozess des Erwachsenwerdens müssen Teenager Räume schaffen, die von ihren Eltern unabhängig sind und in denen sie von anderen anerkannt werden. Autonomes Handeln und Anerkennung durch andere sind Schlüsseldimensionen des Erwachsenwerdens. In diesem Prozess suchen Teenager nach Vorbildern, mit denen sie sich identifizieren können. Da viele Influencer: innen sexistische, homogene und unrealistische Perfektions- und Schönheitsideale vertreten, fördern die markengesättigten und konsumorientierten Bilder und Videos der dominanten Social-Media-Influencer: innen Ideale, die Teenager nachahmen und anstreben, die aber nur wenige von ihnen erreichen. Infolgedessen kann der Influencer-Kapitalismus dazu beitragen, dass Teenager sich unsicher über ihr Aussehen fühlen und psychische Probleme bekommen. Indem er eindimensionale Normen und Werte von Schönheit und Konsum als das gute Leben vermittelt, entfremdet der Influencer-Kapitalismus die Menschen zutiefst.  Rassistischer Influencer-Kapitalismus: YouTubers of Colour äußerten in den Interviews von Bishop (2019) den Verdacht, dass die Algorithmen von YouTube die Sichtbarkeit weißer Vlogger privilegieren, was ein Beispiel für das ist, was Safiya Noble (2018) als „algorithmische Unterdrückung“ bezeichnet. Ein Algorithmus ist ein Ausdruck von Unterdrückung, wenn er „Informationen verzerrt - in Richtung weitgehend stereotyper und dekontextualisierter Ergebnisse, zumindest wenn es um bestimmte Personengruppen geht“ (56).  Die Unsichtbarkeit und der imperialistische Charakter der kapitalistischen Logik: Die diskutierten Darstellungen von YouTube- und Instagram-Influencer: innen verbergen die Bedeutung kapitalistischer Organisationen wie Werbetreibende, Multi- Channel-Netzwerke, Talent-Agenturen, das YouTube-Partnerschaftsprogramm, personalisierte Werbung usw. für die Entstehung von Einflussfaktoren. Es bleibt unerwähnt, dass es sich bei Influencing um eine kapitalistische Industrie handelt, <?page no="249"?> 7.3 Die Ideologie des Influencer-Kapitalismus 249 in der es um Profit und die Förderung des raffinierten Verkaufs von Waren geht. Produktplatzierung in YouTube- und TikTok-Videos sowie in Instagram-Bildern ebenso wie markenbezogene Inhalte (Branded Content), die als Nachrichtenartikel getarnt sind, verwischen die Grenzen zwischen redaktionellen und kreativen Inhalten einerseits und Werbeanzeigen andererseits. Selbst wenn solche Inhalte durch Text unterstützt werden, die sie als Werbung etikettieren, gibt es immer noch Probleme: Die Etikettierung kann ignoriert werden; es gibt oft keine angemessenen Bußgelder für die Verschleierung des Status von Werbeanzeigen und Produktplatzierungen; das Publikum kann Werbeetiketten übersehen; die Regulierung ist meist national und regional, während digitale Medienkonzerne global operieren; Branded Content erweitert die Ausdehnung der Warenlogik und der Werbung auf verschiedene soziale Räume des Lebens, der Kultur und der Kommunikation und verdrängt dadurch nichtkommerzielle, öffentliche und gemeinschaftsbasierte Räume, Praktiken, Formen, Inhalte, Beziehungen und Strukturen. Der Influencer- Kapitalismus ist eine Form des Imperialismus, der versucht, weite Bereiche der Kultur und des Alltagslebens unter die Warenlogik zu subsumiereieren.  Die Waren-Ideologie: Der Influencer-Kapitalismus fördert und normalisiert einen Lebensstil, der durch ständiges Einkaufen und den Konsum von Waren geprägt ist. Er versucht, den Konsum von Gütern des alltäglichen Lebens zu totalisieren und zu universalisieren und reduziert damit Individuen, Zuschauer, Publikum, Nutzer: innen und Fans auf den Status von Konsumenten. Die Anzeigen und Produktplatzierungen in Influencer- Videos appellieren an die Nutzer: innen, zu konsumieren, einzukaufen, zu vermarkten, Marken als Lebensstil zu übernehmen usw. Aber der Einzelne ist mehr als nur ein Konsument. Wir alle sind Menschen, Freunde und Bürger. Die Ideologie des ständigen Einkaufens im Influencer-Kapitalismus versucht, das Leben in ein riesiges Einkaufszentrum zu verwandeln und schädigt und kolonialisiert damit Räume der Menschlichkeit, der Freundschaft und der demokratischen Politik. Menschlichkeit, Freundschaft und Demokratie können wir nicht durch Einkaufen und Warenkonsum erreichen, sondern nur durch Solidarität, gesellschaftliches Handeln und politische Praxis. Verdinglichtes Bewusstsein Verdinglichung und verdinglichtes Bewusstsein sind Begriffe, die der kritische Theoretiker Georg Lukács (1971) in seinem klassischen Werk Geschichte und Klassenbewusstsein eingeführt hat. Er baut auf dem Marxschen Begriff der Entfremdung auf. Entfremdung bedeutet für Marx, dass Menschen ihr Leben und die Gesellschaft nicht beeinflussen können, weil andere sie beherrschen oder ausbeuten. Lukács interessiert sich dafür, wie sich Entfremdung zum Bewusstsein verhält. Er argumentiert, dass dominante Gruppen Ideologie benutzen, um zu versuchen, das Bewusstsein beherrschter Gruppen zu manipulieren und Kapitalismus, Klasse und Herrschaft zu rechtfertigen. Bewusstsein, das unkritisch gegenüber Herrschaft und Ausbeutung ist, bezeichnet er als „verdinglichtes Bewusstsein“. Dieser Begriff ist auch für die Untersuchung von sozialen Medien und Online-Influencing von Bedeutung. Nach Lukács (1923) ist Ideologie verdinglichtes Bewusstsein. Unter Klassenbewusstsein versteht Lukács (1923, 223-224) die „rationell angemessene Reaktion nun, die auf diese Weise einer bestimmten typischen Lage im Produktionsprozess zugerechnet wird“. Zugerechnetes Klassenbewusstsein ist objektives Klassenbewusstsein (501). Objektives Klassenbewusstsein definiert sich durch die Stellung eines Menschen im Produktionsprozess. Es ist nicht nur real existierendes Bewusstsein, sondern umfasst vor <?page no="250"?> 250 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein allem auch die objektiven Möglichkeiten des Bewusstseins - die „Gedanken, Empfindungen usw. […], die die Menschen in einer bestimmten Lebenslage haben würden , wenn sie diese Lage, die sich aus ihr heraus ergebenden Interessen sowohl in Bezug auf das unmittelbare Handeln wie auf den - diesen Interessen gemäßen - Aufbau der ganzen Gesellschaft vollkommen zu erfassen fähig wären ; die Gedanken usw. also, die ihrer objektiven Lage angemessen sind“ (223). Verdinglichtes Bewusstsein ist Bewusstsein, das „etwas objektiv an dem Wesen der gesellschaftlichen Entwicklung Vorbeigehendes, sie nicht adäquat Treffendes und Ausdrückendes“ (223) beinhaltet. Theodor W. Adorno argumentiert, dass Ideologie ein „objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewusstsein” (Adorno & Horkheimer 1956, 168) ist. „Man kann zwei Funktionen der Ideologie unterscheiden, Rechtfertigung […] und Verhüllung“ (Horkheimer 1957, 273). Das verdinglichte Bewusstsein ist das Bewusstsein, das für die objektive Stellung der kapitalistischen Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft charakteristisch ist. Es ist das Bewusstsein, das den Kapitalismus, das Kapital, die Waren, den Warenkonsum, das Geld, die Märkte, den Wettbewerb, den Tauschwert, die Mühsal, die Klasse, die Ungleichheit, die Herrschaft, die Ausbeutung usw. rechtfertigt, fetischisiert, idealisiert und naturalisiert. Ideologie ist eine Strategie, die darauf abzielt, verdinglichtes Bewusstsein zu schaffen. Für Lukács ist die Ideologie ein notwendiges Legitimationsmerkmal des Kapitalismus. „Aber die Verschleierung des Wesens der bürgerlichen Gesellschaft ist auch für die Bourgeoisie selbst eine Lebensnotwendigkeit. […] Da ihre Herrschaft nicht nur von , sondern auch im Interesse einer Minorität ausgeübt wird, bleibt die Täuschung der anderen Klassen, ihr Verbleiben bei ihrem unklaren Klassenbewusstsein eine unumgängliche Voraussetzung für den Bestand des Bourgeoisregimes“ (Lukács 1923, 240). Verdinglichung und Influencer-Kapitalismus In ihrem Buch (Not) Getting Paid to do What You Love. Gender, Social Media, and Aspirational Work , argumentiert die Kommunikationsforscherin Brooke Erin Duffy (2017, 230), dass die Aktivitäten von Inhaltsschaffenden, die ihren Lebensunterhalt auf You- Tube oder Instagram verdienen wollen, keine „Äußerungen eines falschen Bewusstseins“ seien, sondern „ein Versuch, die Unsicherheiten eines Arbeitsmarktes einzudämmen, der auf recht wackeligen Fundamenten ruht“. Die meisten Inhaltsproduzent: innen, die versuchen, ihren Lebensunterhalt auf Plattformen wie YouTube oder Instagram zu verdienen, sind keine Kapitalisten oder Ideologen, sondern proletarisierte Arbeiter: innen, die darum kämpfen, im neoliberalen Kapitalismus ihren Lebensunterhalt zu verdienen. TikTok, YouTube und Instagram versprechen selbstbestimmtes Arbeiten und Geldverdienen, indem man tut und teilt, was man liebt und kreativ ist. Die kreative Dimension der Informationsarbeit kann zutiefst befriedigend sein und ist ein Aspekt der Selbstbestimmung. Das Problem ist die Subsumtion dieser Plattformen unter die Logiken des Konsumismus, des Kapitalismus und der Werbung. Nicht die Suche der digitalen Arbeiter: innen nach Selbstverwaltung und kreativer Arbeit ist problematisch, sondern wie die kapitalistische Kulturindustrie die Ideologie des Individualismus, der unbegrenzten Möglichkeiten und des Ruhmes, der Werbung und des Warenkonsums sowie des Sexismus über soziale Medien verbreitet. Das Interesse der kapitalistischen Influencer-Industrie besteht darin, den Warenabsatz und damit die Logik des Kapitals zu fördern. Die Weltanschauungen, Ziele, Strategien, Vorschläge, Politiken, Richtlinien, Erklärungen, Bücher, Kurse, Beratungsmethoden usw., die von den Vertretern der Influencer-Industrie, d.h. der dominanten Kultur der Influencer-Industrie, vertreten werden, haben einen stark ideologischen <?page no="251"?> 7.3 Die Ideologie des Influencer-Kapitalismus 251 Charakter und sind daher Ausdruck eines verdinglichten Bewusstseins. Der Influencer-Kapitalismus ist eine Form des verdinglichten Bewusstseins, weil er eine gesellschaftliche und kulturelle Struktur und ein System ist, das nicht darauf abzielt, Menschlichkeit, Liebe, Solidarität, Demokratie und Reichtum für alle zu fördern, sondern nur Konsum, Wettbewerb, Spaltung, die Profite und den Reichtum weniger Konzerne. Der Influencer-Kapitalismus ist die Ideologie des einen Prozents der Privilegierten. Er zielt darauf ab, den Reichtum des reichsten einen Prozents und die Prekarität der neunundneunzig Prozent zu fördern. Aber diese Ideologie nimmt die Aura der Demokratie an, indem sie durch Social Media-Influencer: innen die falsche Behauptung vermittelt, dass jeder im Influencer-Kapitalismus berühmt werden kann und dass der Kapitalismus eine egalitäre Welt ist. Die Wirklichkeit des Influencer-Kapitalismus: prekäre, unbezahlte Arbeit Blog Tyrant (2019) führte eine Umfrage unter 350 Bloggern durch. 69,4 Prozent gaben an, dass sie mit ihrem Blog kein Geld verdienten, 22,6 Prozent verdienten weniger als 10.000 US-Dollar pro Jahr, 2,5 Prozent zwischen 10.000 und 30.000 US-Dollar, 1,5 Prozent zwischen 30.000 und 80.000 US-Dollar, 2,2 Prozent zwischen 80.000 und 150.000 US-Dollar, 1,2 Prozent mehr als 150.000 US-Dollar und 0,6 Prozent mehr als 1 Million US-Dollar. Die überwiegende Mehrheit der Blogger verdient kein Geld mit ihren Blogs oder verdient so wenig, dass sie nie vom Bloggen leben könnten. 32,2 Prozent gaben an, dass sie ihren Blog begonnen haben, um ein Vollzeiteinkommen zu erzielen, und 37,1 Prozent gaben an, dass sie mit dem Bloggen begonnen haben, um ein Nebeneinkommen zu erzielen. Das bedeutet, dass 69,3 Prozent der Befragten erwarteten, ganz oder teilweise vom Bloggen zu leben. Aber nur 5,5 Prozent verdienen mehr als 30.000 US-Dollar pro Jahr. Die Daten bestätigen, dass die große Mehrheit derer, die versuchen, sich vom Bloggen zu ernähren, prekäre Arbeitskräfte sind. Nur eine sehr kleine Gruppe derjenigen, die ihren Lebensunterhalt als Influencer: in auf sozialen Medien verdienen wollen, schaffen es, von prekären Arbeitnehmern zu profitablen Unternehmern zu werden. Für ihr Buch (Not) Getting Paid To Do What You Love: Gender, Social Media, and Aspirational Work hat die Kommunikationswissenschaftlerin Brooke Erin Duffy (2017) 55 Social-Media-Produzenten befragt, die danach streben, dafür bezahlt zu werden, dass sie das tun, was sie lieben. Es gab ein paar Interviewpartner: innen, die mehrere hunderttausend Follower auf ihren Social-Media-Profilen haben, aber meist handelte es sich um Interviewte mit Tausenden und Zehntausenden von Followern. Duffy konzentrierte sich in ihren Interviews mehr auf durchschnittliche aufstrebende Influencer, d.h. alltägliche Nutzer, als Cunningham und Craig (2019), die hauptsächlich Manager und Instagram-Superstars befragten. Diese beiden Studien sind charakteristisch für kritische Forschung (Duffy) und administrative Forschung (Cunningham und Craig) über soziale Medien und den Influencer-Kapitalismus. Erinnern wir uns daran, dass wir in Abschnitt 1.2 von Kapitel 1 dieses Buches gelernt haben, dass die administrative Forschung Analysen durchführt, die Herrschaft bejahen und legitimiert, während die kritische Forschung Erkenntnisse produziert, die Herrschaft dekonstruieren und in Frage stellen. Die Interviews haben gezeigt, dass die Schaffung von Inhalten und die Organisation der Beziehungen zu Followern, anderen Influencer: innen und potenziellen Sponsor: innen sehr zeitintensiv ist. Aufstrebende Blogger: innen fühlen sich oft gezwungen, Marken ohne Bezahlung zu bewerben, um ihren Ruf zu verbessern und mehr Follower <?page no="252"?> 252 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein zu gewinnen. Die Studie zeigt, dass „nur ein Bruchteil der Inhaltsproduzenten sich über den Lärm erheben, um großen Erfolg zu erzielen. Für den Rest bleibt das Ideal, dafür bezahlt zu werden, das zu tun, was man liebt , ein unerfülltes Versprechen“ (Duffy 2017, 6, kursiv im Original). Duffys Studie zeigt, dass Influencer: innen mit einer hohen Zahl von Followern oft aus privilegierten Verhältnissen kommen, die es ihnen ermöglichen, ohne Bezahlung zu arbeiten und viel Zeit in den Aufbau ihrer Profile und ihres Publikums zu investieren. „Promi-Blogger und digitale Influencer werden in der populären Vorstellung als Individuen erachtet, die einfach genauso sind wie wir ; dennoch sind die wenigen Profis, die es ‚schaffen‘, nicht einfach so wie die Legionen von kreativen Aspiranten, die es nicht schaffen“ (222). Duffy (2017) charakterisiert die Arbeit, die typisch für Social-Media-Produzent: innen ist, die versuchen, ihren Lebensunterhalt online zu verdienen, als Aspirationsarbeit, Arbeit, die „eine Art von (meist) unbezahlter, unabhängiger Arbeit ist, die von dem viel zitierten Ideal angetrieben wird, dafür bezahlt zu werden, das zu tun, was man liebt [...] Aspirationsarbeiter erwarten, dass sie eines Tages für ihre Produktivität entschädigt werden“ (4). Aspirationsarbeit ist hoffnungsvoll. Sie beruht auf der Hoffnung, eines Tages für einen Teil der Zeit, die man investiert hat, bezahlt zu werden. Es ist Hoffnungsarbeit, „ein ideologischer Prozess“, auf dessen Grundlage „nicht oder unterbezahlte Arbeit, in der Gegenwart geleistet wird, oft für Erfahrung oder Darstellung, in der Hoffnung, dass zukünftige Beschäftigungsmöglichkeiten folgen könnten“ (Kuehn und Corrigan 2010, 10). Brittany Hennessy ist eine Influencerin und Marketingexpertin. Sie arbeitete für Hearst Magazines Digital Media als leitende Direktorin für Influencer-Strategie und Talentpartnerschaften. In ihrem Buch Influencer: Building Your Personal Brand in the Age of Social Media gibt Hennessy (2018) einige Einblicke in die Influencer-Industrie. Sie argumentiert, dass die soziale Stellung eines Social-Media-Produzenten von der Anzahl seiner/ ihrer Follower abhängt. Sie schreibt, dass diejenigen mit bis zu 4.999 Anhängern hart arbeiten müssen, indem sie verschiedene Hashtags verwenden. Diejenigen mit einer Anzahl von 5.000 bis 9.999 Follower sollten sich vor allem darauf konzentrieren, sich mit den Postings verwandter Influencer: innen zu beschäftigen und diese zu liken. Influencer: innen mit 25.000 bis 49.999 Anhänger: innen sollten mit anderen Influencer: innen zusammenarbeiten. Ab 50.000 Followern sollten Influencer: innen auf Marken zugehen und anbieten, für deren Waren zu werben, Wettbewerbe oder Gewinnspiele für sie durchzuführen usw. „In den meisten Fällen wird eine Markenfirma ihre Inhalte auf ihren eigenen sozialen Medien-Profilen veröffentlichen, und deine Inhalte könnten Hunderttausenden, wenn nicht sogar Millionen potenzieller Follower gezeigt werden“ (Hennessy 2018, 61). Sobald ein Influencer 100.000 Follower hat, ist es wahrscheinlich, dass Personen wie Hennessy, die über die digitalen Marketingkampagnen von Unternehmen entscheiden, mit dem Influencer Kontakt aufnehmen. Bei 100.000 Followern ist es wahrscheinlich, dass Social-Media-Produzent: innen von unbezahlten und prekären Arbeiter: innen zu Unternehmern werden, die mit Agenturen und Markenfirmen zusammenarbeiten, um Werbekampagnen zu entwickeln, die sich an die Nutzer: innen sozialer Medien richten. Eine Ideologie ist eine Behauptung, die nicht der Realität entspricht und die die Realität verzerrt, manipuliert oder verheimlicht, um partikularistische Interessen zu legitimieren, die von Ausbeutung und Herrschaft profitieren. Die Ungleichheit des Einflusses und die prekäre, unbezahlte Arbeit im Influencer-Kapitalismus sind Realitäten, die die Ansprüche des Influencer-Kapitalismus dekonstruieren und dessen ideologischen Charakter aufzeigen. <?page no="253"?> 7.3 Die Ideologie des Influencer-Kapitalismus 253 Michelle Phans Dekonstruktion des Influencer-Kapitalismus als Ideologie Michelle Phan ist eine Beauty-Influencerin, die im Januar 2024 8,7 Millionen Follower auf YouTube und 1,8 Millionen Follower auf Instagram hatte. Phan (2014) ist Autorin des Buches Make Up. Your Life Guide to Beauty Style and Success - Online and Off . Im Jahr 2009 stellte BuzzFeed ihre Videos vor, wie man sich stylen kann, um Lady Gagas Augen zu bekommen, was die Zahl ihrer Follower auf YouTube steigerte. Das französische Parfüm- und Kosmetikunternehmen Lancôme, eine Tochtergesellschaft von L'Oréal, schloss einen Markenvertrag mit Phan ab, nachdem sie einige der Produkte des Unternehmens kostenlos in ihren Videos vorgestellt hatte. Sie begann, die Werbeeinnahmen mit YouTube im Rahmen des YouTube-Partnerschaftsprogramms zu teilen. Phan gründete das YouTube-Multi-Channel-Netzwerk FAWN, das später in ICON umbenannt wurde. Ende 2019 hatte ICON rund 450.000 Follower. Phan ist die Gründerin des Kosmetikabonnementdienstes Ipsy, der jeden Monat Kosmetikproben an zahlende Abonnent: innen verschickt. Phan hat ihre eigene Kosmetikproduktlinie. Im Jahr 2014 gründete sie zusammen mit der Cutting Edge Group das Musiklabel Shift Music Group. Phan wurde zunächst von der Creative Artists Agency vertreten und später von der United Talent Agency. Im Jahr 2023 belief sich Michelle Phans Vermögen auf geschätzte 50 Millionen US-Dollar 106 . Am 1. Juni 2017 stellte Michelle Phan das Video „Why I Left“ auf YouTube ein, in dem sie erklärte, warum sie die Plattform nicht mehr nutzen würde. Nach diesem Posting verschwand sie. Zwei Jahre später, im September 2019, kehrte sie zu YouTube zurück. Im Video „Why I Left“ („Warum ich wegging“) sagt Michelle: „Ich fühlte mich so erfüllt, dass das Erstellen dieser Videos sich nicht wie Arbeit anfühlte, sondern eher wie ein Traum [...] es würde nicht mehr lange dauern, bis ich von Gelegenheiten und Versprechen mitgerissen würde. Ich verabschiedete mich und verließ das Nest meiner Familie, um dem amerikanischen Traum nachzujagen [...] Einst war ich ein Mädchen mit Träumen, die schließlich zu einem Produkt wurden, das sich lächelnd verkaufte und imme mehr verkaufte. Wer ich vor der Kamera war und wer ich im wirklichen Leben war, begann, sich wie fremd anzufühlen. Geld kann das Schlimmste in den Menschen hervorbringen [...] Meine Unsicherheiten wurden schlimmer, ich wurde von meiner eigenen Eitelkeit gefangen genommen und war nie zufrieden mit meinem Aussehen. Das Leben, das ich online führte, war bildschön, aber in Wirklichkeit kuratierte ich sorgfältig das Bild eines Lebens, das ich wollte und nicht hatte. [...] Beschäftigt zu bleiben war meine einzige Möglichkeit, mit all dem Stress und den Ängsten fertig zu werden. Es half, den Schmerz zu betäuben. [...] Die Jahre vergingen, und ich fühlte mich immer mehr isoliert und abgekoppelt [...] Ich fühlte mich so deprimiert und wusste nicht, warum. In einer meiner schlaflosen Nächte sah ich mir eines meiner früheren Videos an und hatte vergessen, wie echt und voller Leben ich einst war. Es war eine so unschuldige Zeit vor dem Geld - vor dem Ruhm. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich irgendwo auf dieser Reise verloren hatte, war es wegen des Geldes? [...] Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, dem Erfolg hinterherzujagen, nur um mich dann dabei zu ertappen, wie ich vor genau der Sache davonlief, die mich ausmachte, vor mir selbst, meinem wahren Selbst. Am Ende habe ich sie nicht zum Narren gehalten, denn tief im Inneren war ich nicht glücklich. Ich habe gelernt, 106 https: / / www.celebritynetworth.com/ richest-businessmen/ richest-designers/ michellephan-net-worth/ , abgerufen am 19. Oktober 2023. <?page no="254"?> 254 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein dass man mit Geld viele Dinge wie Seelenfrieden, Komfort und Status kaufen kann, aber nicht das Glück “ 107 . Phans Video ist ein ehrlicher, mutiger Bericht, in dem erörtert wird, dass die Realität in der Welt der sozialen Medien oft dunkel ist, aber so glänzend, glitzernd und glücklich zu sein scheint. Michelle beschreibt, wie sie sich von einer Arbeiterin, die sich um die Erfüllung ihrer Aufgaben bemühte, in eine digitale Unternehmerin verwandelte und reich wurde, und wie das Eintauchen ihres Lebens in die Warenwelt der Modemarken, der Werbung und der Promotion sie zu einer Ware machte und sie zutiefst entfremdete. Es entstand eine tiefe Kluft zwischen der Art und Weise, wie sie sich, getrieben von dem Drang, Kapital zu akkumulieren und erfolgreich zu sein, auf You- Tube und Instagram präsentierte und wie sie sich in Wirklichkeit fühlte und war. Diese digitale Schizophrenie wurde durch die kapitalistische Realität von Marken, Werbung und neoliberaler Subjektivität angetrieben. In der Werbung ist der Warenfetischismus auf seinem Höhepunkt. Der Warenfetischismus verschleiert die soziale und gesellschaftliche Realität des Kapitalismus. Er verschleiert die Arbeit, die Waren erzeugt, vor den arbeitsteilig produzierenden Arbeiter: innen und vor den Konsument: innen. „Die in Waren eingebetteten gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse werden systematisch vor unseren Augen verborgen. Die wirkliche Bedeutung der Güter wird in der Tat in der kapitalistischen Produktion und im kapitalistischen Konsum entleert. [...] Die Produktion entleert. Die Werbung füllt“ ( Jhally 2006, 88, 89). Der Warenfetischismus und die Werbung schaffen eine Kluft zwischen ideologischer/ virtueller Realität und dem tatsächlichen Leben. Im Fall von Michelle Phan schuf dieser schizophrene Charakter der kapitalistischen Realität die Situation, dass sie ständig in einer ideologischen Markenwelt gefangen war, die sie vom Rest ihres Lebens und von sich selbst entfremdete. Depressionen waren die Folge. Michelle Phans Schilderung ihres Lebens als Influencerin unterscheidet sich von der Euphorie, die wir oft aus der neoliberalen Wirtschaftspresse, von Management-Gurus, markenverehrenden Berater: innen und Forscher: innen, einflussreichen Millionär: innen usw. hören. Es ist jedoch wohl nicht die Ausnahme von der Regel, dass, wenn jemand mit einem kuratierten Image „zum Produkt wird“, sie/ er sich am Ende entfremdet, deprimiert, gestresst, ängstlich und unglücklich fühlt. Entfremdung ist nicht nur eine objektive, sondern auch eine subjektive Realität des Influencer-Kapitalismus. Michelles Bericht liefert auch Hinweise darauf, dass der Influencer-Kapitalismus auf der ideologischen Ebene eine falsche Form von Subjektivität und Bewusstsein schafft, in der die Influencer in einer kapitalistischen Blase und einer virtuellen Realität leben, die von Markenfirmen und Ideologie bestimmt wird. Die Welt der Marken und der Werbung ist eine idealisierte, unwirkliche Welt, in der es nur falsche Realität und falsches Glück gibt. Ständig in dieser Welt des falschen Glücks zu leben und zu handeln, kann die Akteure unglücklich machen. Der Kapitalismus ist nicht so bunt, wie er oft in der Welt der Konsumkultur und Werbung erscheint. Er hat eine verborgene, dunkle Unterseite. Der konsumistische, individualistische, unkritische, unglücklichmachende Influencer-Kapitalismus Erinnern wir uns daran, dass wir in Kapitel 1 über die Frankfurter Schule gehört haben, dass es sich um eine ideologiekritische Denkrichtung handelt, die von Marx inspiriert wurde und deren wichtigste klassische Vertreter Theodor W. Adorno, Max 107 https: / / www.youtube.com/ watch? v=UuGpm01SPcA, aufgerufen am 13. Oktober 2019. <?page no="255"?> 7.3 Die Ideologie des Influencer-Kapitalismus 255 Horkheimer und Herbert Marcuse sind (siehe Kapitel 1). Die Analyse der Kulturindustrie durch die Frankfurter Schule erlaubt es uns, eine zeitgenössische Kritik des Influencer-Kapitalismus zu formulieren. Horkheimer und Adorno weisen darauf hin, dass die Kulturindustrie die Schönheit zur Ware macht: „Die höchstbezahlten Stars gleichen Werbebildern für ungenannte Markenartikel. Nicht umsonst werden sie oft aus der Schar der kommerziellen Modelle ausgewählt. Der herrschende Geschmack bezieht sein Ideal von der Reklame, der Gebrauchsschönheit” (Horkheimer & Adorno 1947/ 1988, 165). Der Influencer-Kapitalismus setzt Maßstäbe für Schönheit und Ruhm, die von der Warenlogik geprägt sind. Die Influencer: innen müssen die konsumistische und kapitalistische Ideologie vorantreiben, indem sie Produktplatzierungen, In-Video-Werbung und personalisierten Online-Werbung auf ihren Kanälen, Profilen und in ihren nutzergenerierten Inhalten zulassen. „Zur Kultur der Stars gehört als Komplement der Prominenz der gesellschaftliche Mechanismus, der, was auffällt, gleich macht, jene sind nur die Schnittmuster für die weltumspannende Konfektion und für die Schere der juristischen und ökonomischen Gerechtigkeit, mit der die letzten Fadenenden noch beseitigt werden” (Horkheimer & Adorno 1947/ 1988, 251). Die Fokussierung des Influencer-Kapitalismus auf Stars, die Waren präsentieren, lenkt von den Möglichkeiten ab, Zeit und Raum für die Beschäftigung mit Themen zu schaffen, die mit sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit zu tun haben. Der Influencer-Kapitalismus ist wie eine Schere, die versucht, Möglichkeiten für Kritik und kritisches Denken abzuschneiden und zu blockieren. Horkheimer und Adorno analysierten die Produktplatzierung: „In den maßgebenden amerikanischen Magazinen Life und Fortune kann der flüchtige Blick Bild und Text der Reklamen von denen des redaktionellen Teils schon kaum mehr unterscheiden. Redaktionell ist der begeisterte und unbezahlte Bildbericht über Lebensgewohnheit und Körperpflege des Prominenten, der diesem neue Fans zuführt, während die Reklameseiten auf so sachliche und lebenswahre Photographien und Angaben sich stützen, dass sie das Ideal der Information darstellen, dem der redaktionelle Teil erst nachstrebt“ (Horkheimer & Adorno 1947/ 1988, 172). Der Influencer-Kapitalismus ist eine neue Phase in der Entwicklung der Werbung, in der die Grenzen zwischen Werbung, Nachrichteninhalt und redaktionellem Inhalt so fließend geworden sind, dass es für das Publikum oft schwer zu unterscheiden ist, was eine Werbung ist, deren primäres Ziel es ist, das Publikum zum Kauf von etwas zu bewegen, und was keine Werbung ist. Wenn die Logik der Werbung in Nachrichten, Informationen, Bildung und Unterhaltung Eingang findet, dann ist der demokratische Charakter der Öffentlichkeit in Gefahr. Das Ziel des Influencer-Kapitalismus ist die Anpassung der Nutzer: innen des Internets an „Warenmodelle“ (Adorno 1938, 347). Die Namen von Social Media-Influencer: innen sind Etiketten des Ruhmes, die verschleiern, dass sie bezahlte Warenpropagandisten sind. Im Influencer-Kapitalismus ist Ruhm zur „Funktion bezahlter Propagandastellen geworden und misst sich an der Investition, die vom Träger des Namens oder der Interessengruppe, die hinter ihm steht, riskiert wird” (Adorno 1951, 179). Das Beispiel von Michelle Phan zeigt, dass berühmte und erfolgreiche Influencer: innen oft unglücklich sind. Der Kapitalismus macht weder Prominente noch Fans glücklich. Adorno (1951, 179-180) betont, dass „die geplante Verfügung über Ruhm und Andenken unweigerlich ins Nichts [führt], dessen Vorgeschmack schon <?page no="256"?> 256 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein am hektischen Wesen aller Zelebrität sich wahrnehmen läßt. Den Berühmten ist nicht wohl zumute. Sie machen sich zu Markenartikeln, sich selber fremd und unverständlich, als lebende Bilder ihrer selbst wie Tote”. Herbert Marcuse betont, dass Ruhm und Erfolg im Kapitalismus oft von kurzer Dauer sind und dass Fangemeinschaften und Ruhm ein ideologischer Ausdruck der Strukturen der Klassengesellschaft sind, die Machtdifferentiale zwischen Herren und Knechten und zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse konstituieren: „die Stars und Sternchen der Politik, des Fernsehens und des Sports sind in hohem Maße ersetzbar. [...] Diese Star-Führer sind zusammen mit den unzähligen Unter-Führern wiederum Funktionäre einer höheren Autorität, die nicht mehr in einer Person verkörpert ist: die Autorität des herrschenden Produktionsapparates, der, einmal in Bewegung gesetzt und effizient in die vorgegebene Richtung bewegt, die Führer und Geführten in Beschlag nimmt - ohne jedoch die radikalen Unterschiede zwischen ihnen, d.h. zwischen Herren und Knechten, zu beseitigen“ (Marcuse 1970, 53, 54). Social Media-Influencer: innen, die die Warenlogik promoten, sind die zeitgenössischen Führer: innen der kapitalistischen Konsumkultur, die die Normen des Kapitalismus verbreiten. Der nächste Abschnitt befasst sich mit sozialistischen Influencer: innen. 7.4 Sozialistische Influencer: innen Was sind sozialistische Influencer: innen? Unterhaltung als solche ist ein menschliches Bedürfnis, genauso wie die Bedürfnisse, uns zu informieren, uns zu bilden, mit anderen zu kommunizieren usw. Unterhaltung bringt die Menschen zum Lachen, was wichtig für ihre geistige, soziale und kulturelle Entwicklung ist. Das Problem der Kulturindustrie besteht darin, dass sie versucht, die Unterhaltung zur alles beherrschenden Sphäre zu machen und daher auch Information, Bildung, Nachrichten, Debatten, Kontroversen und Künste zu Unterhaltung zu machen, um Werbung und die Warenlogik voranzutreiben. Der Influencer-Kapitalismus hat neue Online-Wege zur Verbreitung von Unterhaltung, Werbung und Warenlogik gefunden. Die Alternativen zur Kulturindustrie und zum Influencer-Kapitalismus müssen die Unterhaltung nicht abschaffen, sondern sie transformieren und ihre Gesamtmenge und ihren Anteil an den Inhalten, die wir konsumieren und mit denen wir uns beschäftigen, reduzieren. Sozialistische Influencer: innen sind Produzent: innen von Social Media-Inhalten, die versuchen, das Publikum für den Sozialismus zu interessieren und es auf Möglichkeiten für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Sozialismus in der Form von Büchern, Theorien, Debatten, Vorträgen, Kontroversen und anderen Materialien hinzuweisen. Es ist entscheidend, ob Influencer: innen Sozialist: innen sind und als Sozialist: innen handeln oder nicht. Reich zu sein steht im Gegensatz dazu, Sozialist: in zu sein, es sei denn, man spendet regelmäßig bedeutende Teile seines Vermögens für sozialistische Zwecke. Während kapitalistische Influencer: innen Waren promoten und versuchen, das Einkaufsverhalten der Nutzer: innen zu beeinflussen, fördern sozialistische Influencer: innen den Sozialismus und versuchen, die Nutzer: innen zu beeinflussen, indem sie <?page no="257"?