Sportpsychologie
Grundlagen und Trends mit eLearning-Kurs
1209
2024
978-3-8385-6290-2
978-3-8252-6290-7
UTB
Chris Englert
Ines Pfefferhttps://orcid.org/0000-0003-4993-1650
Kathrin Staufenbiel
Christian Vater
10.36198/9783838562902
Sportliche Leistung hängt nicht nur von körperlichen, sondern auch von psychischen Faktoren ab. Ebenso hat sportliche Betätigung Auswirkungen auf die menschliche Psyche. Der vorliegende Band geht diesen Prozessen auf den Grund und beschreibt die zahlreichen sportpsychologischen Ansätze.
Ausgewiesene Expert:innen erklären Grundlagenwissen,
besprechen aktuelle Trends aus der Forschung und gehen
auf die Relevanz in der Praxis ein. Folgende Themen werden in 21 Kapiteln beleuchtet: Emotion, Motivation, Selbstkontrolle, nonverbales Verhalten, Kognition, Sportmotorik, Expertise, Wahrnehmung und Handlung, virtuelle Realität, Exergames, Gesundheitsverhalten, affektive Prozesse, Intentions-Verhaltens-Lücke, mentale Gesundheit, Führung im Sport, Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl, interpersonale Gewalt, Stress und Stressmanagement, Schlaf.
Ein wertvoller Impulsgeber für Studierende, Forschende und
angewandt tätige Sportpsycholog:innen.
<?page no="0"?> Englert | Pfeffer | Staufenbiel | Vater (Hg.) Sportpsychologie Grundlagen und Trends <?page no="1"?> utb 6290 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main UTB (L) Impressum_03_22.indd 1 UTB (L) Impressum_03_22.indd 1 23.03.2022 10: 19: 58 23.03.2022 10: 19: 58 <?page no="2"?> Prof. Dr. Chris Englert ist Leiter des Arbeitsbereichs Sportpsychologie an der Goethe- Universität Frankfurt. Im Rahmen seiner Forschung beschäftigt er sich u. a. mit den Themen Wettkampfangst, Selbstregulation und der Intentions-Verhaltens-Lücke im Sport. Prof. Dr. Ines Pfeffer ist Professorin für Medizinpädagogik mit Schwerpunkt Gesund‐ heitswissenschaften an der Medical School Hamburg. Sie forscht zur Selbstregulation des körperlichen Aktivitätsverhaltens, Gewohnheitsbildung und der Wirksamkeit ver‐ schiedener Interventionsansätze zur Förderung eines körperlich aktiven Lebensstils. Dr. Kathrin Staufenbiel ist angewandte Sportpsychologin, systemische Beraterin, Coachin und Supervisorin im Leistungs- und Spitzensport. In ihrer Forschung befasst sie sich mit dem Heimvorteil, sozial-kognitiven Aspekten sportlicher Leistung und Changeprozessen im Sport. Prof. Dr. Christian Vater ist Assistenzprofessor im Bereich Bewegungs- und Trai‐ ningswissenschaft am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Wahrnehmungs-, Kognitions- und Entscheidungs‐ prozessen in Sport- und Alltagssituationen. <?page no="3"?> Chris Englert / Ines Pfeffer / Kathrin Staufenbiel / Christian Vater (Hg.) Sportpsychologie Grundlagen und Trends mit eLearning-Kurs UVK Verlag · München <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838562902 © UVK Verlag 2024 ‒ Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung Druck: Elanders Waiblingen GmbH utb-Nr. 6290 ISBN 978-3-8252-6290-7 (Print) ISBN 978-3-8385-6290-2 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6290-7 (ePub) Umschlagabbildung: © lechatnoir/ iStock Abbildungen im Innenteil: 1-1: Keith Johnston/ pixabay; 1-2: Pexels/ pixabay; 11-2: A. Martin-Niedecken Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 13 1 19 1.1 20 1.2 23 25 27 2 29 2.1 30 2.1.1 30 2.2 36 2.2.1 36 2.3 42 42 3 47 3.1 50 3.2 52 3.2.1 52 3.2.2 54 3.2.3 55 3.3 57 3.4 59 61 Inhalt Vorwort | Chris Englert, Ines Pfeffer, Kathrin Staufenbiel, Christian Vater . . . . . . Einführung in die Sportpsychologie | Chris Englert, Ines Pfeffer, Kathrin Staufenbiel, Christian Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was wird unter Sportpsychologie verstanden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein historischer Abriss der Sportpsychologie mit (optimistischem) Blick in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlegende Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionen | Sylvain Laborde, Valeria Eckardt, Franziska Lautenbach, Philip Furley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsam sind wir stark? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Implizite Motive, Sport und körperliche Aktivität | Mirko Wegner, Ariane S. Marion-Jetten, Julia Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung motivrelevanter Hinweisreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Energetisierung von Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Langfristiges Verhalten im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurobiologische Korrelate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dissoziative Vorhersage von Verhalten im Vergleich zu expliziten Motiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausrichten auf motivrelevante Anreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Einordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4 65 4.1 66 4.2 68 4.3 71 4.4 73 4.5 75 75 76 5 83 5.1 84 5.1.1 85 5.1.2 87 5.2 88 5.2.1 89 5.2.2 90 5.2.3 92 5.2.4 92 94 94 6 97 6.1 98 6.2 99 6.3 100 6.4 105 6.5 108 110 110 117 7 119 7.1 121 7.1.1 122 7.1.2 123 7.1.3 124 Anstrengung, Langeweile, Krisen: Neue Perspektiven und Ansätze zur Selbstkontrolle im Sport | Maik Bieleke, Lucas Keller, Chris Englert . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modelle der Selbstkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Langeweile im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungskrisen im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frage an die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nonverbales Verhalten im Sport | Stephanie Buenemann, Geoffrey Schweizer, Philip Furley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nonverbales Verhalten als Ausdruck von Emotionen . . . . . . . . . . . . . . Nonverbales Verhalten als Ausdruck von Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgewählte empirische Befunde zu nonverbalem Verhalten im Kontext Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dekodierung von NVV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiede zwischen erfolgreichen und erfolglosen Sportler*innen Einfluss von NVV auf die sportliche Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation des methodischen Vorgehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frage an die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognition | Lisa Musculus, Florian Loffing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitionspsychologie im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modelltheoretische Herangehensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlegende kognitive Funktionen und exekutive Funktionen . . . . Perzeptuell-kognitive Fertigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitionspsychologische Trends im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frage an die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sportmotorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trends in der Sportmotorik und Konsequenzen für die Sportpsychologie | Stephan Zahno, Ernst-Joachim Hossner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trends in der Sportmotorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prädiktion und interne Vorwärtsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pseudo-Regelung und Kontrollgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Minimale Intervention und Rauschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 7.1.4 127 7.1.5 129 7.2 130 7.2.1 131 7.2.2 132 135 136 8 139 8.1 140 8.1.1 141 8.1.2 143 8.2 145 8.3 151 8.4 152 153 154 9 161 9.1 162 9.1.1 162 9.1.2 166 9.1.3 169 9.1.4 169 9.1.5 170 9.2 170 9.3 173 9.3.1 173 9.3.2 173 9.4 174 176 176 10 183 10.1 184 10.1.1 184 10.1.2 185 10.1.3 186 Unsicherheit und Zustandsschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnisformation und Strukturtransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen für die Sportpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagenbezug und Theorieanbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbezug und Praxishinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frage an die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Expertise und perzeptuell-kognitive Fertigkeiten im Sport | Florian Loffing, Lisa Musculus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Expertise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Expertise ist … nicht so einfach zu definieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzer historischer Abriss der Expertiseforschung . . . . . . . . . . . . . . . . Perzeptuell-kognitive Fertigkeiten im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Training perzeptuell-kognitiver Fertigkeiten im Sport . . . . . . . . . . . . . Aufgaben für die Expertiseforschung im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frage an die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Handlung im Sport | Christian Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen visueller Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sehen vs. Wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Augenbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kopfbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ganzkörperbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „optimale“ Blickstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visuelles Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitstraining . . . . . . . . . . Welches Wahrnehmungstraining für wen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welches Setup ist für das Training geeignet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blick über den Tellerrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frage an die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Virtuelle Realität: Die Zukunft des individualisierten Lehrens und Lernens von Bewegung? | Cornelia Frank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktive Virtuelle Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 10.2 188 10.2.1 188 10.2.2 189 10.2.3 190 10.3 192 10.3.1 192 10.3.2 194 10.4 195 196 11 201 11.1 201 11.2 203 11.2.1 204 11.2.2 204 11.2.3 205 11.2.4 207 11.3 209 11.3.1 209 11.3.2 213 11.4 216 218 218 229 12 231 12.1 232 12.2 233 12.3 234 12.3.1 234 12.3.2 241 12.4 245 12.5 245 246 Virtuelle Realität, Sport und Bewegungslernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . VR im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VR und Bewegungslernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Zugänge zur Individualisierung von Bewegungslernen mit VR Bewegungslernen in VR: Von der Forschung zur Anwendung . . . . . . VR in der Forschung: Eine interdisziplinäre Aufgabe . . . . . . . . . . . . . VR in der Lehre: Virtuelle (Sport-)Realität kennen und anwenden lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Virtuelle (Sport)Realität - Ein vorläufiges Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exergames | Valentin Benzing, Lairan Koch, Sascha Ketelhut, Anna Lisa Martin-Niedecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exergames: Spielgestaltung und Spielerleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gamification von Bewegung vs. Exergames . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spielgestaltung und Exergame-Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spielerleben in Exergames . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen zur Spielgestaltung und Spielerleben . . . . . . . . . . Sportwissenschaftliche Forschungsfelder zu Exergames . . . . . . . . . . . Psychologisch orientierte Forschungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologisch orientierte Forschungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frage an die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familie und Gesundheit - wie der familiäre Kontext unser Aktivitätsverhalten prägt | Christina Niermann, Susanne Kobel . . . . . . . . . . Was ist Familie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familie und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familie und Gesundheitsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktivitätsverhalten und Zweierbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Familie als Ganzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familie und Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 13 253 13.1 254 13.1.1 254 13.1.2 256 13.1.3 259 13.1.4 261 13.1.5 264 265 265 14 273 14.1 274 14.2 274 14.3 275 14.3.1 275 14.3.2 280 14.3.3 284 14.4 285 286 15 293 15.1 294 15.2 295 15.3 299 15.4 306 307 308 16 315 16.1 316 16.2 318 Affektive Prozesse und körperliche Aktivität | Darko Jekauc, Katharina Feil, Susanne Weyland, Julian Fritsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Grundlagen der affektiven Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . Empirische Befunde zum Zusammenhang zwischen affektiven Prozessen und körperlicher Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freude an körperlicher Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antizipation von affektiven und emotionalen Prozessen hinsichtlich zukünftiger körperlicher Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frage an die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Physical Activity Adoption and Maintenance (PAAM) Modell: Aktuelle Überlegungen und Erweiterungen zur Erklärung der Intentions-Verhaltens- Lücke | Ines Pfeffer, Chris Englert, Tilo Strobach, Phil Ljubic, Darko Jekauc Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Duale Prozesstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das PAAM-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Explizite Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Implizite Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufnahme und Aufrechterhaltung des körperlichen Aktivitätsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chancen und Grenzen des PAAM-Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ambulantes Assessment und mentale Gesundheit | Birte von Haaren-Mack, Markus Reichert, Martina Kanning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ambulantes Assessment (AA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bisherige Forschung zu den Wirkzusammenhängen körperlicher Aktivität und mentaler Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frage an die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individualisierte digitale Interventionen zur Unterstützung bewegungsbezogener Verhaltensänderung | Hannes Baumann, Janis Fiedler, Kathrin Wunsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen digitaler Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlüsselfaktoren für effektive digitale Interventionen . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="10"?> 16.3 320 16.4 321 16.5 324 326 327 333 17 335 336 341 342 343 18 345 346 347 350 353 356 19 357 19.1 358 19.1.1 358 19.1.2 358 19.1.3 363 19.2 364 19.3 365 19.3.1 365 19.3.2 366 19.4 368 19.4.1 369 19.4.2 369 19.5 370 19.6 373 Mobile Gesundheitsinterventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individualisierte Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frage an die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wettkampf und Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führung im Sport | Hans-Dieter Hermann, Kathrin Staufenbiel . . . . . . . . . . Führung und Führungsstile im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Coaching im Leistungssport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl | Monika Liesenfeld, Kathrin Staufenbiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstvertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze und Theorien zu Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl . . . . . . . . . . . Selbstmitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitergehende Anregungen für Sportpsycholog*innen und Forschungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpersonale Gewalt im Sport | Helena Schmitz, Teresa Greither, Janina Jaspers, Annika Söllinger, Jeannine Ohlert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen, Daten und Fakten zu interpersonaler Gewalt im Sport . Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studienlage zu interpersonaler Gewalt im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folgen, Mitteilung, Konsequenzen und Ende von Gewalterfahrungen im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren im Sportsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tatpersonen interpersonaler Gewalt im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charakteristika von Tatpersonen interpersonaler Gewalt . . . . . . . . . . Strategien und Vorgehensweisen von Tatpersonen bei interpersonaler Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention interpersonaler Gewalt in Sportorganisationen . . . . . . . . . Risikoanalyse - der Individualität der Organisation gerecht werden . Schutzkonzepte und ihre Bestandteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute Intervention bei Verdachtsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufarbeitung von Vorfällen interpersonaler Gewalt im Sport . . . . . . . 10 Inhalt <?page no="11"?> 19.7 375 19.8 375 376 20 381 20.1 382 20.1.1 382 20.1.2 383 20.2 386 20.2.1 386 20.2.2 387 20.2.3 388 20.2.4 390 20.2.5 391 20.2.6 392 20.3 393 20.3.1 393 20.3.2 394 20.3.3 395 396 397 21 401 21.1 402 21.2 403 21.3 404 21.4 406 21.5 408 21.6 411 413 419 425 429 433 Die Rolle der Sportpsycholog*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützende Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungs- und Wettkampfsport: Stress, Stressreaktion und Stressmanagement | Jana Strahler, Franziska Lautenbach . . . . . . . . . . . . . . . . Stressfaktoren im Wettkampf- und Leistungssport . . . . . . . . . . . . . . . . Stress im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ebenen der Stressreaktion im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stressbedingte Beschwerden im Wettkampf- und Leistungssport . . . . Akuter Stress: Optimierung der wettkampfbedingten Stressreaktion Akuter Stress: Wettkampfangst und -ängstlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Akuter Stress: Choking under pressure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronischer Stress: Übertraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronischer Stress: Relatives Energiedefizit-Syndrom . . . . . . . . . . . . . Diagnostische und prognostische Marker von Stress im Sport . . . . . . Stressmanagement im Wettkampf- und Leistungssport . . . . . . . . . . . . Regulation von Stress im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resilienz im und durch Leistungssport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Training von Resilienz im Leistungssport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frage an die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaf und sportliche Leistung | Daniel Erlacher, Albrecht Vorster . . . . . . . . Die Wechselbeziehung von Erholung und Belastung im Sport . . . . . . Grundlagen Schlaf und Schlafmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaf von Leistungssportler*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaf während der Trainingsperioden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaf bei Wettkämpfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien zur Förderung des Schlafs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beiträger: innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 11 <?page no="12"?> Hinweise zum Buch Zu diesem Buch gibt es einen ergänzenden eLearning-Kurs Mithilfe des Kurses können Sie online überprüfen, inwie‐ weit Sie die Themen des Buches verinnerlicht haben. Gleichzeitig festigt die Wiederholung in Quiz-Form den Lernstoff. Der eLearning-Kurs kann Ihnen dabei helfen, sich gezielt auf Prüfungssituationen vorzubereiten. Der eLearning-Kurs ist eng mit vorliegendem Buch verknüpft. Sie finden im Folgenden zu den wichtigen Kapiteln QR-Codes, die Sie direkt zum dazu gehörigen Fragenkomplex bringen. Andersherum erhalten Sie innerhalb des eLearning-Kur‐ ses am Ende eines Fragendurchlaufs neben der Auswertung der Lernstandskon‐ trolle auch konkrete Hinweise, wo Sie das Thema bei Bedarf genauer nachlesen bzw. vertiefen können. Diese enge Verzahnung von Buch und eLearning-Kurs soll Ihnen dabei helfen, unkompliziert zwischen den Medien zu wechseln, und unterstützt so einen gezielten Lernfortschritt. <?page no="13"?> Vorwort Chris Englert, Ines Pfeffer, Kathrin Staufenbiel, Christian Vater Die Sportpsychologie hat in den letzten 20 Jahren sowohl in der Forschungslandschaft als auch in der sportlichen Praxis zunehmend an Bedeutung gewonnen und sich als zentrales Fach der Sportwissenschaft etabliert. Das Interesse an sportpsychologischen Themen nimmt stetig zu, was auch durch die sportpsychologischen Masterstudien‐ gänge, die mittlerweile an verschiedenen universitären Standorten in Deutschland angeboten werden, untermauert wird. Dieses Buch greift die beiden etablierten Themenbereiche der Sportpsychologie Gesundheit und Leistung konsequent auf und fokussiert dabei, neben den klassischen Grundlagen, auf aktuelle Methoden und theoretische Ansätze, die aus Sicht der Heraus‐ geber*innen in Forschung und Anwendung zukünftig an Bedeutung gewinnen werden. Das vorliegende Buch hat den Anspruch, über die Inhalte klassischer Lehrbücher hinauszugehen und versteht sich als sinnvolle Ergänzung zu den sportpsychologischen Grundlagenwerken und für die sportpsychologische Lehre auf Bachelor- und Master‐ niveau. Das vorliegende Lehrbuch gliedert sich in vier Bereiche auf. In den ersten sechs Kapiteln werden grundlegende psychologische Prozesse und deren Relevanz für die Sportpsychologie vorgestellt und diskutiert. In den anschließenden fünf Kapiteln werden neue Erkenntnisse und Ansätze aus der Sportmotorik präsentiert. Das Thema Gesundheit und neue Ansätze zur Messung gesundheitsbezogener Parameter werden in den Kapiteln 12 bis 16 behandelt. Die Kapitel 17 bis 21 beschäftigen sich schließlich mit den Themen Wettkampf und Leistung aus einer angewandten Perspektive. In jedem Kapitel werden zunächst die jeweiligen Lernziele dargestellt und für eine tiefere Elaboration der Inhalte am Ende Lernkontrollfragen gestellt. Die Antworten auf die Lernkontrollfragen sowie weitergehende Informationen finden sich im frei zugänglichen Onlinetool. Darüber hinaus beinhalten einzelne Kapitel eine „Frage an die Praxis“. Diese Fragen zielen darauf ab, die Relevanz des jeweiligen Themenbereichs für die Angewandte Sportpsychologie zu beleuchten. Die vier Bereiche und deren Themenschwerpunkte werden im Folgenden differenzierter beschrieben. Grundlegende sportpsychologische Prozesse Laborde und Kolleg*innen widmen sich in ihrem Kapitel dem Thema Emotionen. Die Autor*innen legen hierbei einen besonderen Fokus auf die Bedeutung positiver Emotionen (z. B. Freude und Wohlbefinden) und bemängeln, dass in früheren und aktuellen Studien häufig ausschließlich zu den Effekten negativer Emotionen geforscht wurde (z. B. Choking under pressure). Positive Emotionen können u. a. dazu beitragen, <?page no="14"?> die Motivation, das Engagement und die sportliche Leistung zu steigern. Neben der Bedeutsamkeit positiver Emotionen wird darüber hinaus auf die hohe Relevanz interpersonaler Emotionsregulation hingewiesen, die Athlet*innen und Trainer*innen dabei helfen kann, ihre Emotionen gemeinsam mit anderen zu regulieren und somit ein positives soziales Umfeld zu schaffen. Wegner et al. beschäftigen sich in ihrem Kapitel mit impliziten Motiven im Sport und deren Bedeutsamkeit für die Ausübung körperlicher Aktivität. Unter impliziten Moti‐ ven verstehen die Autor*innen nicht bewusstseinspflichtige und affektive Präferenzen einer Person für bestimmte Klassen von Anreizen. In diesem Kontext führen implizite Motive u. a. dazu, dass bestimmte Hinweisreize in der Umwelt stärker wahrgenommen werden, dass Energie für Verhalten bereitgestellt wird und dass das Verhalten auf Anreize ausgerichtet wird, die thematisch relevant für das jeweilige Motiv sind. Wegner und Kolleginnen stellen zentrale empirische Befunde zu den Effekten impliziter Motive vor und werfen abschließend einen kritischen Blick auf aktuelle Forschungspraktiken im Bereich impliziter Motive. Bieleke und Kollegen diskutieren in ihrem Kapitel die Bedeutsamkeit der Selbstkon‐ trolle für Sport und Gesundheit. Selbstkontrolle beschreibt in diesem Zusammenhang den Prozess, beharrlich ein bestimmtes Ziel zu verfolgen (z. B. am Abend Laufen zu gehen) und auf situativ attraktiv erscheinende Verhaltensalternativen willentlich zu verzichten (z. B. Fernzusehen; vgl. Englert et al., 2021). Die Autoren beschreiben zunächst aktuelle theoretische Modelle, die zu erklären versuchen, warum Selbstkon‐ trolle misslingen kann und selbst die stärksten Zielintentionen nicht immer hartnäckig verfolgt werden (können). Darüber hinaus beschäftigen sich Bieleke et al. mit der Rolle der Langeweile im Kontext von Sport und Gesundheit sowie mit der Relevanz psychologischer Handlungskrisen. Das Kapitel schließt mit einer Darstellung und Diskussion aktueller Ansätze, die darauf abzielen, Selbstkontrollprozesse zu optimieren und die Zielerreichung zu unterstützen (z. B. Durchführungsintentionen; vgl. Bieleke et al., 2021). Das Kapitel von Buenemann et al. beschäftigt sich mit nonverbalem Verhalten im Sport. Unter nonverbalem Verhalten (NVV) versteht man solche wahrnehmbaren Verhaltensweisen, die nicht aus Worten bestehen (u. a. Mimik, Gestik, Bewegungen). Zahlreiche Untersuchungen weisen darauf hin, dass Menschen die Emotionen oder auch den Status anderer Personen anhand von deren NVV relativ akkurat einschätzen können. Auch im Sport scheint das NVV eine wichtige Rolle zu spielen, sodass bspw. sowohl Erfolg (z. B. Abklatschen) als auch Misserfolg (z. B. Schultern hängen lassen) mit bestimmten typischen NVV einhergeht. Versuchspersonen, die nach dem Betrachten einer kurzen Videosequenz eines sportlichen Wettkampfs eine Einschätzung darüber abgeben sollen, ob die gezeigte Person zuvor erfolgreich oder nicht erfolgreich abge‐ schnitten hat, geben i. d. R. relativ akkurate Urteile ab. Buenemann und Kollegen stellen darüber hinaus verschiedene methodische Zugänge zur Untersuchung des NVV im Sport vor und schließen mit einer kritischen Diskussion aktueller Forschungsansätze. 14 Vorwort <?page no="15"?> Im abschließenden Kapitel Kognition stellen Musculus und Loffing die Grundlagen der kognitionspsychologischen Forschung im Kontext Sport dar. Es werden die grund‐ legenden Ideen von Informationsverarbeitungsansätzen, den perzeptuell-kognitiven Fertigkeiten und zentrale theoretische Annahmen vorgestellt. Darauf aufbauend wird der Bezug zum Sportkontext hergestellt, mit besonderem Fokus auf die Relevanz von Kognition in den Sportspielen. Darüber hinaus präsentieren Musculus und Loffing ver‐ schiedene standardisierte Testverfahren, die eine verlässliche Erhebung der relevanten Konstrukte ermöglichen. Sportmotorik Zahno und Hossner geben zunächst einen Überblick über Theorietrends in der Sportmotorik und gehen dann näher auf die aktuelle „Theorie der optimalen Feed‐ back-Kontrolle“ ein. Dabei werden Themen wie Vorwärtsmodellierungen, Pseudo- Regelkreise oder der Umgang mit Unsicherheiten thematisiert. Abschließend werden Konsequenzen für eine theoriebasierte Methodik des Bewegungslehrens vorgestellt. Loffing und Musculus thematisieren anschließend, welche Rolle die Expertise und damit verbunden die perzeptuell-kognitiven Fertigkeiten im Sport haben. Dabei schildern sie, welche kognitiven Prozesse bei Sportlerinnen und Sportlern ablaufen, welche Befunde es in der Expertiseforschung gibt und wie sie gefördert werden können. Es wird dabei auf den Expert Performance Approach eingegangen, um aufzuzeigen, wie erfahrene Sportlerinnen und Sportler die gegnerischen Handlungsabsichten besser antizipieren können, bessere Entscheidungen treffen und Täuschungshandlungen sowie mannschaftstaktische Muster besser erkennen können. Dabei werden die in der Forschung eingesetzten methodischen Verfahren vorgestellt und kritisch diskutiert. Abschließend werden Empfehlungen für Trainings in der Sportpraxis aber auch Empfehlungen für die Forschung gegeben. Im Anschlusskapitel schildert Vater den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Handlung im Sport. Dabei wird vor allem die visuelle Wahrnehmung betrachtet, indem das visuelle System als eine biologische Randbedingung und die Aufmerksam‐ keit als eine kognitive Randbedingung charakterisiert und deren Abhängigkeiten und Zusammenhänge diskutiert werden. Es wird auf empirische Ergebnisse zu Blick-, Kopf- und Ganzkörperbewegungen eingegangen, um zum Beispiel zu erklären, welche Kosten diese in bestimmten Handlungskontexten haben können. Es wird dann auf die Frage eingegangen, ob es ein „optimales Blickverhalten“ überhaupt gibt und - wenn es dieses gäbe - wie man es eventuell trainieren könnte. Dabei wird auf offene Fragen hinsichtlich der Theorie eingegangen und diskutiert, welcher methodische Ansatz für welche Fragestellung geeignet ist. Dafür wird auch ein Blick über den Tellerrand der Sportwissenschaften gewagt und auf Studien zur Wahrnehmung in Alltagsaufgaben (z.-B. Autofahren) fokussiert. Im Kapitel von Frank liegt der Fokus auf dem Thema Virtual Reality (VR). Hier wird zunächst eingegrenzt, was überhaupt unter VR verstanden wird, wie es eingesetzt werden kann und wie man die virtuelle Welt möglichst real werden lässt. Es folgt Vorwort 15 <?page no="16"?> ein Überblick zu bisherigen Einsatzgebieten von VR im Sportkontext mit Verweis auf systematische Reviews. Danach wird anhand eines Beispiels zum Bewegungsler‐ nen erklärt, welche Vor- und Nachteile VR mit sich bringt. Abschließend werden Einsatzmöglichkeiten von VR in der Forschung und Lehre anhand konkreter Beispiele diskutiert. Das abschließende Kapitel von Benzing et al. beschäftigt sich mit „Exergames“, welches die Begriffe exercise und gaming verbindet. Exergames werden also durch Spielspaß, körperliche Aktivität und oftmals den Einsatz von VR charakterisiert. Obwohl es wissenschaftlich noch ein recht junges Forschungsgebiet ist, gibt es bereits einige Reviews und Metaanalysen, deren Ergebnisse in diesem Kapitel zu Beginn zusammengefasst werden. Ein Schwerpunkt der Autorinnen und Autoren liegt dabei auf psychologischen Fragestellungen. Ein zweiter Schwerpunkt beschäftigt sich mit der Frage, wie Exergames aus verschiedenen Perspektiven (u. a. Gesundheit) gestaltet werden sollten, um positive Effekte zu erzielen. Es folgt ein Überblick zu psychologi‐ schen, motorischen und physiologischen Effekten, die Exergaming haben kann. Gesundheit Der soziale Kontext ist ein entscheidender Faktor für das körperliche Aktivitätsver‐ halten, der im Kapitel von Kobel und Niermann aufgegriffen wird. Die Familie stellt insbesondere für Kinder und Jugendliche die primäre Sozialisationsinstanz dar, in der Verhalten erlernt und aufrechterhalten wird. Die Bedeutung von familiären Sozialisationsdynamiken (z. B. strukturelle und organisatorische Eigenschaften der Familie und der Interaktionen zwischen Familienmitgliedern) für das körperliche Ak‐ tivitätsverhalten wurde allerdings bisher nur wenig untersucht, obwohl erste Befunde zeigen, dass sie ein relevantes Korrelat des Gesundheitsverhaltens sind. Die wissenschaftliche Evidenz weist seit einigen Jahren eindrucksvoll darauf hin, dass affektive Prozesse im Kontext des regelmäßigen körperlichen Aktivitätsverhaltens eine bedeutende, aber in der Forschung lange Zeit vernachlässigte Rolle spielen. Dabei sind Affekte und Emotionen sowohl als Determinante als auch als Folge regelmäßiger körperlicher Aktivität relevant. Der Beitrag von Jekauc et al. geht auf die Rolle von Affekten und Emotionen als Antezedens (z. B. antizipierte Affekte) und Konsequenz des körperlichen Aktivitätsverhaltens (z. B. affektive Reaktionen) ein und stellt den aktuellen Forschungsstand dazu vor. Zur Erklärung des körperlichen Aktivitätsverhaltens wurden kürzlich verschiedene Theorien und Modelle auf der Basis dualer Prozesstheorien entwickelt. Diese Modelle erkennen an, dass das Bewegungsverhalten nicht allein durch rationale Entscheidungs‐ prozesse gesteuert wird, die aufwändige kognitive Verarbeitung erfordern, sondern ebenso über weniger aufwändige automatische Prozesse, wie affektive Reaktionen oder Gewohnheiten, die mühelos ablaufen, ohne das Arbeitsgedächtnis zu beanspruchen. Das Physical Activity Adoption and Maintenance (PAAM) Modell wird im Kapitel von Pfeffer et al. genauer beschrieben sowie Chancen und Grenzen diskutiert. 16 Vorwort <?page no="17"?> Die Digitalisierung gewinnt für die Erforschung von Determinanten des körperli‐ chen Aktivitätsverhaltens und dessen Effekte auf die psychische Gesundheit zuneh‐ mend an Bedeutung. Diese Entwicklung spiegelt sich in zwei Kapiteln dieses Hand‐ buchs wider. Die Methode des ambulanten Assessments, die im Beitrag von van Haaren et al. thematisiert wird, setzt sich insbesondere zur Untersuchung der intraindividuel‐ len Variabilität von psychischen Einflussfaktoren und Outcomes des Gesundheitsver‐ haltens mehr und mehr durch. Mit dieser Methode können Selbstauskünfte (über z. B. die momentane Motivation und/ oder? affektive Reaktionen), das Bewegungsverhalten, Kontextparameter und physiologische Prozesse im Alltag computergestützt erfasst und diese Parameter in Echtzeit, also ohne retrospektive Verzerrungen, über beispielsweise Smartphones erhoben und anschließend in Beziehung gebracht und analysiert werden. Just-in-time-adaptive-Interventionen sind eine neuartige digitale und individuali‐ sierte Form der Intervention zur Unterstützung der Gesundheitsverhaltensänderung und werden im Beitrag von Baumann et al. aufgegriffen. Hierbei werden auf der Basis hochauflösender Längsschnittdaten, maschineller Lernprozesse sowie neuester Entscheidungsfindungsalgorithmen auf die Bedürfnisse und Präferenzen des Individu‐ ums angepasste Interventionen digital zur Verfügung gestellt. Diese theoriegeleiteten Interventionen werden dann vor allem während der vielversprechendsten Zeit für das gewünschte Verhalten (z. B. körperliche Aktivität) oder während der anfälligs‐ ten Zeit für unerwünschtes Verhalten (z. B. Inaktivität) dargeboten. Der aktuelle Forschungsstand zu dieser noch jungen Forschungslinie wird aufgezeigt und Chancen und Grenzen sowie offene Forschungsfragen diskutiert. Wettkampf und Leistung Die Kapitel im Bereich Wettkampf und Leistung bestehen zum einen aus Themen, die zu den Grundlagen der Angewandten Sportpsychologie im Leistungs- und Spitzensport gehören. Hier sind die Kapitel zu Führung, Selbstvertrauen und Stressmanagement zu nennen. Gleichwohl gehen die Autor*innen dieser Kapitel neben den Grundlagen auch auf aktuelle Trends und Entwicklungen in diesen Themenfeldern ein. Zum anderen sind im Bereich Wettkampf und Leistung zwei Kapitel zu finden, die inhaltlich neue Entwicklungen und Trends darstellen und bislang noch kaum Eingang in sportpsycho‐ logische Lehrbücher gefunden haben. Dies sind die Kapitel zu interpersonaler Gewalt und zu Schlaf. Die Autor*innen dieser Kapitel führen in die Themenfelder ein und stellen die praktische Relevanz heraus. Die Kapitel zu Führung und zu Selbstvertrauen wurden in Form von Interviews mit ausgewiesenen Expert*innen aus der Praxis in das Buch eingebunden. Hermann und Staufenbiel beleuchten im Kapitel Führung im Sport grundlegende und neuere Ansätze der Führungsforschung. Mit seiner langjährigen Erfahrung als Sportpsychologe (u. a. der Deutschen Fußballnationalmannschaft der Herren) zeigt Hermann auf, wie er Forschungsansätze wie Athlete Leadership oder Shared Leader‐ ship einschätzt und was beispielsweise bei der Begleitung von Führungspersonen an Großevents wie Weltmeisterschaften zu berücksichtigen ist. Im Kapitel Selbstvertrauen Vorwort 17 <?page no="18"?> und Selbstmitgefühl beleuchten Liesenfeld und Staufenbiel grundlegende und aktuelle Konzepte zu diesen Themen. Hierbei wird insbesondere auf Forschung zu Selbstwirk‐ samkeit bzw. Self-efficacy und zu Selbstmitgefühl bzw. Self-Compassion eingegangen. Mit Liesenfeld stellt eine der erfahrensten Sportpsychologinnen Deutschlands heraus, wie sie in der Praxis konkret vorgeht und bringt dabei auch Ansätze wie die Ego- State-Therapie in das Gespräch ein. Das Kapitel Interpersonale Gewalt im Sport von Schmitz, Greither, Jaspers, Söllinger und Ohlert greift ein sehr aktuelles Thema der Angewandten Sportpsychologie auf und rüstet die Leser*innen mit fundiertem Hinter‐ grundwissen und verständlichen Handlungsempfehlungen für Forschung und Praxis. Die Autorinnen wirken an verschiedenen Projekten zu interpersonaler Gewalt im Sport mit (z. B. Safe Clubs) und bringen somit eine sehr praxisnahe Expertise ein. Seit 2020 erstmals Spitzenturnerinnen öffentlich von psychischer Gewalt im Training berichte‐ ten, ist es in den letzten Jahren zu einem klaren Handlungsauftrag für die Angewandte Sportpsychologie geworden, sich noch mehr als bisher für einen sicheren, gewaltfreien Sport einzusetzen. Strahler und Lautenbach bringen ihre umfassende Expertise zu Stress als bio-psycho-soziales Phänomen im Kapitel Leistungs- und Wettkampfsport: Stress, Stressreaktion und Stressmanagement zusammen. Neben den Folgen der akuten Stressreaktion beschreibt das Kapitel auch chronisch stressbedingte Beschwerden im Wettkampf- und Leistungssport. Möglichkeiten zur Diagnostik und Intervention bei negativen Konsequenzen für Leistung und Gesundheit werden vorgestellt. Somit legt das Kapitel eine wichtige Grundlage zur Prävention und Erhaltung der psychischen Gesundheit von Athlet*innen. Das Kapitel Schlaf und sportliche Leistung der beiden Schlafexperten Erlacher und Vorster stellt Grundlagen zu Erholung, zu Schlaf und Schlafmessung vor und geht schließlich auf den Schlaf von Leistungssportler*innen ein. Wenn auch die Funktionen des Schlafes bei weitem nicht vollständig verstanden sind, so wird der Schlaf allgemein als wertvolle Ressource für das psychologische und physiologische Wohlbefinden angesehen. Das Kapitel schließt mit praktischen Strategien zur Verbesserung des Schlafs. 18 Vorwort <?page no="19"?> 1 Einführung in die Sportpsychologie Chris Englert, Ines Pfeffer, Kathrin Staufenbiel, Christian Vater Die Sportpsychologie beschäftigt sich mit dem Erleben und Verhalten von Perso‐ nen in sportbezogenen Kontexten. Hierbei legt die Sportpsychologie den Fokus auf konkrete sportspezifische Problem- und Fragestellungen und versucht, diese (grundlagen-)wissenschaftlich zu erklären und praktische Handlungsempfehlun‐ gen abzuleiten. Im vorliegenden Kapitel sollen zunächst verschiedene Zugänge im Bereich der Sportpsychologie präsentiert werden, gefolgt von einem historischen Abriss über die nationale und internationale Entwicklung der Sportpsychologie als wissenschaftliche Disziplin. Das Kapitel schließt mit einem optimistischen Ausblick auf die weitere Entwicklung der Sportpsychologie und zielt darüber hinaus darauf ab, Herausforderungen zu skizzieren, mit denen sich die Sportpsy‐ chologie in den kommenden Jahren konfrontiert sehen könnte. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1295. Lernziele ■ Die Leser*innen können den Gegenstand der Sportpsychologie umreißen. ■ Die Leser*innen können verschiedene sportpsychologische Zugänge differen‐ zieren. ■ Die Leser*innen können grundlegende sportpsychologische Konzepte und Theorien in den historischen Kontext einbetten und verstehen. ■ Die Leser*innen können neuere theoretische Entwicklungen im Bereich Ge‐ sundheit erkennen und beschreiben. ■ Die Leser*innen können neuere theoretische Entwicklungen im Bereich Wett‐ kampf und Leistung der Angewandten Sportpsychologie beschreiben. <?page no="20"?> 1.1 Was wird unter Sportpsychologie verstanden? „Baseball is 90-% mental, the other half is physical.” Yogi Berra Abb. 1-1 | Die Psyche spielt im Leistungssport eine bedeutsame Rolle. Dieses Zitat von Yogi Berra, einem der bekanntesten Baseballspieler in der Geschichte der Major League Baseball in den USA, hebt die Relevanz der Psyche in sportbezogenen Kontexten hervor und verdeutlicht, dass sportliche Leistung nicht nur von körperli‐ chen, sondern ebenso von psychischen Faktoren abhängig ist (siehe Abbildung 1-1). Neben den förderlichen Effekten der Psyche auf die sportliche Leistung weist das folgende Zitat von Eliud Kipchoge, dem ersten Menschen, der den Marathon unter zwei Stunden absolviert hat, zum anderen darauf hin, dass sportliche Teilhabe darüber hinaus positive Effekte auf verschiedene psychische Prozesse ausüben kann: „I always say: a run in the morning is like eating a fruit a day - it chases the doctor away. It is good for your mind.“ (Eliud Kipchoge) 20 1 Einführung in die Sportpsychologie <?page no="21"?> Abb. 1-2 | Körperliche Aktivität trägt zu einer positiven Stimmung bei. Die Sportpsychologie als wissenschaftliche Disziplin beschäftigt sich mit dem Erleben und Verhalten von Personen in sportbezogenen Kontexten und ist laut Hänsel und Kolleg*innen (2016) als anwendungsorientierte Wissenschaft zu verstehen. Nitsch (1978) definiert Sportpsychologie in diesem Zusammenhang als „eine empirische Wissenschaft, die die Bedingungen, Abläufe und Folgen der psychischen Regulation sportlicher Handlungen untersucht und daraus Möglichkeiten ihrer Beeinflussung ableitet“ (S. 6). Der jeweilige sportbezogene Kontext kann hierbei aus einer eher wissenschaftlichen oder einer eher anwendungsorientierten Perspektive betrachtet werden. Diese beiden Perspektiven lassen sich anhand einer Aussage des Fußballspie‐ lers Per Mertesacker genauer darstellen, der in einem Interview angab, dass ihn der Druck während der Fußballweltmeisterschaft 2006 „aufgefressen“ habe und er Angst davor hatte, „einen Fehler zu machen, aus dem dann ein Tor entsteht“ (Windmann, 2018). Bezugnehmend auf dieses Beispiel könnte ein*e Wissenschaftler*in der Frage nachgehen, warum Personen in Drucksituationen ihre Leistung nicht abrufen können, wohingegen ein*e angewandt arbeitende*r Sportpsycholog*in mit Mertesacker daran arbeiten könnte, künftig besser mit Drucksituationen umzugehen. In den vergangenen Jahren hat die strikte Trennung dieser beiden Herangehensweisen stetig abgenommen und stattdessen eine engere Verzahnung von Wissenschaft und Praxis stattgefunden (vgl. Lobinger & Stoll, 2019). Im angloamerikanischen Raum unterteilt man die Sportpsychologie explizit in einen Bereich, der sich mit Fragen des Leistungssports beschäftigt (Sport Psychology) und einen anderen Bereich, der eher auf den Breitensport und regelmäßige körperliche 1.1 Was wird unter Sportpsychologie verstanden? 21 <?page no="22"?> Aktivität fokussiert (Exercise Psychology). Eine solche Ausdifferenzierung wird im deutschsprachigen Raum nicht vorgenommen. Weinberg und Gould (2023) schlagen für beide Bereiche die folgende übergeordnete Definition vor: „Sport and exercise psychology is the scientific study of people and their behaviors in sport and exercise activities and the practical application of that knowledge” (S. 4). In Deutschland wird die (Grundlagen-)Forschung in beiden Bereichen durchgeführt, jedoch findet die sportpsychologische Praxis bisher primär in leistungssportlichen Settings statt. In der sportpsychologischen Forschung werden laut Weinberg und Gould (2023) zumeist zwei Wirkbeziehungen adressiert, nämlich zum einen, inwiefern psychische Prozesse die sportbezogene Leistung beeinflussen bzw. mit ihr zusammenhängen (z. B. Rumination und sportliche Leistung; Roy et al., 2016), und zum anderen, wie die sportliche Teilhabe die Psyche beeinflusst (z. B. die Effekte regelmäßiger körper‐ licher Aktivität auf die mentale Gesundheit; Paluska & Schwenk, 2000). Neben der sportpsychologischen Forschung spielt die sportpsychologische Praxis eine zentrale Rolle, die sich die Erkenntnisse der Grundlagenforschung zunutze macht. Angewandte Sportpsycholog*innen beschäftigen sich u. a. mit der Frage, wie Athlet*innen dabei unterstützt werden können, in Wettkampfsituationen ihr Leistungsoptimum abzurufen oder wie Menschen bei der Aufnahme und Aufrechterhaltung regelmäßiger körperli‐ cher Aktivität konkret unterstützt werden können. Laut Schüler und Kollegen (2020) liegen der Sportpsychologie vier zentrale Ziele zugrunde: „Menschliches Erleben und Verhalten im Kontext sportlicher Aktivität zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen und letztendlich auch zu verändern“ (S. 3; siehe auch Lobinger & Stoll, 2019). Eine saubere wissenschaftliche Beschreibung sportbezogener Phänomene bildet hierbei die Grundlage der sportpsychologischen Ar‐ beit (z. B. Definitionen, theoretische Fundierung; vgl. Nitsch, 2004). Um sportbezogene Phänomene erklären zu können, wird in der Sportpsychologie auf etablierte Theorien zurückgegriffen, aus denen wiederum Hypothesen zur Vorhersage bestimmter Phäno‐ mene abgeleitet und empirisch überprüft werden (Conzelmann, Hänsel & Höner, 2023). Basierend auf theoretischen Überlegungen und empirischen Befunden lassen sich letztlich Maßnahmen ableiten, um bestimmte Verhaltensweisen positiv zu verändern (z. B. Eberspächer & Immenroth, 1998). Diese Kernaufgaben der Sportpsychologie lassen sich anhand des folgenden fiktiven Beispiels erklären: Eine Trainerin hat den Eindruck, dass ihr Team unter Druckbedingungen versagt und wendet sich an einen Sportpsychologen. Der Sportpsychologe beschreibt dieses Phänomen als Choking under pressure und erklärt die Leistungseinbußen dadurch, dass die Teammitglieder unter Druck erhöhte Zustandsangst erleben und weniger konzentriert sind (vgl. Baumeister, 1984; siehe auch Englert, 2015). Er führt eine empirische Studie zur Überprüfung dieser Annahme durch, indem er die Teammitglieder mehrmals mittels standardisierter Fragebögen und qualitativen Interviews zu ihren Empfindungen während eines Wett‐ kampfs befragt. Basierend auf der gewonnenen Datenbasis führt der Sportpsychologe mit den Teammitgliedern Entspannungsübungen durch, um die erhöhte Erregung vor einem Wettkampf besser regulieren zu können (vgl. Mesagno & Beckmann, 2017). 22 1 Einführung in die Sportpsychologie <?page no="23"?> Nach dieser allgemeinen Einführung in die Sportpsychologie soll im Folgenden ein historischer Abriss der nationalen und internationalen Entwicklung der Sportpsy‐ chologie und darüber hinaus ein (optimistischer) Ausblick auf die Entwicklung der Sportpsychologie gegeben werden. 1.2 Ein historischer Abriss der Sportpsychologie mit (optimistischem) Blick in die Zukunft Laut Kornspan und Quartiroli (2019) lässt sich die Geburtsstunde der Sportpsychologie auf das Ende des 19. Jahrhunderts datieren, wenngleich Kremer und Moran (2008) Hinweise darauf finden konnten, dass bereits in den Olympischen Spielen der Antike die Wichtigkeit der Psyche für den sportlichen Erfolg hervorgehoben wurde. Die ersten empirischen sportpsychologischen Untersuchungen wurden in den 1890er Jahren u. a. von Norman Triplett (Triplett, 1898) durchgeführt. Triplett interessierte sich dafür, warum Radfahrer*innen bessere Leistungen erbrachten, wenn sie gegen‐ einander antraten, im Vergleich zu Situationen, in denen sie die jeweilige Strecke allein absolvierten. In einem ersten Schritt analysierte Triplett vorhandene Radrenndaten, die seine Annahme empirisch unterstützten. In einem anschließenden Experiment fand Triplett zudem heraus, dass Kinder eine Angelleine schneller einrollen konnten, wenn andere Kinder dabei waren, als wenn sie diese Aufgabe allein ausführen sollten. E. W. Scripture führte Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls erste sportpsychologische Studien durch und interessierte sich u. a. dafür, inwiefern sportliche Teilhabe positive Effekte auf verschiedene Persönlichkeitsmerkmale ausüben kann (Scripture, 1895; Scripture & Smith, 1896). Pierre de Coubertin - der Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit - war es schließlich, der den Begriff Sportpsychologie prägte (Coubertin, 1900) und die Rolle der Sportpsychologie bei den Olympischen Kongressen in den Jahren 1897 und 1903 diskutierte (vgl. Kornspann, 2007). Die ersten sportpsychologischen Labore und Arbeitsbereiche wurden in den 1920er Jahren gegründet. In diesem Zusammenhang werden in Nordamerika Colemann R. Griffith und in Russland P. A. Rudik als Vorreiter der sportpsychologischen Forschung gesehen. In Deutschland gründete Robert Werner Schulte 1920 das erste sportpsycho‐ logische Labor an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin. In den 1960er und 1970er Jahren wurden die ersten internationalen sportpsychologischen Vereinigungen gegründet (z. B. International Society of Sport Psychology im Jahre 1965; North American Society for the Psychology of Sport and Physical Acvitity im Jahre 1967; European Federation of Sport Psychology im Jahre 1969) und erste sportpsychologische Zeitschriften herausgegeben (z. B. Journal of Sport and Exercise Psychology im Jahre 1979). Im Bereich der angewandten Sportpsychologie sind auf internationaler Ebene v. a. Bruce Ogilvie, der in den USA als Mitbegründer der angewandten Sportpsychologie angesehen wird, und John Lawther, der das Buch „Sport Psychology“ publizierte (Lawther, 1972), hervorzuheben. 1.2 Ein historischer Abriss der Sportpsychologie mit (optimistischem) Blick in die Zukunft 23 <?page no="24"?> In Deutschland wurde 1969 die Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie in Deutschland e. V. (asp) gegründet. Dem Verein gehören aktuell 552 Mitglieder an (Stand: Februar 2024). Die asp vertritt die Interessen der Sportpsychologie im univer‐ sitären und im außeruniversitären Bereich. Ziel der Fachgesellschaft ist die Förderung und Weiterentwicklung der Sportpsychologie in Forschung, Lehre und in den Anwen‐ dungsfeldern des Leistungs-, Breiten-, Schul- und Gesundheitssports (www.asp-spo rtpsychologie.de). Das Journal of Applied Sport and Exercise Psychology (ehemals „Zeitschrift für Sportpsychologie“, „Sportpsychologie”, „Psychologie und Sport”) wurde 1987 als Publikationsorgan der asp und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) etabliert und erscheint seit 2004 vierteljährlich im Hogrefe Verlag. In Forschung und Anwendung haben sich in den letzten Jahren vielfältige positive Entwicklungen, aber auch Herausforderungen ergeben. So zeichnen sich neben neue‐ ren theoretischen Ansätzen (z. B. Duale-Prozesstheorien im Kontext körperlicher Aktivität) auch die immer mehr an Bedeutung gewinnenden digitalen Möglichkeiten (z. B. Exergaming, Ambulantes Assessment, Virtual Reality) zur Erforschung sportpsy‐ chologischer Phänomene als gewinnbringende Entwicklungen ab. Eine zentrale Herausforderung, mit der sich die Wissenschaft als Ganzes zunehmend konfrontiert sieht, ist die sogenannte Replikationskrise (engl. crisis of confidence; Pashler & Wagenmakers, 2012). Die Replikationskrise bezieht sich darauf, dass sich empirische Befunde aus Originalstudien in Replikationsstudien häufig nur teilweise replizieren lassen, was das Vertrauen in die Wissenschaft beeinträchtigen kann. Bislang konzentrierten sich großangelegte Replikationsstudien primär auf den Bereich der Psy‐ chologie, sodass sich aktuell noch keine Aussage über die Lage in der Sportpsychologie treffen lässt. Jedoch ist anzunehmen, dass auch in der Sportpsychologie fragwürdige Forschungspraktiken (engl. questionable research practices; vgl. Wolff et al., 2021) zu einer Überschätzung bestimmter Effekte beigetragen haben könnten (vgl. Englert & Klatt, 2023). Daher ist es dringend erforderlich, den Forschungsprozess (künftig) mög‐ lichst transparent zu gestalten, um das Vertrauen in die Forschung wiederherzustellen (Open Science). Folgerichtig gab es in den letzten Jahren umfangreiche Bemühungen, den Bereich der Open Science (z. B. Präregistrierung, Open Data, Registered Reports) auch in der Sportpsychologie voranzubringen und zu verbreiten. Eine sogenannte „Special Interest Group Open Science“ der asp beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Open Science und zielt u. a. darauf ab, deutschsprachigen Sportpsycholog*innen Empfehlungen zur Förderung einer offenen Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Die Angewandte Sportpsychologie hat in den letzten Jahren weiter an Sichtbarkeit und Professionalisierung gewonnen. Neben der postgradualen Ausbildung „asp-Cur‐ riculum - Sportpsychologisches Coaching und Training im Leistungssport” bestehen aktuell vier Masterstudiengänge, welche auf die Angewandte Sportpsychologie im Leistungs- und Spitzensport fokussieren. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit arbeiten Spitzenverbände, Olympiastützpunkte und Nationalteams mit Sportpsycho‐ log*innen und sportpsychologischen Expert*innen zusammen. So wurden sportpsy‐ chologische Rahmenkonzeptionen von Spitzenverbänden entwickelt, die das sportpsy‐ 24 1 Einführung in die Sportpsychologie <?page no="25"?> chologische Anforderungsprofil der Sportarten sowie die Struktur und Arbeitsweise der Sportpsychologie im Verband darstellen (z. B. Deutscher Handballbund, Deut‐ scher Turner-Bund). Auch jedes anerkannte Nachwuchsleistungszentrum in Fußball- Deutschland ist verpflichtet, eine Stelle mit sportpsychologischen Expert*innen oder Sportpsycholog*innen zu besetzen. Neben den Fort- und Weiterbildungen der asp wurden 2024 spezifische Weiterbildungen eingeführt, namentlich die Weiterbildung „Fachpsycholog*in Sportpsychologie” des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen sowie die Weiterbildung des Deutschen Fußballbunds (DFB) „Ex‐ pert*in Fußballpsychologie”. Auch die Supervision als Qualitätssicherung sportpsy‐ chologischer Praxis rückt als Fortbildungsmöglichkeit weiter in den Vordergrund. Auf internationaler Ebene wurde die Professionalisierung der Angewandten Sport‐ psychologie fortgeführt, u. a. durch die Entscheidung, ein Spezialisierungszertifikat Sportpsychologie der Europäischen Föderation der Psychologenverbände einzuführen (European Federation of Psychologist Associations, EFPA, 2023). Zukünftig wird es ein international anerkanntes Zertifikat sportpsychologischer Expertise und Kompetenzen geben, was nicht nur für international arbeitende Sportpsycholog*innen interessant sein wird. Literatur Baumeister, R. F. (1984). Choking under pressure: Self-consciousness and paradoxical effects of incentives on skillful performance. Journal of Personality and Social Psychology, 46, 610-620. http: / / dx.doi.org/ 10.1037/ 0022-3514.46.3.610 Bieleke, M., Wolff, W., Englert, C., & Gollwitzer, P. M. (2021). If-then planning in sports. Zeitschrift Für Sportpsychologie, 28, 109-120. https: / / doi.org/ 10.1026/ 1612-5010/ a000336 Coubertin, P. (1900). La psychologie du sport. La Revues des deux Mondes, 70,161-179. Eberspächer, H., & Immenroth, M. (1998). Kognitives Fertigkeitstraining im Mannschaftssport - Praxisbericht über den Einsatz im Fußball. Psychologie und Sport, 5, 16-27. Englert, C. (2015). Choking under Pressure und Ego Depletion. Eine Erweiterung der Attentional Control Theory und mögliche Interventionsmaßnahmen. Zeitschrift für Sportpsychologie, 22, 137-145. http: / / dx.doi.org/ 10.1026/ 1612-5010/ a000151 Englert, C., & Klatt, S. (2023). Open Science in der deutschsprachigen Sportpsychologie. Zeitschrift für Sportpsychologie, 30, 143-145. https: / / doi.org/ 10.1026/ 1612-5010/ a000407 Englert, C., Pageaux, B., & Wolff, W. (2021). Self-control in sports. In Z. Zenko & L. Jones (Eds.), Essentials of exercise and sport psychology: An open access textbook (pp. 509-529). Society for Transparency, Openness, and Replication in Kinesiology. https: / / doi.org/ 10.51224/ B1022 Hänsel, F., Baumgärtner, S. D., Kornmann, J. M., & Ennigkeit, F. (2016). Sportpsychologie. Springer. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662-50389-8 Conzelmann, A., Hänsel, F., & Höner, O. (2023). Sport: Das Lehrbuch für das Sportstudium. Springer. Kornspan, A. S. (2007). The Early Years of Sport Psychology: The Work and Influence of Pierre de Coubertin. Journal of Sport Behavior, 30, 77-93. Literatur 25 <?page no="26"?> Kornspan, A. S., & Quartiroli, A. (2019). A brief global history of sport psychology. In M. H. Anshel, T. A. Petrie, & J. A. Steinfeldt (Eds.), APA handbook of sport and exercise psychology, Vol. 1. Sport psychology (pp. 3-16). American Psychological Association. https: / / doi.org/ 10.1 037/ 0000123-001 Kremer, J., & Moran, A. (2008). Swifter, higher, stronger: The history of sport psychology. The Psychologist, 21, 740-742. Lawther, J. D. (1972). Sport Psychology. Prentice Hall. Lobinger, B. H., & Stoll, O. (2019). Leistung beschreiben, erklären, vorhersagen und optimieren. Zeitschrift für Sportpsychologie, 26, 58-70. http: / / dx.doi.org/ 10.1026/ 1612-5010/ a000260 Mesagno, C., & Beckmann, J. (2017). Choking under pressure: Theoretical models and interven‐ tions. Current Opinion in Psychology, 16, 170-175. http: / / dx.doi.org/ 10.1016/ j.copsyc.2017.05. 015 Nitsch, J. R. (1978). Zur Lage der Sportpsychologie. In J. R. Nitsch & H. Allmer (Hrsg.), Sportpsychologie - Eine Standortbestimmung (S.-1-11). bps. Nitsch, J. R. (2004). Die handlungstheoretische Perspektive: ein Rahmenkonzept für die sport‐ psychologische Forschung und Intervention. Zeitschrift für Sportpsychologie, 11, 10-23. http: / / dx.doi.org/ 10.1026/ 1612-5010.11.1.10 Pashler, H., & Wagenmakers, E.-J. (Eds.). (2012). Special section on replicability in psychological science: A crisis of confidence? [Special section]. Perspectives on Psychological Science, 7, 528-654. https: / / doi.org/ 10.1177/ 1745691612465253 Paluska, S. A., & Schwenk, T. L. (2000). Physical activity and mental health: current concepts. Sports Medicine, 29, 167-180. http: / / dx.doi.org/ 10.2165/ 00007256-200029030-00003 Roy, M. M., Memmert, D., Frees, A., Radzevick, J., Pretz, J., & Noël, B. (2016). Rumination and performance in dynamic, team sport. Frontiers in Psychology, 6, 2016. https: / / doi.org/ 10.3389 / fpsyg.2015.02016 Schüler, J., Wegner, M., & Plessner, H. (2020). Sportpsychologie: Grundlagen und Anwendung. Springer. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662-56802-6 Scripture, E. W. (1895). Thinking, Feeling, Doing. The Chautauqua Press. https: / / doi.org/ 10.1037 / 12923-000 Scripture, E. W., & Smith, F. (1896). Researches in reaction time. Studies from the Yale Psychology Laboratory, 4, 122-124. Triplett, N. (1898). The dynamogenic factors in pacemaking and competition. The American Journal of Psychology, 9, 507-533. https: / / doi.org/ 10.2307/ 1412188. Weinberg, R. S. & Gould, D. (2023). Foundations of Sport and Exercise Psychology. Human Kinetics. Windmann, A. (2018). „Die Sache mit dem Brechreiz, es ist das erste Mal, dass ich darüber spreche“. DER SPIEGEL, 11/ 2018. https: / / www.spiegel.de/ sport/ per-mertesacker-von-arsenal -london-ueber-die-haerten-des-fussballerlebens-a-00000000-0002-0001-0000-000156211278. Wolff, W., Sieber, V., Bieleke, M., & Englert, C. (2021). Task duration and task order do not matter: no effect on self-control performance. Psychological Research, 85, 397-407. https: / / doi.org/ 10 .1007/ s00426-019-01230-1 26 1 Einführung in die Sportpsychologie <?page no="27"?> Grundlegende Prozesse <?page no="29"?> 2 Emotionen Sylvain Laborde, Valeria Eckardt, Franziska Lautenbach, Philip Furley Emotionen spielen eine bedeutsame Rolle im Sport. Dieses Kapitel gibt eine aktuelle Übersicht über die psychologische und sportpsychologische Forschung zu Emotionen und Emotionsregulation. Zunächst wird näher auf die definitori‐ schen Abgrenzungen zwischen positiven und negativen Emotionen eingegangen. Ausgehend davon werden angenommene Funktionen von positiven Emotionen für Wahrnehmung, Verhalten und Ressourcen aufgezeigt. Anschließend wird der Zusammenhang von positiven Emotionen, sportlicher Leistung, Gesundheit und Wohlbefinden ausgehend von aktuellen Studien thematisiert. In diesem Zuge werden Vorteile sowie Limitationen von positiven Emotionen für Forschung und Praxis diskutiert. Es wird ausführlich dargestellt, wie die Sportpsychologie Erkenntnisse aus der Forschung zu positiven Emotionen praktisch anwenden kann. Schließlich wird das Themenfeld der interpersonalen Emotionsregulation definiert und beschrieben. Die Bedeutung von interpersonaler Emotionsregula‐ tion im Sportkontext, besonders im Rahmen von Teamsportarten, wird anhand von empirischen Befunden verdeutlicht und diskutiert. Zum Ende des Kapitels werden aktuelle Forschungslücken beschrieben sowie Implikationen für künftige Forschung und Handlungsempfehlungen für die Praxis gegeben. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Inhaltspunkte. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1296. Lernziele ■ Verstehen, inwiefern Emotionen im Sport eine wichtige Rolle spielen und welchen Einfluss sie auf das psychische Wohlbefinden, die sportliche Leistung und zwischenmenschliche Beziehungen haben können. ■ Grundlegende Konzepte und Theorien von Emotionen, positiven Emotionen und interpersoneller Emotionsregulation kennenlernen und verstehen, wie sie angewendet werden können, um emotionale Herausforderungen im Sport‐ kontext zu bewältigen. <?page no="30"?> ■ Intrapersonale und interpersonale Emotionsregulation differenzieren können sowie die Bedeutung von sozialen Interaktionen und Beziehungen für die Regulation von Emotionen im Sport erkennen. 2.1 Emotionen Emotionen spielen im täglichen Leben eine entscheidende Rolle, insbesondere im Kon‐ text des Sports. Athlet*innen werden mit einer Vielzahl von Emotionen konfrontiert, von intensiver Freude nach einem Sieg bis hin zur tiefen Enttäuschung nach einer Niederlage. Die Fähigkeit, diese Emotionen zu regulieren, ist daher entscheidend, um optimale Leistungen zu erbringen und das Wohlbefinden der Athlet*innen zu fördern (Furley & Laborde, 2020; Hanin, 2000). Dieses Kapitel basiert auf früheren Arbeiten (Furley & Laborde, 2020; Hanin, 2000; Laborde et al., 2017; Laborde et al., 2016; Kopp & Jekauc, 2018; Lazarus, 2000) und konzentriert sich auf zwei Hauptaspekte, die jüngst in der Forschung zu Emotionen im Sport gesonderte Aufmerksamkeit erfahren: positive Emotionen und die interpersonale Regulation von Emotionen. Emotionsregulation im Sport spielt eine wichtige Rolle für das emotionale Wohlbefinden, die sportliche Leistung und die Teamdynamik. Studien haben gezeigt, dass die Art und Weise, wie Athlet*innen Emotionen regulieren, Aus‐ wirkungen auf physiologische und kognitive Faktoren sowie auf das Verhalten haben können (Furley & Laborde, 2020). Die Fähigkeit, positive Emotionen zu verstärken und negative Emotionen zu reduzieren, kann die sportliche Leistungsfähigkeit verbessern und das allgemeine Wohlbefinden der Athlet*innen steigern. Darüber hinaus können interpersonale Aspekte der Emotionsregulation im Sport, wie die Beeinflussung der Emotionen von Mannschaftskolleg*innen oder die Wirkung der Emotionsregulation von Trainer*innen und Eltern, eine entscheidende Rolle spielen (Eckardt & Tamminen, 2023). Diese Einführung gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zu positiven Emotionen und interpersonaler Emotionsregulation im Sport. Dabei werden die grundlegenden Konzepte und Theorien der positiven Emotionen und Emotionsre‐ gulation erläutert. Es werden auch die Funktionen und Auswirkungen von positiven Emotionen und Emotionsregulation im sportlichen Kontext diskutiert. Darüber hinaus werden Forschungsfragen und zukünftige Perspektiven für die Erforschung von positi‐ ven Emotionen und interpersonaler Emotionsregulation im Sport aufgezeigt. 2.1.1 Positive Emotionen Athlet*innen berichten häufig von Freude im Sport (z.-B. Moen et al., 2018) und treiben Sport u. a. zur Erhöhung des Wohlbefindens (Adele & Brehm, 1990 in Elbe & Schüler, 2020). Somit scheint es überraschend, dass auch innerhalb der Sportpsychologie in den vergangenen Jahren ein primärer Fokus auf negativen Emotionen lag (z. B. Choking under 30 2 Emotionen <?page no="31"?> pressure). Diskrete Emotionsansätze beschreiben für jede positive Emotion drei bis vier negative Emotionen (Ellsworth & Smith, 1988 in Fredrickson, 1998). Doch warum ist das so? Nesse (1990, S. 280) argumentiert, dass es mehr bedrohliche Situationen als Mög‐ lichkeiten im Leben gibt und dementsprechend mehr negative als positive Emotionen erlebt werden. Auch im Sport scheint die bedrohliche Situation eines Wettkampfs öfter vorzukommen als die Freude auf ein Trainingslager. Weiterhin gehen Forscher*innen davon aus, dass es weniger dramatische Konsequenzen hat, auf eine vom Leben gegebene Möglichkeit „falsch“ zu reagieren als auf eine lebensbedrohliche Situation (siehe z. B. Pratto & John, 1991). Dass das wissenschaftliche Interesse an positiven Emotionen geringer ist als an negativen Emotionen, hat u. a. auch mit den möglichen Folgen der jeweiligen Emotionen zu tun. Der konstruktive Umgang mit Wutausbrüchen, Trauer, die in Depression übergehen kann, oder mit anderen negativen Folgen von negativen Emotionen, wie körperlichen und weiteren psychischen Krankheiten, erscheint häufig als relevanter als der Umgang mit möglichen (vermeintlich banaleren) Konsequenzen durch positive Emotionen (Fredrickson, 1998). Nichtsdestotrotz ist sich die Wissenschaft weitestgehend darüber einig, dass positive Emotionen relevante Funktionen haben - auch im Kontext von Sport und Bewegung - die im Folgenden genauer beleuchtet werden (siehe Jansen & Hoja, 2018; McCarthy, 2011). 2.1.1.1 Definition positiver Emotionen Der primäre Unterschied zwischen positiven Emotionen und negativen Emotionen be‐ zieht sich auf die affektive Valenz (siehe Russell, 2003), die das Individuum dem jeweiligen emotionalen Zustand zuschreibt. Fredrickson merkt in diesem Zusammenhang an: „Wie alle Emotionen sind positive Emotionen kurzlebige, multisystemische Reaktionen auf eine Veränderung in der Art und Weise, wie Menschen ihre gegenwärtigen Umstände interpretieren und bewerten. Wenn [das System] gute Aussichten registriert, entsteht eine positive Emotion.“ (ins Deutsche übersetzt aus Fredrickson, 2013, S.-13) Gute Aussichten meint damit u. a. prototypische Reize und Möglichkeiten, die Vorteile für die eigene Person darstellen, wie z. B. Essen, erstrebenswerte Partner*innen, die Erhöhung des eigenen sozialen Status oder die Generierung von neuen Informationen (Shiota et al., 2021, S.-143). Prinzipiell werden positive Emotionen, insbesondere Freude und Wohlbefinden, dahingehend unterschieden, dass Freude eine kurzfristige, intensive psychophysiolo‐ gische Reaktion auf ein bestimmtes Ergebnis darstellt und somit einer hedonistischen Perspektive zuzuordnen ist. Demgegenüber steht die eudamonische Perspektive, die auf Aristoteles zurückgeht und beschreibt, welche Faktoren ein gutes Leben ausma‐ chen, in dem ein Individuum seine Potenziale entfalten kann. Wohlbefinden beschreibt somit ein Konzept, das langfristiger, weniger intensiv, aber zeitlich als relativ stabil erlebt wird (Lundqvist et al., 2011; Ryff, 1989). 2.1 Emotionen 31 <?page no="32"?> Es existieren diverse wissenschaftliche Klassifikationen von positiven Emotio‐ nen. Zum Beispiel geht Fredrickson (1998) von vier positiven Hauptemotionen (Freude, Interesse, Liebe, Zufriedenheit) aus, die in sich weiter unterschieden werden (siehe Tabelle 2-1). Die Top 10 der positiven Emotionen nach Fredrickson sind in einer stärkeren Ausdifferenzierung und in der Auftretenshäufigkeit Freude, Dankbarkeit, Gelassenheit, Interesse, Hoffnung, Stolz, Vergnügen, Inspiration, Staunen und Liebe (2013). Innerhalb der PANACEAS Taxonomie beschreibt Shiota et al. (2014) acht verschiedene positive Emotionen: Stolz (pride), Vergnügen (amusement), nährende Liebe (nurturant love), Bindungsliebe (attachment love), Zufriedenheit (contentment), Begeisterung (enthusiasm), Staunen (awe) und sexuelles Verlangen (sexual desire). La‐ zarus (2000, S. 234), wie auch andere Autor*innen, beschreibt fünf positive Emotionen (Freude [joy und happiness im Original], Liebe, Stolz und Dankbarkeit), spricht aber von Grenzfällen wie Erleichterung oder Hoffnung. Er begründet seine Überlegung damit, dass im Fall von Erleichterung bspw. zunächst negative Elemente vorhanden sein müssen, die dann abgewendet werden müssen, damit eine Erleichterung stattfinden kann. Für den Sport würde das bedeuten, dass bei einer Auslosung die Angstgegnerin erst im Finale angetroffen wird. Abschließend ist Rosman (2017) zu nennen, die insge‐ samt 13 positive Emotionen formuliert (Begeisterung, Bewunderung, Dankbarkeit, Erleichterung, Ehrfurcht, Freude, Hoffnung, Interesse, Liebe, Mitgefühl, Stolz, Vergnü‐ gen, Zufriedenheit). Insgesamt scheint es schwer zu fallen, positive Emotionen zu definieren und sinnvoll voneinander abzugrenzen (siehe z. B. Barrett et al., 2009). Auch wissenschaftliche Studien konnten beispielsweise die Top 10 positiven Emotionen von Fredrickson nicht bestätigen (Roth & Laireiter, 2021). Diese Gründe können erklären, dass in der Forschung häufig nur positive Emotionen global betrachtet werden, nicht aber spezifische positive Emotionen untersucht werden (Sels et al., 2021). Lazarus (2000) Roseman (2017) Fredrickson (1998) - Begeisterung - - Bewunderung - Dankbarkeit Dankbarkeit - Erleichterung (G) Erleichterung - - Ehrfurcht - Freude Freude Freude (Glück, Vergnügen, Be‐ geisterung) Hoffnung (G) Hoffnung - - Interesse Interesse (Neugier, Aufgeregt‐ heit, Staunen, Faszination) Liebe Liebe Liebe (freundschaftliche und ro‐ mantische Liebe) 32 2 Emotionen <?page no="33"?> Mitgefühl (G) Mitgefühl Stolz Stolz - - Vergnügen - - Zufriedenheit Zufriedenheit (Gelassenheit, Ruhe) Tab. 2-1 | Übersicht ausgewählter positiver Emotionen. G = Grenzfälle 2.1.1.2 Theorien und Funktionen positiver Emotionen Positive Emotionen entstehen im Kontext von Sicherheit und Freiheit, d. h. im Vergleich zur Entstehung von negativen Emotionen, die u.-a. in lebensbedrohlichen (Fredrickson, 1998) - oder zumindest im Sport in sozial bedrohlichen (wie einer Niederlage) - Situationen entstehen. Dies ist wichtig voranzustellen, denn somit sind die meisten Emotionstheorien nicht für die Erklärung positiver Emotionen geeignet. Häufig geht es in diesen Theorien um Stress, Angst, Wut usw., die bestimmte und mehr oder weniger klar beschriebene Verhaltenstendenzen, sogenannte action tendencies, nach sich ziehen. Für positive Emotionen scheint es schwieriger zu sein, bestimmte einherge‐ hende Verhaltensweisen wie Annährungs- oder Vermeidungsverhalten zu beschreiben (Fredrickson, 1998; Lazarus, 2000). Früher wurde angenommen, dass positive Emotio‐ nen unspezifische Verhaltenstendenzen nach sich ziehen (Frijda, 1986). Mittlerweile werden positiven Emotionen relevante Verhaltenstendenzen im Sinne eines positiven Annäherungsverhaltens zugeschrieben, die dazu dienen, Ressourcen zu stärken (z. B. schnellere Regeneration nach Wettkampfstress siehe Undoing-Hypothese, Lautenbach & Zajonz, 2023; weitere Beispiele siehe Fredrickson, 1998, 2013 und Tabelle 2-2). Positive Emotionen spielen also eine wichtige Rolle für das menschliche Überleben und haben somit auch wichtige Funktionen, die mit Hilfe der Broaden-and-Build-Theorie (Fredrickson, 2013) beschrieben werden, die im Folgenden genauer dargestellt wird. Emotion Wahrnehmungs- und Verhaltenstendenz Gestärkte Ressourcen Freude spielen, involviert sein Lernen von Fertigkeiten durch Er‐ fahrung und Ausprobieren Dankbarkeit Entwicklung sich selbst prosozial zu ver‐ halten Lernen der Fertigkeiten sozial, loyal und fürsorglich sein Gelassen‐ heit genießen, das Gefühl der Gelassenheit in Zukünftiges zu integrieren Setzen neuer Prioritäten, veränderte Sichtweise auf das eigene Selbst Interesse explorieren, erkunden, lernen Wissen Hoffnung für eine bessere Zukunft zu planen Resilienz, Optimismus Stolz groß träumen Leistungsmotivation 2.1 Emotionen 33 <?page no="34"?> Vergnügen Fröhlichkeit und Heiterkeit teilen soziale Bindungen stärken Inspiration nach etwas Höheren streben Motivation für persönlichen Wachstum Staunen absorbieren (aufnehmen) und integrieren neue Weltansicht Liebe alles bereits Genannte mit gegenseitiger Fürsorge alles bereits Genannte mit besonde‐ rem Blick auf soziale Bindungen Tab. 2-2 | Positive Emotionen, ihre Wahrnehmungs- und Verhaltenstendenzen und die gestärkte Ressource (nach Fredrickson, 2013, S.-5). Broaden-and-Build-Theorie Positive Emotionen entstehen, wie oben beschrieben, unter einer Sicherheitsvoraus‐ setzung. Anders ausgedrückt, Menschen haben nichts zu befürchten und keine Ängste oder Sorgen. Als Beispiel führt Fredrickson hier das Spielen von Kindern an. Diese bewegen sich frei und ungezwungen und denken weder über mögliche Konsequenzen noch über negative Dinge nach, die möglicherweise ein Erwachsener bei dem Erklim‐ men eines Baumes haben könnte. Basierend auf der Broaden-and-Build-Theorie führen positive Emotionen zu einer kurzfristigen Erweiterung des Wahrnehmungs- und Verhaltensrepertoires und stärken langfristig persönliche Ressourcen. Kurzfristig führen positive Emotionen also dazu, dass Individuen neue Gedanken formen, neue Ideen generieren, sich neuen Aktivitäten widmen und neue Beziehungen aufbauen. Als Beispiel sollen wieder die spielenden Kinder herangezogen werden, die neugierig versuchen, jeden Ast zu erklimmen, gleichzeitig auf neue Ideen kommen, wie sie dies am geschicktesten anstellen können und dabei soziale Beziehung festigen. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass durch im Labor induzierte positive Emotionen, zum Beispiel durch Filmsequenzen, Menschen kreativer werden, schneller Probleme lösen und schnellere Entscheidungen treffen (Isen et al., 2021). Auch das Aufmerksamkeitsfenster von Athlet*innen konnte mit Hilfe von positiv induzierten Emotionen durch Musik erweitert werden (Hüttermann & Memmert, 2015). Auch wenn die Befundlage hinsichtlich der Wirkung von positiven Emotionen auf kognitive Prozesse teils heterogen ausfällt (Review & Metaanalyse von Lautenbach, 2023), weist eine Vielzahl an Studien darauf hin, dass positive Emotionen i. d. R. positive Konsequenzen nach sich ziehen können: Personen weisen i. d. R. ein höheres Maß an kognitiver Flexibilität auf und sind besser dazu in der Lage, insbesondere positive Informationen langfristig zu speichern (Madan et al., 2018). Die kurzfristige positive Wirkung von positiven Emotionen geht laut der Broadenand-Build-Theorie mit einem längerfristigen Aufbau persönlicher Ressourcen einher. Bezogen auf das obige Beispiel ist anzunehmen, dass sich spielende Kinder mehr be‐ wegen als inaktive Kinder, was u. a. die Entwicklung motorischer und gesundheitlicher Ressourcen unterstützt. Darüber hinaus haben sie die Bindung und Beziehung zu Freund*innen gestärkt und soziale Ressourcen für ihr Leben geschaffen. Basierend auf 34 2 Emotionen <?page no="35"?> der Broaden-and-Build-Theorie haben sie somit ihre Überlebenschancen erhöht und finden dadurch ggf. auch eine Erfüllung, im Sinne des oben definierten Wohlbefindens, im Leben. Empirische Befunde zeigen, dass Personen mit einer höheren Positivität, also einer stärkeren Ausprägung an positiven Emotionen, ein stärkeres Immunsystem aufweisen, weniger Schmerzen bei chronischen Erkrankungen berichten, weniger Erkältungsbeschwerden (Cohen & Pressman, 2006) und Kopfschmerzen (Fredrickson et al., 2008) aufweisen und darüber hinaus einen besseren Umgang mit Stress zeigen (z. B. Tugarde & Fredrickson, 2004) sowie eine höhere Lebenserwartung besitzen (Veenhoven, 2008). 2.1.1.3 Positive Emotionen im Sport Im Kontext Sport zeigen sich positive Emotionen nicht ausschließlich bei sportlichem Erfolg (z. B. bei einem Sieg), sondern sie spielen auch beim Sporttreiben eine wichtige Rolle. Unabdingbar für das Erleben von positiven Emotionen im Sport sind u. a. sportliche Erfolge (Moen et al., 2008). Theoretisch geht zum Beispiel Lazarus (2000) davon aus, dass durch Erfolg erlebte positive Emotionen einen signifikanten Prädiktor für eine aufrechterhaltende Motivation sind. Ohne positive Emotionen, wie bspw. Freude durch einen Sieg oder eine erfolgreiche Trainingseinheit, würden Athlet*innen weniger persistent an sich arbeiten und ggf. das Interesse am (Leistungs-)Sport verlieren. So konnte bspw. ein positiver Zusammenhang zwischen dem Erleben von positiven Emotionen und sportlicher Leistung in Tagebuchstudien gefunden werden (Moen et al., 2018). Weiterhin geben Athlet*innen an, dass sie positive Emotionen insbesondere in Teams empfinden und diese auch hier in einem Zusammenhang mit einer erhöhten sozialen Bindung stehen (McCarthy, 2011). Neben der Wettkampfvorbereitung berichten Athlet*innen auch kurz vor und während Wettkämpfen von positiven Emotionen (Lautenbach et al., 2022). Die im Zuge eines Wettkampfs erlebten positiven Emotionen stehen in einem positiven Zusammen‐ hang mit einem aufgabenorientierten Coping, der Wahrnehmung des Wettkampfs als Herausforderung und sportlicher Leistung (Doron & Martinent, 2016). Weiterhin zeigen Studien, dass eine höhere Freude mit erhöhter Konzentration bei Sportler*innen zusammenhängt (McCarthy et al., 2013). So wird u. a. berichtet, dass Sportler*innen risikobereiter sind und eher eine Annäherungstendenz verspüren (Lautenbach et al., in Vorbereitung). So berichtet bspw. ein Sportler beim Erleben positiver Emotionen, dass er „selbstverständlicher in ein Dribbling geht“. Ein anderer Sportler beschreibt: „Ich fahre da heute hin und zeige es allen“. Dies drückt sich auch in Form von verbesserter motorischer Leistungsfähigkeit aus. Handballer warfen den Ball deutlich schneller, nachdem sie an eine positive Episode aus ihrem Leben gedacht haben (Rathschlag & Memmert, 2013). Auch die kognitive Leistungsfähigkeit konnte bei Athlet*innen durch positive Emotionen gesteigert werden. Zum einen konnte eine Studie zeigen, dass die Reaktionszeiten nach einer Hoffnungsintervention schneller 2.1 Emotionen 35 <?page no="36"?> waren als nach der Neutral- oder Ärgerbedingung. Zum anderen wurde die kognitive Flexibilität erhöht, nachdem Versuchspersonen durch falsches Feedback basierend auf einer sportlichen Aufgabe mehr Freude erlebt haben (Lautenbach et al., 2022). Somit können positiven Emotionen mögliche Vorteile für sportliches Leistungserbringen zugeschrieben werden. Doch McCarthy (2011) warnt in diesem Zusammenhang, dass in bestimmten Sport‐ arten mit hohem Risiko, wie zum Beispiel im Motorradrennsport, eine übermäßige Freude und somit ein risikoreicheres Verhalten, möglicherweise nicht nur leistungs‐ mindernd, sondern (lebens-)gefährlich sein kann. Ähnliches haben Athlet*innen be‐ richtet und sprechen beim Erleben positiver Emotionen von „Chaos im Kopf “ und sogar von Erinnerungslücken. Es existieren darüer hinaus Laborstudien, die konträr zu den oben genannten positiven Effekten positiver Emotionen auf kognitive Prozesse zeigen, dass positive Emotionen zu erhöhten Reaktionszeiten in diversen Aufgaben führen können (Lautenbach, 2024). Zusammenfassend kann von Vorteilen positiver Emotionen für die Leistungsbereit‐ schaft und die sportliche Leistung ausgegangen werden. Um es in den Worten McCar‐ thys zu sagen, könnten positive Emotionen „Katalysatoren hervorragender Qualität und Exzellenz im Sport sein“ (McCarthy, 2011, S. 63). Die teils heterogene Befundlage legt allerdings den Schluss nahe, dass weitere Forschung über die Funktionsweisen von positiven Emotionen notwendig ist, um die Wechselwirkung bzw. das Zusammenspiel mit negativen Emotionen und sportspezifischen Modellen für positive Emotionen zu untersuchen. 2.2 Emotionsregulation 2.2.1 Gemeinsam sind wir stark? Wir verkneifen uns das Lachen in unangemessenen Situationen, unterdrücken unsere Wut oder verbergen unsere Traurigkeit - Emotionsregulation ist in zahlreichen Kon‐ texten relevant (Campos et al., 2011; Koole, 2009; Webb et al., 2012). Dabei beschreibt Emotionsregulation weit mehr als das Beeinflussen positiver oder negativer affektiver Zustände. Sie befähigt uns, Anforderungen einer bestimmten Situation gerecht zu werden und damit im Alltag handlungsfähig zu bleiben. Nicht selten erfüllt dies auch eine soziale Funktion, z. B. wenn wir unsere Wut über eigene Fehler im Spiel unterdrücken, damit die gesamte Mannschaft ausgelassen den Sieg feiern kann. Traditionell wird sich dem Forschungsfeld Emotionsregulation in der Psychologie und Sportpsychologie mittels eines intrapersonalen Ansatzes genähert, d. h. es ist von Interesse, wie ein einzelnes Individuum entsprechende Emotionen reguliert. Evolutionär betrachtet, ist der Mensch ein soziales Wesen (Baumeister & Leary, 1995; Young, 2008) und wir sind über die Lebensspanne hinweg in unterschiedlichste soziale Netzwerke wie unsere Familie, Freund*innen, Arbeitskolleg*innen oder Partnerschaf‐ ten integriert. Wir erleben und handeln folglich nicht in einem Vakuum, sondern in 36 2 Emotionen <?page no="37"?> Abhängigkeit von Beziehungen und Interaktionen zu anderen Personen (Burkitt, 2014; Tamminen & Neely, 2021). Um dieser systemischen Perspektive gerecht werden zu können, hat sich jüngst ein interpersonaler Ansatz zur Emotionsregulation etabliert. Dabei steht im Vordergrund, wie zwei oder mehrere Personen sich im Erleben und Regulieren von Emotionen gegenseitig beeinflussen oder wie Emotionsregulation mithilfe von gemeinsamen, kooperativen Strategien erfolgen kann. 2.2.1.1 Definitionen zu Emotionsregulation Emotionsregulation umfasst Prozesse, mit Hilfe derer Personen beeinflussen können, welche Emotionen erlebt werden, wann diese auftreten und wie diese erlebt und zum Ausdruck gebracht werden (Gross, 1998, 2002). Die Definition der interpersonalen Emotionsregulation zeichnet aus, dass diese bewusste Vorhaben einschließt, die Emotionen einer anderen Person zu beeinflussen (Friesen et al., 2013; Niven et al., 2011; Tamminen et al., 2016). Beide Formen - intrapersonal wie interpersonal - vereint, dass sie (1) die Regulation von positiven, wie negativen Emotionen umfassen; dass sie (2) nicht nur eine Verringerung der affektiven Intensität, sondern auch eine Aufrechterhaltung und Intensivierung der jeweiligen Emotion zum Ziel haben; und dass sie (3) deliberativ (d. h. bewusst, zielorientiert) oder automatisch ablaufen können. In der Literatur werden die Begriffe Emotionsregulation und Coping häufig syn‐ onym verwendet, was Herausforderungen in der Synthese von Studienergebnissen und folglich der Weiterentwicklung des Forschungsfeldes nach sich zieht. Theoretisch betrachtet, bestehen durchaus Überlappungen der beiden Konstrukte (Compas et al., 2014; Wang & Saudino, 2011). Beispielsweise beschreiben beide grundsätzliche regula‐ torische Prozesse über die Lebensspanne hinweg. Emotionsregulation kann außerdem als Teil des übergeordneten Coping-Prozesses angesehen werden, da Coping affektive, kognitive und behaviorale Strategien einschließt (siehe emotionsfokussiertes und prob‐ lemfokussiertes Coping; Lazarus & Folkman, 1984). Um eine einheitliche Terminologie und eine theoretische Trennschärfe zu bewahren, ist es jedoch essenziell, Emotions‐ regulation und Coping voneinander abzugrenzen. So bildet Coping ausschließlich stressbezogene Prozesse und Strategien ab, während Emotionsregulation auf negative, wie positive Umstände folgen kann, und damit eine größere Bandbreite an Situationen und Reizen miteinschließt (Compas et al., 2001, 2014; Folkman & Moskowitz, 2004). Weiterhin ist Coping als bewusster Prozess definiert, wohingegen Emotionsregulation auch automatisch erfolgen kann (Campos et al., 2011; Gross, 2013). Für eine Übersicht zu Definitionen, Theorien und Anwendungen von interpersonalem Coping im Sport empfiehlt sich die aktuelle Übersichtsarbeit von Eckardt und Tamminen (2023). 2.2.1.2 Theorien und Funktionen zu Emotionsregulation Eine der am häufigsten zitierten Theorien zur Emotionsregulation ist das Prozess‐ modell von James Gross (1998). Dieses postuliert, dass Emotionsregulation an 2.2 Emotionsregulation 37 <?page no="38"?> unterschiedlichen Punkten über den Prozess hinweg ansetzen kann. Die Strategien orientieren sich dabei an den Zeitpunkten, wann eine Person sie einsetzt: 1. Selektion der Situation 2. Modifikation der Situation 3. Aufmerksamkeitsorientierung 4. Modifikation von Kognitionen 5. Verhaltensmodulation Beispielsweise könnten Athlet*innen in der Phase der Situationsselektion anstreben oder vermeiden, dass ihre Eltern sie zu Wettkämpfen begleiten, um dem potenziellen Auftreten von Nervosität entgegenzuwirken. Für den Fall, dass die Eltern jedoch bei jedem Wettkampf anwesend sein möchten, hätten Athlet*innen die Möglichkeit, über eine Modifikation der Situation die emotionalen Auswirkungen der elterlichen Präsenz zu beeinflussen. So könnten sie beispielsweise die Eltern bitten, erst nach dem Wettkampf das Gespräch zu suchen und in den Pausen fernzubleiben. Dies beeinflusst wiederum, auf welche Aspekte der Situation die Athlet*innen ihre Aufmerksamkeit fokussieren (z. B. Musikhören in den Pausen zur mentalen Vorbereitung vs. Feed‐ backgespräch mit den Eltern) und könnte ebenfalls Konsequenzen für die sportliche Leistung im Wettkampf haben. Beim Erleben der Situation könnten Athlet*innen auch an der kognitiven Bewertung der Situation arbeiten und für sich reflektieren, wie viel Bedeutung sie der Anwesenheit ihrer Eltern beim Wettkampf beimessen und inwiefern sie ausreichend in der Lage wären, Gespräche mit ihren Eltern in den Wettkampfpausen zu meistern. Eine abschließende Verhaltensmodulation kann in Abhängigkeit der vor‐ herigen Strategien auf physiologischer, emotionaler oder behavioraler Ebene erfolgen. Beispielsweise könnten Athlet*innen ihre Trainer*innen zu den Pausengesprächen mit den Eltern als soziale Unterstützung hinzubitten oder nach dem Elterngespräch eine Atemtechnik anwenden, um sich erneut auf den Wettkampf einzulassen. Laut dem Modell ergeben sich unterschiedliche kurz- und langfristige Konsequen‐ zen für die Athlet*innen im Eltern-Beispiel, je nachdem zu welchem Zeitpunkt sie die Strategien im Emotionsregulations-Prozess anwenden. In einer überarbeiteten und erweiterten Version des Prozessmodells (2015) beschreibt Gross außerdem drei übergeordnete Phasen der Emotionsregulation, die (1) eine Identifikation (d. h. wann sollte eine Emotion reguliert werden und wann nicht); (2) eine Selektion (d. h. welche Strategie sollte angewendet werden) und (3) eine Implementierung (d. h. welche Strategie passend zur Situation umgesetzt wird) umfassen. Empirisch erfasst werden kann das Modell mit Hilfe des Emotion Regulation Questionnaire (ERQ; Gross & John, 2003; deutsche Übersetzung siehe Abler & Kessler, 2009). Der Fragebogen erfasst über zehn Items zwei Emotionsregulationsstrategien als Subskalen „Unterdrückung“ (suppression) und „Neubewertung“ (reappraisal). Der Einsatz im Kontext Sport scheint jedoch nur bedingt hilfreich (Uphill et al., 2012). 38 2 Emotionen <?page no="39"?> Obwohl das Prozessmodell der Emotionsregulation (Gross, 1998, 2015) einen primär intrapersonalen Fokus hat, wird es in der Forschung auch verwendet, um interperso‐ nalen Fragestellungen nachzugehen. In der (Sport-)Psychologie hat sich neben dem Modell von Gross (1998, 2015) die Kategorisierung von Niven und Kollegen (2011) etabliert. Diese unterscheidet die Aus‐ richtung der Emotionsregulation in intrinsisch (d. h. intrapersonal, selbstbetreffend) und extrinsisch (d. h. interpersonal, eine andere Person betreffend) sowie die Intention der Emotionsregulation in verbessernd und verschlechternd. Es ergeben sich folglich vier Arten der Emotionsregulation (siehe auch Abbildung 2-1): 1. intrinsisch affekt-verbessernd 2. intrinsisch affekt-verschlechternd 3. extrinsisch affekt-verbessernd 4. extrinsisch affekt-verschlechternd Abb. 2-1 | Vier Arten der Emotionsregulation (in Anlehnung an Niven et al., 2011, S.-54) 2.2 Emotionsregulation 39 <?page no="40"?> Ziel der Kategorisierung von Niven und Kollegen (2011) war es, interindividuelle Unterschiede in der Verwendung von Emotionsregulationsstrategien aufzuzeigen. Ebenso können mit Hilfe der Kategorisierung Verbindungen zwischen den jeweiligen Ausprägungen der Ausrichtung und Intention der Emotionsregulation untersucht werden. Daraus ergibt sich beispielsweise die Fragestellung, ob Athlet*innen, die sich vor einem Freiwurf selbst motivieren, auch eher dazu neigen, ihre Teamkolleg*innen vor einem Freiwurf zu motivieren. Überprüft werden können diese und ähnliche For‐ schungsfragen durch Verwendung der Emotion Regulation of Others and Self (EROS) scale (19 Items; Niven et al., 2011) oder dem Interpersonal Regulation Questionnaire (IRQ; 16 Items; Williams et al., 2018; siehe Britton & Polman, 2022 für den Einsatz im Sport). 2.2.1.3 Emotionsregulation im Sport Erfolgsserien, Niederlagen, Verletzungen oder das Ende einer Karriere sind nur einige Beispiele für Situationen, in denen Athlet*innen Strategien zur Emotionsregulation anwenden. Studien zeigen, dass sowohl das Aufkommen von Emotionen vor und während einem Wettkampf als auch die Art und Weise wie Emotionen reguliert werden, einen Einfluss auf physiologische und perzeptuell-kognitive Faktoren sowie auf das Verhalten haben können (Wetzel et al., 2022). Um Emotionsregulationsst‐ rategien zur Leistungsoptimierung gewinnbringend einsetzen zu können, sollten Athlet*innen zuerst mit ihren Gedanken, Gefühlen oder körperlichen Reaktionen auf bestimmte Emotionen vertraut werden ( Jones, 2012). Die Überzeugung, dass Emotionsregulation die Wettkampfleistung unterstützen oder sogar verbessern kann, motiviert Athlet*innen, entsprechende Strategien anzuwenden. Interessanterweise gilt dies gleichermaßen für positive wie negative Emotionen. So berichten Lane und Kol‐ leg*innen (2011), dass 85 % der von ihnen befragten Läufer*innen Strategien anwenden, um ihre Nervosität oder ihren Ärger vor Wettkämpfen abzuschwächen, während die übrigen 15 % diese Emotionen gezielt verstärken und als hilfreich erleben. Die Anwendung bestimmter Emotionsregulationsstrategien wie Unterdrückung (suppres‐ sion) und Neubewertung (reapprasial) kann unterschiedliche Auswirkungen haben. Im Allgemeinen wird eine Unterdrückung meist negativer Emotionen in Verbindung mit einem reduzierten psychischen Wohlbefinden, emotionaler Instabilität sowie einem beeinträchtigten Sozialverhalten gebracht (z. B. Gross & John, 2003). Im Sport scheint eine Unterdrückung von Emotionen kognitive wie physische Kapazitäten von Ath‐ let*innen zu beanspruchen, was negative Konsequenzen für die Leistungsfähigkeit mit sich bringen kann (z. B. Englert & Bertrams, 2012; Wagstaff, 2014). Eine Neubewertung der Situation beeinflusst das emotionale Erleben hingegen zumeist positiv (Uphill et al., 2012). Sportpsychologische Forschung zur Emotionsregulation betrachtet nicht nur Ath‐ let*innen, sondern auch weitere Akteur*innen und deren Interaktionen im komplexen sozialen Netzwerk des Sports wie Trainer*innen, Schiedsrichter*innen oder Mann‐ 40 2 Emotionen <?page no="41"?> schaftskolleg*innen. Beispielsweise scheinen die Emotionsregulationsfähigkeiten von Trainer*innen eng mit ihrer Effektivität als Führungsperson verbunden zu sein (Hill & Davis, 2014). Dies erfährt besondere Relevanz, da Trainer*innen einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen ihrer Athlet*innen leisten (Davis, 2011) und deren Emotionsregulation die Beziehung zu Athlet*innen positiv beeinflussen kann (Braun & Tamminen, 2019). Die gezielte Anwendung von Emotionsregulationsstrategien bei Trainer*innen wird zumeist im Zusammenhang mit ihrem Stresserleben im Kontext (Leistungs-)Sport untersucht und ist in der Übersichtsarbeit von Norris und Kolleg*innen (2017) umfassend dokumentiert. Für Schiedsrichter*innen sind Emotionen bedeutsam für die Zuverlässigkeit ihrer Spielentscheidungen (Balmer et al., 2007). So berichten Schiedsrichter*innen während eines Wettkampfs von Fluktuationen in ihrem emotionalen Erleben, welche auf zuneh‐ mend verringerte Kapazitäten zur Emotionsregulation im Laufe ihres Einsatzes hindeu‐ ten können (Friesen et al., 2017). Eine Untersuchung mit Lacrosse-Schiedsrichter*innen zeigt zudem, dass diese nicht nur Strategien anwenden, um ihre eigenen Emotionen zu regulieren (z. B. Unterdrückung, Neubewertung, Aufmerksamkeitsorientierung), sondern auch bemüht sind, negative Emotionen von Athlet*innen abzuschwächen, um potenziellen Konflikten vorzubeugen (Friesen et al., 2017). Jüngere Studien nutzen den Kontext von Mannschaftssportarten, um interperso‐ nale Emotionsregulation und deren Effekte zu erfassen. Eine Untersuchung im Rugby deutet darauf hin, dass Athlet*innen die Emotionen ihrer Mannschaftskolleg*innen aus unterschiedlichen Gründen regulieren: um anderen zu helfen (altruistisch), zu ihrem eigenen Vorteil (egoistisch) oder beides (Campo et al., 2016). Wenn Athlet*innen interpersonale Strategien anwenden, um die Emotionen ihrer Mannschaftskolleg*in‐ nen gezielt zu verbessern, hat dies positive Auswirkungen auf die wahrgenommene Freude am Sport sowie ihren Einsatz im Team (Tamminen et al., 2016). Interviews mit Volleyballspielerinnen und Curlerinnen deuten zudem darauf hin, dass die Anwen‐ dung interpersonaler Emotionsregulationsstrategien von sozialen Normen und Rollen innerhalb einer Mannschaft, individuellen Persönlichkeiten, der wahrgenommenen Ähnlichkeit sowie der Beziehungsqualität und Kohäsion innerhalb einer Mannschaft abhängt (Palmateer & Tamminen, 2018; Tamminen & Crocker, 2013). Zusammenfassend haben interpersonale Aspekte in der Erforschung von Emotions‐ regulation in den vergangenen Jahren zunehmend an Relevanz gewonnen. Künftige Studien sollten weitergehend untersuchen, inwiefern kollektive (d. h. gemeinsam erlebte) Emotionen in Mannschaften reguliert werden, ob bzw. wie Interventionen die Entwicklung und den Einsatz (interpersonaler) Emotionsregulationsstrategien unter‐ stützen und bislang unterrepräsentierte Populationen wie Athletinnen oder Kinder, Jugendliche und deren Eltern einbeziehen (Tamminen et al., 2022). 2.2 Emotionsregulation 41 <?page no="42"?> 2.3 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Forschungsvorhaben im Bereich Emotionen im Sport unterschiedliche Transformationen erfahren haben: von negativen zu positi‐ ven Emotionen sowie von intrapersonalen zu interpersonalen Ansätzen. Beide Aspekte unterstreichen, wie essenziell Emotionen und Emotionsregulation für emotionales Wohlbefinden, sportliche Leistung und zwischenmenschliche Bezie‐ hungen im Sportkontext sind. Positive Emotionen können die Motivation und das Engagement steigern, während interpersonale Emotionsregulation Athlet*innen und Trainer*innen dabei helfen kann, ihre Emotionen gemeinsam mit anderen zu regulieren und somit ein positives soziales Umfeld zu schaffen. Die bisherigen Erkenntnisse legen nahe, dass die gezielte Anwendung von Emoti‐ onsregulationsstrategien Athlet*innen unterstützen kann, angemessen auf emotionale Herausforderungen zu reagieren und ihre Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Dar‐ über hinaus deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Förderung positiver Emotionen und die interpersonale Regulation von Emotionen sowohl individuell als auch im Teamkontext von großer Bedeutung sind. Zukünftige Forschung sollte sich darauf konzentrieren, weitere Einblicke in die spezifischen Mechanismen und Wirkungen von positiven Emotionen und interper‐ sonaler Emotionsregulation im Sport zu gewinnen. Es ist wichtig, die spezifischen Bedingungen und Kontexte zu berücksichtigen, unter denen diese Aspekte eine Anwendung finden. Darüber hinaus sollten Interventionen und Trainingsprogramme entwickelt werden, um Athlet*innen dabei zu unterstützen, positive Emotionen für sich zu nutzen, ihre Emotionsregulationsfähigkeiten zu verbessern und ein gesundes emotionales Wohlbefinden bei gleichzeitiger Leistungsfähigkeit im sportlichen Umfeld zu erreichen. Somit bietet die Erforschung positiver Emotionen und interpersonaler Emotionsregulation im Sport ein breites Spektrum an Möglichkeiten zur Weiterent‐ wicklung der Sportpsychologie in Forschung und Anwendung. Literatur Abler, B., & Kessler, H. (2009). Emotion Regulation Questionnaire - Eine deutschsprachige Fassung des ERQ von Gross und John. Diagnostica, 55(3), 144-152. Balmer, N. J., Nevill, A. M., Lane, A. M., Ward, P., Williams, M.-A., & Fairclough, S. A. (2007). Influence of crowd noise on soccer refereeing consistency. 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Marion-Jetten, Julia Schüler Implizite Motive sind nicht bewusstseinspflichtige und affektive Präferenzen einer Person für bestimmte Klassen von Anreizen. Sie erfüllen dabei drei Funktio‐ nen: Sie führen erstens dazu, dass bestimmte Hinweisreize in der Umwelt stärker wahrgenommen werden, dass zweitens Energie für Verhalten bereitgestellt wird und dass drittens das Verhalten auf Anreize ausgerichtet wird, die thematisch relevant für das Motiv sind. In diesem Kapitel zu impliziten Motiven werden zentrale empirische Befunde in allen drei Funktionsbereichen im Kontext Sport und körperliche Aktivität vorgestellt und diskutiert. Hinsichtlich der Wahrnehmung gibt es empirische Belege dafür, dass implizit machtmotivierte Personen ihre Aufmerksamkeit stärker auf Hinweisreize richten, die die eigene soziale Wirksamkeit betreffen. Im Bereich der Verhaltensenerge‐ tisierung finden sich insbesondere für höherklassige Sportler*innen stärkere Ausprägungen des impliziten Leistungsmotivs, die auch mit höheren Trainings‐ umfängen einhergehen. Das implizite Machtmotiv zeigt Verbindungen zu neu‐ robiologischen Markern, die autonome Aktivierung signalisieren, aber auch langfristige Gesundheitsgefährdungen darstellen. Implizite Motive stehen zudem stärker mit spontan auftretendem und längerfristigem Verhalten (operantes Verhalten) in Verbindung als mit überlegtem, abwägendem Verhalten in spezifi‐ schen Situationen. Hinsichtlich der richtungsgebenden Funktion von impliziten Motiven zeigt sich, dass passende Motivanreize insbesondere zum Leistungs-, Anschluss- und Autonomiemotiv positive Wirkungen auf die tatsächliche sport‐ liche Leistung, auf das Wohlbefinden und schließlich auf die Motivation für die Initiierung und Aufrechterhaltung von körperlicher Aktivität haben können. Kritisch wird diskutiert, dass viele Befunde zu impliziten Motiven im Sport aus Studien mit sehr kleinen Stichproben, mit korrelativen Designs und mit nicht präregistrierten Hypothesen stammen. Effektstärken befinden sich häufig im kleinen bis mittleren Bereich. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1297. <?page no="48"?> Lernziele ■ Implizite Motive definieren und charakterisieren können. ■ Die Funktionen von Motiven verstehen und anhand von Beispielen aus dem Sport- und Bewegungskontext erläutern können. ■ Beispiele für Verhalten und Erleben im Sport- und Bewegungskontext anfüh‐ ren können, die durch implizite Motive beeinflusst werden. ■ Forschungsmethodische Ansätze (experimentelle und korrelative Designs) in der Motivforschung am Beispiel beschreiben können. ■ Den Forschungsstand zu impliziten Motiven im Sport einschätzen können und offene oder weiterführende Forschungsfragen generieren können. Im Bereich des Leistungs- und Gesundheitssports interessieren verschiedene Erlebens- und Verhaltensprozesse, die durch implizite Motive beeinflusst werden können (Weg‐ ner & Brinkmann, 2023). Dazu kann beispielsweise gehören, wie stark Leistungsziele und Wettkämpfe als anregend oder energetisierend erlebt werden und wie lange eine Person bereit ist, die Verfolgung solcher Ziele als herausfordernd und befriedigend zu erleben. Motive können auch beeinflussen, ob bei einer sportlichen Aktivität - sei es leistungssportlich oder gesundheitssportlich orientiert - Freude empfunden wird und ob diese Tätigkeit langfristig ausgeübt wird. Die Anreize für die Motive können in der sportlichen Tätigkeit selbst liegen. Beispiele für das breite Anreizspektrum, das Sport zu bieten hat, sind Sportarten, die gute Möglichkeiten bieten, den eigenen Leistungsfortschritt sehr gut messen zu können (z. B. in Form einer Laufzeit) (Leis‐ tungsmotiv), während andere Sportarten durch die direkte Konfrontation mit einem sportlichen Gegenspieler oder einer Gegenspielerin (z. B. im Tennis) Gelegenheiten beinhalten, sich überlegen und stark im Vergleich mit anderen zu erleben (Machtmotiv). Sportarten, die gemeinsam mit anderen ausgeübt werden, ermöglichen Gefühle der Gruppenzugehörigkeit (Anschlussmotiv). Neben den Anreizen, die direkt mit der Art der sportlichen Aktivität verwoben sind, können Anreize auch durch Personen geschaffen werden, die sportliche Trainingsprozesse anleiten, wie beispielsweise durch Anweisungen von Sportlehrpersonen oder Coaches. Definition | Implizite Motive sind nicht bewusstseinspflichtige und affektive Präfe‐ renzen einer Person für bestimmte Klassen von Anreizen, die potenziell die eigenen Motive befriedigen können (McClelland, 1987). Diese affektiven Präferenzen sind nicht sprachlich repräsentiert. Implizite Motive sorgen auch dafür, dass Personen ihre Aufmerksamkeit auf Hinweisreize in der Umwelt orientieren und eine starke Energetisierung für Verhalten aufbringen, das potenziell ihre impliziten Motive befriedigt. 48 3 Implizite Motive, Sport und körperliche Aktivität <?page no="49"?> In dieser klassischen Definition von impliziten Motiven sind drei wichtige Funktionen benannt, die implizite Motive bei der menschlichen Verhaltensbahnung erfüllen: Sie führen dazu, dass (1) motivrelevante Hinweisreize in der Umwelt stärker wahrgenom‐ men werden (z. B. wird die Gelegenheit wahrgenommen, dass ein gemeinsames Training mit einer Person auf demselben Leistungsniveau die beste Gelegenheit bietet, die eigene Leistung zu steigern), dass (2) Energie für Verhalten aufgebracht wird, das potenziell die impliziten Motive befriedigen kann (z. B. tatsächliches gemeinsames Training) und dass (3) das Verhalten in Richtung der motivrelevanten Anreize ausge‐ richtet wird (z. B. wird mit Personen mit ähnlichem Leistungsniveau trainiert und nicht mit denen, die deutlich stärker oder schwächer sind). „Nicht bewusstseinspflichtig“ meint, dass diese Funktionen nicht bewusst reflektiert oder gelenkt werden müssen, sondern die hiermit verbundenen Prozesse automatisch ablaufen. Menschen können diese Prozesse bewusst zugänglich machen, in dem sie versuchen, sich ihr eigenes Verhalten und Empfinden in bestimmten Situationen bildlich vorzustellen (Schultheiss & Brunstein, 1999) (das Bewusstmachen ist aber nicht „verpflichtend“, dass heißt, es geht auch ohne). Die hier berichteten empirischen Befunde im Sport werden nach diesen drei Funk‐ tionen impliziter Motive geordnet dargestellt. Dabei sollen vor allem die Studien im Bereich Sport und körperliche Aktivität vorgestellt werden, die eine besondere Relevanz zum Sportkontext zeigen und klar das Konstrukt der impliziten Motive, auch auf Messebene, adressieren (Schüler, Brandstätter, Wegner, & Baumann, 2015). Ergebnisse zum Einfluss impliziter Motive im Sport zeigen sich für alle drei großen Motivthemen Leistung, Macht und Anschluss (Wegner, 2020). Die drei Motivthemen sind im Folgenden charakterisiert. Wissen | Das Leistungs-, Macht- und Anschlussmotiv Das implizite Leistungsmotiv bezieht sich auf das Bedürfnis, herausfordernde Aufgaben bewältigen und sich an Leistungsstandards messen zu wollen. Die zentralen Affekte sind Gefühle des Meisterns (mastery experience) und Stolz (McClelland, Atkinson, Clark, & Lowell, 1953). Das Machtmotiv beschreibt das Bedürfnis, Einfluss auf und Kontrolle über andere auszuüben. Es wird in personalisierte Machtausübung (z. B. Prestige, beeindruckende Ämter und Reichtum anstreben) und sozialisierte Machtausübung (z. B. andere lenken, leiten, führen) unterschieden. Der zentrale Affekt ist der der erlebten persönlichen Stärke und Überlegenheit (Winter, 1973). Das Anschlussmotiv bezeichnet das Bedürfnis nach gemeinsamen Aktivitäten, positiven sozialen Beziehungen und Freundschaft. Die zentralen Affekte sind Ge‐ fühle der Zugehörigkeit, Glück und Entspannung im Beisammensein mit anderen (Atkinson, Heyns, & Veroff, 1954). 3 Implizite Motive, Sport und körperliche Aktivität 49 <?page no="50"?> Korrelative Studien zeigen, dass Leistungs- und Machtmotive bei Leistungssporttreib‐ enden höher ausgeprägt sind als bei Nichtleistungssporttreibenden (Gröpel, Schoene, & Wegner, 2015) und dass diese mit dem Trainingsverhalten assoziiert sind (Gröpel, Wegner, & Schüler, 2016; Wegner, Wieland, & Mempel, 2017). Für das Anschlussmotiv finden sich hingegen bislang geringere Korrelationen (ebd.) und die Annahme, dass es eher in negativem Zusammenhang mit langfristiger Leistung im Sport steht (Schütz & Schultheiss, 2020). Da Menschen sich ihrer impliziten Motive nicht zwingend bewusst sein müssen, können sie nicht über den Selbstbericht, z. B. mit einem Fragebogen, gemessen werden. Es sind indirekte Messinstrumente nötig (Schüler et al., 2015). Zwei häufig eingesetzte implizite Motivmessinstrumente sind die Picture Story Exercise (PSE, Schultheiss & Pang, 2007) und der Operante Motivtest (OMT, Kuhl & Scheffer, 1999), die im Folgenden erläutert sind und in den folgenden Studienbeschreibungen immer wieder genannt werden. Wissen | Implizite Motivmessung Bei der Bildgeschichtenübung (engl. Picture Story Exercise (PSE), Schultheiss & Pang, 2007) werden die Untersuchungsteilnehmenden aufgefordert, Geschich‐ ten zu mehrdeutigen Bildern zu schreiben. Sie berichten also nicht über ihre eigenen Wahrnehmungen, Emotionen und ihr eigenes Verhalten, sondern erfin‐ den Geschichten, in denen sich diese Aspekte wiederfinden. Diese werden mit Hilfe strenger theoriebasierter Kategoriensysteme und Auswertungsregeln, von geschulten Personen ausgewertet. Beim Operanten Motivtest (OMT, Kuhl & Scheffer, 1999) werden den Proband*in‐ nen Skizzen von Situationen und entsprechende Fragen dazu vorgelegt. Das Antwortformat sind kurze Beschreibungen oder Stichpunkte als Antworten auf die Fragen. Auch für den OMT gibt es ein strenges Auswertungssystem, das geschulten Kodierer*innen erlaubt, die Textinhalte auszuwerten. 3.1 Wahrnehmung motivrelevanter Hinweisreize In diesem ersten Abschnitt werden empirische Studienergebnisse vorgestellt, die zeigen, wie die impliziten Motive von Menschen dazu führen, dass insbesondere die Hinweisreize in der Umwelt selektiv wahrgenommen werden, die eine Befriedigung der eigenen impliziten Motive versprechen. In einer Studie von Schütz und Schultheiss (2020) wurde der Zusammenhang von impliziten Motiven (gemessen mit der Picture Story Exercise, Schultheiss & Pang, 2007) mit der Lateralität in der Wahrnehmung und motorischen Leistung von Leistungs-Turner*innen (N = 67) untersucht. Ihre Forschungsfrage gründet auf der Zusammenführung von Forschungsbefunden, nach denen die unbewusste Verar‐ beitung emotionaler Reaktionen lateralisiert, genauer gesagt rechtshemisphärisch 50 3 Implizite Motive, Sport und körperliche Aktivität <?page no="51"?> repräsentiert ist (Gainotti, 2012), dass implizite Motive mit rechtshemisphärischer Aktivität assoziiert sind (Schütz & Schultheiss, 2020) und dass auch die in diesem Sport häufig durchgeführten Rotationen (z. B. Drehung nach links oder rechts) lateralisiert sind (Heinen, Bermeitinger, & Laβberg, 2016). In Schütz‘ und Schultheiss‘ (2020) Studie konnte hypothesenkonform gezeigt werden, dass das implizite Anschluss- und Leistungsmotiv mit Indikatoren von rechtsseitiger hemisphärischer Lateralität assoziiert sind, z. B. bei der visuellen Wahrnehmung von Emotionen. Dies wurde über den sogenannten Chimeric Face Task (CFT) gemessen. Darin wurde das Gesicht einer Person mit einer lachenden und einer neutralen Gesichtshälfte dargestellt. Die motorische Lateralität als Indikator rechtshemisphärischer dopaminerger Aktivierung wurde gemessen, indem Personen in einem Gang sechs Meter zwischen zwei Mar‐ kierungen hin und her liefen und sich selbstgewählt in eine Richtung drehten. Es zeigte sich eine geringe positive Korrelation zwischen dem impliziten Leistungssowie Anschlussmotiv und der visuellen Wahrnehmung der Emotionen im CFT mit Hinweis auf ein rechtshemisphärisches Bias. Furley, Schweizer und Wegner (2019) untersuchten die Empfänglichkeit von Sport‐ studierenden (N = 156) für nonverbale Hinweisreize von Dominanz (Signale der Überlegenheit: z. B. die Fäuste in die Höhe recken) und Unterwürfigkeit (Signale des Zurückliegens im Match, z. B. das Gesicht hinter den Händen verbergen) in kurzen Sportvideos in Abhängigkeit von der Stärke des impliziten Machtmotivs der Teilnehmenden. Dazu wurden ihnen kurze Videosequenzen (durchschnittliche Länge M = 3.7 sec) von Sportspielen im Basketball und Tischtennis gezeigt. Anhand des Gesichtsausdrucks und der Gesten mussten die Teilnehmenden der Studie einschätzen, ob die Person im Video gerade in Führung oder zurück liegt. Das mit dem Picture Story Exercise (PSE) gemessene Machtmotiv sagte die Sensitivität der Untersuchungs‐ teilnehmenden für Signale des Zurückliegens vorher. Teilnehmende mit einem hohen Machtmotiv (im Vergleich zu einem niedrigen Machtmotiv) konnten das nonverbale Verhalten der Sportprofis in den Videos besser identifizieren, die zurücklagen. Für Sportprofis, die in Führung lagen, konnte der Effekt nicht gefunden werden. Schultheiss und Kollegen*innen untersuchten das implizite Lernen von Perso‐ nen in der Anwesenheit verschiedener emotionaler Gesichtsausdrücke, die entweder oberhalb oder unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle präsentiert wurden (Schultheiss, Pang, Torges, Wirth, & Treynor, 2005). Die emotionalen Gesichtsausdrü‐ cke waren Überraschung, Freude und Wut. Die impliziten Motive der Teilnehmenden (N = 216) wurden mithilfe der PSE (Schultheiss & Pang, 2007) erhoben. Es konnte gezeigt werden, dass die teilnehmenden Studierenden mit einem höheren Machtmotiv ein besseres implizites Lernen zeigten (schneller und genauer), wenn keine dominanten emotionalen Gesichtsausdrücke gezeigt wurden (sondern z. B. Überraschung oder neutrale). Personen mit starkem Anschlussmotiv lernten hingegen weniger gut, wenn feindselige Gesichter präsentiert wurden. In zwei Studien (N ges = 112) haben Schultheiss und Hale (2007) untersucht, wie Studierende ihre Aufmerksamkeit im Rahmen eines Dot Probe Tasks (Mogg & Bradley, 3.1 Wahrnehmung motivrelevanter Hinweisreize 51 <?page no="52"?> 1999) orientieren. Bei der Dot-Probe-Aufgabe werden den Teilnehmenden Paare von Reizen präsentiert, gefolgt von einem Punkt an einer der beiden Stellen, wo zuvor die Reize erschienen. Die Reaktionen der Teilnehmenden beim Erkennen des Punktes ge‐ ben Rückschlüsse auf ihre Aufmerksamkeitsausrichtung. In Schultheiss‘ und Hales Studie waren diese Reize emotionale Gesichtsausdrücke (Überraschung, Wut, Freude) oder neutrale Gesichter. Die Gesichter wurden unterschiedlich lang gezeigt (12, 116, 231 msec). Untersuchungsteilnehmende mit hohem Machtmotiv (Picture Story Exercise) bewegten ihre Aufmerksamkeit stärker weg von Gesichtern, die Dominanz repräsen‐ tierten (Wut, Freude) und hin zu Gesichtern die niedrige Dominanz signalisierten (Überraschung). Untersuchungsteilnehmende mit hohem Anschlussmotiv bewegten ihre Aufmerksamkeit tendenziell eher hin zu wütenden Gesichtern - insbesondere, wenn diese lange präsentiert wurden. Zusammenfassend zeigen die Studien mit Sportbezug, dass das implizite Machtmotiv damit verbunden ist welche motivrelevanten Signale aus der Umwelt aufgenommen werden. Insbesondere wenn machtmotivierte Personen sich zwischen Signalen von Dominanz und Unterwürfigkeit entscheiden können, meiden sie die Wahrnehmung dominanter Signale anderer Personen und präferieren Signale, die die eigene soziale Wirksamkeit implizieren. 3.2 Energetisierung von Verhalten Der zweite Bereich, in dem die Motivationspsychologie Beiträge dazu geleistet hat, wie implizite Motive Erleben und Verhalten im Sport beeinflussen, ist der Bereich der Energetisierung von Verhalten. Die Studien mit Sportbezug versuchen Fragen nach der Vorhersage von langfristigem Verhalten zu beantworten, zeigen neurobiologische Korrelate von impliziten Motiven auf und weisen auf das Potenzial impliziter Motive hin, operantes Verhalten vorherzusagen. 3.2.1 Langfristiges Verhalten im Sport Auf die Bedeutung von impliziten Motiven für die langfristige sportliche Aktivität wurde vor allem in korrelativen Studien hingewiesen. In einer Studie von Gröpel, Schoene und Wegner (2015) wurde gezeigt, dass bei Leistungssportler*innen (Kriterien: mindestens dreimal wöchentliches Sporttreiben, mindestens 6 Std/ Woche Sporttreiben, Wettkampfteilnahme) aus Individualsportarten (z.-B. Tennis, Tischtennis, Badminton) im Vergleich zu Freizeitsportler*innen (N = 63) das implizite Leistungsmotiv (Picture Story Exercise, Schultheiss & Pang, 2007) signifikant stärker ausgeprägt war. In einer zweiten Teilstudie mit Athleten*innen aus Interaktionsportarten (z.-B. Fußball, Hand‐ ball, Volleyball) (N = 142) wurden die impliziten Motive mit dem Operanten Motiv Test (OMT, Kuhl & Scheffer, 1999; siehe Wissensbox) erhoben. Erwartungskonform zeigte sich hier ein signifikant höheres implizites Machtmotiv bei den Leistungssport‐ treibenden (erste und zweite Bundesliga) im Vergleich zu Sportstudierenden. Für 52 3 Implizite Motive, Sport und körperliche Aktivität <?page no="53"?> beide hypothesenkonformen Befunde waren die Effektstärken im mittleren Bereich (d = .45). In der zweiten Stichprobe war sowohl das implizite als auch das explizite Anschlussmotiv der Leistungssportler*innen signifikant geringer ausgeprägt. Darüber hinaus war in beiden Stichproben das explizite Leistungsmotiv der Leistungssport‐ ler*innen signifikant stärker ausgeprägt. Die Ergebnisse stimmen mit den Befunden von Gabler (1972) bei Hochleistungsschwimmer*innen überein. Auch diese zeigten auf höherem Leistungsniveau (international, national) höhere Leistungsmotive als Schwimmer*innen auf niedrigerem Leistungsniveau. Weitere korrelative Studien konnten einen signifikanten Zusammenhang zwischen impliziten Motiven und den individuellen Trainingszeiten der Sportler*innen zeigen. Gröpel, Wegner und Schüler (2016) konnten in drei Stichproben mit Personen aus unterschiedlichen Sportarten und mit unterschiedlichen Messinstrumenten für impli‐ zite Motive konsistent geringe bis mittlere signifikante Korrelationen (rs = .23 bis .52) zwischen dem impliziten Leistungsmotiv und dem Trainingsumfang zeigen. Das Besondere dieser Studienserie ist, dass die impliziten Motive mit drei verschiedenen Messinstrumenten erhoben wurden (siehe auch Schüler et al., 2015). Neben den bereits skizzierten PSE und OMT, wurde auch das Multi-Motiv-Gitter (MMG, Sokolowski, Schmalt, Langens, & Puca, 2000) eingesetzt. Das MMG gilt als semiprojekives Verfah‐ ren, da es Bilder präsentiert (wie beim PSE) und somit Motive nicht sprachbasiert anregen soll, dann aber die Reaktionen der Proband*innen in Form von Antworten auf Fragebogenitems (und nicht in Form von Geschichten zu Bildern wie beim PSE) registriert. In Studie 1 (MMG) nahmen N = 112 Studierende teil, die im Rahmen des Universitätssports Kurse belegten. An Studie 2 (PSE) nahmen N = 63 Amateursport‐ ler*innen aus 30 verschiedenen Sportarten teil. Studie 3 (OMT) setzte sich aus N = 30 professionellen Tennisspielern zusammen. Hier war der Zusammenhang zwischen implizitem Leistungsmotiv und Trainingsumfängen am stärksten ausgeprägt. Die Befunde von Gröpel und Kolleg*innen (2016) werden von Schütz und Schultheiss (2020) in einer Studie mit N = 67 Leistungsturnerinnen unterschiedlicher Leistungsni‐ veaus bestätigt. In dieser präregistrierten Studie wurde auch ein geringer Zusammen‐ hang (r = .27) zwischen implizitem Leistungsmotiv (PSE) mit den Trainingsumfängen gefunden. Ähnlich verhält es sich mit der zuvor genannten Studie mit Schwimmer*in‐ nen von Gabler (1972), der auch zeigte, dass die Stärke des Leistungsmotivs mit den Trainingsumfängen zusammenhängt. Sieber und Mempel (2015) untersuchten die Bedeutung des Zusammenhangs implizi‐ ter Motive und implizit erfasster Impulskontrolle (Activity Inhibition nach McClelland, Davis, Kalin, & Wanner, 1972) für die sportliche Leistung. Implizite Impulskontrolle ist eine Facette der Selbstkontrolle und wird über die Häufigkeit des Wortes „nicht“ in Bildgeschichten operationalisiert. Die Stichprobe bestand aus 10bis 13-jährigen Nachwuchstalenten (N = 44) im Schwimmen (Sieber & Mempel, 2015). Die impliziten Leistungs- und Anschlussmotive der Kinder wurden mit dem OMT erhoben. Die Schwimmleistung wurde zum Start der Untersuchung und nach drei Jahren mit der 100 m-Kraul-Zeit operationalisiert. Es konnte gezeigt werden, dass das Leistungsmotiv 3.2 Energetisierung von Verhalten 53 <?page no="54"?> nur bei den Nachwuchsleistungssportler*innen mit tiefer unbewusster Impulskontrolle seine Energetisierungsfunktion entfaltete und die objektive Schwimmleistung nach drei Jahren signifikant vorhersagen konnte (ß = .39). Ähnliche Befunde zeigten auch Gröpel und Kehr (2013). 3.2.2 Neurobiologische Korrelate Ein zweiter Forschungsbereich, der die Energetisierungsfunktion impliziter Motive betrachtet, beschäftigt sich mit neurobiologischen Korrelaten impliziter Motive. Die Studien, die hier aufgeführt sind, erlauben entweder durch die verwendeten biologi‐ schen Marker oder die experimentellen Bedingungen Transfer in den Bereich Sport und Bewegung. Zu den beiden impliziten Motivthemen Macht und Anschluss finden sich stärkere empirische Hinweise als zum Motivthema Leistung (Schultheiss, 2013b). Befunde zum Machtmotiv Befunde zum Zusammenhang des impliziten Machtmotivs mit den endokrinen Mar‐ kern Testosteron und Cortisol bei Männern fassen Stanton und Schultheiss (2009) wie folgt zusammen: In experimentellen Settings, die Wettkämpfe beinhalten und das Durchsetzen in solchen Wettkämpfen induzieren, ist das implizite Machtmotiv mit der Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin (Hormone, die den Körper in erhöhte Handlungsbereitschaft versetzen) sowie Testosteron (assoziiert mit sozialer Dominanz) verbunden. In Wettkampfsituationen, in denen man Niederlagen erlebt, fördert das implizite Machtmotiv die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. In einer Studie von Schultheiss, Campbell und McClelland (1999) bekamen männli‐ che Studierende (N = 42) die Aufgabe in einer Matrix verteilte Zahlen der Reihenfolge nach zu verbinden und zwar im Wettkampf mit einer zweiten Person (die sich nicht im gleichen Raum befand). Zuvor stellten sie sich im Rahmen einer Imaginationsaufgabe vor, wie sie bei diesem Wettbewerb erfolgreich sind (T2). Der Erfolg bei der tatsächli‐ chen Durchführung der Aufgabe wurde experimentell variiert. Nach Beendigung der Aufgabe (T3) nach der Imagination (T2) und am Anfang der Laborsession (T1) wurden Testosteron-Speichelproben genommen. Es konnte gezeigt werden, dass das persona‐ lisierte implizite Machtmotiv stark mit den Testosteron-Leveln nach der Imagination (T2) und nach der erfolgreichen Bearbeitung der Aufgabe (T3) zusammenhing (r-=-.77 bis .88). Oxford et al. (2017) zeigten variierende Ergebnisse, je nachdem, ob es sich um individuelle Wettkämpfe oder Teamwettkämpfe handelte. So sagte das implizite Machtmotiv bei Männern einen Anstieg der Testosteronwerte nach einer Niederlage und einen Rückgang nach einem Sieg voraus. Bei männlichen Wettkampfteams sagte das implizite Machtmotiv einen Anstieg des Cortisols nach einer Niederlage voraus, jedoch nicht nach einem Sieg. In individuellen Wettkämpfen war das Machtmotiv insgesamt ein negativer Prädiktor für Cortisolveränderungen bei Frauen. 54 3 Implizite Motive, Sport und körperliche Aktivität <?page no="55"?> Befunde zum Anschlussmotiv Für das implizite Anschlussmotiv haben McClelland und Kollegen*innen frühzeitig zeigen können, dass es mit der Dopaminkonzentration (in Speichel und Plasma) von Teilnehmenden beim Schauen von Filmen mit anschlussthematischen Inhalten (emotionale Beziehungen in einer Ehe) assoziiert ist (McClelland, Patel, Stier, & Brown, 1987). In zwei gemischtgeschlechtlichen Stichproben (Study 1: N = 61; Study 2: N = 47) konnte gezeigt werden, dass nur für den Parameter Dopamin bei hoch implizit anschlussmotivierten Personen (Thematic Apperception Test, TAT, McClelland et al., 1953) eine Erhöhung von 25 bis 27-% von Filmanfang zu Filmende zu verzeichnen war, nicht aber für die Katecholamine Noradrenalin, Adrenalin oder Cortisol. Die Erhöhung der Dopaminaktivität in Verbindung mit dem impliziten Anschlussmotiv ging also nicht mit einer grundsätzlichen Erhöhung der autonomen Erregung einher. Personen mit niedrigem impliziten Anschlussmotiv zeigten in keinen der gemessenen Parametern Veränderungen. Auch bei akuten psychosozialen Stressoren konnte gezeigt werden, dass das Anschlussmotiv mit einer verminderten Cortisol-Reaktion in Verbindung steht (Wegner, Schüler, & Budde, 2014). Ferner scheint bei Personen mit hohem Anschlussmotiv die Immunreaktion auf Gesund‐ heitsrisiken stärker auszufallen (Jemmott, 1987; Jemmott et al., 1990). 3.2.3 Dissoziative Vorhersage von Verhalten im Vergleich zu expliziten Motiven In den hier berichteten Studien zur Energetisierung von Verhalten mit Sportbezug wurden durchaus Kontrastierungen zwischen impliziten und expliziten Motivmaßen vorgenommen. Wenn nicht erwähnt, waren vor allem die impliziten Maße für die gemessenen abhängigen Variablen vorhersagekräftig. Wichtig ist, dass in den meisten Studien gezeigt werden kann, dass implizite und explizite Motive selbst in denselben Motivthemen unkorreliert sind (zusammenfassend s. Schüler et al., 2015). Im Folgenden werden Studien beschrieben, in denen tatsächlich dissoziative Vorhersagen von ope‐ rantem Verhalten durch implizite Motive und respondentem Verhalten durch explizite Motive möglich waren. In der Studie von Wegner und Teubel (2014) führten Sportstudierende (N = 42) eine operante und eine respondente sportliche Aufgabe durch. Die operante Aufgabe bestand daraus, acht Runden à acht Minuten 4 gegen 4 in einer Mannschaftssportart (Basketball, Fußball, Handball, Volleyball) zu spielen. Dabei wurde jede Runde die Mannschaftszusammensetzung neu zufällig zugelost. Jede*r Spieler*in sammelte für sich Punkte, indem er*sie für jeden Sieg der Mannschaft 10 Punkte, für ein Unent‐ schieden 5 Punkte und für eine Niederlage 0 Punkte erhielt. Das implizite (OMT) aber nicht das explizite Leistungsmotiv (gemessen mit der Achievement Motive Scale, AMS, Elbe, Wenhold, & Müller, 2005) der Sportstudierenden war ein signifikanter Prädiktor für die erreichte Punktzahl in der operanten sportlichen Aufgabe (ß = .30). Die respondente Aufgabe bestand in Anlehnung an das Ringwurf-Experiment 3.2 Energetisierung von Verhalten 55 <?page no="56"?> (Atkinson & Litwin, 1960) darin, in 10 Versuchen bei einer Zielaufgabe in den vier Mannschaftssportarten so viele Punkte wie möglich zu erzielen, um auf einer Rangliste besser abzuschneiden als die Mitstudierenden. Im Basketball sah das z. B. so aus, dass im Abstand von einem Meter zum Korb Markierungen auf den Boden geklebt waren, die die Anzahl der Punkte signalisierten, die erreicht werden konnten, wenn man von dieser Markierung trifft. Das explizite Leistungsmotiv (AMS, Elbe et al., 2005) aber nicht das implizite war signifikanter Prädiktor für die erreichte Punktzahl in dieser respondenten Aufgabe (ß = .38). Ähnliche dissoziative Befunde konnten für das Leistungsmotiv bei einer Konzentrationsaufgabe (Brunstein & Maier, 2005) sowie für eine Rechenaufgabe (Biernat, 1989) gezeigt werden. Eine weitere Studie im Sport ging der Frage nach, ob das implizite und explizite Anschlussmotiv dissoziierend nonverbales und verbales Anschlussverhalten in tatsächlichen Wettkämpfen vorhersagen kann (Wegner, Bohnacker, Mempel, Teubel, & Schüler, 2014). An der Studie nahmen N = 52 Rückschlagsportler auf höchstem deut‐ schem, nationalem und internationalem Niveau teil. Nonverbales operantes Anschluss‐ verhalten wurde mit der Zeit (in sec) operationalisiert, die sich ein Sportler nahm, um bei regulären Pausen oder dem Seitenwechsel in Spielbereitschaft zurückzukehren, wenn der Gegner es bereits war; also den Gegner nicht lange warten lassen, um mit dem Spiel fortzufahren. Die zweite Operationalisierung nonverbalen Anschlussverhaltens war die Zeit (in sec), die für Diskussionen mit dem Gegner aufgebracht wurde. Es wurde angenommen, dass anschlussmotivierte Personen lange Diskussionen/ Streit‐ gespräche mit den Gegnern vermeiden. Verbales respondentes Anschlussverhalten wurde mit der Zeit operationalisiert, die die Sportler für verbalen Kontakt zu ihren Mannschaftsmitgliedern verwendeten. Es konnte gezeigt werden, dass das implizite (aber nicht das explizite) Anschlussmotiv (OMT) nonverbales freundliches Verhalten zum Gegner als operantes Verhalten vorhersagte (r = .28 bis .32) während das explizite (aber nicht das implizite) Anschlussmotiv verbales respondentes Verhalten mit den Mannschaftsmitgliedern prädizierte (r = .34 bis .38). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Reihe von Studien zeigen konnte, dass das implizite Leistungsmotiv bei Leistungssportler*innen insbesondere auf hö‐ herem Leistungsniveau stärker ausgeprägt zu sein scheint. Zudem hängt das Leis‐ tungsmotiv mit höheren Trainingsumfängen von Sportler*innen zusammen. Die Effektstärken dieser Befunde liegen im niedrigen bis mittleren Bereich. Hinsichtlich der neurobiologischen Korrelate impliziter Motive lassen sich vor allem die positiven Zusammenhänge zwischen dem impliziten Machtmotiv und Testosteron nach erfolg‐ reichen Wettkämpfen sowie Cortisol nach Niederlagen als wiederholte Befundmuster feststellen. Das Anschlussmotiv scheint eine entspannende Wirkung auf die autonome Erregung zu haben (z. B. erhöhte Immunaktivität, geringere Cortisolwerte). Ebenfalls gut empirisch gesichert ist, dass implizite und explizite Motive unterschiedliche Klassen von Verhalten mit Sportbezug vorhersagen. Implizite Motive sagen nämlich eher operantes Verhalten vorher, z. B. das tatsächliche Ausführen von Handlungen (Doing), während explizite Motive besser respondentes Verhalten vorhersagen, also 56 3 Implizite Motive, Sport und körperliche Aktivität <?page no="57"?> Abwägungs- und Wahlverhalten mit bewusster Reflexion (Thinking) zum Beispiel im Rahmen von Verhaltensoptionen. 3.3 Ausrichten auf motivrelevante Anreize Die dritte Kernfunktion von impliziten Motiven ist das Ausrichten des Verhaltens auf potenziell motivbefriedigende Anreize. Insbesondere im Sport können solche Anreize durch Trainer*innen, Sportlehrpersonen oder auch durch die sportliche Aufgabe selbst gegeben sein. Eine Reihe von Studien hat die motivationalen Konsequenzen von Anreizvariationen im sportlichen Kontext untersucht. Hierbei wurden vor allem Erlebens- und Verhaltenskonsequenzen von Leistungsvs. Anschlussanreizen sowie für das Autonomiemotiv im Sportkontext untersucht. Leistungsvs. Anschlussanreize Eine der ersten Anreizstudien für implizite Motive mit starkem Sportbezug stammt von Sorrentino und Sheppard (1978). Sie untersuchten die Schwimmleistung von College- Leistungssportler*innen (N = 76) in einer Individual- und Gruppenbedingung über 200-m Kraul und setzten diese mit den Leistungs- und Anschlussmotiven in Bezug. Die Motive wurden mittels TAT (Thematischer Auffassungstest, McClelland et al., 1953) erfasst, die um eine Furchtkomponente, gemessen mittels Angstfragebogen, bereinigt wurden. Die resultierenden Variablen waren Hoffnung-auf-Erfolg und Furcht-vor-Misserfolg. Schwim‐ mer*innen mit höherem implizitem Anschlussmotiv (Hoffnung-auf-Anschluss) hatten bessere Kraulzeiten, wenn sie für ihr Team schwammen, als wenn sie im Einzelwettkampf antraten. Gleichzeitig zeigten Schwimmer*innen mit hohem impliziten Leistungsmotiv (Hoffnung-auf-Erfolg) schnellere Schwimmzeiten in den Einzelwettkämpfen (wenn sie gleichzeitig niedrige Anschlussmotive hatten) als Sportler*innen mit niedrigen Leistungs‐ motiven. Diese Befunde konnten für eine Liegestützaufgabe mit Freizeitsporttreibenden repliziert werden (Schüler et al., 2017). In einer Studie mit Sporttreibenden in Fitnessstudios (N = 47, Studie 2) wurde das Erleben und die sportliche Zielsetzung nach einer experimentellen Variation der Motivanreize (Anschluss vs. Leistung) untersucht (Schüler & Wegner, 2015). Die Sport‐ treibenden wurden vor und nach einer fünfminütigen Ergometer-Einheit nach ihrem Wohlbefinden und ihrer aktuellen Anzahl an wöchentlichen Trainingseinheiten befragt. Danach wurden sie entweder der Leistungs- oder Anschlusszielbedingung zufällig zugeordnet. Entweder sollten sie für eine Gruppe (Anschlussanreiz) oder gegenüber anderen Personen (Leistungsanreiz) eine gute Leistung erbringen. Die Ergebnisse zeigen, dass Sportler*innen mit hohem impliziten Anschlussmotiv ein positiveres Befinden nach der experimentellen Instruktion von Anschlussanreizen berichten als Personen mit niedrigem Anschlussmotiv und unter Leistungsanreizen. Die Ergebnisse für Befindens‐ veränderungen nach Leistungsinstruktion beim Leistungsmotiv waren nicht signifikant. Hinsichtlich der Ziele zeigte sich, dass sowohl für implizit Leistungsmotivierte als auch 3.3 Ausrichten auf motivrelevante Anreize 57 <?page no="58"?> für implizit Anschlussmotivierte bei passender Instruktion höhere sportliche Ziele resul‐ tierten. Alle Effektstärken befanden sich im niedrigen Bereich (ß = .34 bis .36). Mehrere weitere Studien zeigen, dass motivpassende Anreize zu stärkerem Wohlbefinden und Flowerleben führen (Schattke, Brandstätter, Taylor, & Kehr, 2015; Schüler, 2010; Schüler & Brandstätter, 2013; Schüler, Wegner, & Knechtle, 2014). Das Autonomiemotiv und Erlebens- und Verhaltenskonsequenzen Neben der Betrachtung der Motivtrias Leistung, Anschluss, Macht richtete sich das Augenmerk von Forschenden im Bereich implizite Motive im Sport in den letzten Jah‐ ren auch auf das Autonomiemotiv (Baum & Baumann, 2021; Schüler, Sheldon, Prentice, & Halusic, 2016). Mit dem Autonomiemotiv werden individuelle Unterschiede in dem Bedürfnis beschrieben, sich selbst als Verursacher von Handlungen wahrzunehmen (deCharms, 1968). In einem Experiment im Rahmen einer Sportunterrichtseinheit wurden Schüler*in‐ nen (N = 45) zufällig einer von drei Untersuchungsbedingungen (1: Autonomieför‐ derung, 2: Autonomieeinschränkung, 3: Kontrolle) zugeordnet (Sieber, Wegner, & Schüler, 2016). Die Schüler*innen konnten in Bedingung 1 zwischen Sprungwurf, Korbleger und Freiwurf im Basketball wählen, um innerhalb von drei Minuten eine möglichst hohe Trefferanzahl zu erreichen. In Bedingung 2 wurden die Schüler*in‐ nen von der Versuchsleitung immer wieder auf die Einhaltung der Reihenfolge der verschiedenen Würfe hingewiesen. Das implizite Autonomiemotiv wurde mit der Bildgeschichtenübung (PSE) erhoben und einem Kodiersystem von deCharms und Plimpton (1992; siehe auch Schüler et al., 2016) kodiert. In der Kontrollbedingung 3 wurde die Reihenfolge der Würfe vorgegeben, aber neutrale und nicht autonomieeinschränkende Sprache verwendet. Vor und nach der experimentellen Variation wurde die intrinsische Motivation der Schüler*innen gemessen. Hierzu wurde die Skala Interesse/ Freude aus dem Intrinsic Motivation Inventory (Ryan, 1982) eingesetzt (z.-B. „Während ich an der Aufgabe arbeitete, dachte ich darüber nach, wie sehr mir das Spaß macht.“). Schüler*innen mit hohem impliziten Autonomiemotiv (PSE) zeigten eine höhere intrinsische Motivation in der autonomiefördernden Bedingung im Vergleich zu Personen mit niedrigem implizitem Autonomiemotiv. In den anderen beiden Bedingun‐ gen fanden sich keine Unterschiede zwischen Schüler*innen mit hohem oder niedrigem impliziten Autonomiemotiv. Schüler*innen mit niedrigem Autonomiemotiv zeigen interessanterweise signifikant höhere intrinsische Motivation in den Bedingungen 2 und 3 im Vergleich zur Bedingung 1. Auch in nur vorgestellten Situationen der Autonomieförderung (via Vignetten) zeigen sich positive Effekte auf Wohlbefinden und Wahrnehmung der Befriedigung psychologischer Basisbedürfnisse bei Personen mit hohem Autonomiemotiv (Schüler et al., 2016). Zusammenfassend zeigen die hier dargestellten Befunde, dass für alle drei Motive Leistung, Anschluss und Autonomie eine reale oder vorgestellte passende Anreizset‐ zung durch Untersuchungsleitende oder im Feld durch Sportlehrpersonen dazu führt, dass Menschen sich wohler fühlen, tatsächlich bessere sportliche Leistungen zeigen, 58 3 Implizite Motive, Sport und körperliche Aktivität <?page no="59"?> stärker intrinsisch motiviert sind und mehr Flow erleben sowie stärker beabsichtigen auch in Zukunft körperlich aktiv zu sein. Alle genannten Erlebens- und Verhaltens‐ konsequenzen von passender Anreizsetzung können langfristig zum Aufbau eines körperlich aktiven Lebensstils beitragen. 3.4 Abschließende Einordnungen Die Forschung zu impliziten Motiven im Bereich Sport und Bewegung hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten interessante Aspekte beleuchtet, die den Bereich der Motivation im und zum Sporttreiben erweitert haben (Wegner & Brinkmann, 2023). Insbesondere die Vorhersagekraft für operantes Verhalten und neurobiologische Marker, die mit herkömmlichen Fragebogenmaßen der Motivation nicht möglich sind, bereichern das Forschungsfeld. In Hinblick auf die zukünftige Entwicklung des Forschungsgebiets der impliziten Motive im Sport erachten wir die folgenden Aspekte für wichtig. Gleichzeitige Messungen impliziter und expliziter Motive In den letzten Jahren sind Forschende im Bereich der impliziten Motive stärker dazu übergegangen in ihren Studien auch korrespondierende explizite Motivmaße einzu‐ setzen (z. B. Biernat, 1989; Wegner, Bohnacker, et al., 2014; Wegner & Teubel, 2014). Mehrere der hier dokumentierten empirischen Studien haben gleichzeitig implizite und explizite Motivmaße verwendet, um die dissoziative Vorhersagekraft von impliziten Motiven im Vergleich zu expliziten Motiven herauszustellen. Zukünftige Studiende‐ signs werden dann auf besonderes Interesse stoßen, wenn sie ermöglichen, tatsächlich ökologisch valide operante vs. respondente Verhaltens- und Erlebensmaße im Sport zu operationalisieren, um einer Vorstellung gleichzeitig operierender unterschiedlicher Motivsysteme gerecht zu werden (z. B. im Sinne von Dualen Prozessmodellen). Entsprechende Beispiele für nicht direkt sportliche Settings (Brunstein & Maier, 2005) aber auch stark sportbezogene Feldstudien (Wegner, Bohnacker, et al., 2014; Wegner & Teubel, 2014) finden sich in diesem Kapitel. Kleine Stichproben, korrelative Befunde, wenige Arbeitsgruppen Die in diesem Kapitel präsentierten Studien beruhen überwiegend auf kleineren Stichproben. Viele Studien sind korrelativer, anstatt experimenteller Natur. Darüber hinaus sind die Effektstärken häufig klein bis mittelgroß. Eine Ausnahme sind hier die Befunde zu neurobiologischen Korrelaten, in denen die empirischen Befunde teils auf große Effektstärken deuten (vgl. Studien von Schultheiss et al., 1999; Wirth, Welsh, & Schultheiss, 2006). Wünschenswert sind im Forschungsbereich vor allem Studien, die tatsächlich im Sportkontext durchgeführt werden und je nach Zielstellung tatsächlich Sporttreibende in die Studien integrieren. Sicherlich sind Zugänge zu Hochleistungskontexten häufig 3.4 Abschließende Einordnungen 59 <?page no="60"?> schwerer zu realisieren als im Bereich des Freizeitbzw. Gesundheitssports. In Hoch‐ leistungskontexten ist das Zustandekommen kleiner Stichproben deshalb am stärksten nachvollziehbar. Zukünftig sollten Forschende jedoch neben der Kontextspezifik bei der Stichprobenwahl auch ausreichend große Stichproben anvisieren und aktuellen Open Science Richtlinien entsprechen, um das Forschungsfeld weiter auszubauen. Die meisten der oben genannten Studien sind beispielsweise nicht präregistriert und Daten und Versuchsmaterial sind nicht in öffentlich zugänglichen Repositorien abgelegt. Dennoch können Studien mit Studierenden ohne direkten Sportbezug das Feld des Sports stark bereichern (z.-B. Stanton & Schultheiss, 2009). Auch sollte ein Weg gefunden werden, möglichst experimentelle Untersuchungs‐ designs in möglichst anwendungsfeldnahe Settings zu integrieren. Einige einfache Beispiele hierzu sind im vorliegenden Kapitel dokumentiert (Schüler et al., 2017; Sorrentino & Sheppard, 1978). Hier sind Forschende in den nächsten Jahren gefordert innovative Ideen einzubringen. Messungen impliziter Motive Insbesondere die exakte Beschreibung, Standardisierung und das Zugänglichmachen von Bildmaterial und Daten (Pang, 2010; Schönbrodt et al., 2020; Schultheiss & Pang, 2007) sowie die Vereinfachung der Messung von impliziten Motiven sind für den leichteren Zugang von Forschenden zu diesem Thema wichtige Schritte. Obwohl hier bereits starke Fortschritte erzielt wurden und die Vor- und Nachteile bestimmter Messverfahren impliziter Motive immer klarer werden, besteht immer noch wenig gemeinsame Varianz zwischen den großen Standardverfahren der Messung impliziter Motive (Schüler et al., 2015). Es zeigt sich aber, dass insbesondere die Vorhersagekraft für operantes Verhalten mit stärkerer Offenheit hinsichtlich der Antwortformate zunimmt. Aus diesem Grund sind im vorliegenden Forschungsüberblick betont Studien integriert, die den TAT, PSE oder OMT zur Operationalisierung von impliziten Motiven verwendet haben. Obwohl das einfache, stärker geschlossene Format des Multimotiv- Gitters (MMG) teilweise auch zu ähnlichen Befunden führen kann, wie PSE oder OMT (z. B. im Bereich Flow; Schattke et al., 2015; Schüler & Brandstätter, 2013), kann jedoch angenommen werden, dass das MMG besser respondentes Verhalten vorhersagt. Für die Zugänge zum Forschungsbereich der impliziten Motive sind deshalb Bemü‐ hungen sehr wichtig, die Analyse von Texten zu automatisieren bzw. zu vereinfachen, ohne dabei die Validität der Instrumente zu verlieren, die wir durch die menschliche Kodierung gewinnen (z. B. Pang & Ring, 2020; Schönbrodt, Kappler, & Hagemeyer, 2021; Schultheiss, 2013a). 60 3 Implizite Motive, Sport und körperliche Aktivität <?page no="61"?> Literatur Atkinson, J. W., Heyns, R. W., & Veroff, J. (1954). The effect of experimental arousal of the affiliation motive on thematic apperception. Journal of Abnormal and Social Psychology, 49, 405-410. doi: 10.1037/ h0053499 Atkinson, J. W., & Litwin, G. H. (1960). Achievement motive and test anxiety conceived as motive to approach success and motive to avoid failure. The Journal of Abnormal and Social Psychology, 60(1), 52-63. doi: 10.1037/ h0041119 Baum, I. R., & Baumann, N. (2021). Arousing autonomy: A valid assessment of the im‐ plicit autonomy motive. 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Ziele zu erreichen ist ungleich schwieriger, da situativ attraktiver erscheinende Handlungsalternativen willentlich unterdrückt werden müssen und stattdessen als aversiv wahrgenommene Verhaltensweisen auszuführen sind (z. B. Training bei schlechtem Wetter) bzw. auf attraktivere Verhaltensweisen zu verzichten ist (z. B. Ausruhen auf dem Sofa). Dieser willentliche Kontrollprozess wird als Selbst‐ kontrolle bezeichnet. Die daraus resultierende Lücke zwischen den gesetzten Zielen und dem tatsächlich gezeigten Verhalten tritt häufig in sportspezifischen Kontexten auf und wird meist auf eine Beeinträchtigung der Selbstkontrolle attribuiert. Dem liegt die traditionelle Sichtweise von Selbstkontrolle als einer limitierten Ressource zugrunde, deren Erschöpfung es in der Folge schwieriger macht, Hindernisse bei der Zielerreichung zu überwinden. In diesem Kapitel stellen wir dieser Perspektive aktuelle Ansätze gegenüber, die Selbstkontrolle als eine motivierte Kosten-Nutzen-Abwägung konzipieren und damit den Fokus auf die Bereitschaft legen, Selbstkontrolle auszuüben. Am Beispiel von Langeweile und Handlungskrisen illustrieren wir, wie sich die Kosten und Nutzen von Selbstkontrolle während der Erreichung sportlicher Ziele verändern können. Einerseits kann das Empfinden von Langeweile oder das Erleben einer Krise den Fokus auf alternative, potenziell lohnenswertere Ziele lenken, wodurch der Wert der aktuellen Zielerreichung und damit der Nutzen von Selbstkontrolle sinkt. Gleichzeitig handelt es sich bei Langeweile und Krisen um aversive Zustände, deren Regulation Anstrengung erfordert und die so die Kosten von Selbstkontrolle erhöhen können. Abschließend widmen wir uns der Frage, wie Menschen mit Langeweile und Krisen im Sport umgehen und welche Strategien dabei helfen können, die Bereitschaft zur Ausübung von Selbstkontrolle im Sport aufrechtzu‐ erhalten. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1298. <?page no="66"?> Lernziele ■ Verstehen, inwiefern Selbstkontrolle im Sport eine wichtige Rolle spielt und warum Selbstkontrolle nicht immer gelingt. ■ Grundlegende Konzepte und Theorien der Selbstkontrolle kennenlernen, ver‐ stehen und kritisch reflektieren. ■ Den Zusammenhang zwischen Selbstkontrolle, Langeweile und Handlungs‐ krisen erkennen und Schlussfolgerungen ableiten. ■ Maßnahmen zur Optimierung der Selbstkontrolle kennenlernen und anwen‐ den können. 4.1 Einleitung Viele Menschen fassen zu Beginn eines neuen Jahres Vorsätze. Mehr Sport zu treiben und fitter zu werden, gehört dabei zu den häufig genannten Zielen. Allerdings fällt es vielen Menschen schwer, insbesondere ihre sportlichen Ziele nachhaltig in die Tat umzusetzen. So handelt nur etwa die Hälfte derjenigen Personen, die sich vornehmen, körperlich aktiver zu sein, entsprechend und wird tatsächlich aktiver (Rhodes & de Bruijn, 2013). Diese Diskrepanz zwischen Zielen und Verhalten gibt es in vielen Lebensbereichen und wird in der Wissenschaft unter dem Begriff Intentions- Verhaltens-Lücke erforscht (Sheeran & Webb, 2016). Im Kontext von Sport und körperlicher Aktivität spielt die Lücke zwischen der bewegungsbezogenen Intention und dem tatsächlichen Verhalten eine prominente Rolle, da beispielsweise etablierte Strategien zur Verringerung der Intentions-Verhaltens-Lücke im Vergleich zu anderen Domänen geringere Effekte haben (Bieleke, Keller, et al., 2021; Bieleke, Wolff, et al., 2021). Die Lücke wird unter anderem dadurch erklärt, dass mit dem Erreichen eines Ziels eine Reihe von Herausforderungen verbunden ist: Zielgerichtetes Verhalten muss initiiert, gegen interne und externe Widrigkeiten durchgesetzt und schließlich zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden (Gollwitzer & Oettingen, 2011). Das Beispiel zeigt anhand einer fiktiven Person, wie diese Herausforderungen das Erreichen eines Ziels im Sport erschweren können, wobei dies nicht nur für den Breitensport gilt. Selbst Spitzensportler*innen sehen sich diesen Herausforderungen gegenüber und scheitern bisweilen an ihnen (für einen Überblick vgl. Wolff, Bieleke et al., 2019). Beispiel | Der Halbmarathon Im Frühjahr nimmt sich eine Person vor, während des Sommers für einen Halb‐ marathon im Herbst zu trainieren. Um dieses Ziel zu erreichen, muss sie eine Reihe von Hindernissen überwinden. So muss sie sich zunächst geeignete Kleidung besorgen und einen Trainingsplan erstellen, um mit dem Training beginnen zu können (Anfangen). Anschließend muss sie das Training kontinuierlich ausüben, 66 4 Anstrengung, Langeweile, Krisen: Neue Perspektiven und Ansätze zur Selbstkontrolle im Sport <?page no="67"?> auch wenn der erhoffte Fortschritt zunächst auf sich warten lässt und der Sommer mit vielen alternativen Beschäftigungen lockt (Dranbleiben). Schließlich muss sie den Lauf unter Berücksichtigung der erreichten Fitness absolvieren und sollte sich im Eifer des Wettbewerbs nicht überanstrengen, um die Kräfte sinnvoll einteilen und Verletzungen vermeiden zu können (Abschließen). Auch wenn sich Spitzensportler*innen grundsätzlich den gleichen Herausforderungen gegenübersehen wie Breitensportler*innen, scheint ihr sportlicher Erfolg dafür zu spre‐ chen, dass sie diese im Allgemeinen besser bewältigen. Dabei spielen mentale Prozesse wie die Selbstkontrolle eine Rolle, die für den Umgang mit Herausforderungen beim Zielstreben wichtig ist. Selbstkontrolle kann definiert werden als die Anstrengungen, die zum Herbeiführen von zieldienlichem Verhalten und zur Unterlassung von nicht zieldienlichem Verhalten unternommen werden (de Ridder et al., 2012). Beispielsweise erfordert Sport häufig die Ausübung von Selbstkontrolle, wenn man trotz schlechten Wetters vor die Tür geht und trainiert (zieldienliches Verhalten) und dafür auf einen gemütlichen Abend auf dem Sofa verzichtet (nicht zieldienliches Verhalten). Daher sind Menschen, die generell besser darin sind, sich selbst zu kontrollieren, körperlich aktiver als Menschen, die weniger gut in der Ausübung von Selbstkontrolle sind (z. B. Finne et al., 2019; Pfeffer & Strobach, 2017). Spitzensportler*innen scheinen im Aufbringen von Selbstkontrolle außerdem generell besser zu sein als andere Sportler*innen (Wolff, Bertrams, et al., 2019). In der Folge fühlen sie sich ihrem Training stärker verpflichtet und kommen auf einen größeren Trainingsumfang (Tedesqui & Young, 2017), was sich wiederum in einer besseren Erreichung ihrer Trainingsziele und einer erhöhten Leistungsfähigkeit niederschlägt. In diesen Beispielen wird Selbstkontrolle als relativ stabiler und überdauernder Unterschied zwischen Personen konzipiert, der sich auf das Bewältigen von Heraus‐ forderungen des Zielstrebens in einer Vielzahl von Lebensbereichen auswirkt (Trait- Selbstkontrolle; Moffitt et al., 2011; Tangney et al., 2004). Selbstkontrolle unterliegt jedoch auch situativen Schwankungen, sodass sich eine Person je nach Situation unterschiedlich gut selbst kontrolliert (State-Selbstkontrolle; de Ridder et al., 2018). Beispielsweise kann es derselben Person mehr Selbstkontrolle abverlangen, am Ende eines stressigen Arbeitstages Sport zu treiben als am Wochenende (Schöndube et al., 2017). Diese situativen Veränderungen sind ein wichtiger Forschungsgegenstand in der Literatur zur Selbstkontrolle und wurden in jüngerer Zeit verstärkt auch im Kontext des Sports untersucht (Englert et al., 2020, 2021). Eine zentrale Fragestellung dabei ist, wie situative Veränderungen der Selbstkontrolle entstehen und welche Prozesse daran beteiligt sind. Hierzu wurden über die Jahre verschiedene Modelle der Selbstkontrolle entwickelt (vgl. Inzlicht et al., 2021), die im Folgenden genauer dargestellt werden. 4.1 Einleitung 67 <?page no="68"?> 4.2 Modelle der Selbstkontrolle In der sportpsychologischen Forschung hat insbesondere das Kraftspeichermodell der Selbstkontrolle (Baumeister et al., 1998) große Aufmerksamkeit erfahren (für einen Überblick, siehe Englert, 2016). Das Modell basiert auf der Annahme, dass Selbstkon‐ trolle auf eine begrenzte Ressource zurückzuführen ist, der als Kraftspeicher bezeichnet wird. Übt eine Person in einer gegebenen Aufgabe Selbstkontrolle aus, dann erschöpft sich diese Ressource und wird nicht unmittelbar wieder hergestellt. Dieser temporäre Zustand der Ressourcenerschöpfung wird als Ego Depletion bezeichnet und führt gemäß dem Kraftspeichermodell bei nachfolgenden Tätigkeiten zu einer schlechteren Leistung, falls diese ebenfalls Selbstkontrolle erfordern (vgl. Baumeister et al., 1998). Je stressiger ein Arbeitstag also beispielsweise ist, desto weniger gut sollten Menschen in der Lage sein, nach Feierabend Selbstkontrolle für sportliche Aktivitäten aufzubringen. Tatsächlich kann sportliche Leistung durch eine vorangehende Tätigkeit beeinträchtigt werden, wenn dabei Selbstkontrolle aufgebracht werden musste (Englert et al., 2015; Englert & Wolff, 2015). Allerdings finden sich solche Leistungseinbußen in einigen Studien nicht, was zu einer insgesamt inkonsistenten Befundlage für die Annahmen des Kraftspeichermodells führt (vgl. Hagger et al., 2010, 2016). Hinzu kommen neben forschungsmethodischen Problemen (Carter & McCullough, 2014; Wolff et al., 2018) auch konzeptuelle Schwierigkeiten des Kraftspeichermodells insbesondere mit Blick auf den angenommenen ressourcenbasierten Mechanismus (Inzlicht et al., 2014). So sollten länger andauernde Anforderungen an die Selbstkontrolle zu einer stärkeren Erschöpfung der Ressource führen, was sich wiederum in einer schlechteren Leistung bei nachfolgenden Tätigkeiten niederschlagen sollte. Ein solcher Zusammenhang zwischen der Dauer der Selbstkontrollanforderungen und der Leistung lässt sich empirisch allerdings nicht belegen (Giboin & Wolff, 2019; Wolff, Sieber, et al., 2021). Andere Modelle der Selbstkontrolle versuchen daher, die mechanistischen Grundla‐ gen von Selbstkontrolle präziser zu beschreiben. So nimmt beispielsweise das Prozess‐ modell der Selbstkontrolle (Inzlicht & Schmeichel, 2012) an, dass durch das Aufbringen von Selbstkontrolle 1. die Motivation sinkt, auch weiterhin Selbstkontrolle auszuüben, 2. Selbstkontrollanforderungen eine eher negative Valenz zugeschrieben wird und 3. Personen ihre Aufmerksamkeit weniger effizient auf die eigentliche Handlung richten können. Haben Menschen also einen stressigen Tag im Büro hinter sich, ist 1. ihre Motivation zum Aufbringen von Selbstkontrolle für sportliche Aktivitäten am Abend eher niedrig, empfinden sie 2. keine Lust auf sportliche Aktivität und haben sie 3. Schwierigkeiten damit, ihre Aufmerksamkeit von situativ attraktiver erscheinenden Verhaltensalterna‐ tiven abzuziehen. Damit geht eine fundamental andere Interpretation der Intentions- Verhaltens-Lücke einher als im Kraftspeichermodell: Während das Kraftspeichermo‐ dell von einer temporären Erschöpfung der Selbstkontrollkraft ausgeht (Baumeister & Heatherton, 1996), führt das Prozessmodell die Diskrepanz auf Veränderungen der 68 4 Anstrengung, Langeweile, Krisen: Neue Perspektiven und Ansätze zur Selbstkontrolle im Sport <?page no="69"?