> 7.4 Sozialistische Influencer: innen 257 ihnen Wege aufzeigen, wie sie sich tiefer mit sozialistischen Ideen beschäftigen können, was den Weg dafür ebnen kann, dass die Nutzer: innen sozialistische Aktivist: innen werden. Greta Thunberg und Fridays for Future Greta Thunberg hat nicht nur öffentliche Debatten über den Klimawandel angeregt, sondern auch die weltweite Schulstreikbewegung für das Klima, die auch unter Namen wie Fridays for Future, Youth for Climate oder Klimastreik bekannt ist. “#FridaysForFuture ist eine Bewegung, die im August 2018 ins Leben gerufen wurde, nachdem die 15-jährige Greta Thunberg drei Wochen lang jeden Schultag vor dem schwedischen Parlament saß, um gegen die Untätigkeit in der Klimakrise zu protestieren. Sie postete, was sie tat, auf Instagram und Twitter, und dies wurde bald viral. Am 8. September beschloss Greta, weiterhin jeden Freitag zu streiken, bis die schwedische Politik einen sicheren Weg weit unter 2 Grad Celsius, d.h. in Übereinstimmung mit dem Pariser Abkommen anbietet. Die Hashtags #FridaysForFuture und #Climatestrike verbreiteten sich, und viele Studenten und Erwachsene begannen weltweit vor ihren Parlamenten und örtlichen Rathäusern zu protestieren” 108 . Greta Thunberg ist eine einflussreiche Persönlichkeit, die eine wichtige Rolle bei der politischen Sozialisierung junger Menschen und der Entwicklung einer neuen globalen Jugendbewegung spielt. Sie hat Millionen von Follower auf Instagram, Twitter und Facebook. Sie erklärt ihre Motivation: „Wir Kinder tun dies, weil wir unsere Hoffnungen und Träume zurückhaben wollen. [...] Jetzt haben wir wahrscheinlich nicht einmal mehr eine Zukunft. Denn diese Zukunft wurde verkauft, damit eine kleine Anzahl von Menschen unvorstellbare Mengen an Geld verdienen kann“ (Thunberg 2019, 68, 58). Der Sozialismus muss rot-grün sein, was bedeutet, dass soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit/ Gerechtigkeit als miteinander verknüpfte Themen und Ziele betrachtet werden sollten. Aber der Umweltschutz ist nicht automatisch sozialistisch. Es gibt auch bürgerliche Formen des Umweltschutzes, die einen grünen Kapitalismus schaffen wollen und ignorieren, dass es einen Antagonismus zwischen Kapitalismus und Natur gibt. Die Klimakrise ist nicht das Ergebnis eines Generationskonflikts. Eine sozialistische Version des Umweltschutzes ist notwendig. Die Jugendbewegung ist von besonderer Bedeutung, um den sozialistischen Umweltschutz voranzubringen. Kritische Influencer: innen können in einer solchen Bewegung eine entscheidende Rolle spielen. Breadtube Breadtube ist ein Beispiel für ein Netzwerk von sozialistischen Influencer: innen. Breadtube ist „ein loser Zusammenschluss unabhängiger Online-Videomacher und der sie umgebenden Gemeinschaften, der eine linke Antwort auf die rechtsradikale Nutzung digitaler Medien darstellt" (Kuznetsov und Ismangil 2020, 204). Breadtube ist eine Gemeinschaft von YouTube-Vloggern, die kritische Inhalte erstellen und verbreiten, die künstlerische und populäre Formate annehmen und ein junges Publikum ansprechen. Breadtube.tv fasst die Videos der Influencer: innen dieser Gemeinschaft zusammen. Der Name von Breadtube stammt aus dem Buch des anarchistischen Kommunisten Peter Kropotkin (1892/ 1989) Die Eroberung des Brotes , in dem skizziert wird, 108 https: / / www.fridaysforfuture.org/ about, abgerufen am 13. Oktober 2019. <?page no="258"?> 258 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein wie eine künftige kommunistisch-anarchistische Gesellschaft, in der die Selbstverwaltung der Arbeiter: innen die Wirtschaft prägt und es Wohlstand für alle gibt. Contrapoints, Philosophy Tube, Hbomberguy und Shaun gehören zu den beliebtesten Breadtube-Influencer: innen. Contrapoints produzierte ein zweiteiliges Video mit dem Titel „What's Wrong with Capitalism? ", die im Juni 2023 zusammen über 2,3 Millionen Aufrufe und mehr als 17.000 Nutzerkommentare hatten 109 . Kuznetsov und Ismangil (2020, 207) argumentieren, dass Breadtube ein „Tor zum sozialistischen Denken“ sei und dass die dort veröffentlichten Videos die rechtsextreme und kapitalistische Ideologie entlarven und dekonstruieren, indem sie auf deren Widersprüche hinweisen und kritische Fragen stellen. Viele Breadtuber akzeptieren keine Werbe- und Sponsoring-Einnahmen, sondern bitten ihre Follower, sie mit monatlichen Spenden auf Plattformen wie Patreon zu unterstützen. Da Breadtuber nicht von den Investitionen der Werbetreibenden abhängig sind, haben sie mehr Freiheit, kritisch zu sein und kritische Inhalte zu verbreiten. Breadtube-Videos sind Ankerpunkte, die Links zu sozialistischen Werken und Debatten bieten und es den Nutzer: innen ermöglichen, sich vertiefend mit linken Ideen auseinanderzusetzen. Ein Problem von Breadtube ist, dass die Breadtube-Influencer: innen rein individuell handeln. Sie haben individuelle Kanäle und produzieren Inhalte individuell, was den Individualismus reproduziert, der der Promi-Kultur und den dominanten „sozialen“ Medienplattformen innewohnt. Ein kollektiverer Produktionsansatz, bei dem Inhalte koproduziert werden und eine Gruppe von Sozialist: innen einen Kanal unterhält, kommt sowohl der Idee des Sozialismus als auch der sozialen Medien näher. Jacobin ist ein Beispiel für ein kollektives sozialistisches Publikationsprojekt. Jacobin Jacobin ist ein sozialistisches Magazin mit Sitz in New York (siehe https: / / www.jacobinmag.com/ ). Bhaskar Sunkara gründete Jacobin im Jahr 2011. Sunkara (2019) ist der Autor von The Socialist Manifesto: The Case for Radical Politics in an Era of Extreme Inequality . Jacobin konzentriert sich auf Artikel zu aktuellen politischen Themen, die von der marxistischen Theorie inspiriert und in einer zugänglichen Art und Weise geschrieben sind. Jacobin wird durch Verkäufe, Abonnements und Spenden finanziert. Ältere sozialistische Publikationen waren oft ästhetisch unattraktiv, da sie sich auf reinen Text konzentrierten und es an Bildern, kritischen Bildern, kritischen Datenvisualisierungen, Infografiken, Satire und Farben mangelte. Jacobin kombiniert all diese Elemente mit gedrucktem Text und einem ansprechenden Layout. Das Magazin ist daher nicht nur politisch und theoretisch, sondern auch ästhetisch ansprechend. Jacobin ist ein Werk der Kunst, der Theorie und der sozialistischen Politik. Jacobin hat auch eine Website, auf der Artikel, ein Blog und eine theoretische Zeitschrift mit dem Titel Catalyst: A Journal of Theory and Strategy , Podcasts ( Jacobin Radio), eine Buchreihe, Lesegruppen, angeschlossene Zeitschriften und Projekte in verschiedenen Ländern sowie Links zu Kanälen auf Twitter, Instagram, Facebook und YouTube zu finden sind. Jacobin spricht vor allem die jüngere Generation von Sozialist: innen und politisch interessierten jungen Menschen an. Es konzentriert sich auf die Zukunft des Sozialismus. Projekte wie Jacobin und Novara Media verwischen die Grenzen zwischen Influencer-Kultur und alternativen Medien. Das Interesse junger Menschen an Alexandria Ocasio-Cortez, Bernie Sanders und Jeremy Corbyn ist dem Interesse an 109 http: / / www.youtube.com/ watch? v=gJW4-cOZt8A&t=237s, http: / / www.youtube.com/ watch? v=AR7ryg1w_IQ, abgerufen am 12. Juni 2023. <?page no="259"?> 7.5 Schlussfolgerungen 259 solchen Projekten zugutegekommen. Das sozialistische Influencertum verbindet kollektiv produzierte alternative Medienprojekte mit den Aktivitäten öffentlicher Intellektueller, Meinungsführer: innen und kritischer Journalist: innen wie Bhaskar Sunkara, Owen Jones, Ash Sarkar oder Aaron Bastani. AOC: Alexandria Ocasio-Cortez Alexandria Ocasio-Cortez - auch bekannt als „AOC“ - ist eine sozialistische US-Politikerin, die Mitglied der Demokratischen Partei ist und den Democratic Socialists of America (DSA) angehört. Die DSA argumentieren: „Die Demokratie ist notwendig, um eine sozialistische Gesellschaft zu gewinnen. Der Sozialismus ist die vollständige Verwirklichung der Demokratie“ 110 . AOC wurde 2018 im Alter von 29 Jahren zum Mitglied des Repräsentantenhauses gewählt und war damit die jüngste Frau, die jemals in den US-Kongress gewählt wurde. Bei den US-Präsidentschaftswahlen 2020 unterstützte sie Bernie Sanders. AOC ist in den sozialen Medien sehr aktiv und beliebt, was ihrer Popularität, insbesondere bei jungen Wählern, zugutekam. Im Juni 2023 hatte sie 13,4 Millionen Follower auf Twitter, 8,6 Millionen auf Instagram, 1,8 Millionen auf Facebook, 760.000 auf TikTok und 85.000 auf YouTube. Aiello (2023) analysierte 3.968 Tweets aus AOCs Wahlkampf zum 14. New Yorker Kongressbezirk 2018. In Tweets wie dem ihres Wahlkampfvideos „The Courage to Change“ (Mut zur Veränderung) wurde AOC als Mitglied der lokalen Gemeinschaft dargestellt, als „Bronx-Mädchen aus der Arbeiterklasse“ (58), „eine Puertoricanerin und letztlich eine Kandidatin, die mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft in Kontakt steht“ (58). „Ihr am häufigsten verwendetes Wort im Tweet-Korpus war tatsächlich ‚Leute‘ (People): ein Wort, das mit jungen, nicht-elitären (oder ‚Alltagsmenschen'), Arbeiter: innen und/ oder Teilen der Arbeiterklasse assoziiert wurde" (119). AOC ist nicht nur eine demokratisch-sozialistische Politikerin, die in den täglichen politischen Debatten im US-Kongress, in öffentlichen Debatten und in Interviews in den traditionellen Medien sozialistische Argumente vorbringt. Sie ist auch eine demokratisch-sozialistische Influencer: in, die die sozialen Medien nutzt, um demokratisch-sozialistische Ideen zu verbreiten. 7.5 Schlussfolgerungen Das Aufkommen von Plattformen wie YouTube und Instagram in Verbindung mit der anhaltenden Präsenz der Logik des Neoliberalismus in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts hat das Phänomen der Influencer: innen hervorgebracht. In diesem Kapitel wurde das Argument vorgebracht, dass Social Media-Influencing eine ausgeprägte Ideologie und ein Modell der Kapitalakkumulation ist. Wir können die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels wie folgt zusammenfassen:  Social Media-Influencing ist eine besondere Form der Kulturindustrie des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts: Social-Media-Influencer: innen, die ihren Lebensunterhalt online verdienen und mit Instagram und YouTube berühmt und reich werden wollen, haben einen 110 https: / / www.dsausa.org/ dsa-political-platform-from-2021-convention/ , abgerufen am 11. Juni 2023. <?page no="260"?> 260 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein komplexen Klassenstatus und bilden oft eine Mischung aus Arbeiter: innen, Freiberufler: innen und Kapitalist: innen. Die Warenlogik in Form des Brandings des Selbst, die ständige Propagierung der Logik des Warenkonsums durch die Influencer: innen, die Aufmerksamkeit der Fans als Ware, die ständige Präsentation versteckter und sichtbarer Werbung in der Form von Produktplatzierungen und personalisierter Werbung sowie die Promotion einer Reihe von Influencer-Waren (Bücher, Ausbildungskurse, Spielzeug, Mode, Fanartikel usw.) stellen Schlüsselaspekte der Kulturindustrie des Influencer- Kapitalismus dar. Die Influencer-Industrie ist eine Kulturindustrie, die auf der Inhaltsebene von Social-Media-Plattformen agiert.  Der Influencer-Kapitalismus hat eine hochgradig ideologische Form : Die Kulturindustrie von Influencer-Kapitalismus versucht, alltägliche Nutzer: innen davon zu überzeugen, dass jeder über YouTube und Instagram berühmt und reich werden kann. Hinter solchen Behauptungen verbergen sich die Realitäten von prekärer Arbeit, Ungleichheit, Sexismus, Rassismus, Kapitalismus, psychischen Gesundheitsproblemen und Entfremdung, die die Arbeit in der Influencer- Industrie prägen. Der Influencer-Kapitalismus als Ideologie ist geprägt von Individualismus, der Leugnung und Vernachlässigung von Ungleichheit und Risiken, der Unsichtbarkeit und dem imperialistischen Charakter der kapitalistischen Logik, der Warenideologie und der sexistischen Ideologie. Markenfirmen sowie kulturelle und digitale Unternehmen profitieren von der Verbreitung einer Influencer-Ideologie. Der Influencer-Kapitalismus ist konsumistisch, individualistisch, unkritisch, positivistisch, patriarchalisch, sexistisch und rassistisch. Er ist eine Struktur, die die Menschen objektiv unglücklich macht.  Wir brauchen sozialistische Influencer: innen: Während kapitalistische Influencer Waren promoten und versuchen, die Käufe der Nutzer: innen zu beeinflussen, fördern sozialistische Influencer: innen den Sozialismus und versuchen, die Nutzer: innen zu beeinflussen, indem sie ihnen Wege aufzeigen, wie sie sich genauer mit sozialistischen Ideen auseinandersetzen können, was den Weg dafür ebnen kann, dass die Nutzer: innen zu sozialistischen Aktivist: innen werden. Sozialistische Influencer: innen nutzen soziale Medien auf kreative, engagierte, politische und unterhaltsame Weise. Sie sind nicht da draußen im Internet, um Profite zu machen und für Waren zu werben, sondern um die eigentliche Logik von Profiten, Werbung und Waren in Frage zu stellen. Sie verfolgen einen kollektiveren und politischeren Ansatz als kapitalistische Influencer: innen. Nur in einer klassenlosen Gesellschaft wird jeder anerkannt werden. Wenn jeder zu einer Berühmtheit wird, dann gibt es keine Notwendigkeit mehr für die Existenz von Berühmtheiten, Stars und Influencer: innen. In einer klassenlosen Gesellschaft ist jeder Mensch eine Berühmtheit. Nur die Überwindung der Klasse kann die Probleme lösen, mit denen wir im Influencer-Kapitalismus konfrontiert sind. Empfohlene Literatur und Übungen Übung 7.1: Influencer-Videos auf TikTok, YouTube und Instagram Suchen Sie auf YouTube und Instagram nach einem sehr populären Video und einem sehr populären Bild, das von einflussreichen Personen mit einer großen Zahl <?page no="261"?> Empfohlene Literatur und Übungen 261 von Anhängern (mindestens mehrere hunderttausend) gepostet wurde. Konzentrieren Sie sich auf jene Bilder und Videos, die Produktplatzierungen aufweisen und somit Werbeformen darstellen. Diskutieren Sie:  Warum haben das Video und das Bild Ihrer Meinung nach eine große Anzahl von Aufrufen erreicht?  In welcher Hinsicht sind das Video und das Bild Ausdruck des Influencer-Kapitalismus?  Welche positiven und negativen Kommentare geben die Nutzer: innen zu diesem Video ab?  Nennen Sie Beispiele und bewerten Sie diese Kommentare aus der Perspektive der kritischen Theorie. Was sind die Probleme des Influencer-Kapitalismus?  Welche Rolle spielen die analysierten Inhalte in Bezug auf diese Probleme? Übung 7.2: Sichtbarkeitsarbeit auf TikTok, Instagram und YouTube Crystal Abidin ist Anthropologin und Internet-Forscherin. Brooke Erin Duffy ist Kommunikationswissenschaftlerin und Internet-Forscherin. Beide haben kritische Analysen von Influencer: innen durchgeführt. Lesen Sie die beiden folgenden Texte: Crystal Abidin. 2016. Visibility Labour: Engaging With Influencers’ Fashion Brands and #OOTD Advertorial Campaigns on Instagram . Media International Australia 16 (1): 86-100. Brooke Erin Duffy. 2017. (Not) Getting Paid to do What You Love. Gender, Social Media, and Aspirational Work . Yale, CT: Yale University Press. Kapitel 1: Entrepreneurial Wishes and Career Dreams & Kapitel 2: The Aspirational Ethos: Gender, Consumerism, and Labor Diskutieren Sie:  Was versteht Abidin unter Sichtbarkeitsarbeit?  Und was versteht Duffy unter Aspirationsarbeit? Versuchen Sie, auf TikTok, Instagram und YouTube konkrete Beispiele für Sichtbarkeitsarbeit und Aspirationsarbeit zu finden. Sie können allein oder in Gruppen arbeiten. Suchen Sie auf TikTok, Instagram und You-Tube nach Beispielen für solche Arbeit.  Erklären Sie, wie und warum Sie es mit Sichtbarkeitsarbeit und Aspirationsarbeit zu tun haben.  Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sichtbarkeitsarbeit und Aspirationsarbeit? Übung 7.3: Influencer-Kapitalismus und verdinglichtes Bewusstsein Georg Lukács (1885-1971) war ein einflussreicher marxistisch-humanistischer Intellektueller. Sein Buch Geschichte und Klassenbewusstsein ist eines der wichtigsten kritischen Theoriebücher des 20. Jahrhunderts. Darin führt er den Begriff des verdinglichten Bewusstseins ein. Lesen Sie Lukács’ Kapitel „Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats“: <?page no="262"?> 262 7 Der Influencer-Kapitalismus: Verdinglichtes Bewusstsein Georg Lukács, 1923. Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats. In Georg Lukács Werke Band 2: Frühschriften II, 257-397. Darmstadt: Luchterhand. Diskutieren Sie:  Was ist verdinglichtes Bewusstsein?  Was ist die Rolle des verdinglichten Bewusstseins im Influencer-Kapitalismus?  Versuchen Sie, Beispiel-Videos oder Postings von Social-Media-Influencer-Seiten zu finden, die die Merkmale des verdinglichten Bewusstseins zeigen. Übung 7.4: Der Influencer-Kapitalismus in der digitalen Kulturindustrie Lesen Sie zunächst das „Kulturindustrie“-Kapitel in Horkheimers und Adornos Buch Dialektik der Aufklärung : Max Horkheimer & Theodor W. Adorno. 1947/ 1988. Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug. In: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.; S. Fischer, S, 128-176. Sehen Sie sich Michelle Phans Video „Why I Left“ auf YouTube an: https: / / www. youtube.com/ watch? v=UuGpm01SPcA Michelle Phan ist eine der weltweit beliebtesten Social Media-Influencer: innen. Im Jahr 2017 veröffentlichte sie dieses Video, um anzukündigen, dass sie eine Pause von den sozialen Medien einlegt. Sie formuliert eine Kritik an den Strukturen des Social Media-Influencing. Diskutieren Sie:  Welche Kritikpunkte am Social Media-Influencing ormuliert Michelle Phan?  Welche Erfahrungen hat Michelle Phan selbst im Influencer-Kapitalismus gemacht?  In welcher Hinsicht spiegelt Michelles Video Aspekte von Horkheimers und Adornos Kritik an der Kulturindustrie wider oder nicht? Übung 7.5: Sozialistische Influencer: innen Suchen Sie nach drei Videos, die von sozialistischen Influencer: innen produziert wurden. Versuchen Sie, die Suche auf ein bestimmtes politisches Thema zu konzentrieren. Sehen Sie sich die Videos an. Diskutieren Sie:  Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesen Videos und Videos von Mainstream-Influencer: innen, die die Konsumkultur promoten und Waren bewerben?  Wie beurteilen Sie sozialistische Influencer: innen und ihre Inhalte?  Welche Rolle sollten soziale Medien und Influencer: innen in Protestbewegungen spielen? <?page no="263"?> Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation auf Twitter: Politische Ökonomie, digitale Demokratie und die (digitale) Öffentlichkeit Schlüsselfragen  Wie sieht Twitters politische Ökonomie aus?  Was ist die Öffentlichkeit?  Trägt Twitter zur Schaffung einer Öffentlichkeit bei?  Wie hat sich Twitter nach dem Kauf durch Elon Musk im Jahr 2022 verändert?  Was wird an Twitter kritisiert?  Was kann man an Twitter kritisieren?  Was sind die politisch-ökonomischen Grenzen von Twitter?  Ist Twitter emanzipatorisch? Wo liegen die Grenzen der politischen Kommunikation auf Twitter?  Wie haben soziale Bewegungen wie der Arabische Frühling, Occupy und #MeToo Twitter genutzt? Schlüsselkonzepte  Öffentlichkeit  Jürgen Habermas’ Konzept der Öffentlichkeit  Politische Kommunikation  Öffentlichkeit als immanente Kritik  Privatsphäre  Kommunikativer Kapitalismus  Sichtbarkeit auf Twitter  Elon Musk  Kolonialisierung der Lebenswelt und der Öffentlichkeit  Refeudalisierung der Öffentlichkeit  Pseudo-Öffentlichkeit  Fabrizierte Öffentlichkeit  Revolutionen in den sozialen Medien  Soziale Medien und soziale Bewegungen <?page no="264"?> 8.1 Überblick Ein Blog ist eine Website, auf der periodisch veröffentlichte Beiträge in umgekehrter chronologischer Reihenfolge veröffentlicht werden, sodass die neuesten Beiträge zuerst angezeigt werden. Ein Mikroblog ist eine Weiterentwicklung des Blog-Konzepts: Man teilt kurze Nachrichten mit der Öffentlichkeit und jede: r Nutzer: in hat eine Kontaktliste mit Personen, die diese Nachrichten verfolgen. Microblogging ist wie der Online-Versand von SMS an eine große Anzahl von Personen. Ein Mikroblog ist „ein Internet-basierter Dienst, in dem: (1) Nutzer: innen ein öffentliches Profil haben, in dem sie kurze öffentliche Nachrichten/ Aktualisierungen senden [...] (2) die Nachrichten öffentlich zusammengefasst werden; und (3) die Nutzer: innen entscheiden können, wessen Nachrichten sie empfangen möchten, aber nicht unbedingt, wer ihre Nachrichten empfangen kann“ (Murthy 2013, 10). Die beiden beliebtesten Mikroblogs der Welt sind Twitter und Weibo. Die chinesische Firma Sina ist Eigentümerin von Weibo, das 2009 gegründet wurde. Twitter wurde 2006 gegründet. Sie ist im Besitz von Twitter Inc., einem von Jack Dorsey gegründeten Unternehmen mit Sitz in San Francisco. 2023 wurde das Unternehmen von Elon Musk auf X Corp. umbenannt. Lotan et al. (2011) analysierten 168.663 Tweets aus der tunesischen und 230.270 aus der ägyptischen Revolution in den Jahren 2010 und 2011. Sie fanden heraus, dass Journalist: innen und Aktivist: innen die Hauptquellen für Retweets waren und dass Blogger: innen und Aktivist: innen die aktivsten Retweeter waren. Es ist jedoch schwer einzusehen, warum die vorgelegten Beweise die Behauptung der Autoren unterstützen sollten, dass „die Revolutionen in der Tat getwittert wurden“ (1401). Die Analyse sagt nichts darüber aus, welche Rolle diese Tweets bei der Mobilisierung von Aktivist: innen auf der Straße spielten und wie relevant Twitter für Straßenaktivist: innen war. Im Gegensatz zu Umfragen und Interviews mit ägyptischen Aktivist: innen kann die Analyse von Tweets keine schlüssigen Beweise für die Rolle der sozialen Medien in der Revolution liefern. Im März 2011 nutzten nur 0,00158 Prozent der ägyptischen Bevölkerung Twitter (Murthy 2013, 107). Es ist daher wahrscheinlich, dass „ein großer Teil der Bekanntheit von Twitter im Zusammenhang mit dem ‚arabischen Frühling‘ von Einzelpersonen im Westen durch Tweets und Retweets entstand“ (Murthy 2013, 112), was zwar dazu beigetragen haben mag, „das globale Bewusstsein zu schärfen“ (113), aber nicht als Ursache für eine Revolution angesehen werden kann. Der Anspruch der Twitter-Revolution impliziert, dass Twitter eine neue Öffentlichkeit der politischen Kommunikation darstellt, die emanzipatorische politische Potenziale besitzt. Dieses Kapitel stellt diese Annahmen infrage. Es stellt die Frage: Ist Twitter eine politische Öffentlichkeit? Dieses Kapitel stellt die Frage, wie groß dieses Potenzial ist und wo seine Grenzen liegen. Darüber hinaus untersucht das Kapitel die politische Ökonomie Twitters. Eine weitere Frage, die sie sich stellt, ist daher: Wie sieht die politische Ökonomie von Twitter aus? Abschnitt 8.2 analysiert die politische Ökonomie von Twitter. Konzepte der Öffentlichkeit sind stark mit der Theorie von Jürgen Habermas verbunden (vgl. 264 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation <?page no="265"?> 8.2 Twitters Politische Ökonomie 265 Calhoun 1992; Roberts & Crossley 2004a). Die Auseinandersetzung mit der gestellten Forschungsfrage erfordert daher eine enge Auseinandersetzung mit Habermas‘ Konzept der Öffentlichkeit und eine Diskussion ihres Verhältnisses zum Internet (Abschnitt 8.3). Abschnitt 8.4 enthält eine Analyse der Rolle von Twitter und sozialer Medien in der politischen Kommunikation der Öffentlichkeit. In Abschnitt 8.5 wird schroffe Kommunikation als die dunkle Seite von Twitter diskutiert. Abschnitt 8.6 verbindet diese Ergebnisse mit der Theorie von Habermas. In Abschnitt 8.7 werden einige Schlussfolgerungen gezogen. 8.2 Twitters Politische Ökonomie Twitters Nutzungsbedingungen und personalisierte Werbung Twitter wurde im Jahr 2006 von Jack Dorsey, Noah Glass, Biz Stone und Eva Williams gegründet. Es begann als profitorientiertes Unternehmen ohne Kapitalakkumulationsmodell. Zunächst verwendete es keine Werbung. Im September 2009 überarbeitete es seine Nutzungsbedingungen, sodass Werbung und personalisierte Werbung möglich wurden. Werbung wurde jedoch nicht eingesetzt. Im April 2010 kündigte Twitter an, dass Werbung in naher Zukunft eingeführt werden würde (BBC 2010). Die Nutzungsbedingungen von Twitter wurden erheblich länger und komplexer und legten die Eigentumsrechte des Unternehmens in Bezug auf nutzergenerierte Inhalte fest. Im Jahr 2011 trat das Kapitalakkumulationsmodell von Twitter, das auf personalisierter Werbung basiert, voll in Kraft. Kapitalakkumulation auf Twitter Die Werbestrategie von Twitter manipuliert die Auswahl von Twitter-Suchergebnissen, angezeigten Konten und Trends. Nicht die Tweets, Accounts und Trends, die die meiste Aufmerksamkeit erregen, werden angezeigt, sondern Tweets, Accounts und Trends, die von den Werbekunden von Twitter definiert werden, werden bevorzugt. Twitter fördert eine klassenstrukturierte Aufmerksamkeitsökonomie, die wirtschaftlich mächtige Akteure gegenüber alltäglichen Nutzer: innen privilegiert. Wenn Sie ein großes Unternehmen mit einem riesigen Werbebudget sind, dann ist es für Sie einfach, auf Twitter Aufmerksamkeit zu erlangen. Wenn Sie ein: e alltägliche: r Nutzer: in ohne Werbebudget und ohne viel Zeit sind, wird es Ihnen dagegen viel schwerer fallen, Ihre Tweets und Ihre Konten als Trends auf Twitter zu bewerben. Nutzer: innen, die twittern, stellen eine Publikumsware (Smythe 1977, 1981/ 2006) dar, die an Werbetreibende verkauft wird (siehe Kapitel 4 in diesem Buch). Der Unterschied zwischen der Publikumsware in den traditionellen Massenmedien und bei Twitter besteht darin, dass im letzteren Fall die Nutzer: innen auch Produzenten von Inhalten sind; es gibt nutzergenerierte Inhalte, und die Nutzer: innen üben eine permanente kreative Tätigkeit, Kommunikation, Gemeinschaftsbildung und Inhaltsproduktion aus (Fuchs 2010b). Dass die Nutzer: innen bei Twitter aktiver sind als beim Empfang von Fernseh- oder Radioinhalten, liegt an der dezentralen Struktur des Internets, die eine Many-to-Many-Kommunikation ermöglicht. Aufgrund der permanenten Aktivität der Rezipienten und ihres Status als Prosument: innen kann man sagen, dass im Falle des Internets die Publikumsware ein Prosumer-Datenware ist. Die Kategorie der Prosumer-Datenware bedeutet nicht eine Demokratisierung der <?page no="266"?> Medien hin zu einem partizipatorischen oder demokratischen System, sondern die totale Kommodifizierung der menschlichen Kreativität. Twitter-Nutzer: innen arbeiten kostenlos, ohne Bezahlung; sie erzeugen einen Mehrwert, indem sie Tweets und Logdaten erstellen, die als Ware an Werbetreibende verkauft werden, die ihre Werbung dann auf bestimmte Nutzergruppen ausrichten. Damit die Kapitalakkumulation bei Twitter funktionieren kann, ist eine ökonomische Überwachung der Nutzerdaten notwendig (Fuchs 2011a). Die Überwachung von Twitter wird unter die kapitalistische politische Ökonomie subsumiert. Twitter an der Börse Twitter wurde wie viele andere Technologieunternehmen im Silicon Valley zunächst von Venture-Kapital-Firmen wie Institutional Venture Partners, Benchmark Capital, Union Square Ventures, Spark Capital oder Insight Venture Partners unterstützt. Am 7. November 2013 machte Twitter seinen Börsengang (Initial Public Offering) und wurde an der New Yorker Börse registriert. Es wurde ein börsennotiertes Unternehmen. Der anfängliche Aktienkurs betrug 45,10 US-Dollar. Der Aktienkurs von Twitter stieg am ersten Handelstag um 73 Prozent, und der gesamte Börsenwert betrug damit das 24fache der für 2014 prognostizierten Gewinne. Im Februar 2016 war der Aktienkurs von Twitter auf rund 14,5 US-Dollar gefallen. Am 2. Juli 2018 erreichte der Aktienkurs von Twitter ein relativ hohes Niveau von 46,65 US-Dollar und lag damit über dem Wert beim Börsengang des Unternehmens. Am 14. November 2019 war der Wert wieder deutlich gesunken, nämlich auf 28,89 US-Dollar. Der Aktienwert von Twitter schwankte 111 . Nachdem Elon Musk Twitter gekauft hatte und dessen alleiniger Eigentümer wurde, wurde das Unternehmen am 8. November 2022 von der Börse genommen. Tabelle 8.1 gibt einen Überblick über die Entwicklung der Verluste und Gewinne von Twitter. Jahr Profite (US-Dollar) 2011 - 128 Millionen 2012 - 79 Millionen 2013 - 645 Millionen 2014 - 578 Millionen 2015 - 521 Millionen 2016 - 457 Millionen 2017 - 108 Millionen 2018 1,2 Milliarden 2019 1,5 Milliarden 2020 - 1,1 Milliarden 2021 - 0,2 Milliarden Tabelle 8.1: Die Entwicklung der Verluste / Gewinne von Twitter, Datenquelle: Twitter, SEC Filings Formular 10-K, diverse Jahre 111 Datenquelle für Börsenwerte: Yahoo! Finance, http: / / finance.yahoo.com, verschiedene Zugriffstage. 266 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation <?page no="267"?> 8.2 Twitters Politische Ökonomie 267 Seit seiner Gründung hat Twitter Jahr für Jahr Verluste gemacht. Im Jahr 2018 machte es zum ersten Mal Gewinne. Diese Gewinne beliefen sich auf 1,2 Milliarden US-Dollar. Im Geschäftsjahr 2019 stiegen die Gewinne des Unternehmens auf 1,5 Milliarden US- Dollar. Im Jahr 2020 gab es einen großen Verlust von 1,1 Milliarden US-Dollar. Auch in den Jahren 2021 und 2022 hielten die Verluste an. In den Jahren 2014 und 2015 erzielte Twitter 90 Prozent seiner Einnahmen aus der Werbung 112 . Im Jahr 2018 wurden 86 Prozent der Einnahmen von Twitter durch Werbung erzielt 113 , im Jahr 2021 89 Prozent 114 . Wie Facebook und Google ist Twitter eine Werbeagentur, kein Kommunikationsunternehmen. Personalisierte Werbung ist unsicher und risikoreich. Die Geschwindigkeit des Informationsflusses ist bei Twitter extrem hoch, was den Verkauf personalisierter Anzeigen noch schwieriger macht. Nachdem Twitter die Börse verlassen hat, ist das Unternehmen nicht mehr verpflichtet, seine Einnahmen und Profite zu veröffentlichen. Twitter wurde nie so profitabel wie Facebook und Google. Es hat Probleme, Werbung zu verkaufen. Vielleicht ist Werbung ein Modell, das sich nicht für den rasanten Informationsfluss auf Twitter eignet, der viel schneller abläuft als auf Google, YouTube, Facebook und Instagram. Es ist schwierig, auf Twitter Werbungen zu schalten, die die Aufmerksamkeit der Nutzer: innen auf sich ziehen und sie dazu bringen, auf solche Anzeigen zu klicken. Angesichts der mangelnden Profitabilität ist es keine Überraschung, dass Twitter im Oktober 2022 an Elon Musk verkauft wurde. Der Twitter-Kapitalismus von Elon Musk Mit einem Vermögen von 195 Milliarden US-Dollar war Elon Musk im November 2022 der reichste Mensch der Welt 115 . Ende Oktober 2022 kaufte er Twitter für 44 Milliarden US-Dollar. Musk, der vor allem durch das Auto- und Energieunternehmen Tesla sehr reich geworden ist, ist selbst ein begeisterter und exzentrischer Twitter-Nutzer, der im November 2022 über 115 Millionen Follower hatte 116 . Diese Zahl stieg bis Juni 2023 auf über 140 Millionen an und stand im Januar 2024 bei 170 Millionen 117 . Ende 2023 war Musks Vermögen auf mehr als 260 Milliarden US-Dollar angewachsen, und er blieb der reichste Mensch der Welt 118 . Musk hat mehr Aufmerksamkeit als die Twitter-Profile von Popstars wie Justin Bieber, Katy Perry, Rihanna, Taylor Swift und Lady Gaga, Sportstars wie Cristiano Ronaldo und Politiker wie Barack Obama und Narendra Modi 119 . Kapitalistische soziale 112 Datenquelle: Twitter SEC Filings, Formular 8-K, 10. Februar 2016. 113 Datenquelle: Twitter SEC Filings, Formular 10-K, Finanzjahr 2018. 114 Datenquelle: Twitter SEC Filings, Formular 10-K, Finanzjahr 2021. 115 Datenquelle: https: / / www.forbes.com/ real-time-billionaires/ #3037915f3d78, abgerufen am 14. Juni 2023. 116 https: / / twitter.com/ elonmusk, abgerufen am 5. November 2022. 117 https: / / twitter.com/ elonmusk, abgerufen am 14. Juni 2023 & 29. Januar 2024. 