> Motivation, der Emotion und der Aufmerksamkeit zurück. Für diese Annahme spricht beispielsweise der Befund, dass leistungsmindernde Effekte einer vorangegangenen Selbstkontrollaufgabe auf die nachfolgende Leistung unter anderem durch finanzielle Anreize reduziert werden können, da durch diese die Motivation erhöht wird (Muraven & Slessareva, 2003). So halten Versuchspersonen nach einer Selbstkontrollanforderung länger bei einer anschließenden muskulären Ausdaueraufgabe durch, wenn ihnen für diese Leistung Geld angeboten wird (Brown & Bray, 2017; aber vgl. Stocker et al., 2019). Solche Befunde sind nur schwer mit der Idee eines Selbstkontrollversagens aufgrund temporär erschöpfter Ressourcen vereinbar. Allerdings drängt sich die Frage auf, warum Menschen nicht bereitwillig Selbst‐ kontrolle einsetzen, wenn sie für das Erreichen von Zielen wichtig ist. In der oben angeführten Definition von Selbstkontrolle findet sich ein wichtiger Hinweis auf eine mögliche Antwort: Selbstkontrolle erfordert Anstrengung, die in der Regel als aversiv wahrgenommen (Ainslie, 2021; Kool & Botvinick, 2018; Kurzban, 2016) und von negativen Empfindungen wie Erschöpfung und Frustration begleitet wird (Wolff, Sieber, et al., 2021). Menschen versuchen daher in der Regel (für eine Ausnahme, siehe Wissensbox) nur so viel Anstrengung in eine Tätigkeit zu investieren, wie es ihnen für das erhoffte Ergebnis gerechtfertigt und unbedingt notwendig erscheint (Brehm & Self, 1989). Dieselbe Person wird also beispielsweise für das Ziel, einen Halbmarathon unter 1: 30 h zu laufen, wesentlich härter trainieren als für das Ziel, einen Halbmarathon unter 1: 45 h zu laufen. Außerdem wird sie auch nur dann dazu bereit sein, die zusätzliche Anstrengung aufzubringen, wenn das Erreichen der jeweiligen Zeit möglich und die damit verbundene Anstrengung es wert scheint. Die mit Selbstkontrolle einhergehende Anstrengung kann also als ein Signal für die Kosten verstanden werden, die mit dem Aufbringen von Selbstkontrolle verbunden sind. Die sinkende Bereitschaft zum Aufbringen von Selbstkontrolle ist dann ein Zeichen dafür, dass Menschen ihr Verhalten unter den jeweiligen Gegebenheiten zu optimieren versuchen (Bieleke, Wolff, et al., 2024). Wissen | Der Wert von Anstrengung Sportliche Ziele zu erreichen erfordert Anstrengung. Gemäß dem „Gesetz der geringsten Anstrengung“ (Zipf, 1949) versuchen Menschen, ihre Ziele mit so wenig Anstrengung wie möglich zu erreichen - die gewünschte Zeit im Halbmarathon beispielsweise mit einem möglichst geringen Trainingsaufwand. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass Anstrengung unangenehm ist und daher vermieden wird. Allerdings kann Anstrengung auch einen Wert für sich darstellen (Inzlicht et al., 2018), im Kontext des Sports spricht man dann vom Wert körperlicher Anstrengung (Stähler et al., 2023). Dieser Wert körperlicher Anstrengung kann mit der VoPE- Skala (Value of Physical Effort; Bieleke, Stähler, et al., 2023) erfasst werden, bei der auf einer Skala von 1 (stimme gar nicht zu) bis 7 (stimme voll und ganz zu) vier Aussagen bewertet werden: 4.2 Modelle der Selbstkontrolle 69 <?page no="70"?> 1. Ich habe großen Spaß an Aktivitäten, die körperliche Anstrengung erfordern. 2. Ich bevorzuge körperlich anstrengende Aktivitäten gegenüber sportlichen Aktivitäten, die ohne größere Anstrengung bewältigt werden können. 3. Die Vorstellung, mich beim Sport körperlich anzustrengen, reizt mich. 4. Es macht mir Spaß, mich bei einer sportlichen Aktivität körperlich anzustren‐ gen, selbst wenn es keinen Einfluss auf das Ergebnis hat. Je stärker die Zustimmung zu diesen vier Aussagen, desto ausgeprägter ist der Wert körperlicher Anstrengung. Erste Studien mit der VoPE-Skala an mehr als 1.500 Personen zeigen interindividuelle Unterschiede im Wert körperlicher Anstrengung, die Ausmaß und Qualität von Sport- und Bewegungsverhalten vorhersagen (Bieleke, Stähler, et al., 2023). Diese Unterschiede bestehen bereits im Kindesalter und lassen sich darüber hinaus vom Wert mentaler Anstrengung abgrenzen (Wolff, Stähler, et al., 2024). Eine explizite mathematische Modellierung dieser Kosten-Nutzen-Analyse liefert die Theorie des erwarteten Werts von Kontrolle (Shenhav et al., 2013, 2016). Die Theorie wurde auf Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelt und liefert einen formalisierten Rahmen für die Vorhersage, wie viel Selbstkontrolle Menschen für die Ausübung bestimmter Tätigkeiten einsetzen. Die Kernannahme der Theorie ist, dass gerade so viel Selbstkontrolle für die Ausübung einer Tätigkeit eingesetzt wird, dass dadurch der durch den Einsatz von Selbstkontrolle erwartete Wert maximiert wird. Bezogen auf den Sport kann dieser Erwartungswert sich beispielsweise auf eine erhoffte größere Fitness, die bessere Regulation des Körpergewichts oder die ange‐ strebte Vermeidung gesundheitlicher Probleme im Alter beziehen. Bei der Bestimmung des Erwartungswerts müssen allerdings auch die Kosten berücksichtigt werden, die durch das Aufbringen von Selbstkontrolle entstehen. Wie bereits ausgeführt, ergeben sich diese Kosten aus der Definition von Selbstkontrolle als einem mit Anstrengung verbundenen Mechanismus. In mathematischer Form lassen sich diese Überlegungen durch folgende Gleichung ausdrücken (Shenhav et al., 2013): Erwartungswert der K ontrolle (K ontrolle, Situation) = ∑ i I W aℎr scℎeinlicℎkeit Ergebnis i K ontrolle, Situation × W ert Ergebnis i − K osten K ontrolle Der erwartete Wert von Kontrolle auf der linken Seite der Gleichung hängt demnach von zwei Dingen ab: der Intensität der Kontrolle, die für eine bestimmte Tätigkeit aus‐ geübt wird, sowie den Gegebenheiten der aktuellen Situation (z. B. Motivation, Schwie‐ rigkeit). Daraus ergibt sich die Wahrscheinlichkeit, mit der bestimmte Ergebnisse erreicht werden. Je mehr Selbstkontrolle Athlet*innen beispielsweise für das Training auf einen Halbmarathon einsetzen, umso wahrscheinlicher wird die anvisierte Zeit als 70 4 Anstrengung, Langeweile, Krisen: Neue Perspektiven und Ansätze zur Selbstkontrolle im Sport <?page no="71"?> ein Ergebnis erreicht. Mit den verschiedenen Ergebnissen einher geht außerdem ein Wert für das Aufbringen von Selbstkontrolle, der mit den Wahrscheinlichkeiten zu Erwartungswerten gewichtet wird. Diese Erwartungswerte werden aufsummiert und anschließend werden die Kosten abgezogen, die für die mit der gewählten Intensität von Selbstkontrolle verbundenen Anstrengungen einhergehen. Die Theorie des erwarteten Werts von Kontrolle kann einen wichtigen Beitrag zum Verständnis situativer Veränderungen der Selbstkontrolle leisten und damit auch zur Beantwortung vielfältiger sportpsychologischer Fragestellungen beitragen (für einen Überblick und Beispiele vgl. Wolff, Hirsch, et al., 2021). Im Folgenden werden wir am Beispiel von Langeweile einen Faktor aufzeigen, der sowohl den Wert einer sportlichen Handlung senken als auch die Kosten der dafür aufzubringenden Selbstkontrolle erhöhen kann. Auf diese Weise löst Langeweile Handlungskrisen aus, deren Bedeutung im Kontext des Sports wir uns anschließend zuwenden. Die folgende Wissensbox zeigt anhand einer exemplarischen Studie die Bedeutung von Langeweile für das Auslösen von Handlungskrisen im Sport. Wissen | Langeweile und Krisen bei Ultramarathonläufer*innen In einer Studie mit Ultramarathonläufer*innen untersuchten Weich et al. (2022) die Faktoren, die zum Erleben von Handlungskrisen führen können. Dazu untersuchten sie 113 Teilnehmende eines 24-Stunden-Laufs, der entweder allein oder im Team bestritten werden konnte. Es zeigte sich, dass Langeweile ein signifikanter Prädiktor von Handlungskrisen war, während weder Schmerz, Anstrengung noch Willens‐ kraft das Auftreten von Handlungskrisen vorhersagen konnten. Zudem zeigten die extremsten Läufer*innen (d. h. solche, die allein oder im Zweierteam am Lauf teilnahmen) eine weniger stark ausgeprägte Neigung zu Langeweile als weniger extreme Läufer*innen (d. h. solche, die in Vierer- oder Sechserteams teilnahmen). Diese Befunde sind ein eindrückliches Beispiel dafür, dass Langeweile selbst bei wettkampforientierten und hoch motivierten Sportler*innen den Wert des Handelns senken bzw. seine Kosten erhöhen und dadurch Handlungskrisen auslösen kann. 4.3 Langeweile im Sport Anekdotische Evidenz legt den Schluss nahe, dass Langeweile eine typische Empfin‐ dung im Sport ist, wie sich beispielsweise an zahlreichen Blogs, Diskussionen und Artikeln zum Umgang mit Langeweile beim Training ablesen lässt (z. B. EllJayEss, 2021; Harvard Health Publishing, 2020; Sweat, 2023). Dieser Eindruck wird gestützt durch eine wachsende Zahl empirischer Studien (für einen Überblick, siehe Bieleke, Wolff, et al., 2024; Wolff, Weich, et al., 2024), die eine zentrale Rolle von Langeweile für die allgemeine körperliche Aktivität (Wolff, Bieleke, et al., 2021) wie auch beim wettkampforientierten Sport aufzeigen (Velasco & Jorda, 2020). 4.3 Langeweile im Sport 71 <?page no="72"?> Unter Langeweile wird ein aversiver Zustand verstanden, der als unbefriedigend wahrgenommen wird und in dem man lieber anderen, lohnenswerteren Tätigkeiten nachgehen würde (Eastwood et al., 2012). Unbefriedigend ist der Zustand, weil die mentalen und körperlichen Fähigkeiten einer Person nicht angemessen zum Einsatz kommen (Pekrun et al., 2010; van Tilburg & Igou, 2012; Wolff et al., 2024). Dies resultiert in einer Abwertung der als langweilig wahrgenommenen Tätigkeit, die sich in einer erhöhten Sensitivität für Belohnungen (Milyavskaya et al., 2019) und einer Präferenz für andere Tätigkeiten äußert (Bench & Lench, 2013, 2019). So kann der Wert eines Trainings im Fitnessstudio zunächst hoch sein, weil es einer Person wichtig erscheint, fit zu werden. Mit der Zeit aber können die Übungen langweilig und monoton werden, wodurch der Wert des Trainings sinkt und man sich lieber anderen Tätigkeiten zuwenden würde, als weiter zu trainieren. Abb. 4-1 | Mit zunehmender Stärke des Kontrollsignals (horizontale Achse) steigt einerseits der erwartete Wert einer Handlung (linke Achse), andererseits steigen auch die damit verbundenen Kosten (rechte Achse). Mehr Selbstkontrolle im Training lässt Sportler*innen beispielsweise ihre Trainingsziele besser erreichen, erfordert aber auch zusätzliche mentale Anstrengung. Aus der Differenz zwischen dem Wert und den Kosten einer bestimmten Kontrollsignalstärke ergibt sich der erwartete Wert der Kontrolle (EWK). Dieser erwartete Wert wird optimiert, indem ein entsprechendes Maß an Selbstkontrolle aufgewendet wird. Bei einem hohen versus niedrigen Level der Langeweile (durchgezogene versus gestrichelte Linien) sinkt der Wert und steigen die Kosten einer gegebenen Kontrollsignalstärke. Dadurch verschiebt sich das Maximum des erwarteten Werts von Kontrolle so, dass das optimale Kontrollsignal abnimmt. Je stärker sich Menschen also langweilen, umso weniger Selbstkontrolle wenden sie auf. Zur Abnahme des Wertes kommen außerdem noch Kosten für die Anstrengung, die für den Umgang mit Langeweile aufgebracht werden müssen. Langeweile kann als 72 4 Anstrengung, Langeweile, Krisen: Neue Perspektiven und Ansätze zur Selbstkontrolle im Sport <?page no="73"?> ermüdender wahrgenommen werden als das Bearbeiten anspruchsvoller kognitiver Aufgaben (Milyavskaya et al., 2019) und in der Folge mit einer reduzierten Sorgfalt bei der Ausübung von Tätigkeiten einhergehen (Bieleke, Barton, et al., 2021). Außerdem wollen Menschen einen langweiligen Zustand ebenso vermeiden oder beenden wie körperlich schmerzhafte oder psychisch belastende Zustände (Bieleke, Ripper, et al., 2022). In einigen Studien waren Menschen sogar dazu bereit, sich zur Bekämpfung ihrer Langeweile selbst unangenehme Stromstöße zuzufügen (Nederkoorn et al., 2016; Wilson et al., 2014). Bezogen auf ein Training im Fitnessstudio bedeutet das, dass die aufkommende Langeweile es mental noch anstrengender macht, die Übungen durchzuführen. Dadurch steigen die Kosten, die mit dem Training einhergehen (siehe Abbildung 4-1). 4.4 Handlungskrisen im Sport Steigen die körperlichen und mentalen Kosten des Zielstrebens an, kann es schlussend‐ lich dazu kommen, dass die Sinnhaftigkeit, die Erreichbarkeit oder der Wert des Ziels an sich in Frage gestellt werden. Dieser Umstand wird in der motivationspsychologischen Forschung mit dem Begriff der Handlungskrise umschrieben (engl. action crisis; Brandstätter & Schüler, 2013). Handlungskrisen zeichnen sich dadurch aus, dass die Fragen nach dem „Warum“ des Zielstrebens und damit verbundene Gedanken zu den Kosten sowie zum Wert des zu erreichenden Ziels erneut in den Fokus der Gedanken geraten. Um zu verstehen, warum dies der Zielerreichung letzten Endes abträglich sein kann, ist es wichtig zu wissen, wie eine erfolgreiche Zielerreichung normalerweise konzeptualisiert werden. Auch wenn eine Unterscheidung teilweise nur implizit geschieht, unterteilen viele Modelle des Zielstrebens den Vorgang in Prozesse der Motivation und Prozesse der Volition. In der Mindsettheorie der Handlungsphasen (Gollwitzer, 2012; Keller et al., 2019) wird das Zielstreben beispielsweise in verschiedene Phasen eingeteilt, die durch unterschiedliche Aufgaben und Herausforderungen geprägt sind, denen die zielstrebende Person mit unterschiedlichen Mindsets begegnet. Bevor man sich ein Ziel gefasst hat oder wenn man in der Rückschau das Zielstreben evaluiert, spielen Fragen der Motivation die Hauptrolle. Es geht um das „Warum“ des Zielstrebens. Es werden die Argumente für und gegen ein Ziel abgewogen bzw. geprüft, ob das Ziel erfolgreich umgesetzt wurde oder Adjustierungen nötig sind. Diese Abwägungen konzentrieren sich oft einerseits auf mögliche Kosten, aber andererseits auch auf den Wert und die Erwünschtheit eines Ziels, wie sie auch in der Theorie des erwarteten Werts von Kontrolle eine Rolle spielen (siehe oben). Um diese Aufgaben effizient und nachhaltig zu meistern, ist ein Fokus auf eine möglichst offene und realistische Informationsverarbeitung nötig. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass dieser Fokus in diesen Phasen gegeben ist (Büttner et al., 2014; McCrea & Vann, 2018). So würden sich Hobbyläufer*innen in diesen Phasen üblicherweise überlegen, welche Argumente für das Halbmarathontraining sprechen (z. B. Spaß, Fitness, Heraus‐ forderung) und welche dagegen (z. B. Anstrengung, Zeitaufwand, Verletzungsgefahr). 4.4 Handlungskrisen im Sport 73 <?page no="74"?> Dem gegenüber stehen die handlungsorientierten, volitionalen Phasen, in denen zielgerichtete Handlungen geplant und ausgeführt werden. In diesen volitionalen Phasen geht es um das „Wie“ des Zielstrebens. Es wird erörtert, welche Schritte notwendig sind und wie der Prozess zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden kann. Es geht mehr um das Nutzen von Gelegenheiten sowie das Widerstehen von Versuchungen, die eine Person vom Ziel abbringen könnten. Auch hier konnten Stu‐ dien zeigen, dass Personen in diesen Phasen fokussierter auf ihr Ziel sind (Doerflinger & Gollwitzer, 2020; Taylor & Gollwitzer, 1995) und einen gewissen Optimismus an den Tag legen (Gollwitzer & Kinney, 1989; Keller & Gollwitzer, 2017; Puca, 2001). Dieser Fokus auf das zu erreichende Ziel und eine optimistische Grundhaltung führen dazu, dass das Ziel auch bei Widerständen nicht aufgegeben wird, und ermöglichen das Überwinden von Hindernissen. Im Hinblick auf den Einsatz von Selbstkontrolle motiviert der positive Ausblick auf die Zielerreichung das Individuum dazu, die notwendigen Schritte zu tun. So würden sich Sportler*innen in der Vorbereitung auf einen Halbmarathon überlegen, wie sie ihr Training optimal umsetzen (z. B. Trainingspläne, Ausrüstung, Teams) und auf Widrigkeiten reagieren können (z. B. Zeitmangel, schlechtes Wetter, Unlust). Das generelle Ziel, einen Halbmarathon zu bestreiten, wird jedoch nicht in Frage gestellt. Doch nicht immer ist dieser Prozess so reibungsfrei. Unvorhergesehene externale oder internale Ereignisse können dazu führen, dass ein bereits eingeschlagener Pfad nun unmöglich oder ungünstig erscheint. Das könnten im Bereich des Sports geringe Trainingsfortschritte und Verletzungen sein, oder auch das Einsetzen von Langeweile (Bieleke, Wolff, et al., 2022). Genauso können Ablenkungen und Versuchungen dazu führen, dass man das Ziel aus den Augen verliert und inaktiv wird (Mayer & Freund, 2022). Im Laufe des Trainings können sich deshalb die damit einhergehenden Bewer‐ tungsprozesse ändern, wenn das Training beispielsweise weniger Spaß macht als ursprünglich gedacht oder mit einem höheren Zeitaufwand einhergeht als anfänglich vermutet. Ist der „Schock” zu groß und gerät das Zielstreben zu sehr aus der Bahn, kann das zu einer Re-Evaluierung des gesetzten Ziels führen und mündet damit in einer Handlungskrise. Die Gründe, der Nutzen, die Hindernisse sowie die Kosten werden nun neu betrachtet und führen zu einem erneuten Erörtern der motivationalen Fragestellungen innerhalb der volitionalen Phasen der Zielausführung. Übertragen auf das Modell des erwarteten Werts von Kontrolle spiegeln Handlungs‐ krisen einen Zustand wider, in dem die Bereitschaft zum Aufbringen von Selbstkon‐ trolle auf ein niedrigeres Niveau absinkt. Dies kann aus einer negativeren Bewertung resultieren, wenn beispielsweise eine sportliche Aktivität nicht so viel Spaß macht wie ursprünglich angenommen oder aber mit der Aktivität höhere Kosten einhergehen als zunächst vermutet. Wie auch im Fall von Langeweile resultiert daraus eine geringere situationale Selbstkontrolle, die im Abbruch der Aktivität resultieren kann. In unserem Beispiel würde das Ziel Halbmarathon in Frage stehen und eventuell aufgegeben werden. 74 4 Anstrengung, Langeweile, Krisen: Neue Perspektiven und Ansätze zur Selbstkontrolle im Sport <?page no="75"?> 4.5 Zusammenfassung Woran scheitert das Erreichen von Zielen? Ein Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt im Konzept der Selbstkontrolle, dem sich in der sportpsychologischen Forschung verschiedene Theorien und Modelle widmen. In diesem Kapitel haben wir einige Ansätze vorgestellt und sind insbesondere auf solche eingegangen, die Selbstkontrolle als eine Kosten-Nutzen-Abwägung konzeptualisieren. So erlaubt die Theorie des erwarteten Werts von Kontrolle eine formalisierte Analyse der Faktoren, die dem situationalen Aufbringen von Selbstkontrolle zugrunde liegen. Wir haben am Beispiel von Langeweile und Handlungskrisen solche Faktoren im Sport und ihre Folgen für das Ausüben sportlicher Aktivitäten exemplarisch beleuchtet. Es bleibt die Frage, wie Menschen effektiv mit Langeweile und Handlungskrisen im Sport umgehen können und welche Strategien bei der Aufrechterhaltung ihrer Selbstkontrolle helfen. Im Umgang mit Langeweile bietet es sich an, insbesondere auf eine Erhöhung des Wertes der sportlichen Aktivität abzuzielen (Martarelli et al., 2023). So leiten Green-Demers et al. (1998) verschiedene Strategien zum Umgang mit sportbezogener Langeweile ab, mit denen sich ein abwechslungsreiches Training mit angemessenen Herausforderungen und einer klaren Bedeutung gestalten lässt. Solche Strategien eignen sich nicht nur für Hobbyathlet*innen, sondern sind auch zum Umgang mit der auf professionellem Niveau auftretenden Langeweile empfehlenswert (Velasco & Jorda, 2020). Gelingt der Umgang mit Langeweile, fällt bereits ein wichtiger Faktor für Hand‐ lungskrisen weg (Weich et al., 2022). Komplementär zum Wert der sportlichen Aktivität bietet sich gemäß der Theorie des erwarteten Werts von Kontrolle ebenfalls an, die mit der Aktivität verbundenen Kosten zu reduzieren. Das kann beispielsweise durch das Senken der Selbstkontrollanforderungen geschehen. Beispielsweise könnte man sich die Trainingskleidung für den nächsten Tag bereits am Abend zuvor zurechtlegen oder die Aufmerksamkeit auf angenehme Aspekte des Trainings richten. Eingebettet werden kann das in Wenn-Dann Pläne (Bieleke, Keller, et al., 2021; Gollwitzer, 1999), für die potenzielle Hindernisse und günstige Gelegenheiten identifiziert und mit einer zielgerichteten Handlung mental verknüpft werden (z. B. „Wenn ich abends nach Hause komme, dann lege ich mir die Trainingskleidung für den nächsten Tag bereit.“). Der günstige Effekt solcher Pläne für körperliche Aktivität ist bereits gut belegt (Bélanger- Gravel et al., 2013) und auch die Effekte auf sportliche Leistung werden aktuell untersucht und sind vielversprechend (Bieleke, Wolff, et al., 2021). Frage an die Praxis � „Sie arbeiten neben Ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin frei‐ beruflich als angewandte Sportpsychologin. Wie beurteilen Sie die Rolle der Selbstkontrolle im Sport? Trainieren Sie mit Ihren Sportler*innen Selbstkontrolle? ” 4.5 Zusammenfassung 75 <?page no="76"?> → „Im Rahmen meiner Tätigkeit als angewandte Sportpsychologin berichten mir Athlet*innen häufig, dass sie sich während eines Wettkampfs oder während des Trainings nicht ausreichend konzentrieren oder ihre Emotionen nur schwer regulieren können. Die Doppelbelastung aus Leistungssport und beruflicher Aus‐ bildung und die damit einhergehenden Zielkonflikte werden häufig als Ursache solcher Selbstkontrolleinbußen berichtet. Ich erarbeite mit den Sportler*innen in solchen Fällen i. d. R. zunächst realistische Zeitpläne, um etwaige Selbstkon‐ trollkonflikte zu antizipieren und vorzubeugen. Darüber hinaus gebe ich den Sportler*innen konkrete Hinweise, wie sie ihre Konzentrationsfähigkeit während eines Wettkampfs steigern können (z.-B. positive Selbstgespräche).“ Literatur Ainslie, G. (2021). Willpower with and without effort. Behavioral and Brain Sciences, 44, e30. ht tps: / / doi.org/ 10.1017/ S0140525X20000357 Baumeister, R. F., Bratslavsky, E., Muraven, M., & Tice, D. M. (1998). Ego depletion: Is the active self a limited resource? Journal of Personality and Social Psychology, 74(5), 1252-1265. https: / / doi.org/ 10.1037/ 0022-3514.74.5.1252 Baumeister, R. F., & Heatherton, T. F. (1996). Self-regulation failure: An overview. 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Darüber hinaus deuten sie an, dass Menschen das NVV von Athlet*innen nutzen, um deren sportliche Leistungsfähigkeit zu beurteilen. Theoretisch können diese Befunde durch evolutionäre Ansätze zum nonverbalen Ausdruck sowie durch Prozesse der sozialen Eindrucksbildung erklärt werden. Die Forschung zum NVV im Sport zeichnet sich durch eine Vielfalt methodischer Zugänge aus. Insbesondere kommen verschiedene Methoden der Verhaltensbeobachtung zum Einsatz. Im vorliegenden Kapitel werden zentrale theoretische Grundlagen sowohl zum Ausdruck als auch zur Rezeption von NVV dargestellt. Darauf aufbauend werden exemplarische Befunde aus der Forschung zu NVV im Sport präsentiert. Im Rahmen der vorliegenden Studien werden unterschiedliche forschungsmethodische Zugänge vorgestellt und hinsichtlich ihrer jeweiligen Stärken und Schwächen diskutiert. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1299. Lernziele ■ Die Leser*innen kennen grundlegende theoretische Ansätze zum Ausdruck von Emotionen sowie zum Ausdruck von Status mittels NVV. ■ Die Leser*innen können die Relevanz von NVV im Sport anhand ausgewählter empirischer Befunde darstellen. ■ Die Leser*innen können das methodische Vorgehen bei der Untersuchung von NVV erklären und kritisch reflektieren. „Die Mannschaft muss jetzt mit breiter Brust aus der Kabine kommen“, „Man sieht an der Körpersprache, dass sie aufgegeben hat“, „Die Körpersprache muss Thema der Halbzeitansprache sein“, „Es fehlt jemand, der mit breiter Brust voran geht“ und auch das altbekannte „So sehen Sieger aus“ sind Beispiele für typische Aussagen in Sportübertragungen über das nonverbale Verhalten (NVV) von Athlet*innen. In der Welt des Sports herrscht häufig die Meinung vor, dass NVV und sportliche Leistung zusammenhängen, und sogar, dass das NVV gezielt eingesetzt werden kann, um die <?page no="84"?> sportliche Leistung positiv zu beeinflussen. Was aber sagt die sportpsychologische Forschung zur Rolle von NVV? Im vorliegenden Kapitel werden zentrale theoretische Grundlagen zum Thema NVV im Sport dargestellt. Auf diesen aufbauend werden exemplarische Befunde aus der Forschung zur Körpersprache im Sport präsentiert. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf dem Zusammenhang zwischen NVV und sportlicher Leistung. Darüber hinaus werden unterschiedliche forschungsmethodische Zugänge vorgestellt und hinsichtlich ihrer jeweiligen Stärken und Schwächen diskutiert. 5.1 Theoretischer Hintergrund Die Begriffe Körpersprache, nonverbales Verhalten und nonverbale Kommunikation werden (auch in der wissenschaftlichen Literatur) häufig synonym verwendet. Genau genommen haben sie aber zumindest teilweise unterschiedliche Bedeutungen (Furley, 2021; Patterson et al., 2023; Wiener et al., 1972). Deshalb sollen im Folgenden die Gemeinsam‐ keiten und Unterschiede der verschiedenen Begrifflichkeiten herausgearbeitet werden. Der Begriff nonverbales Verhalten (NVV) bezeichnet jegliches (wahrnehmbare) Verhalten, das nicht aus Worten besteht (Furley, 2021; Wiener, 1972). Zum NVV gehören also Bewegungen, Mimik, Gestik und Körperhaltung, aber auch die Stimme, die Tonhöhe, nichtwörtliche stimmliche Äußerungen (zum Beispiel schreien oder weinen) und manchen Autor*innen zufolge sogar der Geruch. Körpersprache bezieht sich folglich auf diejenigen nonverbalen Verhaltensweisen, die mittels des Körpers zum Ausdruck gebracht werden (Patterson et al., 2023). In der Regel versteht man unter Körpersprache also die Haltung (z. B. stehe ich aufrecht oder gebeugt), die Mimik (z. B. lache ich oder schaue ich ängstlich) und die Gestik (z. B. breite ich die Arme aus oder verschließe ich sie), nicht aber z. B. Stimme, Tonhöhe oder Geruch. Aus dieser Perspektive könnte man annehmen, Körpersprache sei eine Unterkategorie von NVV. Ganz so einfach ist es aber nicht: Linguistisch gesehen müssen verschiedene Kriterien erfüllt sein, um den Begriff Sprache zu verwenden. So verfügt eine Sprache beispielsweise über ein Vokabular und eine Syntax (Patterson et al., 2023). Da zweifelhaft ist, ob Körpersprache diese Kriterien erfüllt, ist der Begriff im Sinne einer linguistischen Definition von Sprache problematisch und sollte verschiedenen Autor*innen zufolge nicht verwendet werden (Patterson et al., 2023). Kommunikationstheoretisch versteht man unter Kommunikation die Übertragung von Information von einem*einer Sender*in zu einem*einer Empfänger*in (Patterson et al., 2023). NVV kann jedoch gezeigt werden, ohne dass ein Austausch von Informa‐ tionen stattfindet, bzw. sogar, ohne einen Austausch von Informationen zum Ziel zu haben. Nonverbale Kommunikation ist also kein Synonym für NVV, sondern impliziert eine bestimmte Perspektive auf dieses, nämlich NVV als Mittel zum Austausch von Informationen (Wiener, 1972). NVV ist somit der neutralste und umfassendste der drei Begriffe: Er schließt keine potenziell relevanten Verhaltensweisen aus („Körper“), macht keine weitgehenden und 84 5 Nonverbales Verhalten im Sport <?page no="85"?> möglicherweise kontroversen Annahmen zur Struktur des Phänomens („Sprache“) und impliziert keine bestimmte theoretische Perspektive („Kommunikation“). Im vorliegenden Kapitel wird es zwar hauptsächlich um Verhaltensweisen gehen, die mittels des Gesichtes und Körpers gezeigt werden, und die daher oft als Körpersprache bezeichnet werden. Aus den genannten Gründen verwenden wir jedoch im Folgenden die Begrifflichkeit nonverbales Verhalten (NVV). NVV kann (mehr oder weniger) absichtlich gezeigt werden, es kann als Teil einer emotionalen Reaktion erfolgen oder den Status einer Person in einer Gruppe widerspiegeln (Furley & Schweizer, 2020; Matsumoto et al., 2013; Patterson et al., 2023). Zum eher absicht‐ lich gezeigten NVV gehören zum Beispiel Signale an die Mitspieler*innen, Handzeichen von Schiedsrichter*innen oder High Fives nach einem Tor (Furley & Schweizer, 2020). Zum eher unabsichtlich gezeigten NVV können zum Beispiel das Hängenlassen des Kopfes nach einem Gegentor, das Aufreißen der Augen bei einer Überraschung oder das Vermeiden von Augenkontakt als Folge von Unsicherheit gehören. In vielen Situationen (aber nicht immer) können andere Menschen unser NVV interpretieren und somit Rückschlüsse auf aktuell erlebte Emotionen, internale Zustände und soziale Gefüge ziehen (Fritsch et al., 2023a; Fritsch et al., 2023b; Furley & Schweizer, 2020; Matsumoto et al., 2013; Patterson et al., 2023). Psychologische Theorien versuchen einerseits zu erklären, welche Ursachen NVV hat und wie es entsteht. Andererseits versuchen sie zu erklären, wie andere Menschen unser NVV verstehen und darauf reagieren können. Da es in der sportpsychologischen Forschung häufig um NVV als Ausdruck von Emotionen und als Ausdruck von Status geht (Furley, 2021; Furley & Schweizer, 2020), konzentrieren wir uns im Folgenden ebenfalls auf diese beiden Aspekte von NVV. Theorien zum Ursprung von NVV als Ausdruck von Emotionen sowie als Ausdruck von Status bedienen sich häufig evolutionstheoretischer Überlegungen (Furley, 2019; Furley & Schweizer, 2020; Shariff & Tracy, 2011). Sie nehmen an, dass das entsprechende NVV in der evolutionären Geschichte der Menschen wie auch in der Tierwelt einen Selektionsvorteil mit sich brachte. Das bedeutet, Tiere, die diese Verhaltensweisen zeigten, hatten eine höhere Wahrscheinlichkeit zu überleben und sich erfolgreich fortzupflanzen. Dadurch wurden Gene, die mit dem entsprechenden NVV zusam‐ menhingen, mit erhöhter Wahrscheinlichkeit weitergegeben, wodurch die mit ihnen assoziierten Verhaltensweisen ebenfalls häufiger gezeigt wurden. 5.1.1 Nonverbales Verhalten als Ausdruck von Emotionen Stellen wir uns ein Kind vor, das von seiner Tante ein Geburtstagsgeschenk überreicht bekommt. Als es das Geschenk sieht, werden seine Augen groß, die Mundwinkel ziehen sich nach oben und es rennt aufgeregt auf das Geschenk zu. Alle Gäste erkennen sofort: Das Kind freut sich auf das Geschenk. Als das Kind sein Geschenk ausgepackt hat, ziehen sich seine Mundwinkel nach unten, Tränen erscheinen in seinen Augen und es versteckt sich hinter seinem Vater. Jetzt merken die Gäste: Das Kind ist traurig, weil 5.1 Theoretischer Hintergrund 85 <?page no="86"?> es sich auf ein anderes Geschenk gefreut hatte. Warum werden Emotionen nonverbal ausgedrückt und warum können andere Menschen sie interpretieren? Bereits in seinem berühmten Werk The expression of emotion in man and animals (1872/ 1998) beschrieb Darwin die grundlegende Idee, dass sich der emotionale Aus‐ druck im Laufe der Evolution entwickelte. Davon ausgehend wurde die Annahme entwickelt, dass emotionale Ausdrücke entstanden, weil sie im Kontext der jeweiligen Emotion funktional waren und in einem nächsten Schritt ihre kommunikative Funk‐ tion erhielten (Keltner et al., 2019; Shariff & Tracy, 2011). Diese Annahme lässt sich gut anhand der Emotion Ekel darstellen: Eine wesentliche Funktion von Ekel ist es, vermutlich zu verhindern, dass Krankheitserreger in den Körper eintreten können. Deshalb pressen wir die Lippen zusammen und kneifen die Augen zu, wenn wir uns ekeln. Andere Menschen erkennen anhand dieser Verhaltensweisen, dass wir uns ekeln und können sich von der Quelle des Ekels fernhalten. Je prägnanter und je eindeutiger ein emotionaler Ausdruck ist, umso besser kann er von anderen Menschen interpretiert werden, womit wiederum verschiedene Vorteile verbunden sind: In dem obigen Beispiel können die Beobachter*innen sich von der Quelle des Ekels fernhalten, ohne sich selbst den Krankheitserregern aussetzen zu müssen. Allgemeiner formuliert, erlaubt die Erkennung von Emotionen unter anderem, von den Erfahrungen anderer zu profitieren, ohne sie selbst machen zu müssen. Daher wurden die emotionalen Aus‐ drücke dieser Annahme nach im Laufe der Zeit immer deutlicher gezeigt und erhielten ihre kommunikative Funktion (Keltner et al., 2019; Shariff & Tracy, 2011). Emotionale Ausdrücke in ihrer heutigen Ausprägung entstanden dieser Theorie zufolge also im Laufe der Evolution, weil sie aus verschiedenen Gründen förderlich für das Überleben und die Fortpflanzung bzw. allgemeiner gesagt für die Weitergabe von Genen waren. Gleiches gilt für die Fähigkeit, die emotionalen Ausdrücke akkurat zu interpretieren. Aus den oben dargestellten Überlegungen wurde abgeleitet, dass es sogenannte Basisemotionen gebe (Ekman et al., 1969; Ekman & Cordaro, 2011; Keltner et al., 2019). Diese Emotionen sollten universal, also weitestgehend kulturunabhängig vorkommen, ausgedrückt und somit auch verstanden werden können. Neuere Forschung legt jedoch nahe, dass Emotionen nicht so universal und kulturunabhängig ausgedrückt und interpretiert werden können, wie es lange Zeit in der Forschung zu Basisemotionen angenommen wurde (für einen Überblick siehe Patterson et al., 2023). In der sogenann‐ ten verhaltensökologischen Perspektive auf den menschlichen Gesichtsausdruck (engl. behavioral ecological view of human facial expressions) werden Gesichtsausdrücke daher nicht als eindeutige Ausdrücke einer zugrunde liegenden Emotion, sondern vielmehr als Anzeichen von Absichten verstanden sowie als Mittel, um andere Menschen zu beeinflussen (Crivelli & Fridlund, 2019; Patterson et al., 2023). Oder anders ausgedrückt, nimmt diese theoretische Perspektive an, dass NVV eher Informationen liefert, wie sich andere Personen verhalten werden als wie diese Personen sich gerade fühlen. Aus der Perspektive der Basisemotionen erlebt das Geburtstagskind im obigen Beispiel die Emotionen Freude und Trauer und zeigt die entsprechenden Gesichtsausdrücke. Sowohl die Zurschaustellung der Gesichtsausdrücke als auch die Fähigkeit zu ihrer 86 5 Nonverbales Verhalten im Sport <?page no="87"?> Interpretation werden als weitestgehend angeboren verstanden. Aus der verhaltens‐ ökologischen Perspektive signalisiert das Kind zunächst seiner Tante, dass es das Geschenk wirklich bekommen möchte. Danach signalisiert es seinem Vater, dass es getröstet werden möchte (und vielleicht als Entschädigung ein anderes Geschenk haben will). Die entsprechenden Gesichtsausdrücke sowie die Reaktionen darauf stellen ein Gemeinschaftsprodukt von evolutionären und kulturellen Mechanismen dar und können somit zwischen Individuen, Kulturen und Situationen variieren (Crivelli & Fridlund, 2019; Patterson et al., 2023). 5.1.2 Nonverbales Verhalten als Ausdruck von Status Wenn wir einen Raum betreten, können wir oftmals schnell erfassen, welchen Status die in diesem Raum anwesenden Personen haben (Desmichel & Rucker, 2022). Beispiel | NVV in Bürosituation Stellen wir uns vor, Sie kommen in ein Büro, in dem zwei Personen sitzen und sich unterhalten. Die eine Person sitzt zurückgelehnt, hat die Arme hinter dem Kopf verschränkt und den Knöchel des einen Fußes auf das andere Knie gelegt. Die andere Person hat die Füße eng nebeneinanderstehen, die Arme am Körper angelegt und die Hände im Schoß gefaltet. Welche der beiden Personen ist wohl Professor*in, welche Student*in? Wenn Sie darauf tippen, dass die erste Person Professor*in ist, dann liegen Sie sicher nicht immer, aber wohl doch meistens richtig. Individuen kommunizieren ihren Status (bzw. ihre Position in einer hierarchisch organisierten Gruppe) oftmals durch ihr NVV. Andere Individuen sind häufig dazu in der Lage, das gezeigte NVV zu interpretieren und dadurch Rückschlüsse auf den jeweiligen Status zu ziehen (Hall et al., 2005). Status wird unter anderem durch NVV ausgedrückt, das man entlang der Dimensionen Dominanz und Submission beschreiben bzw. unterscheiden kann (Hall et al., 2005). Dominante Verhaltensweisen sind raumeinnehmend und lassen die betreffende Per‐ son größer erscheinen: Zu ihnen gehören beispielsweise ein aufrechter Kopf, ein gerader Rücken, in die Hüfte gestemmte Arme sowie breite Beine (Hall et al., 2005; de Waal, 1998). Sie signalisieren sozusagen „Ich bin so mächtig, dass mir all dieser Raum zusteht“. Im Gegenzug dazu sind submissive Verhaltensweisen weniger raumeinnehmend und machen die betreffende Person kleiner: Zu ihnen gehören ein gesenkter Kopf, ein gekrümmter Rücken und an den Körper gezogene oder vor dem Körper zusammengelegte Arme. Menschen können auch eine Mischung aus dominanten und submissiven Verhal‐ tensweisen zeigen. Ein Beispiel dafür ist Trotz: Hierbei wird zum Beispiel der Rücken gekrümmt, aber die Arme werden in die Hüften gestemmt. 5.1 Theoretischer Hintergrund 87 <?page no="88"?> Ebenso wie das Auftreten emotionaler Ausdrücke kann das Auftreten dominanter und submissiver Verhaltensweisen evolutionär erklärt werden (de Waal, 1986, 1998). Wenn bei einem Kampf zwischen zwei Tieren das schwächere Tier seine Unter‐ legenheit signalisiert, dann kann es dadurch unter Umständen den Kampf beenden und schwerere Verletzungen oder Tod vermeiden. Das überlegene Tier wiederum signali‐ siert, dass mit ihm zu rechnen ist und kann dadurch potenzielle Gegner abschrecken. Ebenso können Individuen, die in einer hierarchisch organisierten Gruppe dauerhaft eine bestimmte Position einnehmen (z. B. eher statushoch oder eher statusniedrig), diese durch ihr NVV kommunizieren und dadurch Konflikte vermeiden (de Waal, 1986, 1998). Sowohl die Darbietung als auch die Fähigkeit zur Interpretation des statusbezogenen NVV bieten dieser Denkweise zufolge sowohl durch die Prozesse der natürlichen als auch der sexuellen Selektion einen evolutionären Vorteil. Auch für statusbezogenes NVV gilt vermutlich, dass man eine konkrete Verhaltensweise am besten als gemeinsames Produkt evolutionärer und kultureller Prozesse versteht: Die Kommunikation von Status mag sich als Resultat der beschriebenen evolutionären Mechanismen entwickelt haben, aber deshalb ist es noch lange nicht angeboren, in einem Gespräch mit Student*innen die Füße auf den Tisch zu legen. Man könnte sich geradezu vorstellen, dass der*die Professor*in solch ein Verhalten zeigt, um Machtverhältnisse zu verdeutlichen. Schon seit einigen Jahrzehnten wird von der Möglichkeit der bewussten Steuerung von NVV ausgegangen, um einen bestimmten Eindruck zu schaffen (Goffman, 1959). Die Kontrolle des eigenen NVV liegt vermutlich auf einem Kontinuum. Durch das Wissen, wie sich Emotionen und Status ausdrücken, können sich Personen vornehmen, bestimmtes NVV zu zeigen. Jedoch gelingt nicht jeder Versuch der Regulation des eigenen NVV (DePaulo, 1992). 5.2 Ausgewählte empirische Befunde zu nonverbalem Verhalten im Kontext Sport Ebenso wie im Alltag werden im Sport, insbesondere im sportlichen Wettkampf, Emotionen und Status zum Ausdruck gebracht (z. B. Tracy & Matsumoto, 2008). Ist der Weltmeistertitel geholt, liegen sich die Mitglieder einer Mannschaft in den Armen und reißen den Pokal in die Höhe. Man blickt in strahlende Gesichter. Scheidet ein Team im Gegensatz dazu bereits in der Vorrunde aus, vielleicht unerwartet, laufen die Mitglieder mit hängenden Schultern in unterschiedliche Richtungen. Insgesamt zeigt sich nach Erfolgen anderes NVV als nach Misserfolgen, z. B. werden nach erfolgreichen Hand‐ lungen Fäuste als Ausdruck von Stolz in die Höhe gehoben und Teammitglieder geben sich High Fives (Moesch et al., 2015). Ebenso kann vor einer sportlichen Handlung (z. B. Elfmeterschießen) die*der eine Sportler*in raumeinnehmend und selbstbewusst auf den Platz treten, während ein*e andere*r Sportler*in weniger Raum einnimmt und unsicher auf den Platz tritt (Bijlstra et al., 2020). Wie diese Beispiele zeigen, tritt NVV häufig in Zusammenhang mit sportlicher Leistung auf. Das Verhalten kann nach einem Wettkampf als Reaktion auf die Leistung gezeigt werden (Tracy & Matsumoto, 2008) 88 5 Nonverbales Verhalten im Sport <?page no="89"?> oder vor dem Wettkampf in Bezug auf die antizipierte Leistung (Furley & Memmert, 2021; Furley et al., 2021). Auch im Verlauf des Wettkampfs verändert sich NVV in Zusammenhang mit Leistung (Furley & Schweizer, 2014a; Moesch et al., 2015). Man könnte sich vorstellen, wie Athlet*innen ihre Arme vor Freude in die Luft reißen oder aber ihr Gesicht vor Ärger über den eigenen Fehler im Trikot begraben. Entsprechend dieser Beobachtungen setzen sich viele wissenschaftliche Studien aus den letzten Jahrzehnten mit dem Zusammenhang zwischen NVV und sportlicher Leistung auseinander (Furley, 2021; Furley & Schweizer, 2020). Dabei gehen die Autor*innen sowohl auf den Einfluss von sportlicher Leistung auf NVV als auch auf den Einfluss von NVV auf sportliche Leistung ein. Insgesamt besteht eine Vielfalt an Vorgehensweisen, um NVV zu messen und Zusammenhänge zu untersuchen (siehe Furley, 2021 für einen Überblick). In der Gesamtheit der bisher existierenden Forschung lassen sich einige Befunde ableiten. Im Folgenden soll auf Ergebnisse zur Dekodierung von NVV im Sport, zum Unterschied zwischen erfolgreichen und erfolglosen Sport‐ ler*innen, sowie zu dem Einfluss von NVV auf Leistung eingegangen werden. Im Rahmen dessen werden verschiedene Untersuchungsmethoden beschrieben, die in diesem Forschungsfeld häufig eingesetzt werden. 5.2.1 Dekodierung von NVV Der Befund, dass Menschen dazu in der Lage sind, NVV im Sport zu erkennen und einzuordnen gilt als relativ robust (Furley, 2021). Dieser Vorgang des Erkennens und Einordnens wird häufig als Dekodierung bezeichnet. Evolutionär gesehen, bietet eine akkurate Dekodierung verschiedene Vorteile, um zu überleben und sich fortzupflanzen. Heutzutage, im sportlichen Wettkampf, ist es weniger vorteilhaft den Gegner*innen einen „niedrigeren Status“ zu signalisieren und infolgedessen den Wettkampf zu been‐ den. Dennoch genügen wenige sogenannte cues (siehe Wissensbox), um Athlet*innen einzuordnen. Mithilfe des thin slices paradigm wurde in einer Reihe von Untersuchun‐ gen gezeigt, dass Menschen zuverlässig erkennen können, ob Athlet*innen während eines Wettkampfs führen oder zurückliegen (Furley & Schweizer, 2014b). Das thin slices paradigm basiert auf der Annahme, dass Menschen auf Grundlage „dünner“ Informationsausschnitte intuitiv zu einem akkuraten Urteil kommen (Ambady & Rosenthal, 1992). Bei diesem Paradigma werden in der NVV-Forschung im Sport Per‐ sonen wenige Sekunden lange Videosequenzen von Athlet*innen gezeigt. Die Personen sollen dann einschätzen, ob der*die Athlet*in (weit) im Wettkampf führt oder (weit) hinten liegt (z. B. Furley & Schweizer, 2014b). Der Spielstand ist währenddessen nicht zu sehen. So kann überprüft werden, ob es Menschen gelingt, NVV im Sport schnell zu verarbeiten und zu einem intuitiv richtigen Urteil zu kommen. Stimmt die Einschätzung über die Führung mit dem tatsächlichen Spielstand überein, gilt das Urteil als akkurat. Insgesamt scheint die Fähigkeit zur Dekodierung über verschiedene Gruppen hin‐ weg vergleichbar akkurat zu sein. Sowohl Erwachsene als auch Kinder kommen zu einem akkuraten Urteil, ebenso Menschen mit und ohne sportliche Erfahrung in dem 5.2 Ausgewählte empirische Befunde zu nonverbalem Verhalten im Kontext Sport 89 <?page no="90"?> beobachteten Sport (Furley & Schweizer, 2014b). In Bezug auf Triumph gibt es sogar Hinweise auf interkulturelle Gemeinsamkeiten. Triumphierende Athlet*innen wurden sowohl von Amerikaner*innen als auch von Südkoreaner*innen als solche erkannt (Matsumoto & Hwang, 2012). Dennoch gibt es kleine interindividuelle Unterschiede zwischen Menschen, die einen mehr oder weniger empfänglich für bestimmte Ver‐ haltensweisen machen. Beispielsweise konnten Furley und Kollegen (2019) zeigen, dass Personen mit einem ausgeprägten impliziten Machtmotiv empfänglicher für submissive cues waren, allerdings nicht für dominante cues. Wissen | Cues Cues sind Hinweise, aus denen sich ein Urteil über ein Objekt oder eine Situation zusammensetzt. Der Begriff taucht häufig mit dem von Egon Brunswik entwickel‐ ten Linsenmodell auf (Brunswik, 1943). Dieses beruht auf der Annahme, dass viele Eigenschaften nicht unmittelbar zugänglich sind. Anhand eines Beispiels ausgedrückt, Dominanz oder Submission sind nicht direkt wahrnehmbar, aber eine dominante oder submissive Person liefert Hinweise dafür. Um zu dem Urteil „Die Person ist dominant“ zu kommen, muss ein*e Beobachter*in die entsprechenden Hinweise wahrnehmen und verarbeiten. Er*sie schaut durch eine metaphorische Linse. Dabei können die cues unterschiedlich repräsentativ für das Urteilsobjekt sein oder auch in Konflikt zueinanderstehen. In Bezug auf die NVV-Forschung im Bereich des Sports könnte von Interesse sein, wie es zu einem Urteil kommt. In anderen Worten, welche cues nutzen Sportler*in‐ nen, um zu ihrem Urteil zu kommen? Furley und Schweizer (2014a) untersuchten, ob Beobachter*innen nur anhand des Körpers oder nur anhand der Gesichtszüge zu einem akkuraten Urteil über den vermutlichen Spielstand kommen können. Sie konnten zeigen, dass sowohl körperbezogene cues als auch gesichtsbezogene cues zu einer akkuraten Einschätzung über die Führung Aufschluss geben. 5.2.2 Unterschiede zwischen erfolgreichen und erfolglosen Sportler*innen Die bereits beschriebenen Untersuchungen weisen nicht nur auf die allgemein verbrei‐ tete Fähigkeit zur Dekodierung von NVV hin, sondern ebenfalls darauf, dass sich das NVV von Athlet*innen in Abhängigkeit ihres aktuellen Erfolges verändert. Bei den bereits beschriebenen Untersuchungen handelt es sich größtenteils um evaluatives Dekodieren. Bei dieser Form des Dekodierens entscheiden Personen spontan, ob Ath‐ let*innen führen oder hinten liegen, dominant oder submissiv sind oder selbstbewusst oder unsicher auftreten. Um konkrete Verhaltensweisen zu benennen, die mit Erfolg bzw. Misserfolg einhergehen, wird häufig deskriptives Dekodieren genutzt. Bei dieser Form des Dekodierens werden konkrete Verhaltensweisen explizit beschrieben. Beim evaluativen Dekodieren erfolgt hingegen eine Interpretation. 90 5 Nonverbales Verhalten im Sport <?page no="91"?> In der bereits erwähnten Studie zu triumphierenden Gesten wurde nicht nur evaluativ dekodiert, sondern es wurde NVV identifiziert, welches mit Triumph ein‐ hergeht. Hierbei unterscheidet sich Triumph von anderen Ausdrücken durch vom Torso entfernte und über die Schultern gehobene Arme, dem Ballen einer Faust und durch schlagende Bewegungen (Matsumoto & Hwang, 2012). Dabei wird davon ausgegangen, dass es sich bei bestimmten Ausdrücken, die mit Erfolg bzw. Misserfolg einhergehen, nicht um erlernte, sondern (größtenteils) angeborene Verhaltensweisen handelt. Vergleicht man Sehende, Personen mit erworbener Blindheit und Personen mit angeborener Blindheit, zeigen sich ähnliche Ausdrücke von Stolz und Scham in Abhängigkeit des individuellen Erfolgs (Tracy & Matsumoto, 2008). In einigen Studien werden für die objektivere Messung von NVV Kodierungssys‐ teme genutzt. Dabei kann man zwischen unspezifischen und sportartspezifischen Kodierungssystemen unterscheiden. Ein unspezifisches, vielfältig angewendetes Ko‐ dierungssystem ist das Facial Action Coding System (FACS; siehe Wissensbox) aus der Emotionsforschung (Ekman & Friesen, 1978). Solche Kodierungssysteme funktionieren i. d. R. so, dass bestimmte Verhaltensweisen vorab definiert werden und diese von geschulten Beobachter*innen gezählt werden. Anders als beim evaluativen Dekodieren wird also kein Urteil über beispielsweise Dominanz und Submission abgegeben, sondern darüber, ob bzw. wie häufig ein bestimmtes Verhalten gezeigt wurde (z. B., ob die Arme über die Schultern gehoben werden). Mit einem handballspezifischen Kodierungssystem (Post shot behavior-gesture und Post shot behavior-touch; PSB-G und PSB-T; Moesch, Kenttä, & Mattsson, 2015) konnten Moesch et al. (2015) zeigen, dass Handballer*innen nach einem Tor Fäuste in die Luft hoben und sich High Fives gaben. Außerdem fanden sie mehr Ausdrücke von NVV in wichtigen Spielen und wenn das Team hoch führte. Für den Fußball, im Speziellen für das Elfmeterschießen, wurde ebenfalls ein Kodierungssystem entwickelt (Nonverbal Behavior Coding System for Soc‐ cer Penalties; NBCSP; Furley & Roth, 2021). Mithilfe dieses Kodierungssystems konnten bereits vor einem Elfmeterschuss Unterschiede des NVV zwischen erfolgreichen und verfehlten Schüssen herausgestellt werden. Zum Beispiel schauen erfolgreiche Tor‐ schützen in Vorbereitung auf ihren Schuss länger zum*zur Torhüter*in und erfolglose Torschützen schauen länger von dem*der Torhüter*in weg (Furley & Roth, 2021). Wissen | Facial Action Coding System Das Facial Action Coding System (FACS) wurde 1978 von Ekman und Friesen entwickelt, um Emotionen anhand der Gesichtsmuskeln zu identifizieren. Es wird in der psychologischen Forschung zu Emotionen und NVV genutzt. Das Verfahren basiert auf der Annahme, dass bestimmte Emotionen mit bestimmten Gesichtsausdrücken einhergehen und sich die Gesichtsmuskeln der jeweiligen Emotion entsprechend bewegen. Bei Zorn werden z. B. Lippen zusammengepresst, Augenbrauen zusammengekniffen und Augenlider verengt. Bei z. B. Überraschung hingegen sind die Augen weit geöffnet, Augenbrauen hochgezogen und Lippen 5.2 Ausgewählte empirische Befunde zu nonverbalem Verhalten im Kontext Sport 91 <?page no="92"?> gespitzt. Geschulte Beobachter*innen können so anhand des Systems erkennen, um welche Emotion es sich bei welchen Bewegungen der Gesichtsmuskeln handelt. 5.2.3 Einfluss von NVV auf die sportliche Leistung Während die bislang aufgeführten Studien bereits das Interesse am Zusammenhang zu Leistung aufzeigen, interessiert die meisten Sportpsycholog*innen vermutlich explizit die Auswirkung von NVV auf sportliche Leistung. Dabei wird häufig von vermittelnden Faktoren zwischen NVV und sportlicher Leistung ausgegangen. So wirkt sich bei‐ spielsweise das NVV des*der Gegners*Gegnerin auf das Selbstbewusstsein eines*einer Athlet*in aus, welches wiederum einen Einfluss auf die tatsächliche Leistung haben könnte (Furley & Schweizer, 2014a). Insgesamt besteht im Rahmen der NVV-Forschung eine Tendenz zu korrelativen Studien anstelle von Experimenten. Das führt dazu, dass man dabei nicht von Kau‐ salität („NVV beeinflusst Leistung“) ausgehen kann. Um trotz dessen Hinweise auf Kausalität ableiten zu können, versuchen Forschende häufig die zeitliche Komponente zu berücksichtigen. Das bedeutet, das beobachtete NVV soll vor der beobachteten Leistung erfolgen. So konnte gezeigt werden, dass sich jubelnde Gesten im Sinne der touch-Komponente (z. B. Abklatschen) auf darauffolgende Leistung positiv auswirkt, zumindest wenn die bis dahin erfolgte Leistung berücksichtigt wird (Moesch et al., 2018). In einer anderen Studie sollten Versuchspersonen in kurzen Videosequenzen Gesichtsausdrücke vor einem Dartwurf beobachten und ein Urteil über die darauffol‐ gende Leistung abgeben (Furley & Memmert, 2021). Hier wird sich ebenfalls zunutze gemacht, dass der Ausdruck explizit vor der Leistung auftritt. Die Autoren konnten zeigen, dass vorher gezeigtes NVV Aufschluss über die nachfolgende Leistung gibt. Seltener wird auf experimentelle Designs zurückgegriffen, die NVV manipulieren. Bei solchen Designs wird Personen vorgegeben, wie sie sich zu verhalten haben. Furley und Kollegen (2012) instruierten Torschützen dazu, entweder dominant oder submissiv aufzutreten. Dabei wurde näher beschrieben, welche Verhaltensweisen eher mit dominantem und welche mit submissivem Auftreten assoziiert sind. Danach sollten Torhüter*innen diese Torschützen beobachten und u. a. einschätzen, wie sicher sie sich seien, den Ball zu halten. Es wurde also nicht die tatsächliche Leistung erfasst, sondern (wie oben erwähnt) ein potenzieller Mediator. Dominantes Auftreten sollte zu weniger Sicherheit bei dem*der Torhüter*in führen und das wiederum zu einer höheren Wahrscheinlichkeit führen, ein Tor zu erzielen. 5.2.4 Evaluation des methodischen Vorgehens Auf Basis der beschriebenen Befunde kann festgehalten werden, dass sich bei der Untersuchung von NVV verschiedener methodischer Vorgehensweisen bedient wird. Das jeweilige Forschungsdesign ist durch die vorherrschende Fragestellung bedingt. 92 5 Nonverbales Verhalten im Sport <?page no="93"?> Insgesamt kann man sagen, dass sich nur durch Vielfalt in der Methodik die Viel‐ seitigkeit des Phänomens abdecken lässt. Nichtsdestotrotz soll zum Abschluss eine kurze Zusammenfassung der hier erwähnten Methoden und deren Vor- und Nachteile erfolgen. Die aufgeführten Methoden erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Beispielsweise hat durch Software automatisiertes Kodieren von NVV bisher keine Erwähnung gefunden. Einen umfangreicheren Überblick und Leitfaden zum methodi‐ schen Vorgehen liefert das Review von Furley (2021). Evaluatives Dekodieren beschreibt das gemittelte, intuitive Urteil einer Gruppe meist ungeschulter Proband*innen über eine beobachtete Person. Es ist leicht, sich vorzustellen, wie Menschen im Alltag ebenso wie im Sport kontinuierlich Urteile fällen. Solche Urteile finden schnell statt und es kommt nicht jedes Mal zu einem bewussten, linear ablaufenden Prozess der Wahrnehmung von Verhalten (z. B. „Die Arme sind weit weg vom Körper“, „Die Brust ist ausgestreckt“, usw.) und der daraus resultierenden Schlussfolgerung. Außerdem scheinen Menschen besonders gut darin zu sein, NVV mit sozialen Funktionen schnell und akkurat zu erkennen (z. B. Status) (Shariff & Tracy, 2011). Deshalb ist die Übertragbarkeit bei Verwendung von evaluativem Kodieren in die reale Welt bzw. insbesondere in den Sport vermutlich hoch. Auf der anderen Seite lässt sich nicht erklären, wie Beobachter*innen zu ihrem Urteil kommen und welche cues sie zur Urteilsbildung nutzen. Um dies herauszufinden, müssen andere Paradigmen verwendet werden, wie zum Beispiel das deskriptive Dekodieren. Beim deskriptiven Dekodieren bzw. bei der Verwendung von Kodierungssystemen werden die cues, auf die zu achten sind, vorgegeben. Dabei können explizite Verhaltens‐ weisen, die theoretisch mit bestimmtem NVV einhergehen, aufgegriffen und analysiert werden. Es kann untersucht werden, in welchen Situationen welches konkrete NVV auftritt. So könnte diese Art als vermeintlich objektiveres Maß verstanden werden als das evaluative Dekodieren. Bei solchen Kodierungssystemen wird allerdings häufig auf sehr kleine Veränderungen des NVV eingegangen. Das macht es in der Anwendung aufwendig. Beim NBCSP gibt es beispielsweise 58 Verhaltensvariablen, auf die geachtet werden soll (Furley & Roth, 2021). Beobachter*innen müssen geschult werden und sich Videosequenzen sehr detailliert anschauen. Diese Schulungsmaßnahmen kosten jedoch Zeit und Ressourcen. Die Systeme müssen außerdem zunächst erstellt werden, was eben‐ falls mit einem hohen Aufwand einhergeht. Das gilt insbesondere unter Berücksichtigung, dass es für unterschiedliche Sportarten unterschiedliche Instrumente gibt. Sowohl evaluatives als auch deskriptives Dekodieren wird häufig in korrelativen Studien verwendet (für einen Überblick dieser Studien, siehe Furley, 2021). Der Vorteil korrelativer Studien ist, dass i. d. R. natürlich auftretendes NVV im Wettkampf beobachtet wird, während experimentelle Designs i. d. R. eine künstliche Situation schaffen. Der Nachteil korrelativer Studien ist der fehlende Nachweis von Kausalität. Den kausalen Einfluss von NVV auf Leistung könnte man dementsprechend nur dann feststellen, wenn man NVV experimentell manipuliert und Versuchspersonen im Anschluss eine Leistungsaufgabe ausführen. Möchte man untersuchen, inwiefern sich Dominanz und Submission auf die Leistung auswirken, bräuchte man also zwei 5.2 Ausgewählte empirische Befunde zu nonverbalem Verhalten im Kontext Sport 93 <?page no="94"?> Gruppen, die sich nur in ihrem NVV voneinander unterscheiden. So könnten andere Störvariablen, die einen Einfluss auf die Leistung haben (z. B. athletische Leistungsfä‐ higkeit der eigenen und gegnerische Mannschaften oder teamdynamische Prozesse), ausgeschlossen werden. Hierbei könnte man allerdings infrage stellen, wie realistisch solch eine Situation ist. Insbesondere Spielsportarten sind in Bezug auf die Interaktion und Koordination der Akteure, sowie zusätzlicher Einflussvariablen in der Realität sehr komplex und dynamisch (Balague et al., 2013), was sich im Labor kaum replizieren lässt. Außerdem könnte sich natürlich auftretendes NVV von vorgegebenem NVV unterscheiden. Dominantes Auftreten während eines Spiels entspricht nicht unbedingt dem Auftreten, das geäußert wird, wenn jemand dazu instruiert wird, die Brust herauszustrecken, mit den Armen viel Raum einzunehmen etc. Insgesamt sollte deutlich werden, dass verschiedene Vorgehensweisen verschiedene Vor- und Nachteile mit sich bringen. Um ein Phänomen wie NVV im Sport zu erklären, ist es nützlich, sich die Bandbreite verschiedener Studien mitsamt ihren Ergebnissen sowie den Methoden anzuschauen. Dadurch können sie sich gegenseitig ergänzen und ergeben gemeinsam ein vollständigeres Bild. Frage an die Praxis � „Was raten Sie als Sportpsycholog*in Trainer*innen, die sich über hängende Köpfe der Spieler*innen beklagen, sobald es einmal schlecht läuft? “ → „Ich finde es schwierig, wenn Trainer*innen ‚Brust raus! ‘ einfordern, die Spieler*innen es jedoch in dem Moment nicht fühlen. Stattdessen könnte ein*e Trainer*in die beobachtete Körpersprache zunächst beschreiben und sich Feedback zur Validierung der Interpretation einholen. Womöglich handelt es sich um eine Fehleinschätzung und der*die Spieler*in lässt den Kopf hängen, um in sich gehen zu können und in Ruhe zu atmen. Ist die Körpersprache tatsächlich ein Ausdruck der Unsicherheit, könnte ein*e Trainer*in das Selbstbewusstsein der Spieler*innen füttern. Sickern Stärken und Ressourcen zu den Spieler*innen durch, könnte sich dies auf eine positivere und selbstbewusstere Körperhaltung auswirken. Literatur Ambady, N., & Rosenthal, R. (1992). Thin slices of expressive behaviour---interpersonal consequences. Psychological Bulletin, 111(2), 256-274. Balague, N., Torrents, C., Hristovski, R., Davids, K., & Araújo, D. (2013). Overview of complex systems in sport. Journal of Systems Science and Complexity, 26, 4-13. Bijlstra, G., Furley, P., & Nieuwenhuys, A. (2020). The power of nonverbal behavior: Penalty-ta‐ kers’ body language influences impression formation and anticipation performance in goalkeepers in a simulated soccer penalty task. Psychology of Sport and Exercise, 46, 137-155. 94 5 Nonverbales Verhalten im Sport <?page no="95"?> Brunswik, E. (1943). Organismic achievement and environmental probability. Psychological Review, 50(3), 255-272. https: / / doi.org/ 10.1037/ h0060889 Crivelli, C., & Fridlund, A. J. (2019). 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Dazu werden zunächst wichtige Definitionen erläutert und modelltheoretische Ansätze betrachtet. Es werden die grundlegenden Ideen von Informationsverarbeitungs‐ ansätzen und zentrale theoretische Annahmen vorgestellt. Darauf aufbauend wird der Bezug zum Sportkontext hergestellt mit besonderem Fokus auf die Relevanz von Kognition in den Sportspielen. Die weitere Strukturierung des Kapitels erfolgt anhand der wichtigen theoretischen Unterscheidung von generellen und sport‐ spezifischen kognitiven Konstrukten. Unter den generellen Konstrukten werden vor allem exekutive Funktionen behandelt, da sie aktuell in der sportpsycholo‐ gischen Forschung u. a. im Kontext von körperlicher Aktivität und sportlicher Leistung eine dominante Rolle einnehmen. Außerdem werden standardisierte Testverfahren aufgelistet, die methodische Qualitätskriterien erfüllen, um eine verlässliche Erhebung zu ermöglichen. Im Anschluss werden die schwerpunkt‐ mäßig als sportspezifisch erfassten Konstrukte, die sogenannten perzeptuellkognitiven Fertigkeiten, genauer betrachtet. Der jeweilige Stand der Forschung wird anhand aktueller metaanalytischer Befunde dargestellt und innovative Studienbeispiele detailliert vorgestellt. Abschließend wird ein Blick in die Zukunft geworfen, indem aktuelle Forschungstrends bezogen auf Theorien, Methoden und Anwendungsbezug der Kognitionspsychologie im Sport eingeordnet werden. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1300. Lernziele Nach Studium des vorliegenden Kapitels sollen die Leser*innen ■ kognitionspsychologische Ansätze im Sport theoretisch differenzieren, ■ exekutive Funktionen definieren und Tests zur Erfassung von exekutiven Funktionen benennen, <?page no="98"?> ■ perzeptuell-kognitive Fertigkeiten definieren und zentrale Konstrukte benen‐ nen, ■ den Stand der Forschung zur Rolle von Kognition im Sport anhand von aktuellen metaanalytischen Befunden kritisch einordnen und ■ kognitive Anforderungsprofile von Sportarten im Hinblick auf sportartspezi‐ fische und generelle kognitive Konstrukte aufstellen können. 6.1 Kognitionspsychologie im Sport Welche Informationen nimmt ein*e Volleyballer*in wahr, wenn er/ sie zum Block hochsteigt? Wie orientiert sich ein*e Tennisspieler*in beim Return? Wie entscheidet ein*e Fußballer*in, welche Aktion er/ sie als Nächstes ausführen wird? Wie blenden Sportler*innen ablenkende Reize wie Publikumslärm oder Täuschungsversuche der Gegner*innen aus? Kognitionspsychologische Fragestellungen, wie die eingangs genannten, beschäf‐ tigen die internationale sportpsychologische Forschung seit über drei Jahrzehnten (Moran, 2009). Der Begriff Kognition, der auf das lateinische cognitio (Erkenntnis) zurückgeht, umfasst Strukturen und Informationsverarbeitungsprozesse, die für die Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen relevant sind. Zu diesen innerpsychischen Prozessen zählen u. a. Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Denken, Gedächtnis und Sprache (z. B. Müsseler & Prinz, 2002). Es gibt theoretische Modelle, die Informationsverarbeitung als sequentielle, d. h. aufeinanderfolgende oder parallel ablaufende Prozesse konzeptualisieren. Informationen für diese Prozesse speisen sich aus dem ständigen Austausch des Menschen mit seiner Umwelt und können ihren Ursprung sowohl in innerpsychischen Kontrollprozessen (top-down) als auch in der Umwelterfahrung (bottom-up) haben. Wissen | Bottom-up- und Top-down-Prozesse Unter Bottom-up-Prozessen versteht man die durch Reize getriebene und weit‐ gehend automatisch ablaufende Aufnahme von Informationen aus der Umwelt. Diese reizgetriebene Verarbeitung kann mit allen Sinnen erfolgen (Müsseler & Prinz, 2022). Im Tennis z. B. kann man das Auftreffen des Balls auf der Linie deutlich hören („klatsch“) und sehen (Ballabdruck, Linie ist weißer). Unter Top-down-Prozessen versteht man die tiefere, kognitive Verarbeitung und Kontrolle von Informationen, wie z. B. die Interpretation der wahrgenommenen Reize (vgl. Müsseler & Prinz, 2022). Bezogen auf das Tennisbeispiel weiß ein*e Tennispsieler*in, dass ein ganz bestimmtes Auftreffen des Balls bedeutet, dass dieser genau auf der Linie gelandet ist und damit im Feld war, sodass man ein bestimmtes Verhalten initiieren muss (schneller Sprint, um den Ball noch zu bekommen). 98 6 Kognition <?page no="99"?> In der Sportpsychologie werden kognitive Prozesse sowohl mit sportlicher Leistung und Expertiseentwicklung (Kalén et al., 2021; Mann et al., 2007; siehe auch Kapitel 8) als auch mit körperlicher Aktivität in Verbindung gebracht (Ciria et al., 2023; Tomporowski & Pesce, 2019). Damit deckt die Forschung die Breite von leistungs- und gesundheitspsychologischen Fragestellungen im Kontext Sport ab (Diederich et al., 2021). In diesem Kapitel wird mithilfe von aktuellen metaanalytischen Befunden versucht, dieser Vielfalt gerecht zu werden. Ein besonderer Fokus dieses Kapitels liegt auf der Verknüpfung von modelltheo‐ retisch geleiteten Vorannahmen und der Auswahl methodischer Zugänge. Darauf basierend werden Stärken und Schwächen des Forschungsfeldes verdeutlicht. Dabei werden Lücken für zukünftige Forschungsvorhaben und -programme aufgezeigt, um kognitionspsychologische Fragestellungen im Sport innovativ weiterdenken zu können. 6.2 Modelltheoretische Herangehensweisen Eine modelltheoretische Unterscheidung, die für kognitionspsychologische Forschung im Sportkontext relevant ist, aber nicht immer explizit berücksichtigt wird, ist die Differenzierung von (perzeptuell-)kognitiven Fertigkeiten und kognitiven Funktionen (Kalén et al., 2021). Die Unterschiedlichkeit von kognitiven Fertigkeiten und Funk‐ tionen geht auf die Entstehung zurück: Bei kognitiven Funktionen, die sowohl grundlegende als auch höhere kognitive Funktionen wie z. B. exekutive Funktionen umfassen (siehe Wissensbox in Kapitel 6.3), handelt es sich um generelle Mechanismen, die in ihrer grundlegenden Form jedem*r zur Verfügung stehen und die für zielgerich‐ tetes Handeln allgemein zum Einsatz kommen (vgl. Kalén et al., 2021). Kognitive Fertigkeiten hingegen werden erst durch persönliche Erfahrung ausgebildet, sodass sie in höherem Maße abhängig vom jeweiligen Kontext sind. Eine gut ausgebildete Fertigkeit erlaubt es der handelnden Person, ihr erfahrungsbedingtes Wissen effektiv bei der Erbringung einer Leistung zu nutzen (Kalén et al., 2021; Tomporowski & Pesce, 2019). Konkret bedeutet dies, dass Menschen, die unterschiedliche Kontexte erfahren, auch unterschiedliche Fertigkeiten ausbilden. Im Sport zum Beispiel ist es wahrscheinlich, dass Tennisspieler*innen Fertigkeiten erlangen, die Turner*innen nicht oder weniger stark entwickeln, weil die verschiedenen Sportarten unterschied‐ liche perzeptuell-kognitive Anforderungen an die Athlet*innen stellen und somit unterschiedliche Erfahrungen gemacht werden. Andererseits haben beide Athlet*innen grundlegende kognitive Funktionen wie bspw. die Inhibition, die durch kognitive Kontrolle ermöglicht, Handlungsimpulse zu unterdrücken, die nicht zielführend sind; wie z. B. im sportlichen Wettkampf äußere Störgrößen abzuschirmen, um erfolgreich zu handeln. Eine weitere wichtige, übergeordnete Differenzierung, die sowohl theoretisch als auch methodisch für die Messung der Konstrukte relevant ist, ist die Ausprägung der Sportspezifität vs. Generalität (Kalén et al., 2021). Mit der theoretischen Idee, wie 6.2 Modelltheoretische Herangehensweisen 99 <?page no="100"?> kognitive Funktionen und (perzeptuell-)kognitive Fertigkeiten entstehen, geht einher, dass die Konstrukte von theoretischer Natur aus stärker sportspezifisch (domänenspezifisch) oder eben stärker generell (domänen-unspezifisch) konzeptualisiert wer‐ den. Exkurs | Kognitive Herausforderungen Denken Sie einmal an Ihre Hauptsportart: Welche kognitiven Herausforderungen hat diese? Müssen Sie darin schnell reagieren, die eigene Aufmerksamkeit auf verschiedene Stimuli ausrichten, sich vieles merken, viele Entscheidungen treffen und/ oder die Handlungen Ihrer Gegnerin bzw. Ihres Gegners antizipieren? Wenn Sie diese Fragen beantworten, haben Sie eine Art „kognitives Anforderungsprofil“ Ihrer Hauptsportart skizziert. Im Vergleich zu anderen Sportarten können Sie anhand dessen die relative Bedeutung von bestimmten kognitiven Konstrukten für Ihre Hauptsportart ausmachen. In der sportpsychologischen Forschung zeigt sich die Differenzierung von Sportspezifität und -generalität weniger in theoretischen, sondern eher in den gewählten forschungs‐ methodischen Zugängen: Die methodische Konzeptualisierung von Sport(art)spezifität impliziert, dass kognitive Konstrukte mithilfe von sportspezifischen Stimuli (z.-B. Bilder oder Videos von Sportsituationen), sportart-spezifischen motorischen Antworten (z. B. Antwort durch einen Pass oder eine Ganzkörperbewegung) und/ oder in einem sportspezifischen Setting (z. B. in der Sporthalle) getestet werden (z. B. Kalén et al., 2021). Generelle oder domänen-unabhängige kognitive Konstrukte werden i. d. R. mithilfe von standardisierten, computerbasierten Tests erfasst, die allgemeinverständliche Sti‐ muli (z. B. geometrische Formen, Pfeile, Symbole, Buchstaben) präsentieren und meist Antworten in Form von Tastendruck oder Mausklicks erfordern. In einem Flanker- Inhibitions-Test beispielsweise werden eine Reihe von Pfeilen dargestellt, und es ist die Aufgabe der Versuchsteilnehmer*innen auf die Richtung der Spitze des mittleren Pfeils zu reagieren, z.-B. mit der Taste „M“ für rechts und der Taste „C“ für links, und die ggf. andere Richtung der umgebenden Pfeile zu ignorieren. 6.3 Grundlegende kognitive Funktionen und exekutive Funktionen Kognitionspsychologische Fragestellungen in der Sportpsychologie, die primär gene‐ relle Ansätze verfolgen, beschäftigen sich in aller Regel mit grundlegenden kognitiven Funktionen (basic cognitive functions) oder höheren kognitiven Funktionen (higher cognitive functions), zu denen auch die sogenannten exekutiven Funktionen zählen (EF; vgl. Kalén et al., 2021; siehe Wissensbox). 100 6 Kognition <?page no="101"?> Wissen | Grundlegende, höhere kognitive und exekutive Funktionen Kognitive Funktionen, die hauptsächlich eine kognitive Fähigkeit erfordern und sich zuerst entwickeln, werden als „grundlegende“ kognitive Funktionen (basic cognitive functions) bezeichnet. Dazu zählen z. B. Funktionen wie Verarbeitungsge‐ schwindigkeit, Aufmerksamkeit und Kurz-/ Langzeitgedächtnis (Kalén et al., 2021). Funktionen, die mehr als eine kognitive Grundfunktion koordinieren und/ oder mehr als eine kognitive Kapazität (z. B. selektive Aufmerksamkeit und Gedächtnis) oder kognitiven Kontrollprozess erfordern, werden als „höhere“ oder „komple‐ xere“ kognitive Funktionen (higher cognitive functions) bezeichnet. Dazu zählen z.-B. exekutive Funktionen (Kalén et al., 2021). Exekutive Funktionen (EF, Plural) bezeichnen eine Reihe von kognitiven Kon‐ trollfunktionen, die man benötigt, um sich zu konzentrieren und um zu entschei‐ den, entsprechend anfänglicher Impulse zu handeln oder diese zu unterdrücken. Sie sind damit wichtig für zielgerichtetes Handeln und können als Handlungskon‐ trollfunktionen bezeichnet werden. Neuropsychologisch werden EF vor allem vom präfrontalen Kortex und damit verbundenen Hirnregionen wie dem anterioren cingulären Kortex und dem Parietalkortex gesteuert (Chaddock et al., 2011). EF sind ein multi-dimensionales Konstrukt. In sportpsychologischen Studien werden vor allem die prominenten „core EF“ Arbeitsgedächtnis, Inhibition (auch „inhibi‐ torische Kontrolle“ genannt) und kognitive Flexibilität (Diamond, 2013; Miyake et al., 2000) untersucht (siehe Tabelle 6-1 für Definitionen). Eine ausführliche theoretische Betrachtung exekutiver Funktionen finden interessierte Leser*innen u. a. in Arbeiten von Diamond (2012, 2013) und Miyake und Kolleg*in‐ nen (Miyake et al., 2000). In Tabelle 6-1 werden neben den Definitionen der drei prominentesten exekutiven Funktionen auch standardisierte, kognitive (PC-)Tests aufgeführt, die in sportpsychologischen Studien Verwendung finden. Dabei wurden solche ausgewählt, die folgenden Qualitätskriterien entsprechen: Tests (d. h., kein Selbstbericht), Erfassung von Antwortrichtigkeit (response accuracy), Erfassung von Reaktions-/ Antwortzeiten sowie gute Reliabilität. Für interessierte Leser*innen sind dazu beispielhaft sportpsychologische Studien zitiert, die diese Konstrukte gemessen haben. Zwei aktuelle Metaanalysen beschäftigen sich aus sportpsychologischer Perspektive mit exekutiven Funktionen und decken die thematische Breite sportpsychologischer Forschungs- und Handlungsfelder ab (Ciria et al., 2023; Kalén et al., 2021): Im „Umbrella Review“ und der Metanalyse von Ciria und Kolleg*innen (2023) werden die Effekte von körperlicher Aktivität auf EF beschrieben, während Kalén und Kolleg*innen (2021) den Zusammenhang von EF zu sportlicher Leistung quantifizieren. In einem ebenfalls aktuellen Übersichtsartikel nehmen Furley und Kolleg*innen (2023) hingegen eine kritische Perspektive auf beide Forschungslinien ein. Dieser Kritik Rechnung tragend werden in Tabelle 6-1 beispielhaft ausgewählte Testverfahren aufgeführt. Furley und 6.3 Grundlegende kognitive Funktionen und exekutive Funktionen 101 <?page no="102"?> Kollge*innen kritisieren weiterhin, dass im gegenwärtigen Stand der Forschung Effekte von oder auf EF häufig überschätzt werden, weil der Publikationsbias (z. B. selektive Veröffentlichung von Forschungsergebnissen) nicht angemessen berücksichtigt werde. Die zwei ausgewählten Metaanalysen, die im Folgenden ausführlicher dargestellt werden, berücksichtigen den Publikationsbias adäquat, quantifizieren und korrigieren ihn statistisch. Exekutive Funktion Arbeitsgedächtnis Inhibition Kognitive Flexibilität Definition Fähigkeit, Informa‐ tionen zur Erfüllung einer laufenden Auf‐ gabe aktiv zu halten und abzurufen (Bad‐ deley & Hitch, 1974) Fähigkeit, durch selbst‐ regulative Kontrolle von Aufmerksamkeit Gedanken, Emotionen und Impulse zu unter‐ drücken und zielgerich‐ tetes Verhalten auszu‐ führen Fähigkeit, flexibel zwischen verschiedenen Denk‐ weisen oder Aufga‐ ben zu wechseln und eine andere Perspek‐ tive einzunehmen Test N-back task Digit-span task Corsi block test Flanker task Stroop task Go/ No-go task Stop-signal task Number-letter task Trail Making task Beispielstudien aus dem Sport Knöbel & Lauten‐ bach, 2023; Verburgh et al., 2014 Huijgen et al., 2015; Ver‐ burgh et al., 2014 Huijgen et al., 2015; Musculus et al., 2022 Tab. 6-1 | Exekutive Funktionen: Defintionen, Tests, Studien im Sportkontext Exkurs | Körperliche Aktivität und Konzentration: Kurzes Selbstexperiment Wie schätzen Sie in diesem Moment Ihre Konzentration auf einer Skala von 1 bis 10 ein? (1 = Ich bin überhaupt nicht mehr konzentriert und kann keinen Satz mehr lesen, geschweige denn mir den Inhalt merken, 10 = Ich bin sehr konzentriert und kann das gesamte Kapitel zu Ende lesen und mir das meiste problemlos merken.) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 ☹ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ☺ Nun machen Sie bitte acht Mal nacheinander je 20 Sekunden so viele Kniebeugen (oder Liegestütz oder Seilchensprünge) wie möglich und je 10 Sekunden Pause dazwischen. Los geht’s! Wie schätzen Sie jetzt, in diesem Moment, Ihre Konzentration auf einer Skala von 1 bis 10 ein? 102 6 Kognition <?page no="103"?> 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 ☹ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ◯ ☺ Was halten Sie für sich fest? War die kurze, intensive körperliche Aktivitätseinheit förderlich oder hinderlich für Ihre Konzentration? Wenn Sie (konzentrierter? ) weiterlesen, erfahren Sie, was der aktuelle Stand der Forschung dazu sagt. Dem Einfluss von körperlicher Aktivität auf kognitive Leistung und EF im Speziellen widmen sich zahlreiche Reviews sowie verschiedene Metaanalysen (Diamond, 2012; Tomporowski & Pesce, 2019). Die zentralen Erkenntnisse daraus sind, dass regelmäßige körperliche Aktivität die kognitive Leistungsfähigkeit bei Kindern, Jugendlichen und älteren Erwachsenen fördert, während es für junge Erwachsene weniger (eindeutige) empirische Evidenz gibt. Außerdem scheint die Effektivität besonders stark für die EF zu sein, obwohl auch Effekte in anderen kognitiven Bereichen, wie Aufmerksamkeit und Gedächtnis, gezeigt wurden. Wichtig ist, dass Effekte eher gering bis mittel ausfal‐ len, i. d. R. aber reliabel zu sein scheinen. Außerdem sollte man verschiedene mögliche Moderatorvariablen - d. h. Variablen, die die Größe des Effekts statistisch beeinflussen können - berücksichtigen (Ciria et al., 2023), wie z. B. Trainingsintensität, Dauer der Intervention, Art des Trainings usw., welche die Effekte verstärken/ abschwächen und somit abschließend ggf. besser erklären können (Chang et al., 2012). In dem Umbrella-Review von Ciria und Kolleg*innen (2023) wurde der Einfluss von möglichen Moderatorvariablen mithilfe von 24 Metaanalysen (109 Studien, 737 Effektgrößen) systematisch untersucht. In den Analysen wurden ausschließlich randomisiert kon‐ trollierte Studien berücksichtigt. Die Autor*innen kommen zu dem Ergebnis, dass Bewegung einen kleinen, aber positiven Effekt auf Kognition hat (d = 0.22, 95 % KI [0.16, 0.28]). Der Effekt fiel geringer aus, wenn die wichtigsten Moderatorvariablen wie eine aktive Kontrolle (d. h. eine Gruppe, die auch ein aktives Programm absolviert) und Unterschiede im Prä-Test, berücksichtigt wurden (d = 0.13, 95 % KI [0.07, 0.20]). Besonders relevant ist, dass der Effekt nach Korrektur des Publikationsbias nicht mehr statistisch bedeutsam ist (d = 0.05, 95 % KI [-0.09, 0.14]). Die Ergebnisse zeigen demnach, dass regelmäßige körperliche Aktivität eher einen kleinen Effekt auf Kognition für gesunde Erwachsene hat. Wichtig ist hervorzuheben, dass diese Metaanalyse von einem internationalen Expert*innen Kreis kritisiert wurde (Dupuy et al., 2024), weil sie Studien und dadurch die Effekte von bestimmten körperlichen Trainings (z. B. Koordinationstraining) vernachlässigt und unterschätzt habe. Man kann festhalten, dass es eine wichtige wissenschaftliche Diskussion bleibt, welchen Mehrwert kör‐ perliche Aktivität für kognitive Leistung hat. Um den Mehrwert systematisch zu ergründen, ist es sinnvoll Forschungslinien weiterzuverfolgen, die die Effekte auch auf (neuro-)physiologischer Ebene und hinsichtlich der Effektivität z. B. unterschiedlicher Arten (Ausdauer, Kraft) und Intensitäten von Interventionen ausdifferenzieren (Cabral et al., 2019; Stillman et al., 2016; Stimpson et al., 2018). 6.3 Grundlegende kognitive Funktionen und exekutive Funktionen 103 <?page no="104"?> In Hinblick auf den Zusammenhang der EF und sportlicher Leistung und/ oder Expertise zeigt die Metaanalyse von Kalén und Kolleg*innen aus 2021, dass bessere Sportler*innen (verschiedener Sportarten, v. a. Spielsportler*innen) auch bessere Werte in grundlegenden kognitiven und EF-Tests erzielen. Genauer konnte gezeigt werden, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein*e zufällig ausgewählte*r Sportler*in aus der besseren Gruppe auch besser abschneidet als ein*e zufällig ausgewählte*r Sportler*in aus der schlechteren Gruppe, bei Tests grundlegender kognitiver Funktionen 61 % (95 % KI [56 %, 65 %]) und bei EF-Tests bei Aufgaben mit höheren kognitiven Funktionen 62 % (95 % KI [57 %, 67 %]) beträgt. In Hinblick auf die sportspezifische vs. generelle Erfassung von Kognition zeigt die Metaanalyse eindrücklich, dass Tests zur Erfassung von grundlegenden kognitiven Funktionen und EF - wie zu erwarten - in aller Regel (aber nicht immer) generelle Stimuli präsentieren (grundlegend: 63 %, EF: 79 %) und auch generelle Antworten (grundlegend: 82 %, EF: 95 %) erfordern. Dies verdeutlicht, dass die methodische Konzeptualisierung und Erfassung nicht unabhängig von der theore‐ tischen Konzeptualisierung kognitiver Konstrukte ist. Hier ergibt sich eine Möglichkeit kognitionspsychologische Forschung in der Sportpsychologie weiterzuentwickeln, indem Forschungsprogramme konzipiert und durchgeführt werden, die eine klare experimentelle Differenzierung von Sportspezifität vs. Generalität auf Konstruktebene und Methodenebene erlauben (vgl. Musculus & Raab, 2022). Dies ist beispielsweise dadurch möglich, dass Studien durchgeführt werden, die theoretisch vorhersagen, welche Zusammenhänge zwischen sport(art)spezifischen und generellen kognitiven Konstrukten zu erwarten wären, und dies durch die Messung des gleichen kognitiven Konstrukts auf sowohl sport(art)spezifische als auch generelle Art und Weise prüfen. Im Leistungssportkontext wird beispielhaft eine Studienreihe vorgestellt, die die im vorherigen Abschnitt beschriebenen Bemühungen angestellt hat. Mit dem Ziel eine reliable und valide Erfassung von EF sicherzustellen, aber auch die Nähe zur tatsächlichen Sportspielsituation im Fußball und damit die ökologische Validität zu erhöhen, hat das Forscher*innenteam EF-Tests im SoccerBot360 entwickelt (Knöbel & Lautenbach, 2023; Musculus et al., 2022). Angelehnt an standardisierte, validierte Tests für die drei Kern-EF wurde je ein fußballspezifischer Test zur Durchführung in einem fußballspezifischen Setting (d. h. im SoccerBot360, im Stehen, mit motorischer Antwort in Form eines Passes) entwickelt, pilotiert, überarbeitet und mithilfe von zwei Validierungsstudien getestet. Im Detail haben in der ersten Studie N = 77 Nachwuchs‐ leistungsfußballer jeweils den standardisierten PC-EF-Test und den neu entwickelten EF-Test im SoccerBot360 durchgeführt. Dadurch konnte neben der Reliabilität (interne Konsistenz, Testhalbierung) auch die konvergente Validität (Konstruktvalidität) getes‐ tet werden. Die Ergebnisse der ersten Studie zeigten eine hohe Reliabilität für alle abhängigen Variablen der verwendeten Tests (Flanker, Number-Letter) sowohl am PC (alle α > .89) als auch im SoccerBot360 (alle α > .94). Während in Bezug auf kognitive Flexibilität konvergente Validität zwischen den Tests in den verschiedenen Modi gezeigt werden konnte, war diese für die Inhibition EF noch nicht zufriedenstellend. In einer zweiten Studie (N = 63) wurde der Flanker-Test zur Erfassung von Inhibition 104 6 Kognition <?page no="105"?> überarbeitet, erneut überprüft und eine konvergente Validität erreicht. Eine vergleich‐ bare Studienreihe im Fußball wurde von Ehmann und Kolleg*innen durchgeführt (Ehmann et al., 2021, 2022). Hier lag der Fokus auf einem Multiple-Object-Tracking- Test im 360° Setting, der sich als reliabel und konstruktvalide erwiesen hat (Ehmann et al., 2021). Diese Studienreihen veranschaulichen beispielhaft wie kognitive Tests entwickelt und Qualitätskriterien empirisch überprüft werden können. Mit weiterer empirischer Untermauerung durch zusätzliche Studien, im Idealfall von unabhängigen Forschungsgruppen und Stichproben, können diese Tests als kognitive Diagnostik in der Praxis zum Einsatz kommen. In Anlehnung an andere transparente methodische Beispiele (z. B. Finkenzeller et al., 2021) ist es wichtig, an die Forschenden zu appellieren, in zukünftigen Studien die Reliabilität der verwendeten Messinstrumente zu überprüfen, zu berichten und in Review-Verfahren einzufordern (z. B. durch explizite Aufforderung zur Angabe von Reliabilitäten) mit dem Ziel, die methodische Qualität von (kognitionspsychologischen) Arbeiten im Sport hochzuhalten. Während hier der methodische Ansatz der Studien‐ reihe hervorgehoben wurde, sind die ausgeführten Studien auch aus theoretischer Sicht interessant, weil sie versuchen, die konzeptuelle Brücke zwischen generellen EF und sport(art)spezifischen kognitiven Konstrukten und deren Erfassung zu schlagen (Musculus et al., 2022). Letztere werden im Folgenden näher betrachtet. 6.4 Perzeptuell-kognitive Fertigkeiten Kognitionspsychologische Fragestellungen in der Sportpsychologie, die primär sport‐ art-spezifische Ansätze verfolgen, beschäftigen sich in aller Regel mit sogenannten perzeptuell-kognitiven Fertigkeiten (perceptual-cognitive skills). Diese erlernten, erfah‐ rungsbasierten Fertigkeiten befähigen dazu, relevante Informationen aus der Umwelt einzuholen und zu speichern. Zu perzeptuell-kognitiven Fertigkeiten zählen, wie der Name schon sagt, Fertigkeiten, die entlang des Informationsverarbeitungsprozesses auf einem Kontinuum von Wahrnehmung bis Kognition angesiedelt werden können (siehe Abbildung 6-1). Neben Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit (Furley et al., 2015), Blickstrategien (Vater et al., 2020) und Aufmerksamkeitsprozessen (Brimmell et al., 2022; Memmert, 2009) sind Mustererkennung (Van Maarseveen et al., 2018), Antizipation (Gredin et al., 2020) und Entscheiden (Duarte et al., 2006; Marasso et al., 2014; Raab, 2012) im Sport von Relevanz. Schwerpunktmäßig konzentriert sich die Forschung dabei auf interaktive Sportarten. Wissen | Perzeptuell-kognitive Fertigkeiten “Perceptual-cognitive skill refers to the ability to identify and acquire environmen‐ tal information for integration with existing knowledge such that appropriate responses can be selected and executed” (Marteniuk, 1976 zit. n. Mann et al., 2007, S.-457). 6.4 Perzeptuell-kognitive Fertigkeiten 105 <?page no="106"?> Kognitionspsychologische Forschung im Sport, die sich auf perzeptuell-kognitive Fertigkeiten bezieht, folgt in aller Regel dem sogenannten Expert Performance Approach (Broadbent et al., 2015; Mann et al., 2007; Musculus et al., 2022; Williams et al., 2008; für Details zur Expertise-Definition und zum Expert Performance Approach siehe Kapi‐ tel 8). Die Grundannahme des Expert Performance Approach ist, dass sich Expert*innen in einer Sportart von weniger erfahrenen Athlet*innen oder Noviz*innen in kognitiven Konstrukten, v.-a. eben in perzeptuell-kognitiven Fertigkeiten, unterscheiden. Kognitiv Perzeptuell Blickstrategien (Vater et al., 2020) Aufmerksamkeit (Brimmel et al., 2020; Memmert, 2009) Mustererkennung Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und -strategien (Furley et al., 2015) Entscheiden (Araujo et al., 2019; Marasso et al., 2014) Antizipation (Gredin et al., 2020) Abb. 6-1 | Perzeptuell-kognitive Fertigkeiten und beispielhafte sportpsychologische Überblicksarbeiten Mit der ersten Metaanalyse von Mann und Kolleg*innen aus dem Jahr 2007 konzen‐ trierte sich die sportpsychologische Forschung zum Thema perzeptuell-kognitive Fer‐ tigkeiten darauf, wie diese mit sportlicher Expertise und Leistung zusammenhängen. Da Kapitel 8 ausführlicher auf perzeptuell-kognitive Fertigkeiten und Expertise im Sport eingeht, wird hier nur auf beispielhafte sportpsychologische Überblicksarbeiten (Reviews und Metaanalysen) verwiesen (siehe Abbildung 6-1). Eine aktuelle Metaana‐ lyse von Kalén et al. (2021) zeigt, dass vor allem sportspezifisches Entscheiden (inkl. der Antizipation der gegnerischen Handlung) Expertise- und Leistungsunterschiede erklären kann (g-= 0.77, 95 % KI [0.6, 0.94]). Der für sportspezifisches Entscheiden auf‐ gedeckte Expertiseeffekt war signifikant bedeutsamer als der Effekt für grundlegende und höhere kognitive Funktionen wie EF (Kalén et al., 2021). Entscheidungs- und Antizipationsleistungen werden i. d. R. mit sport(art)spezifischen Stimuli (88 %) in einem zeitlichen Okklusionsparadigma getestet. In den letzten Jahren hat die Forschung zu perzeptuell-kognitiven Fertigkeiten im Sportkontext zunehmend auch die Motorik mitberücksichtigt. Das in Abbildung 6-1 dargestellte perzeptuell-kognitive Kontinuum kann also um die motorische Dimension erweitert werden (vgl. Musculus & Raab, 2022; Musculus et al., 2024). Als theoretischer Ausgangspunkt zur Erforschung von der Interaktion von perzeptuellkognitiven und motorischen Prozessen dient dabei der Embodiment-Ansatz (Gentsch et al., 2016; Raab, 2017; Raab & Araújo, 2019). Embodiment, oder konkreter, „Embodied 106 6 Kognition <?page no="107"?> Cognition“-Ansätze, teilen die Grundannahme, dass sich Kognition und Motorik gegenseitig beeinflussen. Sowohl die motorische Vorerfahrung der Stichprobe (Pizzera & Raab, 2012) als auch die motorische Ausführung finden stärker Berücksichtigung in Studien zur perzeptuell-kognitiven Expertise im Sport (Hinz et al., 2022; Roca et al., 2013). In der Metaanalyse aus 2021 haben 26 % der darin betrachteten Entschei‐ dungsstudien eine sport(art)spezifische, motorische Antwort erfasst. Dadurch werden die experimentellen Paradigmen (siehe Kapitel 8) tendenziell ökologisch valider. Die Realitätsnähe steigt von verbalen Antworten (Raab & Laborde, 2011) oder Fingerbe‐ wegungen (Musculus et al., 2018) zu motorisch komplexen Handlungen wie Pässen im Handball oder Fußball (Hinz et al., 2021; Paul et al., 2011, Roca et al., 2011). Neben der Komplexität der Handlungsausführung durch die Berücksichtigung von motorischen Antworten wird mittlerweile auch der Komplexität der Sportsituation und -umwelt verstärkt Rechnung getragen (Cañal-Bruland & Mann, 2015; Gredin et al., 2018; Musculus et al., 2021). Die Besonderheit im Sport, und vor allem in den Sportspielen, ist, dass Athlet*innen ihre kognitive (und motorische) Leistung in einer dynamischen, sich schnell verändernden, durch den Gegner bzw. die Gegnerin unvorhersehbaren (Spiel-)Situation abrufen müssen. Athlet*innen sind gefordert mit Unsicherheiten umzugehen. Diesen Umstand berücksichtigen nur bestimmte kognitive Theorien (z. B. Theory of simple heuristics im Sport; Johnson & Raab, 2003; Longterm working memory theory im Sport; Belling et al., 2015a). Konkret zielt die sportbezogene Forschung darauf ab, den Einfluss von Zeitdruck (Belling et al., 2015b; Murphy et al., 2016; Musculus, 2018), Gegnerdruck (Musculus et al., 2021), der Position (Huesmann & Loffing, 2019; Loffing & Hagemann, 2014a; Murphy et al., 2016, 2019) oder Bewegungsausführung des Gegners oder der Gegnerin (Loffing & Cañal-Bruland, 2017; Loffing & Hagemann, 2014b), oder auch des Spielverlaufs (Loffing et al., 2015) auf perzeptuell-kognitive Fertigkeiten von Athlet*innen besser zu verstehen. Exkurs | Sportartspezifische Entscheidung Wenn Sie das Kapitel (oder den Abschnitt zu perzeptuell-kognitiven Fertigkeiten) bis hierhin gelesen haben, denken Sie einmal über folgende Fragen nach: Wie sähe ein ökologisch valides (d. h., realitätsnahes) Experiment zur Rolle von Entscheiden (oder Antizipation, Aufmerksamkeit, …) in Ihrer Hauptsportart aus? Welche sport‐ artspezifische Entscheidung wäre interessant? Welche relevanten Umwelt-/ Situa‐ tions-/ Kontextfaktoren müssen berücksichtigt und ggf. experimentell manipuliert werden? Wer wären die idealen Teilnehmer*innen? Welche konkrete Aufgabe hätten diese und welche Stimuli würden Sie in der Aufgabe verwenden? Wie sähe die experimentelle Antwort aus? Welche abhängigen Variablen würden Sie wie erfassen? 6.4 Perzeptuell-kognitive Fertigkeiten 107 <?page no="108"?> 6.5 Kognitionspsychologische Trends im Sport In der Vergangenheit lag der Fokus überwiegend darauf, ob und welche kognitiven Konstrukte im Sportkontext relevant sind (Diamond, 2012; Mann et al., 2007). Aktuell wird u. a. der Frage nachgegangen, ob eher generelle oder sportspezifisch erfasste Konstrukte einen größeren Erklärungsgehalt für sportliche Leistung/ Expertise haben (Kalén et al., 2021). Zukünftig könnte das Forschungsfeld auf theoretischer Ebene integrierter gedacht und folgende Forschungsfragen beantwortet werden: Theoretische Fragen: 1. Wie hängen verschiedene kognitive Konstrukte (im Kontext Sport) zusammen? 2. Wie hängen kognitive Konstrukte auch, besonders im Sport, mit motorischer Vorerfahrung und motorischer Leistung zusammen? 3. Welche Situations- und Umwelteinflüsse sind in bestimmten Sportarten für be‐ stimmte Athlet*innen kognitiv herausfordernd oder förderlich? Zu den Forschungsfragen nach dem Zusammenhang oder der Interaktion von ko‐ gnitiven Konstrukten wurden erste Studien durchgeführt. In einer beispielhaften entwicklungspsychologischen Studie im Nachwuchsfußball lag der Fokus auf dem Zusammenhang zwischen fußballspezifischen kognitiven Entscheidungsprozessen und generellen EF, gemessen mit generellen PC-Tests. Die Autorinnen haben untersucht, welche der drei Kern-EF mit fußballspezifischen Entscheidungsprozessen zusammen‐ hängen (Heisler et al., 2023). Sie zeigten beispielsweise, dass Spieler*innen mit besserer genereller Arbeitsgedächtnisleistung bessere erste Optionen generierten und bessere Entscheidungen im videobasierten Fußballtest trafen. In ähnlicher Weise, in der Heisler und Kolleginnen generelle und sportartspezifische kognitive Konstrukte theoretisch und empirisch in Verbindung gebracht haben, könnten zukünftige Forschungspro‐ gramme vergleichbare Zusammenhänge systematisch für andere kognitive Konstrukte und in anderen Sportarten testen. Kognitive Konstrukte, die im Sport relevant sind, auf diese Art und Weise integrativ zu denken, hätte den Mehrwert, dass kognitive Theorien erweitert, spezifiziert oder gar integriert werden könnten. Auch an dieser Stelle gibt es erste Forschungsprogramme in der Kognitionspsychologie (Gigerenzer, 2017). Methodische Fragen: 1. Wie können kognitive Konstrukte reliabel und (ökologisch) valide erfasst werden? 2. Wie übertragbar sind die Befunde auf die realen Bedingungen und Anforderungen im Sport? 3. Wie kann man reliable und valide kognitive Testverfahren im Sinne offener und reproduzierbarer Forschung anderen Forschenden und der Praxis zur Verfügung stellen? 108 6 Kognition <?page no="109"?> Praxisfragen: 1. Wie sehen kognitive und/ oder motorisch-kognitive Anforderungsprofile von Sportarten aus? 2. Wie kann Kognition so trainiert werden, dass es einen positiven Transfer zu sportlicher Leistung geben kann? In Hinblick auf methodisches Verbesserungspotenzial und Möglichkeiten für ein von methodischen Qualitätskriterien geleitetes Vorgehen, wurde in diesem Kapitel bereits auf eine Studienreihe verwiesen, die neue sportspezifische kognitive Tests entwickelt und deren Qualität überprüft hat (Ehmann et al., 2021; Knöbel & Lautenbach, 2023; Musculus et al., 2022). Es gibt ähnliche Beispiele wie von Ehmann und Kolleg*innen (2021) zum Multiple-Object-Tracking oder von Finkenzeller und Kolleg*innen (2021), die in mehreren Studien die Reliabilität und Validität des Design-Fluency-Tests über‐ prüft haben. Sie kommen zu dem Schluss, dass der Test im Sportkontext nicht reliabel und valide ist (Finkenzeller et al., 2021). Bereits in der Studienplanung sollte ein besonderes Augenmerk auf die Testauswahl gelegt und die kognitiven Tests, ob sportspezifisch oder generell, basierend auf theo‐ retischen Vorüberlegungen ausgewählt oder ggf. entwickelt werden. Hilfreich ist dafür, sich vorab eine Art kognitives Anforderungsprofil für die zu untersuchende Sportart zu überlegen. Beispielsweise sollte man in den Sportspielen kognitive Tests auswählen, die die Reaktionsgeschwindigkeit berücksichtigen, was bei ästhetisch-kompositorischen Sportarten (z.-B. Turnen, Gymnastik) weniger relevant ist. Im nächsten Schritt sollte es ein methodisches Muss sein, dass für die verwendeten kognitiven Tests - sowohl die standardisierten, generellen als auch und vielleicht besonders für die sportspezifischen - standardmäßig die Reliabilität geprüft und be‐ richtet wird. Hier gilt es zu bedenken, dass dies für jede gemessene abhängige Variable erfolgen sollte. Übergeordnet sollten sich sportpsychologische Fachzeitschriften an den Qualitätsstandards der kognitionspsychologischen Fachzeitschriften, bei denen das transparente Berichten von Gütekriterien in aller Regel Standard ist, orientieren. Etwas weitergedacht wäre eine Art Testothek für kognitive Testverfahren wün‐ schenswert, die basierend auf den Grundsätzen und zur Förderung von offener und reproduzierbarer Forschung Forschenden frei zugänglich ist und den Ansprüchen an Reliabilität und Validität im Sportkontext gerecht wird. Eine solche kognitive Testothek wäre nicht nur für Forschungszwecke sinnvoll, sondern würde es auch in der Praxis tätigen Sportpsycholog*innen und sportpsychologischen Expert*innen ermöglichen, diese Tests - natürlich unter Einhaltung ethischer und wissenschaftlicher Grundsätze - einzusetzen. Damit käme man einem sportart-spezifischen kognitiven Anforderungsprofil als auch dem übergeordneten Wunsch nach stärkerer Integration von Forschung und Praxis (Lautenbach et al., 2022; Wolf et al., 2020) näher und würde Qualität in der Messung sicherstellen. 6.5 Kognitionspsychologische Trends im Sport 109 <?page no="110"?> Kognitionspsychologie im Sport ist ein faszinierendes Thema und wird dies auch in Zukunft bleiben. Ziel dieses Kapitels war es, grundlegende theoretische und metho‐ dische Aspekte so zu vermitteln, dass eine kritische Einordnung des dargestellten Forschungsstandes und der aktuellen Trends sowie von möglicherweise weiterführend hinzugezogener Literatur möglich ist. Frage an die Praxis � Sinikka Heisler ist selbstständige Sportpsychologin, Doktorandin und Dozentin an der Deutschen Sporthochschule Köln und der IST-Hochschule für Management. Sie hat als Sportpsychologin im NLZ des Hamburger SV sowie der Akademie des VfL Wolfsburg gearbeitet, bevor sie sich im Bereich Sport- und Leistungspsy‐ chologie selbstständig machte. Sie beantwortet uns die Frage, wie die kognitiven Anforderungsprofile für die Sportart(en) aussehen, die sie betreut, und wie man Prinzipien der kognitiven Testverfahren zum Training nutzen kann: → „Mit dem Fokus auf Fußball und Golf möchte ich die Frage gerne für diese sehr unterschiedlichen Sportarten beantworten. Im Fußball sind Antizipation, ein gutes Entscheidungsverhalten, eine sowohl sinnesals auch raumübergreifende Wahrnehmung dabei nur einige zentrale Anforderungen. Spannend ist daneben beispielsweise das kognitive Profil im Golf, wo es vor allem um die Steuerung der Aufmerksamkeit, die Konzentrationsfähigkeit und das Vorstellungsvermögen geht. In Zusammenarbeit mit Fußballtrainern haben wir bereits Trainingsmaßnahmen von Testverfahren abgeleitet. So haben wir beispielsweise inspiriert durch den Stroop-Test eine Übung zum Training von Inhibition entwickelt, bei dem Spieler auf bestimmte Reize nicht reagieren sollten (z. B. rotes Hütchen = Bälle, die mit links gepasst wurden, nicht annehmen). Im Golf kann das kognitive Training mit einem Schwerpunkt auf die Aufmerksamkeitssteuerung geschehen. Das Training beinhaltete eine Änderung des Aufmerksamkeitsfokus weg von der Ausführung (internal) und hin zum Ziel (external). Eine Instruktion lautete ‚Konzentrierte dich bei der Ausführung des Schlags auf dein Ziel und simuliere im Kopf die Flugbahn des Balles‘.“ Literatur Baddeley, A. D., & Hitch, G. J. (1974). Working memory. In G. H. 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Im Detail wird hierzu auf interne Vorwärtsmodellierungen, Pseudo-Regelkreise, Interventionsminimierungen, Zu‐ standsschätzungen unter Unsicherheit sowie Prozesse der Gedächtnisformation und des Strukturtransfers eingegangen, um am Ende Konsequenzen für eine theoriebasierte Methodik des Bewegungslehrens vorzustellen. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1301. Lernziele Nach Studium des vorliegenden Kapitels sollen die Leser*innen: ■ verstanden haben, wie Kenntnisse zu aktuellen Theorietrends in der Sportmo‐ torik helfen können, sportpsychologische Probleme zu lösen, ■ in der Lage sein, sportpsychologisch relevante Theorietrends in der Sportmo‐ torik zu erläutern, ■ die Theorie der optimalen Feedback-Kontrolle in ihren zentralen Aspekten (internale Prädiktion, Pseudo-Regelung usw.) erklären können, ■ in der Lage sein, den Ansatz der Veranschaulichung von Vorwärtsmodellen in Form von Aufgabenräumen zu beschreiben, ■ aus der Motoriktheorie abgeleitete Konsequenzen für das Bewegungslehren in der sportpsychologischen Praxis anwenden können. Während in der grundständigen Psychologie - als Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten - der bewegungsbezogenen Realisierung von Verhaltenszielen oft nur eine untergeordnete Bedeutung zugeschrieben wird, muss dies bei der Sport‐ psychologie - als Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten im Sport <?page no="120"?> - anders sein, da der Sport nicht zuletzt durch seine komplexen und schwierig zu lösenden Bewegungsaufgaben gekennzeichnet ist. Vor diesem Hintergrund sollte es nicht überraschen, wenn in dem vorliegenden Sportpsychologie-Lehrbuch ein ganzer Abschnitt derjenigen sportwissenschaftlichen Nachbar(teil)disziplin gewidmet ist, die komplexes menschliches Bewegungsverhalten zentral adressiert: der Sportmotorik. Für diesen Abschnitt sollen im vorliegenden Kapitel 7 die theoretischen und empiri‐ schen Grundlagen gelegt werden. Fokussiert man auf die menschliche Bewegung, können wir dies aus drei Per‐ spektiven tun, die in der Sportwissenschaft häufig unter dem Dach der „Bewegungs‐ wissenschaft“ zusammengefasst werden. Während für die Sportbiomechanik der physikalisch realisierte menschliche Körper samt den in ihm und auf ihn wirkenden Kräften im Kontext beobachtbarer Bewegungen im Zentrum des Interesses steht, fokussiert die Sportbiologie (oder -anatomie und -physiologie) auf die bei der Bewe‐ gungsproduktion ablaufenden körperlichen Prozesse, wie sie etwa bei der bewegungs‐ erzeugenden Kontraktion von Muskeln ablaufen. Die Sportmotorik hingegen befasst sich - in Abgrenzung zu der zuvor genannten physikalischen und implementationalen Perspektive - mit der funktionalen Architektur dieser internen Kontrollprozesse. Dies tut sie zunächst einmal unabhängig von Details ihrer physikalischen oder bio‐ logischen Realisierung, aber unter Berücksichtigung entsprechender Gegebenheiten als „Randbedingungen“ der eigenen Theoriebildung (vgl. Hossner, 2015; Hossner & Künzell, 2022). Im Zentrum des motorikwissenschaftlichen Interesses steht damit die funktionale Erklärung von Prozessen der Bewegungskontrolle. Die Aufgabe von Sportmotoriker*innen ist es dementsprechend, Modelle zu entwickeln und empirisch zu prüfen, wie interne Kontrollmechanismen funktionieren und äußerlich sichtbarem Bewegungsverhalten zugrunde liegen. Über die motorische Kontrolle hinaus untersu‐ chen Sportmotoriker*innen deren Veränderung auf verschiedenen Zeitskalen: nämlich den Zeitskalen der kurzfristig-reversiblen motorischen Adaptation an veränderte Bedingungen (bspw. an verschiedene Schneearten), des längerfristigen und relativ überdauernden motorischen Lernens (bspw. des Carvens) sowie der die gesamte Le‐ bensspanne betreffenden motorischen Entwicklung (bspw. des Gleichgewichtserhalts auf Skiern im Alter). Da auch die Sportpsychologie durch eine solch funktionale Zugangsweise gekenn‐ zeichnet ist, erweist sich die Sportmotorik als „natürliche“ sportwissenschaftliche Anschluss(teil)disziplin, wenn es um die Umsetzung von auf psychologischer Ebene bestimmten Verhaltenszielen in Form sportlichen Bewegungsverhaltens geht. Sport‐ psycholog*innen sollten sich daher in besonderer Weise für die Fragen interessieren, welche Trends in der motorikwissenschaftlichen Theoriebildung in jüngerer Zeit zu beobachten waren und welche Konsequenzen sich aus diesen Trends für die praktische Gestaltung motorischer Lernprozesse ergeben. Genau diese beiden Fragen stehen deshalb im Zentrum der folgenden beiden Teilkapitel 7.1 und 7.2. 120 7 Trends in der Sportmotorik und Konsequenzen für die Sportpsychologie <?page no="121"?> 7.1 Trends in der Sportmotorik Historisch betrachtet, war im deutschsprachigen Bereich Günter Schnabel mit sei‐ nen kybernetischen Gedanken zur Bewegungskontrolle - mit der Kybernetik als Wissenschaft von der Steuerung und Regelung komplexer Systeme - einer der wichtigsten Vorreiter einer funktional ausgerichteten Sportmotorik. Sein „Modell der Bewegungskoordination“ fand 1976 Eingang in das wohl verbreitetste Sport‐ motorik-Werk der deutschsprachigen Sportwissenschaft: in den „Meinel-Schnabel“; es findet sich im Kern unverändert noch in der jüngsten Auflage des Lehrbuchs (Meinel & Schnabel, 2015). In der Praxisrezeption wird das Modell gerne - arg ver‐ einfacht (Hossner, 2017) - als schlichtes Regelkreismodell dargestellt. Die Grundidee eines solchen Regelkreises ist, dass kontrolliertes Bewegungsverhalten auf einem fortlaufenden Vergleich eines durch das Bewegungsziel definierten Sollwerts (bspw. Dartpfeil ist ergriffen) mit einem aktuell wahrgenommenen Istwert (bspw. Dartpfeil ist noch nicht ergriffen) basiert. Es werden dann so lange Kontrollsignale ausgegeben, wie Soll- und Istwert noch nicht übereinstimmen. Dass menschliche Bewegungskontrolle allerdings unmöglicherweise durch einen einfachen Regelkreis realisiert werden kann, war bereits in den 1960er Jahren erkannt worden, etwa von Keele (1968), der - unter Beachtung der Randbedingung, dass in einem menschlich-biologischen System ein einziger Durchlauf eines Regelkreises Zeit benötigt, nämlich um die 150 ms - darauf hinwies, dass in dieser initialen Phase der Bewegungsausführung deren Kontrolle auf einem zentral gespeicherten „Pro‐ gramm“ beruhen müsse. Ausformuliert wurde dieser Gedanke von Schmidt (1975) in seiner „Schema-Theorie“ - quasi synonym auch als „Theorie generalisierter Motorikprogramme“ bezeichnet -, indem er für die ersten 150 ms jeder Bewegung annahm, dass sie aus dem Abruf von programmbezogenen Wiedergabeprozessen (samt Aktivierung sogenannter Recall-Schemata) resultierten, während regelkreis‐ bezogene Wiedererkennungsprozesse (samt Aktivierung sogenannter Recognition- Schemata) erst nach diesen 150 ms die Kontrolle übernehmen können. Wie bereits für das Schnabel’sche Koordinationsmodell festgestellt, findet sich in den 2020er Jahren auch die Schematheorie noch in einer Vielzahl von Lehrtexten, wenn es um die theoretische Grundlegung komplexer Bewegungskontrollprozesse geht. Übersehen wird dabei, dass in der Motoriktheorie in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche Fortschritte erzielt wurden. Diese Fortschritte sollen - fünffach unterteilt als prinzipiell abgrenzbare konzeptionelle Trends - in den folgenden Abschnitten skizziert werden. Wie wir sehen werden, landen wir dabei bei einem Bewegungskontrollmodell, wie es in Abbildung 7-1 vorab veranschaulicht wird: bei der „Theorie der optimalen Feedback-Kontrolle“ (Todorov & Jordan, 2002; Wolpert & Ghahramani, 2004). Zen‐ trale Bestandteile dieser Theorie sind innerhalb der Kontrollarchitektur (also internal) ein Kontroll- und ein Prädiktorsystem, in denen wahrnehmungs- (mit S für Stimulus) und ausführungsbezogene (mit R für Response) Größen verrechnet werden, um in der Welt (also external) äußerlich sichtbare Bewegungen zu erzeugen. 7.1 Trends in der Sportmotorik 121 <?page no="122"?> Abb. 7-1 | Theorie der optimalen Feedback-Kontrolle (modifiziert nach Todorov & Jordan, 2002, und Wolpert & Ghahramani, 2004) 7.1.1 Prädiktion und interne Vorwärtsmodelle Betrachten wir die Abbildung 7-1 etwas genauer, springt uns im unteren linken Teil des Flussdiagramms ein klassischer Regelkreis ins Auge. Zu einem Zeitpunkt t 0 liegt in der externalen Welt eine Situation S 0 vor, die wir als aktuellen Istwert in eine internale Wahrnehmung S 1 ′ überführen und - symbolisiert durch den folgenden Kreis - mit einem zum Zeitpunkt t 1 angezielten Sollwert S 1 * vergleichen. Bei Differenzen muss das internale Kontrollsystem Bewegungssignale R′ generieren, die in der externalen Welt als Bewegungsantwort R in Erscheinung treten und zusammen mit äußeren Einflüssen eine neue Situation S 1 zum Zeitpunkt t 1 entstehen lassen, welche dann die Basis für einen weiteren Regelkreisdurchlauf abgibt. Neben dem bereits angesprochenen, aus dem Zeitbedarf für einen Durchlauf von etwa 150 ms resultierenden Zeitverzögerungsproblem ergibt sich bei Annahme einer alleinigen Regelkreiskontrolle allerdings noch eine weitere schwierige Frage: Wie kann das System bei einer festgestellten Sollwert-Istwert-Abweichung „wissen“, welche Kontrollsignale es sein mögen, deren Ausgabe sich in einer Annäherung des Istwerts an den Sollwert niederschlägt? Wenn wir uns diese Frage auf der Zunge zergehen lassen, stellen wir fest, dass es keine Möglichkeit gibt, diese Kontrollsignale rein internal zu bestimmen. Genau dieser Punkt bildet den Kern des „Inkommensurabilitätsarguments“ von Prinz (1987), das darauf abhebt, dass sensorische und motorische Codes nicht unmittelbar ineinander überführt werden können und daher Bewegungen nicht in Ma‐ ßen bewegungsverursachender Bewegungskommandos kontrolliert werden können, sondern allein in Maßen der - im nächsten Zeittakt wahrnehmbaren - Effekte, die sie 122 7 Trends in der Sportmotorik und Konsequenzen für die Sportpsychologie <?page no="123"?> in der externalen Welt erzeugen. Wie man leicht sehen kann, spricht dieses Argument in gleicher Weise auch gegen eine reine Programmkontrolle. Was es vielmehr in der Kontrollarchitektur braucht, ist ein internes Modell, das auf der Basis einer Kopie der ausgegebenen Bewegungskommandos - einer „Efferenzkopie“ - vorhersagt, welche wahrnehmbaren Effekte diese Kommandos in der externalen Welt erzeugen. In Abbildung 7-1 ist dieses interne Modell als „Prädiktorsystem“ gekennzeichnet; in ingenieurwissenschaftlicher Sprache handelt es sich hierbei um ein „Vorwärtsmo‐ dell“, da die Wirkung der Bewegungskommandos „nach vorne“ in die Zukunft hinein modelliert wird. In einfachen Worten fällt dem Prädiktormodell die Aufgabe zu, zuver‐ lässige - wenngleich nicht notwendigerweise bewusst zugängliche - Antworten auf die Frage zu generieren, was passiert, wenn ich etwas tue. Für die Bewegungskontrolle wäre dann nur noch zu fordern, dass das in Abbildung 7-1 gezeigte Kontrollsystem den Charakter eines „inversen Modells“ annimmt, gekennzeichnet durch eine Invertierung der Vorwärtsmodellfrage, welcher Effekt sich bei gegebenen Kommandos einstellen wird, in die Kontrollmodellfrage, welche Kommandos es braucht, um einen gewünsch‐ ten Effekt zu erzielen - oder in einfachen Worten: was ich tun muss, damit etwas passiert. Mit genau dieser Architektur gekoppelter Invers- und Vorwärtsmodelle sind wir bei der „Theorie interner Modelle“ angelangt, wie sie in den 1990er Jahren die sportmotorische Theoriediskussion beherrschte (bspw. Wolpert et al., 1995). 7.1.2 Pseudo-Regelung und Kontrollgesetze Bei noch eingehenderer Betrachtung der Abbildung 7-1 fällt auf, dass die Ausgabe des Prädiktorsystems - die mit einem „Dach“ (^) symbolisierte internale Vorhersage der Situation zum Zeitpunkt t 1 - nicht nur zur Generierung passender Kontrollsignale, sondern darüber hinaus dafür genutzt werden kann, um die Vorhersage mit den zeitverzögert aus den Sinnessystemen einlaufenden Signalen zu vergleichen. Was wir auf diese Weise erhalten, ist ein zusätzlicher Regelkreis, der von den Vorhersagen des Prädiktorsystems direkt zurück zur Wahrnehmung der sich verändernden Situation läuft, ohne den zeitverzögernden „Umweg“ über die externale Welt einschlagen zu müssen: ein „Pseudo-Regelkreis“. Von einem sehr gut entwickelten Vorwärtsmodell ist dann zu erwarten, dass es die Situation zum nächsten Zeitpunkt nahezu perfekt vorhersagt, was wiederum die Funktion der später einlaufenden Sinnessignale darauf beschränkt, die Korrektheit dieser Vorhersagen zu überwachen. Damit wird jedoch das einleitend gegen eine reine Regelkreis- und für eine ergänzende Programmkontrolle vorgebrachte Zeitverzögerungsargument zur Gänze entkräftet, da - anstelle eines gespeicherten Motorikprogramms - in der initialen Phase der Bewegungsausführung die Vorhersagen des Prädiktorsystems für eine nahezu zeitverzögerungsfreie Pseudo- Regelung genutzt werden können. Für die Theorie interner Modelle (bspw. Wolpert at al., 1995) bedeutet dies wiederum, dass es gar keine Umkehrung des Vorwärtsmodells in Form eines „fest verdrahteten“ inversen Modells mehr braucht und sich stattdessen Bewegungen auf der 7.1 Trends in der Sportmotorik 123 <?page no="124"?> Basis von „in Echtzeit“ ablaufenden internen Vorwärtsmodellierungen koordinieren lassen. In Abbildung 7-1 verliert dann das „Kontrollmodell“ den Charakter einer echten Steuerungsinstanz und erhält seine Bedeutung vielmehr dadurch, dass aus der Vielzahl von Bewegungsvarianten, die sich gemäß Vorwärtsmodellierung für die Erreichung des angezielten Effekts anbieten, diejenige Variante realisiert wird, die sich durch möglichst geringe „Kosten“ auszeichnet, also etwa Kosten, die mit einer kraftraubenden, wenig effizienten Bewegungsausführung einhergehen (also beispielsweise beim Ergreifen eines Dartpfeils eine Variante mit nicht übermäßigem Krafteinsatz, die gleichwohl einen sicheren Griff garantiert). Die zentrale Funktion des Kontrollsystems besteht dann darin, diese Kostenkalkulationen in einem „Kontrollgesetz“ zusammenzufassen (Todorov & Jordan, 2002). Als motoriktheoretischen Trend dürfen wir somit die Etablierung der Idee festhalten, dass Bewegungen durch die abgestimmte Kopplung eines echten und eines Pseudo-Regelkreises fortlaufend über die aus den Regelkreisen einlaufenden Feedback-Signale koordiniert werden, sodass letztlich stetig angepasste internale Prädiktionen und damit interne Vorwärtsmodelle die Bewegungskontrolle übernehmen. 7.1.3 Minimale Intervention und Rauschen Wenn sich motorische Kontrolle - wie zuvor hergeleitet - darauf bezieht, dass man sich von Effekt zu Effekt „vorwärts arbeitet“, dann folgt daraus weiterhin, dass Verhaltens‐ kontrolle das Erreichen genau dieser wahrnehmbaren Effekte betrifft und keineswegs jedes Detail der Bewegungen, die diese Effekte letztlich erzeugen. Wie beim Autofah‐ ren, bei dem wir das Gaspedal bedienen, ohne notwendigerweise zu wissen, welche Prozesse hierdurch auf der Ebene des Motors ausgelöst werden, können wir uns auch bei der Bewegungskontrolle an dieser Stelle auf eine Vielzahl von untergeordneten Mechanismen verlassen, die sicherstellen, dass angezielte Effekte zuverlässig erreicht werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich angezielte Effekte „von selbst“ einstel‐ len, wie dies beim Schussfahren auf Skiern zutrifft, wo sich die Bewegungskontrolle im Kern darauf reduziert, gar nichts zu tun und die Geschwindigkeitszunahme den Kräften der Physik zu überlassen. Die in Abbildung 7-1 veranschaulichte Kontrollarchitektur ist vor diesem Hintergrund so zu verstehen, dass die internalen Prädiktionen die Situationsentwicklung „an sich“ betreffen - wenn ich nur wenig oder im Extremfall gar nicht eingreifen muss, kann ich mich darauf beschränken, wahrnehmungsseitig zu überwachen, ob sich die Situation tatsächlich wie gewünscht entwickelt oder nicht. Schlagwortartig lässt sich der damit angesprochene Motoriktheorietrend mit dem Etikett des von Todorov und Jordan (2002) formulierten Prinzips der minimalen Intervention umreißen. Wie die beiden Autoren modellhaft an Tischtennisschlägen aufzeigen konnten, ist es dabei nicht nur so, dass Bewegungsstreuungen allein in aufgabenrelevanten Aspekten interessieren; vielmehr kann die Streuung in aufgaben‐ relevanten Aspekten sogar umso besser reduziert werden, je mehr auf die kontrollierte Streuungsverringerung in aufgabenirrelevanten Aspekten verzichtet wird (also bspw. 124 7 Trends in der Sportmotorik und Konsequenzen für die Sportpsychologie <?page no="125"?> auf die Kontrolle des exakten Umkehrpunkts der Schlagbewegung mit dem Ziel der Erzeugung einer konstanten Bewegungsbahn zum Zeitpunkt des Balltreffens). Auf diese Weise wird der Umgang mit „Rauschen“ aus Sicht der jüngeren Moto‐ rikforschung zu einem zentralen Problem der Bewegungskoordination. Gemeint ist damit der Umstand, dass erzeugte Effekte stets mit einer unbeabsichtigten, aufgrund biologischer Randbedingungen unvermeidbaren Streuung behaftet sind (bspw. Faisal et al., 2008) - sei es streuendes Rauschen aufseiten der sensorischen Signalübertragung oder der motorischen Kontrollsignalausgabe. In Abbildung 7-2 wird - inspiriert durch die Arbeiten von Müller und Loosch (1999) - am Beispiel des Dartwurfs veranschau‐ licht, wie Menschen mit solchen Streuungsproblemen umgehen können. Dargestellt ist zu diesem Zweck ein sogenannter „Aufgabenraum“, den wir uns durchaus als Illustration der in einem internalen Prädiktorsystem ablaufenden Kalkulationen vor‐ stellen können (wenngleich im vorliegenden Fall angesichts der geringen Anzahl berücksichtigter Variablen in stark vereinfachter Form). Auf der Hochachse ist im Teil A der Abbildung die Treffwahrscheinlichkeit der Spielfläche in vertikaler Dimension für eine Vielzahl von Kombination von Abwurfgeschwindigkeiten und Abwurfwinkeln abgetragen (unter Vernachlässigung des Luftwiderstands sowie den weiterhin verein‐ fachenden Annahmen, dass der Pfeil exakt auf Höhe des Bull’s Eye in einer Entfernung von 2 m losgelassen wird). Wie sich zeigt, würde man bei einem Abwurfwinkel von 45° die geringste Abwurfgeschwindigkeit aufbringen müssen, wohingegen bei steilerem oder flacherem Winkel jeweils eine höhere Geschwindigkeit benötigt wird. Während allerdings steile Winkel mit einer geringen Anzahl von passenden Geschwindigkeiten einhergehen, wird das Aufgabenziel bei flachen Winkeln mit mehreren zugeordneten Geschwindigkeiten erreicht. Fügen wir - im Teil B der Abbildung - jetzt noch sensomo‐ torisches Rauschen hinzu, wie es in einem Vorwärtsmodell einzukalkulieren ist, runden sich die scharfen Kanten der rein physikalisch angedachten Aufgabenlandschaft zwar ab, die generelle Form des Treffwahrscheinlichkeitstals bleibt aber erhalten. Für das Bewegungslernen folgt hieraus, dass es lohnend erscheint, erstens einen fehler- und mithin streuungstoleranten Teilbereich des Aufgabenraums aufzusuchen und Dart‐ würfe mit flachem Abwurfwinkel auszuführen und zweitens „funktionelle Varianz“ aufgrund motorisch äquivalenter Aufgabenlösungen auszunutzen (Müller, 2001). Dies bedeutet, dass es beim Dartwurf letztlich auf die Konstanz der angezielten Effekter‐ reichung ankommt, während die exakten Winkel-Geschwindigkeits-Kombinationen durchaus von Versuch zu Versuch variieren können. Dass versierte Dartspieler*innen tatsächlich in genau diesem Sinne Varianzen kompensieren, wurde von Müller und Loosch (1999) empirisch nachgewiesen. 7.1 Trends in der Sportmotorik 125 <?page no="126"?> (A) (B) Abb. 7-2 | Aufgabenräume für den Dartwurf (A) ohne und (B) mit Berücksichtigung sensomotorischen Rauschens (nach Müller & Loosch, 1999, und Hossner & Zahno, 2022) Aufgabenraumdarstellungen wie die der Abbildung 7-2 sind eine gute Beschreibung davon, wie wir uns die Formierung von internalen Prädiktorsystemen vorstellen können. Sie veranschaulichen zugleich, wie mit Problemen des sensomotorischen Rauschens umgegangen werden kann und wie aufgabenrelevante von aufgabenirrele‐ vanten Variablen voneinander abzugrenzen sind, damit sich die motorische Kontrolle - nach dem „Prinzip der minimalen Intervention“ - allein auf die zielbezogenen Aspekte der Bewegungsaufgabe beschränken kann. In Zusammenschau mit der zuvor herge‐ leiteten „Feedback“-Architektur sich wechselseitig ergänzender Regelkreise ergibt sich hieraus der motoriktheoretische Trend einer zunehmenden Hinwendung zur Idee einer „optimalen“ Feedback-Kontrolle (Todorov & Jordan, 2002; Wolpert & Ghahramani, 2004). 126 7 Trends in der Sportmotorik und Konsequenzen für die Sportpsychologie <?page no="127"?> 7.1.4 Unsicherheit und Zustandsschätzung Wenn zuvor sensomotorisches Rauschen angesprochen wurde, dann impliziert dies, dass die in Abbildung 7-1 dargestellten internalen Größen stets mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sind. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Variable S 0 ′. Da wir prinzipiell nie direkten Zugriff auf den external gegebenen Zustand S 0 haben, sondern stets nur indirekt über unsere Sinnessysteme, handelt es sich bei S 0 ′ nicht um eine 1: 1-Übersetzung des externalen Zustands S 0 in internal verarbeitbare Codes, sondern um eine Zustandsschätzung. Die hieraus resultierende Erkenntnis, dass Bewegungskontrolle in fundamentaler Weise auf Wahrscheinlichkeitskalkulationen beruht, begründet einen weiteren wichtigen Motoriktheorietrend der vergangenen Jahre (ausführlich: Wolpert, 2007). In einem sportbezogenen Übersichtsbeitrag zu diesem Thema unterscheiden Beck et al. (2023) fünf Mechanismen zum Umgang mit sensomotorischer Unsicherheit. Zwei dieser Mechanismen haben wir bereits angesprochen, nämlich die Nutzung von Redundanz in Form der Beschränkung auf die Kontrolle aufgabenrelevanter Aspekte (redundancy exploitation) sowie das Aufsuchen fehlertoleranter Bereiche des Aufgabenraums zur Reduktion des Risikos nicht zielführender Bewegungen (risk optimization). Anstelle des aktiven Umgangs mit Bewegungsvarianz besteht zudem die Möglichkeit, störungsresistente Bewegungsvarianten anzustreben, etwa zur Abfederung von Schlägen beim Mountainbiking durch optimale Kokontraktion der Haltemuskulatur (impedance control). Und schließlich kann Unsicherheit auch durch eine optimale Integration von Informationen aus verschiedenen Quellen reduziert werden, sei es durch Integration der aus den Sinnessystemen eingehenden Signale (multisensory integration) oder durch Berücksichtigung von Vorab-Erwartungen über die weitere Situationsentwicklung (prior-knowledge integration). Für die Abbildung 7-1 bedeuten die letztgenannten beiden Mechanismen, dass wir uns den Pfeil von S 0 zum Vergleichskreis vor der Zustandsschätzung S 0 ′ als „Mehr‐ fachpfeil“ vorstellen müssen. So können beispielsweise beim Zurückspielen eines Tennisballs visuelle und auditive Inputs sowie Vorab-Erwartungen in die Schätzung der aktuellen Ballposition einfließen. An dieser Stelle zeigen Ernst und Banks (2002) für die multisensorische Integration sowie Körding und Wolpert (2004) für die Integration von Vorwissen, dass zur Optimierung der Zustandsschätzung Informationen aus verschiedenen Quellen im Sinne einer „Bayes-Integration“ nach ihrer Zuverlässigkeit gewichtet werden. Für unsere Tennissituation bedeutet dies, dass man sich bei der Schätzung der Ballposition - erneut nicht notwendigerweise bewusst - umso stärker auf Vorab-Erwartungen verlassen sollte, je unzuverlässiger die visuell verfügbare Information ist (bspw. bei schlechten Lichtverhältnissen) und je ausgeprägter mein Vorwissen über die Präferenzen meiner Gegner*innen ausfällt (bspw. bei langjährigen Trainingspartner*innen). Erinnern wir uns an das einleitend eingebrachte Argument zurück, dass funktionale Modellvorstellungen biologischen Randbedingungen zu genügen haben - also etwa der zeitverzögerten Signalweiterleitung -, dann mögen an dieser Stelle Zweifel auf‐ 7.1 Trends in der Sportmotorik 127 <?page no="128"?> 0 0.02 0.04 0.06 0.08 80 90 100 110 120 130 Wahrscheinlichkeit (f) Richtung ( ° ) B 0 0.02 0.04 0.06 0.08 50 60 70 80 90 100 Wahrscheinlichkeit (f) Richtung ( ° ) A 0 0.02 0.04 0.06 0.08 40 50 60 70 80 90 100 110 120 130 Wahrscheinlichkeit (f) Richtung ( ° ) A B A+B 50 ° 55 ° 60 ° 65 ° 70 ° 75 ° 80 ° 85 ° 90 ° 95 ° 100 ° 105 ° 110 ° 115 ° 120 ° 50 ° 55 ° 60 ° 65 ° 70 ° 75 ° 80 ° 85 ° 90 ° 95 ° 100 ° 105 ° 110 ° 115 ° 120 ° (A) (B) (C) Abb. 7-3 | Schematische Veranschaulichung einer neuronalen Implementation (A) relativ unsicherer und (B) relativ sicherer Zustandsschätzungen und (C) deren zuverlässigkeitsgewichteter Verrechnung nach Bayes-Integration (Körding & Wolpert, 2006; für mathematische Details: Ma et al., 2023) 128 7 Trends in der Sportmotorik und Konsequenzen für die Sportpsychologie <?page no="129"?> kommen, ob Wahrscheinlichkeitsverteilungen überhaupt biologisch implementierbar sind. In Abbildung 7-3 wird - schematisch stark vereinfacht - demonstriert, dass solche Zweifel unbegründet sind (für Details siehe Vilares & Körding, 2011). Stellen wir uns hierzu (in Anlehnung an die Arbeiten von Georgopoulos et al., 1986) vor, dass Bewe‐ gungsrichtungen auf Ebene des Gehirns durch eine Vielzahl einzelner Neuronen co‐ diert sind und jedes Neuron in Form seiner Aktivierung einen gesonderten „Rich‐ tungsvorschlag“ macht, dann lassen sich diese „Vorschläge“ leicht als Verteilung darstellen mit einem Mittelwert als Maß für die aus dem „Abstimmungsverhalten“ re‐ sultierende Bewegungsrichtung und einer Streuung als Maß für die (Un-)Sicherheit des „Abstimmungsergebnisses“. In der schematischen Veranschaulichung der Abbildung 7-3 ergeben sich auf diese Weise Zustandsschätzungen geringerer (A) oder höherer (B) Sicherheit. Würde es sich dabei um Schätzungen des external selben Zustands durch verschiedene Sinnessysteme handeln, würde deren nach Zuverlässigkeit gewichtete Kombination - nach dem Prinzip der „Bayes-Integration“ (Körding & Wolpert, 2006) - in eine noch sichere Zustandsschätzung münden (C = A+B). 7.1.5 Gedächtnisformation und Strukturtransfer Fassen wir das bisher Gesagte zusammen, basiert Bewegungskontrolle auf einer zuneh‐ mend sicheren Prädiktion der Effekte der ausgegebenen Bewegungskommandos unter Einbindung einer „Online“-Pseudo-Regelung und einer zunehmend zuverlässigen Zustandsschätzung samt Identifikation von Bewegungskosten, aufgabenrelevanten Variablen und bestehenden Unsicherheiten. Auf dieser Grundlage gelingt es dem sensomotorischen System, sich fortlaufend an aktuelle Ziele und Gegebenheiten der externalen Umwelt anzupassen. Ein solch ausgeprägtes Adaptationsvermögen ist von offensichtlicher evolutionärer Bedeutung; in der Welt des Sports zeigt es sich beispielsweise dann, wenn ich mich als Freizeitskifahrer*in jedes Jahr an neue Leihskier anpassen kann und nicht jeweils das Skifahren von Grund auf neu erlernen muss. In der grundlagenorientierten Motorikforschung sind solche Adaptationsprozesse vor allem anhand der Anpassung an künstlich angelegte Kraftfelder studiert worden, die geradlinige Handbewegungen ablenken (bspw. Shadmehr & Mussa-Ivaldi, 1994). Gleichermaßen evolutionär vorteilhaft scheint es allerdings zu sein, wenn ich mich nicht immer wieder erneut adaptieren muss, sondern stattdessen relevante Gegeben‐ heiten so abspeichere, dass ich den vergleichsweise langsamen Adaptationsprozess verkürzen oder gar gänzlich überspringen kann. In der Forschungsgruppe von Franklin und Wolpert wurden genau solche Differenzierungsprozesse in Abhängigkeit von verschiedenen Hinweisreizen unter der Überschrift der „Formation motorischer Gedächtnisse“ umfassend untersucht (bspw. Howard et al., 2013). Übertragen auf das Skifahren würde dies bedeuten, dass Profiskifahrer*innen beim Anlegen von Slalom- oder Abfahrtsskiern ganz unmittelbar in der Lage sind, die zu den Skiern passenden Bewegungskommandos auszugeben, ohne jeweils eine relativ langwierige Adaptationsphase durchlaufen zu müssen. 7.1 Trends in der Sportmotorik 129 <?page no="130"?> Werden Aufgabenräume in dieser Weise differenziert, ist die Kehrseite der Medaille darin zu sehen, dass der - allfällig wünschenswerte - Transfer zwischen den getrennten Aufgabenräumen eingeschränkt wird. Zu diesem Problem wurde von Braun et al. (2010) das Konzept des „strukturellen Lernens“ eingebracht, das auf der Annahme beruht, dass Lernende die Vielzahl der aufgabenraumbestimmenden Parameter auf besonders relevante „Meta-Parameter“ reduzieren. Am Beispiel des in Abbildung 7-2 veranschaulichten Aufgabenraums für den Dartwurf würde dieser Metaparameter etwa die „Talsohle“ der dargestellten Vorhersagelandschaft betreffen, die erfolgverspre‐ chende Kombinationen von Abwurfwinkeln und -geschwindigkeiten charakterisiert. Für diese Struktur würde dann anzunehmen sein, dass sie - trotz allfälliger Gedächtnis‐ formationsprozesse wie zuvor skizziert - über differenzierte Aufgabenräume hinweg anzuwenden ist. Im Falle der Konfrontation mit einer völlig neuartigen Aufgabe - hier vielleicht dem Werfen einer Frisbeescheibe anstatt eines Dartpfeils - könnte auf diese Struktur zurückgegriffen werden, um beim „Neulernen“ nicht bei Null anfangen zu müssen, sondern sofort mit einer aussichtsreichen Parametrisierung zu beginnen und von dort aus zur Ausbildung eines aufgabenspezifisch angepassten Prädiktorsystems weiter zu explorieren. Zusammenfassend lässt sich Bewegungslernen - im Sinne einer anforderungsgemä‐ ßen Optimierung der motorischen Kontrolle - somit als Resultat eines wechselseitigen Zusammenspiels von flexibilitätserhaltenden Adaptations- und effizienzsteigernden Strukturbildungsprozessen verstehen, welche auf verschiedenen Zeitskalen ineinan‐ dergreifen (Smith et al., 2006). Die Fokussierung auf die Aufklärung dieser Prozesse wollen wir als letzten Trend der jüngeren Sportmotorikforschung aufnehmen, einen Trend, der die funktional bestimmte Bewegungswissenschaft noch eine geraume Zeit beschäftigen dürfte. 7.2 Konsequenzen für die Sportpsychologie Für angewandte Sportpsycholog*innen bietet die eingeführte Motoriktheorie der optimalen Feedback-Kontrolle (Todorov & Jordan, 2002; Wolpert & Ghahramani, 2004) einen Rahmen zur Einordnung einer Vielzahl von Phänomenen, welche sie in ihrem Alltag antreffen. Beispielsweise wird jetzt gut verständlich, warum dem - aus Regelkreis- oder Programmtheoriesicht schwer begründbarem - Einspielen vor einem Badmintonmatch selbst bei Profi-Spieler*innen eine wichtige Funktion zukommt, die ihren Aufschlag ja schon tausendfach wiederholt haben, denn diese koordinative Aufwärmphase lässt sich als Aktualisierung und Feinjustierung von internalen Prädiktionen interpretieren. Da schon bei kleinen - unvermeidbaren - Veränderungen des Körpers oder der Umgebungsbedingungen dieselben motorischen Kontrollkommandos nicht mehr zum selben Effekt in der Umwelt führen, ist die fort‐ laufende Aktualisierung oder Rekalibration der internalen Prädiktionen unerlässlich für flexibles zielgerichtetes Verhalten - selbst dann, wenn schon extensive Erfahrungen mit der Bewegungsaufgabe vorliegen. 130 7 Trends in der Sportmotorik und Konsequenzen für die Sportpsychologie <?page no="131"?> Ein weiteres Phänomen - insbesondere relevant in der sportpsychologischen Arbeit mit jugendlichen Athlet*innen - betrifft Einbrüche in der koordinativen Leistung nach ausgeprägten Wachstumsschüben, die bei den Sportler*innen motivationale Krisen auslösen oder das Selbstvertrauen beeinträchtigen können. Motoriktheoretisch verste‐ hen wir dieses Phänomen jetzt so, dass aufgrund von veränderten Längenverhältnissen des Körpers - also des zu bewegenden Systems - etablierte Kommandos nicht mehr zum gewohnten Bewegungsergebnis führen, sodass das Prädiktorsystem angepasst werden muss. Daher darf ein von außen beobachteter Einbruch in der aktuellen koordinativen Performanz nicht so missverstanden werden, dass Athlet*innen in dieser Phase schlechter lernen - ganz im Gegenteil sind Lernprozesse in vollem Gange (Körding et al., 2007). Aus dem funktionalen Theorierahmen der Sportmotorik kann dann zwar - natürlich - nicht abgeleitet werden, wie das sportpsychologische Problem zu lösen ist, Athlet*innen aus motivationalen Krisen herauszuführen; ein profundes motorikbezogenes Wissen erlaubt es aber, die koordinativen Ursachen des Leistungseinbruchs besser nachzuvollziehen und psychologische Interventionen aufzugleisen, in die dieses Wissen einfließt. In diesem Sinne sollte die Bezugnahme auf aktuelle Theorien der Sportmotorik Sportpsycholog*innen einen hilfreichen Ansatzpunkt zur Lösung ihrer Praxisprobleme bieten. Wie in den folgenden beiden Abschnitten gezeigt werden soll, können diese Bezugnahmen entweder eher grundlagenbezogen ausfallen und auf die Theorieanbin‐ dung abzielen oder einen direkten Anwendungsbezug aufweisen mit einem Fokus auf Ableitung konkreter Hinweise für die Lehrpraxis. 7.2.1 Grundlagenbezug und Theorieanbindung Grundsätzlich fällt die Bezugnahme auf Theorien aus Nachbardisziplinen umso einfacher, je mehr diese durch einen konsistenten Theorierahmen mit hohem Inte‐ grationspotenzial gekennzeichnet sind. Dass die Sportmotorik mit der Theorie der optimalen Feedback-Kontrolle (Todorov & Jordan, 2002; Wolpert & Ghahramani, 2004) diesen Rahmen bieten kann, stellt daher aus sportpsychologischer Perspektive eine willkommene Entwicklung der letzten Jahre dar, dies insbesondere im Vergleich zur sportmotorischen Theoriedebatte zum Ende des letzten Jahrhunderts mit Strömungen, die als in fundamentaler Weise gegensätzlich wahrgenommen wurden (motor-action controversy; Meijer & Roth, 1988). Zwar sind diese Theorieströmungen noch immer an ihrem jeweiligen Fokus erkennbar - nämlich am Fokus auf die Beschreibung von koordiniertem Bewegungsverhalten basierend auf Person-Umwelt-Interaktionen bei psychoökologischen und systemdynamischen Ansätzen (bspw. Warren, 2006) im Ge‐ gensatz zum Fokus auf die Erklärung von Bewegungsverhalten basierend auf internen Kontrollmechanismen bei kognitiv orientierten Ansätzen (bspw. Wolpert et al., 2011) -; in ihrem Kern haben sich mit den aktuellen Entwicklungen die konzeptionellen Gegensätze jedoch weitgehend aufgelöst (für einen Überblick: Hossner et al., 2013). Es zeigen sich vielmehr Konvergenzen sowohl auf der Ebene von theoretischen 7.2 Konsequenzen für die Sportpsychologie 131 <?page no="132"?> Kernaussagen - beispielsweise hinsichtlich der Modellierung von Koordination bzw. Verhaltenskontrolle als fortlaufende Schleife von wahrgenommener Situation zu wahr‐ genommener Situation - als auch auf der Ebene ableitbarer Praxiskonsequenzen - aufzuzeigen etwa am Beispiel des Kreativitätstrainings im Sportspiel (Zahno & van der Kamp, 2022). Geht es - jenseits des vorteilhaften konsistenten Theorierahmens - um die direkte Anbindung psychologischer Ansätze zu dem in Abbildung 7-1 veranschaulichten aktuellen Stand der Motoriktheorie, dann zeigt sich eine relevante „Schnittstelle“ insbesondere bei S 1 *, also bei der Festlegung des angestrebten Bewegungseffekts. Aus psychologischer Perspektive kann diese Festlegung als „Entscheidung“ verstanden werden. Da sich die Sportmotorik auf die Erklärung der Prozesse beschränkt, wie der kontrollierte Übergang von wahrgenommenen Ausgangszuständen (S 0 ′) zu erwünsch‐ ten Zielzuständen (S 1 *) gelingt, wird die Frage, wie es zu dieser Entscheidung kommt, von ihr selbst nicht behandelt. Auf motorischer Ebene ist die Realisierung solcher Ent‐ scheidungen als willentliche Einschränkung von Aufgabenräumen zu verstehen - als „intentionale Anker“, auf den Verhalten zuläuft. Diese Anker können von Akteur*innen top-down gesetzt werden und sind in der Regel - zumindest teilweise - explizit zugänglich; an genau dieser Stelle käme die Sportpsychologie mit verschiedensten Ansätzen ins Spiel, beispielsweise Maßnahmen zur Steigerung oder Aufrechterhaltung der Motivation, die Erreichung des mit S 1 * umrissenen Ziels anzustreben. Zugleich wird in aktuellen Motoriktheorien allerdings deutlich, dass aus der kontinuierlich vorwärtsmodellierten Situationsentwicklung auch bottom-up „Vorschläge“ für die Beeinflussung dieser Entwicklung durch eigene Aktivität erwachsen können (Gibson, 1979: Affordanzen). Dieses enge Zusammenspiel begründet die sportmotorisch wie sportpsychologisch gleichermaßen relevante Vorstellung, dass Prozesse der Wahrneh‐ mung und Prozesse der Handlung aufs Engste miteinander verknüpft sind (siehe auch Kapitel 9 in diesem Buch). 7.2.2 Anwendungsbezug und Praxishinweise Jenseits der Anbindung auf der Ebene der Theorie lassen sich aus den skizzierten Motoriktrends auch Praxiskonsequenzen zum Lehren und Lernen von Bewegungen im Sport ableiten (ausführlich: Hossner, 2019a, 2019b; Hossner et al., 2020). Die aus unserer Sicht fundamentale Praxiskonsequenz betrifft dabei die Rolle von Lehrpersonen und Trainer*innen. Wenn sich motorisches Lernen als Aufbau von zunehmend zuverläs‐ sigen internalen Prädiktionen und mithin als Erkennen funktionaler Zusammenhänge darstellt, dann müssen Lernende diese Zusammenhänge notwendigerweise selbst erfahren und wahrnehmen. Wie von Scherer und Bietz (2013) aus sportdidaktischer Perspektive ausgeführt, verändert sich damit die Aufgabe der Lehrpersonen weg von Instruktor*innen, welche Bewegungen vermitteln, hin zu Unterstützer*innen, die möglichst günstige Bedingungen schaffen, damit Lernende selbst Bewegungskompe‐ 132 7 Trends in der Sportmotorik und Konsequenzen für die Sportpsychologie <?page no="133"?> tenzen erwerben. Unterstützen können sie dabei den Lernprozess insbesondere durch Instruktionen und Rückmeldungen sowie durch die Gestaltung des Übungsprozesses. Greifen wir an dieser Stelle zur theoriegeleiteten Veranschaulichung des Lernpro‐ zesses auf die Metapher der in Abbildung 7-2 dargestellten Aufgabenräume zurück und verstehen Lernen in der Folge als Suche nach individuell optimalen Lösungsvari‐ anten, dann lassen sich - in Anlehnung an Hossner et al. (2020) - die in Abbildung 7-4 illustrierten vier Lernmechanismen unterscheiden, welche Lehrpersonen mit Praxisinterventionen gezielt anregen können: (A) Formation (task-space formation), (B) Exploration (task-space exploration), (C) Differenzierung (task-space differentiation) und (D) Dekomposition (task-space decomposition) von Aufgabenräumen. (A) Bei der Formation geht es darum, rudimentäre Zusammenhänge in einem bisher weitgehend unbekannten - daher im Teil A der Abbildung als „Drahtgitter“ dargestellten - Aufgabenraum zu erfahren. Wenn etwa Schüler*innen im Sport‐ unterricht den Salto vorwärts erlernen, ist zunächst einmal völlig unklar, welche Bewegungskommandos ausgegeben werden müssen, um den gewünschten Effekt der Vorwärtsrotation zu erzeugen. Die Aufgabe von Lehrenden ist es dann, Be‐ dingungen zu schaffen, in denen Lernende diese fundamentalen Zusammenhänge erfahren können, beispielsweise durch Lernunterstützungen, welche die Aufgabe vereinfachen (klassisch hierzu Fetz, 1996: Methodische Übungsreihen). (B) Die Exploration betrifft die Entdeckung von Lösungsvarianten in Teilräumen, die dem Lernenden bisher unbekannt sind, vielleicht aber bessere Aufgabenlö‐ sungen beinhalten, etwa - wie weiter oben erläutert - infolge einer höheren Fehlertoleranz. Hier besteht die Aufgabe von Lehrpersonen darin, Lernende in solche erfolgsversprechenden „Täler“ zu lenken. Wird diese Lenkung durch Instruktionen angegangen, sollten sich die Lehrkräfte aber des Umstands bewusst sein, dass Lernende diese Instruktionen notwendigerweise internal in Wahrneh‐ mungserwartungen „übersetzen“ müssen. Daraus folgt, dass wir von Instruktio‐ nen eine umso höhere Wirkung erwarten dürfen, je leichter sie Lernende mit Wahrnehmungen in Verbindung bringen können. In der Praxis haben sich dafür metaphernhafte und effektbezogene Instruktionen bewährt (Liao & Masters, 2001; Wulf et al., 1998). Darüber hinaus erweisen sich Übungsgestaltungen als theoretisch begründet, bei denen Situationen geschaffen werden, die Lernende in Richtung günstiger Aufgabenlösungen lenken, ohne dass dafür eine verbale Instruktion vonnöten wäre. Ein Beispiel aus dem Volleyball wäre das Spannen einer Schnur oberhalb der Netzkante, um beim Blocken eine geradlinige Führung der Arme zum Ball zu „erzwingen“. Diese Lehrmethode hat sich international unter dem Etikett des „constraints-led approach“ etabliert (Davids et al., 2008). (C) Bei der Differenzierung geht es darum, verschiedene Kontexte zu unterscheiden, in denen die gleichen motorischen Kommandos nicht zum gleichen Effekt in der Umwelt führen. Deutlich wird dieser Lernmechanismus am Beispiel von Lernenden, die das Skifahren auf der Piste gut beherrschen, dann aber reali‐ sieren, dass dieselben Bewegungskommandos im Tiefschnee zu ganz anderen 7.2 Konsequenzen für die Sportpsychologie 133 <?page no="134"?> (A) (B) (C) (D) ≠ Abb. 7-4 | Lernmechanismen (Beispiel Dartwurf, h SM- =-Höhe der Scheibenmitte): (A) Formation (Herstellung grundlegender Bezüge, h SM- = 1.73m), (B) Exploration (Suche nach günstigen Teilräumen, h SM- =-1.73m), (C) Differenzierung (Spaltung von Aufgabenräumen, h SM- =-1.73m | h SM- =-2.23m), (D) Dekomposition (Transfer auf neue Aufgaben, h SM- =-1.73m → h SM- =-1.23m) (nach Hossner et al., 2020, und Müller, 2001) 134 7 Trends in der Sportmotorik und Konsequenzen für die Sportpsychologie <?page no="135"?> Konsequenzen führen. Eine Differenzierung des Aufgabenraums „Skifahren“ in „Skifahren auf der Piste“ und „Skifahren im Tiefschnee“ wird insbesondere dann zentral, wenn Lernende den Wechsel von einem Kontext in den anderen ohne vergleichsweise langwierige Adaptationsphase beherrschen wollen. Aus dem gelegten Theorierahmen ist zudem die Hypothese ableitbar, dass für die Diffe‐ renzierung von Aufgabenräumen Praxisinterventionen mit häufigen Wechseln zwischen den Kontexten zielführend sein sollten, dies allerdings auf Kosten der exakten Exploration beider Aufgabenräume (Hossner & Zahno, 2022). (D) Dekomposition von Aufgabenräumen schließlich meint den Transfer von einem gut explorierten Teilraum in einer Aufgabe, beispielsweise dem Dartwurf, auf einen neuen, dem Lernenden bisher unbekannten Aufgabenraum, etwa auf den Basketballfreiwurf (oder in der Abbildung: auf eine völlig ungewohnte Höhe der Dartscheibe). Wie weiter oben unter dem Stichwort des Strukturlernens skizziert, kann der so „dekomponierte“ Teilraum für die Erstellung eines ersten „Entwurfs“ für die erstmalige Bewegungslösung der neuen Aufgabe genutzt werden, bevor von dort aus weiter exploriert wird. Neben einer Erklärung für sportartenübergreifende Transferphänomene, wie sie alltäglich beobachtbar sind, lässt sich daraus ableiten, dass sich Lehrende beim koordinativen Grundlagentrai‐ ning gezielt an funktionalen „Bausteinen“ mit erwartbar hohem Strukturpotenzial orientieren können, die auf eine Vielzahl von strukturell verwandten sportlichen Situationen transferierbar sein sollten (Hossner, 2019b; für die Volleyballpraxis: Kittel et al., 2016). Wie hiermit deutlich geworden sein sollte, ermöglicht die Orientierung an den vier skizzierten Lernmechanismen eine differenzierte Ableitung und Begründung von Praxisinterventionen (für eine ausführlichere Darstellung: Hossner & Künzell, 2022). Zusammenfassend erlaubt ein vertieftes Wissen um sportmotorische Theorietrends der vergangenen Jahrzehnte damit nicht nur, sich sportpsychologischen Problemen in aktueller motoriktheoretischer Anbindung anzunehmen, sondern auch, Praxispro‐ bleme des Bewegungslernens einer theoretisch begründeten Lösung zuzuführen. Frage an die Praxis � „Liebe Emily, Du berichtest von Problemen, die Dir während Deines Leistungs‐ sportpraktikums begegnet sind, das Du im Rahmen des Berner Sportpsychologie- DAS-Programms absolviert hast. Es gab einen Basketballer mit einer ungewöhnlich schlechten Freiwurfquote. Wie bist Du dieses Problem in der psychologischen Beratung des Spielers angegangen? “ → „Natürlich habe ich zunächst einmal alle sportpsychologischen Register ge‐ zogen und beispielsweise die Aufmerksamkeitslenkung durch Einübung von Ab‐ Frage an die Praxis 135 <?page no="136"?> schirmungsstrategien verbessert. Aufgrund meines Wissens um motorikwissen‐ schaftliche Theorietrends war mir allerdings zudem klar, dass Menschen gar nicht Bewegungen an sich kontrollieren, sondern ihr Verhalten von Effektwahrnehmung zu Effektwahrnehmung. Deshalb sollte es die Wurfkonstanz fördern, wenn der Freiwurf aus einer Kette von vorgeschalteten, immer gleichen Verhaltensakten heraus ausgeführt wird: Position einnehmen - zweimal dribbeln - Blick zum Korb - tief ein- und ausatmen - werfen. Tatsächlich konnte der Spieler mit der Einübung dieses einfachen Rituals seine Freiwurfquote in relativ kurzer Zeit deutlich verbessern.“ Literatur Beck, D., Hossner, E.-J., & Zahno, S. (2023). Mechanisms for handling uncertainty in sensorimotor control in sports: A scoping review. International Review of Sport and Exercise Psychology, 1-35. https: / / doi.org/ 10.1080/ 1750984X.2023.2280899 Braun, D. A., Mehring, C., & Wolpert, D. M. (2010). Structure learning in action. 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Auf der Grundlage des Expert Performance Approach wird anschließend dargestellt, dass sportliche Expert*innen speziell in sportartspezifischen Aufgaben, in denen etwa die Antizipation gegnerischer Handlungsabsichten, taktische Entscheidungen oder das Erkennen von mann‐ schaftstaktischen Mustern gefordert sind, gegenüber weniger leistungsstarken Sportler*innen meist überlegen sind. In der Forschung eingesetzte gängige me‐ thodische Verfahren werden vorgestellt und kritisch reflektiert. Abschließend werden der derzeitige Erkenntnisstand zur gezielten Schulung perzeptuell-ko‐ gnitiver Fertigkeiten im Sport eingeordnet und ausgewählte Aufgaben für die zukünftige Expertiseforschung formuliert. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1302. Lernziele Nach der Lektüre dieses Kapitels können Sie ■ Expertise im Sport definieren und Schwierigkeiten bei der kriteriumsorientier‐ ten Differenzierung von Expertise begründet aufzeigen, ■ zentrale Linien der sportbezogenen Expertiseforschung seit den 1970er Jahren beschreiben, ■ expertisebedingte Unterschiede in perzeptuell-kognitiven Fertigkeiten benen‐ nen und diese anhand von beispielhaften Forschungsergebnissen belegen, <?page no="140"?> ■ methodische Ansätze zur Erforschung von perzeptuell-kognitiver Expertise erläutern sowie mit den jeweiligen Ansätzen verbundene Stärken und Schwä‐ chen gegenüberstellen und ■ Maßnahmen beschreiben, anhand derer die Entwicklung zu sportlicher Exper‐ tise auf perzeptuell-kognitiver Ebene unterstützt und ggf. beschleunigt werden könnte. 8.1 Expertise In vielen Bereichen des alltäglichen Lebens erbringen Menschen unter teils sehr komplexen und unsicheren Bedingungen herausragende Leistungen. Dies gilt z. B. für Ärztinnen und Ärzte, Einsatzkräfte der Polizei und Feuerwehr sowie Führungskräfte in Wirtschaft und Politik, aber auch für Wissenschaftler*innen (z. B. Wettlauf gegen die Zeit bei der Entwicklung von Impfstoffen im Zuge der COVID-19-Pandemie), Musi‐ ker*innen und Akteur*innen im Sport. Zu letzteren zählen neben Sportler*innen, deren Leistungen wir nahezu täglich bewundern können, zum Beispiel auch Trainer*innen, Kampf- und Schiedsrichter*innen, Funktionär*innen und Lehrer*innen, die mit ihrer jeweiligen Expertise einen wertvollen Beitrag für „den“ Sport leisten (siehe Exkurs). Im Fokus dieses Kapitels stehen die herausragenden Leistungen von Sportler*innen insbesondere in Sportarten, in denen sie unter hohem zeitlich-räumlichem Druck erfolgreich agieren müssen (z. B. Rückschlag- und Kampfsportarten). Die interessie‐ renden Fragen lauten: 1. Anhand welcher perzeptuell-kognitiver Fertigkeiten können Expertiseunter‐ schiede im Sport erklärt werden? 2. Welche methodischen Ansätze werden zur Diagnostik derartiger Fertigkeitsunter‐ schiede wie eingesetzt? 3. Welche ergänzenden Maßnahmen zur Verbesserung perzeptuell-kognitiver Fertig‐ keiten von Sportler*innen auf dem Weg zu einer Expertin bzw. einem Experten können nach derzeitigem Stand der Erkenntnis ergriffen werden. Um diese Aspekte in den größeren Kontext der Expertiseforschung im Sport einzuord‐ nen, wird zunächst der Frage „Was ist ein*e Expert*in? “ nachgegangen. Anschließend werden zentrale Linien der kognitiv akzentiuerten Expertiseforschung nachgezeichnet. Exkurs | Herausforderungen im Sport Mit welchen Herausforderungen und Aufgabenanforderungen sind Sportler*in‐ nen, Trainer*innen, Kampf- und Schiedsrichter*innen sowie Lehrer*innen im Sport jeweils konfrontiert? Konkretisieren Sie die Bedingungen, unter denen diese Akteur*innen Leistung erbringen müssen und begründen Sie, weshalb diese Leistungen oftmals als „herausragend“ bezeichnet werden können. 140 8 Expertise und perzeptuell-kognitive Fertigkeiten im Sport <?page no="141"?> 8.1.1 Expertise ist … nicht so einfach zu definieren Sicherlich fallen Ihnen schnell zahlreiche Beispiele für Expert*innen im Sport ein. Aber wie würden Sie die Frage „Was ist ein*e Expert*in? “ aus wissenschaftlicher Perspektive beantworten? Welches sind zentrale definitorische Merkmale von Expert*innen? Wie wird jemand überhaupt zu einer Expertin bzw. einem Experten? Bevor Sie hier weiterlesen, nehmen Sie sich fünf Minuten Zeit und schreiben Sie alles, was Ihnen zu diesen Fragen spontan einfällt, auf. Im weiteren Verlauf der kommenden Abschnitte werden Sie hoffentlich Antworten auf Ihre Fragen finden. Allgemein werden Personen als Expert*innen bezeichnet, die in einer bestimmten Domäne (z. B. Sportart, Wissenschaftsdisziplin) durch herausragende Leistungen (z. B. motorische Fertigkeiten, Kenntnisse) auffallen und anhand dessen von anderen Personen, die derartige Leistungen nicht erbringen, unterschieden werden können (Ericsson, 2014). Die herausragende Leistung darf allerdings nicht nur zufällig und punktuell erbracht werden, sondern sie muss stabil über einen längeren Zeitraum wiederholt abgerufen werden können. In Bezug auf sportliche Expertise wird zusätzlich angenommen, dass Expert*innenleistung auf langen Übungs- und Trainingsprozessen in einer bestimmten Sportart beruht (z.