118 Datenquelle: https: / / www.forbes.com/ real-time-billionaires/ , abgerufen am 19. September 2023. 119 https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_most-followed_Twitter_accounts, abgerufen am 14. Juni 2023. <?page no="268"?> Medien sind durch eine asymmetrische Aufmerksamkeitsökonomie gekennzeichnet. Sie akkumulieren nicht nur ökonomisches Kapital durch den Verkauf von digitaler Werbung, sondern sind auch Plattformen für die Akkumulation von kulturellem Kapital. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1987) versteht unter kulturellem Kapital die Macht der Reputation, der Anerkennung und der Sichtbarkeit. Wie in der kapitalistischen Kultur sind diese kulturellen Güter auch im kapitalistischen Internet asymmetrisch verteilt. Eine kleine Klasse von Prominenten kontrolliert und zentralisiert die Online-Aufmerksamkeit. Im Fall von Elon Musk treffen ökonomisches und kulturelles Kapital auf Twitter zusammen. Er hat eine ökonomische Kapitalinvestition in eine Internetplattform getätigt, auf der er selbst viel kulturelles Kapital besitzt. Warum hat Elon Musk Twitter gekauft? Die Wirtschaft bestimmt nicht mechanisch Politik und Kultur. Daher kann man nicht davon ausgehen, dass Musk mithilfe von Twitter einfach mehr Geld verdienen will. Multimilliardäre wie Musk, Bill Gates und Jeff Bezos sind so reich, dass sie Investitionen tätigen können, ohne unbedingt direkt das Ziel der Kapitalakkumulation zu verfolgen. Musk sagt über Twitter: „Die wirtschaftlichen Aspekte sind mir völlig egal” (Gilbert 2022). Vielmehr erklärt er, dass Twitter „wichtig für das Funktionieren der Demokratie“ sei und zur „Freiheit in der Welt“ beitrage (Gilbert 2022). Musk will öffentliche Anerkennung und Einfluss. Er genießt es, auf Twitter im Rampenlicht zu stehen. Und er will Twitter so gestalten, wie er es sich vorstellt. Er kauft mit seinem Geld eine Internetplattform, die ein wichtiger Bestandteil der heutigen Kultur und Politik ist. Musk ist sicherlich auch daran interessiert, Twitter profitabler zu machen, weshalb er zwischen November 2022 und Februar 2023 5.500 der 7.500 Twitter-Mitarbeiter: innen entlassen hat (Isidore 2023). Musk führte auch neue Formen der Kapitalakkumulation wie Twitter Blue ein: Die Nutzer: innen zahlen eine monatliche Gebühr. Im Gegenzug erhalten sie ein blaues Häkchen neben ihrem Namen, können ihre Tweets bearbeiten, sehen weniger Werbung, werden in Konversationen und bei der Suche bevorzugt behandelt, können Tweets mit bis zu 10.000 Zeichen schreiben, ihre Beiträge formatie-ren, längere Videos hochladen usw. 120 . Twitter Blue kolonialisiert Twitter als Öffentlichkeit. Es privilegiert diejenigen, die zahlen, indem es ihnen mehr Sichtbarkeit, mehr Kommunikationsmacht und zusätzliche Kommunikationskapazitäten verschafft. Unter Musk ist Twitter zu einem ungleicheren und ungerechteren Kommunikationsraum geworden, in dem die Rechte der Nutzer: innen nach dem Prinzip des Geldes ausgerichtet und differenziert werden. Die Wirtschaft von Twitter zu verändern, ist sicherlich eines von Musks Zielen, aber wahrscheinlich nicht seine Hauptmotivation. Sein Verständnis von Demokratie ist ein libertäres. Er möchte Twitter zu einem Medium des Libertarismus machen. Musks Motivation ist also auch eine politische und ideologische. Der Libertarismus ist charakteristisch für das, was Richard Barbrook und Andy Cameron (1995/ 2001) die „Kalifornische Ideologie“ genannt haben. Sie ist die vorherrschende Weltanschauung im Silicon Valley und in der Technologiebranche. Sie ist gekennzeichnet durch Markt- 120 https: / / help.twitter.com/ en/ using-twitter/ twitter-blue, abgerufen am 14. Juni 2023. 268 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation <?page no="269"?> 8.2 Twitters Politische Ökonomie 269 fundamentalismus und die Ablehnung von staatlicher Regulierung und Vorschriften im Allgemeinen. Eine typische Manifestation der kalifornischen Ideologie ist die „Declaration of the Independence of Cyberspace“, in der der ehemalige Songschreiber der Band Grateful Dead John Perry Barlow (1996) die „Regierungen der industrialisierten Welt“ auffordert, sich aus dem Internet herauszuhalten. Einerseits ist es sicher richtig, dass staatliche Überwachung und Zensur des Internets, wie das Beispiel China zeigt, die Demokratie zerstört. Andererseits ist aber auch die kapitalistische Kolonialisierung der Kommunikationsmittel eine Gefahr für die demokratische Öffentlichkeit. Und genau diese Dimension lässt der Libertarismus aus, sowohl in Barlows Unabhängigkeitserklärung als auch in Musks Weltbild. Was bedeutet „Meinungsfreiheit“ für Elon Musk? Musk versteht unter „Freiheit“ die ungehinderte Kommunikation von allen über alles. Aber es gibt auch eine Menge Faschismus und Hass im Internet. Die Tatsache, dass Plattformen wie YouTube, Twitter und Facebook seit dem Cambridge Analytica-Skandal und dem Aufkommen eines neuen Faschismus, von Verschwörungstheorien, Versuchen, die Demokratie durch Fake News zu untergraben usw. von demokratischen Kräften zunehmend unter Druck gesetzt werden, problematische Inhalte und Profile zu entfernen, missfällt Musk. Es widerspricht seiner libertären Ideologie, in der jeder uneingeschränkt sagen darf, was er will, und jeder uneingeschränkt so reich sein darf, wie er will. Musk bezeichnet sich selbst als „Absolutist der Redefreiheit“ 121 . Er wandte sich dagegen, dass das von seinem Raumfahrtunternehmen betriebene Satellitennetz Starlink, das den Internetzugang organisiert, den Zugang zu russischen Nachrichtensendern blockiert. Aber auch in der Ethik von Immanuel Kant, einem der Urväter des Liberalismus, bedeutet die Goldene Regel des Kategorischen Imperativs nicht einfach absolute Freiheit, sondern eine Freiheit, die anderen nicht schadet, weil man selbst nicht geschädigt werden will. Mit Toleranz, Vielfalt und Meinungsfreiheit ist es für viele Konzerne schnell vorbei, wenn ihre Profite in Frage gestellt werden. Medien, die zuvor kritisch über Tesla berichtet hatten, wie das ZDF, erhielten keine Akkreditierung für die Eröffnung der Gigafactory Berlin-Brandenburg im März 2022 (Posselt 2022). Im Weltbild einiger Konzerne gibt es Meinungsfreiheit nur für diejenigen, die die Freiheit der absoluten Kapitalakkumulation nicht in Frage stellen. Trump 2.0 Rechtsgerichtete Demagogen feierten die Übernahme von Twitter durch Musk. Donald Trump, der fast 90 Millionen Follower auf Twitter hatte und nach den Ereignissen vom 6. Januar 2021 suspendiert wurde, begrüßte den Verkauf: „Ich bin sehr froh, dass Twitter jetzt in vernünftigen Händen ist und nicht mehr von linksradikalen Spinnern und Verrückten geführt wird, die unser Land wirklich hassen“ (Feiner 2022). Seit seinem Twitter-Verbot war es in der Öffentlichkeit zunächst eher still um Trump gewor- 121 https: / / twitter.com/ elonmusk/ status/ 1499976967105433600? lang=en, abgerufen am 14. Juni 2023. <?page no="270"?> 270 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation den. Er zog sich mit seinen Äußerungen auf seine Website und seine eigene Internetplattform Truth Social zurück, die als Mesokosmos fungiert, d. h. als ein Raum, der keine breite Resonanz in der breiten Öffentlichkeit erfährt. Truth Social ist ein Online- Ghetto von Hardcore-Trump-Anhängern, dessen Hauptziel es ist, Spenden für Trump zu sammeln. Twitter hingegen verfügt über ein großes weltweites Publikum, so dass Trump dort nicht nur viel mehr Menschen erreichte, sondern auch so ernst genommen wurde, dass Trumps Tweets regelmäßig zu Schlagzeilen in der New York Times , der Washington Post und auf CNN führten, was seine Präsenz in den Medien und in der Öffentlichkeit weiter erhöhte. Im November 2022 führte Musk auf seinem Twitter-Account eine Umfrage durch, in der er fragte, ob Trump wieder auf Twitter zugelassen werden sollte (siehe https: / / twitter.com/ elonmusk/ status/ 1593767953706921985). Es gab etwas mehr als 15 Millionen Stimmen. 51,8 Prozent stimmten dafür, 48,2 Prozent dagegen. Deshalb hat Musk Trumps Twitter-Account @realdonaldtrump wieder freigeschaltet. Musk ermöglichte Trump 2.0 auf Twitter. Musk und die Gewerkschaften Gewerkschaften haben es in der Softwarebranche schwer, wo die kalifornische Ideologie vorherrscht und Software-Ingenieure und -Ingenieurinnen eine digitale Arbeitsaristokratie des 21. Jahrhunderts bilden, die hoch bezahlt ist und deren Mitglieder sich oft nicht als Arbeiter: innen sehen. Musks Entlassung von Tausenden von Twitter- Mitarbeitern ist ein guter Grund, den Klassenstatus von Software-Ingenieuren zu überdenken und unabhängige globale Gewerkschaften der digitalen Arbeiter: innen zu gründen. Gewerkschaftsfeindlichkeit ist Teil der libertären Ideologie und ihrer Gegnerschaft zu politischen Institutionen. 2017 wurde Richard Ortiz, der sich für die Organisierung einer Gewerkschaft in einem Tesla-Werk in Kalifornien einsetzte, entlassen. Im Jahr 2021 entschied ein Arbeitsgericht, dass die Entlassung rechtswidrig war (Scheiber 2021). Musk hat wiederholt seine Ablehnung von Gewerkschaften zum Ausdruck gebracht. So twitterte er beispielsweise: „Das Ausmaß, in dem die Gewerkschaften die Dems [Demokratische Partei] kontrollieren, ist wahnsinnig. Es ist, als würde man einer Sockenpuppe beim Sprechen zusehen, aber die Hand in der Socke ist viel zu offensichtlich! “ 122 . 2022 kündigte Musk an, dass er die Republikaner wählen werde, weil seiner Meinung nach „die Demokratische Partei offenkundig von den Gewerkschaften kontrolliert wird“ und Joe Biden „zu sehr von den Gewerkschaften vereinnahmt ist“. 123 . Twitter-Mitbegründer Jack Dorsey argumentierte im April 2022, dass Twitter ein „öffentliches Gut“ sein sollte, das nicht in Privatbesitz ist. „Im Prinzip glaube ich nicht, dass jemand Twitter besitzen oder leiten sollte. [...] Für das Problem, dass es ein Unternehmen ist, ist Elon jedoch die einzige Lösung, der ich vertraue. Ich vertraue auf seine Mission, das Licht des Bewusstseins zu erweitern“. 124 . Die Entlassung der Hälfte der Twitter-Mitarbeiter: innen weist in die entgegengesetzte Richtung von Fortschritt und Weisheit. 122 https: / / twitter.com/ elonmusk/ status/ 1529977466940542977, abgerufen am 14. Juni 2023. 123 https: / / www.youtube.com/ watch? v=_SXh_1Ks2VE, abgerufen am 14. Juni 2023. 124 https: / / twitter.com/ jack/ status/ 1518772756069773313, abgerufen am 14. Juni 2023. <?page no="271"?> 8.2 Twitters Politische Ökonomie 271 Little und Winch (2021) bezeichnen Musk, Bezos, Zuckerberg, Thiel, Page und Brin als die neuen Patriarchen des digitalen Kapitalismus. Einige der Merkmale dieser Patriarchen sind, dass sie sich selbst als junge Genies präsentieren und auch von unkritischen Medien und Beobachtern als geniale Erfinder dargestellt werden, deren Technologien eine bessere Welt schaffen werden; dass sie sich wie Berühmtheiten fühlen und verhalten; dass sie zu den reichsten Menschen der Welt gehören; dass sie ein männliches Freundschaftsnetzwerk bilden, das ein „sich gegenseitig verstärkendes patriarchalisches System“ (46) und „ein rassifiziertes patriarchalisches Netzwerk“ (216) ist; dass sie gewerkschaftliche Organisierung und staatliche Regulierung der Wirtschaft ablehnen. Digitale Patriarchen stellen ihre Technologien als bahnbrechend für eine bessere Gesellschaft dar und neigen dazu, überwiegend weiße und asiatische Männer einzustellen und zu fördern. „Musk ist fest in den etablierten Hollywood- Promi-Komplex eingebunden“ (71). Die Patriarchen des digitalen Kapitalismus versuchen, „jede Art von Anfechtung der Autorität durch Gewerkschaften, Aktionäre oder staatliche Aufsicht zu unterdrücken“ (217). Musks Hass auf Gewerkschaften ist charakteristisch für den patriarchalen und neoliberalen Charakter der Ideologie des digitalen Kapitalismus. Er projiziert sein Selbstverständnis als fleißiges Genie auf die Belegschaft, leugnet die Existenz von Klasse und Ausbeutung und sieht Gewerkschaften als Gegner von Erfindungen und individueller Anstrengung. Dass er Twitter, eines der wichtigsten öffentlichen Kommunikationsmittel der Welt, gekauft hat, ist keine Überraschung, sondern ein narzisstisches Mittel, um Musks Status als Tech-Promi zu verstärken. Musks Selbstverherrlichung auf Twitter und seine Erhöhung der Sichtbarkeit durch die Änderung der Algorithmen der Plattform zu seinen Gunsten ist Ausdruck einer CEO-Kulturindustrie, in der, wie Jo Littler (2007) beobachtet, prominente CEOs „Unterhaltung und Showbusiness [...] zu ihrer ureigenen Definition machen“ (233) und sich der „Boulevardkultur“ bedienen, um „Prominenz in einer Gesellschaft zu erlangen, die sich heute gerne als leistungsorientiert sieht“ (238). Twitters Profit-Krise und politische Ökonomie Personalisierte, zielgerichtete Werbung ist das dominierende Kapitalakkumulationsmodell der sozialen Medien. Google und Facebook kontrollieren zusammen einen großen Teil der weltweiten Einnahmen aus der digitalen Werbung. Und digitale Werbung ist die bei weitem umsatzstärkste Form der Werbung. Sie ist einer der Faktoren, die zur Krise der werbefinanzierten Nachrichtenmedien beigetragen haben. Für Twitter hat dieses Modell der digitalen Werbung noch nie gut funktioniert. Im Gegensatz zu YouTube, Facebook und Instagram, wo die Aufmerksamkeitsspanne höher ist als bei Twitter, hat der Mikroblog Schwierigkeiten, Werbung zu verkaufen. Die Verarbeitung von kurzen Tweets in hoher Geschwindigkeit macht es schwierig, die Aufmerksamkeit der Nutzer: innen auf Werbung zu lenken. Twitter wurde im Jahr 2006 gegründet. Das Unternehmen machte bis 2018 nur Verluste. In den Jahren 2018 und 2019 erwirtschaftete es jeweils über eine Milliarde US-Dollar Profit. In den Jahren 2020, 2021 und 2022 wurden jedoch wieder nur Verluste gemacht (siehe Tabelle 8.1). Musk hat also ein verlustbringendes Unternehmen gekauft. Die Tatsache, dass Twitter bisher kaum Kapital akkumuliert hat, erklärt auch, warum die ehemaligen Chefs des Unternehmens so beharrlich auf den Verkauf drängten und klagten, als Musk Zweifel am Kauf äußerte. Musk hat die neun Vorstandsmitglieder von Twitter nach der Übernahme entlassen und sich selbst zum alleinigen Chef des Unternehmens gemacht. Im Juni 2023 ernannte er Linda Yaccarino zur Generaldirektorin (CEO) des Unternehmens. <?page no="272"?> 272 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation Musk fungierte weiterhin als Eigentümer, technischer Direktor (CTO) und Vorstandsvorsitzender. Wenn Musk Twitter profitabel machen will, muss er dessen Funktionsweise oder Kapitalakkumulationsmodell relativ radikal ändern. Es könnte zum Beispiel sein, dass sich die Funktionen von Twitter ändern, indem eine Videofunktion geschaffen wird, die die Aufmerksamkeit der Nutzer: innen länger aufrechterhält. Dies könnte dann genutzt werden, um mehr Werbung zu verkaufen. Oder es könnte eine Alternative zum Werbemodell eingeführt werden, bei dem die Nutzer: innen für den Zugang zu bestimmten Diensten bezahlen müssen. Wie genau die Zukunft der politischen Ökonomie von Twitter aussehen wird, ist unklar und unvorhersehbar. Im Frühjahr 2023 änderte Musk den Firmennamen von Twitter Inc. in X Corp. Im Juli 2023 benannte er Twitter in X um, indem er das Firmenlogo von einem blauen Vogel in ein „X“ umwandelte. Er begann auch, die URL x.com zu verwenden. Die zugrundeliegende Idee ist, Twitter von einer reinen Kommunikationsplattform in eine Mehrzweck-Internetplattform umzuwandeln, die sich auf Kommunikation, den Austausch von Inhalten, elektronische Zahlungen, Bankgeschäfte, Einkäufe usw. konzentriert - eine so genannte „Alles-App“ („everything app“) wie WeChat. Linda Yaccarino, die im Juni 2023 zum CEO von X ernannt wurde, twitterte: X „[is] the platform that can deliver, well .everything“ 125 . Musk ist kein klassischer Medienbaron wie Rupert Murdoch, der mit Medieninhalten reich wurde, und kein digitaler Kapitalist wie Steve Jobs und Bill Gates, die mit Hardware bzw. Software reich wurden. Musk war in den 1990er Jahren in der Internetbranche aktiv. Unter Anderem gründete er den Online-Zahlungsdienst X.com, der durch eine Fusion mit Peter Thiels Confinity zum Zahlungsdienst Paypal wurde, an dem Musk bis zum Verkauf an eBay im Jahr 2002 etwa 12 Prozent der Anteile hielt. Das große Geld machte Musk dann mit Tesla, dem 2003 gegründeten Autohersteller, dessen CEO und Haupteigentümer Musk ist. Musks Kauf von Twitter bedeutet, dass industrielles Kapital eingesetzt wird, um digitales Kapital aufzukaufen. Während Tesla selbstfahrende Autos herstellt, die keinen direkten Einfluss auf die öffentliche Kommunikation haben, ist Twitter eine globale Öffentlichkeit, in der Menschen kommunizieren. Die Tatsache, dass Milliardäre Kommunikationsplattformen kaufen können, die eine wichtige Rolle in der öffentlichen Kommunikation und damit in der Politik spielen, ist nicht neu, aber dennoch äußerst besorgniserregend und eine Gefahr für die Demokratie, da es einzelnen Reichen wie Musk ermöglicht, zu bestimmen, unter welchen Bedingungen Menschen in der Öffentlichkeit kommunizieren können. Jürgen Habermas (1990) spricht von einer Feudalisierung der Öffentlichkeit, wenn öffentliche Kommunikationsräume durch die Logik des Geldes oder der Macht eingeschränkt werden. Elon Musk hat Twitter feudalisiert. Er hat sich wie ein Feudalherr und Diktator verhalten, der als Besitzer einer Plattform mit einem Kommunikationsmittel, das in der heutigen Politik eine wichtige Rolle spielt, macht, was er will. Ein feudalisiertes Twitter droht die Demokratie zu untergraben. Die wirtschaftliche und politische Logik von Elon Musk hat Twitter kolonialisiert und seine Logik als potenzielle öffentliche Sphäre unterminiert. Twitter ist inegalitärer geworden und zu einem Ort, der Hatespeech toleriert. 125 https: / / twitter.com/ lindayacc/ status/ 1683214311957594113, abgerufen am 25. Juli 2023. <?page no="273"?> 8.3 Habermas’ Konzept der Öffentlichkeit 273 8.3 Habermas’ Konzept der Öffentlichkeit Was ist Öffentlichkeit? Jürgen Habermas ist ein Vertreter der deutschen kritischen Theorie, der in der Tradition der Frankfurter Schule steht. Er begründete eine kritische Theorie der Öffentlichkeit und des kommunikativen Handelns. Habermas definiert den Begriff des Öffentlichen: „Öffentlich nennen wir Veranstaltungen, wenn sie, im Gegensatz zu geschlossenen Gesellschaften, allen zugänglich sind“ (Habermas 1990, 54). Habermas (1990, 59) argumentiert, dass der Begriff der Öffentlichkeit mit dem Begriff des Gemeinsamen verbunden ist, der mit Ideen wie Gemeinschaft, der gemeinsamen Nutzung von Ressourcen wie einem Marktplatz oder einem Brunnen und genossenschaftlicher Organisation zu tun. Habermas nennt einige wichtige Dimensionen der Öffentlichkeit (1989b, 136; 1990, 86):  Bildung der öffentlichen Meinung;  alle Bürger: innen haben Zugang;  Debatte in uneingeschränkter Form (Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und der Veröffentlichung von Meinungen) über Angelegenheiten von allgemeinem Interesse.  Debatte über die allgemeinen Regeln für gesellschaftliche und soziale Beziehungen. Die Öffentlichkeit ist ein Raum und ein Prozess, der jedem zugänglich ist, in dem Menschen einander begegnen, um sich über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu informieren, unterschiedliche politische Positionen zu diesen Angelegenheiten einzunehmen, ihre Ansichten öffentlich zu äußern und diese Angelegenheiten des öffentlichen Interesses zu diskutieren. Habermas' ursprüngliches Konzept der Öffentlichkeit ist von Marx‘ politischer Theorie beeinflusst worden (Habermas 1990, 201-209). In seiner Diskussion der Relevanz von Marx für das Konzept der Öffentlichkeit betont Habermas einige Punkte:  Für die Teilnahme an der Öffentlichkeit sind Privateigentum und Fähigkeiten erforderlich. Lohnarbeiter: innen sind von diesen Ressourcen ausgeschlossen.  Die bürgerliche Klasse fördert Partikularinteressen (ihre eigenen Profitinteressen), nicht die allgemeinen Interessen der Gesellschaft.  Beim Nachdenken über Alternativen zum bürgerlichen Staat war Marx von der Pariser Kommune (März-Mai 1871) beeinflusst, die er als eine spezifische Art von Öffentlichkeit beschrieb. Gelegentlich wird argumentiert, dass die Öffentlichkeit ein auf den Westen zentriertes Konzept ist, das die westlichen Vorstellungen von liberaler repräsentativer Demokratie idealisiert und andere Teile der Welt außer Acht lässt. Öffentliche Räume und Öffentlichkeiten sind aber nicht spezifisch für den Westen. Das öffentliche Teehaus ist in vielen Teilen der Welt eine alte kulturelle Praxis und ein Raum, wie zum Beispiel in China, Japan, Iran, der Türkei und im Vereinigten Königreich. Di Wang (2008) vergleicht das chinesische Teehaus des frühen zwanzigsten Jahrhunderts mit den britischen Teehäusern. Es handelt sich um einen gemeinsamen Raum, den die Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zu unterschiedlichen Zwecken besuchen. Das chine- <?page no="274"?> 274 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation auf Twitter: Politische Ökonomie, digitale Demokratie und die (digitale) Öffentlichkeit sische Wort für Teehaus lautet ( cháguăn ). Chengdu ( 成都 ) ist die Hauptstadt der südwestchinesischen Provinz Sichuan ( 四川 ). In seinem städtischen Kern hat diese Stadt mehr als 11 Millionen Einwohner. „Die Teehäuser in Chengdu waren jedoch für ihre Mehrklassenorientierung bekannt. Eine der ‚Tugenden‘ der Teehäuser in Chengdu war ihre relative Gleichheit“ (Wang 2008, 421). Frauen wurden zunächst ausgeschlossen, aber 1930 vollständig akzeptiert. Diese Teehäuser waren nicht nur kulturelle Räume, sondern auch politische Treffpunkte, an denen politische Debatten stattfanden und politische Theaterstücke aufgeführt wurden, die nicht nur Bürger: innen, sondern auch Regierungsspione anzogen. Wang (2008) erörtert die Rolle der Teehäuser in Chengdu während der Eisenbahnschutzbewegung von 1911. Öffentliche Versammlungsorte sind Sphären des zivilgesellschaftlichen Engagements, die sich in politische Räume der Kommunikation und des Protests verwandeln können. Das Beispiel zeigt, dass Öffentlichkeiten etwas Universales sind, das nicht auf den Westen beschränkt ist. Die Öffentlichkeit ist zugleich Prozess und Raum: „In Augenblicken der Mobilisierung beginnen die Strukturen, auf die sich die Autorität eines stellungnehmenden Publikums eigentlich stützt, zu vibrieren. Dann verändern sich die Kräfteverhältnisse zwischen Zivilgesellschaft und politischem System” (Habermas 1994, 379). Juha Kovisto & Esa Valiverronen (1996) sehen die Öffentlichkeit nicht als Domäne, sondern als Prozess gegenhegemonialer Kämpfe. Eine der Situationen, in denen Öffentlichkeit entsteht, ist jene, wo Menschen für eine bessere Gesellschaft kämpfen. Ihr Kampf ist ein Prozess der Konstituierung von Öffentlichkeit, der Räume des Widerstands in der Öffentlichkeit schafft. Gesellschaftskämpfe sind Prozesse, in denen die Menschen eine Öffentlichkeit schaffen, die ein räumlicher Bereich, ein öffentlicher sozialer Raum und ein Prozess des politischen Widerstands ist. Die Öffentlichkeit ist gleichzeitig Prozess und Raum. Eine soziale Organisation wird zu einer Öffentlichkeit, wenn Menschen politisch gemeinsam für ein gemeinsames Ziel eintreten, das die partizipative Demokratie anstelle von Wirtschafts- und Staatsmacht fördert, und wenn sie Basisorganisationen und/ oder die Besetzung oder Schaffung von öffentlichem Raum als politische Strategie einsetzen. Neonazis bilden keine Öffentlichkeit, weil ihre Organisationsstrukturen und Ziele autoritär sind und im Gegensatz zur partizipativen Demokratie stehen. Die verschiedenen Occupy-Bewegungen sind Bewegungen, in denen Protest und Räume der Besatzung zusammenlaufen. Sie haben Öffentlichkeiten der politischen Kommunikation geschaffen, die sie in selbstverwalteter Weise kontrolliert haben: den Tahrir-Platz in Kairo, Ägypten; den Syntagma-Platz in Athen, Griechenland; Puerta del Sol in Madrid, Spanien; Plaça Catalunya in Barcelona, Spanien; Zuccotti-Park in New York City; St. Paul's Cathedral's und Finsbury-Square in London; Place de la République in Paris. Diese Schaffung von Öffentlichkeiten fand nicht nur im Westen statt, sondern in vielen Teilen der Welt in Zeiten der globalen kapitalistischen und sozialen Krise. Im Jahr 2011 gab es Revolutionen in Tunesien und Ägypten und im Jemen sowie große Proteste in vielen anderen Ländern. Gemeinsame Aspekte dieser Proteste waren, dass viele von ihnen die Taktik anwandten, den Raum öffentlich und politisch zu machen, und dass diese Proteste in einer gemeinsamen Krise der Gesellschaft stattfanden. Widerstand ist so alt wie die Klassengesellschaften, und so haben sich im Laufe der Geschichte der Klassengesellschaften immer wieder Öffentlich- <?page no="275"?> 8.3 Habermas’ Konzept der Öffentlichkeit 275 keiten gebildet, die Widerstand leisten. In Hongkong besetzte die Regenschirm-Bewegung 2014 verschiedene Gebiete wie Mong Kong, Admirality, Causeway Bay und Tsim Sha Tsui. Die Bewegung forderte Wahlen ohne eine Vorauswahl und Vorauswahl der Kandidaten durch den Nationalen Volkskongress. 2019 kehrte die Protestbewegung in Hongkong als Reaktion auf ein Auslieferungsgesetz zurück. Die Demonstrant: innen forderten demokratische Reformen. Im Gegensatz zu 2014 besetzten die Proteste 2019 keine öffentlichen Räume, sondern wurden in der Form von Protestmärschen organisiert. Die Öffentlichkeit: Politische Kommunikation und politische Ökonomie Es ist wichtig zu sehen, dass Habermas beide Aspekte (a) der politischen Kommunikation und (b) der politischen Ökonomie als konstitutiv für die Öffentlichkeit erachtet. So betont er (a), dass die eigentliche Aufgabe der Öffentlichkeit darin besteht, „einer öffentlich räsonierenden Gesellschaft“ (Habermas 1990, 116) Raum zu bieten. Aber Habermas weist auch darauf hin, dass (b) die Öffentlichkeit eine Frage der Kontrolle von Ressourcen (Eigentum, intellektuelle Fähigkeiten) durch ihre Mitglieder ist: „Aber selbst unter ideal günstigen Kommunikationsbedingungen wäre von ökonomisch unselbständigen Massen ein Beitrag zur spontanen Meinungs- und Willensbildung nur in dem Grade zu erwarten gewesen, wie sie ein Äquivalent zur gesellschaftlichen Unabhängigkeit der Privateigentümer erworben hätten” (Habermas 1990, 25). Habermas betont, dass das Werk von Marx besonders für die zweite Dimension der Öffentlichkeit relevant ist. Marx’ Kritik „zerstört alle Fiktionen, auf die sich die Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit beruft. Offenbar fehlen zunächst einmal die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Gleichheit der Chance, dass jedermann mit Tüchtigkeit und »Glück« den Status eines Eigentümers und damit die Qualifikationen eines zur Öffentlichkeit zugelassenen Privatmannes, Besitz und Bildung, erwerben kann. Die Öffentlichkeit, der Marx sich konfrontiert sieht, widerspricht ihrem eigenen Prinzip allgemeiner Zugänglichkeit” (Habermas 1990, 203). Habermas: Keine Idealisierung der Öffentlichkeit, Öffentlichkeit als Konzept der immanenten Kritik Es wird öfters behauptet, dass Habermas die bürgerliche Öffentlichkeit idealisiere, in der Privilegierte und Reiche öffentliche Debatten dominieren. Habermas möchte die bürgerliche Öffentlichkeit nicht idealisieren, sondern wendet eine elegante dialektische Logik an, um zu zeigen, dass die bürgerlichen Ideale und Werte an der Existenz von Stratifikation und Klasse ihre eigenen Grenzen finden. Ausgehend von Marx‘ Kritik der Politischen Ökonomie (Kritische Analyse des Klassencharakters der Öffentlichkeit) und Horkheimer (Ideologiekritik: manipulierte Öffentlichkeit) zeigt Habermas, wie die eigentlichen Prinzipien der Öffentlichkeit stilisierte Prinzipien sind, die in der kapitalistischen Gesellschaft aufgrund des ausschließenden Charakters der Öffentlichkeit und der Manipulation der Öffentlichkeit durch partikularistische Klasseninteressen nicht verwirklicht werden. Habermas' Theorie der Öffentlichkeit ist eine ideologiekritische Studie in der Tradition von Adornos (1951/ 2003) Methode der immanenten Kritik, die die Ideale der Öf- <?page no="276"?> 276 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation auf Twitter: Politische Ökonomie, digitale Demokratie und die (digitale) Öffentlichkeit fentlichkeit mit ihrer kapitalistischen Realität konfrontiert und damit ihren ideologischen Charakter aufdeckt. Daraus folgt, dass eine wahre Öffentlichkeit nur in einer partizipatorischen Gesellschaft existieren kann. Die liberale Ideologie postuliert individuelle Freiheiten (der Rede, Meinung, Vereinigung, Versammlung) als universelle Rechte, aber der partikularistische und geschichtete Klassencharakter des Kapitalismus untergräbt diese universellen Rechte und schafft Ungleichheit und damit ungleichen Zugang zur Öffentlichkeit. Es gibt insbesondere zwei immanente Beschränkungen der bürgerlichen Öffentlichkeit, die Habermas diskutiert:  Die Limitierung der Rede- und Meinungsfreiheit: Die Individuen haben nicht im selben Ausmaß Zugang zu Bildung und materiellen Ressourcen, die die Beteiligung an der Öffentlichkeit unterstützen (Habermas 1990, 331)  Die Limitierung der Vereins- und Versammlungsfreiheit: Große politische und wirtschaftliche Organisationen halten ein „Oligopol der publizistisch effektiven und politisch relevanten Versammlungs- und Vereinsbildung“ (Habermas 1990, 333). Die bürgerliche Öffentlichkeit schafft sich ihre eigenen Grenzen und damit ihre eigene immanente Kritik. Eine der Verbindungen zwischen Habermas’ (1990) Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas 1989b) und seiner Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1981a, 1981b) ist die Klärung der Frage, wie Schichtungsprozesse in der modernen Gesellschaft funktionieren. Während Habermas in seinem Frühwerk von der „Refeudalisierung“ der Öffentlichkeit spricht (Habermas 1990, 225, 246, 292, 299, 337), taucht später der Begriff der Kolonialisierung der Lebenswelt auf, der die „Monetarisierung und Bürokratisierung“ umfasst (Habermas 1981b, 474, 477, 480, 566, 593). Nach Habermas (1981b, 477) „instrumentalisieren“ diese beiden Prozesse die Lebenswelt und damit die Öffentlichkeit. In meinem eigenen Ansatz gehe ich davon aus, dass es nicht zwei, sondern drei Prozesse der Machtausübung sind, die die Öffentlichkeit kolonialisieren und refeudalisieren (siehe auch Fuchs 2020a, Fuchs 2023b):  Durch Kommodifizierung und Klassenstrukturierung durchdringt die Logik des Geldes, des Kapitals und der Warenform den Alltag und die Lebenswelten der Menschen.  Durch Herrschaft wird die Gesellschaft so organisiert, dass bestimmte Interessen vorherrschen und einige Personen oder Gruppen oder Einzelpersonen auf Kosten anderer Vorteile erlangen.  Die Ideologisierung stellt Partialinteressen, Ausbeutung und Herrschaft als natürlich und notwendig dar, indem die Realität verzerrt oder manipuliert dargestellt wird. Die Warenform, Herrschaft und Ideologie sind die drei Hauptformen der Schichtung in der kapitalistischen Gesellschaft. Die kritische Theorie der Öffentlichkeit ist eine Kritik der Warenform, eine Kritik der Herrschaft und eine Kritik der Ideologie. Eine kritische Theorie der Öffentlichkeit ist daher eine Kritik der Entfremdung. Was Horkheimer (1967) als instrumentelle Vernunft, Marcuse (1941/ 2006) als technologische Rationalität und Lukács (1923) als Verdinglichung bezeichnet hat, nimmt in der kapitalistischen Gesellschaft drei Formen an: <?page no="277"?> 8.3 Habermas’ Konzept der Öffentlichkeit 277  Kommodifizierung Die Klassenstrukturierung und die Warenform instrumentalisieren die Arbeitskraft der Menschen und ihre Bedürfnisse für den kapitalistischen Konsum.  Herrschaft Politische Herrschaft instrumentalisiert die Fähigkeit der Menschen, politisch zu handeln, so dass sie Entscheidungen nicht selbst treffen, sondern sie dominanten Gruppen überlassen.  