-B. Munzert, 1995). Definition | Nach Munzert (1995, S. 123) werden „im Sport (…) als Experten solche Personen bezeichnet, die auf der Basis langer Übungs- und Trainingsprozesse in ihrer Sportart besondere, überdurchschnittliche Leistungen erzielen“. Innerhalb einer Domäne können Expert*innen relativ zur großen Gruppe von Per‐ sonen, die den Expert*innenstatus nicht erreicht haben, entlang eines Kontinuums differenziert werden (Chi, 2006). Speziell für den Sport unterbreiteten Baker et al. (2015) eine an dem allgemeinen von Hoffman (1998) vorgelegten Vorschlag orientierte qua‐ litative Taxonomie zur 7-stufigen Einteilung von Expertise (siehe Abbildung 8-1). Die Zuordnung von Sportler*innen zu einem Expertiseniveau erfolgt dabei in Abhängigkeit vom individuellen Trainings- und Wettkampfniveau. Parallel dazu unterbreiteten Swann et al. (2015) einen Vorschlag zur Quantifizierung von sportlicher Expertise. Demnach werden vier „Elite“-Stufen im mittleren bis oberen Expertisebereich unter Berücksichtigung von Parametern sowohl für den Vergleich innerhalb (z. B. höchstes jemals erreichtes Leistungsniveau) als auch zwischen Sportarten (z. B. Wettbewerbs‐ stärke einer Sportart im Land des Sportlers bzw. der Sportlerin) differenziert. Letzteres soll eine kontextgerechte Einordnung von sportlicher Expertise ermöglichen, da angenommen wird, dass in Sportarten mit geringer Wettbewerbsstärke (in Deutschland z. B. Cricket, Curling) ein hohes Leistungsniveau und dortiger Erfolg einfacher zu erreichen und beizubehalten sind als in Sportarten mit hoher Wettbewerbsstärke (in Deutschland z. B. Fußball, Handball). Ein weiteres, 6-stufiges Klassifikationsschema wurde kürzlich von McKay et al. (2022) vorgeschlagen. Basierend auf Angaben u. a. zur sportlichen Aktivität, zum sportlichen Leistungsniveau und Erfolg sollen Individuen 8.1 Expertise 141 <?page no="142"?> sowohl retrospektiv als auch prospektiv einer Stufe von „bewegungsarm“ (sedentary) bis „Weltklasse“ (world class) innerhalb einer Sportart zugeordnet werden können (siehe nächsten Exkurs). Abb. 8-1 | Vorschläge zur Klassifikation von Expertise Die skizzierten Klassifikationsansätze im Sport fokussieren auf Athlet*innen und sollten daher nicht ohne Weiteres auf andere Personengruppen im Sport (z. B. Kampf- und Schiedsrichter*innen) übertragen werden. Zentraler Ausgangspunkt der Klassifi‐ kationsbemühungen ist die Beobachtung, dass insbesondere der Begriff „Expertin“ bzw. „Experte“ in der wissenschaftlichen Literatur nicht einheitlich verwendet wird (Baker et al., 2015; Swann et al., 2015). Die Schemata sollen helfen, die Zuordnung von Expertisestufen sowie die verwendete Terminologie anhand objektiver Kriterien zu standardisieren und in der Konsequenz die Vergleichbarkeit von Studien zu erhöhen. Auch wenn die Antwort auf die Frage „Was ist ein*e Expert*in? “ auf den ersten Blick einfach erscheinen mag, beruhen die Klassifikation und sprachliche Präzisierung von Expertise leider längst nicht auf einem etablierten wissenschaftlichen Konsens (McAuley et al., 2022). Dies ist allerdings kein rein sportwissenschaftliches Problem, sondern in anderen Domänen ebenfalls zu beobachten (siehe z. B. Palmer et al., 2005, zur inkonsistenten Definition von Expertise bei Lehrer*innen). 142 8 Expertise und perzeptuell-kognitive Fertigkeiten im Sport <?page no="143"?> Exkurs | Kriterienliste zur Klassifikation von Expertise Anhand welcher Kriterien würden Sie unterschiedliche Expertisestufen in einer Sportart Ihrer Wahl unterscheiden? Erstellen Sie eine Übersicht, in der Sie für jede Stufe eindeutige Kriterien definieren. Orientieren Sie sich dabei an den in Abbildung 8-1 dargestellten Stufen des Participant Classification Framework nach McKay et al. (2022). Welche Probleme identifizieren Sie bei der Festlegung Ihrer Expertisekriterien? 8.1.2 Kurzer historischer Abriss der Expertiseforschung Die Erforschung der kognitiven Prozesse, die den von außen beobachtbaren herausra‐ genden Leistungen von Expert*innen zugrundeliegen, hat eine lange Tradition und geht zurück auf die 1940er Jahre (Feltovich et al., 2006). In diesem bewusst kurzge‐ haltenen Abschnitt liegt der Fokus auf zentralen Entwicklungslinien der kognitiv akzentuierten Expertiseforschung seit den 1970er Jahren. Leser*innen, die an einer ausführlichen, historisch sowie thematisch breiten Darstellung der Expertiseforschung interessiert sind, seien auf das Sammelwerk von Ericsson et al. (2018) verwiesen. Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich stellenweise an den Inhalten des Beitrags von Hagemann und Loffing (2020), welches interessierten Leser*innen für eine vertiefende Lektüre zum Thema Expertise ebenfalls empfohlen wird. Expertise beruht neben einer Reihe anlage- und umweltbedingter Faktoren (z. B. körperliche und psychische Merkmale, soziales Umfeld; Baker & Horton, 2004; Hambrick et al., 2016; Hambrick & Meinz, 2011) u. a. auf umfangreichen, intensiven Erfahrungen in einer bestimmten Domäne. Eine mit der Arbeit u. a. von Ericsson et al. (1993) eng in Verbindung stehende und in der Expertise-Literatur vielfach formulierte zentrale Annahme lautet, dass diese Erfahrungen auf lange Sicht dazu führen, dass Expert*innen die ihnen in einer Anforderungssituation zur Verfügung stehenden Informationen gezielter aufnehmen, strukturierter verarbeiten und effektiver für die Lösung der ihnen gestellten Aufgaben nutzen können (Ericsson & Lehmann, 1996; Williams & Ford, 2008). Frühe Arbeiten der Expertiseforschung waren insbesondere an einem besseren Ver‐ ständnis der in kognitiv geprägten Domänen gezeigten Höchstleistungen interessiert. Wegbereitend waren die im Schach durchgeführten Untersuchungen von de Groot (1965) sowie Simon und Chase (1973). Eine zentrale Beobachtung dieser Arbeiten war, dass Schachspieler höherer Expertise besser in der Lage waren als weniger gute Schachspieler, ihnen kurz präsentierte Schachkonstellationen zu erinnern und wiederzugeben, wobei dieser Unterschied nur für im realen Spiel vorzufindende Konstellationen, nicht aber für zufällig angeordnete Konstellationen aufgedeckt wurde. Dieses Ergebnismuster bildete eine Grundlage der von Simon und Chase (1973) aufgestellten Chunking-Theorie. Chunks stellen eine Sammlung von Einzelinformationen dar, die in einem sinnvollen Verhältnis zueinanderstehen und sich von Einzelinformationen, die anderen Chunks zugehörig sind, unterscheiden. Die Theorie postuliert, dass Expert*innen infolge intensi‐ ver, langjähriger Erfahrung auf ihre Domäne bezogene Chunks in größerer Anzahl und größerem Umfang im Langzeitgedächtnis gespeichert und für den Abruf in Leistungssi‐ 8.1 Expertise 143 <?page no="144"?> tuationen leichter verfügbar haben. Als Reaktion auf die Chunking-Theorie und daran angelehnte Arbeiten wurden weitere kognitiv akzentuierte und auf die Bedeutung von Gedächtnisleistungen fokussierende Theorien entwickelt, die hier mit Verweis auf andere Arbeiten allerdings nicht näher thematisiert werden (Ericsson et al., 2018). Abb. 8-2 | Der Expert Performance Approach und auf kognitive Fertigkeiten abzielende Methoden und Maße im Kontext „Sport“ (orientiert an Williams & Ericsson, 2005, S.-286) In der Folge entwickelten Ericsson und Smith (1991) den Expert Performance Approach, ein dreistufiger Ansatz zur empirischen Untersuchung von Expertise. Die sich teils wechselseitig bedingenden Stufen - 1. Erfassung von Expert*innenleistung, 2. Iden‐ tifikation zugrundeliegender Mechanismen, 3. Untersuchung der Entwicklung von Expertise - waren und sind weiterhin handlungsleitend für viele Sportwissenschaft‐ ler*innen, die an der Erforschung sportlicher Expertise interessiert sind (Williams & Ericsson, 2005). Wie aus Abbildung 8-2 ersichtlich, sind mit den Stufen unterschiedliche 144 8 Expertise und perzeptuell-kognitive Fertigkeiten im Sport <?page no="145"?> methodische Verfahren und Maße verbunden. Hierzu zählen beispielsweise die Verba‐ lisierung der eigenen Gedanken während der Bearbeitung einer Aufgabe (think-aloud protocols), retrospektive (Selbst-)Berichte über den zeitlichen Übungsaufwand im Laufe der sportlichen Entwicklung sowie die experimentelle Manipulation des Umfangs an zeitlich (temporal occlusion) und/ oder räumlich (spatial occlusion) verfügbaren Informationen zur Lösung einer sportartspezifischen Aufgabe. Im folgenden Abschnitt wird auf die in Stufe 2 des Expert Performance Approach formulierten Mechanismen inklusive der Untersuchungsansätze und erhobenen Maße näher eingegangen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den perzeptuell-kognitiven Fertigkeiten von Sportler*innen in Sportarten, in denen sie unter hohem zeitlichräumlichem Druck erfolgreich agieren müssen. Abschließend sei angemerkt, dass die mit den kognitiv akzentuierten Ansätzen zur Erklärung von Expertise verbundene Annahme, Expertise sei primär das Resultat umfassender, systematischer, zielgerichteter und nicht notwendigerweise als freudvoll erlebter Übungs- und Aneignungsprozesse und damit einhergehender Veränderungen von Wissensstrukturen (Ericsson et al., 1993), zunehmend infrage gestellt wird (Ham‐ brick et al., 2014). So postuliert das multifaktorielle Gene-Umwelt-Interaktionsmodell eine Interaktion unterschiedlicher Faktoren (u. a. Persönlichkeit, Interessen, Motiva‐ tion, körperliche Merkmale, sensomotorische Fertigkeiten) und deren begünstigende oder hemmende Wirkung für die Entwicklung von Expertise (Ullén et al., 2016). Dieses Modell ist allerdings domänenunspezifisch formuliert, so dass eine Aufgabe für die Sportwissenschaft darin besteht zu prüfen, ob es sich besser als bisherige Ansätze eignet, um Expertise im Sport zu erklären und vorherzusagen (Hagemann & Loffing, 2020). Weiterführende Ausführungen speziell zum Thema Expertise im Sport finden interessierte Leser*innen u. a. in dem Sammelwerk von Baker und Farrow (2015). Eine aktuelle kritische Betrachtung der Expertiseforschung im Sport sowie einen Ausblick auf zukünftige Aufgaben geben Zentgraf und Raab (2023). 8.2 Perzeptuell-kognitive Fertigkeiten im Sport Um in dynamischen Sportarten erfolgreich agieren zu können, dürfen Sportler*innen mit der Einleitung ihrer Handlungen meist nicht zu lange warten und müssen dabei zudem mehrere Aspekte gleichzeitig beachten. Beim Fußballelfmeter muss eine Tor‐ hüterin vor dem Schuss ihre Abwehrhandlung zu einer Seite einleiten, um im Falle eines gut platzierten Schusses und richtiger Seitenwahl die Chance aufrechtzuhalten, den Ball rechtzeitig erfolgreich abwehren zu können (Neumaier et al., 1987). Im Basketball muss sich ein in Ballbesitz befindlicher Spieler innerhalb kürzester Zeit zwischen mehreren Optionen (z. B. Pass zu Mitspieler A oder B, Dribbling, Korbwurf) entscheiden, die Handlung entsprechend ausführen (z. B. Pass zu Mitspieler B) und parallel dazu herannahende Gegenspieler beachten und einen durch sie drohenden Ballverlust vermeiden (Moran & Summers, 2004). Angesichts derart hoher Anforderun‐ 8.2 Perzeptuell-kognitive Fertigkeiten im Sport 145 <?page no="146"?> gen an die Aufnahme und Verarbeitung von z. B. visuellen Informationen zur Lösung motorischer Aufgaben hat sich ein bedeutender Teil der sportlichen Expertiseforschung damit beschäftigt zu ergründen, welche perzeptuell-kognitiven Prozesse daran beteiligt und inwiefern sie charakteristisch für sportliche Expertise sind (Mann et al., 2007; Schorer et al., 2023). Die folgenden Ausführungen fokussieren auf domänenspezifische perzeptuell-kognitive Fertigkeiten, da diese aktuellen metaanalytischen Ergebnissen zufolge geeigneter für die Unterscheidung sportlicher Expertise sind als domänenunspezifische allgemeine kognitive Konstrukte wie etwa exekutive Funktionen (Kalén et al., 2021; siehe auch Kapitel 6). „Perceptual-cognitive skill refers to the ability to identify and acquire environmental informa‐ tion for integration with existing knowledge such that appropriate responses can be selected and executed.” (Mann et al., 2007, S.-457) In dem eingangs genannten Beispiel zum Fußballelfmeter muss die Torhüterin ihre Abwehrhandlung auf unsicheren Informationen und einer daran orientierten Vorhersage über die wahrscheinliche Schussrichtung beruhend einleiten. Dieser als Antizipation bezeichnete Prozess, d. h. „die gedankliche Vorwegnahme eines (Bewegungs-)Ereignisses (…) mit dem Ziel, die eigene motorische Handlung zeitlich adäquat daran ausrichten zu können“ (Hagemann & Loffing, 2022, S. 710) wurde in einer Vielzahl insbesondere laborbasierter (quasi-)experimenteller Arbeiten als charakteristisch für sportliche Expertise herausgearbeitet (Abernethy, 1987; Loffing & Cañal-Bruland, 2017). Demnach steigt mit zunehmendem Expertiseniveau die Genauigkeit von Vorhersagen über gegnerische Handlungsabsichten (z. B. Einschät‐ zung der Schussrichtung aus Torhüter*innensicht beim Elfmeter). Dieser Effekt zeigt sich insbesondere dann, wenn Sportler*innen aufgefordert werden, zu einem frühen Zeitpunkt der gegnerischen Bewegungsausführung Vorhersagen über das vermutete Ergebnis zu treffen (z. B. 160 ms vor dem Moment des Fuß-Ball-Kontaktes im Vergleich zu selbigem Moment). Dieser mit Hilfe der zeitlichen Verschlusstechnik (temporal occlusion; Abbildung 8-3) in zahlreichen Studien aufgedeckte Befund legt nahe, dass es Sportler*innen höherer Expertiseniveaus besser gelingt, die in diesen frühen Phasen verfügbaren Informationen für die Antizipation zu nutzen (Loffing & Cañal-Bruland, 2017). Darüber hinaus kristallisiert sich ein Expertise- Effekt tendenziell umso deutlicher heraus, je mehr die Aufgabenanforderungen im Rahmen einer Testung den natürlichen Anforderungsbedingungen entsprechen (Huesmann et al., 2022; Mann et al., 2010). Definition | Antizipation als Prozess meint „die gedankliche Vorwegnahme eines (Bewegungs-)Ereignisses (…) mit dem Ziel, die eigene motorische Handlung zeitlich adäquat daran ausrichten zu können“ (Hagemann & Loffing, 2022, S. 710). 146 8 Expertise und perzeptuell-kognitive Fertigkeiten im Sport <?page no="147"?> Abb. 8-3 | Zeitliche Verschlusstechnik beim Fußballelfmeter. Jede Zeile repräsentiert eine Abbruchbe‐ dingung in den Schritten -240 ms, -160 ms, -80 ms und 0 ms relativ zum Fuß-Ball-Kontakt. In den dynamischen Prozess der Antizipation fließen vermutlich vor allem Hinweise (siehe Exkurs für eine aktive Anwendung) aus der unmittelbar einzuschätzenden gegnerischen Bewegung (kinematische Hinweise; z. B. Ausholbewegung und Schlägerhaltung) sowie der Situation, in die die Bewegung eingebettet ist (situative Hinweise; z.-B. Gegner*in‐ nenposition, unmittelbar vorangehende Ereigbnisse), gegner*innenspezifische Kenntnisse (z. B. Stärken/ Schwächen, Handlungsvorlieben) sowie das Wissen über allgemeine Wahr‐ scheinlichkeiten für bestimmte Handlungen (Basisraten; z. B. Wahrscheinlichkeit für Cross-court- und Longline-Schläge im Tennis) ein (für qualitative Forschungsansätze siehe u. a. Huesmann et al., 2023; Schläppi-Lienhard & Hossner, 2015; Vernon et al., 2018). In Bezug auf diese verschiedenen Hinweisquellen wird angenommen, dass situativen Hinweisen, gegner*innenspezifischen Kenntnissen und Basisraten in einer frühen Phase der Antizipation besonderes Gewicht eingeräumt wird. Dies wird damit begründet, dass 8.2 Perzeptuell-kognitive Fertigkeiten im Sport 147 <?page no="148"?> die dann verfügbaren kinematischen Hinweise meist wenig reliabel in Bezug auf den wahren Handlungsausgang sind (Loffing & Hagemann, 2014a; Newell, 1974), zumal in einer solchen Phase mitunter gezielt irreführende kinematische Hinweise in Form von Täuschungen „angeboten“ werden, um eine falsche Antizipation zu provozieren (Klein & Späte, 1981). Die initialen Einschätzungen werden im weiteren Verlauf unter Hinzu‐ ziehen von kinematischen Hinweisen aktualisiert, wobei letztere mit fortschreitender Bewegungsausführung hin zu einem kritischen Ereignis (z.-B. Fuß-Ball-Kontakt) tenden‐ ziell reliablere Abschätzungen des wahren Handlungsausgangs ermöglichen, da z. B. Täuschungen zugunsten des wahren Handlungsziels „aufgelöst“ werden müssen (siehe Panten et al., 2019, für eine ausführlichere Diskussion). Wie die verschiedenen Hinweise bei der in vielen sportlichen Situationen herrschenden hohen Dynamik und situativen Komplexität zu einer Vorhersage des wahrscheinlichen gegnerischen Handlungsausgangs verrechnet und in Handlungsentscheidungen überführt werden, ist Gegenstand aktueller wissenschaftlicher Diskussionen (Harris et al., 2022). Exkurs | Antizipations-Checkliste Erstellen Sie eine Liste der Ihrer Einschätzung nach für die erfolgreiche Antizipation gegnerischer Handlungsabsichten bedeutsamen Hinweisquellen in einer Sportart Ih‐ rer Wahl. Sortieren Sie die Quellen nach ihrer zeitlichen Verfügbarkeit und gewichten Sie sie in Bezug auf deren vermuteten Anteil an der Antizipationsleistung. Begründen Sie Ihre Entscheidungen. Wie könnten Sie Ihre Annahmen in einem nächsten Schritt empirisch überprüfen? Lassen Sie Ihrer Kreativität freien Lauf und gehen Sie davon aus, dass Ihnen unbegrenzte finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen. Für die Identifikation insbesondere kinematischer Hinweise ist die optimale Ausrichtung der visuellen Aufmerksamkeit zentral (Brams et al., 2019). Als Indikator für die visuelle Aufmerksamkeit wird oftmals der Blick von Sportler*innen, welcher mithilfe mobiler oder stationärer Blickbewegungssysteme (sog. Eye-Tracking) erfasst werden kann, herangezogen (Kredel et al., 2017; Panchuk et al., 2015). Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass der Ort, auf den der Blick in einem bestimmten Moment ausgerichtet ist, vermutlich dem Ort der aktuellen Aufmerksamkeit und somit der visuellen Informa‐ tionsaufnahme entspricht (siehe z. B. Abernethy, 1988, für eine kritische Betrachtung und Differenzierung in „looking vs. seeing“; Klostermann et al., 2020; siehe auch Kapitel 9). Aktuelle metaanalytische Befunde legen Unterschiede im Blickverhalten verschiedener Expertise-Gruppen im Sport nahe (Brams et al., 2019). Insbesondere für die selektive Aufmerksamkeit zeigte sich überwiegend konsistent, dass Expert*innen im Vergleich zu Fortgeschrittenen und insbesondere gegenüber Anfänger*innen ihren Blick häufiger und länger auf für die Aufgabenlösung (z.-B. Antizipation) relevant erachtete Regionen richteten und irrelevante Bereiche ignorierten. Für die visuelle Suchrate, ausgedrückt durch die Anzahl an Fixationen bzw. die Anzahl fixierter Regionen, hingegen ergab sich kein einheitliches Muster in den Expertiseunterschieden (siehe auch Gegenfurtner et al., 2011). 148 8 Expertise und perzeptuell-kognitive Fertigkeiten im Sport <?page no="149"?> Ein alternativer methodischer Ansatz besteht darin, die den Studienteilnehmer*innen zur Verfügung stehenden Informationen über kinematische Merkmale zu manipulieren. Eine vielfach verwendete Technik ist die der räumlichen Verdeckung (spatial occlusion; Abbildung 8-4). Hierbei werden ausgewählte Körperregionen eines Gegners bzw. einer Gegnerin systematisch geschwärzt (Hagemann & Strauß, 2006) oder transparent gemacht (Müller et al., 2006). Über den Vergleich der Antizipationsleistung in den derart manipu‐ lierten Bedingungen mit der Leistung in einer Kontrollbedingung ohne Manipulation wird die Bedeutung der manipulierten Regionen abgeschätzt: Fällt die Antizipationsleistung in einer manipulierten Bedingung überzufällig niedriger aus als in der Kontrollbedingung, so wird dies als ein Indiz dafür gewertet, dass die manipulierte Region für die Antizi‐ pationsleistung relevant ist (Loffing & Hagemann, 2014b). Ein möglicher Nachteil der Verdeckungstechnik ist, dass die Manipulation ungewollte Veränderungen in der visuellen Informationsaufnahme der Studienteilnehmer*innen provoziert (Hagemann et al., 2010). Ein diesen Kritikpunkt lösender alternativer Ansatz besteht darin, die zu antizipierenden Bewegungen vollständig anzuzeigen und darin enthaltene kinematische Hinweise gezielt zu variieren (z.-B. im Tennis die Implementierung einer Schlagarm-Schläger-Bewegung, die auf einen diagonal geschlagenen Ball hindeutet, in die Bewegung eines der Linie entlang geschlagenen Balles; für Details siehe Huys et al., 2008). Abb. 8-4 | Räumliche Verdeckungstechnik beim Fußballelfmeter. Je nach Bedingung sind globale (Ober-/ Unterkörper) oder lokale (Stand-/ Schussbein, Rumpf, Kopf) Körperregionen transparent gemacht. 8.2 Perzeptuell-kognitive Fertigkeiten im Sport 149 <?page no="150"?> Mithilfe der zuletzt skizzierten methodischen Ansätze konnten wiederholt Experti‐ seunterschiede in der Informationsnutzung herausgearbeitet werden, wobei diese Unterschiede in Abhängigkeit der konkreten Aufgabe zu variieren scheinen. Für die Einschätzung der Schlagrichtung im Tennis (Huys et al., 2008) und der Wurfrich‐ tung im Handball (Loffing & Hagemann, 2014b) ging mit höherem (niedrigerem) Expertiseniveau der Sportler*innen eine globale (lokale), d. h. Informationen aus mehreren (wenigen) Regionen umfassende Aufnahme- und Verarbeitungsstrategie einher, wohingegen im Cricket (Wurftyp und -länge; Müller et al., 2006) und Badminton (Schlagrichtung; Abernethy & Zawi, 2007) die Fähigkeit zur Nutzung lokal beschränk‐ ter kinematischer Merkmale (z. B. Wurfhand und -arm im Cricket) charakteristisch für Expertise zu sein scheint. Das Wissen über die Relevanz kinematischer Merkmale für die Antizipation gegnerischer Handlungsabsichten kann u. a. für die Entwicklung eines sportartspezifischen Antizipationstrainings wertvoll sein. Im Folgenden liegt das Hauptaugenmerk auf dem zweiten zu Beginn dieses Abschnitts genannten Beispiel aus dem Basketball. Hier ist ein ballführender Spieler unter Zeit- und Gegnerdruck mit mehreren Optionen konfrontiert und muss eine situationsadäquate optimale Handlungsentscheidung treffen (siehe z. B. Musculus et al., 2021, für eine experimentelle Variation von Zeit- und Gegnerdruck in Entschei‐ dungssituationen im Fußball). Auch in dieser Situation spielen die zuvor behandelten Prozesse wie Antizipation (z. B. Wohin bewegen sich Mit- und Gegenspieler*innen? ) und Aufmerksamkeit (z. B. Worauf achtet der/ die ballführende Spieler*in? Wen hat er/ sie im Blick? ) eine wichtige Rolle. Der geteilten Aufmerksamkeit kommt dabei besondere Bedeutung zu, da u. a. verschiedene Handlungsoptionen parallel „überwacht“, die Bewegungen von Gegen- und Mitspieler*innen beobachtet und der im Besitz befindliche Ball vor Verlust abgeschirmt werden muss (Moran & Summers, 2004). Für die geteilte Aufmerksamkeit zeigt sich, dass Sportler*innen höherer Expertiseniveaus besser in der Lage sind, parallel zur Lösung einer motorischen Aufgabe (z. B. Kontrolle des Balles) weitere situative Aspekte zu beachten (z. B. eigene Positionierung und die der Mit-/ Gegenspieler*innen) und auf der Grundlage des Gesamteindrucks eine optimale Handlungsentscheidung zu treffen (Memmert, 2009; siehe auch Kapitel 9). Weitere mit derartigen Entscheidungen in Verbindung stehende kognitive Prozesse beziehen sich auf das Erkennen (pattern recognition) und Erinnern (pattern recall) taktischer Muster. Studien legen nahe, dass Sportler*innen höherer Expertiseniveaus mannschaftstaktische Konfigurationen (d.-h. Positionierung von Mit- und Gegenspie‐ ler*innen) besser erkennen (Smeeton et al., 2004) und erinnern (Gorman et al., 2012) können als Sportler*innen niedrigerer Expertiseniveaus. Eine solche Überlegenheit zeigt sich vornehmlich für strukturierte, d.-h. im realen Spiel typischerweise vorkom‐ mende Situationen und nicht für unstrukturierte, untypische Situationen (siehe z. B. Allard et al., 1980, im Basketball). Die mit zunehmender Expertise einhergehende bessere Leistung beim Erkennen und Erinnern mannschaftstaktischer Muster beruht demnach weniger auf allgemein besseren Gedächtnisleistungen, sondern vielmehr 150 8 Expertise und perzeptuell-kognitive Fertigkeiten im Sport <?page no="151"?> darauf, dass es sportliche Expert*innen besser verstehen, speziell die ihnen aus ihrer sportlichen Domäne bekannten Strukturen zu identifizieren, abzuspeichern und abzu‐ rufen (vgl. Chunking-Theorie; Simon & Chase, 1973). Die von sportlichen Expert*in‐ nen getroffenen Entscheidungen können zudem umso besser von Entscheidungen niedrigerer Expertiseniveaustufen unterschieden werden, je deutlicher die in einer Studie gestellten Aufgaben den natürlichen Anforderungsbedingungen entsprechen (für Metaanalysen siehe Kalén et al., 2021; Travassos et al., 2013). Über die zuvor genannten Aspekte hinaus zielt die sportbezogene Entscheidungs‐ forschung u. a. darauf ab, zu ergründen, wie bzw. anhand welcher Strategien sportliche Expert*innen Entscheidungen treffen. Angesichts der in vielen sportlichen Situationen vorzufindenen hohen Komplexität an potenziell relevanten Informationen wird ange‐ nommen, dass Sportler*innen für ihre Entscheidungen „mentale Abkürzungen“ oder „Daumenregeln“ (sog. Heuristiken) nutzen, indem sie lediglich einen Bruchteil der zur Verfügung stehenden Informationen berücksichtigen. Eine insbesondere im Kontext von Entscheidungen in Mannschaftssportspielen diskutierte einfache Heuristik ist die Take-the-First-Heuristik ( Johnson & Raab, 2003). Dieser Heuristik zufolge ist die erstgenerierte Entscheidungsoption oftmals die beste und das Wählen dieser Option charakteristisch für sportliche Expertise sowohl im Erwachsenenals auch im Nachwuchssport (Musculus, 2018). 8.3 Training perzeptuell-kognitiver Fertigkeiten im Sport Angesichts der zuvor beschriebenen, für sportliche Expert*innen charakteristischen, domänenspezifischen Überlegenheit bei der Antizipation zukünftiger Ereignisse und dem Treffen von Entscheidungen, stellt sich die Frage, ob und wie diese Fertigkeiten trainiert werden können. Die bisherigen Forschungsbemühungen zu dieser Frage zu‐ sammenfassend kann vorläufig festgehalten werden, dass (a) gezieltes Training helfen kann, sportartspezifische Antizipations- und Entscheidungsleistung zu verbessern und (b) positive Effekte insbesondere bei Sportler*innen niedriger Expertiseniveaus eintre‐ ten, wenngleich auch Sportler*innen höherer Expertiseniveaus von einem solchen Training profitieren könnten (z. B. Lorains et al., 2013). Allerdings muss die Studienlage für diese Personenruppe bislang als gering eingestuft werden (Broadbent et al., 2015; Loffing et al., 2017; Schorer et al., 2015; Zentgraf et al., 2017). Ein klassischer Trainingsansatz besteht darin, den Teilnehmer*innen sportliche Situationen aus einer für sie üblichen Perspektive per Video oder in Virtueller Rea‐ lität zu präsentieren und eine Handlung auszuführen, die sie auch im Wettkampf ausführen würden. Ein solches Training wird durch einen Prä- und mindestens einen Post-Test flankiert, um die Wirkung im Vorher-Nachher-Vergleich z. B. gegenüber Kontrollgruppen, die kein oder ein als nicht wirksam erwartetes Training absolviert haben, abzuschätzen (Zentgraf et al., 2017). Mit Ausnahme der vorgenannten Merkmale zeigen bisherige kognitive Trainings‐ studien eine große methodische Heterogenität, die einen studienübergreifenden Ver‐ 8.3 Training perzeptuell-kognitiver Fertigkeiten im Sport 151 <?page no="152"?> gleich, sowie eindeutige Empfehlungen für die Trainingsgestaltung erschweren. Die publizierten Trainingsstudien variieren u. a. in der Anzahl an Einheiten, der Anzahl an Durchgängen pro Einheit sowie der Dauer einzelner Einheiten beträchtlich (Loffing et al., 2017). Zudem unterscheidet sich das Ausmaß an sport(art)spezifischen motorischen Handlungen, das von Tastendrücken auf einer Computertastatur über simulierte sportartspezifische Reaktionen (z. B. simulierter Return im Tennis) bis hin zu realen Handlungen im Feld reicht (Broadbent et al., 2015). Angesichts derart unterschiedlicher Anforderungen und der teils beträchtlichen Differenz zu den realen Anforderungen im sportlichen Wettkampf sind eindeutige, empirisch belastbare Aussagen in Bezug auf den - insbesondere aus Sicht der (Leistungs-)Sportpraxis - erhofften Transfer der durch kognitives Fertigkeitstraining erzielten Effekte auf die Wettkampfleistung bislang nicht möglich (Rosalie & Müller, 2012). Eine wesentliche Aufgabe zukünftiger Studien ist es daher zu prüfen, ob die durch ein Training erzielten positiven Effekte nicht nur auf trainingsähnliche Bedingungen übertragbar (sog. near transfer), sondern auch in trainingsunähnlichen und insbesondere in wettkampfnahen Bedingungen von Nutzen sind (far transfer; siehe u.-a. Vater et al., 2021). Zusammenfassend lässt sich nach derzeitigem Stand der Erkenntnis festhalten, dass die bei sportlichen Expert*innen üblicherweise erhöht ausgeprägten sportartspezifi‐ sche Antizipations- und Entscheidungsfähigkeiten durch gezieltes, insbesondere sport‐ artspezifisches (d. h. den realen Gegebenheiten und Anforderungen entsprechendes) Training, nicht aber durch allgemeine kognitive Interventionen (Gobet & Sala, 2023), verbessert werden können. Ein solches Training ist ausdrücklich als Ergänzung und keinesfalls als Ersatz für das reguläre Training „auf dem Platz“ zu verstehen (Loffing et al., 2017). Eine Herausforderung für zukünftige Forschung in der Sportpsychologie, Bewegungs- und Trainingswissenschaft ist es, den Nutzen Virtueller Realitäten (Heil‐ mann et al., 2021; Musculus et al., 2021; Musculus et al., 2022) für kognitives Training zu untersuchen (Müller et al., 2023). 8.4 Aufgaben für die Expertiseforschung im Sport Die sportbezogene Expertiseforschung kann auf einen großen Fundus an empirischen Erkenntnissen zurückgreifen (Baker & Farrow, 2015). Gleichwohl bestehen auf in‐ haltlich-theoretischer und methodischer Ebene Forschungslücken, die es in zukünf‐ tigen Forschungsprogrammen systematisch zu bearbeiten gilt, um das Vertrauen in theoretische Annahmen und daraus abgeleitete praktische Empfehlungen (z. B. wettkampfvorbereitende Instruktionen, Gestaltung ergänzender Maßnahmen zur För‐ derung sportartspezifischer kognitiver Fertigkeiten) zu stärken. Nachfolgend werden ausgewählte Lücken und damit verbundene Aufgaben exemplarisch aufgezeigt. Mittel- und langfristig kann nur dann ein tiefgründiges, solides theoretisches Verständnis von sportlicher Expertise sowie den zugrundeliegenden (kognitiven) Pro‐ zessen entwickelt werden, wenn auf u. a. terminologischer Ebene eine Vergleichbarkeit und Integrationsmöglichkeit gegeben ist. Daher lautet eine erste zentrale Forderung 152 8 Expertise und perzeptuell-kognitive Fertigkeiten im Sport <?page no="153"?> für zukünftige Arbeiten, dass Personengruppen anhand transparenter und objektiver Kriterien einem Expertiseniveau zugeordnet werden. Dies erlaubt eine bessere Ver‐ gleichbarkeit der Ergebnisse und erleichtert deren Integration in z. B. metaanalytische Betrachtungen. Bislang fehlt eine substanzielle Theoriebildung zum Beispiel bezüglich der Auf‐ nahme und Integration von Informationen in hoch dynamischen und durch Zeit- und Gegner*innendruck charakterisierten sportlichen Situationen (Cañal-Bruland & Mann, 2015; Raab, 2015). Erst allmählich wird dieses Desiderat unter Einbezug etwa Bayesiani‐ scher komputationaler Modelle adressiert (Gredin et al., 2023; Harris et al., 2022). Dabei sollte die Bedeutung psychophysiologischer Effekte (z. B. Wettkampfangst, Stressemp‐ finden, Aktivierungsniveau) hinsichtlich sportartspezifischer kognitiver Fertigkeiten und Prozesse weiter herausgearbeitet (siehe z. B. Cocks et al., 2016; Runswick et al., 2018; Vater et al., 2016) und in die Theoriebildung integriert werden. Dies gilt auch für die Frage nach dem Einfluss körperlicher und mentaler Ermüdung auf die kognitive Leistung (für einen Überblick siehe Dong et al., 2022) sowie die multisensorische Integration in Entscheidungssituationen (Cañal-Bruland et al., 2018). Auf methodischer Ebene gilt es weiterhin zu prüfen, ob und in welchem Ausmaß Verfahren, bei denen Sportler*innen in wenig repräsentativen Umgebungen (z. B. auf Notebooks präsentierte Videos mit Antwortgabe per Tastendruck) getestet wurden (Dicks et al., 2009), sich für die Erweiterung des theoretischen Verständnisses von sportlicher Expertise eignen. Es wird sich zeigen, wie reale Anforderungen bzw. denen nahekommende Bedingungen die gezeigten Ursache-Wirkungs-Beziehungen beein‐ flussen (siehe z. B. Le Noury et al., 2021, für den Einsatz von Virtual Reality im Tennis). Dazu sei an die von Heuer (1988) vorgeschlagene, für die systematische Prüfung von Theorien sehr lohnenswert erachtete Forschungsstrategie multipler Aufgaben sowie das Beibehalten eines kritischen Blicks auf etablierte Forschungsparadigmen erinnert. Die bisherige Forschung hat zu den an sportlichen Höchstleistungen beteiligten kognitiven Prozessen bzw. dafür notwendigen Fertigkeiten bereits viele als mittlerweile gesichert geltende Ergebnisse zusammengetragen. Diese lohnt es sich jedoch weiterhin durch neue kreative methodische Ansätze herauszufordern und in Frage zu stellen (z. B. Avilés et al., 2019). Die skizzierten Aufgaben für die Expertiseforschung sind auch auf andere Akteur*innen im Sport, z. B. Kampfbzw. Schiedsrichter*innen (Cunningham et al., 2022; Helsen et al., 2023) und Sportlehrer*innen (Reuker, 2012; Witt et al., 2024), übertragbar. Frage an die Praxis � Sandra Ittlinger, u. a. Deutsche Meisterin 2020, aktuell Spielerin des deutschen Beachvolleyball-Nationalteams beantwortet folgende Frage zur Entscheidungen im Sport: „Liebe Sandra, als Beachvolleyball-Profi musst du im Wettkampf fort‐ Frage an die Praxis 153 <?page no="154"?> laufend schnelle Entscheidungen treffen und Handlungen ausführen. Hast du bestimmte Strategien, wie du damit umgehst bzw. dich im Vorfeld vorbereitest? “ → „In einer typischen Spielsituation im Beachvolleyball gibt es jede Menge Entscheidungen zu treffen, die in der Summe ausschlaggebend für den Punktbzw. Spielausgang sind. Dies umfasst u. a. die Wahl der Annahmetechnik als Reaktion auf den gegnerischen Aufschlag, die Entscheidung für die Feldposition, von der aus wir als Team angreifen möchten sowie die Art des Angriffs (z. B. Schlagtechnik und -richtung). In diese Entscheidungen fließen u. a. Informationen über das gegnerische Team (z. B. Abwehrposition, Stärken/ Schwächen), meine eigenen Stärken und zuvor gespielte Bälle ein. Um mich auf derartige Entscheidungen und voraussichtlich zu erwartende Spielsituationen vorzubereiten, analysiere ich vor einem Wettkampf mit meiner Teamkollegin die gegnerischen Abwehrstrategien. Im Spiel versuche ich mich durch vorhergehende Aktionen in eine Spielsituation zu bringen, in der ich viele Handlungsmöglichkeiten habe, um nicht zu leicht auszurechnen zu sein. Eine schlechte Annahme zum Beispiel reduziert meist meine Optionen, so dass mein nächster Angriff dann einfach abzuwehren wäre. Allgemein nutze ich zudem Mentaltraining, um mir Strategien zu erarbeiten, die es mir erlauben Drucksituationen oder eventuellen Unsicherheiten besser zu begegnen und diese keinen Einfluss auf meine Leistung nehmen zu lassen.“ Literatur Abernethy, B. (1987). Anticipation in sport: A review. Physical Education Review, 10(1), 5-16. Abernethy, B. (1988). Visual search in sport and ergonomics: Its relationship to selective attention and performer expertise. Human Performance, 1(4), 205-235. https: / / doi.org/ 10.1207/ s153270 43hup0104_1 Abernethy, B., & Zawi, K. (2007). Pickup of essential kinematics underpins expert perception of movement patterns. 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Autofahren) eingegangen, um me‐ thodisch und inhaltlich einen „Blick über den Tellerrand“ zu werfen. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1303. Lernziele Nach Studium des vorliegenden Kapitels sollen die Leser*innen ■ die Unterschiede zwischen fovealem und peripherem Sehen kennen, ■ Blickbewegungen und deren Konsequenzen für die Informationsaufnahme und Wahrnehmung erklären können, ■ die optimale Blickstrategie in Abhängigkeit von den visuellen und situativen Randbedingungen beschreiben können, ■ visuelles Wahrnehmungstraining für verschiedene Blickstrategien ableiten können, ■ Parallelen der Wahrnehmungs-Handlungs-Kopplung zwischen Aufgaben im Sport- und Alltagskontext erläutern können. <?page no="162"?> 9.1 Grundlagen visueller Wahrnehmung Die Sehfähigkeit ist die grundlegende Voraussetzung der visuellen Wahrnehmung. Diese Fähigkeit ist einerseits begrenzt durch anatomisch-physiologische Randbe‐ dingungen (z. B. Gesichtsfeld), aber auch durch nachgeschaltete Wahrnehmungspro‐ zesse (z. B. Aufmerksamkeit, Vorwissen). An dieser Stelle muss aber schon festgehalten werden, dass das Sehen zwingende Voraussetzung dafür ist, die visuelle Aufmerksam‐ keit auf einen Reiz richten zu können. Befindet sich eine relevante Information außer‐ halb des Gesichtsfeldes, so kann ein Reiz gar nicht visuell wahrgenommen werden. Selbst wenn sich ein Reiz im Gesichtsfeld befindet und man diesen „sieht“, bedeutet dies nicht, dass man diesen tatsächlich wahrnimmt. Im englischsprachigen Raum wird daher zwischen looking und seeing unterschieden. Während looking beschreibt, dass man etwas anschaut, die Information aber nicht verarbeitet, steht seeing für einen verarbeiteten visuellen Reiz (Zhaoping, 2023). Es macht also einen Unterschied, ob ich im Fußball einen Gegenspieler oder eine Gegenspielerin „nur“ anschaue oder die Handlungen von ihm oder ihr tatsächlich bewusst wahrnehme. Um diesen Unterschied deutlich zu machen, werden im Folgenden das Sehen - also die anatomische Voraus‐ setzung zum Wahrnehmen - und die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit näher betrachtet. Darüber hinaus werden Augen-, Kopf- und Ganzkörperbewegungen und deren Einfluss auf die visuelle Wahrnehmung kurz charakterisiert. 9.1.1 Sehen vs. Wahrnehmen Was wir sehen können, hängt im Grunde genommen nur davon ab, wie wir unseren Kopf, und damit unser Gesichtsfeld, ausrichten. Dieses Gesichtsfeld (engl. field of vision) wird bestimmt durch die Anatomie unserer Augenhöhle und beträgt ca. 214° horizontal und 100° vertikal (Vater & Strasburger, 2021). Diese Maße gelten dann, wenn der Blick statisch geradeaus gerichtet ist, also ein zentraler Reiz fixiert wird (foveales Sehen, siehe Abschnitt 9.1.1.1) und alle anderen Reize in der Peripherie liegen (peripheres Sehen, siehe Abschnitt 9.1.1.2). Im Gegensatz zum Gesichtsfeld sind bei Messungen des Blickfeldes Blickbewegungen (siehe Abschnitt 9.1.1.3) erlaubt, jedoch ohne dabei die Kopfausrichtung zu verändern, womit bis zu 270° horizontal betrachtet werden können (Bartels & Bartels, 1998). Werden auch Kopfbewegungen (siehe Abschnitt 9.1.1.4) zugelassen, ohne dabei die Fußausrichtung zu verändern, spricht man vom Umblickfeld, welches uns erlaubt 360° unseres Umfeldes zu sehen (Gramberg-Danielsen, 1967; siehe Abbildung 9-1). 162 9 Der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Handlung im Sport <?page no="163"?> Gesichtsfeld Blickfeld Umblickfeld Blickbewegung Kopfbewegung Sakkade (Blicksprung) Augenfolgebewegung Fixationspunkt foveal peripher Kopforientierung 214° 270° 360° Abb. 9-1 | Unterscheidung zwischen Gesichtsfeld, Blickfeld und Umblickfeld. Unterscheidung zwischen fovealem und peripherem Sehen während einer Fixation (links) und zwischen Sakkaden und Augenfol‐ gebewegungen (siehe Kapitel 9.1.3) 9.1.1.1 Foveales Sehen Das foveale Sehen ermöglicht es, Informationen mit größter Sehschärfe zu erkennen (Abbildung 9-2). Dies hängt mit der Verteilung der Zapfen und Stäbchen auf der Netzhaut (Retina) und der Verknüpfung der nachgeschalteten Nervenzellen zusammen, die visuelle Reize an das Gehirn weiterleiten (s. Crone, 1977). Im Sport gibt es viele Situationen, in denen Detailinformationen relevant für die eigene Handlung sind. Zum Beispiel kann das foveale Sehen genutzt werden, um den Spin eines Balles im Tennis, Tischtennis oder Cricket zu erkennen. Das foveale Sehen ist auch sehr gut geeignet, um Kontraste wahrzunehmen. Für den Sport hat das zur Konsequenz, dass zwei Spieler*innen mit ähnlicher Trikotfarbe foveal sehr gut unterschieden werden können, in der Peripherie aber nicht mehr unterscheidbar sind. 9.1 Grundlagen visueller Wahrnehmung 163 <?page no="164"?> Abb. 9-2 | Fixiert man die Daumenspitze mit ausgestrecktem Arm, ist ein Winkel von ca. 2° des Gesichtsfeldes erforderlich, also der Anteil, der foveal gesehen wird. 9.1.1.2 Peripheres Sehen Während nur 1 % (ca. 2° von 210°) des Gesichtsfeldes vom fovealen Sehen betrachtet werden können, werden 99 % der Informationen mit dem peripheren Sehen abgedeckt (Strasburger, 2020). Das periphere Sehen wird vor allem genutzt, um die Anwesenheit und den ungefähren Ort eines „Objektes“ im Gesichtsfeld zu erkennen und erste Vorinformationen über die Objekteigenschaften (z. B. Größe, Farbe, Strukturiertheit und Gestalt) zu gewinnen (Wittling, 1976). Während die Zapfendichte, welche für das scharfe Sehen verantwortlich ist, in der Fovea hoch ist und mit zunehmender Exzentrizität von der Fovea exponentiell abnimmt, ist das Verhältnis der Stäbchen, welche u. a. sehr lichtempfindlich sind, umgekehrt. Das periphere Sehen ist also nicht dafür geeignet, detaillierte Informationen zu verarbeiten (Zapfen), jedoch sehr gut, um Bewegungen zu erkennen (Stäbchen). Da für die zuvor beschriebenen Funktionen des peripheren Sehens aber ohnehin keine Details benötigt werden, ergänzen sich das foveale und das periphere Sehen ideal. Werden periphere Informationen verarbeitet, spricht man von peripherer Wahr‐ nehmung. Ein bisher in der Sportwissenschaft wenig berücksichtigtes Phänomen aus der Wahrnehmungspsychologie ist der sogenannte Crowding-Effekt (Herzog & Sayim, 2022; Strasburger, 2005, 2020; Vater et al., 2017; Wijntjes & Rosenholtz, 2018). Dieser Effekt beschreibt, dass ein Zielreiz nur dann (peripher) wahrgenommen werden kann, wenn der Abstand zu den angrenzenden Distraktoren (Störreizen, auch „Flanker“ genannt) groß genug ist (Herzog & Sayim, 2022; Rosen et al., 2014). Durch die visuelle Komplexität der meisten sportlichen Situationen sollte auch hier das Crowding einen 164 9 Der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Handlung im Sport <?page no="165"?> Einfluss auf die Wahrnehmung haben (siehe Beispiel in Abbildung 9-3 und Noël & Klatt, 2021). Zukünftige Studien zur peripheren Wahrnehmung sollten den Einfluss von Crowding immer kontrollieren. Ansonsten kann es sein, dass der Crowding-Effekt die periphere Wahrnehmungsleistung oder das Blickverhalten beeinflusst, da der Blickort näher zum Zielreiz verschoben werden muss, um das Crowding aufzulösen (Vater et al., 2017). Blickbewegungen und Blickwinkel auf die Crowding verursachenden Objekte sollten dabei gemessen oder kontrolliert werden. V V V X K X K (1) (2) (3) (4) (5) (6) Abb. 9-3 | Beispiel für den Crowding-Effekt. Die ersten 3 Zeilen visualisieren den klassischen Crow‐ ding-Effekt mit Buchstaben. Fixieren Sie nacheinander die Fixationskreuze auf der linken Seite und versuchen Sie peripher das „V“ zu erkennen. Während in der ersten Zeile kein Crowding auftritt, tritt dieser in Zeile 2 auf. Durch die „Flanker“ („X“ und „K“) ist die Wahrnehmung des Buchstabends „V“ erschwert. Wird in Zeile 3 die Flankerdistanz erhöht, ist das „V“ wieder erkennbar. Crowding wird also bei gleicher Exzentrizität zwischen Fixationsort („+“) und Zielreiz („V“) durch den Abstand der Flanker verursacht (Bouma, 1970). Versuchen Sie einmal im Fussballbeispiel (Zeilen 4 bis 6) peripher wahrzunehmen, welcher Spieler den Ball hat ohne die Fixation auf dem „+“ aufzulösen. Auch hier entsteht der Crowding-Effekt in Zeile 5. 9.1 Grundlagen visueller Wahrnehmung 165 <?page no="166"?> Dabei sind folgende Forschungsfragen zum Thema offen: 1. Lässt sich Crowding im Sport überhaupt testen? 2. In welchen Situationen hat Crowding einen Einfluss auf die Wahrnehmung und/ oder die sportliche Leistung? 3. Welche Blickstrategie ist funktional, um Crowding-Effekte gering zu halten? Beispiel | Crowding in Kinderbüchern „Wo ist Walter? “ (engl. Where is Waldo? ) ist ein sehr beliebtes Wimmelbuch für Kinder (siehe Beispiel in Rosen et al., 2014). In Wimmelbildern wird der Crowding- Effekt durch die geringen Abstände zwischen den vielen Objekten verursacht. Somit kann Walter nur gefunden werden, wenn der Blick nacheinander auf einzelne Details gerichtet wird. Die Nutzung der peripheren Wahrnehmung wird also erschwert. 9.1.2 Die Aufmerksamkeit Muss die Aufmerksamkeit geteilt werden - wie zum Beispiel bei Mehrfachaufgaben (Dual- oder Multitasking), hat dies immer Kosten zufolge. Es werden mehr Fehler gemacht und die Reaktionszeiten sind langsamer als bei Einfachaufgaben (Huestegge, 2011). Muss zum Beispiel ein fovealer Reiz verarbeitet werden und gleichzeitig auf einen peripheren (Licht-)Reiz reagiert werden, dann verzögert sich die Reaktionszeit auf den peripheren Reiz um das 1,2bis 1,5-fache (Bahrick et al., 1952; Webster & Haslerud, 1964). Außerdem hat eine foveale Aufgabe Auswirkungen auf das „nutzbare“ Gesichtsfeld (functional field of view oder useful field of view/ UFOV), also den Anteil des Gesichtsfeldes, auf den die Aufmerksamkeit noch gerichtet werden kann (Wolfe et al., 2017). Im deutschsprachigen Raum wird dieses Aufmerksamkeitsfeld auch als Attention Window bezeichnet (Hüttermann & Memmert, 2017). Die Größen des berichteten Auf‐ merksamkeitsfensters werden in Abbildung 4 dargestellt. Daraus wird ersichtlich, dass die theoretische Annahme sein müsste, dass visuelle Informationen außerhalb der Aufmerksamkeitsfenster - also größer als 40° Exzentrizität - nicht wahrgenommen werden können. 166 9 Der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Handlung im Sport <?page no="167"?> Abb. 9-4 | Größen des Gesichtsfeldes (Strasburger, 2020) und der angenommenen Größen der Aufmerksamkeitsfenster Attention Window (Hüttermann & Memmert, 2017) und useful field of view (UFOV, Wolfe et al., 2017) Die direkte Übertragung auf die Sportpraxis ist jedoch nicht möglich, da die Tests zur Messung dieses Aufmerksamkeitsfensters artifizielle Stimuli (Dreiecke, Kreise) und kurze periphere Präsentationszeiten (300 ms) nutzen (Hüttermann & Memmert, 2017). Sportnähere Ansätze zur Übertragung des Paradigmas lassen sich aber finden (z. B. in Hüttermann et al., 2019). In den meisten Studien wird der Crowding-Effekt, welcher oben beschrieben wurde, jedoch nicht kontrolliert. Wie dies in Zukunft mit dem Attention-Window-Test überprüft werden könnte, wird in Abbildung 9-5 dargestellt. Abb. 9-5 | Das linke Bild zeigt den traditionellen Attention-Window-Test („Wie viele hellgraue Dreiecke werden oben links (unten rechts) präsentiert? “). Das rechte Bild zeigt eine Variation, mit der geprüft werden kann, ob die Größe des Aufmerksamkeitsfensters durch Crowding erklärt werden kann: Das Zentrum der Zielreize befindet sich auf der gleichen Exzentrizität wie links, aber der Abstand zwischen den Zielreizen und den Flankern ist größer. Da die Mustererkennung (hier Kreis oder Dreieck) durch Crowding beeinflusst wird, sollte die Erkennungsleistung rechts größer sein (andere Faktoren, die die Leistung beeinflussen, werden in Klatt & Memmert, 2021 diskutiert). 9.1 Grundlagen visueller Wahrnehmung 167 <?page no="168"?> Im Sportkontext muss die Aufmerksamkeit oft auf Objekte gerichtet werden, die sich außerhalb des Aufmerksamkeitsfensters befinden oder es müssen mehr als zwei Objekte gleichzeitig verfolgt werden. Vor allem in den Teamsportarten ist dies der Fall. In der Basketballverteidigung müssen mehrere Spieler gleichzeitig beachtet werden. In einer experimentellen Studie der Universität Bern wurden die Spieler instruiert auf den ballführenden Spieler zu schauen und mit einer Ganzkörper-Verteidigungsbewegung auf den zum Korb cuttenden Spieler zu reagieren. Dabei zeigten erfahrene Basketballspieler schnellere Reaktionszeiten als weniger erfahrene Spieler auf allen Blickwinkeln (siehe Abbildung 9-6). Der größte Effekt zwischen den Gruppen zeigte sich bei dem größten Blickwinkel (90°). Die Ergebnisse zeigen, dass auch außerhalb des Aufmerksamkeitsfens‐ ters Informationen verarbeitet können und darauf reagiert werden kann und sich hier erfahrene und unerfahrene Basketballspieler am deutlichsten unterscheiden (Vater, 2024). Download | Über den QR-Code kann ein kurzes Video geladen werden, das zeigt, wie Probanden in der CAVE agieren. Abb. 9-6 | Der obere Teil der Abbildung zeigt einen Ausschnitt der 360° Videos der Basketballstudie, welche in einer CAVE eingesetzt wurden. Die Spieler wurden beim Aufzeichnen der Videos so positioniert, dass sich die Angreifer auf 0° (ballführender Spieler wird angeschaut und zieht zum Korb), 30°, 60° und 90° befanden. Die Ergebnisse zeigen expertise- und blickwinkelabhängige Reaktionszeitunterschiede. Die größten Unterschiede zwischen den Gruppen zeigen sich beim größten Blickwinkel (Quelle: Vater, 2024). 168 9 Der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Handlung im Sport <?page no="169"?> 9.1.3 Die Augenbewegungen Um das foveale Sehen auf ein anderes Objekt zu richten, muss ein Blicksprung (Sakkade) ausgeführt werden. Bei jeder Sakkade, welche in der Regel nur ca. 60 bis 100 ms dauert, verändert sich das Abbild auf der Netzhaut (Retina) des Auges. Während der Sakkade müsste theoretisch ein verwischtes Bild der Umwelt verarbeitet werden, da sich das Abbild verschiebt. Um dies zu verhindern, unterbricht unser visuelles System die Informationsaufnahme während der Sakkade („sakkadische Suppression“, Binda & Morrone, 2018; Ross et al., 2001). Dieses Phänomen kann nachvollzogen werden, indem man sich vor einen Spiegel stellt und abwechselnd auf das rechte und linke Auge fixiert: Durch die sakkadische Suppression wird man nie die eigene Augenbewegung beobachten können. In Zweikampfsportarten wie Boxen, bei denen auf Angriffe des Gegners innerhalb kürzester Zeit reagiert werden muss, kann also eine Sakkade enorme Kosten haben. Es wird hier des Öfteren eine Blickverankerung mit Nutzung der peripheren Wahrneh‐ mung und eine Vermeidung von Blicksprüngen vorgeschlagen (Hausegger et al., 2019; Williams & Elliott, 1999). Offene Forschungsfragen zu Sakkaden im Sportkontext 1. Welche Rolle spielt die sakkadische Suppression im Sport? 2. Lässt sich die sakkadische Suppression durch Vorwissen oder Prädiktion verhindern oder kompensieren? Eine Blickbewegung, bei der die Suppression gar nicht oder deutlich geringer auftritt, ist die Augenfolgebewegung (Smooth Pursuit; Barnes, 2008; Schütz et al., 2007, 2011; Schütz et al., 2008; siehe Abbildung 9-1). Diese wird genutzt, um sich bewegende Objekte mit dem Blick zu fixieren und zu verfolgen, während sie sich bewegen. Diese Blickbewegung wird zum Beispiel genutzt um den Ball im Tischtennis (Rodrigues et al., 2002) oder Cricket (Land & McLeod, 2000; Mann et al., 2019; Mann et al., 2013) zu verfolgen. 9.1.4 Die Kopfbewegungen Blick- und Kopfbewegungen finden oft gleichzeitig statt. Bereits ab Exzentrizitäten von 20° wird beobachtet, dass auch der Kopf neu ausgerichtet wird. Es gibt zahlreiche Situationen im Sportkontext, in denen eine Kopfbewegung die Informationsaufnahme zu begünstigen scheint. So beschreiben Mann et al. (2013) in ihrem Artikel „The head tracks and gaze predicts: How the world’s best batters hit a ball“, wie erfahrene Batter ein stabiles Abbild des Balles auf der Retina erzeugen, indem sie den Kopf rotieren und so die Augen nicht bewegen müssen. Eine weitere typische Sportsituation in der Kopfbewegungen eingesetzt werden, ist der Schulterblick im Fußball (McGuckian et 9.1 Grundlagen visueller Wahrnehmung 169 <?page no="170"?> al., 2019; Phatak & Gruber, 2019). Da sich relevante Informationen im Rücken der Spieler*innen befinden, müssen sie sich „vororientieren“, um die Position von Mit- und Gegenspieler*innen wahrzunehmen. Es wird angenommen, dass eine höhere Anzahl an Schulterblicken eine schnellere Reaktion bei der Folgehandlung (z. B. Spielen eines Passes) ermöglicht (McGuckian et al., 2019) und zu einer größeren Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Ball aufzudrehen und einen Pass in die gegnerische Hälfte zu spielen, führt (McGuckian et al., 2018). 9.1.5 Ganzkörperbewegungen Ganzkörperbewegungen haben ebenfalls Auswirkungen auf die visuelle Wahrneh‐ mung. Sie verursachen den sogenannten optic flow (auch als retinal flow oder visual flow benannt). Dieser hilft, die Bewegung des eigenen Körpers relativ zu Objekten in der Umgebung zu erkennen und das Bewegungsverhalten zu kontrollieren (Fajen, 2021; Lappe et al., 1999; Warren & Hannon, 1988). Die Blickbewegungen, dessen Efferenzkopie - die neuronale Repräsentation der Augenbewegung im Gehirn - sowie die Wahrnehmung des sich bewegenden Objektes sorgt dafür, dass wir Eigenbewegung von Fremdbewegung unterscheiden können (Bridgeman, 1995; Holst & Mittelstaedt, 1950). Dass die eigene Bewegungsgeschwindigkeit einen Einfluss auf das Blickverhal‐ ten hat, konnte zum Beispiel beim Fahrradfahren gezeigt werden (Vansteenkiste, van Hamme, et al., 2014). Es wird in diesem Kontext oft von der Look-Ahead-Distance (also der Distanz zwischen aktuellem Körperstandort und dem Fixationsort) gesprochen, die mit zunehmender Fahrgeschwindigkeit größer wird. Auch beim Laufen wird diese Variable in Studien berichtet. Hier ist die Blickdistanz unter anderem abhängig vom Untergrund: Bei einem flachen Untergrund schaut man ca. 2 bis 3 Schritte voraus, wohingegen bei schwierigem Terrain der Blick auch mal auf den nächsten Schritt gerichtet wird (Matthis et al., 2018). Auch beim Autofahren wird ein vorausschauender Blick (ca. 1 bis 2,5-s voraus) beobachtet (Wilkie & Wann, 2003). 9.2 Die „optimale“ Blickstrategie Die meist diskutierten Blickstrategien im Sport sind das Quiet Eye (QE), der Gaze Anchor, der Visual Pivot und der Foveal Spot (Klostermann et al., 2020). Das wohl am meisten untersuchte Phänomen ist das QE, definiert als die letzte Fixation oder Blickfolgebewegung, welche auf einen spezifischen Ort oder ein Objekt ausgerichtet ist, sich nicht mehr als 3° von diesem Ort entfernt und mindestens 100 ms dauert (Vickers, 2016). Diese Blickstrategie ist vor allem erfolgversprechend in sogenannten aiming tasks wie dem Basketballfreiwurf, im Dart und Billiard sowie beim Schießen (Rienhoff et al., 2016). Kontrovers diskutiert ist jedoch der Mechanismus des QE (Lebeau et al., 2016; Rienhoff et al., 2016; siehe auch das Special Issue, herausgegeben von Hossner, 2016). 170 9 Der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Handlung im Sport <?page no="171"?> Die im Kontext des QE untersuchten Aufgaben machen deutlich, dass hier vor allem das foveale Sehen in statischen Aufgaben und ohne große Interaktionen mit der Umwelt (u.a. Mit- und Gegenspieler*innen) untersucht wurde. In dynamischen Aufgaben, z. B. einer 3 v. 3 Situation im Fussball, wird davon ausgegangen, dass die periphere Wahrnehmung eine größere Rolle spielt (Williams & Davids, 1998). Dabei werden der Gaze Anchor, der Visual Pivot und der Foveal Spot unterschieden (Vater et al., 2020). Der Gaze Anchor ist eine Fixation zwischen mehrere relevante Informationen (sogenannte areas of interest, AOIs), die gleichzeitig, meist unter Zeitdruck, verarbeitet werden müssen. Dabei kann es sein, dass diese Fixationen auf scheinbar irrelevante Orte zwischen mehrere AOIs zu finden sind, wie zum Beispiel Vansteenkiste, Vaeyens et al. (2014) im Volleyball berichten. Die verdeckte Aufmerksamkeit (covert attention) und nicht der Blick wird also zwischen den AOIs gewechselt. Der Visual Pivot wird genutzt, um zu entscheiden, welche zunächst periphere Information als Nächstes fixiert werden soll. Dabei wird die verdeckte Aufmerksamkeit zuerst auf den neuen Fixationsort verlagert und - im Gegensatz zum Anchor - der Blickort anschließend gewechselt. Oftmals wird aber dann der Blick zurück auf den Pivot gerichtet, da von dort aus ein optimales Verfolgen der wichtigen Informationen über die periphere Wahrnehmung erfolgen kann. Beim Foveal Spot werden die fovealen Informationen am höchsten gewichtet. Es besteht aber die Möglichkeit, das Aufmerksamkeitsfenster je nach Anforderungen zu vergrößern oder zu verkleinern. Dabei findet aber - anders als beim Pivot - keine Reorientierung des Blickes statt, da ansonsten Informationen am wichtigsten Fixati‐ onsort verpasst werden könnten. Eine weitere Annahme beim Spot ist, dass je weniger Aufmerksamkeit auf den Spot gerichtet wird, desto größer das Aufmerksamkeitsfenster ist. Weitere Erklärungen zu den Blickstrategien und Beispiele aus unterschiedlichen Sportarten können in Vater et al. (2020) nachgelesen werden. Wenn die „optimale“ Blickstrategie für eine bestimmte Aufgabe gesucht wird, dann sollten die Randbedingungen der Aufgabe, der Person und der Umwelt berücksichtigt werden. Diese Auswahl an Randbedingungen ist angelehnt an die Systematik des constraints-led approach von Newell (1986, siehe auch Williams et al., 2004). In Abbildung 9-7 werden eine Auswahl an Randbedingungen vorgestellt. Um die Bedeutsamkeit der Randbedingungen zu verdeutlichen und aufzuzeigen, wie sich die optimale Blickstrategie durch diese Randbedingungen verändert, soll im Folgenden das Ziel der eigenen Handlung eines Angreifers in einer 3-vs.-3-Situation geschildert werden. Ist es das Ziel (Randbedingung Aufgabe), den direkten Gegenspieler auszudribbeln, wird eher die foveale Wahrnehmung, also das QE oder der Spot, funktional sein. Ist die Aufmerksamkeit dabei ausschließlich auf den Gegenspieler gerichtet, eignet sich das QE - also die lange Fixation auf eine relevante Information vor der Initiierung der eigenen Handlung (z. B. Körpertäuschung und Beschleunigung mit Ball). Ist der eigene Antritt nicht schnell genug (beschränkte action capabilities; siehe Farrow et al., 2018), eignet sich diese Blickstrategie aber nicht (Randbedingung 9.2 Die „optimale“ Blickstrategie 171 <?page no="172"?> Person). Stattdessen könnte der direkte Gegenspieler als Blickanker genutzt werden, um die anderen Mit- und Gegenspieler*innen peripher zu verfolgen und im richtigen Moment zu erkennen, wenn ein Mitspieler angespielt werden kann. Um den Blickanker effektiv einzusetzen, müssen die visuellen Fähigkeiten - z. B. die Fähigkeit peripher Informationen wahrzunehmen - ausreichend vorhanden sein (dies kann trainiert wer‐ den, siehe Kapitel 9.3.1). Sind diese Fähigkeiten nicht ausreichend gegeben, muss der Blickort gewechselt werden, um die Position der Mit- und Gegenspieler „upzudaten“. In dem Fall dient der direkte Gegenspieler als Pivot - also als der Ort, von dem der Blick immer wieder zu den Mit- und Gegenspielern in der Peripherie gewechselt wird (Randbedingung Person). Ändert sich das Ziel der Handlung (Randbedingung Aufgabe), z.B. zu Rückpass auf einen anderen Spieler, dann ändern sich auch die aufgabenrelevanten Informationen, sodass die ideale Anspielstation gefunden und eher mit Sakkaden das Umfeld gescannt werden muss. Anhand dieses Beispiels soll deutlich werden, dass es nicht die „eine“ ideale Blickstrategie gibt, sondern diese dynamisch, und auf Basis verschiedener Randbedingungen, angepasst werden muss. Abb. 9-7 | Auswahl an Randbedingungen der Aufgabe, der Person und der Umgebung, die beeinflussen, welche Blickstrategie funktional sein sollte 172 9 Der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Handlung im Sport <?page no="173"?> 9.3 Visuelles Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitstraining 9.3.1 Welches Wahrnehmungstraining für wen? Zunächst muss zwischen allgemeinem und sportspezifischem Training unterschieden werden. Während beim allgemeinen Training generalisierbare Fähigkeiten wie die Geschwindigkeitswahrnehmung oder die Fähigkeit die Aufmerksamkeit auf mehrere sich bewegende Objekte zu verteilen trainiert werden, wird beim spezifischen Trai‐ ning die Wahrnehmung oder die Aufmerksamkeit in der wettkampfnahen Situation trainiert - zum Beispiel während des Elftmeterschießens im Fußball. In allgemeinen Training wird oft festgestellt, dass eine visuelle Fähigkeit, zum Beispiel die Kontrastwahrnehmung (Deveau et al., 2014), oder die trainierte Aufmerk‐ samkeitskomponente, zum Beispiel die geteilte Aufmerksamkeit (Legault et al., 2013), trainiert und verbessert wird. Allerdings wird dann oft festgestellt, dass der Transfer in den sportspezifischen Kontext oft ausbleibt, nicht getestet wird oder aufgrund der Komplexität gemessenen Leistung - zum Beispiel die Saisonperformanz (Deveau et al., 2014; Liu et al., 2020) - nicht eindeutig auf das Training zurückgeführt werden kann (Vater et al., 2021). Zu den Effekten von allgemeinen Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitstrainings gibt es einige Reviews und Metaanalysen (Appelbaum & Erickson, 2018; Gray, 2020; Hadlow et al., 2018; Harris et al., 2018; Renshaw et al., 2019; Simons et al., 2016; Vater et al., 2021; Wilkins & Appelbaum, 2019). In spezifischen Trainings wird die Wahrnehmung oder Aufmerksamkeit in der sportspezifischen Aufgabe trainiert. Da die Trainingsaufgabe sich an den Anforderun‐ gen der Wettkampfsituation orientiert, kann ein Transfer - also eine Verbesserung der sportspezifischen Leistung - eher erwartet werden als beim allgemeinen Training. Bezogen auf die vier Blickstrategien wurden die meisten Trainings im Kontext des QE veröffentlicht (u. a. Lebeau et al., 2016; Rienhoff et al., 2016; Vine et al., 2014). In diesen konnte gezeigt werden, dass ein QE-Training die Performanz beim Elfmeterschießen im Fußball (Wood & Wilson, 2011, 2012), beim Basketballfreiwurf (Harle & Vickers, 2001; Vine & Wilson, 2011) und beim Putting im Golf verbessern kann (Vine et al., 2013; Vine et al., 2011; Vine & Wilson, 2010). 9.3.2 Welches Setup ist für das Training geeignet? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst entschieden werden, ob einzelne Fähigkeiten/ Fertigkeiten in der Wahrnehmung oder Aufmerksamkeit trainiert werden sollen oder die komplexe Wahrnehmungs-Handlungs-Kopplung. Für Ersteres eignen sich verschiedene Trainingstools zur fovealen (Appelbaum & Erickson, 2018) und peripheren Wahrnehmung (Vater & Strasburger, 2021). Ein komplexes Vision Training wird zum Beispiel in der Studie von Liu et al. (2020) beschrieben. Sie vergleichen in ihrer Studie die Trainingseffekte einer Interventionsgruppe, die ein Dynamic Vision Training erhält, mit einer Placebo-Trainingsgruppe. Das Dynamic Vision Training enthält drei Übungsformen: 9.3 Visuelles Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitstraining 173 <?page no="174"?> 1. stroboskopisches Training (10 Übungen), bei dem eine Art Sonnenbrille in be‐ stimmten Abständen undurchsichtig wird, um damit die Effizienz der Informati‐ onsverarbeitung zu optimieren (es kann ja nur verarbeitet werden, wenn die Sonnenbrille durchsichtig ist) 2. eine LED-Lichtleiste, bei dem der Flug eines Balles durch das Aufleuchten der LEDs simuliert und so die Blickbewegungen zum Verfolgen eines realen Balles trainiert werden und 3. eine Übung, bei der die Öffnung von sich auf unterschiedlichen Distanzen bewe‐ genden Landolt-Cs erkannt werden musste. Die Ergbenisse der Studie zeigen, dass der Abschlagwinkel und die Batting-Distanz in der Interventionsgruppe im Vergleich zur Placebogruppe mit mittleren bis großen Effekten verbessert werden konnten. Für komplexe Trainings der Wahrnehmungs-Handlungs-Kopplung eignet sich die Präsentation realitäts- und wettkampfnaher Stimuli (Video oder Animation). Diese können über ein Head-Mounted-Display (HMD) oder einer CAVE, also einem Labor mit großer Projektionsfläche, präsentiert werden. Im Idealfall sollte es möglich sein, die Blick- und Körperbewegungen zu erfassen, um später die Wahrnehmung mit der Handlung in Bezug zu setzen. HMDs haben den Vorteil, dass sie portabel sind und flexibel eingesetzt werden können. Es können Videos oder Animationen mit dem HMD abgespielt werden und über Bewegungssensoren die Bewegungsantworten aufgezeich‐ net werden. Viele HMDs verfügen mittlerweile auch über ein integriertes Eye-Tracking und die Anbieter bieten Datenanalysetools an, um den Athlet*innen unmittelbares Feedback zu geben (z. B. integriertes Eye-Tracking in der HTC Vive mit Tobii Software für die Blickanalyse; Pastel et al., 2023 veröffentlichten hier kürzlich ein Review). Die CAVE hat den Vorteil, dass sich Sportler*innen ohne großes zusätzliches Gewicht auf dem Kopf (die HTC Vive wiegt immerhin 800 g) und ohne Verkabelung (wenn wireless Eye-Tracking verwendet wird) bewegen können und zudem keine Einschränkungen im Gesichtsfeld haben. Es kann erwartet werden, dass Kopf- und Blickbewegungen in diesem Setting natürlicher sind als mit dem HMD, da Einschränkungen im Gesichtsfeld durch zusätzliche Blick- und Kopfbewegungen kompensiert werden müssen (Ryu et al., 2015). Hingegen sind der Platzbedarf, die hohen Anschaffungskosten, das notwendige Know-how der zu entwickelnden (experimentellen) Umgebung und die Datenauswertung Hindernisse für die Realisierung von Studien in der CAVE. 9.4 Blick über den Tellerrand Die Kopplung zwischen Wahrnehmung und Handlung ist nicht nur im Sport von hoher Relevanz. Daher wird in diesem Kapitel auf Forschungsrichtungen und Studien außer‐ halb des Sportkontexts verwiesen, die für die Wahrnehmungs-Handlungs-Kopplung im Sport relevant sein können. Zunächst werden Studien zusammengefasst, die Auf‐ gaben mit ähnlichen visuell und kognitiven Anforderungen wie jene im Sportkontext 174 9 Der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Handlung im Sport <?page no="175"?> untersucht haben. Im Anschluss wird näher auf die methodischen Ansätze in Studien außerhalb des Sports eingegangen. Die Frage nach der optimalen Blickstrategie stellt sich nicht nur im Sport. Ähnlich komplexe Entscheidungssituationen finden sich zum Beispiel auch beim Autofahren (Lappi & Mole, 2018). Dabei ist es wichtig, die Aufmerksamkeits- und Blickstrategie den situativen Bedingungen anzupassen. Hat das vorausfahrende Auto zum Beispiel nur einen geringen Abstand zum eigenen Auto, sollte die Aufmerksamkeit eng an das vorausfahrende Fahrzeug gekoppelt sein, damit man stets in der Lage ist zu bremsen. Je geringer der Abstand, desto höher der Zeitdruck rechtzeitig zu Bremsen oder, bezogen auf das Blickverhalten, desto höher die Kosten, wenn der Blick vom vorausfahrenden Auto gelöst wird. Ein zu enger Fokus kann jedoch auch gefährlich sein, da dann oftmals Fußgänger*innen nicht beachtet werden und insgesamt mehr Unfälle passieren (Crundall et al., 2004). Eine optimale Verarbeitung peripherer Reize scheint also auch hier essenziell zu sein und wurde auch, zum Beispiel für das Erkennen von Fußgänger*innen an Fußgängerüberwegen, nachgewiesen (Ahlström et al., 2022). Dass periphere Wahrnehmung sowie die Funktionalitäten vom Pivot, Anchor und Spot auch außerhalb des Sports diskutiert werden, konnte kürzlich in einem systematischen Review gezeigt werden (Vater et al., 2022). Es gibt Alltagsaufgaben, die der fovealen Wahrnehmung bedürfen (z. B. das Greifen von Objekten; Hayhoe et al., 2003), und wiederum andere, die allein über die periphere Wahrnehmung gelöst werden können (z. B. Kontrolle von Schritten beim Treppensteigen; MiyasikedaSilva & McIlroy, 2016). Bei anderen Aufgaben dient die periphere Wahrnehmung als „Vorwarnsystem“. Beispielsweise müssen Fluglotsen und Fluglotsinnen sowie Pi‐ lot*innen möglichst schnell Warnleuchten (peripher) erkennen, um dann (foveal) eine Problemlösung zu initiieren (Imbert et al., 2014; Yu et al., 2014). Aufgabenübergreifend kann festgehalten werden, dass die periphere Wahrnehmung genutzt wird, um zu erkennen, dass etwas da ist (localization) und foveale Wahrnehmung, um zu erkennen, was da ist (identification; Vater et al., 2022). Die jeweils optimale Blickstrategie für eine bestimmte Aufgabenlösung hängt unter anderem von der Expertise, der Anzahl gleichzeitig zu lösender Aufgaben (Multitasking) und den ablenkenden Störreizen ab. Um Wahrnehmungs-Handlungs-Kopplung in Alltagsaufgaben zu überprüfen, wur‐ den unterschiedliche Methoden eingesetzt. Wie im Sport werden mobiles Eye-Tracking (Ahlström et al., 2021), Okklusionsparadigmen (Kujala et al., 2021) und verbal reports (Young et al., 2013) eingesetzt, um die Kopplung zu untersuchen. Dabei werden oft mehrere Methoden kombiniert. Soll zum Beispiel die Aufmerksamkeit beim Autofah‐ ren untersucht werden, reicht die Messung des Blickverhaltens nicht aus, da dann fälschlicherweise ein Blick weg von der Straße als Ablenkung interpretiert werden würde. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass nicht jeder Blick weg von der Straße eine Ablenkung darstellt (Kircher & Ahlström, 2017). Wird also das Eye-Tracking mit Verbal Reports kombiniert, liefert im Idealfall die Fahrerin oder der Fahrer selbst die Interpretation des Blickes. Weitere Hinweise zur objektiveren Auswertung von Blickdaten werden in Kircher et al. (2017) berichtet. 9.4 Blick über den Tellerrand 175 <?page no="176"?> Frage an die Praxis � „Lieber Diego, als Spieler und Trainer im Basketballleistungssport bist du es gewohnt, deine Aufmerksamkeit gleichzeitig auf mehrere Informationen zu richten. Als Spieler musst du deine Mit- und Gegenspieler wahrnehmen, und als Trainer die Aktionen deines ganzen Teams bewerten, um Abläufe der Spieler korrigieren zu können. Stimmen diese Aussagen? “ → „Deine Aussage, dass ich auf mehrere Informationen gleichzeitig achten muss, ist korrekt. Wie ich es schaffe, alles im Blick zu halten, weiß ich auch nicht genau. Wahrscheinlich hat man das mit der Zeit gelernt. Ich versuche aber bewusst, meine Aufmerksamkeit und nicht so sehr meinen Blickort zu wechseln. Ich habe gemerkt, dass ich dann eher Informationen verpasse. Als Spieler hilft mir die periphere Wahrnehmung, um schnell auf gegnerische Handlungen - zum Beispiel die Penetration zum Korb - zu reagieren. Als Trainer wiederum nutze ich diese Strategie, um Teamhandlungen insgesamt wahrzunehmen - zum Beispiel, um zu erkennen, ob das Timing beim Passen und Laufen beim Give-and-Go oder beim Pass-and-Cut zwischen den Spielern stimmt. Wird ein Pass nicht rechtzeitig gespielt oder ein Lauf zu spät gestartet, dann minimiert dies die Erfolgsaussichten auf einen Korberfolg.“ Literatur Ahlström,-C., Kircher,-K., Nyström,-M., & Wolfe,-B. (2021). Eye tracking in driver attention research—How gaze data interpretations influence what we learn. Frontiers in Neuroergo‐ nomics, 2(34), Article 778043. https: / / doi.org/ 10.3389/ fnrgo.2021.778043 Ahlström, C., Kircher, K., & Vater, C. (2022). Strategical use of peripheral vision in driving. 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Ziel dieses Kapitels ist es, einen Einblick in VR im Sport mit Fokus auf Bewegungslernen zu geben. Aufbauend auf eine Einordnung, was VR ist und sein kann, wird ein Überblick gegeben, wie diese im Sport eingesetzt werden kann. Ein besonderes Augenmerk des Kapitels liegt darauf, aus einer bewegungswissenschaftlichen und kognitionspsychologischen Perspektive der Frage nachzugehen, ob und unter welchen Bedingungen VR für das Lehren und Lernen von Bewegungen eingesetzt werden kann. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1304. Lernziele Nach Studium des vorliegenden Kapitels sollen die Leser*innen ■ virtuelle Realität (VR) im Sport eingrenzen, ■ Komponenten eines interaktiven VR-Systems beschreiben, ■ Untersuchungen zum Bewegungslernen in VR diskutieren, ■ Anwendungsbeispiele für Bewegungslernen in VR kennen, ■ Bewegungslernen in VR kritisch diskutieren können. <?page no="184"?> 10.1 Interaktive Virtuelle Realität Virtuelle Realität (VR) gewinnt im Sport sowohl in der Forschung als auch in der Anwendung immer mehr an Bedeutung (Faure et al., 2020; Frank & Schack, 2022; Petri et al., 2018; Neumann et al., 2018). Trotz einer vergleichsweise langen Geschichte von VR aus Sicht der Informatik (Sutherland, 1968) hat VR erst im letzten Jahrzehnt vermehrt Einzug in die Sportwissenschaft gehalten. Bevor wir uns der Frage annähern, wie VR zukünftig das Bewegungslernen bereichern kann, erfolgt eine Einordnung, was interaktive VR meint, wie interaktive VR-Systeme im Allgemeinen aufgebaut sind und unter welchen Voraussetzungen VR eine reale, subjektive Erfahrung ersetzen kann. 10.1.1 Einordnung Auf einem Virtualitätskontinuum zwischen Realität und Virtueller Realität liegen gemischte Realitäten zwischen beiden Polen (Milgram & Kishino, 1994): Er‐ weiterte Realität (Augmented Reality, AR) und Erweiterte Virtualität bezeichnen Mischformen, die sich zwischen der rein realen und der rein virtuellen Welt bewegen. In Erweiterten Realitäten wird die Realität mit virtuellen Aspekten angereichert, während die reale Umgebung in Erweiterter Virtualität bis hin zur Virtuellen Realität teilweise bis vollständig ersetzt wird. Ziel von VR ist es, möglichst viele sensorischen Effekte einer realen, multimodalen Erfahrung adäquat durch virtuelle Effekte zu ersetzen, wobei bislang überwiegend visuelle Aspekte von VR im Sport thematisiert worden sind. Trägt ein*e Tänzer*in eine Brille, durch die er*sie die reale Welt wahrnehmen und gleichzeitig visuelle Instruktionen über die Brille sehen kann, spricht man von einer Erweiterung seiner*ihrer Realität. Je mehr Aspekte nun virtuell ersetzt werden, desto weiter bewegt man sich auf dem Kontinuum über die Erweiterte Virtualität hin zu einer vollständig immersiven VR, in der die sich bewegende Person beispielsweise als virtueller Avatar dargestellt wird und mit einem virtuellen Spiegel während des Tanzens interagiert. Definition | Virtuelle Realität (VR) im Sport kann definiert werden als 1. sportliche Tätigkeit einer Person, 2. in einer computergenerierten, simulierten Umgebung, 3. die ein Gefühl der mentalen und physischen Präsenz in der Person hervorruft und 4. die eine kontinuierliche Interaktion zwischen der Person und der simulierten Umgebung ermöglicht (mod. nach Dörner, 2019 sowie Neumann et al., 2018). 184 10 Virtuelle Realität: Die Zukunft des individualisierten Lehrens und Lernens von Bewegung? <?page no="185"?> Ein wichtiges Merkmal von VR im Sport ist entlang der hier gewählten Definition, dass ein ständiger Austausch an Information zwischen der sich bewegenden Person und dem System, hier der virtuellen (Sport-)Umgebung, stattfindet. Dieser Informations‐ austausch erlaubt es, dass sich die von einem Computer erstellte virtuelle Umgebung ständig und schnell an die Bewegungen der Person anpasst (siehe Abschnitt 10.1.2). Geschieht dies in einem Zeitintervall, das vom Menschen als Echtzeit empfunden wird (Waltemate et al., 2016), trägt dies dazu bei, dass sich die Person als Teil dieser Welt wahrnimmt (siehe Abschnitt 10.1.3). Im Gegensatz dazu zählen in VR abgespielte 360° Videos im engeren Sinne nicht zu VR, da keine Interaktion zwischen der betrachtenden Person und der gezeigten Szene möglich ist (Farley et al., 2020). Ein*e Fußballspieler*in kann in diesem Beispiel mittels 360° Video zwar eine Spielszene als Rundum-Panorama und aus unterschiedlichen Perspektiven von seinem*ihrem Standpunkt aus betrachten, er*sie kann sich jedoch nicht an unterschiedliche Positionen im Raum während der Spielszene begeben, um beispielsweise die für seine*ihre Rolle wichtigen Informationen herauszufiltern. Nichtsdestotrotz bieten 360° Videos je nach sportlichem Kontext auch Vorteile ge‐ genüber herkömmlichen Videoaufzeichnungen, da sie mehr Information bieten und mehr Immersion ermöglichen als dies beim Betrachten aus einer Spieler- oder der Vogelperspektive der Fall ist (Lindsay et al., 2023). 