Ideologie Die Ideologie versucht, das Bewusstsein der Menschen und ihre subjektiven Interessen zu verbiegen und zu instrumentalisieren. Bei der Diskussion darüber, ob das Internet oder bestimmte Internet-Plattformen eine Öffentlichkeit darstellen, sollte man sowohl die Ebene der politischen Kommunikation als auch die Ebene der politischen Ökonomie in Betracht berücksichtigen. Dies erlaubt es, konkrete Fragen zu stellen, die helfen können, festzustellen, ob man von der Existenz einer Öffentlichkeit sprechen kann: 1) Analyse der politisch-ökonomischen Dimension der vermittelten Kommunikation 1(a) Eigentum Gibt es ein demokratisches Eigentum an der Medienorganisation und den Ressourcen? 1(b) Zensur Gibt es eine politische und/ oder wirtschaftliche und/ oder ideologische Zensur? 1(c) Ausschluss Gibt es eine Überrepräsentation von kapitalistischen Interessen oder von unkritischen und herrschaftsförmigen Standpunkten? Inwieweit sind kritische Standpunkte vertreten? 1(d) Produktion politischer Inhalte Wer kann Inhalte produzieren? Wie sichtbar, relevant und einflussreich sind die produzierten Inhalte? 2) Analyse der politischen Kommunikation 2(a) Universeller Zugang Wie relevant / häufig werden politische Kommunikationsräume oder politische Kommunikationsforen / Features / Inhalte innerhalb allgemeinerer Plattformen genutzt? Wer hat Zugang und wer nutzt diese Räume für politische Kommunikation (Einkommen, Bildungsniveau, Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Herkunft usw.)? Wie relevant ist politische Kommunikation im Verhältnis zu anderen Kommunikationsformen (z.B. als reine Unterhaltung)? Wer hat Zugang und wer nutzt die Räume für die politische Kommunikation (Einkommen, Bildungsstand, Alter, Geschlecht, Ethnizität, Herkunft usw.)? 2(b) Unabhängigkei: Wie unabhängig sind die Räume und Diskussionen von wirtschaftlichen und staatlichen Interessen? 2(c) Qualität der politischen Diskussion <?page no="278"?> 278 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation auf Twitter: Politische Ökonomie, digitale Demokratie und die (digitale) Öffentlichkeit Wie valide (richtig, wahr, wahrhaftig, verständlich), inklusiv, aufmerksam, aufrichtig, reflexiv und inklusiv ist die politische Diskussion? 2(d) (Un-)Verzerrtheit der politischen Kommunikation Gibt es in der politischen Kommunikation Ideologien, die versuchen, Entscheidungen und die Gesellschaft zu Gunsten von Partialinteressen zu verzerren, die das Gemeinwohl untergraben? Wenn ja, welche Rolle spielen Ideologien in der politischen Information und Kommunikation? Wie funktionieren diese Ideologien? Kommerzielle Medien und die Öffentlichkeit Habermas (1990) beschreibt und kritisiert die Kommerzialisierung der Presse seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als die Idee der Gewinnerzielung in den Medien eingeführt wurde und Werbung immer wichtiger wurde. Die Öffentlichkeit der Medien wäre dadurch undemokratisch geworden und ein privatisiertes Reich, das von mächtigen Akteuren statt von den Bürger: innen kontrolliert wird: „Der Kommunikationszusammenhang eines räsonierenden Publikums von Privatleuten ist zerrissen; die aus ihm einst hervorgehende öffentliche Meinung teils in informelle Meinungen von Privatleuten ohne Publikum dekomponiert, teils zu formellen Meinungen der publizistisch wirksamen Institutionen konzentriert. Nicht durch öffentliche Kommunikation, sondern durch die Kommunikation der öffentlich-manifestierten Meinungen wird das Publikum der nichtorganisierten Privatleute im Sog demonstrativ oder manipulativ entfalteter Publizität beansprucht” (Habermas 1990, 356-357). In einer vom Kapitalismus dominierten Medienwelt ist die „durch Massenmedien erzeugte Welt […] Öffentlichkeit nur noch dem Scheine nach“ (Habermas 1990, 261). Habermas stellt kritisch fest, dass in den kapitalistischen Medien Öffentlichkeit nicht von unten, sondern von oben erzeugt wird (Habermas 1990, 270). Man sollte jedoch sehen, dass Habermas‘ Besorgnis über die wirtschaftliche Kolonialisierung der Lebenswelt und die Feudalisierung des Mediensystems seine Kritik an kapitalistischen Medien verdeutlicht und seine Vorliebe für nicht-kapitalistische Medien zeigt. Habermas' Begriff der feudalisierten Öffentlichkeit spiegelt von Marx (1842, 171) formulierte Sorge und Proklamation wider: „ Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein ”. Slavko Splichal (2007) betont, dass die Öffentlichkeit „wegen des ungleichen Zugangs zu Kommunikationskanälen, der ungleichen Verteilung der kommunikativen Kompetenz und der Reduzierung der öffentlichen Debatten auf eine Legitimation dominanter Meinungen, die entweder durch den ‚Geschäftstyp‘ oder den ‚Regierungstyp‘ der Machteliten geschaffen wurden“ (Splichal 2007, 242), nie zustande gekommen ist. Es gibt mehrere Probleme, wie kapitalistische Medien die Öffentlichkeit einschränken:  Medienkonzentration Es besteht die Tendenz, dass Marktwettbewerb zu Konzentration führt. In der kommerziellen Medienlandschaft erzwingt der Mechanismus der Werbeverbreitungsspirale die Medienkonzentration (Furhoff 1973).  Kommerzialisierte und Boulevard-Inhalte Werbefinanzierte Medien konzentrieren sich tendenziell mehr auf Unterhaltung als auf Nachrichten, Dokumentarfilme und Bildungsprogramme, weil diese Inhalte besser geeignet sind, Werbekunden anzuziehen ( Jhally 1987; Smythe 1954; Williams 1990). <?page no="279"?> 8.4 Politische Kommunikation auf Twitter 279  Ungleiche Machtverhältnisse Es gibt Machtunterschiede in den kommerziellen Medien, die Einzelpersonen und Gruppen benachteiligen, die keinen nennenswerten Anteil an Geld, politischem Einfluss und Ansehen haben, und ihre Stimme und Sichtbarkeit entmündigen: a) Privater Medienbesitz gibt Eigentümer: innen die Möglichkeit, auf Medieninhalte Einfluss zu nehmen. b) Die Profit- und Werbelogik macht Medienorganisationen von der Markt- und Warenlogik abhängig und neigt dazu, Stimmen auszuschließen, die diese Logik in Frage stellen. c) Es gibt eine Bildungs- und Wirtschaftskluft, die gebildete und wohlhabende Personen beim Konsum anspruchsvoller und kostspieliger Kultur privilegieren kann. Das Hauptkritik von Habermas (1990, 267-292) in Bezug auf Werbung ist, dass sie das Potenzial hat, die Öffentlichkeit zu entpolitisieren. Dies wäre zum einen auf partikularistische Interessen zurückzuführen: „Die Öffentlichkeit übernimmt Funktionen der Werbung. Je mehr sie als Medium politischer und ökonomischer Beeinflussung eingesetzt werden kann, um so unpolitischer wird sie im Ganzen und dem Schein nach privatisiert” (Habermas 1989c, 267). Auf der anderen Seite würde der Einfluss der wirtschaftlichen Logik auf die Medien zu einer Boulevardisierung führen: „Die Personalisierung von Sachfragen, die Vermischung von Information und Unterhaltung, eine episodische Aufbereitung und die Fragmentierung von Zusammenhängen schießen zu einem Syndrom zusammen, das die Entpolitisierung der öffentlichen Kommunikation fördert” (Habermas 1994, 456). 8.4 Politische Kommunikation auf Twitter Die Stratifizierung der Twitter- und Microblog-Nutzung Der typische Twitter-Nutzer war im Jahr 2013 zwischen 18 und 34 Jahre alt, hatte einen Universitätsabschluss und keine Kinder. Die relative Mehrheit der Nutzer: innen kam aus den USA (20,9 Prozent) 126 . Auch im Jahr 2019 war der typische Twitter-Nutzer jung und ein wohlhabendes, männliches Mitglied der Generation der Jahrtausendwende 127 . Stratifizierungsmuster, die durch Alter, ethnische Zugehörigkeit und Klasse entstehen, prägen die Nutzung von Twitter, Mikroblogs und sozialen Medien im Allgemeinen. Im Jahr 2022 waren laut Statistik 68,1 Prozent der Twitter-Nutzer: innen männlich, die größte Altersgruppe war die der 25bis 34-Jährigen, die 38,5 Prozent aller Nutzer: innen ausmachten 128 . Im Jahr 2023 nutzten nur 12 Prozent der US-Amerikaner: innen, die weniger als 30.000 US-Dollar pro Jahr verdienen, Twitter, während die Nutzungsrate bei denjenigen, die zwischen 30.000 und 49.999 US-Dollar verdienen, bei 29 Prozent und bei den Amerikaner: innen mit einem Einkommen von mehr als 75.000 US- 126 Datenquelle: http: / / www.alexa.com/ siteinfo/ twitter.com, abgerufen am 4. März 2013. 127 Datenquelle: https: / / www.omnicoreagency.com/ twitter-statistics/ , abgerufen am 29. Oktober 2019. 128 Datenquelle: https: / / useqwitter.com/ twitter-users/ , abgerufen am 12. Juni 2023. <?page no="280"?> 280 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation auf Twitter: Politische Ökonomie, digitale Demokratie und die (digitale) Öffentlichkeit Dollar pro Jahr bei 34 Prozent lag 129 . Im Jahr 2021 hatten 33 Prozent der US-amerikanischen Twitter-Nutzer: innen eine Universität besucht, was ein relativ hohes Niveau darstellt 130 . Diese Daten zeigen, dass der/ die durchschnittliche Twitter-Nutzer: in tendenziell jung, männlich, gebildet und relativ wohlhabend ist. Die Beobachtung von Habermas, dass die Redefreiheit und die öffentliche Meinung eingeschränkt sind, wenn Bildung und materielle Ressourcen die Bürger: innen von der Öffentlichkeit ausschließen, trifft auf Twitter zu. Die Hypothese vom Ende der Informationsungleichheit (was in irreführender Weise oft als „digitale Kluft“ bezeichnet wird) aufgrund der schnellen Verbreitung des Internets (wie z.B. von Compaine 2001 behauptet) ist ein Mythos. Bei der Schichtung geht es nicht mehr so sehr um den physischen Zugang zum Internet, sondern vielmehr um die Nutzung dieser Technologie und die für diese Nutzung erforderlichen Fähigkeiten. Solange es eine stratifizierte Gesellschaft gibt, wird es Informationsungleichheit geben. Die asymmetrische Macht der Sichtbarkeit auf Twitter Im Jahr 2009 waren nur 7 Prozent der Top-Twitter-Trendthemen politische Themen und 38 Prozent unterhaltungsorientierte Themen. Im Jahr 2010 war das Thema von nur 3 Prozent Politik, 28 Prozent handelten von Unterhaltung und 40 Prozent von Hashtags (#). Eine Analyse der meistgenutzten Hashtags im Jahr 2010 zeigt, dass Politik nur eine marginale Rolle spielte und dass Musik und Dating die meistgenutzten Hashtag-Themen waren 131 . Die beliebtesten Hashtags, die zwischen 29. September und 28. Oktober 2019 am häufigsten verwendet wurden, enthielten acht Hashtags, die sich auf Unterhaltung beziehen, zwei, die mit Technologie zu tun haben, und keinen politischen Hashtag 132 . Im Jahr 2022 waren die zehn am häufigsten getwitterten Hashtags #VMAs, #deprem, #A- MAs, #เลื อกตั ้ ง66, #GRAMMYs, #กราดยิ งหนองบัวลําภู , #PINKVENOM, #TAE- HYUNGxCeline, #BlackpinkAtCoachella, #FIFAWorldCup 133 . Sieben dieser Hashtags beziehen sich auf Unterhaltung, je einer auf Naturkatastrophen, Kriminalität und Politik. Unterhaltung dominiert Twitter. Politik ist von einiger, aber vergleichsweise geringer Bedeutung. Unterhaltung als solche ist nicht böse, denn Menschen, auch Aktivist: innen, müssen lachen, um ein gutes Leben zu führen. Aber die Konzerne, die in der Kulturindustrie tätig sind, versuchen, das Privatleben ganz auf kommerzielle Unterhaltung und Werbung auszurichten, um die Menschen dazu zu bringen, immer mehr Waren zu kaufen. Wenn die Unterhaltung die Oberhand gewinnt, wird die Politik verdrängt und tabuisiert. 129 Datenquelle: https: / / blog.hootsuite.com/ twitter-demographics/ #Twitter_income_demographics, abgerufen am 12. Juni 2023. 130 Datenquelle: https: / / www.statista.com/ statistics/ 265648/ share-of-us-internet-userswho-use-twitter-by-educational-degree/ , abgerufen am 12. Juni 2023. 131 https: / / mashable.com/ 2010/ 12/ 22/ top-twitter-trends-2010-charts/ ? europe=true, abgerufen am 12. November 2015. 132 Datenquelle: http: / / hashtagify.me/ popular, abgerufen am 29. Oktober 2019. 133 https: / / getdaytrends.com/ top/ longest/ year/ , abgerufen am 13. Juni 2023. <?page no="281"?> 8.4 Politische Kommunikation auf Twitter 281 Unterhaltung als solche ist nicht böse, weil die Menschen neben anderen Aktivitäten lachen müssen, um ein gutes Leben zu führen. Die in der Kulturindustrie tätigen Konzerne versuchen jedoch, das Privatleben ganz auf kommerzielle Unterhaltung und Werbung auszurichten, um die Menschen zum Kauf von immer mehr Waren zu bewegen. Wenn die Unterhaltung die Oberhand gewinnt, wird die Politik verdrängt und boulevardisiert. Werfen Sie einen Blick auf Tabelle 4.4. in Kapitel 4 dieses Buches. Sie zeigt eine Rangliste der Twitter-Nutzer: innen, geordnet nach der Gesamtzahl ihrer Follower. Prominente aus der Unterhaltungsbranche, insbesondere Popstars, dominieren die Aufmerksamkeit, gemessen an der Zahl der Twitter-Follower. Die Politik ist deutlich weniger vertreten, und zwar hauptsächlich in Form von einflussreichen politischen Akteuren wie Barack Obama, Narendra Modi und Donald Trump, die die politische Kommunikation auf Twitter in Bezug auf Einfluss, Ressourcen und Reputation dominieren. Alternative politische Figuren wie der Produzent politischer Dokumentationen Michael Moore oder sozialistische Politiker: innen wie Alexandria Ocasio-Cortez haben weit weniger Follower als Prominente und Influencer: innen, die sich auf Unterhaltung konzentrieren. Es gibt eine asymmetrische politische Aufmerksamkeitsökonomie. Der Grad der Interaktivität der politischen Kommunikation auf Twitter Um den Grad der Information, Kommunikation und Interaktivität der politischen Twitter-Nutzung zu analysieren, habe ich drei Fälle ausgewählt: WikiLeaks, die ägyptische Revolution und die Parlamentswahlen in Deutschland. WikiLeaks war im Dezember 2010 in den Nachrichtenmedien auf der ganzen Welt zu sehen, nachdem es am 28. November die diplomatischen Berichte veröffentlicht hatte und am 6. Dezember ein europaweiter Haftbefehl gegen Julian Assange erlassen wurde. Ich habe 985.667 Tweets mit dem Hashtag #wikileaks aus dem Archiv http: / / twapperkeeper.com (Zeitperiode: 28. November 2010, 00: 00: 00 - 1. Januar 2011, 00: 00: 00) gesammelt. Die Revolution in Ägypten begann am 25. Januar 2011 mit Massenprotesten in Kairo und anderen Städten. Am 11. Februar trat Präsident Mubarak zurück. Ich sammelte 73.395 Tweets mit dem Hashtag #25jan (Zeitraum: 25. Januar 2011, 00: 00: 00 - 12. Februar 2011, 00: 00: 00) von Twapper Keeper. Twitter Nutzer: innen nutzten diesen Hashtag zur Kommunikation über die ägyptische Revolution. Um andere Nutzer: innen anzusprechen, ist es üblich, in Tweets das „@“-Symbol gefolgt vom Benutzernamen zu verwenden. Es gibt zwei Arten der Adressierung: das erneute Posten einer Twitter-Nachricht („Re-Tweet“) und das Kommentieren eines anderen Postings. Twitter erlaubt es nicht, herunterladbare Archive seiner Beiträge zu erstellen. Twapper Keeper gibt maximal 25.000 Ergebnisse auf dem Bildschirm aus. Ich habe diese Listen manuell erstellt und in Excel-Dateien kopiert, die dann weiter analysiert wurden. Ich analysierte die Twitter-Streams, indem ich alle Tweets identifizierte, die jemanden ansprechen („@“). Dann entschied ich für jeden dieser Tweets, ob es sich um einen Re-Tweet handelte oder nicht, indem ich nach der Kennung „RT @“ suchte, die in der von Twapper Keeper erzeugten Ausgabe einen Re-Tweet bedeutet. Anhand dieses Verfahrens konnte ich feststellen, welcher durchschnittliche Anteil der Postings rein informativ ist, ein Re-Tweet eines anderen Postings oder ein Kommentar zu einem anderen Tweet. Die Ergebnisse sind in Tabelle 8.2 dargestellt. <?page no="282"?> 282 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation auf Twitter: Politische Ökonomie, digitale Demokratie und die (digitale) Öffentlichkeit Während des Bundestagswahlkampfs 2017 habe ich mit der Social-Media-Datensammlungsplattform Discovertext einen Twitter-Datensatz mit Daten zu Tweets erstellt, in denen Nutzerinnen und Nutzer TV-Debatten von Politikerinnen und Politikern mit wahlkampforientierten Hashtags und bestimmten Schlüsselwörtern kommentierten (siehe dazu Fuchs 2020c, Kapitel 6). Ich analysierte, welche Rolle die Kommentare in dem Datensatz spielten. Die Ergebnisse sind in Tabelle 8.2 enthalten. Hashtag Anzah der Tweets Zeitraum Kommen tare Re- Tweets Information #wikileaks 985.667 11-28-2010, 00: 00: 00 - 01-01- 2011 00: 00: 00 23,1% 51,3% 25,6% #25jan 73.395 01-25-2011, 00: 00: 00 - 02- 12-2011, 00: 00: 00 12,9% 54,4% 32,7% Deutsche Bundestagswahl 2017 31.474 Event 1, 2. September 2017: ARD-Fernsehdebatte zwischen den Spitzenkandidat: innen von CDU (Angela Merkel) und SPD (Martin Schulz) Veranstaltung 2, 4. September 2017: ARD-Fernsehdebatte zwischen fünf Spitzenkandidat: innen 1,5% 65,0% 33,5% Tabelle 8.2: Information und Kommunikation in Tweets zu WikiLeaks, der ägyptischen Revolution und der Bundestagswahl 2017 Die Ergebnisse zeigen, dass mehr als 50 Prozent der Beiträge Retweets waren und dass der Anteil der Kommentare gering war (23,1 Prozent, 12,9 Prozent, 1,5 Prozent). Twitter ist eher ein Mittel zur Informationsweitergabe als ein Mittel zur Diskussion und Kommunikation. Da auch das Retweeten eine Form der Information ist, lag der Gesamtanteil der Informationsbereitstellung im Falle von WikiLeaks bei 76,9 Prozent, im Falle Ägyptens bei 87,1 Prozent und im Falle der Bundestagswahl bei 98,5 Prozent. Die Daten deuten darauf hin, dass es sich bei Twitter, selbst bei einer Erweiterung von 140 auf 280 Zeichen pro Tweet, um eine Informationstechnologie und nicht um eine Kommunikationstechnologie handelt. Auf Twitter teilen die Nutzer: innen etwas, retweeten und „liken“, aber das Medium ist nicht geeignet zum Führen richtiger Gespräche. Twitter: Von 140 zu 280 Zeichen → mehr Gespräche? Ende 2017 verdoppelte Twitter die maximale Länge eines Tweets von 140 auf 280 Zeichen. Man könnte annehmen, dass ein solcher Schritt Twitter zu mehr Konversation führt, da ein Raum von 140 Zeichen es nicht erlaubt, mehr als zwei kurze Sätze zu formulieren. Die Änderung der maximalen Länge eines Tweets brachte jedoch keine großen Veränderungen mit sich. Ein Jahr später blieben die meisten Tweets innerhalb von 140 Zeichen und nur 12 Prozent waren länger als 140 (Perez 2018). Es ist ein Trugschluss anzunehmen, dass eine Erhöhung der potenziellen Länge von Tweets ihre tatsächliche durchschnittliche Länge und die tatsächliche durchschnitt- <?page no="283"?> 8.4 Politische Kommunikation auf Twitter 283 liche Aufmerksamkeitsspanne für einzelne Tweets erhöht. Twitter-Nutzer: innen haben sich in den letzten Jahren an die Logik von Twitter gewöhnt, dass sie Twitter einfach weiterhin so nutzen, wie sie es schon seit langem tun. Die Proteste und Revolutionen im Jahr 2011: Twitter- und Facebook- Revolutionen? Die Frage, ob die Revolutionen und Proteste von 2011 („Arab Spring“) Twitter- oder Facebook-Revolutionen waren, hat auch mit den Internetzugangsraten zu tun. Seit 2008 schwankt die Internetzugangsrate in den Ländern, in denen solche Proteste stattfanden, zwischen 3,1 Prozent (Mauretanien) und 97,8 Prozent (Island), und die Nutzungsrate von Facebook variiert zwischen 2,6 Prozent der Bevölkerung ( Jemen) und 69,1 Prozent (Island). Angesichts solch unterschiedlicher Bedingungen der Internet- Nutzung stellt sich die Frage, ob man wirklich so leicht verallgemeinern kann, wie es einige Beobachter tun, dass das Internet und die sozialen Medien Revolutionen und Rebellionen geschaffen und verstärkt haben. Daten zur Mediennutzung in der ägyptischen Revolution zeigen, dass die Revolutionäre Telefonkommunikation und persönliche Gespräche für die Verbreitung von Informationen für viel wichtiger hielten als „soziale Medien“ (Wilson und Dunn 2011). Die Facebook-Seite („We are all Khaled Said“), die von Whael Ghonim moderiert wurde (siehe Ghonim 2012), soll eine Rolle bei der Verbreitung der Proteste gespielt haben, nachdem Khaled Said am 6. Juni 2010 von ägyptischen Polizeikräften zu Tode geprügelt worden war. Am 8. Dezember 2012 gab es 2,5 Millionen Gleichgesinnte (arabische Version; englische Version: 278.000). Es ist jedoch unklar, wie viele von ihnen von ägyptischen Nutzer: innen stammen, die an der Besetzung des Tahrir-Platzes und den Protesten teilgenommen haben. eMarketing Egypt führte eine Umfrage über das Internet und die Revolution in Ägypten durch. 134 Von den Befragten gaben 71 Prozent an, dass Facebook das wichtigste Medium sei, „um Ereignisse und Nachrichten zu verfolgen“. Das Problem ist jedoch, dass sich die Umfrage nur auf ägyptische Internet-Nutzer: innen konzentrierte, die 2012 eine Minderheit der Bevölkerung ausmachten. Im Jahr 2012 waren nur 26,4 Prozent der ägyptischen Bevölkerung Internet-Nutzer: innen 135 . Die Ergebnisse dieser Studie sind daher notwendigerweise technozentrisch. Die Rolle der sozialen Medien in Occupy-Bewegungen Inspiriert vom Arabischen Frühling entstanden auf der ganzen Welt verschiedene Occupy-Bewegungen. Ihr gemeinsames Merkmal war, dass sie öffentliche Plätze besetzten. Die Occupy-Wall-Street-Bewegung in den USA und die 15-M-Bewegung in Spanien waren zwei von ihnen. Viele von ihnen waren Proteste gegen Ungleichheiten sowie gegen Kürzungen und Sparmaßnahmen, die im Kontext der Wirtschaftskrise ergriffen wurden. Soziale Medien wurden als Mittel zur Organisation und zum Protest genutzt. Daher stellte sich die Frage, welche Rolle digitale Kommunikationsmittel wie Twitter in den Occupy-Bewegungen spielten. 134 Für weitere Einzelheiten, siehe http: / / www.emarketing-egypt.com/ 1st-study-aboutthe-Internet-and-the-Egyptian-Revolution: -Survey-Results/ 2/ 0/ 18, abgerufen am 13. November 2015. 135 Datenquelle: https: / / www.internetworldstats.com/ , abgerufen am 30. Oktober 2012. <?page no="284"?> 284 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation uf Twitter: Politische Ökonomie, digitale Demokratie und die (digitale) Öffentlichkeit Ich führte eine Umfrage unter den Occupy-Aktivisten durch, um die Rolle der sozialen Medien und anderer Medien in ihrer Protest-Informations-, Kommunikations- und Mobilisierungspraxis zu untersuchen. Die Ergebnisse wurden im Detail in dem Buch OccupyMedia! The Occupy Movement and Social Media in Crisis Capitalism (Fuchs 2014b) veröffentlicht. Ich möchte hier nur ein Detail des gesamten Datensatzes erwähnen: Eine wichtige Dimension der Wissensstrukturen sozialer Bewegungen ist die Art und Weise, wie Aktivistinnen und Aktivisten miteinander kommunizieren. Um dies herauszufinden, enthielt die OccupyMedia! Umfrage die folgende Frage: „Wenn Sie an einen Monat zurückdenken, in dem Sie an Occupy-Protesten beteiligt waren, wie oft haben Sie dann eines der folgenden Medien genutzt, um mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten zu kommunizieren oder über die Proteste zu diskutieren? " Die Ergebnisse sind in Tabelle 8.3 dargestellt. selten (0‒3) mittel (4-8) häufig (> 9) persönliches Gespräch 24,90% 14,50% 60,60% SMS 57,90% 14,80% 27,40% Anrufe 54,90% 21,40% 23,70% persönliche E-Mails 41,40% 21,90% 36,60% E-Mail-Verteilerlisten 49,70% 17,90% 32,50% Chatforum der Occupy-Bewegung 70,00% 14,90% 15,20% Twitter 56,30% 11,20% 32,50% Facebook-Gruppen 37,20% 17,30% 45,40% YouTube-Kommentare 79,90% 11,20% 8,90% Riseup-Kommunikationswerkzeuge 83,40% 7,90% 8,80% InterOccupy-Telekonferenzen 90,40% 5,80% 3,80% OccupyTalk Voice-Chat 95,50% 1,30% 3,30% Tabelle 8.3: Häufigkeit der monatlichen Nutzung bestimmter sozialer Medien zur Kommunikation oder Diskussion der Proteste mit anderen Aktivisten, Quelle: Fuchs (2014b) Die Daten geben Hinweise darauf, dass das persönliche Gespräch die häufigste Form der Kommunikation in Occupy-Bewegungen ist, gefolgt von der Kommunikation über Facebook, E-Mail, Mailinglisten und Twitter. SMS und Mobiltelefone wurden für die Kommunikation in den Protestbewegungen weniger häufig genutzt als die persönliche Kommunikation, E-Mail und soziale Medien (Facebook, Twitter). Die Korrelationsanalyse zeigte, dass die Intensität des Aktivismus positiv mit der Häufigkeit aller Formen der Protestkommunikation auf einem signifikanten Niveau korreliert ist (Fuchs 2014b). Die politische Positionierung der Befragten korreliert dagegen nicht mit der Häufigkeit ihrer Protestkommunikation. Menschen, die aktiver an Protesten teilnehmen, kommunizieren tendenziell mehr mit anderen Aktivist: innen in persönlichen Gesprächen, am Telefon, in E-Mail-Verteilerlisten, Chats, auf Twitter, Facebook, YouTube und mit anderen Kommunikationsmedien. Die Korrelationsanalyse zeigt auch, dass die verschiedenen Formen der Protestkommunikation einander nicht ersetzen, sondern ergänzen: Die Häufigkeit der persönlichen Kommunikation ist signifikant positiv mit der Häufigkeit der meisten anderen Formen der <?page no="285"?> 8.4 Politische Kommunikation auf Twitter 285 Protestkommunikation korreliert, die Häufigkeiten der Nutzung von Facebook, Twitter, E-Mail-Mailinglisten und anderen Online-Medien für die Protestkommunikation sind signifikant positiv miteinander korreliert. Beachten Sie, dass die Befragten Aktivist: innen waren, so dass diese Ergebnisse nichts über die Rolle der sozialen Medien bei der Hemmung oder Unterstützung der Mobilisierung von Protestierenden aussagen. Sie zeigen vielmehr, dass Occupy-Aktivist: innen dazu neigen, verschiedene Formen von Online- und Offline-Medien zur Kommunikation über die Proteste mit anderen Aktivist: innen zu nutzen und dass sich diese Formen der Protestkommunikation tendenziell gegenseitig ergänzen. Diese empirischen Ergebnisse dekonstruieren den Mythos, dass der Arabische Frühling, die Occupy-Bewegungen und andere Proteste und Bewegungen Twitter-Revolutionen, Facebook-Rebellionen, Social-Media-Revolten oder Revolutionen 2.0 waren. Soziale Medien und das Internet spielten eine Rolle als eines unter mehreren Medien (insbesondere der zwischenmenschlichen Kommunikation), aber die empirischen Ergebnisse stützen nicht die Annahme, dass soziale Medien notwendige Bedingungen der Revolution waren. Die arabischen Revolutionen und andere Proteste (wie die der Besatzer) wurden nicht getweetet, gebloggt oder „geliked“. Soziale Medien spielten eine Rolle in der Protestkommunikation, aber genauso waren andere Medientypen wichtig, vor allem die Face-to-Face-Kommunikation. #MeToo Die #MeToo-Bewegung ist eine soziale Bewegung gegen sexuelle Belästigung, die im Herbst 2017 entstand, etwa zu der Zeit, als Dutzende Frauen den Filmproduzenten Harvey Weinstein des sexuellen Missbrauchs beschuldigten. Im Jahr 2020 wurde Weinstein wegen sexueller Belästigung und Vergewaltigung zu 23 Jahren Gefängnis verurteilt. Als Reaktion auf den Weinstein-Skandal twitterte die Schauspielerin Alyssa Milano am 15. Oktober 2017: If you’ve been sexually harassed or assaulted write ‘me too’ as a reply to this tweet. Me too. Suggested by a friend: “If all the women who have been sexually harassed or assaulted wrote ‘Me too.’ as status, we might give people a sense of the magnitude of the problem.” https: / / twitter.com/ Alyssa_Milano/ status/ 919659438700670976 Bis zum 1. April 2020 erreichte dieser Tweet 50,8k Likes und 22,4k Re-Tweets und resultierte in 63,3k Kommentaren. Es entwickelte sich eine breite öffentliche Debatte über sexuelle Belästigung, insbesondere in Bezug auf Hollywood und die Filmindustrie. #MeToo wurde zu einem weit verbreiteten Twitter-Hashtag. Twitter war das Schlüsselmedium der Kommunikation dieser Bewegung. In vielen Ländern der Welt entwickelten sich öffentliche Debatten und Ableger der Bewegung. Die öffentliche Debatte konzentrierte sich auch auf andere Bereiche der Gesellschaft, darunter das Bildungswesen, die Modeindustrie, die Finanzindustrie, den Journalismus und die Medien, die Medizin, das Militär, die Musikindustrie, die Pornoindustrie, die Politik, die Religion und die Kirchen, den Sport und die Technologieindustrie. Verwandte Hashtags werden inzwischen in zahlreichen Sprachen verwendet. Das Ergebnis war eine internationale Debatte über die Ursachen, Realitäten und Folgen der sexuellen Belästigung und eine Stärkung des öffentlichen Bewusstseins. <?page no="286"?> 286 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation auf Twitter: Politische Ökonomie, digitale Demokratie und die (digitale) Öffentlichkeit #MeToo enthüllte zum Beispiel den Sexismus in der Tech-Industrie des Silicon Valley, insbesondere in Bezug auf Manager in Unternehmen wie Uber und Google. Im Herbst 2018 verließen Tausende von Google-Mitarbeiter: innen ihre Büros als Symbol gegen sexuelle Belästigung in der Technologiebranche. Der Protest folgte, nachdem die New York Times enthüllt hatte, dass Google 90 Millionen US-Dollar als Ausstiegspaket an Andy Rubin gezahlt hatte, einen ehemaligen Senior Vice President, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wurde (Wakabayashi & Benner 2018). #MeToo ist eine Bewegung, die sich als digitale Öffentlichkeit organisiert hat. Twitter spielte eine Schlüsselrolle in ihrer Entwicklung und öffentlichen Kommunikationspraxis. #MeToo zeigt auch die soziale Medienmacht von Prominenten und anderen weithin sichtbaren Persönlichkeiten der Öffentlichkeit. Alyssa Milano hatte im Jahr 2023 mehr als 3,5 Millionen Follower auf Twitter. Neben Alyssa Milano haben sich weitere Prominente wie Ashley Judd, Jennifer Lawrence, Gwyneth Paltrow und Uma Thurman der #MeToo-Kampagne angeschlossen. Das Beispiel zeigt, dass angesichts der Aufmerksamkeitsökonomie, in der Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit eine Schreckensressource sind, die Schaffung einer weithin sichtbaren Kampagne oder sozialen Bewegung Influencer: innen erfordert, die eine hohe Zahl von Follower haben. 8.5 Schroffe Kommunikation auf Twitter Online-Hass und Gewalt auf sozialen Medien Im August 2014 verbreitete der Islamische Staat (IS) im Internet ein Video, das zeigte, wie eines seiner Mitglieder den amerikanischen Journalisten James Foley enthauptete, der 2012 in Syrien entführt worden war. Der IS hat kontinuierlich Bilder und Videos solcher Morde online veröffentlicht und verbreitet und zu diesem Zweck nicht nur YouTube und Twitter genutzt, sondern auch neuere Plattformen wie justpaste.it, eine Plattform zum Austausch von Bildern und Texten. Panos Kompatsiaris und Yiannis Mylonas (2015) zeigen, dass die Goldene Morgenröte soziale Medien für Nazi-Propaganda im Goebbels-Stil nutzt. Rechte Bewegungen sind nicht weniger aktiv und nicht weniger in der Lage, soziale Medien zu nutzen als linke. Es gab wiederholt Berichte über Frauenfeindlichkeit sowie Hass und Drohungen gegen Minderheiten auf Twitter. Der Aufstieg der Alt-Right, Fake News und neuen Nationalismen hat die Kolonialisierung der digitalen Öffentlichkeit durch instrumentelle Vernunft verstärkt (siehe Kapitel 9 in diesem Buch für eine detailliertere Analyse). Der islamische Staat/ Daesh nutzte soziale Medien aktiv zur Verbreitung von Propaganda und zur Rekrutierung von Terroristen. Im Jahr 2016 gab Twitter bekannt, dass es innerhalb eines Jahres „über 125.000 Konten für die Androhung oder Förderung terroristischer Handlungen, die in erster Linie mit ISIS zusammenhängen" (Twitter 2016), sperrte. Die Medienwissenschaftlerin Donatella Della Ratta argumentiert, dass im Syrischen Krieg gewaltfreie Aktivisten „ Videos drehten, während auf sie geschossen wurde “. (158). „Die Syrer: innen griffen zu Kameras als ‚alternative gewaltlose Waffen‘, um die Unterdrückung der friedlichen Proteste anzuprangern“ (156). Sie stellten diese Bilder auf Unternehmensplattformen wie YouTube, Facebook und Twitter ein, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. In der Zwischenzeit drehte Daesh Videos, in denen geschossen und gemordet wurde. „Spektakuläre Videos von extremer grafi- <?page no="287"?> 8.5 Schroffe Kommunikation auf Twitter 287 scher Gewalt [...] sind militärische Taktiken, die Daesh anwendet, um Terror und Angst zu schüren und gleichzeitig Unterstützung zu gewinnen und neue Militante anzuziehen“ (150). Daesh benutzt die Sprache, Symbole und Werkzeuge der vernetzten Medienkultur. Es hat öffentlichen Druck gegeben, dass Social-Media-Unternehmen fundamentalistische Inhalte entfernen sollten. Kapitalistische Plattformkonzerne haben deshalb schlecht bezahlte, prekäre Klickarbeiter als Moderatoren von Inhalten eingestellt (Roberts 2019). „In dem Bemühen, extremistische Propaganda von ihrer Plattform zu entfernen, hat YouTube versehentlich Tausende von Videos entfernt, die zur Dokumentation von Gräueltaten in Syrien verwendet werden könnten, was nach Ansicht von Beobachtern und Rechtsverfechtern künftige Verfolgungen von Kriegsverbrechen gefährden könnte“ (Browne 2017). Dasselbe geschah auf Facebook (Asher- Schapiro 2017). Der Syrische Krieg zeigt, wie in der „vernetzten Produktionsweise [...] Sichtbarkeit und Gewalt ineinandergreifen“ (Della Ratta 2018, 195). Jamileh Kadivar analysierte Daeshs Aktivitäten im Internet, einschließlich der sozialen Medien. Sie dokumentiert, dass Daesh zu verschiedenen Netzwerken wechselte, darunter Twitter, YouTube, Facebook, Diaspora, Friendica, Justpasteit.it, Vkontakte, manbar.me, nasher.me und Telegram. „Seit Oktober 2015 nutzt Daesh die Telegram-App für seine Propaganda, nachdem die verschiedenen Konten dieser Organisation auf Twitter, YouTube, Facebook und anderen Plattformen wiederholt geschlossen wurden. [...] Daesh-Anhänger haben kürzlich auch Links auf den Messaging-Dienst WhatsApp freigegeben. [...] Daesh hat versucht, im Zentrum der Medien zu stehen, und soziale Medien haben ihm geholfen, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen. Daeshs grausame Unmenschlichkeit, schockierende Brutalität und extreme Gewalt sind die besten Mittel, um diese Omnipräsenz aufrechtzuerhalten, und seine Online-Aktivitäten bedeuten, dass Daesh mehr gesehen und gehört wird“ (Kadivar 2017, 413, 415). Richard Seymour (2019, 16) argumentiert, dass „die einst gepriesene Idee der ‚Twitter- Revolutionen‘ die Rolle der sozialen Medien bei Volksaufständen bei weitem übertrieben hat, und diese sind seither von dunkleren, in soziale Medien eingebetteten Kräften überholt worden, von ISIS bis zu den Killern der Männerrechtsbewegung“. Es wurden wiederholt Forderungen nach einer totalen Überwachung und einer raschen Zensur erhoben. Solche Diskussionen greifen aber zu kurz. Versuche, das Internet zu zensieren, missverstehen seine Natur: Wenn jemand verseuchte Hühner oder Flaschen mit vergiftetem Bier aus Supermärkten zurückruft, dann kann niemand mehr diese Waren essen und trinken, und der Schaden kann eingedämmt werden. Informationen im Internet verhalten sich ganz anders: Sie können leicht, schnell und billig kopiert und in der ganzen Welt verbreitet werden, weil es sich um ein eigenartiges Gut handelt: Informationen werden beim Konsum nicht verbraucht, und es ist schwierig, Menschen von ihrem Konsum und vom Kopieren auszuschließen. Angesichts der Charakteristika von Informationen ist es unmöglich, Online-Informationen zu zensieren, was solche politischen Ideen undurchführbar macht. Zensur ist oft ein Kampf gegen Windmühlen. Die Zensoren dieser Welt missverstehen das Wesen des Internets grundlegend und sind in der rechtsideologischen Illusion gefangen, dass Überwachungs- und Zensurtechnologien die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Probleme der Welt lösen können. <?page no="288"?> 288 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation auf Twitter: Politische Ökonomie, digitale Demokratie und die (digitale) Öffentlichkeit Im Jahr 2003 versuchte Barbra Streisand, Bilder von ihrem Haus in Malibu, die online gestellt worden waren, legal zu unterdrücken. Der Effekt war, dass Tausende von Menschen die Bilder neu posteten und Hunderttausende sie sich anschauten. Dieser sogenannte „Streisand-Effekt“ zeigt, dass Zensurversuche in der Welt des Medienspektakels mehr Aufmerksamkeit für die zensierten Informationen erzeugen. Je mehr Plattformen und Politiker versuchen, IS zu zensieren, desto mehr werden sich die schrecklichen Bilder und Videos verbreiten. Was ist eine angemessene politische Reaktion auf Online-Bedrohungen, Faschismus und Gewalt? Es gibt ein Kontinuum zwischen den beiden Extremen der Politik des Laissez-faire und der Kontrollpolitik. Das eine Extrem des Laissez-faire nimmt nicht ernst, dass es eine Reihe anonymer Beiträge gibt, die Nutzer: innen in Angst und Schrecken versetzen. Solche tatsächlichen Bedrohungserfahrungen müssen ernst genommen werden. Das andere Extrem der Kontrollpolitik glaubt, dass strenge Gesetze, Überwachung, Inhaftierung und die Todesstrafe angemessene Antworten sind. Dabei wird übersehen, dass Kriminalität konkrete gesellschaftliche und soziale Ursachen hat und dass oberflächliche Maßnahmen die Ursachen solcher Probleme nicht beseitigen können. Selbst nach der Einführung der härtesten Strafen werden vergleichbare Bedrohungen wahrscheinlich zu einem anderen Zeitpunkt in einem anderen Kontext auftreten. Was kann also am besten getan werden? Rechte Medien, Politiker: innen und Beobachter: innen nutzen häufig Online-Faschismus, Mobbing, Kinderpornographie, die Online-Belästigung von Kindern durch Pädophile, Online-Frauenfeindlichkeit und Terrorismus als Anlass für moralische Panik, aus der die Forderungen nach einer umfassende Überwachung des Internets und harten Gefängnisstrafen abgeleitet werden. Aber stellen Sie sich eine Welt der totalen Überwachung vor: Polizei und Geheimdienste analysieren alles, was man online und am Telefon tut und kommuniziert. Prädiktive Algorithmen analysieren alle erhaltenen Text- und Sprachdaten, um vorauszusehen, ob jemand zu einem Kriminellen, Terroristen, Online-Tyrannen usw. werden könnte. Gibt es Hinweise, dann wird der/ die Benutzer: in automatisch für mehrere Jahre ins Gefängnis gesteckt. Warum? Ein Algorithmus identifiziert ihn oder sie als Risiko. Der Algorithmus gilt als der ultimative Richter, so dass auch kein Prozess und keine Beweise erforderlich sind. Ein weiterer Schritt wäre die Verbindung von Gedanken mit dem Internet, sodass wir automatisch online suchen können, indem wir einfach nur denken und so weiter. Google und Facebook würden sicherlich gerne unsere inneren Gedanken kennen, um Werbung direkt in unser Gehirn zu bringen. Aber auch die Polizei und die Geheimdienste wären an diesen Daten interessiert. Ihre prädiktiven Algorithmen könnten analysieren, was die Menschen denken, und wenn es Anzeichen dafür gibt, dass sie zu Kriminellen werden könnten, könnten sie sofort hinter Gitter gebracht oder durch ein Erschießungskommando oder durch Stromschlag hingerichtet werden. Eine solche Welt ist eine totalitäre Welt ohne jegliche Gerechtigkeit, ein faschistischer Polizeistaat. Der massive Einsatz von Überwachung und vorausschauender Polizeiarbeit birgt totalitäre und faschistische Potenziale. Aber in einer antagonistischen Welt können wir auch nicht auf polizeiliche Maßnahmen verzichten. Stellen Sie sich eine antagonistische Welt ohne Polizeiarbeit vor: Ein Aktivist der Zivilgesellschaft erhält 500 faschistische Online-Todesdrohungen pro Tag. Er alarmiert die Polizei, die ihm einfach sagt: „Die Kontrolle des Internets ist faschistisch. Leute wie Sie wollen eine Politik der <?page no="289"?> 8.5 Schroffe Kommunikation auf Twitter 289 Kontrolle und Überwachung vorantreiben. Das ist rechter Schwachsinn. Sie sind ein Rechtsextremist! “ Der Aktivist wird immer ängstlicher und fühlt sich vom Staat im Stich gelassen. Die Drohungen hören nicht auf und treiben ihn fast in den Wahnsinn. Schließlich springt er aus dem fünften Stock seiner Wohnung, da die Angst zu einem Verfolgungskomplex geführt hat, so dass er jedes Geräusch in seiner Umgebung als möglichen Angriff interpretiert. Totalitäre Polizeiarbeit und keine Polizeiarbeit sind zwei Extreme. Wir brauchen stattdessen einen linken Realismus bei der Bewältigung der Probleme des Internets. Linker Realismus bei der Bewältigung der Probleme des Internets Beide Szenarien der totalen Kontrolle und des völligen Fehlens von Polizeiarbeit sind natürlich extrem, aber sie zeigen, was passiert, wenn wir eine konservative und eine liberale Position zur polizeilichen Verbrechensbekämpfung bis zum Ende denken. Wir brauchen einen linken realistischen Ansatz zur Bekämpfung der Online-Kriminalität, wie es in der kritischen Kriminologie oft vorgeschlagen wird. Wenn Menschen online bedroht werden, dann muss die Polizei einschreiten. Soziale Medien sollten benutzerfreundliche Möglichkeiten für Nutzer: innen bieten, Bedrohungen zu melden. Sie sollten genügend Personal beschäftigen, das mit solchen Meldungen umgeht und sie überprüft und missbräuchliche, terroristische, rassistische, frauenfeindliche, faschistische usw. Meldungen blockiert. Es sollte den Nutzer: innen angeboten werden, ihnen zu helfen, den Vorfall bei der Polizei anzuzeigen. Die Polizei sollte dann die Angelegenheit prüfen und auf der Grundlage eines von einem/ einer Richter: in unterzeichneten Haftbefehls Zugang zu den persönlichen Daten der Nutzer: innen, die verdächtigt werden, über die Social-Media-Plattform und den jeweiligen Internet-Dienstanbieter verlangen. Die Polizei sollte in der Lage sein, schnell und kompetent zu reagieren, was besonders geschultes, hochqualifiziertes Personal in gut ausgestatteten Abteilungen erfordert. Diese Polizistinnen und Polizisten sollten die gesellschaftlichen, sozialen, rechtlichen, ethischen, wirtschaftlichen, kulturellen und technischen Dimensionen des Internets sehr gut verstehen und ihr Wissen ständig aktualisieren. Auf der Grundlage polizeilicher Ermittlungen sollten Staatsanwälte und Staatsanwältinnen dann rechtliche Schritte einleiten. Besteht der begründete Verdacht, dass ein bestimmter Benutzer in Terrorismus oder organisierte Kriminalität verwickelt ist, kann ein: e Richter: in einen Erlass ausstellen, der es der Polizei ermöglicht, eine personalisierte Überwachung der Kommunikation Einzelner durchzuführen. All dies ist heute rechtlich und technisch möglich, ohne eine Massenüberwachung aller Nutzer: innen, aller ihrer Kommunikationsverbindungsdaten und aller ihrer Kommunikationsinhaltsdaten durchführen zu müssen. Es ist jedoch naiv, anzunehmen, dass Polizeiarbeit, das Blockieren von Nutzern: innen und Nachrichten sowie die personalisierte Überwachung immer funktioniert. Wenn Nutzer: innen technisch versiert sind, dann können sie Technologien zur Maskierung ihrer IP-Adressen und zur anonymen Kommunikation nutzen. Polizeiarbeit allein wird auch niemals die Ursachen von Kriminalität, faschistischer Ideologie, Rassismus, Sexismus und Terrorismus lösen. Die Überwindung von Problemen in der Gesellschaft erfordert Veränderungen, die die Ursachen gesellschaftlicher Probleme angehen. In Bezug auf Maßnahmen, die auf die Überwindung von Problemen abzielen, sollte man weder naiv noch desillusioniert sein. <?page no="290"?> 290 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation auf Twitter: Politische Ökonomie, digitale Demokratie und die (digitale) Öffentlichkeit Zu den möglichen gesellschaftlichen Reformen, die auf den Rückgang der Kriminalität abzielen, gehören: Strafrechtsreformen, Verbesserung der Vollbeschäftigung und der Qualität der Beschäftigung, höhere Mindestlöhne, Bildungsmöglichkeiten, soziale Dienste und Programme, Nutzung neuer Technologien für die Öffentlichkeitsarbeit (z.B. Facebook, Twitter), Unterstützung zivilgesellschaftlicher Mechanismen, die den Machtmissbrauch durch mächtige Institutionen beobachten und melden, eine Kultur der Unterstützung für Risikogruppen (DeKeseredy 2011, Kapitel 4), erschwingliche und qualitativ hochwertige Tagesbetreuung, Wohngeld, verbesserte öffentliche Verkehrsmittel (DeKeseredy et al. 2006), Chancengleichheitspolitik, positive Anerkennung und Förderung der Interaktion zwischen verschiedenen Kulturen und Identitäten (Young 2002), Entwicklungspolitik, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern verbessert usw. Twitters Richtlinie zu hasserfülltem Verhalten Twitter hat eine Hateful Conduct Policy. Anfang Oktober 2022, bevor Elon Musk Twitter kaufte, hieß es in dieser Richtlinie: „You may not promote violence against or directly attack or threaten other people on the basis of race, ethnicity, national origin, caste, sexual orientation, gender, gender identity, religious affiliation, age, disability, or serious disease. We also do not allow accounts whose primary purpose is inciting harm towards others on the basis of these categories “ 136 . Die Fassung vom April 2023 weist erhebliche Änderungen auf. Die eben erwähnte Passage wurde wie folgt geändert: „You may not directly attack other people on the basis of race, ethnicity, national origin, caste, sexual orientation, gender, gender identity, religious affiliation, age, disability, or serious disease ” 137 . Anzumerken ist, dass in der neuen Version der Richtlinie, die nach dem Kauf von Twitter durch Elon Musk veröffentlicht wurde, die Verbote der „Förderung von Gewalt“, der „Bedrohung anderer Menschen“ und der Anstiftung zu Schaden gestrichen wurden. Auch die Formulierung in der alten Richtlinie, dass Twitter „eine Null-Toleranz-Politik gegen Gewaltdrohungen“ verfolgt, was laut der alten Richtlinie Sätze wie „Ich werde dich töten“ einschließt, wurde gestrichen. Die alte Richtlinie definierte gewalttätige Drohungen wie folgt: „Violent threats are declarative statements of intent to inflict injuries that would result in serious and lasting bodily harm, where an individual could die or be significantly injured“. Auch diese Formulierung wurde gestrichen. Diese Richtlinienänderung ist ein Zeichen dafür, dass sich unter Elon Musk geändert hat, was auf Twitter toleriert wird und was nicht. Twitter hat unter Musk ein sehr weites Verständnis von freier Meinungsäußerung. Nach dieser Richtlinie werden Gewaltandrohungen teilweise toleriert. 136 Twitter Hateful Conduct Policy: https: / / web.archive.org/ web/ 20221003195838/ https: / / help.twitter.com/ en/ rules-and-policies/ hateful-conduct-policy; Version, die am 3. Oktober 2022 archiviert wurde, abgerufen am 14. Juni 2023. 137 Twitter Hateful Conduct Policy: https: / / help.twitter.com/ en/ rules-and-policies/ hateful -conduct-policy, Fassung vom April 2023, abgerufen am 13. Juni 2023. <?page no="291"?> 8.6 @JürgenHabermas #Twitter #PublicSphere 291 Nachdem Musk der neue Eigentümer von Twitter wurde, wurde eine große Anzahl von Konten, die zuvor wegen der Verbreitung von Fake News und der Förderung von Gewalt gesperrt worden waren, wieder freigeschaltet. Am 20. November 2022 wurde das Twitter-Konto von Donald Trump wieder freigeschaltet. Es war nach dem Angriff von Trump-Anhängern auf das US-Kapitol am 6. Januar 2022 gesperrt worden. 8.6 @JürgenHabermas #Twitter #PublicSphere Die Öffentlichkeit und politische Kommunikation auf Twitter Jürgen Habermas argumentiert, dass politische Kommunikation und politische Ökonomie zwei wichtige Aspekte der Öffentlichkeit sind. Habermas (1989b, 1989c) zufolge ist die Öffentlichkeit eine Sphäre der politischen Debatte. Es ist daher wichtig, zu testen, wie kommunikativ die politische Twitter-Nutzung ist. Was ist die Rolle der politischen Kommunikation auf Twitter? Twitter wird von der jungen, gebildeten Mittelschicht dominiert und schließt andere Gruppen wie Arbeiter: innen, Bauern und Bäuerinnen und ältere Menschen eher aus. Diejenigen mit höherem Einkommen und besserer Bildung, die politisch interessierter und informierter sind, dominieren die politische Kommunikation. Das Ergebnis ist ein homogener Raum der Kommunikation und das, was Eli Pariser (2011) Filterblasen nennt, geschlossene Sphären der Online-Kommunikation, in denen wir nur Gleichgesinnte finden. Politik ist ein Minderheitenthema auf Twitter. Twitter ist eine von Unterhaltung dominierte Plattform. Es ist in erster Linie ein Informationsmedium, nicht ein Kommunikationsmittel. Es geht in erster Linie um Unterhaltung, nicht um Politik. Prominente aus der Unterhaltungsindustrie haben die meistgefolgten Profile auf Twitter. Was die politischen Profile anbelangt, so haben vor allem etablierte, hochkarätige politische Akteure mit vielen Ressourcen eine große Zahl von Follower, während kritische politische Akteure viel weniger sichtbar sind und weniger Follower haben. Eine Analyse einer großen Anzahl von Tweets von drei politischen Ereignissen (Diskussionen über WikiLeaks 2010, die ägyptische Revolution 2011, die deutsche Bundestagswahl 2017) hat gezeigt, dass politische Tweets in erster Linie informationsbasierte Postings, insbesondere Re-Tweets, und nicht Gespräche sind. Bei den interaktiven Postings handelt es sich hauptsächlich um einseitige Kommentare und nicht um wechselseitige Interaktionen. Es gibt eine Einschränkung der Rede- und Meinungsfreiheit auf Twitter: Einzelpersonen haben nicht dieselbe formale Bildung oder dieselben materiellen Ressourcen, um sich an der Öffentlichkeit zu beteiligen. Die eigentliche Aufgabe einer Öffentlichkeit, die Schaffung „einer öffentlich räsonierenden Gesellschaft“ (Habermas 1990), 116, wird auf Twitter im aktuellen gesellschaftlichen Kontext nicht erreicht. In diesem Zusammenhang stellt sich eine wichtige Frage: Können aussagekräftige politische Debatten auf 140-Zeichen-Kurznachrichten basieren? Kurze Texte können zu ver-einfachenden Argumenten einladen und Ausdruck der Kommodifizierung und Beschleunigung der Kultur sei. <?page no="292"?> 292 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation auf Twitter: Politische Ökonomie, digitale Demokratie und die (digitale) Öffentlichkeit Die Öffentlichkeit und die Sichtbarkeit der Mächtigen auf Twitter Die politische Ökonomie von Twitter ist auf zwei Arten stratifiziert: a) Twitter-Nutzer: innen und Twitters Angestellte werden ausgebeutet, was eine enteignete und nicht besitzende Klasse erzeugt, die den Eingetümern von Twitter entgegengesetzt ist. b) Twitter ist ein profitorientiertes kommerzielles Unternehmen, das die Sichtbarkeit von Tweets, Profilen und Trends zu Gunsten von Werbekunden und auf Kosten der alltäglichen Nutzer: innen gestaltet, um Kapital zu akkumulieren. Die Analyse der politischen Ökonomie von Twitter zeigt, dass die stratifizierte Ökonomie von Twitter dem Charakter einer Öffentlichkeit abträglich ist. Auf Twitter haben die Mächtigen (insbesondere Entertainer und Prominente) ein „Oligopol der publizistisch effektiven und politisch relevanten Versammlungs- und Vereinsbildung“ (Habermas 1990, 333). Es gibt eine Einschränkung der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Die Pseudo-Öffentlichkeit und fabrizierte Öffentlichkeit Diese Ergebnisse lassen keinen anderen Schluss zu als den, dass Twitter keine Öffentlichkeit ist. Twitter zeigt die anhaltende Bedeutung von Habermas' Argument, dass die bürgerliche Öffentlichkeit, wie Marx bereits festgestellt hat, ihre eigenen Grenzen und damit ihre eigene immanente Kritik geschaffen hat. „Die Öffentlichkeit, der Marx sich konfrontiert sieht, widerspricht ihrem eigenen Prinzip allgemeiner Zugänglichkeit“ (Habermas 1990, 203). Die Habermas‘sche Öffentlichkeitsanalyse mit Hilfe der erkenntnistheoretischen Methode der immanenten Kritik vergleicht eine tatsächliche Öffentlichkeit (politische Ökonomie und politische Kommunikation) mit dem Ideal und den Werten der Öffentlichkeit, die die bürgerliche Gesellschaft verspricht (Redefreiheit, Freiheit der öffentlichen Meinung, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit). Die in diesem Kapitel durchgeführte immanente Analyse ergab, dass die Realität von Twitter den Versprechungen der bürgerlichen Gesellschaft widerspricht. Twitter ist eine „Pseudo-Öffentlichkeit”, eine Form der „hergestellten Öffentlichkeit“ (Habermas 1990, 250, 320). Habermas ist skeptisch in Bezug auf die Frage, ob, wie und in welchem Ausmaß das Internet und die sozialen Medien die Öffentlichkeit fördern. Er argumentiert, dass das Internet nur insofern demokratisch ist, als es „die Zensur autoritärer Regime untergraben kann“, dass es aber auch die Öffentlichkeit in „eine riesige Anzahl von Themenöffentlichkeiten“ fragmentiert (Habermas 2006, 423). Habermas (2022) interpretiert Studien zur Öffentlichkeit als Bestätigung seiner Ansicht, dass das Internet und die sozialen Medien zu einer „Weise der halböffentlichen, fragmentierten und in sich kreisenden Kommunikation“ geführt haben, die auf die „kommerzielle Verwertung der […] Netzkommunikation“ (Habermas 2022, 11) und die „globale Ausbreitung des neoliberalen Wirtschaftsprogramms“ (65) zurückzuführen ist. Im Juli 2023 schuf Meta/ Facebook den Mikroblog Threads, der dem Aussehen und der Bedienung von X ähnelt 138 . Im Jahr 2024 hatte Threads rund 150 Millionen monatlich aktive Nutzer: innen. Threads hat sich zu einer beliebten Alternative zu X/ Twitter 138 https: / / www.statista.com/ statistics/ 1451377/ threads-global-quarterly-mau/ , abgerufen am 6. Mai 2024 <?page no="293"?> 8.7 Schlussfolgerungen 293 entwickelt, die jedoch genau wie X eine kapitalistische, werbebasierte Plattform ist, die die unbezahlte digitale Arbeit der Nutzer: innen ausbeutet, anfällig für die Verbreitung von Fake News ist usw. 8.7 Schlussfolgerungen Die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels können wir wie folgt zusammenfassen:  Habermas‘ Konzept der Öffentlichkeit betont, dass eine Öffentlichkeit (a) ein öffentlich zugänglicher Raum und Prozess der politischen Kommunikation ist und (b) dass der Zugang zu Ressourcen, die den Menschen die Teilnahme an der Öffentlichkeit ermöglichen, von entscheidender Bedeutung ist.  Habermas‘ Begriff der Öffentlichkeit ist ein kritisches Konzept, das uns hilft, zu analysieren, ob die moderne Gesellschaft ihren eigenen Erwartungen gerecht wird. Es erlaubt, zu prüfen, ob die Rede- und Meinungsfreiheit und die öffentliche Meinung durch die Verteilung von Bildungs- und anderen materiellen Ressourcen verwirklicht oder eher eingeschränkt werden. Darüber hinaus ermöglicht es die Analyse der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, indem untersucht wird, ob es mächtige Akteure gibt, die die Sichtbarkeits- und Einfluss-Strukturen dominieren.  Twitter ist keine Öffentlichkeit. Es sollte weder Gegenstand der Hoffnung auf die Erneuerung der Demokratie und der Veröffentlichung sein, noch Anlass zur Sorge über Gewalt, Terrorismus, Kriminalität, Frauenfeindlichkeit, Online-Belästigung, Mobbing und Unruhen. Was uns zuallererst beschäftigen sollte, ist die Ungleichheit in der Gesellschaft und die Frage, wie die Ungleichheit gemildert werden kann. Bei Habermas‘ Begriff der Öffentlichkeit ging es nicht in erster Linie um die Medien, sondern um die Schaffung eines Konzepts, das die Kritik an Strukturen erlaubt, die kein Interesse an den Gemeingütern und dem Gemeinwohl haben und die die Verfügbarkeit des Allgemeinwohls einschränken.  Im Jahr 2022 kaufte Elon Musk, der Gründer von Tesla und einer der reichsten Menschen der Welt, Twitter. Sein libertäres Verständnis von freier Meinungsäußerung ermöglichte vielen rechtsextremen Nutzer: innen die Rückkehr zu Twitter. Er führte neue Formen der Kapitalakkumulation ein, bei denen Nutzer: innen, die Geld bezahlen, eine bessere Sichtbarkeit und Kommunikationskapazitäten erwerben können, die andere nicht haben. Elon Musks wirtschaftliche und politische Logik kolonialisierte Twitter und untergrub dessen Logik als potenzielle Öffentlichkeit. Twitter ist inegalitärer geworden und zu einem Ort, der Hatespeech toleriert.  Elon Musk hat Twitter feudalisiert. Er hat sich wie ein Feudalherr und Diktator verhalten, der als Eigentümer einer Plattform mit einem Kommunikationsmittel, das in der heutigen Politik eine wichtige Rolle spielt, macht, was er will. Ein feudalisiertes Twitter droht die Demokratie zu untergraben.  Soziale Medien sind in die Widersprüche und Machtstrukturen der heutigen Gesellschaft eingebettet. Sie weisen in widersprüchlichen Gesellschaften widersprüchliche Eigenschaften auf: Sie unterstützen/ verstärken oder dämpfen/ begrenzen den sozialen Wandel nicht notwendigerweise und automatisch, sondern stellen vielmehr widersprüchliche Potentiale dar, die im Widerspruch zu Einflüssen durch Staat, Ideologie, Kapitalismus und anderen Medien stehen. <?page no="294"?> 294 8 Elon Musks Twitter und die Kolonialisierung der politischen Kommunikation  In antagonistischen Gesellschaften sind soziale Medien antagonistische Kommunikationssysteme. In antagonistischen Gesellschaften gibt es gegensätzliche Interessen, die in Machtverhältnissen zum Ausdruck kommen. Diese Interessen prägen den Einsatz von Technologien, einschließlich sozialer Medien. Angesichts der Tatsache, dass es in einer antagonistischen Gesellschaft verschiedene gegensätzliche Interessen gibt, bestehen unterschiedliche Interessen an der Nutzung von Technologien. Diese Nutzungen haben auch unvorhersehbare Dimensionen und Konsequenzen. Infolgedessen neigen Technologien dazu, komplexe, widersprüchliche Auswirkungen auf die Gesellschaft zu haben. Sie haben sowohl fortschrittliche politische Potenziale als auch eine dunkle Seite. Letztere weist Phänomene wie Online-Faschismus, Rechtsextremismus online, Mobbing, Online-Frauenfeindlichkeit usw. auf. Es ist wichtig, diese Phänomene nicht zu überschätzen und eine moralische Panik vor ihnen zu vermeiden. Der linke Realismus zur Bekämpfung der dunklen Seiten des Internets ist der praktikabelste Ansatz, der verfolgt werden kann. Empfohlene Literatur und Übungen Übung 8.1: Habermas‘ Theorie des Strukturwandels der Öffentlichkeit Um Twitter kritisch zu verstehen, ist es nützlich, sich mit Werken von Jürgen Habermas und Debatten über die Rolle von Twitter in der Politik auseinanderzusetzen. Jürgen Habermas. 1990 . Strukturwandel der Öffentlichkeit . Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Es gibt viele Mythen über Habermas’ berühmtes Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit. Ich empfehle Ihnen daher, das gesamte Buch zu lesen, um seinen Inhalt und den Begriff der Öffentlichkeit zu verstehen. Als Ausgangspunkt ist es gut, Habermas’ zusammenfassende Darstellung der Öffentlichkeit zu lesen: Jürgen Habermas. 1989. The Public Sphere: An Encyclopedia Article. In Critical Theory and Society: A Reader , hrsg. von Stephen E. Bronner and Douglas Kellner, 136-142. New York: Routledge. Fragen Sie sich:  Was ist die Öffentlichkeit nach Habermas? Wie hat sie sich historisch entwickelt?  Was sind Merkmale und Grenzen der bürgerlichen Öffentlichkeit?  Wie hängt der Begriff der Öffentlichkeit mit dem Denken von Karl Marx zusammen?  Was versteht Habermas unter einer Re-Feudalisierung der Öffentlichkeit? Denken Sie an Social Media in der heutigen Politik und Gesellschaft:  Welche Aspekte der politischen Kommunikation, Grenzen der Öffentlichkeit und der Re-Feudalisierung gibt es? Versuchen Sie, Beispiele zu finden. <?page no="295"?> Empfohlene Literatur und Übungen 295  Ist Twitter eine Öffentlichkeit? Warum? Und warum nicht? In welcher Hinsicht ist es eine Öffentlichkeit oder ist es keine Öffentlichkeit? Versuchen Sie, Beispiele zu finden, die Ihre Ansichten untermauern. Übung 8.2: Elon Musk und Twitter Suchen Sie online nach Tweets von, Interviews mit, Berichten und Dokumentationen über Elon Musk, in denen er über Politik spricht oder andere seine politischen Ansichten analysieren. Diskutieren Sie: Was sind charakteristische Elemente der politischen Weltanschauung von Elon Musk?  Wie beurteilen Sie die Ansichten von Elon Musk?  Welche Auswirkungen hat die Umstrukturierung von Twitter durch Musk auf die Demokratie und die Öffentlichkeit?  Wie beurteilen Sie den Kauf und die Umgestaltung von Twitter durch Elon Musk? <?page no="297"?> Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien Schlüsselfragen  Was ist rechter Autoritarismus?  Worum handelt es sich beim digitalen Autoritarismus und beim digitalen Faschismus?  Was sind Nationalismus, Rechtsextremismus und Faschismus?  Wie werden Nationalismus und Autoritarismus auf sozialen Medien vermittelt?  Wie kommuniziert Donald Trump auf sozialen Medien?  Welche Rolle spielen die digitalen Medien in Putins autoritärem politischen Regime und im Krieg in der Ukraine? Schlüsselkonzepte  Rechter Autoritarismus  Faschismus  Die negative Dialektik des Neoliberalismus  Nationalismus  Freund-Feind-Schema  Militantes Patriarchat  Digitaler Autoritarismus  Digitaler Faschismus  Donald Trump und soziale Medien  Putinismus  Telegram  Cyberkrieg  Informationskrieg 9.1 Übersicht Dieses Kapitel fragt: Was ist rechter Autoritarismus? Wie wird rechter Autoritarismus über soziale Medien vermittelt? Was ist digitaler Autoritarismus? Was ist digitaler Faschismus? In Abschnitt 9.2 wird ein Modell des rechten Autoritarismus und des (digitalen) Faschismus vorgestellt. In Abschnitt 9.3 wird das Beispiel der Nutzung sozialer Medien durch Donald Trump erörtert. Abschnitt 9.4 analysiert die Kontrolle des Putinismus über das Internet und seine Informationskriegsführung gegen die Ukraine. Abschnitt 9.5 präsentiert einige Schlussfolgerungen. Die Weltpolitik hat im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Entstehung, das Wachstum und die Macht vieler rechtsextremer Gruppen, Bewegungen, Parteien und Regierun- <?page no="298"?> 298 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien gen erlebt. Der neoliberale Kapitalismus hat die Ungleichheiten in der Welt verstärkt. Wir haben eine Welle neuer Nationalismen und eines neuen Autoritarismus erlebt. In den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre waren viele Beobachter der Meinung, dass das Internet von Natur aus politisch fortschrittlich ist und vor allem progressive soziale Bewegungen und linke politische Kräfte anspricht und von ihnen genutzt wird. Das Konzept des Netzwerks wurde mit der für linke soziale Bewegungen typischen Graswurzelpolitik in Verbindung gebracht. Beispielsweise sprach Manuel Castells von der zapatistischen Bewegung in Mexiko als der „ ersten informationellen Guerillabewegung " (Castells 2010, 82), die das Internet zur Organisation einer internationalen Solidaritätsbewegung nutzt, die für Demokratie, Bildung, Nahrung, Freiheit, Gesundheitsversorgung, Wohnen, Unabhängigkeit, Gerechtigkeit, Land, Frieden und Arbeit für die armen Bauern im südlichsten Bundesstaat Chiapas kämpfte. Die Situation hat sich heute geändert. Die sozialen Medienkanäle rechtsgerichteter politischer Akteure gehören zu den aktivsten und am weitesten verbreiteten Internetkanälen. Castells schrieb Ende der 1990er Jahre, dass nicht nur linke Bewegungen, sondern auch rechtsextreme Bewegungen wie die militanten American Patriots das Internet nutzten: „Ohne Internet, Fax und alternative Medien wären die Patriots kein einflussreiches Netzwerk gewesen, sondern eine unzusammenhängende, machtlose Reihe von Reaktionen“ (Castells 2010 [die 1. Auflage erschien 1997], 164). Während die rechtsextremen Kräfte damals politische Außenseiter waren, sind sie etwas mehr als zwanzig Jahre später in vielen Teilen der Welt zum politischen Mainstream geworden. Die faschistische Nutzung sozialer Medien Nazis, Faschist: innen und rechte Demagog: innen nutzen die sozialen Medien, um ihren Hass zu dokumentieren, zu kommunizieren und zu organisieren. Terror, der Menschen tötet, die von Rechten zum Sündenbock gemacht werden, ist die schlimmste Folge der rechtsextremen Ideologie und Politik. Die Terroranschläge in Neuseeland 2019 haben gezeigt, wie faschistischer Terror mit sozialen Medien zusammenspielt. Am 15. März 2019 streamte der weiße Rassist und Neonazi Brenton Tarrant seinen Terroranschlag auf Moscheen in Christchurch, bei dem er 51 Menschen tötete und 49 verletzte, in einem 17-minütigen Livevideo auf Facebook. Inspiriert von Tarrant versuchte Philip Manshaus einen Facebook-Livestream seines Anschlags auf die Moschee in Bærum in Norwegen zu installieren, bei dem im August 2019 eine Person ermordet wurde. Am 9. Oktober 2019 übertrug der deutsche Neonazi Stephan Balliet per Livestream auf Twitch (Amazons Livestreaming-Plattform), wie er versuchte, die Tür der Synagoge in Halle aufzuschießen und aufzusprengen, um die Juden und Jüdinnen zu töten, die den Jom-Kippur-Gottesdienst besuchten. Es gelang ihm nicht, in die Synagoge einzudringen, aber er tötete zwei Menschen in der Nähe und verletzte zwei weitere. Rechtsextreme Bewegungen haben viele Facetten, Formen und Dimensionen. Donald Trump ist ein rechtsextremer Milliardär, Entertainer und Demagoge, der von 2016 bis Anfang 2021 US-Präsident war. Er behauptete, die US-Präsidentschaftswahl 2020 sei manipuliert worden und er habe die Wahl gewonnen. Wladimir Putin steht seit 1999 <?page no="299"?