10.1.2 Komponenten Interaktive VR ist technisch gesehen eine dreidimensionale (3D) virtuelle Welt, die von einem Computer erzeugt wird und mit der sich bewegenden Person interagiert. Ein VR-System besteht aus Ein- und Ausgabeelementen sowie der Simulation der virtuellen Welt: Das System erhält Informationen von der sich bewegenden Person über Sensoren (z. B. kinematische Information über optische Bewegungserfassung) und führt diese zusammen. Auf Grundlage eines Modells und mit den eingehenden Informationen generiert das System die virtuelle Welt. Anschließend werden der Person Informationen, ggf. unter Rückgriff auf eine Datenbank, über einen Renderer und vorhandene Ausgabegeräte (z. B. ein Display, um die sich bewegende Person zu visualisieren oder Lautsprecher, um die mit der Bewegung einhergehenden Geräusche mit einzubinden) bereitgestellt (Details siehe z. B. Dörner et al., 2019). Während die Position des Kopfes und des Körpers einer Person sowie deren Orientierung im Raum mittels Tracking berücksichtigt werden, kann so für die Person eine virtuelle (Sport-)Welt visualisiert und ständig entsprechend der Bewegungen der Person ange‐ passt werden. Erst durch diesen Kreislauf an Information ist es möglich, dass die Person mit dem System direkt interagiert. Dadurch wird es beispielsweise auch möglich, dass die Bewegungen einer Person mittels Ganzkörper-Tracking über ein Display nahezu in Echtzeit in VR gezeigt und zur Unterstützung des Bewegungslernens eingesetzt werden können (Abbildung 10-1; siehe Abschnitt 10.2.2). 10.1 Interaktive Virtuelle Realität 185 <?page no="186"?> Abb. 10-1 | Interaktion zwischen dem Lernenden und einem virtuellen Spiegel sowie einem virtuellen Trainer (Intelligent Coaching Space: ICSPACE; Quelle: CITEC/ Universität Bielefeld) Zu den meist genutzten immersiven VR-Geräten gehören so genannte Head-Mounted Displays (HMDs) und Cave Automatic Virtual Environments (CAVE). Ein HMD ist ein VR- System, das ähnlich einer Brille auf dem Kopf getragen wird und so visuelle Informationen direkt vor dem Sichtfeld der Person übermittelt. Diese erfährt dabei ein Maximum an Immersion, nimmt aber auch keine anderen visuellen Informationen aus der sie umgebenden realen Welt wahr. Körperteile sind während der Bewegung entsprechend nicht sichtbar, wenn sie nicht als Teil der virtuellen Umgebung mit implementiert sind. Eine CAVE ist dagegen ein VR-System, das die Person umgibt. Befindet sich eine Person in einer CAVE, ist sie von einem realen Raum umgeben, auf den die virtuelle Umgebung projiziert wird. Dies hat den Vorteil, dass man in dieser Umgebung während der Bewegung den eigenen Körper visuell mit wahrnehmen kann. Unabhängig vom Gerät ist es mittels eines interaktiven VR-Systems möglich, dass sich eine Person als Teil einer virtuellen Welt wahrnehmen kann, dass ihre Bewegungen berücksichtigt werden und basierend darauf eine an die Bewegungen angepasste Welt simuliert wird. 10.1.3 Voraussetzungen Aus psychologischer Sicht führt eine Interaktion in und mit einer virtuellen Umgebung nicht automatisch dazu, dass sich eine Person als Teil dieser Welt wahrnimmt. Ziel eines VR-Systems ist es, sensorische Effekte einer realen, multimodalen Erfahrung adäquat 186 10 Virtuelle Realität: Die Zukunft des individualisierten Lehrens und Lernens von Bewegung? <?page no="187"?> durch virtuelle Effekte zu ersetzen, so dass eine Person sich selbst als eingebettet in diese Welt wahrnehmen kann. Relevante Faktoren für eine gelungene sensorische Substitution sind aus tech‐ nischer Sicht 1. ein breites Sichtfeld, das dem natürlichen menschlichen Sichtfeld entspricht, 2. Stereoprojektion, um eine dreidimensionale Erfahrung für den Benutzer zu ermög‐ lichen, 3. Spurverfolgung des Kopfes, um die virtuelle Welt ständig entsprechend der Position und Orientierung des Benutzers anzupassen, 4. eine geringe Latenz, um VR nahezu in Echtzeit zu erleben, 5. eine hohe Auflösung der Darstellung, um eine hohe Bildqualität zu gewährleisten, und 6. eine möglichst multimodale Effektsubstitution verschiedener Sinne, die den Ler‐ nenden nicht nur mit visueller, sondern auch - wenn möglich - mit auditiver oder taktiler Information versorgt. Ob sich eine Person nun als Teil dieser virtuellen Welt wahrnimmt und tatsächlich ein Gefühl der Immersion zustande kommt, hängt sehr stark von den oben genannten technischen Voraussetzungen des jeweiligen VR-Systems ab und kann psychologisch über verschiedene Konstrukte erfasst werden. Definition | Während mit Immersion das vollständige Eintauchen einer Person in eine virtuelle Welt gemeint ist, bezeichnet Presence die innere Erfahrung einer Illusion, sich selbst in der jeweiligen virtuellen Welt zu befinden, obwohl dies physisch nicht der Fall ist (Slater, 2009; Witmer & Singer, 1998). Zwei besonders für Erfahrungen in interaktiven, virtuellen Umgebungen relevante Variablen sind der Sense of Agency und Body Ownership (Gallagher, 2000; Kilteni et al., 2012): Für eine gelungene Bewegungserfahrung in VR ist es wichtig, dass die Person den mittels einer Simulation in VR dargestellten virtuellen Körper als ihren eigenen wahrnimmt, und die Bewegungen jenes virtuellen Körpers gezielt kontrollieren kann. Diese Variablen werden meist über die subjektiven Einschätzungen anhand von Fragebögen erfasst und zur Kontrolle wichtiger psychologischer Voraussetzungen für den jeweiligen Forschungszweck weiter genutzt. Eine umfassende Diskussion der Voraussetzungen eines für den Sport funktionalen VR-Systems sowie eine Taxonomie zur Gültigkeit und (physischen, psychologischen, affektiven und biomechanischen) Genauigkeit von VR-Systemen findet sich bei Harris et al. (2020a). 10.1 Interaktive Virtuelle Realität 187 <?page no="188"?> 10.2 Virtuelle Realität, Sport und Bewegungslernen Im Folgenden gehen wir der Frage nach, ob es möglich ist, VR einzusetzen, um eine Bewegung zu verbessern und zu erlernen, ob Training in VR genauso effektiv wie Training in der Realität ist und welche neuen Möglichkeiten VR für Bewegungslernen bietet. 10.2.1 VR im Sport Trotz ihrer vergleichsweisen kurzen Historie im Sport hält VR mehr und mehr Einzug in die Sportwissenschaft. Das Eintauchen in virtuelle (Sport-)Welten erlaubt den Einzelnen, an virtuellem Sport als stellvertretende Erfahrung teilzunehmen. Im Allgemeinen kann VR zwei Ziele verfolgen, nämlich die Nachbildung der Realität sowie die Erweiterung der Realität: Zum einen kann VR eine sportliche Realität simulieren, zum anderen kann diese aber auch über eine Kopie unserer Realität hinausgehen und für uns neue, bisher nicht gekannte virtuelle Realitäten erzeugen (Slater & Sanchez-Vives, 2016). In Virtueller (Sport-)Realität können entsprechend einzelne Sportarten und deren Trainings- und Wettkampfumgebungen nachgebildet werden (z. B. van Biemen et al., 2023; Gray, 2017; Harris et al 2021; Janssen et al., 2023; Soltani et al., 2023), und darüber hinaus auch neue, über Realitätsnachbildungen hinausgehende Umgebungen bis hin zu intelligenten Assistenzsystemen erschaffen werden (z. B. Hoffmann et al, 2013; Hülsmann, Frank, Senna et al., 2019; Rauter et al., 2019). Beispiel | Vision eines zukünftigen Handballtrainings mittels eines Assistenzsys‐ tems Stellen Sie sich etwa vor, Sie nutzen VR zukünftig als ergänzendes Trainingsmittel. Sie betreten als Handballspielerin eine virtuelle Sporthalle, in der Sie sich frei bewe‐ gen können. Sie können sich selbst in dieser Umgebung mit virtuellem Handballtor während eines Wurftrainings nicht nur in einem virtuellen Spiegel sehen, sondern können auch schon während des Werfens sehen, wie ihre Wurftechnik von einem gekonnten Wurf oder die Flugbahn des Balles vom angezielten Optimum abweicht. Weiterhin können Sie von einer virtuellen Trainerin erfahren, welcher Hauptfehler nun im Weiteren mit welcher auf Sie zugeschnittenen Übung adressiert werden soll, um ein bestimmtes Zwischenziel zu erreichen. Bestandteile interaktiver VR-Systeme, die speziell für den sportlichen Kontext entwickelt worden sind, sind neben der sich bewegenden Person oftmals weitere zur Trainings- oder Wettkampfumgebung gehörende Komponenten, wie einen virtuellen Spiegel (z. B. Hülsmann, Frank, Senna et al., 2019), eine virtuelle Lehrkraft (z. B. Chua et al., 2003; de Kok et al., 2017), eine virtuelle gegnerische Partei (z. B. Parton & Neumann, 188 10 Virtuelle Realität: Die Zukunft des individualisierten Lehrens und Lernens von Bewegung? <?page no="189"?> 2019; Wellner, Sigrist, & Riener, 2010; Witte et al., 2023) oder ein virtuelles Publikum (z.-B. Stinson & Bowman, 2014; Wellner, Sigrist, Zitzewitz et al., 2010). Die aktuelle Vielfalt der Forschung zum Einsatz von VR (siehe Tabelle 10-1 für verschiedene Übersichtsarbeiten) zeugt von der immer größer werdenden Bedeutung, die VR in der Sportwissenschaft erlangt, und der Faszination, mit der eine simulierte, virtuelle (Sport-)Realität einhergeht. Thematischer Fokus Autoren ( Jahr) VR im Sport Neumann et al. (2018) Gültigkeit und Genauigkeit von VR Harris et al. (2020a) Stärken, Schwächen, Chancen, Risiken Dücking et al. (2018) VR und Ballsportarten Miles et al. (2012) VR und geschlossene Fertigkeiten Frank & Schack (2022) VR und Transfer in den Sport Gray (2017, 2019) VR und psychologische Trainingsformen Frank (2020) VR in der sportpsychologischen Anwendung Bird (2019) Tab. 10-1 | Empfehlungen zu weiterführender Literatur 10.2.2 VR und Bewegungslernen Im Rahmen seiner vielfältigen Einsatzmöglichen bietet VR gerade für das Erlernen motorischer Fertigkeiten eine Vielzahl innovativer Unterstützungsmöglichkeiten: Stel‐ len Sie sich vor, Sie können die richtige Technik einer Kniebeuge erlernen, indem Sie während Ihrer eigenen Bewegungsausführung durch eine VR-Brille in einem virtuellen Spiegel sowohl Ihre eigene Kniebeuge als auch die darauf projizierte, optimal ausgeführte Kniebeuge sehen. Im Gegensatz zu einem realen Spiegel, in dem Sie lediglich sich selbst aus nur einer Perspektive sehen würden, können Sie dies von verschiedenen Seiten betrachten, direkt Schlüsse über Abweichungen ziehen und Ihre Ausführung entsprechend anpassen (Hülsmann, Senna, Frank et al., 2019). Während Bewegungslernen unter realen Bedingungen seit langer Zeit Gegenstand der Forschung ist (für eine Übersicht, siehe Hodges & Williams, 2019; Magill & Anderson, 2017; Schmidt et al., 2019), steckt Forschung zu Bewegungslernen in VR noch in den Kinderschuhen (für eine Übersicht, siehe Frank & Schack, 2022): Sportwissenschaftliche Arbeiten erstrecken sich von neuen, virtuellen Formen des Bewegungslernens (z. B. Rückmeldung in VR: Todorov et al., 1997) über den Transfer des in VR Gelernten in die Sportrealität (z. B. Gray, 2017; Michalski et al., 2019; Tirp et al., 2015) bis hin zu Akzeptanzstudien (z. B. Gradl et al., 2016; Mascret et al., 2022; Witte et al., 2022). Lehren und Lernen in und mit VR ist unter anderem im Gesundheitssport 10.2 Virtuelle Realität, Sport und Bewegungslernen 189 <?page no="190"?> (Hülsmann, Frank, Senna et al., 2019), Golf (z. B. Harris et al., 2020b), Rudern (z. B. Sigrist et al., 2015), Tai-Chi (z. B. Chua et al., 2003) und Tanz (z. B. Chan et al., 2011) untersucht worden. Eine Forschungsfrage, die derzeit im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht, ist, ob Bewegungslernen in VR ebenso gut funktioniert wie unter realen Bedingun‐ gen (Drew et al., 2020; Harris et al., 2020b; Pastel et al., 2023; Witte et al., 2022). Studien in diesem Kontext sind meist so aufgebaut, dass Lernende entweder mit realen Sportgeräten in einer realen Umgebung oder in einer virtuellen Umgebung mit virtuellen Sportgeräten Bewegungen ausführen, um diese zu verbessern. Nach einer Übungsphase wird untersucht, ob die in VR und die real übenden Gruppen ein vergleichbares Fertigkeitsniveau erreicht haben. Ziel dabei ist es, zu zeigen, dass Bewegungen unter den gleichen, aber virtuellen Bedingungen ebenso gut erlernt werden können. Bisherige Studien hierzu kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen: Während beispielsweise Harris et al. (2020b) für den Golfputt zeigen konnten, dass virtuelles und reales Lernen zu vergleichbaren Verbesserungen führen, schnitt das Erlernen eines Dartwurfs in VR bei Drew et al. (2020) schlechter ab. So ist noch nicht abschließend geklärt, ob und unter welchen Bedingungen Lernen in VR schlechter, gleich gut oder besser ist als Lernen unter realen Bedingungen und inwiefern sich in VR erzielte Effekte auf das reale Sporttreiben übertragen lassen (Gray, 2017, 2019; Michalski et al., 2019). Des Weiteren bietet VR vielfältige Möglichkeiten, die über die reine Nachbildung der realen Welt hinausgehen und eine Erweiterung bisheriger Formen des Bewe‐ gungslernens darstellen. Im Rahmen von Bewegungslernen stellt sich entsprechend neben der Frage, ob Bewegungen in VR erlernt werden können, insbesondere die Frage, ob und wie das Lehren und Lernen von Bewegung mit Hilfe von VR sinnvoll ergänzt und erweitert werden kann. 10.2.3 Neue Zugänge zur Individualisierung von Bewegungslernen mit VR Interaktive VR-Systeme bergen großes Potenzial, Bewegungslernen in einer Art und Weise zu bereichern, das weit über unsere bisherigen realen Möglichkeiten hinausgeht. So hält VR eine Vielzahl an neuen Möglichkeiten bereit, das Lehren und Lernen von Bewegung zu individualisieren. VR-Systeme reichen heute von der Visualisierung wichtiger Bewegungsaspekte mittels einer virtuellen Lehrkraft über die visuelle Rück‐ meldung durch das Überlappen der eigenen Bewegung mit einer Expertenbewegung während der Bewegungsausführung bis hin zu der Möglichkeit, sich selbst in eine Expertenbewegung hineinzubegeben, um entlang dieser die eigene Bewegung auszu‐ führen (z. B. Anderson et al., 2013; Hoang et al., 2016; Hülsmann, Frank, Senna et al., 2019; Sigrist et al., 2015). Auch existieren bereits erste Ansätze dazu, wie VR- Systeme automatisiert adäquate Rückmeldung während des Lernprozesses auswählen und generieren können (z. B. Rauter et al., 2019). Um einen Einblick in Möglichkeiten 190 10 Virtuelle Realität: Die Zukunft des individualisierten Lehrens und Lernens von Bewegung? <?page no="191"?> und Herausforderungen verschiedener interaktiver VR-Lehr- und Lernsysteme zur Individualisierung und Automatisierung zu geben, werden in diesem Kapitel ausgewählte Beispiele skizziert, deren Wirksamkeit in Bezug auf (individualisiertes) Bewegungslernen dargestellt und spezifische Vor- und Nachteile abgewogen. Eines der ersten interaktiven VR-Systeme zu Übungszwecken wurde in der Sportart Tai-Chi entwickelt. Chua et al. (2003) haben u. a. untersucht, ob Rückmeldung während des Lernens durch die Überlagerung der virtuellen Lehrkraft und der virtuell, lernenden Person zu weniger Fehlern führt als Rückmeldung ohne diese Überlagerung, was nicht der Fall war. Eine mögliche Erklärung, warum das zusätzliche Einblenden einer gekonnten Bewegung während des Sich-Bewegens sich in dem Fall als nicht hilfreich herausstellte, kann die damals noch sehr hohe Latenz zwischen Ein- und Ausgabegerä‐ ten des von Chua et al. entwickelten VR-Systems sein. Wenn die zeitliche Verzögerung zwischen der eigenen, realen Ausführung (Eingabe) und der virtuell dargestellten Ausführung der eigenen Bewegung (Ausgabe) zu groß wird, wird diese nicht mehr als Echtzeit wahrgenommen (Waltemate et al., 2015). Dies kann dazu führen, dass man sich nicht mehr in VR eingebettet wahrnimmt und das Bewegungslernen entsprechend be‐ einträchtigt wird. Im Gegensatz dazu und mittels geringerer Latenz konnten Hülsmann, Frank, Senna et al. (2019) systematisch zeigen, dass Rückmeldung anhand gleichzeitiger Überlagerung der eigenen mit einer gekonnten Bewegung während der Bewegungs‐ ausführung in der Tat vorteilhaft für das Erlernen einer komplexen Bewegung sein kann. Unerfahrene übten die Kniebeuge, während sie sich die eigene Bewegung zusammen mit einer gekonnten Bewegung in einem virtuellen Spiegel entweder von vorne oder von der Seite beobachten konnten. Diejenigen, die ihre eigene Kniebeuge zusammen mit einer optimalen Kniebeuge aus der Vorderansicht beobachteten, passten sich in der Höhe der Kniebeuge an, während diejenigen, die beides aus der Seitenansicht beobachteten, ihren Körperschwerpunkt in der Abwärtsbewegung entsprechend der optimalen Kniebeuge weiter nach hinten bewegten. Dies zeigt, dass Personen ohne Vorkenntnisse abhängig von der Perspektive davon profitieren, die eigene Bewegung gemeinsam mit einer gekonnten Bewegung während der Bewegungsausführung in einem virtuellen Spiegel zu beobachten. Während die hier dargestellten Systeme einen Vergleich der eigenen mit einer gekonnten Bewegung erlauben, werden der lernenden Person keine spezifischen Hinweise darüber gegeben, welche Fehler in der Bewegungsausführung auftreten, um so ein besseres Verständnis über die eigene Bewegungsausführung zu entwickeln. Eine derartige Rückmeldung von Fehlern in VR wurde von Sigrist et al. (2015) im Rahmen eines VR-basierten Rudersimulators entwickelt. Sie haben den Einfluss von uni- und multimodalen Rückmeldungen systematisch überprüft. Den Lernenden wurden Informationen zum Verlauf des Ruderblattes und zu Abweichungen der eigenen von der gekonnten Bewegung rückgemeldet. Je nach Grad der Abweichung der eigenen von der gekonnten Bewegung veränderte sich die Farbe der Visualisierung oder die Vertonung der Bewegung, was zum Verständnis von Fehlern in der eigenen Bewe‐ gungsausführung beitragen sollte. In dieser Studie verbesserten sich die Lernenden 10.2 Virtuelle Realität, Sport und Bewegungslernen 191 <?page no="192"?> in zeitlichen und räumlichen Fehlerraten unabhängig von der Bedingung. So zeigt diese Untersuchung, dass unimodales wie auch multimodales Feedback in VR zu einer Leistungsverbesserung führen kann. Individualisierung in VR kann auch über die Personalisierung von Avataren erfolgen. So kann mittels eines 3D-Scans ein virtueller Avatar erzeugt werden, der die eigene Person repräsentiert. Frank et al. (2023) haben das Scannen für neue, individuali‐ sierte Formen des Beobachtungslernens in VR eingesetzt. In dieser Studie beobachteten Anfänger*innen einen virtuellen Avatar der eigenen Person, der entweder eine von der Person selbst ausgeführte, fehlerhafte Kniebeuge oder eine gekonnte Kniebeuge vormachte. Durch die gezielte Veränderung des Leistungsniveaus des eigenen Avatars konnte überprüft werden, ob das Beobachten der eigenen Person auf einem höheren Leistungsniveau zu besseren Leistungen führt als das Beobachten der eigenen Person auf dem aktuellen, niedrigen Leistungsniveau. Während die Selbstwirksamkeit in beiden Gruppen anstiegt, führte das Beobachten der eigenen Kniebeuge zu Fehlern in der Ausführung, während dies beim Beobachten einer gekonnten Kniebeuge nicht der Fall war. Diese erste Studie zeigt die Möglichkeit auf, den Lernprozess mittels eines Avatars der eigenen Person zu individualisieren und dadurch neue Formen des Beobachtungslernens zu entwickeln. Die hier ausgewählten Beispiele zeigen, dass es heutzutage möglich ist, virtuelle Umgebungen zu entwickeln, die das Lehren und Lernen von Bewegung sinnvoll unterstützen. Diese reichen von vergleichsweise einfachen, direkten Interaktionen der Lernenden mit einem von allen Seiten beobachtbaren virtuellen Spiegelbild bis hin zu komplexeren, und sogar teilweise automatisierten Rückmeldungen zu individuellen Bewegungsfehlern. Vor diesem Hintergrund wird eine zukünftige Herausforderung darin bestehen, die Vielzahl an Möglichkeiten zu systematisieren und ihren jeweiligen Einfluss auf das Bewegungslernen gezielt zu untersuchen, um ganz spezifische Aussa‐ gen dazu treffen zu können, wann welche Art von VR-gestütztem Bewegungslernen eine wirksame Ergänzung im Übungsprozess darstellt. 10.3 Bewegungslernen in VR: Von der Forschung zur Anwendung Dem folgenden Kapitel liegen die beiden Fragen zu Grunde, wie eine Zusammenarbeit in einem interdisziplinären Team dazu beitragen kann, um Forschung und Anwen‐ dung zum Lehren und Lernen von Bewegung in VR voranzutreiben und wie der sportwissenschaftliche Nachwuchs bereits an solche zukünftigen, interdisziplinären Herausforderungen herangeführt werden kann. 10.3.1 VR in der Forschung: Eine interdisziplinäre Aufgabe Forschung zu Virtueller (Sport-)Realität umzusetzen, ist immer mit interdisziplinären Problem- und Fragestellungen verbunden und erfordert daher eine Zusammenarbeit 192 10 Virtuelle Realität: Die Zukunft des individualisierten Lehrens und Lernens von Bewegung? <?page no="193"?> von Forschenden unterschiedlicher Disziplinen. Um Forschung zu Lehren und Lernen von Bewegung in VR realisieren und ein entsprechendes System entwickeln zu können, bedarf es der technischen Umsetzung einer Systemarchitektur, die von der Informationsaufnahme über Bewegungssensoren bis zur Informationsausgabe über Displays und Lautsprecher reicht. Je nach Sportart und Lernziel kann der Lernprozess anhand unterschiedlicher Komponenten wie virtueller Sportgeräte und -umgebungen, einem virtuellen Spiegel oder einer virtuellen Lehrkraft multimodal unterstützt wer‐ den. Je komplexer die Systemarchitektur, desto mehr Kenntnisse aus der Informatik sind notwendig. Mathematik und Computergraphik können zum Beispiel Lösungen entwickeln, möglichst geringe Latenz zu erzielen oder möglichst realistische Avatare zu generieren. Die (Computer-)Linguistik kann dazu beitragen, sprachliche Interaktion zu erlauben und diese möglichst natürlich auszugestalten. Die Psychologie widmet sich beispielsweise Fragen der Wahrnehmung wie der Substitution von Sinneseindrücken oder der Immersion. Neben der Realisation einer möglichst realistischen Mensch-Maschine-Interaktion ist die Integration sportwissenschaftlicher Erkenntnisse in die Systemarchitektur wichtig, um das Bewegungslernen und den Übungsprozess für die lernende Person inhaltlich adäquat auszugestalten. Erst durch das Nutzen und die Integration von Wis‐ sen zu bewegungs- und trainingswissenschaftlichen sowie kognitionspsychologischer Prinzipien unter anderem aus den Bereichen Instruktion und Rückmeldung kann die Interaktion zwischen der lernenden Person und dem System auf die individuellen Voraussetzungen der Person zugeschnitten und motivierend gestaltet werden. Exkurs | Beispiel eines intelligente Lernraums Ein Beispiel für eine intelligente Lehr- und Lernumgebung ist der Intelligent Coa‐ ching Space (ICSPACE; Abbildung 10-1). In diesem von der DFG im Rahmen des Exzellenzclusters Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC) an der Universität Bielefeld geförderten Großprojekt arbeiteten sechs Forschungsgruppen aus un‐ terschiedlichen Fachrichtungen zusammen (u. a. Informatik, Linguistik, Psycho‐ logie, Biologie, Sportwissenschaft), um ein Assistenzsystem mit dem Ziel zu ent‐ wickeln, Lernende in einer virtuellen Umgebung (Cave Automated Virtual Environment; CAVE) beim Einüben von Bewegungen adäquat und individualisiert zu unterstützen (https: / / www.youtube.com/ watch? v=WDZ4Zgv_wzQ). Neben der vergleichsweise komplexen Umsetzung in einer CAVE ist Bewegungslernen in und mit VR auch mittels eines Head-Mounted Displays (HMDs) möglich (siehe Kapitel 10.1.2). Aus sportwissenschaftlicher Sicht kann diese mobile Variante besonders interessant sein, da HMDs direkt im Feld und in verschiedenen bewegungs- und trainingswissenschaftlichen wie auch sportpsychologischen Kontexten wie bspw. im Leistungssport, in der Rehabilitation nach Verletzung oder im Schulsport Anwendung finden können. 10.3 Bewegungslernen in VR: Von der Forschung zur Anwendung 193 <?page no="194"?> 10.3.2 VR in der Lehre: Virtuelle (Sport-)Realität kennen und anwenden lernen Was kann universitäre Lehre leisten, um VR zukünftig vermehrt in Forschung und Anwendung zu tragen? Gerade im Zeitalter der Digitalisierung ist es wichtig, die Freude und Faszination an Interdisziplinarität frühzeitig zu vermitteln und das Fach Sportwissenschaft entlang aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen wie der Digitalisierung zu studieren. Um den Blick des sportwissenschaftlichen Nachwuchses auf technologische Entwicklungen und ihren Einsatz in Training und Unterricht im Kontext von Leistungs-, Schul- oder Gesundheitssport frühzeitig zu schärfen, bedarf es daher innovativer (Lehr-)Konzepte. Ob und wie Studierende der Sportwissenschaft dazu befähigt werden können, VR für Bewegungslernen zu realisieren und kritisch zu beleuchten, wurde im Rahmen eines vom Niedersächsischen Ministerium für Wissen‐ schaft und Kultur im Rahmen der Ausschreibung „Innovative Lehr- und Lernkonzepte: Innovation plus“ geförderten Lehrprojektes an der Universität Osnabrück erprobt. Ziel des Projektes „Bewegung lehren und lernen in und mit VR“ war es, dass Studie‐ rende der Sportwissenschaft einen reflektierten Umgang mit neuen Technologien beim Lehren und Lernen von Bewegung am Beispiel von VR erlernen. Entsprechend konnten die Studierenden im Rahmen eines neu konzipierten, bewegungswissenschaftlichen Seminars VR am eigenen Leib erfahren und seinen Einsatz unter den heterogenen Bedingungen des (Schul-)Sports reflektieren: Ausgehend von einem gemeinsam erar‐ beiteten Forschungsstand im Bereich virtueller (Bewegungs-)Lehr- und Lernsysteme, erhielten die Studierenden Einblicke in das Aufzeichnen und Analysieren von Bewe‐ gung sowie in das Visualisieren dieser Bewegung in VR als zielführendes Mittel für Lern- und Trainingsprozesse. Um den Studierenden einen handhabbaren Einstieg in den Umgang mit VR als Grundlage für die anschließende Reflexion zu ermöglichen, wurden verschiedene Module zur Bewegungsanalyse, zur Entwicklungsumgebung, zur VR-Brille und deren Integration erarbeitet und in Form von Hands On Einheiten gemeinsam mit Studierenden direkt am Computer/ im Bewegungslabor durchgeführt (siehe Exkurs). Entlang dieser Module wurden von den Studierenden verschiedene VR- Lernszenarien entwickelt. Auf dieser Grundlage erfolgte abschließend eine kritische Reflexion individualisierter Formen des Lehrens und Lernens von Bewegung in und mit VR als eine Antwort auf unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen im (Schul-)Sport wie Leistungsstände oder Verbesserungspotenziale anhand von Chancen und Grenzen. Exkurs | Materialien zur Ausgestaltung von Lehre zum Thema Bewegungen lehren und lernen in und mit VR Um Studierenden einen Einstieg in Bewegungslernen in Virtueller Realität zu ermög‐ lichen, wurde im Rahmen des Innovation-plus-Projektes „Bewegungen lehren und lernen in und mit VR“ verschiedene Lern-Module zur Entwicklungsumgebung, zur VR-Brille und deren Integration sowie zur Bewegungsanalyse erarbeitet. Diese und weitere Materialien stehen online auf dem niedersächsischen Portal für Open Educational Resources (OER) in der Hochschullehre twillo zur Verwen‐ 194 10 Virtuelle Realität: Die Zukunft des individualisierten Lehrens und Lernens von Bewegung? <?page no="195"?> dung in der Lehre und zur entsprechenden Weiterentwicklung zur Verfügung (Schütz & Frank, 2023): https: / / www.twillo.de/ edu-sharing/ components/ collectio ns? id=514205da-e514-41e5-9e2d-262335f841c1. 10.4 Virtuelle (Sport)Realität - Ein vorläufiges Fazit Virtuelle Realität bereitet den Weg für eine große Vielfalt an neuen Möglichkeiten für den Sport im Allgemeinen und für Bewegungslernen im Speziellen. Aber wie sinnvoll ist es, VR im Rahmen von Bewegungslernen zu nutzen? Wie weit kann und soll der Einsatz von VR beim Lehren und Lernen von Bewegung gehen? Aufbauend auf eine Eingrenzung, was interaktive VR im Sport meint, wurden in diesem Kapitel ausgewählte VR-Systeme zum Lehren und Lernen von Bewegung im Sport vorgestellt, deren Möglichkeiten und Grenzen auf Grundlage empirischer Befunde diskutiert und Einblicke in neue Möglich‐ keiten der Individualisierung gegeben. Interaktive VR im Sport nutzbar zu machen und zielführend einzusetzen ist bis heute eine hoch komplexe, interdisziplinäre Aufgabe, deren Gelingen nicht zuletzt von der Einbindung sportwissenschaftlicher, bewegungs- und trainingswissenschaftlicher, aber auch sportpsychologischer Erkenntnisse durch kompetente, neugierige und kreative Köpfe abhängt. Die Zukunft wird zeigen, ob es VR-Systeme geben wird, die vergleichsweise einfach im Feld einsetzbar, flexibel in der Nutzung und umfassend in der Unterstützung der Lernenden sein werden. Obwohl VR eine Vielzahl an Vorteilen für das Bewegungsler‐ nen bereithält, gilt es diese gegenüber den aktuell noch bestehenden offensichtlichen Nachteilen abzuwägen. Eine besondere Faszination geht von den vielfältigen Möglich‐ keiten der Individualisierung, der präzisen und vielfältigen Rückmeldung sowie der potenziellen Motivation von Inaktiven zur Bewegung und zum Sport durch VR aus. Demgegenüber ist die Umsetzung von VR weiterhin kostspielig und komplex, und bedarf einer intensiven Einarbeitung v. a. in technische Komponenten, bevor ein gezielter Einsatz überhaupt erst möglich wird (siehe Tabelle 10-2). Pro VR Contra VR ■ individualisiertes Bewegungslernen ■ neue Formen von Instruktion und Feed‐ back ■ präzise Rückmeldung nahezu in Echt‐ zeit ■ Motivation zu Bewegung durch Technik ■ Gestaltung von Pausen als Bewegungs‐ zeit ■ Entlastung der Lehrkraft bei Durchfüh‐ rung ■ Platz- und Zeitersparnis bei Durchfüh‐ rung ■ bisher noch wenige systematische Unter‐ suchungen ■ Komplexität der Implementierung ■ eingeschränkte Bewegungsfreiheit ■ hohe Anschaffungskosten ■ bisher noch keine etablierten Organisati‐ onsformen ■ Beanspruchung der Lehrkraft bei Pla‐ nung ■ hoher Zeitaufwand zur Einarbeitung Tab. 10-2 | Argumente für und gegen den Einsatz von VR beim Bewegungslernen 10.4 Virtuelle (Sport)Realität - Ein vorläufiges Fazit 195 <?page no="196"?> Eine spannende Zukunft liegt vor uns, in der es gilt, Möglichkeiten und Grenzen des Lehrens und Lernens von Bewegung in und mit VR auszuloten, die derzeit noch bestehenden offenen Fragen und Nachteile zu adressieren und sich der Frage anzunähern, ob zukünftig die Vorteile dieser innovativen Formen des Bewegungsler‐ nens überwiegen werden. Sicher ist, dass VR eine nahezu unendliche Vielfalt an neuen Möglichkeiten bietet, die es jetzt gilt, für den Sport zu erkunden und in einer sinnvollen Art und Weise zu integrieren: „As this technology becomes more accessible, it is hoped that practitioners will be motivated to adopt VR HMDs within their practice and devise creative solutions for its implementation. After all, the applications are only limited by one’s imagination.” (Bird, 2019, p.-126) Literatur Anderson, F., Grossman, T., Matejka, J., & Fitzmaurice, G. (2013). YouMove: Enhancing mo‐ vement training with an augmented reality mirror. Proceedings of the 26th Annual ACM Symposium on User Interface Software and Technology, 311-320. van Biemen, T., Müller, D., & Mann, D. (2023). Virtual reality as a representative training environment for football referees. Human Movement Science, 89, 103091. Bird, J. (2020). The use of virtual reality head-mounted displays within applied sport psychology. 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Allerdings werden digitale Anwendungen auch immer häufiger in der Rehabilitation oder für gezielte Leistungssteigerungen genutzt. Insbesondere die sogenannten Exer‐ games gewinnen hierbei an Bedeutung. Dieses Kapitel fasst die interdisziplinären, wissenschaftlichen Grundlagen sowie die neuesten Erkenntnisse im Bereich des Exergaming zusammen und legt einen besonderen Schwerpunkt auf dessen Potenzial in psychologisch orientierten Bereichen. Dabei wird zunächst auf die Definition, die Spielgestaltung und das Spielerleben und anschließend auf verschiedene Forschungsfelder eingegangen. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1305. Lernziele Nach Studium des vorliegenden Kapitels sollen die Leser*innen ■ verstehen, was Exergaming ist und die Kernelemente nennen können, ■ die Möglichkeiten in der Spielgestaltung und die Auswirkungen guter Gestal‐ tung auf das Spielerleben kennen, ■ wissen, welche psychologischen Outcomes beim/ nach dem Spielen von Exer‐ games erwartet werden können, ■ die physiologischen Vorteile, die aus Exergaming hervorgehen kennen, ■ die Relevanz von Exergaming und das Potenzial inklusive Chancen und Gefahren einordnen können. 11.1 Einführung Etymologisch betrachtet ist der Ausdruck Exergaming ein Neologismus aus den Begriffen exercising und gaming. Damit ist eine Interaktion von digitalen Spielen <?page no="202"?> 1 Jede Bewegung der Skelettmuskulatur, die zu einer erheblichen Erhöhung des Ruhenergieaufwandes führt. (Caspersen et al., 1985) und Training gemeint. Da die Definitionen für Exergaming in der wissenschaftlichen Literatur jedoch variieren (Benzing & Schmidt, 2018), wird dieser Oberbegriff im Folgenden genauer differenziert und die inhärenten Kernelemente beschrieben. Definition | Exergaming lässt sich definieren als digitale Spiele, welche körperliche Bewegungen zum Spielen benötigen und somit eine aktive Spielerfahrung in Form von körperlicher Aktivität stimulieren. (Benzing & Schmidt, 2019) Um Exergaming von anderen sportlichen Spielen abzugrenzen, ist dessen digitale Basis unerlässlich. Dabei muss das Spiel nicht zwingend ein Videospiel sein, sondern es werden auch Spiele, die mittels auditiver oder taktiler Signale funktionieren, unter Exergames subsumiert (Müller et al., 2010, 2016). Darüber hinaus wird die körperliche Bewegung, mit der das Spiel gesteuert wird, als notwendige Voraussetzung für ein Exergame gesehen. So werden Exergames, welche grobmotorische Bewegungen beinhalten, von anderen digitalen Spielen mit vorwiegend feinmotorischen Körperbe‐ wegungen differenziert. Zusätzlich sollte die körperliche Bewegung ausschlaggebend für den Spielerfolg sein (Müller et al., 2016; Sinclair et al., 2007). Ob ein Exergame allerdings notwendigerweise mit der Förderung spezifischer Bereiche wie den moto‐ rischen Fähigkeiten assoziiert sein muss, wird momentan noch diskutiert und in Frage gestellt. Daher kann Exergaming je nach Ausgestaltung unter die Definition der körperlichen Aktivität 1 oder des körperlichen Trainings fallen (Müller et al., 2016). Exergaming beinhaltet die folgenden Kernelemente (Müller et al., 2016): 1. digitale Basis des Spiels 2. erforderte körperliche Aktivität 3. körperliche Aktivität bestimmt Spielerfolg Virtual-Reality-Spiele stehen in engem Zusammenhang mit Exergames. Allerdings heben sich Exergames von VR-Spielen damit ab, dass die körperliche Anstrengung ein Kernelement darstellt, wobei bei VR-Spielen vor allem die virtuelle Welt im Vordergrund steht (siehe Kapitel 10). Damit ist der Anwendungsbereich von VR- Technologie diverser, worunter Exergaming dementsprechend als spezifischer Fall subsumiert werden kann. Es fällt schnell auf, dass eine Vielzahl an unterschiedlichen Exergames unter die oben genannte Definition fällt. Dieser Umstand legt nahe, dass eine Klassifizierung von Exergames sinnvoll ist (Müller et al., 2016). Beispielsweise unterscheiden sich Spiele stark darin, ob sie auf den Spaß am Spiel oder eher auf spezifische Trainingsziele wie die Förderung von motorischen Fähigkeiten abzielen. Weitere Aspekte beinhalten die soziale Form, in der Exergames gespielt werden, und wie koordinativ und kognitiv 202 11 Exergames <?page no="203"?> fordernd diese ausgestaltet sind. Auch variieren Spiele darin, wie anstrengend bzw. intensiv diese sind und in welcher zeitlichen Dauer und Frequenz gespielt wird. Die Abbildung 11-1 enthält zusammenfassend eine Übersicht über wichtige Unterschei‐ dungsmerkmale von Exergames, welche jedoch nicht als abschließend betrachtet werden sollte. Abb. 11-1 | Variierende Dimensionen von Exergames 11.2 Exergames: Spielgestaltung und Spielerleben Ein Hauptaugenmerk wird bei Exergames auf die Spielgestaltung und das daraus resultierende Spielerleben gelegt. Dabei finden wissenschaftliche Fragestellungen und Erkenntnisse häufig Berücksichtigung. Denn eine gut durchdachte Spielgestaltung kann positive Emotionen, Flow-Zustände, tiefe Immersion und Motivation im Spiel 11.2 Exergames: Spielgestaltung und Spielerleben 203 <?page no="204"?> fördern. Da die Spielgestaltung bei Exergames auch jeweils eine Form der körperlichen Aktivität beinhaltet, ist diese ebenfalls aus sportwissenschaftlicher und sportpsycho‐ logischer Perspektive relevant. 11.2.1 Gamification von Bewegung vs. Exergames Gamification beschreibt die Integration und Nutzung von spielerischen Elementen und Belohnungssystemen in nicht spielbezogene Aktivitäten (Deterding et al., 2011). In Bezug auf Bewegung nutzen beispielsweise Fitness-Apps Gamification, indem sie bspw. Bewegung tracken und für das Erreichen von Bewegungszielen Punkte vergeben. Das Ziel dieser Elemente ist es, Menschen durch Belohnungen und Anreize wie Punkte oder Bestenlisten (vornehmlich extrinsisch) zur Bewegung zu motivieren. Im Gegensatz dazu sind Exergames spezielle Spiele, bei denen die physische Akti‐ vität integraler Bestandteil der Spielmechanik und des Gameplays ist (Oh & Yang, 2010). Neben den oben beschriebenen Gamificationelementen zielen Exergames daher häufig darauf ab, die intrinsische Motivation zu fördern, indem sie Bewegung in ein unterhaltsames Spielerlebnis verwandeln. 11.2.2 Spielgestaltung und Exergame-Design Während Gamification die Nutzung von Gamedesign-Elementen außerhalb des Ga‐ ming-Kontexts beschreibt, ist das klassische Gamedesign weitaus komplexer (Schell, 2008). Es umfasst die Entwicklung und Ausgestaltung des audio-visuellen und nar‐ rativen Designs der Spielwelt, der Levels, der Ziele und Herausforderungen sowie der Spielmechanik und, im Falle von Exergames, der bewegungsbasierten Interakti‐ onskonzepte über die spielenden Personen mit dem Spiel und der Spieltechnologie interagieren. Folgend werden einige dieser Schlüsselaspekte wie die Spielmechanik, Ziele und Herausforderungen sowie die Spielwelt im Kontext von Exergames und deren Bedeutung für die Gestaltung erläutert: ■ Die Spielmechanik - das Grundgerüst eines Spiels (Schell, 2008) - umfasst die Regeln und Interaktionen, die das Spiel ausmachen. Im Exergame-Design müssen Spielmechaniken so gestaltet werden, dass sie körperliche Aktivität fördern und gleichzeitig unterhaltsam sind. Dies kann durch die Integration von Bewegungs‐ steuerung, Gesten oder Fitnessübungen erreicht werden. Die Spielmechaniken sollten leicht erlernbar sein, um Spielende unterschiedlicher Fitnesslevel anzuspre‐ chen. ■ Ziele und Herausforderungen sind dabei entscheidend, um die spielenden Personen zu motivieren, sich körperlich zu betätigen. Die Ziele sollten klar definiert und erreichbar sein, um ein Gefühl der Erfüllung und des Fortschritts zu vermitteln. Ein audiovisuelles Feedbacksystem sollte dabei stets Aufschluss über die Spielleistung sowie den Fortschritt geben und mit Belohnungssystemen (z.-B. Punkten, In-Game-Währung, virtuellen Gegenständen oder Fortschritten in 204 11 Exergames <?page no="205"?> der Spielgeschichte) motivierende Anreize schaffen. Herausforderungen sollten angemessen sein, um die spielende Person zu motivieren, sich anzustrengen, ohne zu überfordern. Dafür bieten sich im Kontext von Exergames adaptive Spielmechaniken an, die sich in Abhängigkeit zur jeweiligen Spielleistung an die Fähigkeiten der spielenden Personen anpassen. ■ Die Spielwelt in Exergames - das Erscheinungsbild eines Spiels (Schell, 2008) - ist der virtuelle Raum, in dem sich die spielende Person bewegt und interagiert. Sie sollte visuell, auditiv und narrativ so gestaltet sein, dass sie die körperliche Aktivität unterstützt und motiviert. Zudem wird die virtuelle Spielwelt bei Exer‐ games häufig von einer physischen Spielwelt im physischen Raum ergänzt. Dort interagiert die spielende Person wiederum aktiv mit einer Controller-Technologie. Zusätzlich können narrative Elemente, wie Geschichten und Charaktere, das Spielerlebnis bereichern und die spielende Person emotional binden. Eine Besonderheit beim Design von Exergames ist der gestalterische Anspruch auf drei Ebenen und die sinnvolle Verbindung dieser (Martin-Niedecken, 2021): 1. die Ausgestaltung des virtuellen Spieldesigns und der Interaktion mit diesem über körperliche Aktivität 2. der ein Trainingskonzept zugrunde liegt 3. die Einbindung und Gestaltung der Technologie, die als Eingabegerät bzw. Con‐ troller funktioniert. Diese Ebenen sollten berücksichtigt werden, wobei die Exergames jeweils basierend auf den Zielsetzungen der Zielgruppe ausgestaltet werden sollten. 11.2.3 Spielerleben in Exergames Dieses Kapitel fasst verschiedene Konstrukte und Zustände zusammen, die von der spielenden Person während des Spielens empfunden werden können und die über verschiedene gestalterische Elemente beeinflusst werden. Die Konzepte des Flow, des Game Flow und des Dual Flow sowie der motivationalen Affordanz und Immersion werden im Folgenden kurz vorgestellt. Das Flow-Konzept (Csikszentmihalyi, 1988) beschreibt einen mentalen Zustand tiefer Konzentration und optimaler Leistungsfähigkeit, der während einer Aktivität auftreten kann, wenn die Fähigkeiten der Person zur Bewältigung der Aufgabe mit den Anforderungen im Gleichgewicht sind. Dies kann zu einer Art Hyperfokus und einem optimalen Erlebnis für die ausführende Person führen. Das Game-Flow-Modell (Sweetser & Wyeth, 2005) ist eine Anpassung des Flow- Konzepts, dass speziell auf Videospiele zugeschnitten ist. Es bezieht sich auf den Zustand des Flows, der durch das Spielen von Videospielen erreicht werden kann. Das Modell betont, dass Spielelemente wie klare Ziele, unmittelbares Feedback, Her‐ ausforderungen und Fähigkeiten sowie eine angemessene Steuerung, die in einem 11.2 Exergames: Spielgestaltung und Spielerleben 205 <?page no="206"?> ausgewogenen Verhältnis stehen, wesentlich sind, um den Game-Flow-Zustand beim Spielen zu erreichen. Im Kontext von Exergames spricht man vom sogenannten Dual Flow (Sinclair et al., 2007), der dann erreicht werden kann, wenn beim Exergaming Bewegungskonzept und Gameplay perfekt auf den momentanen physischen und emotionalen Zustand abgestimmt sind. Definition | Der Dual Flow wird als ein Zustand optimalen Trainings und Wohlbefindens beschrieben, bei dem spielende Personen beim Exergaming weder physiologisch überfordert noch unterfordert sind (Effektivität), und sich im Gleich‐ gewicht zwischen psychischem Stress und Langeweile fühlen (Attraktivität). Dual Flow kann beispielsweise durch die Implementierung von Dynamic Game Balan‐ cing (DGB) erreicht werden (Altimira et al., 2016; Müller et al., 2012) und erhöht laut Hardy et al., (2015) die Motivation der spielenden Person. Das Konzept der motivationalen Affordanz (Zhang, 2008) beschreibt die wahr‐ genommenen Handlungsmöglichkeiten und knüpft an die Selbstbestimmungstheorie an, welche die grundlegenden Bedürfnisse - Autonomie, Kompetenz und soziale Ein‐ gebundenheit - beschreibt (Ryan & Deci, 2000). Dabei wird davon ausgegangen, dass Menschen nach Aktivitäten suchen, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. Übersetzt in motivationale Affordanzen bedeutet dies, dass Motivation dann gegeben ist, wenn die Beziehung zwischen den Merkmalen eines Objekts und den Fähigkeiten eines Individuums es diesem ermöglicht, durch Interaktion mit dem Objekt die Befriedigung der Bedürfnisse zu erfahren (Deterding et al., 2011). So bietet zum Beispiel ein Exergame in Bezug auf die Fähigkeiten und die Fitness der spielenden Personen die Möglichkeit, sich als kompetent zu erleben, wenn sie mit dem Exergame interagieren. Die Forschung zeigt, dass das Gameplay auch von gleichzeitigen Auswirkungen voneinander abhängiger Faktoren beeinflusst wird: Zum Beispiel resultiert das Gefühl des Flows aus dem Erleben von Immersion und Involvierung (Weibel & Wissmath, 2012), das wiederum mit dem Gefühl der räumlichen Präsenz (Witmer & Singer, 1998) zusammenhängt. Immersion repräsentiert die geistigen Prozesse, bei denen die gesamte Aufmerk‐ samkeit von einem Gefühl umgeben ist, sich in einer völlig anderen Realität zu befinden (Murray, 2001). Das immersive und fesselnde Erlebnis während des Exergamings kann dazu beitragen, die Aufmerksamkeit der spielenden Person von einem intrinsischen Fokus auf den eigenen Körper auf einen externen und spielgerichteten Fokus zu lenken (Martin-Niedecken & Schättin, 2020). Diese Ablenkung von physiologischer Anstren‐ gung und deren Auswirkung während der Übung kann die Freude steigern (Warburton et al., 2007). Die Freude am Exergaming wird weiter insbesondere durch die drei Mechanismen Feedback, Herausforderung und Belohnungen gefördert (Lyons, 2015). Selbst hochintensives Intervalltraining in Form eines Exergames kann dadurch als 206 11 Exergames <?page no="207"?> physisch weniger anstrengend und angenehmer empfunden werden als traditionelles Training (Martin-Niedecken, 2021). 11.2.4 Schlussfolgerungen zur Spielgestaltung und Spielerleben Basierend auf dem aktuellen Wissens- und Forschungsstand, lassen sich einige Impli‐ kationen für das Design attraktiver und wirksamer Exergames ableiten: ■ Balance von Spaß und Anstrengung: Exergames müssen attraktiv und immer‐ siv gestaltet sein, um die Motivation und den Spaß der spielenden Personen aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig muss aber auch die Effektivität überzeugen. Daher ist die Balance zwischen dem „Game Part” und dem „Serious Part” (Caserman et al., 2020; Martin-Niedecken, 2021) entscheidend, um langfristige Teilnahme und positive Gesundheitseffekte zu erzielen. ■ Zielgruppenspezifische Anpassung: Unterschiedliche Zielgruppen haben un‐ terschiedliche Bedürfnisse, Motivationen und Präferenzen. Exergame-Design‐ teams sollten daher stets ihre Zielgruppe/ n von Beginn an in den iterativen Gestaltungsprozess einbeziehen, um sicherzustellen, dass die Resultate auf die spezifischen Eigenschaften, Interessen und Ziele der Zielgruppe/ n zugeschnitten sind (Martin-Niedecken & Götz, 2016). ■ Individualisierung und Anpassung: Exergames sollten so gestaltet sein, dass sie sich in Echtzeit und über eine längere Zeit hinweg auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der spielenden Personen anpassen können (Martin & Kluckner, 2014). ■ Ganzheitliche Gestaltung: Die Gestaltung von Exergames sollte sich im Sinne des ganzheitlichen Designs und basierend auf der Erkenntnis, dass verschiedene Teilkomponenten eines Exergames das Spielerleben maßgeblich beeinflussen können immer mit Software, Hardware und Trainingsbzw. Bewegungskonzept beschäftigen und diese in Abhängigkeit zueinander und aufeinander abgestimmt behandeln (Martin-Niedecken, 2021). Beim Design von Exergames sollten wissenschaftliche Erkenntnisse über die physio‐ logischen, kognitiven und psychologischen Effekte von körperlicher Aktivität und Spiel konkret in die Entwicklung einbezogen werden (Martin-Niedecken, 2021). Exkurs | ExerCube von Sphery Eine Exergame-Plattform, für welche sämtliche Exergames entlang der beschrie‐ benen Implikationen entwickelt wurden, ist der sogenannte ExerCube von Sphery (siehe Abbildung-11-2). 11.2 Exergames: Spielgestaltung und Spielerleben 207 <?page no="208"?> Abb. 11-2 | Der ExerCube und seine Applikationen Auf drei Wände, die einen offenen Würfel mit einer Grundfläche von circa 9 m 2 formen, werden unterschiedlichste Exergame-Szenarien projiziert, die - je nach Zielgruppe - mit unterschiedlichen motorisch-kognitiv herausfordernden Bewegungskonzepten für Training oder Therapie angesteuert werden und die spielende Person während der Exergame-Session komplett umgeben. Von einem funktionellen HIIT-Workout für den Fitnessbereich, über ein spezielles Sportre‐ habilitationsprogramm für die „Back to Sports-Phase“, Balance- und Gangtraining für die geriatrische Rehabilitation, bis hin zu speziellen motorisch-kognitiven Assessments - das Angebot ist vielseitig und bietet unterschiedlichen Zielgruppen 208 11 Exergames <?page no="209"?> maßgeschneiderte Lösungen für spezifische Trainingsziele. Dabei durchlaufen die Exergames von Sphery bis zu ihrer Veröffentlichung stets mehrere Iterations‐ schleifen, in denen sich zielgruppenspezifische Entwicklung und Beforschung abwechseln. Sowohl die Attraktivität, als auch die Effektivität der Spiele wurde in zahlreichen Studien bestätigt. Weitere Infos zu den Anwendungen und dem ExerCube können unter https: / / sph ery.ch abgerufen werden. 11.3 Sportwissenschaftliche Forschungsfelder zu Exergames Wie oben dargelegt, ist die momentane Forschung zu Exergames sehr heterogen. Es werden unterschiedliche Exergames mit verschiedenen Charakteristika und Foki entwickelt und eingesetzt (siehe Abbildung 11-1). Da Exergaming darüber hinaus als Möglichkeit angeführt wird, spezifische Populationen zu erreichen, die sonst schwierig zu erreichen sind (Gao et al., 2017), beinhalten die dargestellten Forschungszweige unterschiedliche Gruppen. So wird die Forschung zu Kindern und Jugendlichen meistens über die Affinität der Zielgruppe zu digitalen Medien hergeleitet. Dieses Argument wird oft auch für Kinder und Jugendliche mit Übergewicht und für Inaktive verwendet, da diese teilweise schwierig über traditionelle körperliche Aktivität erreicht werden können. Bezüglich Menschen mit Behinderungen wird häufig auf das Potenzial zur Inklusion verwiesen, da durch den hohen Grad an Individualisierung Stärken verschiedene Niveaus bedient werden können. Ähnliches wird für ältere Menschen angenommen, wo zusätzlich die Spezifität von Exergames bspw. zur Förderung der kognitiven Leistung betont wird. Generell lässt sich die Forschung (nicht ganz trenn‐ scharf) in psychologisch und physiologisch orientierte Forschungsfelder gliedern, welche im Folgenden vorgestellt werden. Die Outcomes lassen sich dabei grob in unmittelbare und langfristige Effekte unterteilen, was in den Grafiken am Ende der jeweiligen Kapitel zu entnehmen ist. 11.3.1 Psychologisch orientierte Forschungsfelder 11.3.1.1 Affektives Befinden während des Exergaming Studien mit Exergames haben gezeigt, dass Exergaming die Freude (Graves et al., 2010), die Trainingsmotivation (Valenzuela et al., 2018), die langfristige Motivation (Macvean & Robertson, 2013), das Engagement (Lyons, 2015), die Immersion (Lu et al., 2012) und das Flow-Erlebnis (Martin-Niedecken & Götz, 2017) steigern können. Selbst während hochintensiver Exergames berichteten spielende Personen von mehr Spaß, höherer intrinsischer Motivation und einem besseren Flow-Erleben als bei traditionellem Ausdauertraining (Ketelhut, Röglin, Kircher, et al., 2022; Röglin et al., 2021) oder einem funktionellen Workout mit Personal Trainer*innen (Martin-Niedecken & Schättin, 2020). 11.3 Sportwissenschaftliche Forschungsfelder zu Exergames 209 <?page no="210"?> 2 „Das Wohlbefinden umfasst Bewertungen des eigenen Daseins sowie das Verhältnis von angeneh‐ men und unangenehmen physischen und psychischen Empfindungen (Lischetzke & Eid, 2005). Es beruht auf kognitiven und affektiven Prozessen, die sich auf das eigene Leben im Allgemeinen oder auf spezifische Aspekte wie die eigene Gesundheit, den eigenen Körper oder die soziale Umgebung einer Person beziehen können.“ (aus Sudeck & Thiel, 2020, Seite-554) Für ältere Menschen hingegen können Exergames aufgrund ihrer spielerischen Natur körperliche Aktivität auf eine leichte Art und Weise fördern (Lima et al., 2023). Außerdem kann gemeinsames Exergaming die soziale Verbundenheit stärken, die Einsamkeit verringern und die Einstellungen gegenüber anderen Personen verbessern (Li et al., 2018). Für Menschen mit Übergewicht legt die Forschung nahe, dass diese beim Spielen von Exergames besonders viel Vergnügen erleben und gleichzeitig das Gefühl der Selbstwirksamkeit gesteigert werden kann (Andrade et al., 2019; O’Loughlin et al., 2020). Da damit verbunden eine erhöhte Adhärenz zu körperlicher Aktivität gezeigt werden konnte, stellen Exergames ein interessantes Instrument dar, um in der Popu‐ lation übergewichtiger Menschen einen aktiveren Lebensstil zu fördern (Dishman et al., 2005). Zusammengefasst zeigen die Befunde analog zur traditionellen körperlichen Akti‐ vität, dass Exergames das affektive Befinden positiv beeinflussen können. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund theoretischer Modelle relevant (siehe bspw. Brand & Ekkekakis, 2018), welche die Wichtigkeit des affektiven Befindens während körper‐ licher Aktivität für das langfristige Bewegungsverhalten hervorheben. Da Exergaming, wie oben eruiert, als körperliche Aktivität zu betrachten ist, sollten zukünftige Studien vermehrt untersuchen, wo Exergames einen Mehrwert gegenüber traditioneller kör‐ perlicher Aktivität versprechen und ob dieser auch langfristig aufrechterhalten werden kann. 11.3.1.2 Wohlbefinden Bezüglich des subjektiven Wohlbefindens 2 zeigt die empirische Evidenz, dass Exerga‐ ming mit mehreren Aspekten psychischer Gesundheit in Zusammenhang steht (Marques et al., 2023). Unter anderem wurden Einflüsse von Exergaming auf Zufrie‐ denheit, Lebensqualität, Vitalität und wahrgenommene Energie gefunden. Darüber hinaus wurden insbesondere Effekte des Exergaming auf den Selbstwert sowie auf die Selbstwirksamkeit gefunden (Fernandes et al., 2022; Santos et al., 2021). Diese positiven Effekte auf den Selbstwert können dabei analog zum Exercise and Self- Esteem Model für Sport und Bewegung (Sonstroem & Morgan, 1989) auf Exergaming übertragen werden. Der Einfluss auf die Selbstwirksamkeit kann außerdem darauf zurückzuführen sein, dass Exergames sich häufig Spielmechaniken von Videospielen bedienen (siehe Kapitel 11.2.1), welche beispielsweise eine stetige Anpassung an das Leistungsniveau der Spielenden beinhalten. Dies führt dazu, dass Spielende mehr Er‐ 210 11 Exergames <?page no="211"?> folgserfahrungen machen und sich selbstwirksam wahrnehmen (Krause & Benavidez, 2014; McAuley & Blissmer, 2000). Zusammenfassend scheinen Exergames daher insbesondere in Situationen beson‐ ders wertvoll, wo eine stetige und individualisierte Anpassung an das Leistungsniveau des Individuums nötig ist, um damit für mehr Erfolgserlebnisse zu sorgen (Benzing & Schmidt, 2019). Dies kann unter anderem hinsichtlich der Förderung von Kindern oder Menschen mit Behinderungen hilfreich sein und somit einen Beitrag zur Prävention von psychischen Störungen und dem Erhalt psychischer Gesundheit leisten (Patsi & Evaggelinou, 2022). 11.3.1.3 Psychische Störungen Globale Trends deuten auf einen Anstieg von psychischen Störungen nach Covid-19 hin und stellen häufig eine große Last für Betroffene dar (Racine et al., 2021; WHO & others, 2017). Zusätzlich sind Menschen mit psychischen Störungen oft weniger kör‐ perlich aktiv, aufgrund von Interessens- und Energieverlust (Roshanaei-Moghaddam et al., 2009). Exergames bieten eine niederschwellige Form körperlicher Aktivität und stellen damit ein motivational attraktives Mittel zur individuellen Förderung dar (Vaghetti et al., 2018). Bei Erwachsenen zeigen mehrere Reviews und Metaanalysen in verschie‐ denen Populationen, dass Exergames ein wirkungsvolles Mittel zur Verminderung depressiver Symptome sein können (Andrade et al., 2019; Bhattacharya et al., 2022; Huang et al., 2022; Li et al., 2016). Auch bezüglich anderer psychischer Störungen wie z. B. Angststörungen gibt es erste Hinweise zur Wirksamkeit von Exergames (Abd-Alrazaq et al., 2022; Santos et al., 2021). Bei Kindern und Jugendlichen, wie beispielsweise bei Kindern mit ADHS, konnten darüber hinaus förderliche Effekte auf die kognitiven und motorischen Fähigkeiten gezeigt werden (Benzing, 2020; Benzing et al., 2016, 2018; Benzing & Schmidt, 2019). Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse einen Nutzen für Menschen mit psychi‐ schen Störungen auf, aber bislang kann dadurch keine klare Indikation im klinischen Setting abgeleitet werden, da Exergaming meist eher als zusätzliche Behandlungsme‐ thode statt als Alternative zum Goldstandard der Behandlung verstanden wird. Daher wird Exergaming meist komplementär eingesetzt und es werden weitere Studien gefordert (Abd-Alrazaq et al., 2022). 11.3.1.4 Kognitive Effekte Im Bereich der Sport- und Kognitionsforschung bei Kindern und Jugendlichen wird im Rahmen von Studien vermehrt auf Exergames zurückgegriffen (Benzing & Schmidt, 2018, 2019). Dies hat einerseits den Grund, dass Exergames ein gutes Forschungsin‐ strument darstellen (siehe oben), andererseits besonders Kinder und Jugendliche auf Exergames ansprechen. 11.3 Sportwissenschaftliche Forschungsfelder zu Exergames 211 <?page no="212"?> Studien im Schulkontext konnten mithilfe des Exergaming beispielsweise die Cha‐ rakteristika von körperlicher Aktivität zur Förderung der kognitiven Leistung im Rahmen von Bewegungspausen untersuchen (Anzender, Schmid et al., 2024; Anzene‐ der, Zehnder, Martin-Niedecken, et al., 2023; Anzeneder, Zehnder, Schmid, et al., 2023; Benzing et al., 2016). Außerdem gibt es erste langfristige Interventionen und den Einsatz im Rahmen des Schulsports, die bei Kindern und Jugendlichen durchgeführt wurden und vielversprechende Resultate zu Tage fördern konnten (Vaghetti et al., 2018). Bei älteren Erwachsenen wird Exergaming darüber hinaus zunehmend einge‐ setzt, da diese sich an die individuelle Leistungsfähigkeit anpassen und somit teilweise Doppelaufgaben bzw. Mischungen aus einem kognitiven und physischen Training realisieren lassen. Die Ergebnisse einer zuletzt erschienenen Metaanalyse zeigen das Potenzial zur Förderung der allgemeinen kognitiven Leistung und des Gedächtnisses auf (Yen & Chiu, 2021), allerdings finden nicht alle Studien einen positiven Effekt (Benzing et al., 2020). Zusammenfassend lässt sich also hinsichtlich der kognitiven Leistung die Eignung von Exergaming als Forschungsinstrument und als Hybrid zwischen kognitivem und physischem Training herausstellen, aber es wird dennoch zusätzliche Forschung benötigt. Exkurs | Forschungsprojekt „School-based physical activity and children’s cog‐ nitive functioning: The quest for theory-driven interventions” Bisher ist noch unklar, wie genau körperliche Aktivität gestaltet sein muss, um die kognitive Leistung optimal zu steigern. In einem an der Universität Bern durchge‐ führten und vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekt wurde daher untersucht, wie schulbezogene Sport- und Bewegungsaktivitäten die kognitive Leistungsfähigkeit von Primarschulkindern im Alter zwischen 9 und 13 Jahren beeinflussen können. Als Intervention wurde ein Exergame verwendet, das in Zusammenarbeit mit der Zürcher FitTech-Startup Sphery (siehe dazu auch vorherigen Exkurs in diesem Kapitel) entwickelt wurde. Das Exergame ermöglicht es, die körperliche und kognitive Belastung der Bewegungsaktivität standardisiert zu manipulieren und die Aufgabenbeanspruchung auf das jeweilige Niveau der Teilnehmenden zu individualisieren. Im ersten, abgeschlossenen Teilprojekt wurde gezielt die Dosis-Wirkungs-Be‐ ziehung zwischen den Charakteristiken der körperlichen Aktivität und der kognitiven Leistungsfähigkeit untersucht. Drei aufeinanderfolgende Messwieder‐ holungsdesignstudien analysierten dabei, 1. welchen Grad an kognitiver Beanspruchung, 2. welche Dauer und 3. welche Feedbackform bei akutem Exergaming die kognitive Leistungsfähig‐ keit optimal fördern. 212 11 Exergames <?page no="213"?> Die Ergebnisse zeigen, dass ein einmaliges, 15-minütiges, kognitiv hoch bean‐ spruchendes Exergaming, kombiniert mit Musik und persönlichem positivem Feedback, einen positiven Einfluss auf die darauffolgende kognitive Leistungsfä‐ higkeit hat (Anzeneder, Schmid et al., 2024; Anzeneder, Zehnder, Martin-Niede‐ cken, et al., 2023; Anzeneder, Zehnder, Schmid, et al., 2023). Im zweiten laufenden Teilprojekt zielt das Forschungsprojekt darauf ab, gruppenbasierte Exergame-In‐ terventionen für die Schule zu entwickeln und ihre Wirksamkeit zu prüfen. Das übergeordnete Ziel besteht darin, konkrete Empfehlungen für die Unterrichts‐ praxis abzuleiten. Das Video des verwendeten Exergames lässt sich über den QR-Code abrufen (https: / / vimeo.com/ 759054046). Abb. 11-3 | Psychologische Outcomes von Exergames 11.3.2 Physiologisch orientierte Forschungsfelder Wenig überraschend haben zahlreiche Studien gezeigt, dass das Spielen von Exergames im Vergleich zu sitzenden Tätigkeiten oder dem Spielen traditioneller Videospiele zu einem erhöhten Energieverbrauch führt. Sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen konnte in Studien ein deutlicher Anstieg der Herzfrequenz, der Sauerstoffaufnahme und des Energieverbrauchs beim Spielen von Exergames festgestellt werden (Dutta & Pereira, 2015; Gao et al., 2015; Graves et al., 2010; Kari, 2017; Sween et al., 2014). Aller‐ dings zeigen aktuelle Übersichtsarbeiten (Kubica et al., 2023; Marshall & Linehan, 2021), dass die meisten Exergames lediglich leichte bis moderate und nur wenige Exergames hochintensive Belastungsreize auslösen (Berg & Moholdt, 2020; Ketelhut, Röglin, Kircher, et al., 2022). Obwohl selbst leichte und moderate Belastungsintensitäten 11.3 Sportwissenschaftliche Forschungsfelder zu Exergames 213 <?page no="214"?> bereits positive gesundheitliche Auswirkungen bei inaktiven Bevölkerungsgruppen bewirken können (Matthews et al., 2015), ist allgemein anerkannt, dass intensivere körperliche Belastungen zu stärkeren physiologischen Reaktionen und ausgeprägteren gesundheitlichen Effekten führen (Schnohr et al., 2012). Daher ist anzunehmen, dass viele Exergames nicht in der Lage sind, langfristige körperliche Anpassungen herbeizuführen (Biddiss & Irwin, 2010; Lyons, 2015). Das Hauptproblem vieler Spiele besteht darin, dass grundlegende Trainingsprin‐ zipien bisher nicht ausreichend berücksichtigt und in die Spielgestaltung (siehe dazu auch 11.2.4) integriert wurden (Röglin et al., 2023). Außerdem erfordern viele Exerga‐ mes Bewegungsaufgaben mit einem nur geringen Bewegungsumfang. Dies bedeutet, dass oft nur wenige kleine Muskelgruppen vornehmlich der oberen Extremitäten ange‐ sprochen werden. Zusätzlich wird bei vielen Spielen die Ausführung der Bewegungen nicht genau analysiert. So ist es beispielsweise möglich, bei einigen Spielen mit der Nintendo Wii durch kleine, frequente Bewegungen (wie Handgelenksbewegungen) vorzutäuschen, dass größere Bewegungen stattfinden (zum Beispiel wird ein kurzer Schwung aus dem Handgelenk als großer Tennisaufschlag wahrgenommen). Die Ursa‐ che für die Defizite in Bezug auf Exergames könnte darin liegen, dass viele kommerziell erhältliche Exergames nach wie vor ihren Schwerpunkt auf Unterhaltung und ein ansprechendes Spieldesign legen und weniger auf die Integration eines effektiven Trainingskonzepts (Röglin et al., 2023). 11.3.2.1 Körperzusammensetzung Ähnlich wie herkömmliche körperliche Aktivität kann sich regelmäßiges Exergaming positiv auf die Körperzusammensetzung auswirken. Untersuchungen haben gezeigt, dass das Spielen von Exergames vorteilhafte Auswirkungen auf den Taillen- und Hüftumfang, den Körperfettanteil, den Body Mass Index und das Körpergewicht haben kann (Street et al., 2017; Tripette et al., 2014). Diese Effekte wurden nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern und Jugendlichen festgestellt (Staiano et al., 2018; Valeriani et al., 2021; Ye et al., 2018). Dennoch bleiben die Auswirkungen von Exergaming auf die Körperzusammensetzung laut einer aktuellen Übersichtsarbeit inkonsistent (O’Loughlin et al., 2020). Eine robustere Wirksamkeit von Exergaming auf anthropometrische Parameter zeigt sich nur in Studien mit einer höheren Trai‐ ningshäufigkeit (mehr als dreimal pro Woche) und bei übergewichtigen Personen (Ameryoun et al., 2018; O’Loughlin et al., 2020). 11.3.2.2 Körperliche Aktivität Es gibt Hinweise darauf, dass Exergaming kurzfristig zur Steigerung der körperli‐ chen Aktivität beitragen kann. Bedauerlicherweise gibt es bislang keine klaren Belege für die langfristigen Auswirkungen von Exergaming auf die körperliche Aktivität (Kari, 2014). Eine aktuelle Übersichtsarbeit unterstützt diese Annahme (O’Loughlin et al., 214 11 Exergames <?page no="215"?> 2020). Die Autor*innen kommen zu dem Schluss, dass Exergaming einen vielverspre‐ chenden Ansatz zur Steigerung der körperlichen Aktivität auf kurze Sicht darstellt. Allerdings konnte festgestellt werden, dass Exergames ohne klare Empfehlungen be‐ züglich Häufigkeit und Dauer keine langfristige Steigerung der körperlichen Aktivität bewirken konnten (Röglin et al., 2023). In Bezug auf das sitzende Verhalten deuten Untersuchungen darauf hin, dass Exergaming das Potenzial hat, sitzende Tätigkeiten zu substituieren (Biddiss & Irwin, 2010; Peng et al., 2013). Darauf aufbauend sollte die Spielgestaltung noch weiter auf die Steigerung der Adhärenz ausgerichtet werden (siehe Kapitel 11.2.2). 11.3.2.3 Motorik Exergames erfordern oft präzise Bewegungen und Handlungen, die dazu beitragen können, grundlegende motorische Fähigkeiten zu verbessern. Spielende Personen müs‐ sen auf visuelle und auditive Reize reagieren und gleichzeitig physische Bewegungen ausführen. Besonders bei älteren Menschen konnte gezeigt werden, dass Exergames das Gleichgewicht verbessern (Bieryla & Dold, 2013; Fang et al., 2020; Laufer et al., 2014), das Sturzrisiko reduzieren (Duque et al., 2013; Schoene et al., 2013) und die Muskelkraft steigern können ( Jorgensen et al., 2013). Basierend auf einer aktuellen Metaanalyse sind die Effekte von Exergaming auf das Gleichgewicht, die Muskelkraft, die Ganggeschwindigkeit, und die Geschicklichkeit der Finger ähnlich positiv wie bei traditioneller Physiotherapie (Reis et al., 2019). In Bezug auf jüngere Personen wurden positive Auswirkungen von Exergames auf verschiedene motorische Fähigkeiten wie Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer berichtet (Ketelhut, Röglin, Martin-Niedecken, et al., 2022; Smits-Engelsman et al., 2017). Dennoch bleiben die Ergebnisse laut einer aktuellen Übersichtsarbeit inkonsistent und erfordern daher weitere Untersuchungen (Liu et al., 2020). 11.3.2.4 Gesundheit Die wissenschaftliche Literatur zu den Auswirkungen von Exergaming auf gesund‐ heitsbezogene Parameter ist nach wie vor begrenzt. McBain et al. (2018) und Yu et al. (2020) konnten eine Verbesserung der aeroben Fitness bei Erwachsenen nach Exergaming-Interventionen feststellen. Schürch et al. (2023) konnten sogar einen signi‐ fikant stärkeren Anstieg der maximalen Sauerstoffaufnahme nach einer Exergaming- Intervention gegenüber einem herkömmlichen Ausdauertraining verzeichnen. Auch bei Kindern konnten Studien signifikante Verbesserungen der aeroben Fitness nach einer Exergaming-Intervention feststellen (Dickinson & Place, 2014; Gao et al., 2013; Ketelhut, Röglin, Martin-Niedecken, et al., 2022). In Bezug auf kardiovaskuläre Risikofaktoren scheinen Exergaming-Interventio‐ nen ähnliche Effekte wie herkömmliches aerobes Training hervorzurufen ( Jo et al., 2020; Mills et al., 2013; Schürch et al., 2023). Studien von (Kircher, Ketelhut, Ketelhut, 11.3 Sportwissenschaftliche Forschungsfelder zu Exergames 215 <?page no="216"?> Röglin, Hottenrott, et al., 2022; Kircher, Ketelhut, Ketelhut, Röglin, Martin-Niedecken, et al., 2022) und (Ketelhut, Ketelhut, et al., 2022) konnten zeigen, dass bereits eine einzelne Exergaming-Einheit positive Auswirkungen auf den Blutdruck und andere hämodynamische Parameter haben kann und dass diese stärker ausgeprägt sind, als nach einem klassischen Ausdauertraining. Bei übergewichtigen und fettleibigen Kin‐ dern wurde in einer Studie eine positive Wirkung einer Exergaming-Intervention auf den Blutdruck sowie auf das Gesamtcholesterin und das LDL-Cholesterin festgestellt (Staiano et al., 2018). Abb. 11-4 | Physiologische Outcomes von Exergames 11.4 Zusammenfassung und Ausblick Exergaming hat das Potenzial für eine Vielzahl an Anwendungsfelder und Populatio‐ nen nützlich zu sein. Daher erfuhr das wissenschaftliche Feld rund um diese aktiven digitalen Spiele in den letzten Jahren großen Aufschwung. Neben gesundheitsorien‐ tierter Forschung interessieren sich viele weitere Disziplinen für das Potenzial von Exergaming wie bspw. die Sportwissenschaft, Psychologie, Neurowissenschaft und Computerwissenschaft (Benzing & Schmidt, 2019). Der Grund dieser Entwicklung wird offensichtlich, wenn Exergaming der zunehmenden Inaktivität gegenüberge‐ stellt wird, welche mit einer Vielzahl an negativen gesundheitlichen Konsequenzen assoziiert ist (Saunders et al., 2020). So ist eine häufige Annahme, dass mittels Exergaming eine Reduktion der Inaktivität (insbesondere bei spezifischen Gruppen, 216 11 Exergames <?page no="217"?> die mit herkömmlichen Methoden schwierig zu erreichen sind) gefördert werden kann (Gao et al., 2017). Exergaming kann sowohl als Videospiel als auch als körperliche Aktivität gesehen werden, was aus Forschungsperspektive interdisziplinäre Zusammenarbeit häufig unabdingbar macht. Dies ist v. a. innerhalb der Spielgestaltung wichtig, da Exergames stark in ihrem Design variieren können und damit auch dessen Wirksamkeit in der Praxis bestimmt wird. Eine Zusammenarbeit sollte daher auch transdisziplinär zwischen Forschung und Praxis entstehen, wobei es die Einzelheiten des Gamedesigns und deren Implikationen für die Praxis zu berücksichtigen gilt. Heterogen sind auch die Effekte von Exergames. So zeigt sich einerseits, dass Exergames weit mehr bieten als nur eine unterhaltsame Möglichkeit, Videospiele zu genießen, sondern sich durchaus positiv auf die Gesundheit auswirken (Donath et al., 2016). Andererseits gibt es bisher kaum Studien, welche die Wirksamkeit von Exergaming über einen langen Zeitraum und die tatsächliche Implementation in der Praxis zeigen. Hinsichtlich der psychologisch orientierten Forschung zeichnet sich Exergaming dabei insbesondere durch das Potenzial zur Individualisierung und Adaptivität aus, was die Möglichkeit schafft, Kompetenzerleben und positives affektives Befinden zu fördern. Hinsichtlich der physiologisch orientierten Forschung sticht insbesondere das Potenzial ins Auge gesundheitsrelevante Trainingsreize setzen zu können, welche dazu beitragen, die kardiorespiratorische Gesundheit zu verbessern und die motorischen Fähigkeiten zu fördern. Mit ihrer breiten Palette von Anwendungsbereichen stellen Exergames also eine spannende Möglichkeit dar, Bewegung und Spaß miteinander zu verbinden und den Körper auf unterhaltsame Weise herauszufordern. Trotzdem scheinen die empirischen Befunde noch nicht eindeutig zu sein, was den großen Bedarf an weiterführender Forschung nahelegt. Dies wirft zusätzliche Fragen bezüglich ihrer Rolle als Alternative zu herkömmlichen Bewegungsinterventionen oder Sport auf (Biddiss & Irwin, 2010; Gao et al., 2017; Lyons et al., 2011; Marshall & Linehan, 2021). Bezogen auf die große Diversität an Spielen sollte daher in Zukunft erforscht werden, welche Arten von Exergames, für welche Population, unter welchen Umständen, mit welchem Ziel geeignet sind. Dazu sollten Interventionen stärker theoriegeleitet durchgeführt werden, um Mechanismen systematisch erforschen zu können. Weiter ist wichtig, dass in der Forschung und im Gamedesign neben dem Spassfaktor Zielgrößen wie körperliche Bewegung oder kognitive Funktionen in den Vordergrund gerückt und präzise angesprochen werden. Zusammenfassend lässt sich sagen: Trotz dieser vielversprechenden Ausgangslage sollten Exergames nicht leichtfertig überschätzt werden. Die derzeitige Forschungslage deutet auf das Potenzial von Exergames hin, allerdings fehlen wissenschaftliche Studien, welche eine langfristige Implementation in der Praxis belegen (siehe bspw. Benzing & Schmidt, 2019). 11.4 Zusammenfassung und Ausblick 217 <?page no="218"?> Frage an die Praxis � „Ist das Exergaming als Bewegungspause wirklich einsetzbar in der Schule? “ → „Momentan wird das Exergaming meines Wissens nicht flächendeckend an Schulen eingesetzt. Im Rahmen einer Studie konnten wir das Exergaming in der Schule ausprobieren und als individuelle Bewegungspause anbieten. Ich denke, dass Exergaming einen Mehrwert in der Schule bieten kann, weil es Spaß macht und Kinder abholt, die sonst nicht so einfach für Bewegung zu begeistern sind. Außerdem fehlt uns Lehrpersonen oft die Kapazität und manchmal auch die Kompetenz für individualisierte Bewegungspausen. Um Kinder also individuali‐ siert fördern zu können, könnte Exergaming in Zukunft eine gute Möglichkeit darstellen. Im Rahmen der Studie haben wir aber auch gesehen, dass die Integration des Exergamings nicht ganz einfach ist. Es braucht den nötigen Platz für die tech‐ nischen Geräte und die Lehrpersonen müssen sich gut absprechen, wann welches Kind das Gerät nutzen darf. Außerdem muss das Exergame aktiv administriert werden, falls es beispielsweise zu technischen Problemen kommt. Wie so oft denke ich daher, dass es wichtig ist, dass die Lehrpersonen den Einsatz grundsätzlich befürworten und Exergaming nicht einfach als zusätzliche Belastung wahrnehmen. Dann kann es eine sinnvolle Ergänzung darstellen.“ Literatur Abd-Alrazaq, A., Alajlani, M., Alhuwail, D., Schneider, J., Akhu-Zaheya, L., Ahmed, A., & Househ, M. (2022). The Effectiveness of Serious Games in Alleviating Anxiety: Systematic Review and Meta-analysis. JMIR Serious Games, 10(1), e29137. https: / / doi.org/ 10.2196/ 29137 Altimira, D., Müller, F., Clarke, J., Lee, G., Billinghurst, M., & Bartneck, C. (2016). Digitally Augmenting Sports: An Opportunity for Exploring and Understanding Novel Balancing Techniques. Proceedings of the 2016 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems, 1681-1691. https: / / doi.org/ 10.1145/ 2858036.2858277 Ameryoun, A., Sanaeinasab, H., Saffari, M., & Koenig, H. G. (2018). Impact of Game-Based Health Promotion Programs on Body Mass Index in Overweight/ Obese Children and Adolescents: A Systematic Review and Meta-Analysis of Randomized Controlled Trials. 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Es ist gut belegt, dass sich das Leben in einer Familie und die damit verbundenen sozialen Beziehungen auf die Ge‐ sundheit von Individuen auswirkt. Einer der zugrundeliegenden Mechanismen ist das Gesundheitsverhalten, welches durch innerfamiliäre Prozesse beeinflusst wird. Als primäre Sozialisationsinstanz stellt die Familie einen entscheidenden Bezugspunkt für die Entwicklung von Verhaltensweisen wie körperliche Aktivität und entsprechenden Werten und Einstellungen dar. Im familiären Kontext wer‐ den Verhaltensmuster nicht nur erlernt, im Familiensystem werden diese auch aufrechterhalten. Entsprechend ist der Familienkontext sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene und Ältere relevant. Zum Einfluss der Eltern auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen liegen viele Befunde vor. In Bezug auf das Verhalten von Erwachsenen und Älteren ist die Paarbeziehung gut untersucht. Als Prozesse innerhalb dieser Zweierbeziehungen wurden häufig soziale Unterstützung, Modellverhalten und auch soziale Kontrolle betrachtet. Insgesamt überwiegt eine dyadische Perspektive (eine Perspektive auf Zwei‐ erbeziehungen, bspw. Elternteil-Kind, Partnerschaft), welche dem komplexen System Familie eigentlich nicht gerecht wird, sondern nur einen Ausschnitt dieses Systems darstellt. Entsprechend systemtheoretischer Ansätze ist Familie mehr als eine Ansammlung von Einzelpersonen und dyadischen Beziehungen. Familien sind organisierte Ganzheiten, die durch wechselseitige Abhängigkeiten geprägt sind. Die Annahmen der Familie-als-System-Ansätze sind hilfreich bzw. nötig, um individuelles Verhalten oder auch gelingende vs. nicht gelingende Verhaltensänderungen zu verstehen. Im Kontext von körperlicher (In-)Aktivität sind Studien zu familiären Sozialisationsdynamiken und Einflussfaktoren, jenseits der dyadischen Prozesse - gerade auch im deutschsprachigen Raum - rar. Ziel dieses Kapitels ist es, anhand theoretischer Ansätze und empirischer Befunde die Relevanz des familiären Kontextes für Gesundheitsverhalten und Verhaltens‐ änderungen herauszuarbeiten sowie Forschungslücken aufzuzeigen. Ein besseres Verständnis, wie die Familie bzw. das Leben in einer Familie die Entwicklung ge‐ sundheitsrelevanter Verhaltensmuster und deren Aufrechterhaltung beeinflusst, ist ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung und Umsetzung von Inter‐ <?page no="232"?> ventionen zur Verhaltensänderung im Kontext von Gesundheitsförderung und Prävention. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1306. Lernziele ■ Die Bedeutung der Familie für die Gesundheit bzw. das Gesundheitsverhalten von Individuen beschreiben. ■ Die sich in Familien häufenden (gesundheitsbezogenen) Verhaltensweisen durch zugrundeliegende Mechanismen interpretieren und erläutern. ■ Theoretische Ansätze zur Erklärung des Einflusses der Familie erklären und vergleichen. ■ Den Forschungsstand zu Familie und Gesundheitsverhalten wiedergeben und Lücken aufzeigen. ■ Implikationen für familienbasierte Interventionen zur Verhaltensänderung ableiten und diskutieren. Gesundheitsrelevante Verhaltensweisen wie Ernährung, körperliche (In-)Aktivität, Tabak- und Alkoholkonsum finden nicht in einem Vakuum statt. Vielmehr sind sie eingebettet in einen sozialen Kontext und werden beeinflusst von sozialen Bindungen (Sallis & Nader, 1998; Umberson et al., 2010). Entsprechend setzt das Verstehen und Erklären des körperlichen Aktivitätsverhaltens sowie einer Verhaltensänderung voraus, das soziale und individuelle Umfeld einer Person zu berücksichtigen. Dennoch fokussiert sport- und gesundheitspsychologische Forschung zu Gesundheitsverhalten und Verhaltensänderung bislang vor allem auf individuelle Prozesse (Conner & Nor‐ man, 2017). Dieses Kapitel gibt einen Überblick darüber, inwiefern die Familie bzw. das Zusam‐ menleben in einer Familie mit dem individuellen Gesundheitsverhalten zusammenhän‐ gen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem körperlichen Aktivitätsverhalten. 12.1 Was ist Familie? Der Begriff Familie wird im Alltag, in den Medien und in verschiedenen Arten von Literatur sehr häufig verwendet. Er hat sich zudem im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt, so dass es schwer ist, ihn exakt zu beschreiben. Die Familie ist laut der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (UN, 1948) eine 232 12 Familie und Gesundheit - wie der familiäre Kontext unser Aktivitätsverhalten prägt <?page no="233"?> „grundlegende Gruppeneinheit der Gesellschaft“ und kann als ein Zusammenleben von mindestens zwei Generationen beschrieben werden. Definition | Jurczyk (2018) beschreibt eine Familie als generationenübergreifende Lebensgemeinschaft von Menschen mit verbindlichen Beziehungen und gegensei‐ tiger Sorge. Familie umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensformen. Sie ist ein dynamisches soziales System, welches sich auf Grundlage von Interaktionsprozessen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern kontinuierlich weiterentwickelt. Im Vergleich zu anderen Personengruppen und sozialen Kontexten, haben Familien einzigartige Eigen‐ schaften und Beziehungen. In einer Familie entstehen typische Handlungsmuster, Routinen und Rituale, die den Familienalltag, aber auch Einstellungen und Verhaltens‐ weisen ihrer Mitglieder prägen. Daraus entstehen eine Identität und Bindung, die bis ins hohe Alter aufrechterhalten werden können (Schneewind, 2010; Wonneberger & Stelzig-Willutzki, 2018). 12.2 Familie und Gesundheit Familien sind für ein gesundes Aufwachsen und Leben ihrer Mitglieder eine wichtige Ressource. Es ist gut belegt, dass sich das Leben in einer Familie und die damit verbundenen sozialen Beziehungen auf die psychische und physische Gesundheit von Individuen auswirken (Holt-Lunstad, 2018). Zu beachten ist hier allerdings die ambivalente Rolle: Familie kann positive, aber auch negative Auswirkungen haben. So zeigen zahlreiche Befunde, dass eine Ehe oder Partnerschaft mit besserer Gesundheit assoziiert sind (z. B. Mortalität, gesündere Lebensweise) (Henretta, 2010; Rendall et al., 2011). Beziehungsstörungen sowie Familienauflösung durch Tod, Trennung oder Scheidung stellen allerdings kritische Ereignisse dar, die die Gesundheit beeinträch‐ tigen. Zusammenhänge zum Gesundheitsstatus zeigen sich auch in Bezug auf Eltern‐ schaft (O’Flaherty et al., 2016; Kravdal et al., 2012). Potenziell gesundheitsförderliche Aspekte des Elternseins sind z. B. größere Möglichkeiten für eine Partizipation in der Gemeinschaft und soziale Unterstützung durch Kinder im späteren Leben sowie der Anreiz, gesündere Verhaltensweisen anzunehmen (Fletcher, 2012; Perales et al., 2015). Andererseits besteht ein erhebliches Potenzial für Überlastungen im Zusammenhang mit der Kindererziehung, insbesondere bei Alleinerziehenden (vgl. Schönberger, 2022; Freeman & Dodson, 2020). Familie wirkt auch indirekt auf die Gesundheit, indem soziale Beziehungen inner‐ halb einer Familie das Gesundheitsverhalten beeinflussen (Roberson et al., 2018). Bei Erwachsenen sinkt der Umfang an sportlicher Aktivität in der Regel mit dem Zusammenzug mit einem Partner oder einer Partnerin oder einer Heirat sowie bei der Geburt des ersten Kindes (Corder et al., 2020; Rapp & Klein, 2020). Ältere Menschen 12.2 Familie und Gesundheit 233 <?page no="234"?> hingegen erweisen sich als aktiver, wenn sie mit einem Partner oder einer Partnerin zusammenleben (Rapp & Klein, 2020). Gesundheitsverhalten kann auf zweierlei Weise durch interpersonale Beziehungen bzw. die Qualität der Beziehungen beeinflusst werden: Zum einen kann Gesundheits‐ verhalten Resultat interpersonaler Prozesse sein, die mit einer Beziehung einhergehen (z. B. Unterstützung). Zum anderen kann Gesundheitsverhalten auch Folge von Kon‐ flikten in interpersonalen Beziehungen sein (Roberson et al., 2018). So zeigt sich, dass eine schlechte Beziehungsqualität mit der Entwicklung von Übergewicht assoziiert ist (Skoyen et al., 2018). Gesundheitsbezogene Risiken wie beispielsweise kardiovaskuläre Risiken (Harrap et al., 2000) und die Körperfettverteilung (Rice et al., 1997) treten in Familien gehäuft auf (Kröger et al., 2001). Auch individuelle Verhaltensweisen, die mit diesen Risiken assoziiert sind, ähneln sich innerhalb von Familien (Meyler et al., 2007). Dies gilt für das Ernährungsverhalten (Wang et al., 2011) ebenso wie für körperliche Aktivität und sedentäres Verhalten (Petersen et al., 2020) und findet sich auch für Erwachsene und Ältere innerhalb von Paarbeziehungen (Berge et al., 2012). Ähnlichkeiten im Gesundheitsverhalten von Familienmitgliedern lassen sich sowohl durch genetische als auch Faktoren des geteilten Familienalltags erklären (z. B. van der Aa, 2012; Seabra et al., 2008). 12.3 Familie und Gesundheitsverhalten Familie ist eine Lebenswelt, in der Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene und Ältere gesunde oder ungesunde Verhaltensmuster entwickeln und aufrechterhalten (Sallis & Nader, 1998; Rhodes et al., 2020). Der geteilte Familienalltag beinhaltet eine Vielzahl an Bezügen zum Bewegungsverhalten; beispielsweise auf Basis von Alltagsroutinen (z. B. Nutzung des Fahrrads als Verkehrsmittel für Alltagswege), Ritualen (z. B. gemeinsamer sonntäglicher Schwimmbadbesuch) und gemeinsamen expliziten oder impliziten Regeln (z. B. zur Nutzung von Bildschirmmedien) (Sallis & Nader, 1998; Sting, 2007). Darüber hinaus ist die Familie eine Kontrollinstanz und bietet sozio-emotionale Unterstützung (Campbell, 2000). Verinnerlichte Gesundheits‐ konzepte, Werte, Einstellungen und Kompetenzüberzeugungen werden innerhalb der Familie gebildet (Horn & Horn, 2007; Schnabel, 2001). In Bezug auf Kinder und Jugendliche konzentrieren sich die meisten Studien auf die Eltern-Kind-Dyade (Zweierbeziehung zwischen einem Elternteil und einem Kind) und untersuchen unidirektionale Einflüsse der Eltern auf ihre Kinder (Lim & Biddle, 2012). 12.3.1 Aktivitätsverhalten und Zweierbeziehungen Dyaden sind geprägt von wechselseitigen und aufeinander bezogenen Handlungs‐ mustern (dyadische Prozesse). Häufig untersuchte dyadische Konzepte sind Unter‐ 234 12 Familie und Gesundheit - wie der familiäre Kontext unser Aktivitätsverhalten prägt <?page no="235"?> stützung und Kontrolle (Novak, 2019; Yao & Rhodes, 2015) sowie Modelllernen (modeling, role modeling). 12.3.1.1 Modelllernen Wissen | Modelllernen Banduras sozial-kognitive Theorie (Bandura, 2001), bei der das Modelllernen einen grundlegenden Aspekt darstellt, beschreibt, dass sich ein Individuum aufgrund der Beobachtung des Verhaltens anderer und der darauffolgenden (positiven) Konse‐ quenzen neue Verhaltensweisen aneignet oder schon bestehende Verhaltensweisen in Richtung des Modellverhaltens verändert werden. Dem Modelllernen wird in Bezug auf das Aktivitätsverhalten von Kindern eine wichtige Rolle beigemessen, entsprechend häufig wird es untersucht. Als Indikator für das Lernen am Modell in Bezug auf körperliche Aktivität wird häufig das elterliche Ak‐ tivitätsverhalten herangezogen. Positive Zusammenhänge des elterlichen Aktivitäts‐ verhaltens sowie gemeinsamer Eltern-Kind-Aktivitäten mit dem Aktivitätsverhalten von Kindern und Jugendlichen sind gut belegt (Beck et al., 2023; Petersen et al., 2020). Inwiefern der Zusammenhang zwischen dem elterlichen Aktivitätsverhalten und dem der Kinder tatsächlich im Sinne von Bandura als Modellverhalten gedeutet werden kann, sollte allerdings in Frage gestellt werden. Nach Larsen und Kolleg*innen (2015) ist für das Aktivitätsverhalten von Kindern und Jugendlichen entscheidend, dass das jeweilige Verhalten vor den Augen der Kinder ausgeführt wird. Nur Verhalten, welches für die Kinder sichtbar ist, kann einen Imitationseffekt im Sinne des Lernens am Modell haben. Allerdings unterscheiden die meisten Studien nicht zwischen Verhalten, welches vor den Kindern und in Abwesenheit der Kinder ausgeführt wird. Meist ist nicht nachvollziehbar, in welchem Ausmaß das elterliche Aktivitätsverhalten für die Kinder sichtbar ist. Des Weiteren lässt sich eine Unterscheidung treffen in ■ Modellverhalten, welches zielgerichtet vor den Augen der Kinder ausgeführt wird und damit zu den sog. „erziehenden Verhaltensweisen“ (engl. parenting practices) zählt und ■ Modellverhalten, welches zwar vor den Augen der Kinder ausgeführt wird, aber nicht zielgerichtet ist und nicht beabsichtigt, das Verhalten des Kindes zu beein‐ flussen (Larsen et al., 2015; Vaughn et al., 2016). Während Ersteres vor allem bei gesundheitsförderlichem Verhalten auftritt, wie bei‐ spielsweise körperliche Aktivität, findet sich Letzteres sowohl bei gesundheitsförder‐ lichen als auch bei ungünstigen Verhaltensweisen, wie sedentärem Verhalten. Auch wenn diese Unterscheidungen in der Theorie sinnvoll und wichtig sind, stellt die Umsetzung in empirischen Studien noch eine Herausforderung dar. 12.3 Familie und Gesundheitsverhalten 235 <?page no="236"?> Das gemeinsame Ausführen eines gesundheitsbezogenen Verhaltens sollte konzeptionell von Modellverhalten unterschieden werden. Für die Relevanz gemein‐ samer körperlicher Aktivitäten innerhalb von Familien liegen kaum Befunde vor, ganz im Gegensatz zur Bedeutung gemeinsamer Mahlzeiten (Snuggs & Harvey, 2023; Berge, 2009). Die vorhandenen Studien weisen auf vorteilhafte Effekte für das Aktivitätsver‐ halten von Kindern und Jugendlichen hin (Dlugonski et al., 2020; Hnatiuk et al., 2020). 12.3.1.2 Soziale Unterstützung und soziale Kontrolle Wissen | Soziale Unterstützung Soziale Unterstützung zielt darauf ab, eine herausfordernde Situation für diejenige Person, die Unterstützung erhält, zu erleichtern (Cohen, 2004). Es lassen sich emotionale (z. B. Lob), instrumentelle (z. B. Bereitstellung von Sportgeräten, Fahrdienste zum Sport) und informationelle (z. B. Weitergabe von Information zu Bewegungsmöglichkeiten) Unterstützung differenzieren (Fuchs, 1997). Soziale Unterstützung durch Familienmitglieder geht mit höheren Umfängen an körperlicher Aktivität einher (Yao & Rhodes, 2015; Lindsay Smith et al., 2017; Bauman et al., 2012). Was auf den ersten Blick einfach aussieht - je mehr Unterstützung desto besser - erweist sich bei genauerer Betrachtung doch als komplexer. Die Befunde sind nicht immer einheitlich und bisher kann nicht eindeutig darauf geschlossen werden, welche Art der Unterstützung (emotional, instrumentell, informationell), durch wen (z. B. Mutter, Geschwister) für welche Domäne (z. B. Freizeitaktivität vs. aktive Mobilität) oder Art der Aktivität (z. B. Sport vs. leichte Aktivitäten) für wen (z. B. Mädchen vs. Jungen) am besten wirkt (Laird et al., 2016; Scarapicchia et al., 2017). Zudem ist es wichtig zu beachten, dass das Ausmaß an Unterstützung, welche von einer Seite gegeben (z. B. Perspektive Elternteil) und von der anderen Seite erhalten wird (z. B. Perspektive Kind), durchaus unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Die meisten bisherigen Studien ziehen die von den Eltern berichtete Unterstützung heran. Die Relevanz der von den Kindern wahrgenommenen Unterstützung durch die Eltern, die Übereinstimmung zwischen der Wahrnehmung von Kindern und Eltern und der Zusammenhang zum Verhalten der Kinder, ist besonders im Kontext von körperlicher Aktivität, nicht gut untersucht (Rebholz et al., 2014). Es deutet sich aber an, dass die Übereinstimmung gering ist und dass vor allem die von den Kindern wahrgenommene Unterstützung entscheidend für das individuelle Aktivitätsverhalten ist (Barr-Anderson et al., 2010; Niermann et al., 2020; Wilk et al., 2018). Als interpersonaler Prozess in sozialen Beziehungen wird neben sozialer Unterstüt‐ zung seit einigen Jahren vermehrt auch das Konstrukt der sozialen Kontrolle in Zusammenhang mit der Selbstregulation von Gesundheitsverhalten untersucht (Scholz et al., 2020). 236 12 Familie und Gesundheit - wie der familiäre Kontext unser Aktivitätsverhalten prägt <?page no="237"?> Definition | Soziale Kontrolle ist definiert als eine Reihe interpersonaler Strate‐ gien, die (bewusst oder unbewusst) angewandt werden, um das Verhalten einer anderen Person zu beeinflussen und zu steuern. Gesundheitsbezogene soziale Kontrolle bezieht sich dabei darauf, eine andere Person dazu zu bewegen, gesund‐ heitsförderliche Verhaltensweisen umzusetzen und schädliche Verhaltensweisen zu unterlassen (Craddock et al., 2015). Hier lassen sich zwei Formen unterscheiden: positive soziale Kontrolle und nega‐ tive soziale Kontrolle. Erstere umfasst Strategien wie Diskussionen und Vorschläge, positive Verstärkung, Erinnerungen und Ermunterungen, mit dem Ziel, dass die empfangende Person der Veränderung zustimmt und sie selbst als relevant erachtet. Im Gegensatz dazu zielen Strategien der negativen sozialen Kontrolle darauf ab, die andere Person unter Druck zu setzen und Schuldgefühle zu verstärken (Craddock et al., 2015). Es zeigt sich, dass soziale Kontrolle nicht nur das Gesundheitsverhalten beeinflusst, sondern auch den Affekt des Gegenübers. In Studien mit Erwachsenen in Paarbeziehungen kann gezeigt werden, dass positive soziale Kontrolle mit günstigerem Gesundheitsverhalten assoziiert ist, während dies für negative Kontrolle nicht gilt. Allerdings ist negative Kontrolle mit höherem negativen Affekt verbunden (Craddock et al., 2015; Scholz et al., 2020). Für körperliche Aktivität liegen dazu bislang nur wenige Befunde vor. Die Verwendung dieses Konstruktes (auch in Abgrenzung zu sozialer Unterstützung) in zukünftigen Studien erscheint lohnenswert. Das Konstrukt der sozialen Kontrolle wird auch in Bezug auf die Elternteil-Kind Dyade angewandt, allerdings anders konzeptualisiert. So wird Kontrolle, genau wie Modellverhalten und Unterstützung, in das Konzept der sogenannten Parenting Prac‐ tices integriert. Dieses Konzept, das in Zusammenhang mit dem Ernährungsverhalten schon länger beforscht wird, wird mittlerweile auch für aktivitätsbezogene erziehende Verhaltensweisen angewandt. 12.3.1.3 Erziehende Verhaltensweisen von Eltern Wissen | Parenting Practices Parenting Practices sind Verhaltensweisen, die von den Eltern gezielt (bewusst oder unbewusst) angewandt werden, um das Verhalten ihrer Kinder zu beeinflussen (Darling & Steinberg, 1993). In Bezug auf körperliche Aktivität handelt es sich um Strategien, die beeinflussen, wie viel, wann und welche körperlichen Aktivitäten Kinder und Jugendliche ausüben. Das Konstrukt der Parenting Practices ist mehrdimensional. Aktivitätsbezogene erziehende Verhaltensweisen lassen sich drei Dimensionen zuordnen (Nachlässig‐ 12.3 Familie und Gesundheitsverhalten 237 <?page no="238"?> keit & Kontrolle, Autonomieunterstützung, Struktur), die wiederum in verschiedene Unterkategorien unterteilt sind (z. B. unter Druck setzen, Beteiligung, gemeinsame Aktivität) (Mâsse et al., 2020). Systematische Übersichtsarbeiten liefern Evidenz für den Zusammenhang von aktivitätsbezogenen erziehenden Verhaltensweisen und dem Aktivitätsverhalten von Kindern und Jugendlichen, wobei sich die Evidenz je nach konkreter erziehender Verhaltensweise unterscheidet. Elterliche logistische Unterstüt‐ zung beispielsweise zeigt konsistente positive Befunde, während Effekte von Kontrolle, Regeln und Monitoring weniger eindeutig sind (Hutchens & Lee, 2018; Sleddens et al., 2012). Dass aktivitätsbezogene elterliche Verhaltensweisen auch negativ wirken können, zeigt beispielsweise der Befund, dass Kinder von Eltern, die aus Sorge vor Gefahren die Bewegungsfreiheiten ihrer Kinder einschränken, geringere Bewegungs‐ umfänge haben (Reimers & Marzi, 2019). Elterliche erziehende Verhaltensweisen werden auch von Erzieher*innen als hinderlich für die Bewegungsaktivitäten im Kindergartensetting wahrgenommen, indem sie zum Beispiel aus Sorge vor Verlet‐ zungen, Priorisierung von akademischer Bildung oder weil sie kommunizieren, dass das Kind bestimmte Dinge nicht kann oder machen soll, die Bewegungsaktivitäten im Kindergarten für die Kinder einschränken (Gubbels et al., 2018). Unklar ist auch inwiefern Alter (z. B. Kinder vs. Jugendliche) und Geschlecht sowohl des Elternteils als auch des Kindes, den Zusammenhang zwischen erziehenden Verhaltensweisen und Aktivität moderieren, d. h. welche erziehenden Verhaltensweisen von wem (welches Elternteil) für wen (Mädchen vs. Jungen, jüngere vs. ältere Kinder bzw. Jugendliche) günstig oder ungünstig für das Gesundheitsverhalten sind ( Jaeger et al., 2021). Erziehende Vehaltensweisen sind in einen Beziehungskontext zwischen Eltern und Kind eingebettet, dieser Beziehungskontext ist unter anderem durch die Qualität der Beziehung charakterisiert. Ein Beispiel für eine Variable, die einen qualitativen Aspekt des Beziehungskontexts abbildet, ist der elterliche Erziehungsstil (engl. parenting style oder general parenting). Dieses Konstrukt beschreibt generalisierte Interaktionsmuster und den emotionalen Kontext der Eltern-Kind-Beziehung. Darling und Steinberg (1993) postulieren in ihrem Modell, dass Erziehungsstile den Zusam‐ menhang von erziehenden Verhaltensweisen und dem Verhalten von Kindern und Jugendlichen beeinflussen (d. h. moderieren). Es zeigt sich, dass Kinder, die in einem familiären Umfeld aufwachsen, welches durch einen autoritativen Erziehungsstil (ein demokratischer Erziehungsstil, in dem es klare Regeln gibt, aber gleichzeitig auch viel Liebe, Wärme, Wertschätzung und Unterstützung) geprägt ist, gesünder sind, sich mehr bewegen und ein geringeres Risiko für Übergewicht und Adipositas haben (Sleddens et al., 2011; Pinquart et al., 2014). Insgesamt ist der Einfluss, den Eltern auf das Aktivitätsverhalten ihres Nachwuchses ausüben, häufig beforscht. Auffällig ist jedoch eine - von wenigen Ausnahmen abgesehen - fast ausschließlich unidirektionale Perspektive auf diese dyadischen Prozesse sowie eine passive Rolle des Kindes als Rezipient. Im Vergleich zu Forschung, die sich mit Zweierbeziehungen zwischen Erwachsenen innerhalb von Familien be‐ schäftigen, fällt außerdem auf, dass wenige theoretische Modelle existieren, welche 238 12 Familie und Gesundheit - wie der familiäre Kontext unser Aktivitätsverhalten prägt <?page no="239"?> die unterschiedlichen Prozesse beschreiben. In Bezug auf Einflüsse innerhalb von Zweierbeziehungen bei Erwachsenen liegen solche Ansätze vor, auch solche, die die Interdependenz und die Reziprozität der Einflüsse zwischen Menschen betonen. Allerdings ist die Anwendung auf den Bereich der körperlichen Aktivität bisher eher selten. Beispiele für Erklärungsansätze sind das Dyadic Health Influence Model (Huelsnitz et al., 2022) und das Model of Interdependence and Communal Coping (Lewis et al., 2006). Eine Anwendung der Modelle auf körperliche Aktivität sowie ein Transfer auf Eltern-Kind-Dyaden dürfte zu einem weiteren Erkenntnisgewinn beitragen. Dyadic Health Influence Model Das Dyadic Health Influence Model (Huelsnitz et al., 2022) beschreibt drei unterschied‐ liche Wege, über die eine Person in einer dyadischen Beziehung das Gesundheitsbe‐ wusstsein und Gesundheitsverhalten der jeweils anderen Person beeinflusst: 1. ein unbeabsichtigter Einfluss des Gesundheitsverhaltens des einen Partners, wel‐ ches die gesundheitlichen Überzeugungen des anderen und darüber dessen/ deren Gesundheitsverhalten beeinflusst 2. intentionale Strategien, die angewandt werden, um gezielt gesundheitliche Über‐ zeugungen und Gesundheitsverhalten des jeweiligen Partners/ der jeweiligen Part‐ nerin zu verändern 3. ein indirekter und unbeabsichtigter Einfluss von Verhaltensweisen, die eigentlich der Aufrechterhaltung oder der Verbesserung der Paarbeziehung dienen (z. B. Verhaltensweisen, die den Partner/ die Partnerin unterstützen, negative Emotionen reduzieren, Stress abpuffern) Diese Verhaltensweisen und zugrundeliegenden Überzeugungen bzgl. der Paarbezie‐ hung können die Veränderung des Gesundheitsverhaltens erleichtern und beeinflussen die beiden anderen Wege. Model of Independence and Communal Coping Aus der Perspektive dieses Modells ist die Aufnahme und Aufrechterhaltung eines gesundheitsförderlichen Verhaltens eine Anforderung, die beide Partner einer Zwei‐ erbeziehung betrifft. Die Aufnahme und Aufrechterhaltung eines Verhaltens gelingen umso besser, je funktionaler innerhalb einer Zweierbeziehung gemeinsam an der Bewältigung dieser Anforderung gearbeitet wird. Voraussetzung hierfür ist, dass es eine gemeinsame Bewertung der Notwendigkeit einer Verhaltensänderung (bspw. als Folge der Wahrnehmung eines gesundheitlichen Risikos) sowie eine geteilte Perspektive auf die Bewältigung dieser Anforderung gibt. Zentral in diesem Ansatz ist die „Umwandlung von Motivation“, hiermit ist der Wandel von selbstzentrierten Ver‐ haltensweisen zu beziehungsorientierten Verhaltensweisen gemeint. Dies geschieht, wenn die Notwendigkeit einer Verhaltensänderung als bedeutsam für die Beziehung oder den Partner/ die Partnerin wahrgenommen wird. Diese Umwandlung der Motiva‐ 12.3 Familie und Gesundheitsverhalten 239 <?page no="240"?> tion und der entsprechenden Ausrichtung des Verhaltens ist eine Voraussetzung dafür, dass innerhalb der Zweierbeziehung die Bewältigung der Anforderung als gemeinsame Aufgabe betrachtet wird. Wie in den beiden Ansätzen beschrieben, ist es wichtig zu beachten, dass dyadische Prozesse durch Faktoren der Individuen (z. B. Überzeugungen, Einstellungen) beein‐ flusst werden. Einige Beispiele hierfür werden nachfolgend skizziert. Individuelle Faktoren in Zweierbeziehungen Überzeugungen in Bezug auf Sicherheitsaspekte können das Aktivitätsverhalten von Kindern (Spielen im Freien, Freizeitaktivitäten, organisierte Sportaktivität) beeinflus‐ sen (Bringolf-Isler et al., 2010). Des Weiteren zeigt sich, dass die Einstellung der Eltern bezüglich körperlicher Aktivität mit den Einstellungen und Überzeugungen sowie dem Aktivitätsverhalten ihrer Kinder assoziiert ist; Kinder deren Eltern der Ansicht sind, dass körperliche Aktivität wichtig für ihre Kinder ist, messen körperlicher Aktivität selbst ebenfalls eine größere Bedeutung bei und sind mit höherer Wahrscheinlichkeit im organisierten wie auch nicht organisierten Rahmen körperlich aktiv (Mutz & Albrecht, 2017). In einer Studie von Niermann et al. (2020) zeigte sich, dass die indi‐ viduelle Selbstwirksamkeitserwartung bzgl. körperlicher Aktivität der Eltern sowohl mit der durch die Kinder eingeschätzte als auch von den Eltern angegeben elterlichen Unterstützung zusammenhängt sowie mit dem Aktivitätsverhalten der Kinder. Ein weiteres Beispiel in Zusammenhang mit der Relevanz elterlicher Überzeugungen ist die elterliche Selbstwirksamkeit. Definition | Elterliche Selbstwirksamkeit beschreibt die subjektive Überzeugung oder den Glauben an die eigenen Fähigkeiten, gute Eltern zu sein, wirksame Erziehungskompetenzen zu erlernen und anzuwenden und herausfordernde Erzie‐ hungssituationen effektiv zu lösen ( Jones & Prinz, 2005). Ein positiver Zusammenhang der elterlichen Selbstwirksamkeit mit dem kindlichen Gesundheitsverhalten konnte für das Bewegungsverhalten und den Konsum von Obst und Gemüse sowie der Vermeidung ungesunder Lebensmittel gezeigt werden (Kieslinger et al., 2021; Möhler et al., 2020). Außerdem hat sich die elterliche Selbst‐ wirksamkeit als hilfreich erwiesen für eine positive Eltern-Kind-Beziehung, elterliche Kompetenz, Erziehungsqualität und (psychische) elterliche Gesundheit sowie die kindliche Entwicklung (Albanese et al., 2019). Vor dem Hintergrund der dargestellten dyadischen Prozesse sowie der Relevanz individueller Faktoren deutet sich an, wie komplex das individuelle Gesundheitsverhal‐ ten ist. Zwar sind einige Einflussfaktoren Gegenstand zahlreicher Studien (z. B. soziale Unterstützung), aber insgesamt wird das Zusammenwirken der unterschiedlichen Faktoren sowie die Relevanz von Kontextfaktoren (z. B. Beziehungsqualität) bisher 240 12 Familie und Gesundheit - wie der familiäre Kontext unser Aktivitätsverhalten prägt <?page no="241"?> nicht gut verstanden. In der Forschung zum Einfluss der Familie auf das individuelle Gesundheitsverhalten lassen sich noch einige Lücken identifizieren: ■ Die Evidenz bezieht sich überwiegend auf Mütter. Obwohl unbestritten ist, dass Väter auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen eine wichtige Rolle spielen, liegt bisher ein mangelndes Verständnis dafür vor, wie diese Rolle explizit aussieht (Morgan & Young, 2017; Davison et al., 2016). ■ Die Rolle von Geschwistern ist bisher nicht häufig adressiert. In den vorliegen‐ den Studien zeigt sich, dass Geschwister für das Aktivitätsverhalten bedeutsam sind. So zeigen Studien, dass die Anzahl der Geschwister mit dem Aktivitätsver‐ halten sowie mit der Entwicklung von Übergewicht und Adipositas assoziiert ist (Park & Cormier, 2018; Kracht & Sisson, 2018). ■ Die Bedeutung von Großeltern ist kaum untersucht. Bisherige Studien deuten an, dass das Zusammenleben mit Großeltern in einem Haushalt ein Risikofaktor für die Entwicklung von Übergewicht darstellt (He et al., 2018; Li et al., 2015). Als Gründe hierfür werden ein Mangel an körperlicher Aktivität, erhöhte Bild‐ schirmzeiten und ungünstige Ernährungsmuster herangezogen (He et al., 2018). In diesem Bereich sind weitere Studien erforderlich, da Großeltern häufig in Fürsorgeaufgaben eingebunden sind und entsprechend das Gesundheitsverhalten ihrer Enkelkinder beeinflussen können (Bell et al., 2018). Zusammengefasst liegt der Fokus der Forschung bisher auf der Untersuchung einzelner „Subsysteme“, vor allem auf der Eltern-Kind-Dyade sowie der Paarbeziehung bei Erwachsenen (Novak et al., 2022). Vor dem Hintergrund von „Familie-als-System- Ansätzen“ ist der Einfluss innerhalb einer Familie allerdings wesentlich komplexer, Familie ist mehr als eine Ansammlung von Einzelpersonen und dyadischen Beziehun‐ gen. 12.3.2 Die Familie als Ganzes Die Annahmen der Familie-als-System-Ansätze sind sehr hilfreich bzw. nötig, um individuelles Verhalten oder auch gelingende vs. nicht gelingende Verhaltensänderun‐ gen zu verstehen. Entsprechend dieser Ansätze sind Familien organisierte Ganzheiten (Broderick, 1993; White et al., 2019a). Familie ist durch dynamische Interaktionen ihrer Mitglieder geprägt. Die Familienmitglieder sind miteinander verbunden und voneinander abhängig. Ändert beispielsweise ein Familienmitglied sein/ ihr Verhalten, löst dies Reaktionen der anderen aus, die wiederum zurückwirken. Familie-als-System- Ansätze integrieren verschiedene Subsysteme (unter anderem Individuen, Eltern- Kind-Dyade, Geschwisterbeziehung, Paarbeziehung). Diese Sichtweise impliziert, dass es Sozialisationseinflüsse auf Ebene der Familie als Ganzes gibt, die von Einflüssen in‐ nerhalb von Partnerschaften oder Eltern-Kind-Dyaden zu unterscheiden sind (McHale, 2007). Individuelles Verhalten ist in dieses übergeordnete Familiensystem eingebettet, d. h., wenn man individuelles Verhalten oder auch eine nicht gelingende Veränderung 12.3 Familie und Gesundheitsverhalten 241 <?page no="242"?> des Verhaltens verstehen will, muss der Blick auch auf diese Ebene geworfen werden. Eine weitere bedeutsame Annahme ist das Streben nach Homöostase (Gleichgewichts‐ zustand eines Systems): Eine Familie strebt nach Stabilität - diese kann allerdings auch dysfunktional sein und sich negativ auf die Individuen auswirken. Individuelles Verhalten wird entsprechend reguliert und erfüllt im System spezifische Funktionen (ausführlicher beschrieben in Novak et al., 2022). Bisher wurden kaum theoretische Konzepte beschrieben und in Bezug auf Gesund‐ heitsverhalten angewandt, die sich auf die Familie als Ganzes beziehen. Für körperliche Aktivität und Sport sind die Befunde besonders spärlich. Befunde liegen außerdem fast ausschließlich mit Bezug zu Kindern und Jugendlichen vor. Eines der wenigen Konzepte, welches in Zusammenhang mit Gewichtskontrolle und gewichtsbezogenen Verhaltensweisen (hierzu gehören unter anderem auch körperliche Aktivität und sedentäres Verhalten) durchaus häufiger angewandt wurde, ist Family Functioning (Skelton et al., 2020). Definition | Das mehrdimensionale Konstrukt Family Functioning reflektiert sozial-strukturellen Eigenschaften der Familie und beinhaltet beispielsweise den Umgang mit Konflikten, emotionale Nähe, Kohäsion und Kommunikationsmuster (Kazak et al., 2003; Epstein et al., 1978). Studien zeigen, dass Family Functioning mit dem Risiko für die Entwicklung von Übergewicht und Adipositas verbunden ist (Skelton et al., 2020; Halliday et al., 2014). Ein besseres Family Functioning ist assoziiert mit auf die Gewichtsentwicklung bezo‐ genen günstigeren Verhaltensweisen (sedentärem Verhalten, körperlicher Aktivität, Ernährung) (Halliday et al., 2014; Berge et al., 2013). Explizit zu körperlicher Aktivität und sedentärem Verhalten liegen nur vereinzelte Studien vor, diese zeigen, dass ein besseres Family Functioning mit mehr körperlicher Aktivität und weniger sedentärem Verhalten einhergeht (Atkin et al., 2015; Loprinzi, 2015). Ein weiteres neueres und entsprechend noch wenig angewandtes Konstrukt ist das Family Health Climate (FHC) (Niermann et al., 2014). Wissen | Family Health Climate Das Family Health Climate (FHC) beschreibt geteilte Wahrnehmungen und Einstel‐ lungen in Bezug auf einen gesundheitsförderlichen Lebensstil und reflektiert in‐ dividuelle Erfahrungen des Familienalltags, die Bewertung gesundheitsbezogener Themen, Erwartungen in Bezug auf gesundheitsbezogene Werte sowie Routinen innerhalb der Familie (Niermann et al., 2014). Das FHC wird verhaltensspezifisch erfasst, es existieren Skalen für körperliche Akti‐ vität und Ernährung. Das aktivitätsbezogene FHC ist assoziiert mit dem Ausmaß, in 242 12 Familie und Gesundheit - wie der familiäre Kontext unser Aktivitätsverhalten prägt <?page no="243"?> dem Eltern die körperliche Aktivität ihrer Kinder unterstützen, mit der Häufigkeit ge‐ meinsamer Aktivitäten sowie mit dem Umfang an körperlicher Aktivität von Kindern und Jugendlichen (Niermann et al., 2014; Niermann et al., 2015). Ein Zusammenhang des FHC mit dem Aktivitätsverhalten findet sich auch bei Erwachsenen (Buden et al., 2017). 12.3.2.1 Einzelpersonen, Zweierbeziehungen und Familie als Ganzes: Ein Ansatz zur Integration Ein theoretisches Rahmenmodell, welches in Bezug auf das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen die Einflüsse von Individuen, Zweierbeziehungen und der Familie als Ganzes beschreibt, ist das LIFES Modell (Levels of Interacting Family Environmental Subsystems) (Niermann et al., 2018). Wissen | LIFES Modell Das LIFES Modell (Levels of Interacting Family Environmental Subsystems) integriert verschiedene familiäre Faktoren und beschreibt Annahmen zu deren Wechselwir‐ kungen und Zusammenhängen mit Bezug zu gesundheitsrelevanten Verhaltens‐ weisen von Kindern und Jugendlichen. Der Fokus liegt hier auf den „Subsystemen“ Individuum (Kind, Elternteil), Eltern-Kind-Dyade und Familie als Ganzes (weitere Subsysteme wie Geschwisterbeziehungen sind in diesem Modell nicht enthalten) (Niermann et al. 2018). Abbildung-12-1 veranschaulicht das Modell. Innerhalb der Subsysteme Individuum, Eltern-Kind-Dyade und Familie als Ganzes werden drei Ebenen unterschieden: distal, proximal und unmittelbar. Die unterschied‐ lichen familienbezogenen Einflussfaktoren, welche in den vorherigen Abschnitten dieses Kapitels beschrieben wurden, lassen sich hier einordnen. Einflussfaktoren des Subsystems Individuum sind beispielsweise Persönlichkeitseigenschaften (distal), aktivitätsbezogene Selbstwirksamkeit (proximal) und auf der unmittelbaren Ebene das Aktivitätsverhalten eines Elternteils. Beispiele für das Subsystem Eltern-Kind-Dyade sind: Erziehungsstile (distal), elterliche Überzeugungen in Bezug auf die Relevanz von körperlicher Aktivität für Kinder (proximal) und Parenting Practices (unmittelbar). Das Subsystem Familie ist unter anderem durch Family Functioning (distal), das Family Health Climate (proximal) und konkrete Rituale wie gemeinsame körperliche Aktivitäten (unmittelbar) in dem LIFES Modell repräsentiert. Das Rahmenmodell beschreibt die Zusammenhänge und Wechselwirkungen dieser Faktoren in Zusam‐ menhang mit dem Verhalten von Kindern und Jugendlichen, in Form von direkten und indirekten Zusammenhängen sowie Moderationseffekten insbesondere der distalen Ebenen (z. B. Modellverhalten als aktivitätsbezogene erziehende Verhaltensweise ist besonders wirksam, wenn innerhalb der Familie ein hoher Zusammenhalt und eine gute Beziehungsqualität besteht). 12.3 Familie und Gesundheitsverhalten 243 <?page no="244"?> Proximal Proximal Distal Distal Unmittelbar Unmittelbar EBBVs: Energiebalance bezogene Verhaltensweisen (z.B. körperliche Aktivität) Abb. 12-1 | Ebenen des Interacting Family Environmental Subsystems (LIFES) Modell (adaptiert von Niermann et al., 2018a) Das Modell verfolgt die Idee, die verschiedenen, bisher isoliert betrachteten Einflüsse der Familie zusammenzubringen und hilft, diese besser zu verstehen. Ein Verständnis zu den unterschiedlichen Einflüssen und ihrem Zusammenwirken ist auch Vorausset‐ zung dafür, die Veränderung von Gesundheitsverhalten zu verstehen bzw. impliziert, an welchen Stellen entsprechende Verhaltensänderungsstrategien ansetzen müssen. Insbesondere lässt sich ableiten, dass der Fokus nicht nur auf der Veränderung des Verhaltens einer einzigen Person, z. B. dem Kind, liegen kann, sondern dass auch dyadische Prozesse sowie insbesondere die Familie als Ganzes mitgedacht und adressiert werden müssen. 244 12 Familie und Gesundheit - wie der familiäre Kontext unser Aktivitätsverhalten prägt <?page no="245"?> 12.4 Familie und Interventionen Gesundheitsverhalten entwickelt sich im geteilten Familienalltag und wird dort auf‐ rechterhalten. Insofern spielt die Familie auch für die Änderung gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen wie bspw. die Aufnahme und Beibehaltung regelmäßiger körperlicher Aktivität eine wichtige Rolle. Die Rolle von Familie ist hierbei allerdings ambivalent; Familie kann Verhaltensänderung durch entsprechende interpersonale Prozesse unter‐ stützen und fördern, aber auch erschweren und verhindern. Die Bedeutung der Lebens‐ welt Familie wird in Bezug auf Interventionsprogramme immer wieder betont. In Bezug auf die Behandlung von kindlichem Übergewicht gilt die „familienbasierte“ Behandlung beispielsweise als Goldstandard; was genau diese Bezeichnung jedoch impliziert, ist nicht festgelegt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, das Interventionen - auch wenn sie als familienbasierte Interventionen bezeichnet werden - überwiegend auf die Rolle der Eltern fokussieren bzw. sogar meist nur auf ein Elternteil (Skelton et al., 2023; Skelton et al., 2020). Die Beteiligung der Familie als Ganzes wird in der Praxis von Interventionen nicht umgesetzt (Skelton et al., 2023). Erstaunlich ist, dass in der Entwicklung und Um‐ setzung von Interventionen, die sich an diese Lebenswelt richten, kaum auf theoretische Modelle zurückgegriffen wird, die die besonderen Eigenschaften von Familie adressieren (z. B. Familie-als-System-Ansätze) und Ansatzpunkte für eine Gestaltung bereitstellen, die sich tatsächlich an die Familie als Ganzes richtet (Novak et al., 2022; Skelton et al., 2012). Dies gilt besonders für den Bereich der körperlichen Aktivität, hier liegen nur sehr vereinzelt Studien zu entsprechenden Interventionen vor (Rhodes et al., 2020). Insgesamt fehlt es an theoretischen Konzepten auf Familienebene, die in Zusammenhang mit körperlicher Aktivität beschrieben und systematisch in Interventionen angewandt werden. Auch die Bewertung der Wirksamkeit von Interventionsprogramme bezieht sich bisher überwiegend auf Veränderungen auf individueller Ebene (z.-B. Verbesserung des Aktivitätsverhaltens, Reduktion des BMI) und nur bei derjenigen Person (meist dem Kind), welches durch die Intervention primär angesprochen wird (Novak et al. 2022). Veränderungen in Bezug auf dyadische Prozesse oder Dynamiken auf Ebene der Familie als Ganzes werden kaum betrachtet und das obwohl sich zunehmend gezeigt hat, wie bedeutsam dies für die Gesundheits- und Bewegungsförderung wäre (Rhodes et al., 2020). 12.5 Ausblick Im Sinne der Familie-als-System-Ansätze verstandene familienbasierte Programme würden die große Chance bergen, gleichzeitig mehrere Personen aus mindestens zwei Generationen zu erreichen und deren Aktivitätsverhalten und damit deren Gesundheit positiv zu beeinflussen. Eine Intensivierung von Forschungsaktivitäten in diese Richtung sowie ein Transfer in die Praxis dürfte lohnend sein. Die Entwicklung solcher Interventionen hängt jedoch vom Verständnis der Rolle von Familie für die Entwicklung und Aufrechterhaltung gesundheitsbezogener Verhaltensmuster ab. Es müssen relevante Faktoren, Situationen und Kontexte vorteilhafter oder schädlicher 12.4 Familie und Interventionen 245 <?page no="246"?> familiärer Umgebungen identifiziert und die zugrundeliegenden Mechanismen fami‐ liärer Einflüsse verstanden werden. Nur dann können Familien darin unterstützt werden, gesundheitsfördernde Familienumgebungen zu schaffen. Hierfür sind Studien nötig, die unter Rückgriff auf passende theoretische Ansätze geeignete Konstrukte mit validierten Instrumenten untersuchen. Hierauf aufbauend gilt es Interventionen zu entwickeln, zu implementieren und zu evaluieren, welche die entsprechenden Prozesse innerhalb von Familien adressieren und verändern. Literatur Albanese, A.M., Russo, G.R., & Geller, P. A. (2019). The role of parental self-efficacy in parent and child well-being: A systematic review of associated outcomes. Child: Care, Health and Development, 45(3): 333-363. DOI: 10.1111/ cch.12661. 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Im ersten Abschnitt werden die theoretischen Grundlagen affektiver Prozesse dargestellt, wobei zwischen den Begriffen Affekt und Emotion unterschieden wird. Im zweiten Abschnitt folgt ein kurzer Überblick über Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen affektiven Prozessen und körperlicher Aktivität. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit der Emotion Freude an der Bewegung, die in der englischsprachigen Sportpsychologie eine herausragende Rolle spielt. Der vierte Abschnitt konzentriert sich auf die Antizipation von affektiven und emotionalen Zuständen und deren Rolle für das Bewegungsverhalten. Abschlie‐ ßend werden in einem Ausblick zukünftige Forschungstrends diskutiert. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1307. Lernziele ■ Beschreibung der wichtigsten theoretischen Ansätze der Emotionsforschung ■ Wiedergeben der Wechselwirkung zwischen affektiven Prozessen und körper‐ licher Aktivität ■ Verstehen der Relevanz von Freude an körperlicher Aktivität ■ Überblick über den Zusammenhang zwischen antizipierten affektiven Prozes‐ sen und körperlicher Aktivität <?page no="254"?> 13.1 Einleitung Es besteht kein Zweifel daran, dass körperliche Aktivität ein wichtiger Bestandteil eines gesunden Lebensstils ist und zahlreiche Vorteile für die allgemeine Gesundheit und das Wohlbefinden bietet. Studien zeigen, dass körperliche Aktivität dazu beitragen kann, das Risiko für chronische Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebs zu senken (Lee et al., 2012; Reiner et al., 2013). Darüber hinaus kann regelmäßige körperliche Aktivität auch kognitive Funktionen und die Stimmung verbessern (Hillman et al., 2008). Trotz dieser positiven Effekte körperlicher Aktivität fällt es vielen Menschen schwer, diese in ihren Alltag zu integrieren und beizubehalten. Beispielsweise zeigte eine Studie von Finne et al. (2019), dass eine Woche nach Beginn der Erhebung etwa 60 % der Studienteilnehmenden einen Sportkurs besuchten, während in der zwölften Woche nur noch etwa 20 % anwesend waren (siehe auch Annesi & Unruh 2004). Einen Schlüsselfaktor für die Aufrechterhaltung körperlicher Aktivität scheinen affektive Prozesse darzustellen. Affektive Erlebnisse während des Sporttreibens, wie z. B. Freude an körperlicher Aktivität, können dazu beitragen, die Motivation und das Engagement für die Aktivität aufrechtzuerhalten ( Jekauc, 2015; Rhodes & Kates, 2015). 13.1.1 Theoretische Grundlagen der affektiven Prozesse Die Debatte über die Definition von affektiven Prozessen und Emotionen hat in der Psychologie eine lange Geschichte. Eine der bekanntesten Debatten in diesem Bereich fand zwischen Richard Lazarus und Robert Zajonc statt, die unterschiedliche Ansichten über die Natur affektiver Prozesse vertraten (Forgas, 2001). Die Emotions‐ theorie von Lazarus betonte die Rolle der kognitiven Bewertung bei der Entstehung emotionaler Reaktionen (Lazarus, 2001; Lazarus & Folkman, 1984). Demnach sind Emotionen keine automatischen Reaktionen auf Stimuli, sondern entstehen durch die kognitive Bewertung einer Situation. Die Emotionstheorie von Zajonc hingegen ging davon aus, dass Emotionen automatische, angeborene Reaktionen auf Reize sind (Zajonc, 1980; Zajonc, 1984), die keiner kognitiven Bewertung bedürfen, sondern durch die direkte Wahrnehmung von Reizen entstehen. Zajonc (1984) argumentierte, dass affektive Reaktionen im Gehirn fest verdrahtet sind und ohne bewusste Erfahrung oder kognitive Verarbeitung auftreten können. Während die Debatte zwischen Lazarus und Zajonc in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts geführt wurde, wird gegenwärtig vor allem diskutiert, inwieweit Emo‐ tionen kategorial oder als Kontinuum auf verschiedenen Dimensionen beschrieben werden können. Ein Ansatz zur Definition von Emotionen basiert auf der klassischen Auffassung von Emotionen als diskrete, universelle und biologisch bedingte Zustände (Ekman, 1992). Demnach gibt es eine kleine Anzahl universeller Emotionen, die ange‐ boren, automatisch, jeweils mit einem bestimmten Gesichtsausdruck verbunden und kulturübergreifend sind (vgl. z. B. Ekman & Cordaro, 2011). Beispielsweise wird Freude mit einem Lächeln assoziiert, während Ärger häufig mit einem Stirnrunzeln und einem 254 13 Affektive Prozesse und körperliche Aktivität <?page no="255"?> zusammengebissenen Kiefer einhergeht (Ekman et al., 1980). Einige Forscherinnen und Forscher argumentieren jedoch, dass die klassische Sichtweise von Emotionen zu vereinfachend ist und dass es kaum Belege dafür gibt, dass diskrete emotionale Zustände anhand des Gesichtsausdrucks erkannt werden können (Barrett et al., 2019). Ein anderer Ansatz geht davon aus, dass emotionale Zustände durch bestimmte Dimensionen beschrieben werden können. Der wichtigste Vertreter des dimensionalen Ansatzes ist das Circumplex-Modell von Russell (1980), das zwei Dimensionen postu‐ liert: Valenz (positive vs. negative Valenz) und Erregung (hohe vs. niedrige Erregung). Nach diesem Modell können alle affektiven Zustände als Kombination dieser beiden Dimensionen dargestellt werden. Einen Ausweg aus dieser Debatte um kategoriale und dimensionale Ansätze von Emotionen könnten duale Prozesstheorien bieten (z. B. Chaiken, 1987; Kahneman, 2011; Petty & Cacioppo, 1986; Strack & Deutsch, 2004), die davon ausgehen, dass menschliches Verhalten von zwei unterschiedlichen Verarbeitungssystemen gesteuert wird: Einem automatischen bzw. impliziten System und einem kontrollierten bzw. expliziten System. Nach Baumeister et al. (2007) sind automatischer Affekt und Emotionen zwei unterschiedliche Arten affektiven Erlebens. Automatischer Affekt bezieht sich auf kurze, flüchtige affektive Reaktionen, die automatisch und unbewusst als Antwort auf Stimuli auftreten. Diese Reaktionen treten oft unmittelbar und automatisch auf und werden von der Person, die sie erlebt, möglicherweise nicht be‐ wusst wahrgenommen. Beispielsweise kann eine Person eine kurze negative affektive Reaktion erleben, wenn sie plötzlich ein lautes Geräusch hört, auch wenn sie dies nicht bewusst als Angst wahrnimmt. Im Gegensatz dazu beziehen sich Emotionen auf komplexere emotionale Erfahrungen, die ein bewusstes Erleben, eine kognitive Bewertung, einen Objektbezug (z. B. Wut auf jemanden oder Angst vor etwas) und eine Reihe physiologischer und verhaltensbezogener Reaktionen beinhalten. Emotionen werden typischerweise durch einen bestimmten Reiz ausgelöst, halten in der Regel länger an als automatischer Affekt und werden von einer kognitiven Bewertung der Bedeutung der affektiven Erfahrung begleitet. Beispielsweise kann sich eine Person, die eine Emotion wie Wut erlebt, ihrer physiologischen Reaktionen wie einer erhöhten Herzfrequenz und Muskelspannung bewusst sein und die Ursache und Intensität ihrer Wut bewusst bewerten (Baumeister et al., 2007). Das Verständnis der Unterschiede zwischen automatischem Affekt und Emotionen ist wichtig, um zu verstehen, wie affektive Prozesse das Verhalten beeinflussen. Automatischer Affekt ist zwar weniger bewusst als Emotionen, spielt aber dennoch eine wichtige Rolle bei der Verhaltenssteuerung, da er ein unmittelbares Feedback auf Stimuli liefert. Im Zusammenhang mit körperlicher Aktivität wurde beispielsweise die Rolle des automatischen Affekts bei der Entstehung automatischer Prozesse wie Gewohnheiten untersucht (vgl. Weyland et al., 2022). Emotionen hingegen bieten eine komplexere und nuanciertere emotionale Erfahrung, die die Intentionsbildung beeinflussen und das Verhalten über einen längeren Zeitraum steuern kann (Rhodes & Kates, 2015). Im Zusammenhang mit körperlicher Aktivität könnte dies eine spezifische 13.1 Einleitung 255 <?page no="256"?> Emotion sein, wie z. B. Freude an der körperlichen Aktivität (Chen et al., 2021; Kimiecik & Harris, 1996) oder antizipierte Reue (Feil et al., 2023; Abraham & Sheeran, 2004). Wissen | Emotionen In der Emotionstheorie stehen sich historisch die Ansichten von Lazarus, der Emo‐ tionen als Ergebnis kognitiver Bewertung sieht, und Zajonc, der sie als angeborene, automatische Reaktionen betrachtet, gegenüber. Moderne Ansätze differenzieren Emotionen entweder als diskrete Zustände oder betrachten sie entlang der Di‐ mensionen von Valenz und Erregung. Duale Prozesstheorien, die menschliches Verhalten als Interaktion zwischen automatischen und kontrollierten Systemen verstehen, erklären die Unterscheidung zwischen dimensional beschreibbaren, flüchtigen Affekten und eher kategorial erfassbaren, komplexeren, bewusst erleb‐ ten Emotionen, die beide für die Steuerung des Verhaltens, insbesondere im Kontext körperlicher Aktivität, von Bedeutung sind. 13.1.2 Empirische Befunde zum Zusammenhang zwischen affektiven Prozessen und körperlicher Aktivität Der Zusammenhang zwischen affektiven Prozessen und körperlicher Aktivität kann in beide Richtungen verlaufen. Nicht nur kann körperliche Aktivität affektive Prozesse wie den automatischen Affekt oder Emotionen beeinflussen, sondern auch umgekehrt: Automatischer Affekt und Emotionen, die sich auf die körperliche Aktivität beziehen, können mit zukünftigem Aktivitätsverhalten zusammenhängen. Auch eine positive Stimmung, die uns vielleicht ohnehin schon durch den Tag begleitet, kann dazu führen, dass wir eher körperlicher Aktivität nachgehen. 13.1.2.1 Einfluss körperlicher Aktivität auf affektive Prozesse Die komplexe Wechselwirkung zwischen affektiven Prozessen und körperlicher Ak‐ tivität wurde in zahlreichen Studien untersucht. Was die Frage angeht, wie sich körperliche Aktivität auf affektive Prozesse auswirkt, wurde über lange Zeit eine eher einseitige Sichtweise wiedergegeben, der zufolge körperliche Aktivität mehrheit‐ lich dazu beiträgt, dass Personen sich besser fühlen (z. B. Morgan, 1985). In einer narrativen Übersichtsarbeit arbeiten Ekkekakis und Brand (2019) heraus, dass es einige Schwachstellen dieses Forschungsstromes gab. Zum Beispiel ist das häufig verwendete Prä-Post-Design in diesem Zusammenhang kritisch zu sehen, da es nicht berücksichtigt, welchen Schwankungen die affektiven Prozesse zwischen diesen beiden Messzeitpunkten ausgesetzt waren. Zudem zeigt sich in der Tat das als affective rebound (Ekkekakis et al., 2011) bezeichnete Phänomen, wonach sich fast alle Personen nach der körperlichen Aktivität besser fühlen als vorher - doch wenn dies lediglich 256 13 Affektive Prozesse und körperliche Aktivität <?page no="257"?> der Fall ist, weil die möglicherweise viel zu anstrengende Aktivität endlich vorüber ist, so ist die Aussagekraft dieses Affekts zu diskutieren. Einen differenzierteren Ansatz wählte die Arbeitsgruppe um den Affektforscher Panteleimon Ekkekakis und legte dabei die dual-mode theory (Ekkekakis, 2003) als theoretischen Ansatz zugrunde. Diese Theorie besagt, dass die affektive Reaktion auf körperliche Aktivität vor allem an der ventilatorischen Schwelle, also bei moderater Beanspruchungsintensität, zwischen Individuen variiert. Kognitive Prozesse werden dann ins Erleben des Affekts miteinbezogen, was zum Beispiel bedeuten kann, dass eine Person die unangenehme körperliche Belastung positiv umdeutet und sich sagt, dass sie diesen Zustand der Anstrengung gut findet. Möglich ist hierbei aber auch, dass sie mit einer Abnahme positiven Affekts reagiert, weil sie die physiologischen Veränderungen als negativ bewertet. Der Theorie folgend sind diese Variationen unter- und oberhalb der ventilatorischen Schwelle geringer, weil kognitive Prozesse dann weniger wichtig sind und sich die affektiven Reaktionen in erster Linie durch Interozeption erklären lassen, das bedeutet durch die sensorische Wahrnehmung von Körperreaktionen. Un‐ terhalb, also bei geringer Beanspruchungsintensität, fühlen sich die meisten Individuen gut, da die Rückmeldungen des Körpers, etwa ein leichtes Schwitzen, als angenehm wahrgenommen werden - oberhalb hingegen nimmt der positive Affekt mehrheitlich ab, da hier die sensorischen Warnsignale des eigenen Körpers wie extrem erhöhter Puls die affektive Reaktion bestimmen, um auf körperliche Überlastung hinzudeuten (siehe auch Parfitt & Hughes, 2009, für eine Zusammenfassung der empirischen Evidenz). Tatsächlich zeigte sich in einer Studie von Ekkekakis et al. (2008), dass bei Laufbandeinheiten mit einer Beanspruchung oberhalb der ventilatorischen Schwelle die Valenz bei 80 % der Teilnehmenden um durchschnittlich etwa 3 Punkte auf einer 11-stufigen Skala abnahm. Aus einer gesundheitsorientierten Perspektive ist es ferner relevant, zu untersuchen, wie sich körperliche Aktivität nicht nur auf den unmittelbaren automatischen Affekt, sondern auch auf die überdauernde affektive Befindlichkeit auswirkt. In einer Zusam‐ menschau der Literatur resümieren Penedo und Dahn (2005), dass körperliche Aktivität die Stimmung verbessern und Symptome von Depression und Angst verringern kann, indem sich beispielsweise die Erwartung an die eigene Selbstwirksamkeit erhöht oder es zu einer Verbesserung der körperlichen Funktionen kommt. 13.1.2.2 Einfluss affektiver Prozesse auf körperliche Aktivität Um die Gesundheit zu fördern, ist es außerdem wichtig, die andere Richtung des Zusammenhangs zwischen affektiven Prozessen und körperlicher Aktivität zu unter‐ suchen, also herauszufinden, wie sich affektive Prozesse auf zukünftige körperliche Aktivität auswirken. In einer Übersichtsarbeit kommen Rhodes und Kates (2015) zu dem Schluss, dass es insbesondere die affektive Reaktion während und weniger jene unmittelbar nach der körperlichen Aktivität ist, die mit zukünftiger Aktivität zusam‐ menhängt. Stevens et al. (2020) ordnen diesen Befund nicht nur in den Zusammenhang 13.1 Einleitung 257 <?page no="258"?> des psychologischen Hedonismus ein, sondern ergänzen zudem die Studienlage in ihrem Überblickswerk um zwei Studien, die das sogenannte Ecological Momentary Assessment (EMA) angewendet haben. So wurden beispielsweise die 59 Probandinnen und Probanden in der Studie von Williams et al. (2016) über einen Interventionszeit‐ raum von sechs Monaten mittels eines elektronischen Erfassungsgerätes nach ihrer affektiven Reaktion gefragt, und zwar mehrfach während und nachdem sie körperlich aktiv waren. Die Intervention in dieser Studie bestand darin, dass der einen Gruppe eine vorgegebene Intensität beim Laufen empfohlen wurde, während die andere Gruppe die Intensität des Laufens selbst auswählen sollte. Es zeigten sich nur geringfügige Unterschiede zwischen selbstgewählter und vorgegebener Intensität in Bezug auf die affektive Reaktion während des Laufens. Diese wiederum hing positiv mit zukünftiger körperlicher Aktivität zusammen. Für die affektive Reaktion nach der körperlichen Aktivität zeigte sich dieser Mediationseffekt hingegen nicht. Wenn es um die Erklärung des Zusammenhangs zwischen affektiven Prozessen und zukünftiger körperlicher Aktivität geht, könnte das Konstrukt der Gewohnheit eine interessante Rolle spielen (siehe auch Strobach et al., 2020). In einer Längsschnittstudie im Hochschulsport zeigte sich, dass Personen, die im Schnitt eine positivere affektive Reaktion unmittelbar nach einem Sportkurs aufzeigten, auch höhere Werte hinsichtlich ihrer Gewohnheit, diesen Kurs zu besuchen, angaben (Weyland et al., 2020). Der wissenschaftlichen Definition von Gewohnheiten folgend ist ein zentrales Element von Gewohnheiten die Automatizität (Gardner et al., 2012), also zum Beispiel im Sinne einer automatisierten Entscheidung, einen Sportkurs zu besuchen. Die Entschei‐ dung könnte demnach leichter fallen, weil die Auseinandersetzung mit dem „inneren Schweinehund“ umgangen werden kann, was positiv mit der Ausübung zukünftiger körperlicher Aktivität zusammenhängen könnte (Phillips & Gardner, 2016). Doch nicht nur die auf die Aktivität bezogene affektive Reaktion kann mit zukünf‐ tiger körperlicher Aktivität zusammenhängen. Auch für die generelle Stimmung, in der sich eine Person befindet, zeigten sich Effekte in einer EMA-Studie: Niermann et al. (2016) erhoben an fünf Wochentagen mittels Smartphones die nachmittägliche Stim‐ mung ihrer 89 Probandinnen und Probanden und fanden heraus, dass sie nachfolgend eher körperlich aktiv waren, wenn sie sich in einer positiveren Stimmung befanden. Wissen | Positive affektive Prozesse Aus der Wechselwirkung zwischen affektiven Prozessen und körperlicher Aktivität lassen sich wichtige Erkenntnisse für die Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen sowie für die Förderung von Gesundheitsverhalten ableiten. So können beispielsweise Interventionen entwickelt werden, die durch eine gezielte Förderung positiver affektiver Prozesse während der körperlichen Aktivität dazu beitragen, einen gesunden, aktiven Lebensstil zu entwickeln und beizubehalten. 258 13 Affektive Prozesse und körperliche Aktivität <?page no="259"?> Basierend auf der dual-mode theory (Ekkekakis, 2003) könnte es gerade bei körperlicher Aktivität mit moderater Intensität vielversprechend sein, die Fähigkeit zur kognitiven Neubewertung zu trainieren, da bewertende Gedanken hier die affektive Reaktion mitbestimmen. Einen anderen Ansatz liefert die Studie von Wienke und Jekauc (2016), in der vier Faktoren identifiziert wurden, die zu positiven affektiven Reaktionen bei körperlicher Aktivität beitragen können: ■ Kompetenzerleben ■ soziale Interaktion ■ Abwechslung ■ körperliche Auslastung Zwar erweist es sich als schwierig, auf Basis dieser Faktoren effektive Interventionen zu konzipieren (vgl. Weyland et al., 2022), doch umso höher ist der Bedarf an Forschung, die sich dieser Aufgabe annimmt. 13.1.3 Freude an körperlicher Aktivität Die Freude sich zu bewegen gilt als eine zentrale Determinante für die langfristige Ausübung von körperlicher Aktivität (Rhodes & Kates, 2015). In der englischsprachigen Literatur wurde dazu viel geforscht, wobei sich dort der Begriff enjoyment etabliert hat (McCarthy et al., 2008; Scanlan, Carpenter, Lobel, et al., 1993). Definition | Obwohl es unterschiedliche Definitionen zur Freude an körperlicher Aktivität gibt (Kimiecik & Harris, 1996; Wankel, 1997), wird Freude meist als eine positive Emotion gesehen, die mit positiven Gefühlszuständen wie Spaß und Vergnügen zusammenhängt (Chen et al., 2021; McCarthy et al., 2008). Theoretische Modelle zur Erklärung von körperlicher Aktivität, bei denen die Freude an körperlicher Aktivität eine wichtige Rolle spielt, sind das Sport Commitment Model (Scanlan, Carpenter, Simons, et al., 1993) oder auch das Weiss-Harter-Modell (Weiss, 2000). Das primäre Ziel des Sport Commitment Models ist es zu erklären, unter welchen Umständen Personen sehr wahrscheinlich danach streben, körperlich aktiv zu sein (Scanlan, Carpenter, Simons, et al., 1993). Laut dem Modell ist die Freude an körperlicher Aktivität neben vier anderen Faktoren (d. h., Attraktivität von alternativen Verhaltensweisen, persönliches Investment, soziale Zwänge, Möglichkeiten durch die Ausübung des Verhaltens) eine zentrale Determinante des Aktivitätsverhaltens. Je höher die Freude an körperlicher Aktivität, desto höher ist auch das Streben, das Verhalten langfristig zu zeigen. Dabei kann sich dieser Zusammenhang auf körperliche Aktivität im Allgemeinen, aber auch auf die Ausübung einer spezifischen Sportart beziehen. 13.1 Einleitung 259 <?page no="260"?> Das Weiss-Harter-Modell hat theoretische Annahmen des Selbstwertmodells von Harter (1987) auf den Bereich körperliche Aktivität übertragen und geht dabei insbesondere auf Kinder und Jugendliche ein (Weiss, 2000). Eine zentrale Annahme des Modells ist, dass sowohl die wahrgenommene Kompetenz als auch die wahrgenom‐ mene soziale Unterstützung das Selbstwertgefühl beeinflussen, welches sich wiederum auf die Freude an körperlicher Aktivität und auf die körperliche Aktivität an sich auswirkt. Zudem wird ein direkter Einfluss der Freude an körperlicher Aktivität auf die körperliche Aktivität postuliert. Interessanterweise konnte bei der empirischen Überprüfung dieses Modells gezeigt werden, dass es einen starken direkten Effekt der wahrgenommenen sozialen Unterstützung sowohl auf die Freude an körperlicher Aktivität (r = .76 - .82) als auch auf die körperliche Aktivität an sich (r = .52 - .87) gibt (Fritsch et al., 2023; Jekauc et al., 2019; siehe Abbildung-13-1). Körperliche Aktivität Wahrgenommene Kompetenz Selbstwertgefühl Soziale Unterstützung Freude Abb. 13-1 | Modifiziertes Weiß-Harter-Modell nach Jekauc et al. (2019) Ein Messinstrument, welches häufig zur Messung der Freude an körperlicher Aktivität verwendet wird, ist die Physical Activity Enjoyment Scale (PACES), die zunächst von Kendzierski und DeCarlo (1991) entwickelt, jedoch in mehreren Versionen angepasst worden ist (z. B. Motl et al., 2001; Mullen et al., 2011; Raedeke, 2007). Auch in deutscher Sprache wurde dieser Fragebogen sowohl für Kinder und Jugendliche ( Jekauc et al., 2012) als auch für Erwachsene ( Jekauc et al., 2020) validiert. Es ist jedoch anzumerken, dass bei der Originalform häufig Dimensionalitätsprobleme festgestellt wurden, wie z. B. die Dominanz von zwei Faktoren, einer für positiv formulierte und einer für negativ formulierte Items (z. B. Jekauc et al., 2020). Aus diesem Grund wurde eine Kurzform (PACES-S) mit nur vier Items entwickelt, die nur die Items beinhaltet, welche explizit auf das subjektive Erleben von Freude an körperlicher Aktivität abzielen (z. B. „Körperliche Aktivität macht mir Spaß.“; Chen et al., 2021). Auch diese Kurzform wurde in deutscher Sprache sowohl für Kinder und Jugendliche (Chen et al., 2021) als auch für Erwachsene (Fritsch et al., 2022) validiert, welches sich anhand der internen Konsistenz und der Retest-Reliabilität als reliabel erwiesen hat. Zudem ist bei beiden Altersgruppen 260 13 Affektive Prozesse und körperliche Aktivität <?page no="261"?> eine Korrelation von etwa r-= 0.40 des Messinstruments mit tatsächlicher körperlicher Aktivität festzustellen, was für die kriterienbezogene Validität des Messinstruments spricht. Die Relevanz der Freude an körperlicher Aktivität zeigt sich in Übersichtsarbeiten sowohl bei Erwachsenen (Rhodes et al., 2009) als auch bei Kindern und Jugendlichen (Nasuti & Rhodes, 2013). Dabei ist jedoch zu beachten, dass sich beide Übersichts‐ arbeiten auf affektive Bewertungen (affective judgements) bezogen haben, wobei die Freude an körperlicher Aktivität dazu gezählt wurde. Die Übersichtsarbeit zu Erwachsenen konnte eine durchschnittliche Korrelation von affektiven Bewertungen mit körperlicher Aktivität von r-= 0.42 feststellen. In der Übersichtsarbeit zu Kindern und Jugendlichen zeigte sich eine durchschnittliche Korrelation zwischen affektiven Bewertungen und körperlicher Aktivität von r = 0.26. Hervorzuheben sind neben diesen querschnittlichen Befunden auch insbesondere solche Studien, die ein längs‐ schnittliches Design angewendet haben. So wurde zum Beispiel in einer Studie mit drei Messzeitpunkten, die mit einem Abstand von jeweils sechs Monaten stattfanden, die Freude an körperlicher Aktivität, die Selbstwirksamkeit und körperliche Aktivität bei Erwachsenen gemessen (Lewis et al., 2016). Die Ergebnisse legen nahe, dass die Freude an körperlicher Aktivität ein stärkerer Prädiktor für die zukünftige körperliche Aktivität als die Selbstwirksamkeit der Personen war. Zudem konnte gezeigt werden, dass die Selbstwirksamkeit den Effekt von Freude an körperlicher Aktivität auf die körperliche Aktivität mediiert hat. Laut den Autorinnen und Autoren der Studie könnte eine mögliche Erklärung dafür sein, dass Personen, die eine größere Freude an körperlicher Aktivität haben, eher dazu gewillt sind, trotz potenzieller Barrieren körperlich aktiv zu sein. Eine andere Studie konzentrierte sich auf Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren, wobei es insgesamt sechs Messzeitpunkte über einen Zeitraum von drei Jahren gab (Haas et al., 2021). Bei jedem der Messzeitpunkte wurde unter anderem die PACES verwendet sowie körperliche Aktivität mit einem Akzelerometer über sieben Tage gemessen. Während sowohl die Freude an körperlicher Aktivität als auch die körperliche Aktivität mit der Zeit zurückgegangen sind, konnte auch gezeigt werden, dass der Rückgang an körperlicher Aktivität zu den Zeitpunkten geringer war, an denen die Kinder eine höhere Freude an körperlicher Aktivität berichtet haben. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Erleben von Freude an Bewegung einen wichtigen Puffer gegen den Rückgang an körperlicher Aktivität darstellen kann, der oft im Jugendalter zu beobachten ist. 13.1.4 Antizipation von affektiven und emotionalen Prozessen hinsichtlich zukünftiger körperlicher Aktivität Wie schon in den vorherigen Abschnitten dargelegt, scheinen positive affektive Erfahrungen während der körperlichen Aktivität, zum Beispiel in Form von Freude, das zukünftige Aktivitätsverhalten zu fördern. Zwischen dem Erleben dieser posi‐ tiven affektiven Erfahrungen und dem Zeitpunkt der nächsten körperlichen Aktivität 13.1 Einleitung 261 <?page no="262"?> vergehen allerdings meistens einige Tage oder sogar Wochen. Folglich muss eine neue Entscheidung für das Aktivitätsverhalten getroffen werden. Bei diesem Entschei‐ dungsprozess versucht das Gehirn, bewusst oder unbewusst, vorherzusehen, welche positiven und negativen Konsequenzen die Entscheidung haben könnte (Hohwy, 2013). Diese Konsequenzen können auch emotionaler Natur sein (Hoemann et al., 2017). So könnte eine Person beispielsweise antizipieren, dass sie bei der Teilnahme am nächsten Fitnesskurs enttäuscht und wütend über ihre eigene schlechte Leistung sein wird. Eine andere Person könnte antizipieren, dass sie viel Freude und Zufrieden‐ heit bei der nächsten Trainingseinheit erleben wird. Die genannten affektiven und emotionalen Zustände werden also erst in der Zukunft in Bezug auf ein bestimmtes Ereignis erwartet (Baumeister et al., 2007). Bisherige theoretische Ansätze gehen davon aus, dass antizipierte affektive und emotionale Zustände eher reflektiven Prozessen unterliegen (Baumeister et al., 2007; Williams et al., 2019). Die Antizipation affektiver und emotionaler Zustände hinsichtlich zukünftiger körperlicher Aktivität könnte daher den Entscheidungsprozess für oder gegen das Aktivitätsverhalten maßgeblich beeinflussen. Einzelne theoretische Modelle ziehen antizipierte affektive und emotionale Zustände heran, um Verhalten zu erklären. Beispielsweise gelten in der Feedbacktheorie der Emo‐ tionen von Baumeister et al. (2007) Emotionen als Feedback bezüglich eines bestimmten Verhaltens. Auf Basis dieser Erfahrung werden antizipierte Emotionen gebildet, die das zukünftige Verhalten leiten. Einen ähnlichen Erklärungsansatz verfolgten Mellers und McGraw (2001) in ihrer Theorie zu antizipiertem Vergnügen, in der sie davon ausgehen, dass Entscheidungen davon abhängen, ob diese mit angenehmen oder unangenehmen Konsequenzen assoziiert werden. Feil und Kollegen (2022) schlugen ein Modell vor, das die Entstehung von antizipierten Emotionen und deren Einfluss auf die körperliche Aktivität postuliert (siehe Abbildung 13-2). Spezifische Erwartung hinsichtlich der nächsten Aktivität Erwartungen bezüglich des Aktivitätsverhaltens Bewertung Antizipierte Emotionen Bisherige Erfahrungen Determinanten des Verhaltens Körperliche Aktivität Abb. 13-2 | Die Rolle antizipierter Emotionen im Kontext körperlicher Aktivität (Feil et al., 2022, modifiziert) 262 13 Affektive Prozesse und körperliche Aktivität <?page no="263"?> Wissen | Erwartungen und antizipierte Emotionen Generelle Erwartungen bezüglich körperlicher Aktivität, aber auch spezifische Erwartungen bezüglich der unmittelbar nächsten Aktivität spielen eine wichtige Rolle. Diese Erwartungen werden vom Individuum bewertet, woraus sich antizi‐ pierte Emotionen bilden können. Diese könnten Determinanten des Aktivitätsver‐ haltens (z. B. die Bildung von Intentionen) oder die körperliche Aktivität direkt beeinflussen (Feil et al., 2023). Beispielsweise könnten positive antizipierte Emotionen wie Freude oder Stolz die Intention steigern, körperlich aktiv zu werden. Obwohl sich bisher nur eine geringe Anzahl an Studien mit antizipierten affektiven und emotionalen Zuständen im Kontext körperlicher Aktivität befasst haben, unterstützen die Ergebnisse einiger Studien diese Annahmen. Es zeigte sich zum Beispiel, dass positive antizipierte affektive und emotionale Zustände positiv mit der Intention, körperlich aktiv zu sein, einhergingen ( Jackson et al., 2003; Kwan, 2010; Wang, 2011) und negative antizipierte affektive und emotionale Zustände negativ (Kwan, 2010). Bezieht sich der antizipierte affektive oder emotionale Zustand auf das Verpassen einer Möglichkeit körperlich aktiv zu sein (Antizipation von Reue bei fehlender Teilnahme), scheint dies allerdings trotz der negativen Valenz des antizipierten Zustands einen positiven Effekt auf die Intention zu haben (Abraham & Sheeran, 2003, 2004; Wang, 2011). Andere Studien befassten sich mit der Beziehung zwischen antizipierten affektiven und emotionalen Zuständen und der tatsächlichen affektiven Erfahrung. Es zeigte sich, dass es trotz einer generell positiven Beziehung zwischen antizipierten und tatsächlich erlebten affektiven und emotionalen Zuständen häufig einen Vorhersagefehler gibt (Aitken et al., 2021; Loehr & Baldwin, 2014; Ruby et al., 2011), der eine Differenz zwi‐ schen den antizipierten affektiven und emotionalen Zuständen und den tatsächlichen affektiven Erfahrungen beschreibt (Wilson & Gilbert, 2003). Dies führte beispielsweise dazu, dass Probandinnen und Probanden die tatsächlich erlebte Freude an der körper‐ lichen Aktivität unterschätzten (Ruby et al., 2011), was die Entscheidungsfindung für oder gegen die zukünftige Teilnahme an körperlicher Aktivität negativ beeinflussen könnte. Ob antizipierte affektive und emotionale Zustände das Aktivitätsverhalten über einen längeren Zeitraum vorhersagen, war die zugrunde liegende Forschungsfrage von Dunton und Vaughan (2008), die eine Längsschnittstudie durchführten. Die Probandin‐ nen und Probanden wurden hinsichtlich ihrer antizipierten Emotionen befragt, welche sich auf die Teilnahme an körperlicher Aktivität in den nächsten 90 Tagen bezogen. Es zeigte sich, dass sowohl bei zuvor körperlich aktiven als auch bei inaktiven Personen positive, nicht aber negative antizipierte Emotionen regelmäßige körperliche Aktivität vorhersagten. Dieses Ergebnis wird von einer weiteren Studie gestützt, bei der ein positiver Zusammenhang zwischen positiven antizipierten affektiven Zuständen und 13.1 Einleitung 263 <?page no="264"?> moderatem bis anstrengendem körperlichen Aktivitätsverhalten vier Wochen später zu finden war (Kwan, 2010). Es stellt sich die Frage, inwiefern der gezeigte Zusammenhang zwischen antizipier‐ ten affektiven und emotionalen Zuständen und körperlicher Aktivität oder deren Determinanten für die Gesundheitsförderung genutzt werden kann. Hierzu können Interventionsstudien beitragen, die entweder die Antizipation positiver affektiver oder emotionaler Zustände fördern (z. B. durch Informationsinput oder Reflexionen) oder in denen die körperliche Aktivität so gestaltet wird, dass in der Folge positivere affektive und emotionale Zustände antizipiert werden. In einer Studie von Kwan et al. (2017) wurden die Teilnehmenden randomisiert entweder einer von zwei Interven‐ tionsgruppen (positive und negative Affektmanipulation) oder einer Kontrollgruppe ohne Manipulation zugeordnet. Während eine Interventionsgruppe darüber informiert wurde, dass ihr Trainingsplan zu positiven affektiven Reaktionen führen würde, wurde die andere Interventionsgruppe darüber informiert, dass ihr Trainingsplan zu negativen affektiven Reaktionen führen würde. Die Ergebnisse zeigten, dass die positive antizipierte Affektmanipulation im Vergleich zur negativen antizipierten Affektbedingung einen positiven Effekt auf die während der Übung ermittelte affektive Valenz und Erregung hatte, jedoch nicht im Vergleich zur Kontrollgruppe. Darüber hinaus wurde kein Effekt des antizipierten Affekts auf das Aktivitätsverhalten sieben Tage später gefunden. Eine weitere Möglichkeit könnte die Reflexion der positiven, erlebten affektiven Reaktionen im Anschluss an die Trainingseinheit darstellen, um negative affektive Assoziationen zu überschreiben. Neben der Förderung von positiven antizipierten affektiven und emotionalen Zuständen weisen Interventionen auch darauf hin, dass der Aufbau eines Workouts für die Antizipation bestimmter Emotionen wie beispielsweise Freude relevant sein kann. So zeigten erste Studienergebnisse, dass die Intensität des Workouts (Zenko et al., 2016) und die Reihenfolge von Übungen die antizipierte Freude beeinflussen könnten (Ruby et al., 2011). 