> 9.2 Rechter Autoritarismus und Faschismus 299 als Präsident und Premierminister an der Spitze der russischen Politik. Genau wie Trump ist er ein rechtsextremer Demagoge. Während viele westliche Länder unter Putin lange Zeit wirtschaftliche und freundschaftliche diplomatische Beziehungen zu Russland unterhielten, änderte sich die Situation mit Russlands Krieg in der Ukraine. Trump ist auch ein intensiver Nutzer sozialer Medien, weshalb wir ihm in diesem Kapitel einige Aufmerksamkeit widmen werden. Der Informationskrieg ist ein wichtiger Aspekt des Krieges in der Ukraine, auf den wir in diesem Kapitel ebenfalls eingehen werden. Doch zunächst werden wir erörtern, was es mit rechtem Autoritarismus und (digitalem) Faschismus auf sich hat. 9.2 Rechter Autoritarismus und Faschismus Nationalismus und Autoritarismus: Die negative Dialektik des Neoliberalismus Der Neoliberalismus ist eine Ideologie und eine Form der Politik, die viele Teile der Gesellschaft, darunter zum Beispiel das Gesundheits- und Bildungswesen, auf der Grundlage von Märkten, Profiten und Waren organisieren will. Er hat sich seit den 1970er Jahren in der ganzen Welt verbreitet. Der Neoliberalismus gibt dem Kapital unregulierte und unbegrenzte Macht, was zu tiefen Spaltungen der Gesellschaft geführt hat. Eine negative Dialektik ist eine Strategie oder Entwicklung, die nach hinten losgeht und sich gegen sich selbst wendet und unbeabsichtigte Konsequenzen hervorruft. Der Neoliberalismus hat sich in einer negativen Dialektik, durch die das Entstehen neuer rechtsextremer Bewegungen und die Konsolidierung und das Wachstum bestehender rechter Bewegungen hervorgerufen wurde, gegen sich selbst gewendet und hat auf sich selbst zurückgeschlagen. Die kritischen Theoretiker Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1947/ 1988,1) argumentieren, dass der Kapitalismus die Tendenz „der Selbstzerstörung der Aufklärung“ hat. Der Kapitalismus ist durch die Logik der „Berechenbarkeit und Nützlichkeit“ (12) getrieben. „Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert” (13). Der Neoliberalismus reduziert die Gesellschaft und die Menschen auf die Logik des Profits. Der Neoliberalismus ist gegen liberale Werte nach hinten losgegangen und hat neue Bedrohungen für die Demokratie geschaffen. Soziale Freiheit und die Freiheit des Marktes und des Privateigentums gerieten in Konflikt. Ungehindert durch eine schwache politische Linke und eine Sozialdemokratie, die oft nicht mehr sozial ist und sich seit der Zeit von Tony Blair, der von 1997 bis 2007 Premierminister Großbritanniens war, in vielen Ländern an den Neoliberalismus angepasst hat, führt die neue negative Dialektik der Aufklärung tendenziell zu einem autoritären Kapitalismus. Rechtsextreme Bewegungen und neue Nationalismen sind die „Wundmale und die Narben einer Demokratie […], die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute nicht voll gerecht wird“ (Adorno 1968/ 2019, 18). Sie sind das Ergebnis der negativen Dialektik des neoliberalen Kapitalismus. Der Neoliberalismus verstärkte die Kommodifizierung von allem, die Ideologie des Entrepreneurship, die Privatisierung, die Deregulierung, die Finanzialisierung, die Globalisierung, die Deindustrialisierung, das Outsourcing, die Prekarisierung und den neuen Individualismus. All diese Strategien <?page no="300"?> 300 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien sind nach hinten losgegangen. Sie haben Ungleichheiten und Krisentendenzen ausgeweitet und verschärft, was einen fruchtbaren Boden für neue Nationalismen, Rechtsextremismus und den neuen Faschismus geschaffen hat. Max Horkheimer (1939, 115) merkte an: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“. Er warnte, der Kapitalismus garantiere keine Demokratie und habe das Potenzial, den Faschismus voranzubringen. Der Begriff der autoritären Persönlichkeit der Frankfurter Schule Die Frankfurter Schule führte den Begriff des autoritären Charakters ein. Erich Fromm (1900-1980) war ein marxistischer Psychoanalytiker und Sozialtheoretiker, der von 1930 bis 1939 mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung verbunden war. Er wurde von den Ansätzen von Karl Marx und Sigmund Freud beeinflusst und kombinierte diese. Als die Nazis in Deutschland mächtiger wurden, wollte Fromm herausfinden, inwieweit und warum Arbeiter: innen Hitler unterstützten. In den Jahren 1929-1931 führte er eine Umfrage unter 584 deutschen Arbeiter: innen durch (Fromm 1980). In dieser Studie prägte Fromm den Begriff der autoritären Persönlichkeit. Um die Grundlagen der faschistischen Ideologie besser zu verstehen, machte das Frankfurter Institut für Sozialforschung eine Studie, die 1936 unter dem Titel Studien über Autorität und Familie (Institut für Sozialforschung 1936/ 1987) veröffentlicht wurde. Sie enthielt Beiträge von Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse und anderen Forschern und Forscherinnen. Die Studie konzentrierte sich auf den Einfluss der Autorität in der Familie auf politische Werte. Während seines Exils in den USA leitete Theodor W. Adorno am Institut für Sozialforschung eine Studie, die die Merkmale der autoritären Charakterstruktur besser verstehen wollte. Sie wurde 1950 unter dem Titel The Authoritarian Personality veröffentlicht (Adorno et al. 1950, Adorno 1985). Nach der Rückkehr aus dem Exil nach Deutschland setzten Friedrich Pollock und Adorno die Studien über den autoritären Charakter fort. Pollock (1894-1970) war der engste Mitarbeiter von Horkheimer und Adorno. Im Jahr 1955 veröffentlichten Pollock und Adorno die Ergebnisse von Fokusgruppen zum Autoritarismus, die im postfaschistischen Deutschland durchgeführt wurden (Pollock 1955, Pollock und Adorno 2011). Rechter Autoritarismus Adorno und seine Kollegen entwickelten einen psychologischen Fragebogen, der in seinen verschiedenen Versionen aus 78, 60, 45 und 40 Fragen bestand. Dieses Instrument der Sozialforschung wurde als F-Skala bekannt. Für theoretische Zwecke können wir den rechten Autoritarismus in vier Kerndimensionen zusammenfassen, die in Abbildung 9.1 visualisiert sind und die Dimensionen der F-Skala verallgemeinern (vgl. Fuchs 2018b). Diese vier Dimensionen sind autoritäre Führung, Nationalismus, das Freund-Feind- Schema und Gewalt/ militantes Patriarchat. Der rechte Autoritarismus wirkt als psychologische Disposition und ideologische Weltanschauung auf der Ebene des Individuums und als Ideologie auf der Ebene von Gruppen, Organisationen, Bewegungen und Parteien. Er ist aber auch eine potenzielle Form von Institution und Gesellschaft. Das bedeutet, dass rechter Autoritarismus auf verschiedenen Ebenen vom Individuum bis zur Gesellschaft organisiert sein kann. Jede obere Ebene setzt die Existenz von rechtem Autoritarismus auf den darunterliegenden Ebenen voraus, obwohl die Exis- <?page no="301"?> 9.2 Rechter Autoritarismus und Faschismus 301 tenz auf einer unteren Ebene nicht automatisch zur Existenz des rechten Autoritarismus auf einer höheren Ebene führt. Autoritäre Führung, Nationalismus, das Freund- Feind-Schema und Gewalt/ militantes Patriarchat sind die vier Dimensionen des rechten Autoritarismus. Abbildung 9.1: Ein Modell des rechten Autoritarismus Die vier Dimensionen des rechten Autoritarismus Autoritäre Führung ist das Prinzip und die Denkweise, dass der Einzelne die Macht haben sollte, Entscheidungen zu treffen, und dass Gruppen, Organisationen, Institutionen, Systeme und die Gesellschaft am besten durch autoritäre Führung regiert werden. Autoritäre Führung ist antidemokratisch. Sie ist das erste Prinzip des rechten Autoritarismus. Nationalismus ist das zweite Prinzip. Nationalismus ist eine Ideologie, die behauptet, dass eine fiktive nationale Gruppe („die Nation“) von primärer Bedeutung ist und die <?page no="302"?> 302 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien Einheit und Gemeinsamkeit ihrer Mitglieder definiert (für ein detailliertes theoretisches Konzept des Nationalismus siehe Fuchs 2020b). Die Gemeinsamkeit der Nation wird in dieser Ideologie entweder durch die Natur (Blut, Verwandtschaft, Boden, „Rasse“) oder durch die Kultur (gemeinsame Sprache, Traditionen, Mythen, Geschichte, Kriege, Helden, Symbole, Erinnerungen, moralische Praktiken und moralische Werte, Gewohnheiten, Geschmäcker, Alltagsleben und Lebensweisen, Kunst, Literatur, Gefühlsstruktur, Emotionen, Weltanschauungen, Ideen, Kriege, Philosophie, Religion, Bildung, Küche, Sport, Recht, Erfahrungen, Identität, Kommunikationsmittel usw.) definiert. Der Nationalismus fabriziert und erfindet eine fiktive Ethnizität (Balibar und Wallerstein 1991). Das Nationalbewusstsein ist der ideologische Aspekt des Nationalismus. Nationalismus hat auch eine politische Dimension: Er erhebt den Anspruch, ein bestimmtes Territorium (den Nationalstaat) zu kontrollieren, in dem die Mitglieder der Nation leben sollen. Nationalismus ist sowohl eine Ideologie als auch eine Form des Politischen. Das Territorium, das der Nationalstaat beansprucht, ist der Raum für die Organisation des Nationalstaates. Der Nationalstaat ist begrenzt, d.h. er hat eine Grenze, die mit militärischen Mitteln verteidigt wird. Während der Nationalismus die Ideologie ist, die die kollektive politische Identität einer rechtsautoritären Gesellschaft definiert, ist die autoritäre Führung das Organisationsprinzip, das für die Leitung der Institutionen, Organisationen und Sozialsysteme dieser Gesellschaft verwendet wird. Die Nazis fetischisierten die „arische Rasse“ nicht nur als fiktive Ethnizität, die die deutsche Nation definiert, sie glaubten auch an Hitler als einen gottähnlichen Führer, schafften die Demokratie ab und ächteten jegliche politische Opposition. Das Freund-Feind-Schema ist die dritte Dimension des rechten Autoritarismus. Dieses Prinzip definiert die Nation in Opposition zu inneren und äußeren Feinden, die als Gefahren für die Nation und/ oder als Ursache für besondere Probleme der Gesellschaft dargestellt werden. Das Freund-Feind-Schema ist eine polarisierende Form der Politik, die nur Freunde und Feinde kennt und Individuen nicht als Menschen, sondern in Form bestimmter Gruppen definiert, denen sie angeblich angehören. Das Freund-Feind-Schema ist zutiefst anti-humanistisch. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sind typische Formen des Freund-Feind- Schemas. Gewalt und militantes Patriarchat bilden die vierte Dimension des rechten Autoritarismus. Sie sieht den männlichen Soldaten als den idealen Bürger und Menschen, fördert eine sexistische Arbeitsteilung in der Gesellschaft und erachtet Krieg, Gewalt und Law & Order-Politik als die besten Mittel zum Umgang mit gesellschaftlichen Problemen und Konflikten. Militanz und Patriarchat sind in der Figur des männlichen Soldaten und der Idealisierung von Gewalt und Krieg untrennbar miteinander verbunden. Gewalt ist die absichtlich herbeigeführte körperliche Schädigung eines Menschen (Walby et al. 2017). Das militante Patriarchat ist das Prinzip, das der rechte Autoritarismus propagiert und für den Umgang mit seinen identifizierten Feinden einsetzt. In letzter Instanz befürwortet und praktiziert er nicht nur die Konstruktion seiner Feinde als Sündenböcke, sondern auch die Anwendung von Gewalt gegen sie. Rechtsautoritäre Gesellschaften sind kapitalistische Gesellschaften und Klassengesellschaften. Die allgemeine ideologische Rolle des rechten Autoritarismus besteht darin, dass er die Aufmerksamkeit von Klassenstrukturen und Klassenkonflikten und der Verankerung der Probleme der Gesellschaft in ihrer Klassenstruktur ablenkt, in- <?page no="303"?> 9.2 Rechter Autoritarismus und Faschismus 303 dem er Sündenböcke konstruiert, die für die Verursachung dieser Probleme verantwortlich gemacht werden. Er stellt die kapitalistische Klasse und die Arbeiterklasse so dar, als hätten sie einheitliche nationale Interessen, obwohl in Wirklichkeit eine Klassenspaltung mit gegensätzlichen Interessen zwischen diesen beiden Gruppen besteht. Denken wir zum Beispiel an Nazi-Deutschland: Hitler kam im Zusammenhang mit einer Weltwirtschaftskrise des Kapitalismus an die Macht, die Massenarbeitslosigkeit und Elend verursachte. Er stellte die Juden und Jüdinnen als Ursache für gesellschaftliche Probleme dar, was die Aufmerksamkeit von den strukturellen Gegensätzen des Kapitalismus ablenkte, die zu einer großen Wirtschaftskrise führten. Einmal an der Macht, monopolisierte Hitler nicht nur die politische Macht in Form einer Diktatur, sondern organisierte den deutschen Kapitalismus auch so um, dass große Monopole die Wirtschaft beherrschten, Gewerkschaften abgeschafft wurden, eine Kriegswirtschaft eingeführt wurde und der Krieg als imperialistisches Mittel genutzt wurde, um die geographische Reichweite der deutschen Wirtschaft auszudehnen. Hitler und die Nazis versuchten, die Deutschen als durch Rasse geeint darzustellen, was die Aufmerksamkeit von der tatsächlichen Existenz des Kapitalismus und der Klassenstrukturen ablenkte. Es gibt verschiedene Formen des rechten Autoritarismus: Der autoritäre Konservatismus glaubt an Hierarchien, Nationalismus, Freund-Feind-Gedankengut, Militarismus, Law & Order-Politik, aber er respektiert und agiert innerhalb der Demokratie. Der Rechtsextremismus ist eine Ideologie und Politik, die die vier Prinzipien des rechten Autoritarismus propagiert. Aus dem formalen Grund der Akkumulation von Macht und Einfluss agieren Rechtsextreme oft als politische Parteien, die demokratisch in die Parlamente gewählt werden wollen. In demokratischen politischen Systemen werden sie manchmal sogar Teil von Regierungen. Aber Rechtsextreme glauben nicht an Demokratie und wollen den Einfluss und die Handlungsmöglichkeiten der politischen Opposition einschränken. Sie streben den Aufbau einer autoritären Gesellschaft ohne politische Opposition an. Während Rechtsextreme dazu neigen, Gewalt gegen ihre Feinde zu akzeptieren und zu legitimieren, sind ihre Angriffe auf ihre Feinde eher verbaler und symbolischer Natur. Im Gegensatz dazu üben Faschist: innen offene Gewalt und Terror gegen ihre identifizierten Feinde aus. Der Faschismus ist eine terroristische Ideologie, Bewegung und Gesellschaftsform. Er benutzt Terror als Methode zur Verwirklichung der vier Prinzipien des rechten Autoritarismus. Wir können Faschismus als antidemokratische, antisozialistische und terroristische Ideologie, Praxis und Organisationsform von Gruppen, Institutionen und der Gesellschaft definieren, die auf der Kombination von a) dem Führerprinzip, b) dem Nationalismus, c) dem Freund-Feind-Schema und d) dem militanten Patriarchat (Idealisierung des Soldaten, Praktiken des Patriarchats, Unterordnung der Frau; Krieg, Gewalt und Terror als politische Mittel) und der Anwendung von Terror gegen konstruierte Feinde beruht. Der Faschismus versucht, eine faschistische Gesellschaft zu errichten, in der diese vier Prinzipien institutionalisiert werden. Er zielt darauf ab, Menschen zu mobilisieren, die den Verlust von Eigentum, Status, Macht und Ansehen fürchten, und sie zu Anhängern des Faschismus zu machen. Der Faschismus spielt in kapitalistischen Gesellschaften und Klassengesellschaften eine ideologische Rolle, indem er Sündenböcke für gesellschaftliche Probleme verantwortlich macht und gesellschaftliche Probleme <?page no="304"?> 304 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien als Antagonismus zwischen Nation und Fremden darstellt, wodurch Faschist: innen die Aufmerksamkeit von der systematischen Rolle ablenken, die Klasse und Kapitalismus bei gesellschaftlichen Probleme spielen, und vom Klassenwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit. Der Faschismus propagiert oft einen eindimensionalen, einseitigen und personalisierenden „Antikapitalismus“, der die Nation als politischen Fetisch und einen Antagonismus zwischen der Einheit von Kapital und Arbeit einer Nation auf der einen Seite und einer bestimmten Form von Kapital oder Wirtschaft oder Produktion oder Gemeinschaft auf der anderen Seite konstruiert, die als Zerstörung des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Überlebens der Nation dargestellt wird. Der Begriff des rechten Autoritarismus ist dem Begriff des Rechtspopulismus vorzuziehen. Die kritische Theorie des Autoritarismus, die von der Frankfurter Schule und verwandten Autor: innen zur Analyse des Faschismus, des Nationalsozialismus und der autoritären Persönlichkeit ausgearbeitet wurde, ist in dieser Hinsicht sehr hilfreich. Insbesondere die Werke von Franz Leopold Neumann, Erich Fromm, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal und Willhelm Reich sind für die Analyse des rechten Autoritarismus von Bedeutung. Die Gesamtheit der Werke dieser Autoren hat den Vorteil, dass sie durch die Verbindung von politischer Ökonomie, Ideologiekritik und kritischer Psychologie eine integrative Analyse der Gesellschaft ermöglicht. Darüber hinaus verbindet sie Sozial- und Geisteswissenschaften, Sozialanalyse und Philosophie, empirische Sozialforschung und Gesellschaftstheorie. Diese Autoren gehen von Karl Marx‘ Begriff der Entfremdung und Georg Lukács‘ (1923) Konzept der Verdinglichung aus. Sie sehen Ausbeutung, Herrschaft und ideologische Manipulation als Typen instrumenteller Vernunft, als Formen asymmetrischer Macht, die Arbeitskraft (Ausbeutung), Bürger (Herrschaft) und Bewusstsein (Ideologie) instrumentalisieren. Fünf Faktoren, die die Entwicklung des rechten Autoritarismus unterstützen Franz L. Neumann (1900-1954) war während der Exilzeit des Instituts für Sozialforschung in den USA von 1936 bis 1942 als Politikwissenschaftler mit der Frankfurter Schule verbunden. Er ist Autor des Buches Behemoth: Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944 (Neumann 1977), einer der besten Analysen des Nazi-Faschismus. Das Buch kombiniert eine Analyse sowohl der politischen Ökonomie als auch der Ideologie des deutschen Faschismus, während sich andere Analysen oft entweder nur auf die Wirtschaft oder vorwiegend auf das politische System oder die Ideologie konzentrieren. In dem Artikel Anxiety and Politics („Angst und Politik“) fragt Neumann (1957/ 2017, 1978, 424-459): Wie kommt es, dass die Massen ihre Seele an Führer verkaufen und diesen blind folgen? Er verbindet Politische Ökonomie, freudianische Psychoanalyse und Ideologiekritik (siehe auch Fuchs 2017c für eine Diskussion der Relevanz von Neumanns Werk heute). Neumann skizziert fünf Faktoren, die das Entstehen von rechtem Autoritarismus und Faschismus begünstigen: 1. die Entfremdung der Arbeit; 2. der zerstörerische Wettbewerb; 3. die soziale Entfremdung; <?page no="305"?> 9.2 Rechter Autoritarismus und Faschismus 305 4. die politische Entfremdung; 5. die Institutionalisierung von Angst. In Folge der Weltwirtschaftskrise von 2008 trugen diese fünf Faktoren zusammen zur Entstehung und Ausbreitung von Autoritarismus und Nationalismus in vielen Ländern bei. Alle fünf Faktoren trugen zum Entstehen eines neuen Nationalismus und neuer Autoritarismen bei: 1. In vielen Ländern hat die neoliberale Politik seit den 1970er und 1980er Jahren die Entfremdung der Arbeit verstärkt. Die Unternehmensgewinne sind gestiegen, während die Löhne stagniert und die prekären Arbeitsverhältnisse zugenommen haben. Infolgedessen ist die Lohnquote, der Anteil der Gesamtlöhne am Bruttoinlandsprodukt, in den meisten Ländern deutlich zurückgegangen, während die Kapitalquote, der Anteil des Gesamtkapitals am Bruttoinlandsprodukt, stark angestiegen ist. Die Folge war eine zunehmende sozioökonomische Ungleichheit. 2. Freihandelsabkommen, neoliberale Politik und die globale Auslagerung von Arbeit förderten den zerstörerischen Wettbewerb. Der Neoliberalismus erzeugte konkurrierende Nationalstaaten, die bei der Deregulierung des Wohlfahrtsstaates, beim Abbau öffentlicher Dienstleistungen, bei Steuersenkungen für Unternehmen und bei der Beschneidung des Schutzes der Arbeitsbedingungen miteinander konkurrierten. Transnationale Konzerne wurden zu global agierenden politischen Akteuren, die die Politik auf nationalstaatlicher Ebene und regionale Blöcke wie die EU unter Druck setzten. 3. Soziale Entfremdung bedeutet, dass eine Gesellschaftsgruppe „in ihrem Prestige, ihrem Einkommen oder in ihrer Existenz bedroht“ wird und „den historischen Prozess nicht“ versteht oder daran gehindert wird, „ihn zu verstehen“ (Neumann 1978, 447). Die Deindustrialisierung, Informatisierung, Automatisierung und Globalisierung des Kapitalismus haben zum Niedergang der Arbeiterklasse geführt, was Ängste, Frustration, Angst und Hass hervorgerufen hat. 4. Die politische Entfremdung ist der vierte Faktor. Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus hat das Vertrauen in Politiker, Parteien und politische Institutionen wie die Demokratie in vielen Ländern abgenommen. 5. Rechte Bewegungen sind Institutionalisierungen politischer Ängste . Sie geben vor, für die politisch Enttäuschten und sozial Benachteiligten zu sprechen und schüren den Hass gegen Immigrant: innen, Flüchtlinge, Linke usw. Die Schwäche der politischen Linken, die vor allem darauf zurückzuführen ist, dass viele Sozialdemokraten die neoliberale Ideologie übernommen haben, hat die Ausbreitung der Rechtsextremen gefördert. Der Sozialismus ist das beste Mittel gegen den Faschismus. Wenn die sozialistische Bewegung schwach ist, neigt der Rechtsextremismus dazu, zu wachsen. Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 2008 haben diese fünf Faktoren zusammen zur Entstehung und Ausbreitung von Autoritarismus und Nationalismus in vielen Ländern beigetragen. Digitaler rechter Autoritarismus und digitaler Faschismus Im digitalen Rechtsautoritarismus nutzen Rechte digitale Technologien, um a) ihre Ideologie zu verbreiten, die aus Merkmalen wie autoritärer Führung, Nationalismus, Freund-Feind-Schema und militantem Patriarchat besteht, und b) um sich zu organi- <?page no="306"?> 306 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien sieren, um eine autoritäre Gesellschaft voranzutreiben, die nach rechtsautoritären Prinzipien organisiert ist. Der Faschismus ist eine terroristische Form des rechten Autoritarismus, die darauf abzielt, die identifizierten Feinde durch den Einsatz von Gewalt, Terror und Krieg zu töten. Digitaler Faschismus bedeutet die Kommunikation des Faschismus im Internet sowie die Nutzung digitaler Technologien durch faschistische Gruppen und Einzelpersonen als Informations-, Kommunikations- und Organisationsmittel (siehe Fuchs 2022b). Im digitalen Faschismus nutzen Faschist: innen digitale Technologien für den Versuch, Gewalt, Terror und Krieg als Mittel zur Errichtung einer faschistischen Gesellschaft zu fördern. In Abschnitt 9.3 werden wir das Beispiel von Donald Trumps Nutzung der sozialen Medien diskutieren. Danach werden wir uns in Abschnitt 9.4 auf den Putinismus im Kontext der digitalen Medien konzentrieren. 9.3 Der digitale Autoritarismus auf sozialen Medien: Das Beispiel von Donald Trump 9.3.1 Autoritäre Führung auf sozialen Medien In diesem Kapitel haben wir bisher etwas über den rechten Autoritarismus, Faktoren, die zur Entstehung des rechten Autoritarismus beitragen, und Probleme des Populismusbegriffs erfahren. Wir werden uns nun Beispiele dafür ansehen, wie rechtsautoritäre Ideologie über soziale Medien vermittelt wird. Erinnern wir uns daran, dass der rechte Autoritarismus vier Dimensionen hat: autoritäre Führung, Nationalismus, das Freund-Feind-Schema und Gewalt/ das militante Patriarchat. Die Abschnitte 9.3, 9.4, 9.5 und 9.6 greifen diese vier Dimensionen auf und analysieren sie anhand von Beispielen, wie rechter Autoritarismus im Kontext der sozialen Medien funktioniert. Werfen wir einen Blick auf einen Tweet, in dem Donald Trump über Führung spricht. Abbildung 9.2: Tweet von Donald Trump über Führung mit einem Link zu einem Facebook-Video, Quelle: https: / / twitter.com/ realdonaldtrump/ status/ 696763168178204672 <?page no="307"?> 9.3 Der digitale Autoritarismus auf sozialen Medien: Das Beispiel von Donald Trump 307 Der Text des Facebook-Videos139, das Trum p in seinem Tweet verlinkt, lautet: TRUMP [geschriebener Text] COMPETENT LEADERSHIP [geschriebener Text] [Von Trump gesprochener Text: ] Our country needs competency. We need a smart president. We need a great leader. We don’t need what we have now. And many of the people I am running against are going to be just what we have now. If I am elected President, I will do a truly great job. I’ll make America great again. Everybody is going to be very, very happy. Even our biggest critics are going to love the job we do together. TRUMP [geschriebener Text] MAKE AMERICA GREAT AGAIN [geschriebener Text] WWW.DONALDJTRUMP.COM [geschriebener Text] In diesen Postings charakterisiert Trump sich selbst als „starke Führungspersönlichkeit“, „kompetente Führungspersönlichkeit“, „große Führungspersönlichkeit“, „kluger Präsident“ und als jemand, der „wirklich großartige Arbeit“ leistet. Die Behauptung, dass jemand ein Führer ist, versucht zu vermitteln, dass er an der Macht ist und die Dinge gut managt, sodass die Ingroup davon profitiert und sich keine Sorgen machen muss. Trump verstärkt diese Behauptung durch die Verwendung der Adjektive „stark“, „kompetent“, „großartig“, „klug“ und „wirklich großartig“. Damit versucht er zu betonen, dass er ein mächtiger, effektiver, effizienter Führer sei, der die Dinge in die Hand nehme und „Amerika wieder großartig machen wird“. Trump verwendet hier, was Martin Reisigl und Ruth Wodak (2001) in ihrem diskurshistorischen Ansatz der Kritischen Diskursanalyse als Intensivierungsstrategien bezeichnen. Solche Strategien versuchen, „den epistemischen Status einer Aussage, den Grad der Gewissheit, sprachlich oder visuell zu intensivieren und die Ausdruckskraft der Sprecher: innen oder Autor: innen sowie die Überzeugungskraft, die auf die Zuhörer: innen und Leser: innen ausgeübt wird, zu modifizieren“ (Reisigl und Wodak 2001, 81). Durch Intensivierung will Trump den Amerikaner: innen versichern, dass er die Macht und Stärke hat, ihr Leben zum Besseren zu verändern. In Wirklichkeit steht Trump für ein hyperneoliberales Programm, das das Gesundheits- und Bildungswesen vollständig privatisiert und die Konzernsteuern senkt, was die Ungleichheit zwischen der Arbeiterklasse und der Kapitalistenklasse vergrößert. Trumps „Tax Cuts and Jobs Act“ von 2017 senkte die US-Körperschaftssteuer von 35 auf 21 Prozent. Mit dem Argument, dass „wir das, was wir jetzt haben, nicht brauchen“ („We don’t need what we have now“), will Trump sagen, dass Barack Obama ein schwacher Führer sei, der die Dinge nicht „zum Laufen bringt“. Dies erlaubt Trump, sich als starke und mächtige Alternative zu präsentieren. Trump arbeitet mit Dualismen wie stark/ schwach, Großartigkeit/ Katastrophe, effektiv/ ineffektiv, gut/ schlecht, am schlechtesten/ am besten. In einem Interview im August 2016 verwendete Trump eine Reihe negativer Adjektive und Substantive, um Barack Obama als „schlechtester Präsident“, „Katastrophe“, „schwach“ und „ineffektiv“ zu charakterisieren: „Ich glaube, er ist der vielleicht schlechteste Präsident in der Geschichte unseres Landes. Ich denke, er war eine Katastrophe. Er war schwach, er war ineffektiv. Sehen Sie sich diesen so genannten Aufschwung an, er setzt Rekordtiefs, so etwas hat es seit 139 http: / / www.facebook.com/ watch/ ? v=10156620333635725, abgerufen am 15. Juni 2023. <?page no="308"?> 308 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien 1949 nicht mehr gegeben. Sehen Sie sich das Wohnungseigentum an. Sehen Sie sich das, was geschehen ist, als Beispiel an” (Schwartz 2016). Indem er sagt, dass Politiker: innen „die Dinge nicht erledigen“ (“Politicians can talk but they don’t get things done“), will Trump zum Ausdruck bringen, dass er als milliardenschwerer Geschäftsmann Wohlstand und Ruhm in der Wirtschaft erreicht hat und daher in der Lage ist, die USA wie ein Unternehmen zu führen. Das Problem dieser Behauptung ist, dass sich Nationalstaaten, öffentliche Dienste und das Wohlfahrtssystem von gewinnorientierten Unternehmen unterscheiden. Wenn sie wie ein privates Unternehmen geführt werden, nimmt die Ungleichheit zu. Die Geschichte des Neoliberalismus ist eine Geschichte wachsender Ungleichheiten. Trump steht für die Kombination eines autoritären Staats mit einer Politik, die den Millionär: innen, Milliardär: innen und Großkonzernen auf Kosten der Arbeiter: innen und einfachen Leute zugutekommt. Im Buch Digital Demagogie: Autoritärer Kapitalismus in Zeiten von Trump und Twitter analysierte ich 1.815 Tweets, die Trump zwischen dem Zeitpunkt seiner Nominierung als republikanischer Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen 2016 und dem Tag seines Amtsantritts als US-Präsident postet. Die Analyse ergab, dass er Pronomen der ersten Person Singular wie „ich“ und „mich“ in viel höherem Maße verwendet, als dies im geschriebenen amerikanischen Englisch durchschnittlich der Fall ist (Fuchs 2018b, 212-214). Ich habe auch die Eliminationsszenen in 201 Episoden von Trumps Reality-TV-Show The Apprentice analysiert, in denen er beurteilt, ob Kandidat: innen das Potenzial haben, Geschäftsleute zu werden, und diejenigen eliminiert, von denen er meint, dass sie nicht das Zeug zum Manager und Kapitalisten haben. In 47,3 Prozent der Fälle rechtfertigte er die Eliminierung von Kandidaten und Kandidatinnen mit dem Argument „Du hast keine Führungsqualitäten! “ (Fuchs 2018b, 188). Als Präsident agiert Trump genauso wie auf Twitter und in The Apprentice . Er ist ein selbstbesessener Narzisst, der die Meinung anderer Menschen nicht respektiert. Er glaubt, dass er immer Recht hat und ist nicht fähig zur Selbstkritik. Twitter ist ein Ichzentriertes Medium. Wir denken im Allgemeinen, dass Twitter, Facebook, Instagram usw. soziale Medien sind. Einige sprechen auch von „Wir-Medien“ (z.B. Gillmor 2006). Aber auf diesen Plattformen gibt es rein individuelle Profile, und ihre Logik besteht darin, dass individualisierte Benutzer: innen Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit akkumulieren. Twitter und ähnliche Plattformen basieren auf der Logik des Individualismus, der Konkurrenz und der Akkumulation in Form der Anhäufung von Likes, Re-Tweets und Follower. Diese Logik fasziniert Trump, da er ein narzisstisches Individuum ist. Trump mag Reality-TV und Twitter so sehr, weil diese Medien seine narzisstische Persönlichkeit widerspiegeln. In Trumps Politik dreht sich alles um ihn. Es ist eine Politik in der ersten Person Singular. Er nutzt kurze Tweets, um der Welt mitzuteilen, was er liebt und hasst. In seiner Welt gibt es eine vollständige Polarisierung, in der es keine Zweideutigkeit und keinen Zwischenraum zwischen Liebe und Hass gibt. Entweder ist man sein Freund oder man wird von ihm gehasst und erlebt seinen Willen zur Zerstörung. Trump legt nahe, dass „[ü]bermenschliche Eigenschaften […] von ihm“ ausstrahlen, die „Staat, Partei und Volk“ durchdringen (Neumann 1977, 116). Er präsentiert sich gleichzeitig als Übermensch und, indem er ungehobelte Manieren zeigt und grobe Sprache verwendet, als gewöhnlich. Er benutzt das, was Adorno die Ideologie des großen kleinen Mannes nennt. Es handelt sich beim großen kleinen Mann um eine <?page no="309"?> 9.3 Der digitale Autoritarismus auf sozialen Medien: Das Beispiel von Donald Trump 309 309 „Person, die ebenso die Vorstellung von Allmacht erweckt wie die, dass er bloß von einer von den Geführten“ ist (Adorno 1970, 497). Erich Fromms Charakterisierung der autoritären Persönlichkeit ist eine perfekte Beschreibung von Donald Trump. Trump ist ein sado-masochistisches Individuum. Masochismus bedeutet die Liebe zu und die Unterwerfung unter die Mächtigen. Sadismus ist der Wunsch, die Schwachen zu unterdrücken und zu quälen. Der autoritäre Charakter ist eine Persönlichkeitsstruktur, deren Subjekte die Unterwerfung der Menschen unter externe Mächte affirmieren oder genießen, egal ob es sich bei dieser Macht um den Staat, einen Führer, ein Naturgesetz, die Vergangenheit oder Gott handelt (Fromm 1980, 209-210). Jemand, der einen autoritären Charakter hat, zeigt „Aggression […] gegen den Wehrlosen und […] Sympathie“ für die Mächtigen (115). Fromm (1990) argumentiert, dass der sadomasochistische politische Charakter ein „Streben nach Unterwerfung“ (156), eine „Gier nach Macht“ (156) und den „Wunsch, Macht über hilflose Wesen zu haben“ (169) aufweist. Die autoritäre Persönlichkeit „bewundert die Autorität und neigt dazu, sich ihr zu unterwerfen, möchte aber gleichzeitig selbst eine Autorität sein, der sich die anderen zu unterwerfen haben” (162). Die Nekrophilie ist eine Intensivierung des Sadismus, die neue Qualitäten annimmt (Fromm 1977, 366-486). Es handelt sich dabei um die Liebe zum Tod und zu Toten. „Man braucht kaum zu betonen, dass schwer nekrophile Personen sehr gefährlich sind. Es sind die Hasser, die Rassisten, die Befürworter von Krieg, Blutvergießen und Destruktion. Sie sind nicht nur dann gefährlich, wenn sie politische Führer sind, sondern auch als die potentiellen Kohorten eines diktatorischen Führers. Aus ihnen rekrutieren sich die Henker, die Terroristen und Folterer; ohne sie könnte kein Terrorsystem errichtet werden” (Fromm 1977, 414). Wie genau können wir uns diese Verbindung von Faschismus und Liebe zum Tod, die Fromm beschreibt, vorstellen? Fromm analysiert am Beispiel Adolf Hitlers die nekrophile, autoritäre Charakterstruktur. Er argumentiert: „Hitler hatte das Gefühl, dass die Juden das arische Blut und die arische Seele vergifteten. […] Aber es handelt sich dabei um die typische Phantasie eines Nekrophilen: die Angst vor Schmutz und Gift und vor der Gefahr, sich anzustecken. Es drückt sich darin die nekrophile Haltung aus, die die Außenwelt als schmutzig und vergiftet erlebt, und stellt gleichzeitig eine Abwehrhaltung dar. Höchstwahrscheinlich war Hitlers Haß gegen die Juden in diesem Komplex verwurzelt; sein Haß gegen die Juden als Fremdlinge. Fremde sind giftig (wie die Syphilis), deshalb müssen Fremde ausgerottet werden” (Fromm 1977, 449). Eine autoritäre Familienstruktur bestimmt nicht das Entstehen einer autoritären Persönlichkeit, sondern schafft eine faschistische Veranlagung (Fromm 1936, 86). Eine faschistische Charakterstruktur ist nicht automatisch die Folge, aber autoritäre Familienstrukturen schaffen eine faschistische Veranlagung (Fromm 1936, 86), die Individuen anfällig dafür macht, das autoritäre Verhalten von Lehrer: innen, Manager: innen, Chefs und politischen Führern zu bestätigen. Trump sagt über seinen Vater: Er „war ein sehr getriebener Typ. Darum bin ich so verkorkst, denn ich hatte einen Vater, der mich ziemlich hart rangenommen hat” (Trump & Zanker 2007, 321). Der nächste Abschnitt befasst sich mit der Kommunikation des Nationalismus auf sozialen Medien. <?page no="310"?> 310 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien 9.3.2 Nationalismus auf sozialen Medien Schauen wir uns ein Beispiel dafür an, wie Donald Trump nationalistische Ideologie auf sozialen Medien kommuniziert. Der folgende Tweet enthält einen Link zu einem Facebook-Video, in dem Trump über den US Labour Day spricht. Abbildung 9.3: Nationalistischer Tweet von Trump, Quelle: https: / / twitter.com/ realdonaldtrump/ status/ 772798809508372480 Abbildung 9.4: Nationalistisches Facebook-Posting von Trump, Quelle: https: / / www.facebook.com/ DonaldTrump/ videos/ 10157627283230725/ In dem Facebook-Video sagt Trump: „The American worker built the foundation for the country we love and have today. But the American worker is getting crushed. Bad trade deals like NAFTA and TPP, such high and inexcusable taxes and fees on small businesses that employ so many <?page no="311"?> 9.3 Der digitale Autoritarismus auf sozialen Medien: Das Beispiel von Donald Trump 311 good people. This Labor Day, let’s honour our American workers, then men and women who proudly keep America working. They are the absolute best anywhere in the world. There is nobody like ‘em. I’m ready to make America work again and to make America great again. That’s what we are going to do on November 8” . Trump verwendet hier immer wieder eine Kombination aus dem, was Reisigl und Wodak (2001, 50) ein Ökononym und ein Nationym nennen. Dies sind Prädikate, die sich auf Individuen in Bezug auf ihren wirtschaftlichen Status (Ökononym) und ihre Staatsbürgerschaft (Nationym) beziehen. Trump bezieht sich auf „Arbeiter“ und „Amerikaner“ und appelliert an die Kombination von beiden Gruppen, nämlich den „amerikanischen Arbeiter“. Zunächst lobt er die amerikanischen Arbeiter dafür, dass sie „das Fundament für das Land gelegt haben, das wir heute lieben und haben“. Trump konstruiert eine Identifikation der Nation und der Arbeiter. Er lässt völlig außer Acht, dass die US-Nation auf dem Tod, dem Blut und dem Schweiß afrikanischer Sklav: innen und amerikanischer Ureinwohner: innen aufgebaut wurde, die nicht in Trumps stereotype Vorstellung vom „amerikanischen Arbeiter“ passen. Die amerikanische Nation wurde als Klassengesellschaft, imperialistische Gesellschaft und rassistische Gesellschaft aufgebaut. Trump benutzt Superlative wie „das absolut Beste“, um den amerikanischen Arbeiter zu verherrlichen. Eine Verschiebung tritt ein, wenn Trump sagt, dass es „schlechte Handelsabkommen“ und „hohe und unentschuldbare Steuern und Gebühren“ für Unternehmen gibt. Hier versucht Trump, eine Einheit zwischen US-Arbeitern und dem US-Kapital herzustellen, indem er argumentiert, dass beide unter den wirtschaftlichen Aktivitäten ausländischer Nationen leiden. Häufig meint Trump damit Mexiko und China, denen er vorwirft, US-Arbeitsplätze gestohlen und die Preise auf den internationalen Märkten gedrückt zu haben. In seiner Rhetorik versucht Trump immer wieder, einen politisch-ökonomischen Konflikt zwischen ausländischen Nationen und der US-Nation heraufzubeschwören. In Wirklichkeit beutet das US-Kapital einerseits US-Arbeiter: innen und andererseits, als Folge transnationaler Kapitalinvestitionen, Arbeiter: innen in Ländern wie Mexiko und China aus. Das US-Kapital tut alles, was notwendig ist, um seine Profite zu steigern. Trump kommuniziert Nationalismus durch die Konstruktion eines mythischen Kollektivs von US-Amerikanern. Er behauptet, dass es ein einheitliches nationales Interesse von Kapital und Arbeit gibt. Er konstruiert ausländische Feinde, die die Nation bedrohen (Mexiko, China), und behauptet, dass es einen Konflikt der Nationen statt eines Klassenkonflikts gibt. Trumps Tweet und Facebook-Posting skizzieren, wie Nationalismus funktioniert. Rosa Luxemburg argumentierte, dass Nationalismus ein „Nebelschleier“ ist, der einen geschichtlichen Inhalt versteckt (Luxemburg 2016, 69). Damit meint sie, dass der Nationalismus die Klassenverhältnisse verbirgt und eine Ideologie ist. „In der Klassengesellschaft existiert eine als ein einheitlich gesellschaftlich-politisches Ganzes verstandene ‚Nation‘ nicht” (Luxemburg 2016, 69). Für Franz Neumann ist der Nationalismus ein Instrument, das dazu dient, „die wirkliche Machtkonstellation zu verbergen“ (Neumann 1977, 537). Laut Eric J. Hobsbawm ist Nationalismus eine Ideologie, die „die Mitglieder von ‚Uns‘ verbindet, weil sie ihre Unterschiede zu ‚Ihnen‘ betont. Was sie über das hinaus, dass sie nicht ‚die Anderen‘ sind, gemeinsam haben, ist nicht so klar. [...] Ethnizität ist eine Möglichkeit, die leeren Behälter des Nationalismus zu füllen“ (Hobsbawm 1992, 4). <?page no="312"?> 312 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien Michael Billig (1995) sieht Nationalismus als Ideologie, die durch die Banalität des Alltags in Form von Symbolen funktioniert. Die meisten Gelegenheiten, bei denen die Menschen sich der Nation bewusst werden, „bleiben mit Symbolen und halbrituellen Praktiken (z.B. Wahlen) verbunden, von denen die meisten historisch neuartig und weitgehend erfunden sind: Flaggen, Bilder, Zeremonien und Musik“ (Hobsbawm 1983, 12). Soziale Medien sind ein Phänomen des alltäglichen Lebens. Durch die Vermittlung von Nationalismus in sozialen Medien versuchen Trump und andere Autoritätspersonen, den Nationalismus als alltägliches Symbol, Praxis und Tradition im Leben der Bürger: innen zu erfinden und immer wieder neu zu erfinden. Karl Marx hat die Merkmale der nationalistischen Ideologie herausgearbeitet, indem er argumentierte, dass sie die Aufmerksamkeit vom Klassenkonflikt ablenkt. „Der gewöhnliche englische Arbeiter hasst den irischen Arbeiter […] Er fühlt sich ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation und macht sich eben deswegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland , befestigt damit deren Herrschaft über sich selbst . Er hegt religiöse, soziale und nationale Vorurteile gegen ihn. […] Dieser Antagonismus wird künstlich wachgehalten und gesteigert durch die Presse […] Dieser Antagonismus ist das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse , trotz ihrer Organisation. Er ist das Geheimnis der Machterhaltung der Kapitalistenklasse. Letztre ist sich dessen völlig bewußt” (Marx 1870, 668-669). Marx betont hier auch die Rolle der Medien bei der Vermittlung des Nationalismus. Im 21. Jahrhundert finden wir heute neben den traditionellen rechten Medien wie konservativen Boulevardzeitungen und rechten Talkshows in Radio und Fernsehen auch Internetplattformen als Vermittler von Nationalismus und Autoritarismus. Der nächste Abschnitt befasst sich mit der Kommunikation von Feindlogik auf sozialen Medien. 9.3.3 Das Freund-Feind-Schema auf sozialen Medien Trump kennt nur Freunde und Feinde. Und er greift seine Feinde heftig an, oft auf sozialen Medien. Sehen wir uns das Beispiel in Abbildung 9.5 an. Abbildung 9.5: Trumps Attacke auf die liberalen Medien, Quelle: https: / / twitter.com/ realdonaldtrump/ status/ 832708293516632065 Trump macht hier eine pauschale Verallgemeinerung, indem er impliziert, dass seine Feinde „der Feind des amerikanischen Volkes“ seien. Er bezeichnet sich selbst als den Führer und Vertreter aller Amerikaner: innen und argumentiert daher, dass Kritik und kritische Berichterstattung über ihn ein Angriff auf alle Amerikaner: innen seien. Die Wahl- <?page no="313"?> 9.3 Der digitale Autoritarismus auf sozialen Medien: Das Beispiel von Donald Trump 313 313 beteiligung bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 lag bei 61,4 Prozent (File 2017). Trump erhielt rund 46,1 Prozent der abgegebenen Stimmen (Federal Election Commission 2017). Das bedeutet, dass er weniger als 30 Prozent der wahlberechtigten Stimmen erhielt. Viele Amerikaner: innen haben Trump nicht unterstützt, daher ist jede Identifizierung von Trump mit „den Amerikaner: innen“ eine falsche und irreführende Behauptung. Trump benutzt das negative Qualionym/ Negationym (Reisigl und Wodak 2001, 52) „gescheitert“ („failing“), um über Medien ( New York Times , NBC, ABC, CBS, CNN ), die kritisch über ihn berichtet haben, einen negativen Eindruck zu erwecken. Die Implikation ist, dass er sich eine undemokratische und unfreie Medienlandschaft wünscht, in der es keine kritische Berichterstattung über die Machthaber gibt. Trump benutzt das Argumentum ad populum (Wodak und Reisigl 2001, 72), das versucht, einen Widerspruch zwischen „Mobs“ und „Snobs“, dem „Volk“ und der „Elite“, wie sie von Journalist: innen und den liberalen Medien repräsentiert wird, herzustellen. Indem er sich selbst als Vertreter des Volkes konstruiert, das von der „Elite“ ungerecht behandelt wird, vernebelt Trump den Umstand, dass er selbst Teil der Milliardärsklasse und damit der Elite ist. Im Jahr 2019 stufte das Forbes -Magazine Trump mit einem geschätzten Reichtum von 3,1 Milliarden US-Dollar als die 715-reichste Person der Welt ein (Forbes 2019). Bernie Sanders argumentiert in diesem Zusammenhang über Trumps Verwendung des Freund-Feind-Schemas, dass Trump Sündenböcke konstruiert, um die Aufmerksamkeit von der Tatsache abzulenken, dass die Löhne der Arbeiter: innen stagnieren, weil das Vermögen der Unternehmen massiv gestiegen ist (siehe Abbildung 9.6). In seiner Wut gegen die Medien sagt Trump, dass „die Falschnachrichten nicht die Wahrheit sagen“ und dass „wir etwas dagegen unternehmen werden“ (Trump 2017), was wie eine Drohung mit der Abschaffung der Pressefreiheit klingt. Indem Trump glaubwürdige Medien als „Falschnachrichten“ („Fake News“) bezeichnet, lenkt er die Aufmerksamkeit davon ab, dass er selbst eine „Fabrik für Falschnachrichten“ (Holloway 2017) ist, die über soziale Medien und andere Kanäle Lügen verbreitet, wie etwa die, dass Obama ein kenianischer Muslim ist, der nie die Columbia University besucht hat, oder dass Tausende von Muslim: innen in New Jersey öffentlich über den 11. September jubelten. Indem Trump in sozialen Medien Feinde konstruiert, versucht er, eine Ingroup („das amerikanische Volk“) von Outgroups (Sozialist: innen, Ausländer: innen, Immigrant: innen, People of Colour, Flüchtlinge, Muslime, politische Gegner usw.) zu trennen. Theodor W. Adorno beschreibt, wie das Freund-Feind-Schema funktioniert: „Die Gruppe also, zu der man sich selbst zählt - und es ist verhältnismäßig gleichgültig, welches Volk das ist -, wird mit allen erdenklichen guten Eigenschaften ausgestattet und wird zu den Geretteten gezählt, während die anderen, die man als negative verwirft und die man selbst entweder verdrängen muss oder jedenfalls nicht dort haben will, als die Verdammten gelten. Das ist die Fremdgruppe oder mindestens die Minderheit im eigenen Bereich, mit der man es gerade zu tun hat” (Adorno 1960, 253-254). Der faschistische Rechtstheoretiker Carl Schmitt (1932) formulierte das Freund-Feind- Schema. Er verstand Politik als eine Form des Krieges, in der es nur Freunde und Feinde gibt und eine stärkere Gruppe die Oberhand gewinnt. Es ist keine Überraschung, dass Schmitt Hitler unterstützte und Mitglied der Nazi-Partei war. Franz L. Neumann skizziert die Implikationen von Schmitts Schema, nämlich dass für die rechtsautoritäre Ideologie der Feind „letzten Endes jener [ist], der physisch vernichtet werden muss“ (Neumann 1977, 72). <?page no="314"?> 314 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien Abbildung 9.6: Bernie Sanders erklärt den ideologischen Zweck von Trumps Verwendung des Freund-Feind-Schemas, Quelle: https: / / twitter.com/ berniesanders/ status/ 1161802495297036288#27a259f9251c Neumanns Einsicht mündet in den vierten Aspekt der Vermittlung von Autoritarismus über soziale Medien, der als nächstes diskutiert werden soll: Gewalt und das militante Patriarchat. 9.3.4 Gewalt und militantes Patriarchat auf sozialen Medien Werfen wir einen Blick auf zwei bestimmte Tweets von Trump, die in den Abbildungen 9.7 und 9.8 dargestellt sind. Abbildung 9.7: Trumps Argumente für den Bau einer Mauer an der Grenze zwischen Mexiko und den US, Quelle: https: / / twitter.com/ realdonaldtrump/ status/ 1081891545245278208 <?page no="315"?> 9.3 Der digitale Autoritarismus auf sozialen Medien: Das Beispiel von Donald Trump 315 Abbildung 9.8: Trump reimt über die Mauer, die er bauen will, Quelle: https: / / twitter.com/ realDonaldTrump/ status/ 1088058726794387456 Das militante Patriarchat sieht in der Gewalt und der Law & Order-Politik die Lösung für die Probleme der Gesellschaft. Trump behauptet in diesen Tweets, dass Einwanderer aus Mexiko die Ursache für Kriminalität in den USA sind („die Kriminalität in unserem Land wird stark zurückgehen“). Die Wahrheit ist, dass die Inhaftierungsrate von Einwanderern aus Lateinamerika niedriger ist als die der in den USA geborenen US-Amerikaner: innen (American Immigration Council 2015). Trump versucht, Einwanderer zum Sündenbock zu machen, um für eine Law & Order-Politik zu plädieren. Trump sieht den Bau einer Mauer an der mexikanisch-amerikanischen Grenze als Rezept gegen die Kriminalität. Er benutzt sogar einen Reim, um seine Meinung auszudrücken: „Build a wall & crime will fall! “. Dies ist ein typisches fetischistisches Argument: Trump sieht ein Objekt (die Mauer) als die Lösung für Gesellschaftsprobleme. Er sieht nicht die Ungleichheit und die Klassenverhältnisse als Grundlage des Verbrechens, sondern die Einwanderung. Und seine Lösung sind strengere Gesetze und physische Grenzen, die auch ideologische und soziale Grenzen zwischen Nordamerika und Lateinamerika sind. Trump will People of Colour aus den USA fernhalten. Trump ist nicht nur für den Bau von Mauern, sondern auch für harte Strafen und Aufrüstung. Eines der großen politischen Idole von Trump ist Ronald Reagan, der 40. US-Präsident, der das Land von 1981 bis 1989 regierte. Reagan war einer der politischen Architekten des Neoliberalismus. Trump übernimmt eines der politischen Prinzipien von Reagan: Frieden durch Stärke (Peace through Strength) (siehe https: / / twitter.com/ realdonaldtrump/ status/ 928097146993369088). Wie Reagan denkt Trump, dass militärische Investitionen in „die neueste und beste Militärausrüstung überall auf der Welt“ (Trump) anderen Nationen Angst machen. Die Realität ist, dass das Wettrüsten die Fähigkeit hat, die Menschheit zu vernichten. Trump spricht sich dafür aus, Feinde anzugreifen: „Wenn dich jemand verarscht, dann verarsch ihn in höchstem Maße zurück. [...] Wenn dich jemand öffentlich angreift, dann schlag immer zurück. [...] Greif die Halsschlagader an, damit die Zuschauer sich erst gar nicht mit dir anlegen wollen“ (Trump und Zanker 2007, 199). In der Welt von Trump sind Überleben, Zähigkeit, Stärke und die Bereitschaft zum Kampf, zur Führung und zur Konkurrenz wichtige moralische Normen. Die „Rolle des liebenden Vaters“ wird substituiert durch die „negative der drohenden Autorität“ (Adorno 1970, 492). Das Modell des militärischen Befehlshabers wird auf den Bereich der Politik angewendet (Adorno 1973, 392). Autoritäre „zeugen sich durch die Zerstörung anderer, die Zerstörung der Dinge, der fremden Objektwelt, durch ihre Selbstverwandlung in Tötungsmaschinen und ihre Teile (‚Feuertaufe‘). Erst als Rächer sind sie mit sich selbst identisch“ (Theweleit 1980, 373). <?page no="316"?> 316 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien Rassismus und die Ermordung von George Floyd Am 25. Mai 2020 tötete ein Polizeibeamter George Floyd, indem er fast neun Minuten lang auf seinem Hals kniete. Floyd war ein afroamerikanischer Mann, der in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota lebte. Floyds Ermordung löste in den ganzen USA Proteste gegen Rassismus und Unruhen aus. Am 29. Mai twitterte Donald Trump: „ …. These THUGS are dishonoring the memory of George Floyd, and I won’t let that happen. Just spoke to Governor [of Minnesota] Tim Walz and told him that the Military is with him all the way. Any difficulty and we will assume control but, when the looting starts, the shooting starts. Thank you! ” 140 . Twitter erachtet die Formulierung „when the looting starts, the shooting starts” (wenn die Plünderungen beginnen, beginnt das Schießen) als Anstiftung zur Gewalt. Daher fügte das Unternehmen zu dem Tweet eine Notiz hinzu und schränkte seine Zugänglichkeit ein: „This Tweet violated the Twitter Rules about glorifying violence. However, Twitter has determined that it may be in the public’s interest for the Tweet to remain accessible”. Am 26. Mai fügte Twitter einem Tweet von Trump eine Faktencheck-Meldung hinzu. In dem Tweet wurde behauptet, dass die Briefwahl für die Präsidentschaftswahlen 2020 „substanziell betrügerisch“ („substantially fraudulent“) sein wird 141 . Trump postete auf Twitter: „@Twitter is now interfering in the 2020 Presidential election” 142 . Außerdem postete er: „Twitter is completely stifling FREE SPEECH, and I, as President will not allow it to happen! ” 143 . Er unterzeichnete eine Durchführungsverordnung, die Abschnitt 230 des Communications Decency Act aufhob, der Internet-Plattformen vor rechtlicher Haftung für die von Nutzern eingestellten Inhalte schützt. Die Electronic Frontier Foundation kommentierte, dass Trumps „Verordnung in keiner Weise im Sinn und Interesse der Meinungs- und Pressefreiheit steht. [...] sie stellt einen plumpen Versuch des Präsidenten dar, Vergeltungsmaßnahmen gegen ein amerikanisches Unternehmen zu ergreifen, das Trumps Gebot nicht eingehalten hat“ 144 Trump machte auch ein Posting mit der Formulierung „when the looting starts, the shooting starts“ auf Facebook 145 . Anders als Twitter beschloss der CEO von Facebook Mark Zuckerberg, nichts zu tun, da Facebook „so viel Ausdrucksmöglichkeiten wie möglich bieten sollte“ 146 . Während Twitter die Möglichkeit, Kommentare zu Trumps 140 https: / / twitter.com/ realDonaldTrump/ status/ 1266231100780744704, abgerufen am 23. Oktober 2023. 141 https: / / twitter.com/ realDonaldTrump/ status/ 1265255835124539392, abgerufen am 23. Oktober 2023. 142 https: / / twitter.com/ realdonaldtrump/ status/ 1265427538140188676, abgerufen am 23. Oktober 2023. 143 https: / / twitter.com/ realdonaldtrump/ status/ 1265427538140188676, abgerufen am 23. Oktober 2023. 144 https: / / www.eff.org/ deeplinks/ 2020/ 05/ trump-executive-order-misreads-key-law-promoting-free-expression-online-and, abgerufen am 23. Oktober 2023. 145 https: / / www.facebook.com/ DonaldTrump/ posts/ 10164767134275725, abgerufen am 23. Oktober 2023. 146 https: / / www.facebook.com/ zuck/ posts/ this-has-been-an-incredibly-tough-week-aftera-string-of-tough-weeks-the-killing/ 10111961824369871/ , abgerufen am 23. Oktober 2023. <?page no="317"?> 9.3 Der digitale Autoritarismus auf sozialen Medien: Das Beispiel von Donald Trump 317 317 Tweet zu schreiben und es zu re-tweeten, einschränkte, erreichte Trump Facebook- Posting über Plündern/ Erschießen innerhalb einer Woche etwa 55.000 Kommentare und wurde 71.000-mal geteilt. Als Reaktion auf Zuckerbergs Entscheidung organisierten Hunderte von Facebook-Mitarbeiter: innen eine virtuelle Arbeitsniederlegung, um gegen Facebooks Toleranz gegenüber Trumps Sprache und Aktionen zu protestieren. Am 1. Juni 2020 hielt Trump eine Rede im Weißen Haus, in der er sich selbst als „Law & Order-Präsident“ bezeichnete und argumentierte, dass er „das Militär der Vereinigten Staaten einsetzen und das Problem“ der Unruhen „schnell lösen“ werde 147 . Er sagte: „Ich entsende Tausende und Abertausende schwer bewaffneter Soldaten [...], um die Ausschreitungen, Plünderungen, den Vandalismus, die Übergriffe und die mutwillige Zerstörung von Eigentum zu stoppen“. Während Trump sprach, setzten Sicherheitskräfte Tränengas und Gummigeschosse gegen Demonstrant: innen ein, die sich auf dem Lafayette-Platz vor dem Weißen Haus versammelt hatten. Sie vertrieben die Demonstrant: innen, sodass Trump vom Weißen Haus zur St. John's Episcopal Church gehen konnte, wo er ein Fotoshooting inszenierte, bei dem er eine Bibel in die Kamera hielt 148 . Das Beispiel, wie Trump auf die Ermordung von George Floyd reagierte, zeigt, dass er Gewalt als ein geeignete Reaktion auf Konflikte sieht und bereit ist, das Militär gegen US-Bürger: innen einzusetzen. Trump nutzte soziale Medien wie Twitter, Facebook und YouTube, um seine Drohungen, Gewalt gegen US-Bürger: innen anzuwenden und Law & Order-Politik als Vergeltung gegen Twitter anzuwenden, zu verstärken. Trump versuchte nicht, die Situation zu beruhigen. Er goss vielmehr Benzin in das Feuer, das durch die Ermordung eines Mannes mit dunkler Hautfarbe durch einen Polizisten entfacht worden war. Trump verstärkte die staatliche Gewalt im Kontext der staatlichen und rassistischen Ermordung eines Afroamerikaners. Trumps Haltung gegenüber Gewalt ist charakteristisch für das, was Erich Fromm als den autoritären, nekrophilen Charakter beschreibt, der den Tod fetischisiert: „für den Nekrophilen ist kennzeichnend, dass Gewalt - die Macht, einen Menschen in einen Leichnam zu verwandeln‘, um mit Simone Weil zu reden - die erste und letzte Lösung für alles darstellt” (Fromm 1977, 380). Simone Weil war eine französische Philosophin. Sie definierte Gewalt als die Verwandlung des Menschen in ein Ding: „Die Gewalt macht jeden, der sie erleidet, zum Ding. Wird sie bis zur letzten Konsequenz ausgeübt, macht sie den Menschen zum Ding im wortwörtlichsten Sinne, sie macht ihn zum Leichnam” (Weil 2011, 161). Gewalt ist nicht dasselbe wie Macht. Sie ist eine Dimension von repressiven Gesellschaften und eine soziale und gesellschaftliche Beziehung, in der Menschen versuchen, anderen Menschen absichtlich körperlichen Schaden zuzufügen, wobei die Opfer nicht mit der Gewalt einverstanden sind. Der verursachte Schaden ist in der Regel „eine körperliche Verletzung“ (Walby et al. 2017, 33), kann aber auch zusätzlich mentale oder psychische Schäden umfassen. Bei den US-Präsidentschaftswahlen 2020 verlor Trump gegen Biden. Er behauptete, das Wahlergebnis sei gefälscht, was darin gipfelte, dass Trump-Anhänger: innen am 6. Januar 2021 das Kapitol stürmten. 147 https: / / www.youtube.com/ watch? v=Jf5BOMMpnWw, abgerufen am 23. Oktober 2023. 148 https: / / edition.cnn.com/ videos/ us/ 2020/ 06/ 02/ donald-trump-church-photo-op-georgefloyd-protest-bash-pkg-vpx-es.cnn, https: / / www.youtube.com/ watch? v=zQCHvK_pB7U <?page no="318"?> 318 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien Januar 2021: Trump-Anhänger: innen stürmen das Kapitol, Twitter suspendiert Trump In den zwei Monaten zwischen dem Tag nach der US-Präsidentschaftswahl und dem Putschversuch hat der US-Präsident einen konstanten Strom von insgesamt 1.718 Tweets abgesetzt, in denen er behauptete, die Wahl sei gefälscht und betrügerisch. Mit Hilfe von TAGS (Twitter Archiving Google Sheet) und Discovertext sammelte ich alle Tweets von Trump zwischen dem 2. Juni 2020 und dem 8. Januar 2021, als Twitter Trumps Konto schloss, was zu einem Datensatz von 8.736 Tweets führte. In diesen Tweets wiederholte Trump ständig die Botschaft, dass „sie versuchen, die Wahl zu stehlen. Wir werden das niemals zulassen“ (4. November; „they are trying to STEAL the Election. We will never let them do it”), bis Twitter sein Konto zunächst vorübergehend und dann dauerhaft sperrte. Die Sperrung trat in Kraft, nachdem er über die Unruhen getwittert hatte: „Das sind die Dinge und Ereignisse, die passieren, wenn ein heiliger Erdrutschsieg großen Patrioten, die so lange schlecht und unfair behandelt wurden, so kurzerhand und bösartig entrissen wird“ (6. Januar: „These are the things and events that happen when a sacred landslide election victory is so unceremoniously & viciously stripped away from great patriots who have been badly & unfairly treated for so long“). Die Durchführung einer Worthäufigkeitsanalyse mit NVivo ergab, dass „Wahl“ (153 Nennungen, „ballot“), „Betrug“ (140, „fraud“), „Fake“ (77, „fake“) und „manipuliert“/ „manipulieren“ (67, „rigged“/ „rigging“) zu den am häufigsten verwendeten Wörtern in Trumps Tweets nach der Wahl gehörten. Zwischen dem 19. Dezember 2020 und dem 6. Januar 2021 kündigte Trump sieben Mal die „Save America“-Kundgebung an, die er in Washington DC an dem Tag abhielt, an dem seine Anhänger das Kapitol stürmten. Bei der ersten Ankündigung tweetete er: „Be there, will be wild! “. „To be wild“ ist eine Umschreibung für die Anwendung von Gewalt. Der Aufruf zur Teilnahme an der Versammlung ging unter Trumps Anhänger: innen in den sozialen Medien viral (Barry, McIntire und Rosenberg 2020). Rechtsextreme Gruppen wie die Proud Boys, QAnon-Verschwörungstheoretiker: innen, die Oath Keepers oder Three Percenters schlossen sich an (Hill 2021). Einige Trump-Anhänger: innen brachten Gewehre, Molotowcocktails oder Rohrbomben mit (Porter 2021). Mit Hilfe von sozialen Medien, Reden, Interviews, Pressekonferenzen usw. baute Trump Schritt für Schritt ein hohes Maß an Aggression unter seinen Anhänger: innen auf. Trumps Strategie, das Wahlergebnis zu untergraben, gipfelte in den Ereignissen vom 6. Januar. Seine 71-minütige Rede auf der „Save America“-Kundgebung löste den anschließenden Putschversuch aus. Am 8. Januar 2021 sperrte Twitter Trumps Konto mit der Begründung, seine Tweets hätten zu Gewalt aufgerufen: „After close review of recent Tweets from the @real- DonaldTrump account and the context around them - specifically how they are being received and interpreted on and off Twitter - we have permanently suspended the account due to the risk of further incitement of violence” (Twitter 2021). Auch andere Social-Media-Plattformen wie YouTube, Facebook und Instagram sperrten die Konten von Trump. Da Trump den traditionellen Medien misstraut und sie häufig angreift, sind die sozialen Medien sein wichtigstes Kommunikationsmittel. Die Schnelligkeit, die Kürze, die Oberflächlichkeit und der Individualismus der sozialen Medien sind das ideale Medi- <?page no="319"?> 9.3 Der digitale Autoritarismus auf sozialen Medien: Das Beispiel von Donald Trump 319 um für die Unterstützung von Trumps Populismus und seiner Politik des Hasses. Das Sperren seiner wichtigsten Social-Media-Kanäle hat seine öffentliche Präsenz deutlich reduziert. Truth Social Im Februar 2022 startete Trump die rechtsgerichtete Social-Media-Plattform Truth Social. Sie wird von einem Trump-Unternehmen namens Trump Media & Technology Group betrieben. Sie beschreibt sich selbst wie folgt: „Truth Social is America's ‚Big Tent‘ social media platform that encourages an open, free, and honest global conversation without discriminating on the basis of political ideology“ 149 . Hier wird deutlich, dass sich die Plattform als Reaktion auf das Verbot von Trump auf den großen Social- Media-Plattformen versteht, weshalb sie impliziert, dass es sich dabei um Akte der Diskriminierung aufgrund der politischen Ideologie handelt. Ein solches Selbstverständnis bedeutet auch, dass die Plattform rechtsextreme Aktivist: innen dazu einlädt, faschistische Spielwiesen zu schaffen. Truth Social ermöglicht es Trump, seinen eingefleischten Anhänger: innen Informationen zukommen zu lassen, ohne Gefahr zu laufen, verboten oder zensiert zu werden. Dieses Ziel wird auch in einer Pressemitteilung von Trump deutlich, in der er Truth Social ankündigt und erklärt: „We live in a world where the Taliban has a huge presence on Twitter, yet your favorite American President has been silenced“ (Parsley 2021). Im Oktober 2023 hatte Donald Trump 6,5 Millionen Follower auf Truth Social (https: / / truthsocial.com/ @realDonaldTrump) 150 . Zur gleichen Zeit hatte er 87,4 Millionen Follower auf Twitter 151 . Dieser Unterschied bei den Anhängern zeigt, dass Truth Social eine Nischenplattform für eingefleischte Trump-Fans ist, die sich aus dem inneren Kern seiner Anhängerschaft zusammensetzt. 6,5 Millionen Nutzer: innen sind eine große Online-Gemeinschaft, die jedoch im Vergleich zu einer Follower-Gemeinschaft und Reichweite von fast 90 Millionen auf Twitter relativ klein ist. Trump nutzt Truth Social nicht nur zur politischen Mobilisierung und Propaganda, sondern auch zum Sammeln von Spenden für seine politischen Kampagnen und Aktivitäten. Gerard, Botzer und Weninger (2023) sammelten 823.927 Postings von Truth Social. Eine Inhaltsanalyse der Links zeigte, dass „eine Handvoll externer Websites die Beiträge auf Truth Social dominieren, wobei Rumble am häufigsten auftaucht. Außerdem zeigt ein kurzer Blick auf die am häufigsten verlinkten Telegram-Kanäle, dass rechte und Trump-fokussierte Telegram-Kanäle am häufigsten auftauchen“ (1039). „Die am häufigsten verlinkte externe Website in Bezug auf die Häufigkeit sowohl bei Truths als auch bei ReTruths ist Rumble, eine Videoplattform. Diese Website ist dafür bekannt, dass sie im Vergleich zu vielen anderen Videoplattformen wie YouTube weniger strenge Beschränkungen für die Inhaltskontrolle hat und zu einem Zufluchtsort für kontroverse Persönlichkeiten geworden ist, die von den etablierten Plattformen verbannt wurden. Rumble hat in den letzten Jahren an Popularität gewonnen, was zumindest teilweise auf die Nutzung durch den ehemaligen Präsidenten Donald 149 https: / / truthsocial.com/ , abgerufen am 14. Juni 2023. 150 Datenquelle: https: / / truthsocial.com/ @realDonaldTrump, abgerufen am 25. Oktober 2023. 151 Datenquelle: https: / / twitter.com/ realdonaldtrump/ , abgerufen am 25. Oktober 2023. <?page no="320"?> 320 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien Trump zurückzuführen ist, der dort seine politischen Kundgebungen streamt und Nachrichtenclips postet“ (1037). Eine Inhaltsanalyse der Postings zeigte, dass auf der Plattform rechte Verschwörungstheorien kursieren. Truth Social ist mit der rechtsextremen Szene verbunden und spielt eine wichtige Rolle in ihr. Es ist ein Instrument, mit dem sich die Rechtsextremen vernetzen, kommunizieren und organisieren. Mit Truth Social erreichen die Rechtsextremen keine so große Öffentlichkeit wie mit Twitter, können aber überzeugte Rechte vernetzen und Propaganda an diejenigen verbreiten, die sich auf der Plattform registrieren. Trumps Rückkehr auf Twitter Im November 2022 führte Elon Musk, der im Monat zuvor Twitter gekauft hatte, auf Twitter eine Umfrage zu der Frage durch, ob Trumps Konto entsperrt werden sollte. Daraufhin wurde das Twitter-@RealDonaldTrump-Handle auf Twitter freigeschaltet. Trumps Konto auf YouTube wurde im März 2023 wieder freigeschaltet. Seine Konten auf Facebook und Instagram wurden im Februar 2023 freigegeben. Diese Entscheidungen verstärkten plötzlich Trumps Kommunikationsmacht. Seine Politik hatte sich zu diesem Zeitpunkt nicht geändert. Er behauptete weiterhin, die US-Präsidentschaftswahlen 2020 seien gefälscht und manipuliert worden. Im August 2023 erschien Donald Trump im Fulton-County-Gefängnis in Atlanta, Georgia, da die Justizbehörden eine Anklageschrift gegen ihn verfassten, in der es heißt, Trump habe versucht, den Sieg von Joe Biden in Georgia bei den Präsidentschaftswahlen 2020 durch Manipulation der Ergebnisse zu kippen. Die Behörden haben ein Fahndungsfoto von Trump gemacht. Trump postete das Fahndungsfoto auf Twitter, wo er zum ersten Mal seit mehr als 3,5 Jahren sein Konto benutzte. Das Bild wurde von dem Text begleitet: “MUG SHOT - AUGUST 24, 2023. ELECTION INTERFE- RENCE. NEVER SURRENDER! DONALDJTRUMP.COM“ 152 Es wurde innerhalb kurzer Zeit 470.000-mal getwittert, wurde zu einem beliebten Internet-Meme und wurde als Merchandising-Bild in der Trump-Präsidentschaftskampagne 2024 verwendet. Mit Hilfe sozialer Medien und politischer Kommunikation verwandelte Trump ein juristisches Dokument in ein Propagandainstrument. Im nächsten Abschnitt werden wir die Rolle der digitalen Technologien im Putinismus analysieren. 9.4 Digitale Technologien im Putinismus Dieser Abschnitt besteht aus drei Teilen. Zunächst geht es um den Putinismus (9.4.1), dann um das Internet in Russland zur Zeit des Ukraine-Krieges (9.4.2) und schließlich um die russische Informationskriegführung gegen die Ukraine (9.4.3). 9.4.1 Der Putinismus Tony Wood (2020) argumentiert, dass sich die Analyse Russlands oft zu sehr auf den Menschen Putin und zu wenig auf das von ihm vertretene System konzentriert. Er sagt, dass der Putinismus Neoliberalismus und Etatismus kombiniert hat. Im 152 Datenquelle: https: / / twitter.com/ realDonaldTrump/ status/ 1694886846050771321, abgerufen am 4. September 2023. <?page no="321"?> 9.4 Digitale Technologien im Putinismus 321 Energiesektor dominiert der Staat. Diese Unternehmen agieren als reguläre managerialistische, profitorientierte Unternehmen, haben also kein öffentliches Ethos. Putins System hat „das kapitalistische Modell verteidigt, das in den 1990er Jahren unter Boris Jelzin eingeführt wurde“ (25). Unter Putin wurden staatlich dominierte Unternehmen in der Metall-, Öl- und Gasindustrie gegründet und wurden dominanter und wichtiger als Finanzkapital und Medienkapital (45). Ehemalige Geheimdienstler begannen, eine Schlüsselrolle in Putins System zu spielen (48-49). Putins System ist hochgradig korrupt, die Demokratie existiert nur noch formal, und die Medien werden stark kontrolliert. Seit den russischen Protesten gegen angeblichen Betrug bei den Präsidentschaftswahlen 2011 und den Euromaidan-Protesten 2013 in der Ukraine ist Putins Regime immer autoritärer, nationalistischer und antiwestlicher geworden (Wood 2020, Kapitel 4 und 5) und basiert auf der Ideologie des Eurasianismus, die Eurasier: innen und insbesondere Russ: innen als ethnisch überlegen gegenüber anderen definiert (150-155). Szelényi und Mihályi (2020) argumentieren, dass Putin einen Staatskapitalismus geschaffen hat, in dem Oligarchen, die unter Jelzin reich geworden waren, ihren Reichtum und ihre Macht behalten konnten, wenn sie Putin gegenüber loyal waren. Wenn nicht, wurden sie durch andere ersetzt. „Im Putinismus konnte nur derjenige seinen Besitz behalten, der dem politischen Chef gut diente“ (165). Putin versuchte, „eine gehorsame Klasse von Eigentümern“ zu schaffen (165). Russland wandte sich „vom oligarchischen Kapitalismus zum staatlich gelenkten Kapitalismus“ ab (171). Loyale Oligarchen konnten damit rechnen, noch reicher zu werden, während andere mit der Umverteilung ihres Eigentums an Loyalisten konfrontiert wurden (174-175) und entweder ins „Exil nach London oder Tel Aviv“ gingen oder lange Haftstrafen in Sibirien verbüßten (175). Diese Umverteilung von Eigentum hat die Form einer „zyklischen Bewegung von Privatisierung zu Renationalisierung zu Reprivatisierung“ angenommen (176). Van Herpen (2013) charakterisiert Putins Herrschaft in Russland als ein rechtsradikales Regime, das „Elemente des Bonapartismus, des ‚klassischen' Faschismus der Zwischenkriegszeit (insbesondere der Mussolini-Variante) und des modernen berlusconistischen Populismus kombiniert“ (203). Zu diesen Elementen gehören Ultranationalismus, „aggressive Außenpolitik und Expansionismus“ (203), „der Macho-Stil des Führers und die Missachtung der Menschenrechte“ (204), der Betrieb „einer repressiven Geheimpolizei“ (205), die Modernisierung der Armee durch den Staat, die Umarmung der wirtschaftlichen Globalisierung, persönliche Bereicherung und „Verbindungen zwischen der staatlichen Bürokratie und dem organisierten Verbrechen“ (205). Taylor (2018) analysiert das, was er als Putinismus bezeichnet, als den Glauben „an die Bedeutung eines starken Staates und die Notwendigkeit, dass Russland seinen Status als Großmacht in einem gefährlichen und wettbewerbsorientierten internationalen System beibehält“; der Schwerpunkt liegt auf „Ordnung, Einheit und staatlicher Macht gegenüber individuellen Freiheiten oder gesellschaftlichen Interessen“ (11). Zu den Elementen des Putinismus gehören nach dieser Auffassung Großmachtstaatlichkeit, Antiwestlichkeit, Antiamerikanismus, Konservatismus, Antiliberalismus, Kontrolle, Ordnung, Antipluralismus, Loyalität, Hypermaskulinität, Demütigung, Ressentiments und die Politik der Angst (40). Nach solchen Analysen enthält der Putinismus alle Elemente des rechten Autoritarismus. Darüber hinaus hat der Einmarsch Russlands in die Ukraine gezeigt, dass der <?page no="322"?> 322 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien Putinismus als Regime bereit und in der Lage ist, Krieg als Mittel zur Erreichung seiner Ziele einzusetzen. Putins Traum und Ziel ist es, Großrussland wiederherzustellen. Seine Politik ist letztlich vom Nationalismus bestimmt. Dies wird in Putins (2021) Essay „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ deutlich, den er während der COVID-19- Pandemie schrieb und veröffentlichte. Er argumentiert, dass Russ: innen und Ukrainer: innen ein Volk sind, weil „Russen, Ukrainer und Weißrussen alle Nachkommen der alten Rus sind, die der größte Staat in Europa war“. Für Putin ist die Idee der ukrainischen Nationalität eine Erfindung „ausländischer Kräfte“, die gegen Russland gerichtet ist und darauf abzielt, „die volle Kontrolle über die Ukraine an externe Kräfte abzugeben“. Für Putin ist Russland eine Nation, die durch Religion, Sprache, Blut, Geschichte, Traditionen, Geist und Kultur vereint ist und die Ukraine einschließt. „Unsere geistigen, menschlichen und zivilisatorischen Bande bestehen seit Jahrhunderten und haben ihren Ursprung in denselben Quellen, sie sind durch gemeinsame Prüfungen, Errungenschaften und Siege gefestigt worden. Unsere Verwandtschaft ist von Generation zu Generation weitergegeben worden. Sie ist in den Herzen und im Gedächtnis der Menschen, die im modernen Russland und in der Ukraine leben, in den Blutsbanden, die Millionen unserer Familien vereinen“. Putins Grundüberzeugung ist, dass „Russland von den Polen, den Österreichern, den Nazis, der NATO, der EU, den USA und pro-westlichen ukrainischen Regierungen der Ukraine beraubt wurde“ (Putin 2021). Der Einmarsch in die Ukraine 2022 war Putins Versuch, die Ukraine zu einem Teil Russlands zu machen, denn Putin sieht die Ukraine als Teil der russischen Nation. Der Nationalismus ist eine zentrale Dimension von Putins Ideologie. 9.4.2 Das Internet in Russland zur Zeit des Kriegs in der Ukraine Russlands Mediensystem Berichten zufolge nutzt Wladimir Putin weder das Internet noch Mobiltelefone und bezieht seine Nachrichten aus Geheimdienstdossiers und den Nachrichten des russischen Fernsehens (Zitser 2023). Putin nannte das Internet ein „CIA-Projekt“ (MacAskill 2014), was darauf hindeutet, dass er aus Angst vor digitaler Überwachung ein Offliner ist. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Putins und Trumps Mediennutzung. Während Trump ein Fan sozialer Medien ist und sein eigenes rechtsextremes soziales Medium Truth Social gegründet hat, steht Putin dem Internet sehr skeptisch gegenüber und hält sich von ihm fern. Die politische Einstellung bestimmt nicht die grundlegende Mediennutzung. Putin und Trump haben eine vergleichbare Persönlichkeit und politische Weltanschauung, aber unterschiedliche Präferenzen bei der Mediennutzung. Eine Gemeinsamkeit ist jedoch, dass sie beide auf rechte Fernsehnachrichten angewiesen sind. Das russische Mediensystem wurde als neo-autoritäres (Becker 2004), neo-sowjetisches (Oates 2007) oder staatliches, kommerzialisiertes Medienmodell (Vartanova 2012) charakterisiert. Diesen Auffassungen gemeinsam ist die Betonung der mangelnden Medien- und Redefreiheit in Russland sowie der staatlichen Kontrolle der Medienorganisationen. Das russische Mediensystem ist ein duales Mediensystem, das staatliche Kontrolle und privates Kapital kombiniert. Man könnte es daher als ein <?page no="323"?> 9.4 Digitale Technologien im Putinismus 323 staatskapitalistisches System bezeichnen. Der russische Staat und Gazprom, eine russische staatlich-private Partnerschaft, sind die Haupteigentümer des russischen Rundfunks, der russischen Presse und des russischen Internets. Die russische Medienlandschaft ist ein Medienstaatskapitalismus, in dem der Staat und die Energiewirtschaft eine Schlüsselrolle beim Besitz und der Kontrolle der Medien spielen. Viele russische Medienorganisationen sind entweder direkt in Staatsbesitz oder mit dem Staat verbunden. Es gibt staatliche Finanzierung, staatliche Subventionen und Werbeeinnahmen, von denen staatsnahe Medien profitieren. „Der russische Mediendualismus hat eine Situation geschaffen, in der der Staat staatlich finanzierten Medien erlaubt, auf dem kommerziellen Markt Geld zu verdienen. [...] Der Staat schränkte ausländisches Eigentum an russischen Medien ein und verbot kommerzielle Werbung im Bezahl- oder Abonnementfernsehen, was dazu führte, dass zuvor in Privatbesitz befindliche kommerzielle Medien nach und nach in die Hände großer, mit dem Staat verbundener Medienkonzerne gelangten und Werbegelder von kleineren Akteuren auf Mainstream-Medien übergingen, die hauptsächlich vom Staat kontrolliert werden und in dessen Besitz sind“ (Kiriya 2018, 99-100). Angesichts der zentralen Rolle des Staates und der zunehmenden Zentralisierung der Macht in Russland, die nach dem Februar 2022 in der Medienkontrolle gipfelte, ist das russische Mediensystem sowohl wirtschaftlich (Form) als auch kulturell (Inhalt) stark staatlich kontrolliert. Russlands Internet und soziale Medien in Kriegszeiten Seit 2013 wurden in Russland neue Gesetze eingeführt, die die staatliche Sperrung und Einschränkung von Internetseiten mit Begründungen wie dem Vorgehen des Staates gegen Piraterie, „Fake News“, Obszönität und Beleidigung von Behörden oder dem Schutz religiöser Gefühle erlauben. Solche Gesetze haben nicht nur zu einem stärker kontrollierten russischen Internet geführt, sondern auch zu mehr Selbstzensur. Auch der Einsatz von Cyber-Patrouillen, die Nutzer: innen überwachen, hat zugenommen. „Um die Aufgabe zu vereinfachen, den Parallelbereich der sozialen Medien zu blockieren und zu kontrollieren, wendet der Staat die gleiche Strategie an wie im Bereich der traditionellen Medien. Er erwirbt das Kapital der großen Social-Media- Plattformen, die unter der finanziellen Kontrolle loyaler Oligarchen stehen“ (Kiriya 2021, 21). Kiriya rechnete vor, dass infolgedessen der Anteil der vom russischen Staat kontrollierten Online-Nachrichtenplattformen von 51 Prozent im Jahr 2012 auf 95 Prozent im Jahr 2020 stieg. Staatsnahe Plattformen würden den Informationsraum mit kremlfreundlicher Propaganda überschwemmen, „damit der staatsnahe Diskurs und die staatsnahen Themen das Internet weitgehend beherrschen“ (Kiriya 2021, 23). VK und Odnoklassniki sind beliebte russische Social-Media-Plattformen. Im Jahr 2022 war VK, gemessen an der Gesamtzahl der Beiträge und Kommentare, die meistgenutzte Social-Media-Plattform in Russland, gefolgt von Odnoklassniki und Instagram 153 . VK und Odnoklassniki sind im Besitz des Unternehmens VK. VK hieß früher Mail.ru, ein privates russisches Internetunternehmen, das 1998 von Eugene Goland, Michael Zaitsev und Alexey Krivenkov gegründet wurde und zu Russlands dominierendem Internetunternehmen wurde. Dmitry Grishin wurde der CEO. 153 Datenquelle: https: / / www.statista.com/ statistics/ 284447/ russia-social-network-penetration/ , abgerufen am 15. Juni 2023. <?page no="324"?> 324 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien Bis 2021 war die USM Holdings von Alisher Usmanov der größte Eigentümer von VK und die staatlich kontrollierte Sberbank der zweitgrößte Eigentümer. Ende 2021 verkaufte die Sberbank ihre Anteile an die Gazprombank und USM an den Versicherungskonzern SOGAZ, der von Gazprom gegründet wurde und mit diesem verbunden ist und in dem Putins Freund Juri Kowaltschuk eine wichtige Rolle als Eigentümer spielt (Iwanowa 2021). Nach dem Ausbruch des ukrainisch-russischen Krieges im Februar 2022 schränkte der russische Staat die Medienfreiheit weiter ein und machte das russische Mediensystem weitgehend staatlich kontrolliert und überwacht. Im März 2022 verabschiedete die russische Regierung ein Mediengesetz, das Geldstrafen von bis zu 1,5 Millionen Rubel und Gefängnisstrafen von bis zu fünfzehn Jahren für das vorsieht, was die russische Regierung als Falschinformationen über die russischen Streitkräfte ansieht (Human Rights Watch 2022, Jack 2022, Jackson 2022), einschließlich der Bezeichnung der russischen Aktivitäten in der Ukraine als „Krieg“ oder „Invasion“. Im März 2022 verbot die russische Regierung Facebook, Instagram und Twitter, und ein Moskauer Gericht befand die Muttergesellschaft von Facebook und Instagram, Meta, der „extremistischen Aktivitäten“ für schuldig (Reuters 2022). Im selben Monat verbot die Europäische Union den Zugang zu russischen Staatsmedien in ihrem Hoheitsgebiet, was zu einer Sperrung des Zugangs zu den Kanälen von RT und Sputnik auf YouTube, Facebook, Instagram und TikTok führte. YouTube kündigte an, dass es den Zugang zu Sputnik und RT nicht nur in der EU, sondern weltweit sperren würde (The Guardian 2022). Park et al. (2022) sammelten öffentliche Postings von 43 russischen Nachrichtenmedien auf VK und Twitter sowie die Antworten darauf. Der Datensatz besteht aus mehr als 38 Millionen Beiträgen, die zwischen dem 1. Januar 2021 und dem 15. Mai 2022 veröffentlicht wurden. Eine Analyse der Beiträge von Medienorganisationen, die nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine veröffentlicht wurden, ergab, dass staatlich gelenkte Medien den Konflikt überwiegend als „Sondereinsatz“ oder „Militäroperation“ bezeichneten, während vom Staat unabhängige Medien ihn überwiegend als „Krieg“ bezeichneten, was die Tatsache widerspiegelt, dass das russische Regime „die Schwere und Aggressivität der Invasion herunterspielte und den Medien schließlich sogar verbot, die Begriffe ‚Krieg‘ und ‚Invasion‘ zu verwenden“ (Park et al. 2022, 5242). Roskomnadsor ist die russische Internet-Regulierungsbehörde. Berichten und durchgesickerten Dokumenten zufolge ist die Regulierungsbehörde „Teil eines größeren technischen Apparats, den Putin im Laufe der Jahre aufgebaut hat, zu dem auch ein inländisches Spionagesystem gehört, das Telefongespräche und Internetverkehr abfängt, Online-Desinformationskampagnen und das Hacken von Regierungssystemen anderer Länder. [...] Die Rolle der Agentur in diesem digitalen Raster ist den Aufzeichnungen zufolge umfangreicher als bisher bekannt. Sie hat sich im Laufe der Jahre von einer verschlafenen Telekom-Regulierungsbehörde zu einem vollwertigen Nachrichtendienst entwickelt, der Websites, soziale Medien und Nachrichtenkanäle genau überwacht und sie als ‚regierungsfreundlich‘, ‚regierungsfeindlich‘ oder ‚unpolitisch‘ bezeichnet. Den Dokumenten zufolge hat Roskomnadsor auch daran gearbeitet, Personen zu enttarnen und zu überwachen, die hinter regierungsfeindlichen Konten stecken, und den Sicherheitsbehörden detaillierte Informationen über die Online-Aktivitäten von Kritikern zur Verfügung gestellt“ (Mozur et al. 2022). Leaks und Medienberichten zufolge arbeitet Roskamnadsor mit Social-Media-Analyseunternehmen wie Brand Analytics zusammen, um auf russischen und westlichen Social-Media-Plattformen Daten über Nutzer: innen <?page no="325"?> 9.4 Digitale Technologien im Putinismus 325 zu sammeln, die den Krieg Russlands in der Ukraine kritisieren (Achternbosch et al. 2023). Roskomnadasor sperrt oder löscht dann Inhalte auf russischen Internetplattformen und sendet Löschungsaufforderungen an andere Plattformen. Im Juni 2023 listete die Europäische Journalistenvereinigung (European Federation of Journalists) 19 in Russland inhaftierte Journalist: innen auf 154 . Im Januar 2024 war diese Zahl auf 23 angestiegen 155 . So wurde beispielsweise der Reporter Andrei Novashov im März 2022 auf der Grundlage der neuen russischen Mediengesetze verhaftet, weil er einen Augenzeugenbericht über die russische Eroberung von Mariupol veröffentlicht hatte 156 . Im April 2022 wurden Journalist: innen der sibirischen Nachrichtenmedien Listok und Novy Fokus wegen Berichten angeklagt, die angeblich auf der Grundlage der neuen Mediengesetzgebung die russische Armee diskreditierten 157 . Im August 2022 verurteilte ein Moskauer Bezirksgericht die Gewerkschaft der Journalist: innen und Medienschaffenden zu einer Geldstrafe von 500.000 Rubel, weil sie die russische Armee in Misskredit gebracht habe 158 . Das Russische Zentrum zur Verteidigung der Massenmedien dokumentiert staatliche Maßnahmen gegen russische Journalisten (https: / / mmdc.ru). „Im Oktober [2022] gaben die russischen Behörden bekannt, dass sie über 4.500 Ordnungswidrigkeitsverfahren und über 100 Strafverfahren wegen ‚Diskreditierung‘ oder ‚falscher Informationen‘ über die russischen Streitkräfte eingeleitet haben. Nach Angaben russischer Menschenrechtsbeobachter richtete sich fast die Hälfte der Strafverfahren gegen Journalist: innen, Blogger: innen oder Bürgerrechtsaktivist: innen“ (Human Rights Watch 2023, 502). Im Weltpressefreiheitsindex 2023 von Reporter ohne Grenzen lag Russland auf Platz 164 von 180 Ländern, im Jahr 2024 auf Rang 162: „In 2022, the war in Ukraine enabled the Kremlin to begin a final ‘purge‘ of the Russian media landscape. Systemic censorship and the forced exodus of independent Russian and foreign media outlets have freed up space for the dissemination of coordinated propaganda by pro-government media. The ban on western social media has benefitted Telegram, a platform whose users in Russia (164th) have more than doubled in one year. It is the method that independent media most use to circumvent censorship, but it has also been invaded by Putin’s propaganda networks, with some Telegram channels even tracking the movements of foreign journalists regarded as spies“ (RSF 2023). Telegram: Die digitale Schlachtfeld im Krieg zwischen Russland und der Ukraine Telegram ist eine App für Sofortnachrichten. Es gibt Kanäle und Chats auf Telegram. Telegram Messenger Inc. wurde 2014 von Nikolai und Pavel Durov gegründet, die auch VKontakte (VK) gegründet hatten. Sie verkauften ihre VK-Anteile, so dass zunächst Mail.ru und später Gazprombank und Sogaz die dominierenden Eigentümer wurden, wodurch VK de facto staatlich kontrolliert wurde. Pavel Durov wurde als 154 https: / / europeanjournalists.org/ journalists-in-jail-europe/ , abgerufen am 15. Juni 2023. 155 Ebd., abgerufen am 30. Januar 2024. 156 https: / / fom.coe.int/ en/ alerte/ detail/ 107637320, abgerufen am 15. Juni 2023. 157 https: / / fom.coe.int/ en/ alerte/ detail/ 107637453, abgerufen am 6. August 2023. 158 https: / / mmdc.ru/ news-div/ profsoyuz-zhurnalistov-oshtrafovali-na-polmilliona-rublejza-diskreditacziyu-armii/ , abgerufen am 6. August 2023. <?page no="326"?> 326 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien CEO entlassen und verließ Russland im Jahr 2014. Er hatte sich geweigert, VK-Daten über ukrainische Euromaidan-Demonstrant: innen an den russischen Staat auszuhändigen und Alexej Navalny auf VK zu sperren (RadioFreeEurope/ RadioLiberty 2017). Der Hauptsitz von Telegram befindet sich auf den Britischen Jungferninseln und in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die Plattform ist unzensiert und stark verschlüsselt. Nachdem westliche Social-Media-Plattformen in Russland angesichts des Krieges in der Ukraine blockiert wurden, wurde Telegram sehr wichtig. Im Jahr 2023 war es die zweitbeliebteste Android-App in Russland und die beliebteste in der Ukraine auf Handys, die den Google Play Store nutzen. Es gibt viele Pro- und Antikriegskanäle auf Telegram. Telegram wurde als ein Medium charakterisiert, das Teil der „digitalen Kampffront zwischen Russland und der Ukraine“ ist (Loucaides 2022). Eine Framing-Analyse der Telegram-Nachrichten der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIAN und der unabhängigen ukrainischen Nachrichtenagentur UNIAN (Ptaszek, Yuksiv & Khomych 2023) ergab, dass RIAN Putin-Propaganda verbreitete, die Invasion als „besondere militärische Operation“ bezeichnete, die im nationalen Interesse Russlands liege, und betonte, dass ukrainische „Nationalist: innen“ vernichtet werden müssten. UNIAN veröffentlichte Nachrichten, die von einem Krieg mit dem Ziel der Zerstörung der Ukraine sprachen und über die humanitären Folgen des Krieges berichteten. Es gibt auch so genannte „Milblogger“ auf Telegram, Militärangehörige der russischen Armee oder pro-russischer Milizen wie die Wagner-Gruppe von Jewgeni Prigozhin und die tschetschenischen Streitkräfte von Ramsan Kadyrow (siehe Farbman 2023). Im Juni 2023 hatte Kadyrovs Telegram-Kanal (https: / / t.me/ RKadyrov_95) 3,1 Millionen Abonnent: innen, der mit Wagner verbundene Kanal Prigozhin‘s Press Service (https: / / t.me/ concordgroup_official) 440.000 Mitglieder und der Wagner-Kanal Prigozhin's Hat (https: / / t.me/ Prigozhin_hat) 480.000 159 . Eine weitere Analyse der Telegram-Kanäle des staatlichen russischen Nachrichtensenders RT (@RT_russian), des Kanals von Volodymyr Zelenskyy (@V_Zelenskiy_Official) und des Kanals der ukrainischen Regierung (@UkraineNow) (Ghasiya und Kazutoshi 2022) ergab, dass @UkraineNow die ukrainischen Bürger: innen mit Kriegsinformationen versorgte, darunter Bombenwarnungen, die Lage von Bunkern usw. Der RT-Kanal erklärte das Massaker von Bucha zu Fake News, stellte die ukrainische Regierung und Armee als Nazis dar usw. Der Kanal von Zelenskyy ermutigte die ukrainischen Bürger: innen und Soldaten zum Durchhalten, versuchte zu motivieren und Hoffnung zu wecken und rief die Welt zur Unterstützung der Ukraine auf. Eine Diskursanalyse von Memen, die von Pro-Putin-Blogger: innen auf Telegram gepostet wurden, zeigte, dass solche Meme „Humor“ als Mittel der Kriegsführung einsetzen (Makhortykh & González-Aguilar 2023). Sie entmenschlichten die Ukrainer: innen, indem sie sie als Tiere und Insekten darstellten, die getötet werden sollten, griffen ukrainische und westliche Politiker: innen und Kriegskritiker: innen persönlich an und verherrlichten die russische Armee. 159 Datenquelle: https: / / t.me/ concordgroup_official, https: / / t.me/ Prigozhin_hat, abgerufen am 20. Juni 2023. <?page no="327"?> 9.4 Digitale Technologien im Putinismus 327 Im Krieg in der Ukraine hat Telegram eine wichtige Rolle als Kriegsinformations- und Kommunikationsmedium gespielt. Auf Telegram findet man faktische und gefälschte Nachrichten über den Krieg, Pro-Kriegs-Propaganda und Anti-Kriegs-Aktivismus, pro-russische und pro-ukrainische Memes, die Humor als Mittel der Kriegsführung einsetzen usw. Telegram ist ein wichtiges Informations- und Kommunikationsmittel im digitalen Schlachtfeld des Krieges zwischen Russland und der Ukraine. 9.4.3 Der russische Informationskrieg gegen die Ukraine Russlands Informationskrieg und Cyberwar gegen die Ukraine Es gibt eine verwirrende Vielzahl von Konzepten, die kulturelle und digitale Aspekte der Kriegsführung beschreiben (siehe z. B. Arquilla 2021, Merrin 2019). Dazu gehören: Bitskrieg, C6ISR (Command, Control, Communications, Computers, Cyber-Defence and Combat Systems und Intelligence, Surveillance, and Reconnaissance), C5ISR, C4ISR, C4I2 (Command, Control, Communications, Computers, Intelligence, and Interoperability), C4I, C2I (Command, Control & Intelligence), C2 (Command & Control), Cyberangriffe, Cyberwar, elektronische Kriegsführung, Informationsoperationen, Information in der Kriegsführung, militärische Täuschung, Netzkriege, netzwerkzentrierte Kriegsführung, psychologische Operationen, psychologische Kriegsführung, Revolution in militärischen Angelegenheiten usw. Wir interessieren uns hier für die Produktion und Verbreitung von Informationen als Mittel des Krieges. Daher ist der Begriff des Informationskriegs in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Informationskrieg bedeutet, dass die an einem Krieg beteiligten Parteien Informationen über den Feind und in einigen Fällen auch über sich selbst im Kontext des Krieges produzieren und verbreiten. Russlands Militärdoktrin 2021 unterstreicht die Bedeutung der elektronischen Kriegsführung und des Informationskriegs: „Die Hauptaufgaben der militärisch-wirtschaftlichen Versorgung sind [...] die Schaffung der wirtschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen für die Entwicklung und Produktion hocheffizienter Formen des Kommandos und der Kontrolle von Truppen und die Kontrolle von Waffensystemen, Kommunikationssystemen, Aufklärungssystemen, strategisch-frühzeitigen Warnsystemen und elektronischer Kriegsführungssysteme sowie mobiler nichtnuklearer Präzisionswaffen und der sie unterstützenden Informationssysteme“ (Russische Föderation 2021). Russland ist im Bereich des Hackings und der Informationskriegsführung recht aktiv gewesen. Studien zufolge nutzt der Kreml das Hacken, um „Regierungsbehörden und -beamte, [...] öffentliche Infrastruktur und große Privatunternehmen ins Visier zu nehmen und Beamte auszuspionieren. Zu diesen Bemühungen gehören auch der Diebstahl von Bankkonten und Finanzdaten sowie die Belästigung ausländischer Regierungen, die sich gegen Russland stellen“ (Frye 2021, 188). So legten russische Hacker 2015 ein ukrainisches Kraftwerk lahm, wodurch mehr als 200 000 Ukrainer: innen ohne Strom waren. Der Council on Foreign Relations (CFR) hat einen Cybertracker erstellt, der alle öffentlich bekannten staatlich gesponserten Cyberangriffe dokumentiert. Im Zeitraum von 2005 bis 2022 gab es insgesamt 769 dokumentierte Cyberangriffe. Tabelle 9.1 gibt einen Überblick. China, Russland und der Iran waren die drei wichtigsten staatlichen Akteure, die an Cyberangriffen beteiligt waren. <?page no="328"?> 328 9 Rechter Autoritarismus auf sozialen Medien Rang Land Anzahl Anteil gesamt 769 1 China 265 34,5% 2 Russische Föderation 164 21,3% 3 Iran 98 12,7% 4 Nordkorea 79 10,3% 5 USA 22 2,9% 6 Vietnam 11 1,4% 7 Israel 10 1,3% 8 Pakistan 10 1,3% 9 Indien 8 1,0% 10 Vereinigte Arabische Emirate 8 1,0% Tabelle 9.1: Der Anteil der staatlich gesponserten Cyberangriffe, 2005-2022, Datenquelle: https: / / www.cfr.org/ cyber-operations/ , Zugriff am 16. Mai 2023 Russlands außenpolitische Strategie 2023 besagt, dass es „Maßnahmen ergreifen will, um der Politik unfreundlicher Staaten zur Bewaffnung des globalen Cyberraums entgegenzuwirken“ (President of the Russian Federation 2023). Sie erwähnt hier jedoch nicht, dass sie selbst den Cyberspace durch die Verbreitung von Fake News über die Internet Research Agency und durch Hacking militarisiert hat (siehe Abschnitt 6.6 in Kapitel 6 dieses Buches). Investigative Reporter: innen eines Netzwerks von Reportern, die für Medien wie den Guardian , den Spiegel und die Washington Post arbeiten, zeigten, dass das russische Unternehmen NTC Vulkan „Hacking- und Desinformationswerkzeuge“ entwickelt und „mit dem Föderalen Sicherheitsdienst oder FSB, dem inländischen Spionagedienst, den operativen und nachrichtendienstlichen Abteilungen der Streitkräfte, bekannt als GOU und GRU, und dem SVR, Russlands Auslandsgeheimdienst, verbunden ist“ (Harding et al. 2023). „Ein weiteres System, das als Amezit bekannt ist, ist eine Blaupause für die Überwachung und Kontrolle des Internets in den Regionen unter russischem Kommando und ermöglicht auch Desinformation über gefälschte Profile in sozialen Medien“ (Harding et al. 2023). Ende 2022 begann Russland mit dem Aufbau einer Online-Datenbank von Männern, die für den Ukraine-Krieg in die Armee eingezogen werden könnten. Sie nutzt Big Data aus einer Vielzahl von Quellen. Die Einberufungsbescheide werden elektronisch zugestellt und gelten als eingegangen, wenn sie online ausgestellt wurden. Empfänger, die der Einberufung zum Kampf in der Ukraine nicht folgen, müssen mit Konsequenzen rechnen, wie Gefängnis, Reiseverbot, Entzug des Führerscheins, Verbot von Geldüberweisungen usw. Cyberkrieg und Informationskrieg sind Teil von Russlands Krieg in der Ukraine. Russland hat nicht so sehr die militärische Ausrüstung der Ukraine durch Cyberangriffe ins Visier genommen, sondern solche Angriffe gegen ukrainische Kommunikationsnetze durchgeführt (Bateman 2022). Zu Beginn des Krieges, im Februar 2022, gab es einen russischen Hackerangriff auf die Internetverbindungen in der Ukraine, die über <?page no="329"?> 9.4 Digitale Technologien im Putinismus 329 die Viasat-Satelliten und den ISP Triolan bereitgestellt wurden. Im März 2022 griffen russische Hacker sowohl Triolan als auch Ukrtelecom an, was zu einer Unterbrechung der Internetdienste führte. Berichten zufolge war die durch russische Bomben verursachte Störung der ukrainischen Kommunikationsnetze größer als die durch Cyberangriffe verursachte (Bateman 2022). Russische Nutzer: innen griffen auch verschiedene ukrainische Computersysteme und Infrastrukturen, wie z. B. Elektrizitätssysteme, mit Schadprogrammen an. „Russische Cyberangriffe zielten auf dieselben Kategorien ukrainischer Systeme, die auch mit kinetischen Waffen angegriffen wurden - wie Kommunikations-, Strom- und Verkehrsinfrastruktur. Bei fast allen dies