13.1.5 Ausblick und Fazit Wie einige der in diesem Kapitel vorgestellten Studien zeigen, spielen affektive Prozesse eine entscheidende Rolle bei der Verhaltensregulation. Zukünftige Forschung wird sich vor allem auf zwei Aspekte konzentrieren. Erstens ist zu berücksichtigen, dass affektive Prozesse sehr dynamisch sind und innerhalb relativ kurzer Zeiträume erheblichen Schwankungen unterliegen. Die bisherige Forschung basiert zumeist auf Querschnitts- oder Längsschnittstudien mit wenigen Messzeitpunkten, die die Dynamik affektiver Prozesse nicht adäquat erfassen. Ein Trend in der zukünftigen Forschung wird wahrscheinlich die Erfassung affektiver Prozesse durch mobile Mes‐ sungen sein, wie z. B. der Ecological Momentary Assessment Ansatz, der es ermöglicht, Daten zur körperlichen Aktivität, zu affektiven Prozessen und anderen Determinanten körperlicher Aktivität (z. B. Intention) mehrmals am Tag und während der körperlichen 264 13 Affektive Prozesse und körperliche Aktivität <?page no="265"?> Aktivität zu erheben. Mit diesem Ansatz kann das komplexe Zusammenspiel der Determinanten körperlicher Aktivität besser erfasst werden. Zweitens steckt die Forschung zu wirksamen Ansätzen zur Förderung positiver af‐ fektiver Reaktionen auf körperliche Aktivität noch in den Kinderschuhen. Interventio‐ nen können sowohl auf situative Faktoren abzielen, wie z. B. die Förderung der erlebten Kompetenz der Teilnehmenden oder der sozialen Interaktion in der Trainingsgruppe (siehe Wienke & Jekauc, 2016), als auch auf persönliche Faktoren, wie z. B. Bildung der Kompetenzen der Übungsleitenden (siehe Strauch et al., 2018). Die Entwicklung wirksamer Interventionen, die positive affektive Reaktionen auf körperliche Aktivität fördern, stellt jedoch eine Herausforderung dar (siehe z. B. Weyland et al., 2022). Ein möglicher Ansatz könnte es sein, Übungsleitenden hinsichtlich der Förderung positiver affektiver Reaktionen zu schulen, z. B. Schulung der Motivationskompetenz, der Organisationskompetenz oder Adaptationskompetenz (siehe dazu Strauch et al., 2018, 2019). Möglicherweise bieten auch digitale Medien eine Möglichkeit, die Ent‐ wicklung antizipierter positiver Emotionen zu fördern. Zukünftige Forschung wird sich sicherlich mit diesen beiden Aspekten befassen, indem sie die mobile und flexible Bewertung affektiver Prozesse und die Entwicklung effektiver Interventionen unter Verwendung digitaler Medien in Betracht zieht. Frage an die Praxis � „Welche Rolle spielen positiver Affekt bzw. positive Emotionen der Sporttrei‐ benden für die Teilnahme am Sportkurs? “ → „Aus meiner Sicht sind positive Emotionen essenziell für das Sporttreiben. Sie sorgen dafür, dass sich die Teilnehmenden beim Sport wohl fühlen, Spaß haben und motiviert sind. Im Idealfall hält dies auch nach dem Sport an, so dass sich die Teilnehmenden gerne an den Kurs erinnern. In der Hoffnung, dass es auch beim nächsten Kurs so sein wird, nehmen sie dann wieder teil. Wenn sie also häufig positive Emotionen erleben, ist es wahrscheinlicher, dass sie regelmäßig und langfristig am Kurs teilnehmen.“ (Übungsleiterin) Literatur Abraham, C., & Sheeran, P. (2003). Acting on intentions: The role of anticipated regret. British Journal of Social Psychology, 42(4), 495-511. Abraham, C., & Sheeran, P. (2004). Deciding to exercise: The role of anticipated regret. 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Klassische sozial-kognitive Modelle der Verhaltensände‐ rung erklären das körperliche Aktivitätsverhalten überwiegend anhand reflektiver Entscheidungsprozess (explizite Prozesse) und vernachlässigen die Rolle automati‐ scher Prozesse (implizite Prozesse). Das Physical Activity Adoption and Maintenance (PAAM) Modell begegnet dieser Kritik und erklärt die Aufnahme und Aufrechterhal‐ tung körperlicher Aktivität vor dem Hintergrund dualer Prozesstheorien sowohl anhand expliziter als auch impliziter Prozesse. Zu den expliziten Prozessen, die eher reflektiv sind auf kognitive Ressourcen zurückgreifen, gehören in diesem Modell die Intention, die Trait-Selbstregulation und die exekutiven Funktionen. Zu den impliziten Prozessen, die eher automatisch und schnell ablaufen, gehören der Affekt und die Gewohnheit. In diesem Kapitel wird das Zusammenspiel dieser expliziten und imipliziten Prozesse bei der Aufnahme und Aufrechterhaltung regelmäßiger körperlicher Aktivität erläutert und Chance und Grenzen des Modells diskutiert. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1308. Lernziele ■ Den Mehrwert dualer Prozesstheorien gegenüber klassischen sozial-kogniti‐ ven Modellen des Gesundheitsverhaltens beschreiben. ■ Explizite und implizite Prozesse der Verhaltenssteuerung unterscheiden. ■ Die expliziten und impliziten Prozesse des PAAM-Modells erklären. ■ Den vielfältigen Beitrag von Affekten für das regelmäßigekörperliche Aktivi‐ tätsverhalten beschreiben. ■ Die Prozesse der Aufnahme und Aufrechterhaltung des körperlichen Aktivi‐ tätsverhaltens im Rahmen des PAAM-Modells erläutern. <?page no="274"?> 14.1 Einleitung Regelmäßige körperliche Aktivität ist mit diversen positiven Auswirkungen auf die Gesundheit verbunden, wie u. a. der Senkung des Erkrankungsrisikos an nicht übertragbaren Krankheiten (z. B. Herz-Kreislauf-, Stoffwechsel-, neurologische und psychische Erkrankungen). Dennoch sind 36,5 % der Menschen in den westlichen Industrienationen nicht ausreichend körperlich aktiv, d. h. sie erreichen nicht die Bewegungsempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (Guthold et al., 2018). Darüber hinaus zeigen zahlreiche Studien, dass Menschen zwar häufig motiviert sind, körperlich aktiv zu sein, aber nicht in der Lage sind, diese Intentionen nachhaltig umzusetzen. Diese Diskrepanz zwischen Motivation und Verhalten wird als Intentions- Verhaltens-Lücke bezeichnet (Englert et al., 2023; Sheeran, 2002). Zur Erklärung des körperlichen Aktivitätsverhaltens wurde in den letzten Jahren eine Vielzahl an theoretischen Modellen entwickelt (Pfeffer & Wegner, 2020), die sich häufig primär auf die Identifikation von Prädiktoren der Intentionsbildung kon‐ zentrierten und darüber hinaus nur einen Bruchteil der Verhaltensvarianz aufklären können ( Jekauc et al., 2015). Ein Grund hierfür könnte die Fokussierung auf sozialkognitive Konstrukte sein (z. B. Selbstwirksamkeitserwartung, Handlungsergebniser‐ wartungen, Vulnerabilität), welche beispielsweise die Intentionsbildung erklären und überwiegend auf expliziten Entscheidungsprozessen beruhen. Affektive (z. B. affektive Reaktionen) sowie implizite Prozesse (z. B. Gewohnheiten) wurden in früheren theo‐ retischen Ansätzen nur selten berücksichtigt, obwohl sie eine bedeutende Rolle bei der Verhaltenssteuerung spielen (Fuchs et al., 2011). 14.2 Duale Prozesstheorien Um der Kritik an früheren Ansätzen zu begegnen, wurden in den letzten Jahren im Kontext des körperlichen Aktivitätsverhaltens zunehmend Theorien und Modelle auf der Basis von dualen Prozesstheorien entwickelt (Rhodes et al., 2019). Hierzu zählen neben dem Physical Activity Adoption and Maintenance (PAAM) Modell (Strobach et al., 2020) u. a. auch die Affective-Reflective Theory of Physical Inactivity and Exercise (ART; Brand & Ekkekakis, 2018) und der Multi-Process Action Control (M-PAC) Approach (Rhodes, 2021). Wissen | Explizite und implizite Prozesse Diese Modelle gehen davon aus, dass körperliche Aktivität durch zwei Informati‐ onsverarbeitungsprozesse gesteuert wird, nämlich durch explizite und implizite Prozesse. Explizite Prozesse (wie sie z. B. vor allem in sozial-kognitiven Modellen thematisiert werden) hängen von der Arbeitsgedächtniskapazität ab, sind reflektiv, langsam und eher anstrengend. Implizite Prozesse hingegen laufen automatisch, schnell, kognitiv weniger anstrengend und damit ressourcensparender ab. 274 14 Das Physical Activity Adoption and Maintenance (PAAM) Modell <?page no="275"?> In diesem Kapitel werden die zentralen Annahmen des PAAM-Modells beschrieben. 14.3 Das PAAM-Modell Das PAAM-Modell (Abb. 14-1) erklärt die Aufnahme (adoption) und Aufrechterhaltung (maintenance) körperlicher Aktivität und wird mit seinen Kernannahmen in den nächsten Abschnitten genauer beschrieben, um abschließend die Chancen und die Grenzen des Modells zu beleuchten. 14.3.1 Explizite Prozesse Zu den expliziten Prozessen gehören im PAAM-Modell die Intention zur körperlichen Aktivität sowie die Moderatoren der Intentions-Verhaltens-Beziehung, nämlich die Trait-Selbstregulation (De Ridder & de Wit, 2006; Englert, 2016) und die exekutiven Funktionen (EFs; Pfeffer & Strobach, 2022). Wie Abbildung 14-1 entnommen wer‐ den kann, erfolgt die Aufnahme des körperlichen Aktivitätsverhaltens (adoption) im PAAM-Modell nach abgeschlossener Intentionsbildung und in Abhängigkeit der beiden zuvor genannten Moderatoren. Intention zu körperlicher Aktivität Traditionelle sozial-kognitive Modelle zur Erklärung von Gesundheitsverhalten (Aj‐ zen, 1991; Bandura, 1986) gehen häufig davon aus, dass die Intention, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, der wichtigste Prädiktor für das tatsächliche Verhalten ist. Definition | Die Verhaltensintention ist die bewusste Absicht einer Person, ein bestimmtes Verhalten zu einem bestimmten Zeitpunkt zu zeigen. Das PAAM-Modell geht davon aus, dass Intentionen durch reflektive Abwägungs‐ prozesse gebildet werden, wie sie in den traditionellen sozial-kognitiven Modellen beschrieben werden (Ajzen, 1991; Bandura, 1986), z. B. als Ergebnis von kognitiven (Abwägungs-)Prozessen der positiven und negativen Handlungsergebniserwartungen, von sozialen Normen oder der Selbstwirksamkeitserwartung. Ob ein Mensch sich letztendlich entsprechend verhält, hängt u.-a. von der Stärke dieser Intention ab. Wissen | Zusammenhang zwischen Intention und Verhalten Je stärker die jeweilige Intention ausgeprägt ist, desto größer ist die Wahrschein‐ lichkeit, dass das intendierte Verhalten auch tatsächlich gezeigt wird. 14.3 Das PAAM-Modell 275 <?page no="276"?> Physical Activity Adoption and Maintenance (PAAM) Modell Explizite Prozesses Implizite Prozesse Intention Körperliche Aktivität 3 Gewohnheit Affekt Trait Selbstregulation … Körperliche Aktivität 1 Intention Körperliche Aktivität 2 Gewohnheit Affekt Trait Selbstregulation Exekutive Funktionen Exekutive Funktionen Intention Trait Selbstregulation Exekutive Funktionen Abb. 14-1 | Das Physical Activity Adoption and Maintenance (PAAM) Modell 276 14 Das Physical Activity Adoption and Maintenance (PAAM) Modell <?page no="277"?> Empirische Studien weisen auf die zentrale Rolle einer starken Intention für die Umsetzung körperlicher Aktivität hin (Hagger et al., 2002), dennoch besteht häufig eine Diskrepanz zwischen der ursprünglichen Intention und dem tatsächlich gezeigten Verhalten - auch Intentions-Verhaltens-Lücke genannt (Rhodes & de Bruijn, 2013; Sheeran & Webb, 2016). Im PAAM-Modell liegt der Fokus auf der Erklärung dieser Lücke und auf der Umsetzung der Intention in tatsächliches Verhalten. Das PAAM-Modell geht bei der Erklärung der Intentions-Verhaltens-Lücke davon aus, dass die Intention zu körperlicher Aktivität, bei vielen Menschen nicht mit dem Aktivitätsverhalten an sich verknüpft ist, sondern mit dem Verfolgen von Zielen, die typischerweise nur durch eine wiederholte und langfristig Ausführung des Verhaltens erreicht werden können, wie z. B. einer Gewichtsreduktion, verbesserter körperlicher Fitness, der Steigerung der (mentalen) Gesundheit oder dem Vorbeugen eines Herzin‐ farktes (Rhodes et al., 2021). Die Belohnung für das Verhalten (das Erreichen des Ziels) erfolgt meist erst mit großer Zeitverzögerung, was die Fähigkeit zum Belohnungsauf‐ schub voraussetzt. Es kommt erschwerend hinzu, dass Menschen häufig mehrere Ziele gleichzeitig verfolgen, die um begrenzte (zeitliche) Ressourcen konkurrieren (z. B. eine Prüfung erfolgreich absolvieren, sich um die Familie kümmern, Zeit mit Freunden verbringen, körperlich aktiver sein), was zu Zielkonflikten führen kann (Beckmann & Heckhausen, 2006). Selbstregulatorische Kompetenzen Die Verhaltensausführung und damit die Überbrückung der Intentions-Verhaltens-Lü‐ cke ist aus Sicht des PAAM-Modells u.-a. von den selbstregulatorischen Kompetenzen einer Person abhängig. Wissen | Selbstregulatorische Kompetenzen Selbstregulatorische Kompetenzen ermöglichen die Anwendung von Strategien auf der Ebene von Kognition, Affekt oder Verhalten zur Unterstützung des Indivi‐ duums bei der Auswahl und Umsetzung einer ziegerichteten und wertekonformen Verhaltensweise unter den zur Verfügung stehenden Optionen (Rhodes et al., 2021). Insbesondere im Hinblick auf Barrieren, die der bewegungsbezogenen Intentionsum‐ setzung im Wege stehen, sind solche expliziten Prozesse der Selbstregulation von zentraler Bedeutung. Beispiele dafür sind u. a. die Auswahl von Zielerreichungsstra‐ tegien, die Planung von Aktivitäten, das Selbstmonitoring, die Unterdrückung von absichtswidrigen Impulsen, Techniken der Emotionsregulation, Selbstbelohnung oder die Umstrukturierung von ungünstigen Umgebungsfaktoren (für einen Überblick zu Selbstregulationsstrategien siehe Duckworth et al., 2018). Das PAAM-Modell geht davon aus, dass die Anwendung von mehreren Selbstregulationsstrategien der Nutzung von einzelnen überlegen ist (Greaves et al., 2011; Michie et al., 2009). Das Modell erhebt nicht den Anspruch, die einzelnen Prozesse und Strategien der Selbstregulation detail‐ 14.3 Das PAAM-Modell 277 <?page no="278"?> liert zu beschreiben, sondern vielmehr anhand von selbstregulatorischen Kompetenzen vorherzusagen, welche Personen mit einer höheren bzw. geringeren Wahrscheinlichkeit in der Lage sein werden, ihre Intentionen durch den Einsatz von diversen Selbststeue‐ rungsprozessen in tatsächliches Verhalten umzusetzen. Wissen | Ausprägung von selbstregulatorischen Kompetenzen Es ist anzunehmen, dass Menschen mit stärker ausgeprägten selbstregulatorischen Kompetenzen besser dazu in der Lage sind, verschiedene, gut aufeinander abge‐ stimmte Strategien einzusetzen, als Personen mit weniger stark ausgeprägten selbstregulatorischen Kompetenzen. Weiterhin wird angenommen, dass insbesondere Menschen mit weniger stark ausge‐ prägten selbstregulatorischen Kompetenzen stärker von Interventionen der Selbstre‐ gulation profitieren (z. B. Planungsinterventionen; vgl. Pfeffer & Strobach, 2020a). Die Prozesse der Selbstregulation werden im PAAM-Modell durch die Trait-Selbstregula‐ tion und die EFs (Inhibition, Updating, Shifting) unterstützt, welche interindividuell unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Trait-Selbstregulation Definition | Selbstregulation als zeitlich relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal (Trait-Selbstregulation) beschreibt die Kompetenz einer Person, dominante Ver‐ haltenstendenzen oder bestimmte Impulse willentlich zu kontrollieren, um Zielin‐ tentionen abzuschirmen und umzusetzen (De Ridder & De Witt, 2006). In früheren Studien konnten stabile interindividuelle Unterschiede in der Selbstregula‐ tion aufgezeigt werden, sodass manche Menschen über verschiedene Domänen hinweg besser dazu in der Lage sind, sich selbst zu regulieren (Englert, 2016). Zudem ist die Trait-Selbstregulation in gesundheitsbezogenen Kontexten von entscheidender Bedeu‐ tung. Es gibt bspw. empirische Belege dafür, dass niedrigere Ausprägungen der Trait- Selbstregulation mit einem geringeren körperlichen Aktivitätslevel verbunden sind, z. B. einer geringeren Persistenz bei körperlichen Ausdaueraufgaben (Allom et al., 2016; Englert & Wolff, 2015). Das PAAM-Modell geht daher davon aus, dass Personen mit niedrigerer Trait-Selbstregulation im Vergleich zu Personen mit höherer Trait- Selbstregulation weniger wahrscheinlich Prozesse der Selbstregulation initiieren können, um die Intentions-Verhaltens-Lücke zu überbrücken (Pfeffer & Strobach, 2017). 278 14 Das Physical Activity Adoption and Maintenance (PAAM) Modell <?page no="279"?> Exekutive Funktionen Definition | Exekutive Funktionen sind übergeordnete kognitive Prozesse, die die gezielte Organisation komplexer Informationen ermöglichen, und die durch ihren Einfluss auf untergeordnete kognitive Prozesse Individuen in die Lage versetzen, ihre Gedanken, Gefühle und Handlungen in Hinblick auf ein Ziel zu regulieren (Friedman & Miyake, 2017). Sie können daher als biologische Basis der Selbstregulation aufgefasst werden. EFs ste‐ hen auch mit der Regulation des körperlichen Aktivitätsverhaltens in Zusammenhang (Gürdere et al., 2023; Pfeffer & Strobach, 2022). Ein weithin akzeptiertes Strukturmodell der EFs geht von drei verschiedenen, aber sich überschneidenden exekutiven Bereichen aus, welche die Selbstregulationsprozesse auf unterschiedliche Weise unterstützen (Miyake et al., 2000): 1. Inhibition 2. Updating 3. Shifting Die Inhibitionsfunktion unterstützt das Unterdrücken von Gewohnheiten und Impulsen, die mit der Zielerreichung unvereinbar sind (Hofmann et al., 2012), indem beispielsweise aufgabenirrelevante oder mit dem Ziel unvereinbare Verhaltensimpulse, Gedanken und Gefühle unterdrückt werden. Inhibition ist auch an der Fähigkeit betei‐ ligt, negative affektive Reaktionen während körperlicher Aktivität zu unterdrücken (Audiffren & André, 2019). Die Updatingfunktion kann die Zielerreichung dagegen durch die aktive mentale Repräsentation von Zielen und Mitteln der Zielerreichung unterstützen und diese für die systematische Verarbeitung bereitstellen (Hofmann et al., 2012). Darüber hinaus unterstützt Updating die Regulation von Affekten, die mit der Zielerreichung konfligieren. Die Shiftingfunktion wird u. a. dazu benötigt, das Verhalten flexibel an sich dynamisch verändernde Umstände anzupassen. Es kann beispielsweise kontraproduktiv sein, Pläne oder Mittel zur Zielerreichung rigide zu verfolgen, da Hindernisse und Schwierigkeiten auftreten können, die die geplanten Mittel und Verhaltensweisen untergraben. Andererseits können sich unvorhergese‐ hene Möglichkeiten zur Verhaltensumsetzung ergeben, die effizienter sein können, um die angestrebten Ziele zu erreichen, welche durch spontane Planänderungen und adaptives Verhalten genutzt werden können. Interaktionseffekte der expliziten Prozesse Das PAAM-Modell geht von einem interaktiven Effekt der Trait-Selbstregulation und der EFs auf die Intentions-Verhaltens-Beziehung aus. Die prospektive Studie 14.3 Das PAAM-Modell 279 <?page no="280"?> von Pfeffer und Strobach (2017) zeigte, dass Trait-Selbstregulation eine wichtige Eigenschaft zu sein scheint, um schwächere Fähigkeiten in der Inhibition und Updating in Bezug auf die Intentions-Verhaltens-Lücke zu kompensieren. Im Gegensatz dazu ist die Trait-Selbstregulation besonders relevant, wenn die Fähigkeit zum Shifting stärker ausgeprägt ist. Eine hohe Shiftingfähigkeit kann neben den obengenannten positiven Aspekten auch zu der Abkehr von einem Ziel führen (Hofmann et al., 2012). Wissen | Einsatz von selbstregulatorischen Kompetenzen Ob in einer konkreten Situation auf die entsprechenden selbstregulatorischen Kompetenzen zurückgegriffen wird, hängt von der Bereitschaft einer Person ab, sich in der jeweiligen Situation selbst zu regulieren (Willingness) und weiteren Aufwand zur Zielerreichung zu investieren (Effort; Inzlicht et al., 2018). Laut Shenhav und Kollegen (2013) steigt die Anstrengungsbereitschaft einer Person im Sinne einer Kosten-Nutzen-Kalkulation, wenn der subjektiv wahrgenommene Nutzen der antizipierten Konsequenzen eines Verhaltens den hierfür notwendigen Aufwand übersteigt. Im Bereich der körperlichen Aktivität sollte folglich die Bereitschaft, Aufwand zu investieren, geringer sein, wenn die Kosten-Nutzen-Kalkulation negativ ausfällt (z. B. die Anfahrt zum Fitnessstudio dauert länger als die zur Verfügung stehende Trainingszeit; siehe auch Shenhav et al., 2021). 14.3.2 Implizite Prozesse Implizite Prozesse basieren auf automatisierten Mustererkennungen und Assoziatio‐ nen, die durch wiederholte Erfahrungen gebildet werden (Kahneman, 2011). Diese Prozesse laufen ohne oder mit geringer kognitiver Kontrolle und in der Regel automa‐ tisch ab (Bargh & Morsella, 2008). Sie können einen starken Einfluss auf unser Verhalten haben, da sie schnell und effizi‐ ent ablaufen und uns zu bestimmten Verhaltensweisen oder Entscheidungen veranlassen, ohne dass wir Anstrengung aufbringen müssen (Kahneman, 2011). Das PAAM-Modell berücksichtigt affektive Reaktionen und Gewohnheiten als implizite Prozesse, wobei Gewohnheiten durch affektive Reaktionen beeinflusst werden. Affekte Affekte beziehen sich auf subjektive Erfahrungen, die einfache, unreflektierte und schnelle Gefühle repräsentieren (Frijda, 1986). 280 14 Das Physical Activity Adoption and Maintenance (PAAM) Modell <?page no="281"?> Definition | Russell definiert den Kernaffekt als „einen neurophysiologischen Zustand, der als einfaches, unreflektiertes Gefühl bewusst zugänglich ist und eine integrale Mischung aus hedonistischen (Lust-Unlust-) und Erregungswerten (Schlaf-Aktivierung) ist“ (Russell, 2003; S.-147). Affekte werden auf der Grundlage ihrer Valenz unterschieden, d. h. wie positiv oder negativ die Erfahrungen sind, und unterstützen die Aktivierung von Annäherungs- oder Vermeidungstendenzen. Sie beziehen sich auf einfache automatische Bewertun‐ gen, dass etwas gut oder schlecht ist, und sind nicht mit vollwertigen Emotionen zu verwechseln, die differenzierte Gefühlszustände wie Freude, Ärger oder Bedauern darstellen (Baumeister et al., 2007) und mit bestimmten Kognitionen verwoben sind (Ekkekakis & Petruzzello, 2000; siehe auch Kapitel 13). In Übereinstimmung mit der Affektheuristik kann davon ausgegangen werden, dass Menschen Verhaltensentschei‐ dungen treffen, indem sie die informative Funktion ihrer Gefühle miteinbeziehen (Slovic et al., 2007). Einfach ausgedrückt: Wenn Menschen bei der Ausführung eines bestimmten Ver‐ haltens positive Gefühle empfinden, werden sie dieses Verhalten mit höherer Wahr‐ scheinlichkeit wiederholen, als wenn das Verhalten mit negativen Gefühlen verbunden ist (Backhouse et al., 2007). Im Einklang mit dieser Annahme deuten mehrere Studien darauf hin, dass affektive Zustände während der Ausübung körperlicher Aktivität einen Einfluss auf das zukünf‐ tige Bewegungsverhalten haben ( Jekauc, 2015). Zum Beispiel hat Williams et al. (2008) herausgefunden, dass der während der körperlichen Aktivität empfundene Affekt signifikant positiv mit dem zukünftigen Bewegungsverhalten in Verbindung steht. In einer anderen Studie berichteten Schneider et al. (Schneider et al., 2009), dass Personen mit einer eher positiven, affektiven Reaktion auf körperliche Aktivität in der Zukunft häufiger körperlich aktiv sind. Die Mechanismen, durch die affektive Zustände die Aufrechterhaltung körperlicher Aktivität fördern, sind jedoch weitgehend unerforscht ( Jekauc & Brand, 2017). Wissen | Affektive Zustände und Verhalten Das PAAM-Modell nimmt an, dass die Mechanismen, durch die affektive Zustände Verhalten beeinflussen, zweifach sind: (1) affektive Reaktionen beeinflussen die Gewohnheitsbildung und (2) moderieren die Beziehung zwischen Intentionen und Verhalten. Nach der Beschreibung der Gewohnheitsbildung werden die beiden Mechanismen im Anschluss genauer beschrieben. 14.3 Das PAAM-Modell 281 <?page no="282"?> Gewohnheiten Definition | Gewohnheiten sind automatische Verhaltensweisen oder Reaktionen auf interne oder externe Reize, die durch häufige Wiederholung in stabilen Umgebungen entstehen (Verplanken & Orbell, 2003). Die automatische Natur dieser Reiz-Reaktions-Verbindungen erfordert keine reflek‐ tiven Prozesse für die Verhaltensinitiierung und -ausführung (Ouellette & Wood, 1998) und macht das entsprechende Verhalten sehr stabil bzw. resistent gegenüber Veränderungen. Das Verhalten scheint bei Personen mit schwachen Verhaltensge‐ wohnheiten stärker durch Intentionen reguliert zu werden als bei Personen mit starken Gewohnheiten (De Bruijn et al., 2009; Ji & Wood, 2007; Knussen et al., 2004). Das PAAM-Modell geht davon aus, dass die Gewohnheitsbildung durch einen allmählichen Übergang von anstrengenden reflektiven (d. h. intentionalen) hin zu mü‐ helosen automatischen (d. h. automatisch durch interne oder Umweltreize ausgelöste) Kontrollprozessen gekennzeichnet ist (Gardner et al., 2011; Gardner & Lally, 2018; Nilsen et al., 2012). Gemessen auf täglicher Basis in einem Messwiederholungsdesign fanden Rebar, Elavsky, Maher, Doerksen und Conroy (2014) heraus, dass die Stärke der Gewohnheit das körperliche Aktivitätsverhalten an Tagen vorhersagt, an denen die Intentionen schwach sind. Andere Studien fanden dagegen heraus, dass Gewohnheiten und Intentionen nicht miteinander interagieren, sondern additive Effekte auf das kör‐ perliche Aktivitätsverhalten ausüben (Rhodes et al., 2010) und dass Gewohnheiten und Intentionen gemeinsam an der Verhaltenssteuerung beteiligt sind (Rhodes & De Bruijn, 2010). Obwohl einige Hinweise darauf hindeuten, dass Gewohnheiten und Intentionen komplementär in ihrem Einfluss auf das Verhalten wirken, ist wenig darüber bekannt, wie diese Interaktion aussieht und welcher Prozess die Gewohnheitsbildung antreibt. Effekte von affektiven Reaktionen auf die Gewohnheitsbildung Eine mögliche Verbindung zwischen affektiven Reaktionen und dem körperlichen Aktivitätsverhalten besteht in der Unterstützung der Gewohnheitsbildung. Starke Bewegungsgewohnheiten können das Ergebnis positiver affektiver Bewertungen sein. Wissen | Gewohnheitsbildung Das PAAM-Modell nimmt an, dass Verhaltensweisen, die positive affektive Zu‐ stände hervorrufen, die Gewohnheitsbildung fördern und Verhaltensweisen, die mit negativen affektiven Zuständen verbunden sind, die Gewohnheitsbildung behindern. 282 14 Das Physical Activity Adoption and Maintenance (PAAM) Modell <?page no="283"?> So fanden Weyland et al. (2020) in einer Studie mit 226 Probanden, die 13 Wochen lang wöchentlich an Sportkursen teilnahmen, heraus, dass positive affektive Zustände am Ende einer Sporteinheit die Gewohnheitsbildung positiv beeinflussen. Darüber hinaus stellten Hopkins et al. (2022) fest, dass die affektive Einstellung auch ein Prädiktor für das Ausmaß der Gewohnheit körperlicher Aktivität ist. Eine allgemeine Erkenntnis aus der Tierforschung ist, dass sich Gewohnheiten am schnellsten entwickeln, wenn Belohnungen angeboten werden, die positive affektive Zustände hervorrufen. Nach dem Wirkungsgesetz von Thorndike (1898) ist es wahrscheinlicher, dass Reaktionen, die in einer bestimmten Situation einen befriedigenden Effekt haben, in Zukunft in dieser Situation wieder auftreten, und dass Reaktionen, die einen unangenehmen Effekt haben, in dieser Situation in Zukunft weniger wahrscheinlich sind. Obwohl erste Hinweise gefunden werden konnten, dass affektive Zustände den Prozess der Ge‐ wohnheitsbildung erleichtern könnten (Weyland et al., 2020), wurde diese Hypothese im Zusammenhang mit körperlicher Aktivität bisher kaum untersucht. Affektive Reaktionen und die Intentions-Verhaltens-Lücke Die Hypothese einer moderierenden Rolle des Affekts auf die Beziehung zwischen Intention und Verhalten und damit expliziten und impliziten Prozessen besagt, dass die Umsetzung von Verhaltensabsichten von affektiven Zuständen abhängig ist. Wissen | Positive und negative affektive Zustände Positive affektive Zustände während der Ausübung des Verhaltens erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen erfolgreichen Umsetzung von Intentionen in Verhalten, während negative affektive Zustände diese Wahrscheinlichkeit ver‐ ringern. Affektive Reaktionen auf ein Verhalten verändern Informationsverarbeitungsstrate‐ gien (Wyer Jr et al., 1999) und moderieren somit den Einfluss von Verhaltensabsichten auf das Verhalten. Im Bereich der körperlichen Aktivität stützen empirische Studien die Annahme, dass Affekte die Intentions-Verhaltens-Beziehung moderieren (Kwan & Bryan, 2010; Raedeke et al., 2007). Die Studie von Finne et al. (2022) konnte die Hypothese, dass positive affektive Zustände unmittelbar nach dem Training die Umset‐ zung der Intention in nachfolgendes Trainingsverhalten erleichtern, nicht bestätigen. Vielmehr fanden die Autor*innen heraus, dass die affektive Valenz ein wichtiger Prädiktor für die Intentionsbildung ist, so dass affektive Zustände einen indirekten Effekt auf das Trainingsverhalten haben. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass die zeitliche Stabilität der Intention ein wichtiger Moderator der Intentions-Verhaltens- Beziehung ist (Conner & Godin, 2007), die denselben Anteil der erklärten Varianz ausmacht wie der moderierende Effekt von Affekten in der Intentions-Verhaltens- Beziehung (Sheeran & Abraham, 2003). Es sind jedoch weitere Studien erforderlich, um diesen Zusammenhang systematisch zu untersuchen. 14.3 Das PAAM-Modell 283 <?page no="284"?> 14.3.3 Aufnahme und Aufrechterhaltung des körperlichen Aktivitätsverhaltens Die Beschreibung des Zusammenspiels der im PAAM-Modell enthaltenen expliziten und impliziten Prozesse erfolgt im Folgenden aus der Perspektive dieser beiden Phasen. Die Aufnahme des Verhaltens erfolgt nach abgeschlossener Intentionsbildung durch eine erste Umsetzung dieser Intention in tatsächliches Verhalten, wobei das Verhalten in erster Linie von den selbstregulatorischen Kompetenzen einer Person mitbedingt wird. Je stärker die selbstregulatorischen Kompetenzen einer Person ausgeprägt sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das intendierte Verhalten auch aufgenommen wird (Moderationseffekt der selbstregulatorischen Kompetenzen auf den Intentions-Verhaltens-Zusammenhang). Während dieser ersten Aktivitätsepisode sammelt die Person Erfahrungen und speichert diese Erfahrung (z. B. positive oder negative affektive Reaktion während des Verhaltens) zusammen mit dem Verhalten ab. Ist die Erfahrung eher positiv, ist dies mit einer Annäherungs-Tendenz an das Verhalten verbunden (Brand & Cheval, 2019; Brand & Ekkekakis, 2018), was die Intentions- Verhaltens-Lücke weiter verkleinern kann (Moderationseffekt von Affekt auf den Intentions-Verhaltens-Zusammenhang). Wird das Verhalten nun häufiger in einem stabilen Kontext ausgeführt (gesteuert über explizite Prozesse der Selbstregulation), verschiebt sich die Verhaltenssteuerung mit der Zeit von einer überwiegend expliziten hin zu einer stärker impliziten Kontrolle (Strobach et al., 2020). Mit zunehmender Gewohnheitsstärke erhöht sich entspre‐ chend die Automatizität des Verhaltens. Die Phase der Aufrechterhaltung des Verhaltens ist durch eine überwiegend impli‐ zite (automatisierte) und weniger explizite Verhaltenssteuerung gekennzeichnet. Es ist anzunehmen, dass automatisiertes Verhalten die Funktion eines abgespeicherten Verhaltensschemata darstellt, welches Verhalten durch die Aktivierung verschiedener Arten von Informationen, die in diesem Schema enthalten sind, automatisch auslöst (Pfeffer & Strobach, 2021): entweder durch einen Hinweisreiz, der durch wiederholte Verbindung mit dem Verhalten das Verhalten nach einer gewissen Zeit automatisch auslöst, oder durch die Aktivierung automatischer affektiver Reaktionen, die eine An‐ näherungs-Tendenz an das Verhalten auslösen und damit die implizite Verhaltensum‐ setzung fördern (Hagger, 2020). Da automatisierte Verhaltensweisen relativ stabil und wenig störanfällig sind, werden diese auch dann eher ausgeführt, wenn Hindernisse auftreten oder Störeinflüsse wirken (z. B. in Stresssituationen oder unter Zeitmangel). Automatisiertes Verhalten ist zudem nur schwer veränderbar und dient damit der langfristigen Aufrechterhaltung eines Verhaltens. In welchem zeitlichen Rahmen sich dieser Übergang von einer eher expliziten zu einer eher impliziten Verhaltenssteuerung vollzieht, ist dabei noch relativ unbekannt und kann stark variieren. In der Studie von Lally und Gardner (2013) dauerte es im Mittel 66 Tage, bis ein Plateau der Automatisierung eines Verhaltens erreicht war, wobei die Varianz verhältnismäßig groß war. 284 14 Das Physical Activity Adoption and Maintenance (PAAM) Modell <?page no="285"?> 14.4 Chancen und Grenzen des PAAM-Modells Die zentrale Annahme des PAAM-Modells ist, dass das körperliche Aktivitätsverhalten eine Abfolge vieler einzelner Verhaltensweisen ist, wobei die Steuerung des Verhaltens in den Phasen zwischen den Verhaltenssequenzen sowohl durch explizite als auch durch implizite Prozesse erfolgt. Diese Prozesse und deren Interaktionen wurden in diesem Kapitel näher erläutert. Mit der Entwicklung des PAAM-Modells wurde das Ziel verfolgt, den Kritikpunkten an bisherigen Modellen des Gesundheitsverhaltens zu begegnen und ein sparsames Modell bei möglichst guter Vorhersagekraft vor dem Hintergrund dualer Prozesstheo‐ rien aufzustellen. Perspektivisch sollen darauf aufbauend effektivere Interventionen entwickelt werden, die zur Überbrückung der Intentions-Verhaltens-Lücke beitragen. Es ist noch offen, ob das PAAM-Modell in der jetzigen Form alle relevanten Fakto‐ ren zur Aufnahme und Aufrechterhaltung von körperlicher Aktivität berücksichtigt. Zudem sind alternative Pfade innerhalb des Modells denkbar. Obwohl beispielsweise gezeigt wurde, dass die Trait-Selbstregulation mit Gesundheit und körperlichem Aktivitätsverhalten zusammenhängt, wird weiterhin diskutiert, wie genau ein höheres Maß an Trait-Selbstregulation Personen dabei unterstützt, ihre langfristigen Ziele zu erreichen (Adriaanse et al., 2014; Galla & Duckworth, 2015). Einige Autor*innen stellten die Hypothese auf, dass Personen mit stärker ausgeprägter Trait-Selbstregulation ihr Verhalten besser automatisieren können, indem sie neue Gewohnheiten bilden (Baumeister & Alquist, 2009; de Ridder et al., 2012). Im Einklang mit dieser Annahme zeigen Studien, dass körperliche Aktivitätsgewohnheiten den Effekt der Selbstregula‐ tion sowohl auf anstrengende Inhibition als auch auf die Verhaltensautomatisierung vermitteln (Galla & Duckworth, 2015). Pfeffer und Strobach (2018) zeigten, dass Trait- Selbstregulation positiv mit der Automatizität des körperlichen Aktivitätsverhaltens (d. h. Gewohnheit) assoziiert ist und das Verhalten durch einen indirekten Effekt verstärkt. Diese Ergebnisse liefern empirische Belege für die Annahme, dass Personen mit stärker ausgeprägter Trait-Selbstregulation körperliches Aktivitätsverhalten auto‐ matischer und müheloser ausführen können, indem sie sich auf stabile Gewohnheiten stützen; sie müssen weniger Anstrengung und explizite Selbstregulation investieren (z. B. für die Entscheidung, ob sie körperlich aktiv sind oder nicht, oder für die aktive Hemmung starker Versuchungen, die sie davon abhalten, körperlich aktiv zu sein). Zukünftige Studien sollten diesen zusätzlichen Pfad im Rahmen der komplexen Annahmen des PAAM-Modells untersuchen. Zudem ist anzunehmen, dass es für manche körperliche Aktivitäten wahrscheinli‐ cher ist, automatisch kontrolliert und zur Gewohnheit zu werden als für andere. Ein‐ fache und wenig komplexe Alltagsaktivitäten (wie zum Beispiel den Arbeitsweg zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen), können durchaus mit einer hohen Automatizität initiiert und ausgeführt werden. Dagegen ist es ist unwahrscheinlich, dass komplexere Aktivitäten vollständig gewohnheitsmäßig ausgeführt werden können (Gardner & Lally, 2018), da sie mehr Planung erfordern, wie beispielsweise die Vorbereitung von Sportausrüstung und Sportkleidung sowie die Organisation der Fahrt zu Sportstätten 14.4 Chancen und Grenzen des PAAM-Modells 285 <?page no="286"?> oder des Umkleidens (Hagger, 2020; Pfeffer & Strobach, 2020b). Daher gehen wir davon aus, dass weniger komplexe Aktivitäten mit leichter bis mittlerer Intensität in höherem Maße habituiert und automatisiert werden könnten (d. h. eher implizit reguliert), während komplexe und intensive körperliche Aktivitäten stärker explizit reguliert bleiben und nicht vollständig habituiert werden (Hagger et al., 2023; Sas et al., 2023). Die Erhebung impliziter Prozess gestaltet sich derzeit noch problematisch, da bisher überwiegend Fragebögen zu deren Erfassung eingesetzt werden (z. B. Fragebogen zur Automatizität des Verhaltens, Fragebogen zur Valenz während körperlicher Ak‐ tivität). Fragebögen erfordern per se eine mehr oder weniger reflektierte Antwort und sind damit eher zur Erfassung expliziter Prozesse geeignet. Implizite Maße, welche eher automatische Prozesse abbilden (wie z. B. der Single-Category Implicit Association Test [SC-IAT] oder der Affective Stroop Task [AST]) weisen dagegen keine oder nur schwache Zusammenhänge mit dem körperlichen Aktivitätsverhalten auf, was deren Validität im Kontext des körperlichen Aktivitätsverhaltens in Frage stellt (Pfeffer & Strobach, 2021; Zenko & Ekkekakis, 2019). Bisherige Messinstrumente, die vorgeben, implizite Prozesse abzubilden, erfassen eher explizite Kognitionen zu impliziten Prozessen und müssen daher noch umfangreicher psychometrisch überprüft und weiterentwickelt werden, um valide Maße für implizite Prozesse im Kontext des körperlichen Aktivitätsverhaltens liefern zu können. Weiterhin wurde das Modell bisher noch nicht in seiner gesamten Komplexität empirisch überprüft. Hierfür sind insbesondere intensive Längsschnittstudien mittels Ambulantem Assessment erforderlich, die auf der Basis täglich mehrfacher Messungen die Effekte der Prädiktoren, Mediatoren und Moderatoren auf das objektiv erfasste körperliche Aktivitätsverhalten untersuchen. Auf diese Weise kann die intraindividu‐ elle Variabilität der betrachteten Konstrukte berücksichtigt werden. Literatur Adriaanse, M. A., Kroese, F. M., Gillebaart, M., & de Ridder, D. T. D. (2014). Effortless inhibition: Habit mediates the relation between self-control and unhealthy snack consumption. Frontiers in Psychology, 5, 444. https: / / doi.org/ 10.3389/ fpsyg.2014.00444 Ajzen, I. (1991). The theory of planned behavior. Organizational Behavior & Human Decision Processes, 50(2), 179-211. https: / / doi.org/ 10.1016/ 0749-5978(91)90020-T Allom, V., Mullan, B., & Hagger, M. S. (2016). 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Daher beschäftigt sich die sportpsychologische Forschung seit Jahrzehnten mit Phänomenen wie Drop-out aus Sportprogrammen, antidepressiven Wirkun‐ gen von körperlicher Aktivität, bewegungsbedingten Stresspuffer-Effekten und Wettkampfangst. Dennoch gibt es weiterhin Forschungsbedarf, weil diesen Phä‐ nomenen komplexe Beziehungen zu Grunde liegen. Komplex werden sie, wenn man berücksichtigt, dass Bewegungsverhalten individuell ist und variiert. Verän‐ derungen im Verhalten wie auch in der Variabilität können dynamisch sein und durch zeitliche und situative Faktoren beeinflusst werden. Diese intraindividuelle und kontextabhängige Variabilität spiegelt sich dann auch in den Beziehungen wider, die man zwischen dem Bewegungsverhalten und mit ihm assoziierten psychischen Faktoren (z. B. Emotionen, Stress, Befinden, Motivation, Intention) annimmt. Das Ambulante Assessment (AA) beschreibt eine Gruppe von Metho‐ den, mit denen sich diese Komplexität untersuchen lässt. AA erfasst mit Hilfe computergestützter Methoden Daten in Echtzeit und häufig kontinuierlich, bspw. das Bewegungsverhalten, physiologische Prozesse, Kontext‐ faktoren, wie auch Selbstauskünfte über z. B. die momentane Motivation oder das momentane Befinden. Dadurch wird es möglich, dynamische Prozesse oder wech‐ selseitige Abhängigkeiten sowie kontextabhängige Variabilität zu untersuchen. Zudem umgeht man durch die Echtzeiterfassung Limitationen retrospektiver Ver‐ fahren, wie z. B. Verzerrungen durch fehlerhafte Erinnerungen. Außerdem erhöht AA die ökologische Validität, weil Daten direkt im natürlichen Umfeld erfasst werden. Für die sportpsychologische Forschung im Bereich mentaler Gesundheit lassen sich v. a. drei Anwendungsgebiete unterscheiden: Public Health, die The‐ rapie psychischer Erkrankungen und der Spitzensport. Im Bereich Public Health können beispielsweise Veränderungen im Bewegungsverhalten in Verbindung mit deren Erleben über die Zeit hinweg untersucht und potenzielle psychosoziale, physiologische und kontextuelle Risikofaktoren sowie psychische Widerstands‐ fähigkeiten identifiziert werden. Für die Behandlung psychischer Störungen kann z. B. der Einfluss von Bewegung auf Psychopathologie oder Stressreaktionen untersucht werden. Im Bereich Spitzensport können mithilfe des AA unter anderem psychische Faktoren, Leistung und Gesundheit in Trainingsprozessen und bei Wettkampfsituationen untersucht werden. Für alle drei Bereiche gilt zudem, dass das multimodale AA psychologischer, physiologischer, kontext- und verhaltensbezogener Daten auch zur Implementierung von Feedback in <?page no="294"?> Echtzeit für Interventionen im Alltag genutzt werden kann und Präventionsbzw. Therapieerfolge aufgezeichnet bzw. vorhergesagt werden können. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1309. Lernziele Die Studierenden sollen ■ das Ambulante Assessment kennen lernen, ■ die Besonderheiten des AA im Vergleich zu anderen methodischen Ansätzen verstehen, ■ Fragestellungen entwickeln, die mit AA untersucht werden können, ■ erste Ideen zu möglichen AA-Studiendesigns bekommen, ■ erkennen, bei welchen Fragestellungen es Sinn macht, AA einzusetzen. 15.1 Einleitung Während körperliche Aktivität (z. B. Sport, Alltagsaktivitäten) bereits lange als zen‐ traler Prädiktor physischer Gesundheit galt, nahm die Forschung zu den Wirkzusam‐ menhängen körperlicher Aktivität und mentaler Gesundheit erst ungefähr ab den 1960er Jahren zu (Ekkekakis, 2018). Die Sportpsychologie hat per Definition das Ziel, menschliches Verhalten und Erleben im Kontext sportlicher Aktivität zu erklären, zu beschreiben, vorherzusagen und zu beeinflussen. Sportliche Aktivität meint hier struk‐ turierte körperliche Aktivität, die sich meist durch eine hohe Intensität kennzeichnet (z. B. Leichtathletik, Turnen, Fußball etc.). Als wesentliche Anwendungsfelder haben sich die drei Bereiche Public Health, die Therapie psychischer Erkrankungen und der Spitzensport entwickelt. In diesen Anwendungsfeldern werden unter anderem Phänomene wie Drop-out aus Sportprogrammen, die Intentions-Verhaltens-Lücke, Stresspuffer-Effekte und Wettkampfangst untersucht. Um das Gesundheitsverhalten in diesen drei Anwendungsfeldern adäquat zu be‐ schreiben, nutzen wir den Begriff körperliches Verhalten (engl. physical behaviour). Der Begriff ist das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung und einer kritischen Ausein‐ andersetzung, inwiefern sedentäres Verhalten und körperliche Aktivität in Bezug auf ihre Gesundheitswirkungen unabhängig bzw. abhängig voneinander (Ekelund et al., 2019; Katzmarzyk et al., 2019; Koster et al., 2012; Stamatakis et al., 2019) und in Verbindung mit Schlaf über 24 Stunden integrativ betrachtet werden müssen (Tremblay et al., 2017). Diese Betrachtung macht auch deshalb Sinn, weil Studien zeigen, dass Kompensationsverhalten auftreten kann. Das bedeutet zum Beispiel, dass eine Erhö‐ 294 15 Ambulantes Assessment und mentale Gesundheit <?page no="295"?> 3 Das ESM wurde von Suzanne Prescott und Mihaly Csikszentmihalyi (1981) entwickelt, um wiederholt zu zufälligen Zeitpunkten (per Funkempfänger initiiert) Tagebucheinträge zu Stimmung, Aktivität und Gedanken zu erfassen. Der Begriff EMA bezeichnet wie AA ein wiederholtes Sampling momen‐ taner Erlebnisse bzw. Erfahrungen in Echtzeit in der natürlichen Umgebung von Individuen, dabei wurden früher typischerweise elektronische Tagebücher und mittlerweile Smartphones genutzt. hung moderater körperlicher Aktivität an einem Tag zu einer Erhöhung der Sitzzeit am nächsten Tag führen bzw. Aktivität in einem Setting durch Aktivität in einem anderen Setting kompensiert werden kann. Körperliches Verhalten beinhaltet dementsprechend körperliche Aktivität (leichte, moderate und intensive Aktivität), sedentäres Verhalten und Schlaf, die anhand des Energieumsatzes und der Körperhaltung unterschieden werden (Tremblay et al., 2017) . Im vorliegenden Kapitel werden die Methoden des Ambulanten Assessment als eine Ergänzung zu bisherigen methodischen Ansätzen vorgestellt und erläutert. Anschließend wird die bisherige Forschung zu den oben skizzierten Phänomenen in den drei Anwendungsfeldern zusammengefasst, inhaltliche sowie methodische Forschungslücken aufgezeigt und bisherige Forschungsarbeiten an der Schnittstelle von körperlichem Verhalten, AA und mentaler Gesundheit beispielhaft vorgestellt. Abschließend behandelt das Kapitel Chancen, Herausforderungen und Grenzen sowie zukünftige Entwicklungen. 15.2 Ambulantes Assessment (AA) AA ist ein Forschungswerkzeug, das sich über die letzten Jahrzehnte entwickelt hat. Es minimiert retrospektive Verzerrungen und verbessert gleichzeitig die ökologische Validität der Datenerhebung (Fahrenberg et al., 2007). Um das momentane menschliche Erleben und Verhalten wiederholt in natürlicher Umgebung zu untersuchen bedient sich AA einer breiten Auswahl an Erhebungsmethoden. Dazu gehören Selbstauskünfte, Beobachtungsmethoden, Messungen des Verhaltens und der Physiologie, Erfassung von Umweltbedingungen sowie kontinuierliches psychophysiologisches Monitoring (typischerweise mit Sensoren). AA wird dabei oft als methodischer Überbegriff für zu‐ nehmend computergestützte und digitale Methoden der Experience Sampling Methode (ESM; Prescott & Csikszentmihalyi, 1981) und des Ecological Momentary Assessment (EMA; Stone & Shiffman, 1994) genutzt. Während die ESM 3 ursprünglich mit dem Fokus auf subjektive Selbstauskünfte entwickelt wurde, wird der Begriff EMA oft synonym zu AA verwendet. Gegenüber traditionellen Forschungsdesigns haben AA-Studien einige konzeptionelle Vorteile, insbesondere, wenn Forscher*innen daran interessiert sind, sich ständig verändernde individuelle Prozesse zu charakterisieren. Die Vorteile dieser AA-Methoden werden nachfolgend methodisch erläutert. 15.2 Ambulantes Assessment (AA) 295 <?page no="296"?> Vorteile von AA ■ Within-subject-Perspektive: Das AA ermöglicht die Untersuchung von (emo‐ tionalen, behavioralen und psychophysiologischen) Innersubjektmechanismen. Dieser Vorteil ist von zentraler Bedeutung in den Anwendungsfeldern Public Health, der Therapie psychischer Erkrankungen und des Spitzensports. Dass sich Zusammenhänge zwischen Menschen methodisch, konzeptionell und statistisch von Prozessen innerhalb von Personen unterscheiden, wurde vielfach gezeigt (für eine Einführung siehe Reichert et al., 2022). Manchmal weisen between-subject- und within-subject-Daten sogar unterschiedliche Effektrichtungen auf, was an folgendem Beispiel verdeutlicht werden kann: Bewegungsarme Personen zeigen in der Regel höhere Blutdruckwerte als körperlich aktive Personen (das ist in diesem Fall ein negativer between-subject-Effekt). Auf der within-subject-Ebene dreht sich dieser Zusammenhang in eine positive Korrelation: Während körperlicher Aktivität (bspw. Gartenarbeit) steigt der Blutdruck. ■ Real-life-Perspektive: Einer der offensichtlichsten Vorteile von AA ist die Mög‐ lichkeit, Parameter im alltäglichen Leben zu erheben, weshalb AA im Vergleich zu Laborstudien ökologisch valider ist. Im „natürlichen Lebensraum“ der Proband*in‐ nen können damit viele interpersonelle Faktoren (z. B. soziale Interaktion) und Umweltfaktoren (z. B. Grünanteil, Lärm), die das tägliche Leben beeinflussen, berücksichtigt werden, die im Labor nicht nachempfunden werden können (Trull & Ebner-Priemer, 2013). So wissen wir aus verschiedenen Forschungsfeldern, dass sich die Ergebnisse aus dem Labor (z. B. zu Verhalten, Stressreaktionen) nicht unbedingt in das reale Leben übertragen lassen (Zanstra & Johnston, 2011). ■ Real-time-Perspektive: AA-Studien ermöglichen die Erfassung von Einschät‐ zungen bzw. Selbstberichten in Echtzeit. Eine Steigerung der Messgenauigkeit durch die Nutzung von AA-Daten gegenüber retrospektiven Abfragen von Er‐ eignissen, Verhalten oder Erfahrungen konnte wissenschaftlich gezeigt werden (Solhan et al., 2009). Die Grundlagenforschung hat eine Vielzahl von Gründen für diese retrospektiven Verzerrungen offengelegt. Die bekanntesten sind der Recency-Effekt, der Mood-Congruent-Memory-Effekt und der Affective-Valence- Effekt. Das heißt, Informationen werden leichter erinnert, wenn diese persönlich relevant sind, häufiger auftreten, besonders bedeutsam oder ungewöhnlich sind, oder mit der aktuellen Stimmung bei der Abfrage übereinstimmen (Ebner-Priemer & Trull, 2009; Mehl & Conner, 2012; Trull & Ebner-Priemer, 2013). ■ Kontext-Perspektive: Durch die Erfassung von sozialem Umfeld und Umge‐ bungskontexten können beispielsweise Verhaltensweisen als kontextabhängig umfassender verstanden und untersucht werden; beispielsweise variieren die Verläufe von positivem und negativem Affekt unter anderem in Abhängigkeit der Umgebung (Tomko et al., 2014; Tost et al., 2019). AA bietet die Möglichkeit, kontextsensitive Informationen zu sammeln und das Aktivitätsverhalten in Verbindung mit Befinden als kontextabhängig zu verstehen. Beispiele für erfasste Kontexte sind 296 15 Ambulantes Assessment und mentale Gesundheit <?page no="297"?> Tageszeit, soziale Interaktionen und der aktuelle Aufenthaltsort (via Geolokalisa‐ tion). Grundlagen der Datenerhebung und Studiendurchführung via AA AA bietet einen großen Werkzeugkasten an Möglichkeiten, Daten verschiedener Art mithilfe verschiedener Sensoren und anderer technischer Geräte aufzuzeichnen. AA- Studien verwenden heutzutage digitale Geräte (z. B. Smartphones), die sowohl die Aufforderungen (Prompts) als auch die Selbstberichte (Assessments) mit Zeitstempeln versehen (Trull & Ebner-Priemer, 2013). Heute werden Selbstberichte meist mittels Smartphones oder Tablets erfasst, die verschiedene Arten von selbstberichteten Da‐ ten aufzeichnen können, z. B. Textnachrichten, Fragebogenantworten, Bilder und Videoprotokolle (Trull & Ebner-Priemer, 2013). Selbstberichte sind vermutlich die bekannteste Form des AA. Hierbei werden die Teilnehmer*innen, entweder aufgrund von Aufforderungen oder durch selbstinitiiertes Verhalten (wenn ein vorher definiertes Ereignis eintritt wie etwa eine Sporteinheit, vgl. hierzu auch 2.4 Sampling Schemata und Studiendesign), zu einer Antwort aufgefordert. Die Fragen, Antwortformate und Zeitabstände sowie die Stichprobenerhebung hängen von der Forschungsfrage und dem Zielkonstrukt ab, welches untersucht werden soll ( Ebner-Priemer & Kubiak, 2007; Palmier-Claus et al., 2011). In der sportpsychologischen Forschung können AA-Fragebögen z. B. Fragen zu aktuellen psychischen Zuständen (z. B. Gedanken, Stimmung oder Symptome), körperlichem Verhalten und Kontext beinhalten (von Haaren-Mack et al., 2022). Um körperliches Verhalten für die Forschung zu quantifizieren, werden im AA zumeist Aktivitätsmonitore genutzt. Dreiachsige Beschleunigungssensoren (triaxiale Akzelerometer) können z. B. an der Hüfte oder am Handgelenk getragen werden, um das Aktivitätsniveau zu messen und Rückschlüsse auf die Intensität oder die Art der Aktivität aufgrund der Körperposition und -bewegung (z. B. Gehen, Laufen, Liegen) zu ziehen. Dagegen kann sedentäres Verhalten im Alltag durch eine Befestigung der Sensoren am Oberschenkel erfasst werden, da so zwischen Stehen, Sitzen und Liegen unterschieden werden kann. Mittlerweile werden Akzelerometer auch zur Quantifizierung von Schlaf im Feld genutzt (Edwardson et al., 2017; Lettink et al., 2022; Rosenberger et al., 2019). Oftmals werden in AA-Studien Datenerhebungsmethoden kombiniert. So können zwischenmenschliche Erfahrungen und Erleben von Individuen im Alltag mit ihrer physiologischen Aktivität, ihrem situativen Kontext und ihrer körperlichen Aktivität in Beziehung gesetzt werden (Trull & Ebner-Priemer, 2014). Beispiele hierfür werden im folgenden Abschnitt der Anwendungsbeispiele dargestellt - z. B. die Kombination von Daten aus Selbstberichten und Beschleunigungssensoren, die den Einfluss der körperlichen Alltagsaktivität bzw. sedentärem Verhalten auf die Stimmung ermögli‐ chen (Giurgiu et al., 2019; Koch et al., 2018; Reichert et al., 2017). Der Einsatz der verschiedenen AA-Erhebungsmethoden kann auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen (Trull & Ebner-Priemer, 2013). Die Entscheidung für eine 15.2 Ambulantes Assessment (AA) 297 <?page no="298"?> oder bei hybriden Designs für eine Kombination der Schemata hängt von der Frage‐ stellung ab. Die Sampling-Schemata können z. B. kontinuierlich (continuous sampling; z. B. körperliches Verhalten, physiologische Daten wie die Herzratenvariabilität), ereignisgesteuert (event-based sampling; ausgelöst von Proband*innen basierend auf bestimmten, vorab definierten Ereignissen, zum Beispiel das Stattfinden eines Trai‐ nings), interaktiv (interactive/ triggered sampling; ausgelöst durch externe Signale z.-B. Bewegungssensor, GPS) und zufällig (random sampling; ausgelöst durch zufällige, vom System ausgewählte Zeitpunkte) programmiert werden. Allgemein wird eine sehr hohe Compliance (Anzahl wahrgenommene Abfragen/ ins‐ gesamt erfolgte Abfragen (Stone & Shiffman, 2002)), also ein hohes kooperatives Verhalten der Untersuchungsteilnehmer*innen im Rahmen von AA-Studien angegeben (Ebner-Priemer & Bohus, 2008). Es hat sich allerdings gezeigt, dass AA-Studien mit einer höheren Anzahl an Abfragen und einer höheren Anzahl an Studientagen mit einer geringeren Compliance einhergehen (Ottenstein & Werner, 2022). Auch die Akzeptanz elektronischer Tagebücher ist in der Regel sehr gut und das Interesse daran häufig so groß, dass die Studienteilnehmer*innen die elektronischen Tagebücher gerne über den Erhebungszeitraum hinaus nutzen würden (Ebner-Priemer & Bohus, 2008). Auf spezifische Aspekte der Studiendurchführung via AA (vgl. Abbildung 15-1) wie die Datenerhebung via Selbstbericht auf elektronischen Smartphonetagebüchern, phy‐ siologische, biologische und behaviorale Messungen, Kombinationen dieser Methoden, Aspekte der Compliance und Akzeptanz, der Datenaufbereitung und statistischen Methoden des AA kann in diesem Kapitel nur einführend eingegangen werden. Hierzu stellen wir an anderer Stelle ausführliche Ressourcen zur Verfügung, um die Planung und Durchführung eigener Studien zu unterstützen (Reichert et al., 2020). Um zu gewährleisten, dass die bei AA-Studien erhobenen sensiblen Daten geschützt werden, sind strenge Regeln in Bezug auf den Datenschutz wichtig. Da es bei AA-Studien zum Beispiel zum Verlust oder Diebstahl von Smartphones kommen kann, sind die Nutzung von passwortgeschützten Geräten und Apps, die Verschlüsselung der Daten auf den AA-Geräten sowie die verschlüsselte Übertragung und die Speicherung der Daten auf sicheren Servern unverzichtbar (Brüßler et al., 2024). Datenauswertung und statistisches Vorgehen im AA AA-Studien führen normalerweise zu einer erheblichen Menge an Daten (intensive longitudinal data). Stellen wir uns eine Studie vor, bei der 100 Proband*innen jeweils zehnmal/ pro Tag über sechs Tage nach einem Zufallsstichprobenplan zu einer Befra‐ gung aufgefordert werden und parallel das Aktivitätsverhalten kontinuierlich erfasst wird: Das ergibt bei einem Aktivitätswert/ Minute 1440 Datenzeilen/ Tag/ Person, also 8640 Datenzeilen/ Person, also insgesamt einen Datensatz mit 864.000 Datenzeilen. Die Stärke von AA kommt dann zum Tragen, wenn wir uns für Zusammenhänge zwischen Konstrukten interessieren (z. B. Aktivitätsverhalten, momentanes Befinden, soziale Interaktionen, Stressreaktionen), von denen wir annehmen, dass sie innerhalb einer Person über die Zeit variieren. Darüber hinaus lässt sich analysieren, wie sich die Stärke 298 15 Ambulantes Assessment und mentale Gesundheit <?page no="299"?> einer solchen Beziehung zwischen Personen unterscheidet. Für die Analyse von AA- Daten sind multilevel/ mixed-effects-Modelle in der Regel die Methode der Wahl. Diese Modelle können die Varianz in einen within- und einen between-person-Anteil zerlegen. Abb. 15-1 | Wichtige Schritte bei der Konzeption von AA-Studien 15.3 Bisherige Forschung zu den Wirkzusammenhängen körperlicher Aktivität und mentaler Gesundheit Die Wichtigkeit der subjektiven Komponente von Gesundheit und der Integration psy‐ chischer Bestimmungsfaktoren der Gesundheit findet sich in integrativen Definitionen von Gesundheit, zum Beispiel der von Hurrelmann (2000, S. 94). Darin wird Gesundheit nicht nur als „Stadium des Gleichgewichts von Risikofaktoren und Schutzfaktoren, 15.3 Bisherige Forschung zu den Wirkzusammenhängen körperlicher Aktivität und mentaler Gesundheit 299 <?page no="300"?> […] sondern auch als Stadium, das einem Menschen Wohlbefinden und Lebensfreude vermittelt“, bezeichnet. Die mentale Gesundheit wird nicht alleine als die Abwesenheit psychischer Störun‐ gen verstanden, sondern im Verständnis der positiven Psychologie vor allem auch als „Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpft, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann“ (World Health Organisation, 2021). „Psychische Störungen stellen Störungen der psychischen Gesundheit dar, die oft durch eine Kombination von belastenden Gedanken, Emotionen, Verhaltensweisen und Beziehungen zu anderen gekennzeichnet sind. Beispiele für psychische Störungen sind Depressionen, Angststörungen, Verhaltensstörungen, bipolare Störungen und Psychosen“ (World Health Organisation, 2021). Als Determinanten der psychischen Gesundheit lassen sich 1. individuelle Eigenschaften und Verhalten, 2. sozio-ökonomische Bedingungen und 3. gesellschaftlich-ökologische Faktoren identifizieren. Psychische Gesundheit und Wohlbefinden werden also „nicht nur durch individuelle Merkmale beeinflusst, sondern auch durch die sozialen Umstände, in denen sich Menschen befinden und die Umgebung, in der sie leben“ (World Health Organisation, 2021). Betrachtet man den Forschungsstand zu den Wirkzusammenhängen körperlicher Aktivität und mentaler Gesundheit für die drei Anwendungsfelder Public Health, Leistungssport und psychische Störungen, so kann zusammenfassend gesagt werden, dass vor allem für den Public-Health-Bereich viele Beobachtungsstudien und rand‐ omisiert kontrollierte Studien (insbesondere im Laborsetting) vorliegen. Diese geben wichtige grundlegende Einblicke dahingehend, wie sich diejenigen Menschen, die grundsätzlich aktiv bzw. fit sind, durchschnittlich fühlen und wie gestresst sie sind, im Vergleich zu denjenigen, die weniger aktiv bzw. fit sind. Darüber hinaus zeigen die Interventionsstudien, dass eine Teilnahme an regelmäßigen Sportprogrammen das Befinden verbessern und die Stressreaktivität auf einmalige Laborstressoren reduzieren kann, dass Wettkampfangst und Leistung im Wettkampf miteinander zusammenhängen, und dass diejenigen, deren Persönlichkeit durch Perfektionismus gekennzeichnet ist, ein höheres Risiko für die Entwicklung psychischer Störungen haben. Der Fokus der meisten bisherigen Studien liegt also darin, Zusammenhänge auf der interindividuellen (between-person) Ebene, also Unterschiede zwischen Personen in Bezug auf Gesundheitsverhalten (z. B. körperliche Aktivität) und mentale Gesundheit, zu untersuchen. Dabei werden Konstrukte wie die Verhaltensänderung bislang primär als Produkt stabiler interpersoneller Faktoren (between-person) betrachtet (Biddle, 2021). Was wir jedoch mit randomisierten, kontrollierten Studien mit pre-post- (und evtl. follow-up-) Design nicht treffen können, sind Aussagen auf der intraindividuellen 300 15 Ambulantes Assessment und mentale Gesundheit <?page no="301"?> (within-person) Ebene. Dazu zählt zum Beispiel, wie sich Schlaf, körperliche Aktivität und sedentäres Verhalten auf das Befinden über den Tag hinweg auswirken oder die Umsetzung der Intention, körperlich aktiv zu sein, durch das affektive Befinden beeinflusst wird. Unklar bleiben auch situative Einflüsse des Kontextes, zum Beispiel inwieweit Umweltbedingungen (z. B. draußen, drinnen, Grünflächen etc.) in Verbin‐ dung mit Stressoren auf der individuellen Ebene eine Rolle für das Verhalten spielen. Darüber hinaus ist unklar, wie lange potenziell positive Wirkungen körperlicher Aktivität auf das Befinden über den Tag hinweg bestehen bleiben und welche Rolle dabei das Befinden vor der Aktivität spielt. Hierfür benötigen wir Messungen über individuelle Verläufe und eine zeitnahe, wiederholte Erfassung relevanter Aspekte im natürlichen Umfeld. Forschung in diesem Bereich kann unter anderem Einsichten darin geben, welche Faktoren einen Menschen im Alltag davon abhalten, sein geplantes Sportprogramm um 18 Uhr wahrzunehmen, bzw. welche Faktoren das Umsetzen von Intentionen bedingen oder verhindern. Die Methoden des AA bieten durch die besondere Charakteristik (siehe Kapitel 15.2) in Verbindung mit den technologischen Fortschritten der letzten Jahrzehnte ein großes Potenzial, in Ergänzung zu bestehenden Methoden zum Erkenntnisfortschritt beizutragen. Im Folgenden stellen wir daher für die drei Anwendungsfelder jeweils den Forschungsstand in Bezug auf klassische Beobachtungs- und Interventionsstudien dar. Anschließend führen wir Beispielstudien zu den Themenbereichen auf, die Methoden des AA eingesetzt haben, um die skizzierten Forschungslücken zu bearbeiten. Public Health Viele Forschungsarbeiten im Bereich Public Health haben sich mit den Fragen be‐ schäftigt, inwiefern körperliche Aktivität das (Wohl-)Befinden beeinflusst oder stres‐ spuffernd wirken kann und warum Menschen körperlich aktiv sind, es bleiben oder damit aufhören. In Anlehnung an ein hedonistisches Verständnis von Wohlbefinden streben Menschen nach angenehmen Empfindungen und Erfahrungen und wollen diese wiederholen (Diener et al., 1999; Kahnemann, 1999). Dementsprechend kann ein positives Befinden während und nach körperlicher Aktivität für das Aufrechterhalten eines aktiven Lebensstils mit entscheidend sein (Baumeister et al., 2007). Damit verbunden sind Fragen wie „Was motiviert Menschen zu sportlicher Aktivität? Wieso führen Intentionen, sportlich aktiv zu sein, oft nicht zu gewünschtem Verhalten? Warum ist das Dabeibleiben für viele Menschen so schwierig? “ Weil man heutzutage annimmt, dass die Aufrechterhaltung von Aktivitätsverhalten auch eng mit unbewuss‐ tem affektiven Befinden zusammenhängt (Ekkekakis & Brand, 2019), sind diese Fragen von der Thematik des sogenannten Feel-good-Effekts körperlicher Aktivität nicht klar zu trennen. Zahlreiche Forschungsarbeiten zu ebendiesem Effekt haben gezeigt, dass körperliche Aktivität mit einer Erhöhung der affektiv-emotionalen Komponente von Wohlbefinden assoziiert ist (Arent et al., 2000; Reed & Buck, 2009; Reed & Ones, 2006). Zum Beispiel konnten Metaanalysen zeigen, dass sowohl akute körperliche Aktivität (Reed & Ones, 2006) als auch regelmäßige körperliche Aktivität (Reed & Buck, 2009) zu 15.3 Bisherige Forschung zu den Wirkzusammenhängen körperlicher Aktivität und mentaler Gesundheit 301 <?page no="302"?> einem Anstieg des positiv aktivierten Affektes führen. Die Effektstärken lagen dabei insgesamt im mittleren Bereich. Die Autor*innen weisen zusammenfassend darauf hin, dass eine große Variabilität zwischen Personen in Bezug auf den Affekt nach einer akuten Belastung und vermutlich auch während der Belastung besteht. Daher sollte die Interaktion individueller Faktoren wie Fitness oder Selbstwirksamkeit in Verbindung mit affektivem Befinden bei wiederholter akuter körperlicher Aktivität untersucht werden. Die meisten der durchgeführten Studien fanden unter Laborbedingungen statt. Es ist allerdings bekannt, dass sich nicht nur Emotionen, sondern auch Verhalten zwischen Laborbedingungen und der natürlichen Umgebung unterscheiden können (Bussmann et al., 2009; Gunes et al., 2008). Um den genannten Forschungslücken zu begegnen, lassen sich Ergebnisse von AA-Studien der letzten zehn Jahre aufführen, die den Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und affektivem Befinden im Alltag innerhalb von Personen untersuchten. Dabei wurden die zeitliche Dynamik dieses realen Prozesses sowie individuelle, soziale und umweltbezogene Korrelate und Determinanten berücksichtigt (Kanning et al., 2013; Reichert et al., 2016, Timm et al., 2024). Im Wesentlichen haben diese Studien gezeigt, dass körperliche Aktivität auf einer momentanen Ebene und innerhalb von Personen im Alltag positiv mit dem affektiven Befinden verbunden ist (Liao et al., 2015). Reichert et al. (2017) konnten beispielsweise zeigen, dass moderate bis intensive körperliche Aktivität (MVPA; wie Joggen, Fußball spielen) und leicht intensive körperliche Aktivität (LPA; wie Treppensteigen, Gartenarbeit) die drei grundlegenden bipolaren Dimensionen gute/ schlechte Stimmung, Wachheit/ Mü‐ digkeit, Ruhe/ Unruhe bei Personen auf unterschiedliche Weise beeinflussen. Während MVPA mit einer Zunahme der Stimmung und der Ruhe einherging, erhöhte LPA die Wachheit, verringerte aber die Ruhe. Die Studie wurde an einer Stichprobe von 106 Erwachsenen durchgeführt, die einen Beschleunigungsmesser zur Erfassung der körperlichen Aktivität trugen und ihre Stimmungslage mehrmals pro Tag in Echtzeit über GPS-gesteuerte Smartphone-Tagebücher berichteten, während sie ihrer täglichen Routine nachgingen. Auch für die Frage danach, warum und wann manche Menschen (besonders) aktiv sind und andere nicht, wurden die Ergebnisse vieler Studien in Metaanalysen zusammengefasst. Dabei wurden in querschnittlichen und längsschnittlichen Studien bisher vor allem Fragebögen eingesetzt, um individuelle, soziale und umweltbezogene Korrelate und Determinanten körperlicher Aktivität zu identifizieren (Bauman et al., 2012). Die dabei identifizierten Parameter, außer den globalen (z. B. ökonomische Entwicklung, Klimawandel), scheinen jedoch aufgrund ihrer dynamischen Veränder‐ ungscharakteristik (z. B. sozialer und Umweltkontext) nicht geeignet, retrospektiv erfasst zu werden. AA-Studien zu ebendiesen kontextuellen Einflüssen auf das affektive Befinden wurden unter anderem von Tost et al. (2019) durchgeführt. Sie untersuchten, wie innerstädtische Grünflächen mit dem affektiven Wohlbefinden zusammenhängen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Stimmung der Bürger höher war, je mehr innerstädti‐ sche Grünfläche sie in dem Moment um sich hatten. Derselbe Zusammenhang konnte 302 15 Ambulantes Assessment und mentale Gesundheit <?page no="303"?> in einer unabhängigen Stichprobe von 52 Teilnehmern bestätigt werden. Zusätzlich konnte mithilfe von fMRI-Daten anhand neuronaler Korrelate gezeigt werden, dass das Vorhandensein von Grünflächen in Städten als Resilienzfaktor fungieren kann, der möglicherweise eingeschränkte präfrontale Ressourcen ausgleichen kann (Tost et al., 2019). In einer anderen Studie wurden mit speziellen triggered e-diaries (d. h. Befragung ausgelöst durch externe Signale, z. B. GPS) Personen immer dann, wenn sie in der Stadt zu Fuß unterwegs waren, nach ihrem Befinden gefragt. Als moderierende Faktoren für das Befinden erwiesen sich zum einen der Grünanteil und zum anderen kurze soziale Interaktionen (Bollenbach et al., 2022). Für die Frage nach der stressregulierenden und stresspuffernden Wirkung kör‐ perlicher Aktivität liegen ebenfalls zahlreiche Befunde (Querschnitt-, Längsschnitt- und experimenteller Art) vor (Klaperski, 2018). Die Studien deuten darauf hin, dass körperliche Aktivität Stress reduzieren und die negativen Auswirkungen von Stress auf die Gesundheit abfedern kann (Stresspuffer-Effekt; Gerber & Pühse, 2009). Allerdings zeigen die Befunde kein eindeutiges Bild, sondern sind inkonsistent. Umgekehrt zeigen vereinzelte Studien, dass ein höheres subjektives Stresslevel mit einem geringeren Aktivitätsverhalten einhergehen kann. Theoretisch fundiert wird die Stresspuffer-Hy‐ pothese häufig über das transaktionale Stressmodell von Lazarus (Lazarus & Folkman, 1984). Dieses nimmt Wechselwirkungen zwischen der Person und seiner Umwelt bzw. den Anforderungen der jeweiligen Situationen an. Diese Wechselwirkungen lassen sich allerdings in den bisher zumeist im Labor durchgeführten Studien nur bedingt analysieren. Somit ist bisher völlig ungeklärt, wie alltägliche akute und regel‐ mäßige körperliche Aktivität unterschiedlicher Intensität sich auf die physiologische und psychologische akute Stressreaktionen und eine längerfristige Akkumulation von Alltagsstressoren sowie die (mentale) Gesundheit auswirkt und welche Rolle situationsspezifische Bewertungsprozesse und Coping haben. Weitestgehend unklar ist auch, welche Art der körperlichen Aktivität wann sinnvoll ist. Umgekehrt ist unklar, inwiefern akkumulierter Stress im Alltag das zeitnahe und mittelfristige Aktivitäts- und Sitzverhalten im Alltag beeinflusst und welche Rolle der (z. B. soziale) Kontext spielt. In Bezug auf Stresspuffer-Effekte im Alltag ist auch die Wechselwirkung von körperlicher Aktivität, Schlaf und sedentärem Verhalten unklar. Stresspuffer-Effekte körperlicher Aktivität wurden erst in den letzten Jahren ver‐ mehrt mithilfe von AA im Alltag untersucht. Dabei wurden insbesondere affektive und physiologische Stressreaktionen auf Alltagsstressoren untersucht. In einer Studie bei Sportstudierenden wurden Stressoren verschiedener Kontexte (allgemein, Studium und Sportpraxis des Studiums) in Verbindung mit der affektiven Reaktion sowie körperlicher Aktivität (Umfang, Kontext, Intensität) per Smartphone über eine Woche untersucht. Die Studien zeigen unter anderem, dass der Kontext der Stressoren und der Kontext, in dem die körperliche Aktivität stattfand, einen Einfluss auf affektive Reaktionen hatte (Krumm et al., 2023). In einer randomisierten kontrollierten AA- Studie zeigte sich, dass eine aerobe Ausdauerintervention (2-mal/ Woche) über ein Semester bei inaktiven Studierenden dazu führte, dass diese insbesondere in stressrei‐ 15.3 Bisherige Forschung zu den Wirkzusammenhängen körperlicher Aktivität und mentaler Gesundheit 303 <?page no="304"?> chen Situationen weniger negativen Affekt im Vergleich zur inaktiven Kontrollgruppe zeigten (von Haaren et al., 2015). Darüber hinaus führte die Ausdauerintervention zu einer geringeren physiologischen Stressreaktivität tagsüber und höheren Ruhewerten in der Nacht (jeweils höhere Herzratenvariabilität) im Vergleich zur Kontrollgruppe (von Haaren et al., 2016). Mittlerweile konnten mehrere AA-Studien auf Tagesebene zudem nachweisen, dass akute körperliche Aktivität affektive Reaktionen auf Alltags‐ stressoren abzupuffern vermag (Gerstberger et al., 2023; Schultchen et al., 2019). Um andersherum die negativen Effekte von Stress auf das Aktivitätsverhalten detaillierter zu untersuchen, haben Almeida et al. (2020) einen theoretischen Ansatz für die Untersuchung des Wechselspiels von Affekt und Stressoren, der Erholung von Affekt nach Stressoren und einem Anhäufen von Stressoren entwickelt, der sich für AA- Studien eignet. Psychische Störungen Psychische Störungen beinhalten beispielsweise Depressionen, Angststörungen, Ver‐ haltensstörungen oder bipolare Störungen. Sie sind meist durch eine Kombination von belastenden Gedanken, Emotionen, Verhaltensweisen und Beziehungen zu anderen Menschen gekennzeichnet (World Health Organisation, 2021). Im Kontext psychischer Störungsbilder stellt sich die Frage, inwieweit körperliche Aktivität präventiv, therapie‐ begleitend und in der Tertiärprävention (Rückfallprophylaxe) eingesetzt werden kann. Hierbei zeigt die aktuelle Literatur, dass die größte Evidenz für die positiven Wirkungen körperlicher Aktivität im Bereich stressbedingter, Angst- und depressiver Störungen vorzufinden ist, gefolgt von kognitiven und demenziellen Störungen, Essstörungen und Schizophrenie (Huber & Köllner, 2013; Huber et al., 2008) Als prominentes Beispiel kann der antidepressive und anxiolytische Effekt körperlicher Aktivität (Rethorst et al., 2009; Stubbs et al., 2017; Stubbs et al., 2016; Wipfli et al., 2008) im Zusammenhang mit affektiven Erkrankungen wie der Depression herangezogen werden, der inzwischen in einer Vielzahl an Metaanalysen nachgewiesen wurde (siehe z. B. Ramos-Sanchez et al., 2021; Schuch et al., 2018). Den Forschungsarbeiten der Effekte körperlicher Aktivität bei unterschiedlichen psychischen Störungsbildern lag lange Zeit als Gemeinsamkeit zugrunde, dass die Symptome der psychischen Störungen vornehmlich zu zwei Zeitpunkten (pre-post- Intervention sowie follow-up) mithilfe retrospektiver Fragebögen erfasst wurden und in Bezug auf körperliche Aktivität meist nur die MVPA in Verbindung mit psychischen Störungen betrachtet wurde. Psychische Störungen sind jedoch dadurch gekennzeichnet, dass sie eng mit alltäglichen Stressoren in Verbindung stehen und in ihrer Charakteristik starken dynamischen und kontextabhängigen Schwankungen unterliegen. Daher bieten AA-Studien an dieser Stelle zahlreiche Chancen dahinge‐ hend, dass unter Einsatz neuartiger Methodenkombinationen des AA viele Facetten körperlicher Aktivität (Setting, Belastungsparameter, Art) wiederholt oder kontinu‐ ierlich in Verbindung mit Befinden, Symptomen, Suchtverhalten, aber auch dem Kontext (sozialer, Umwelt) in Verbindung mit individuellen Merkmalen untersucht 304 15 Ambulantes Assessment und mentale Gesundheit <?page no="305"?> werden können. So konnten zum Beispiel Reichert et al. (2020) Erkenntnisse zum Zusammenhang von Alltagsaktivität, Wohlbefinden und Gehirnvolumen liefern. Die Autor*innen stellten fest, dass für das Zusammenspiel von Alltagsaktivität mit dem Empfinden von Energiegeladenheit sowie Wachheit ein Bereich der Großhirnrinde, der subgenuale Anteil des Anterior Cingulären Cortex relevant ist. Dieser spielt eine zentrale Rolle für die Emotionsregulation und die Widerstandsfähigkeit gegenüber psychiatrischen Erkrankungen. Die Studie zeigte, dass insbesondere Personen mit ei‐ nem geringeren Volumen an grauer Hirnsubstanz in dieser Region und einem potenziell erhöhten Risiko für psychiatrische Erkrankungen, von körperlicher Aktivität im Alltag für das Wohlbefinden profitieren können. Viel Forschungsbedarf besteht auch hier dahingehend, welche Rolle auf individueller Ebene das Zusammenwirken von Schlaf, sedentärem Verhalten und körperlicher Aktivität für psychische Störungen spielt. Leistungssport Im Anwendungsfeld Leistungssport ist der Einfluss psychischer Faktoren in Wettkampf und Training in den letzten Jahren vermehrt in Bezug auf die mentale Gesundheit in den Fokus gerückt (Hennig et al., 2017). Vor dem Hintergrund zahlreicher Ereignisse wie dem Bekanntwerden von Burnout und Depressionen sowie Fällen sexualisierter Gewalt im Leistungssport werden psychische Faktoren nicht mehr nur vor dem Hintergrund der Leistungsoptimierung oder Talentauswahl untersucht. Überblicksarbeiten für den Leistungssport zeigen, dass im Bereich der mentalen Gesundheit insbesondere Aspekte wie Leistungsdruck, Verletzungsangst, Übertrainingssyndrom, Depressionen, Missbrauch von Substanzen und Ängste für die Sportler*innen problematisch sind (Souter et al., 2018). Wichtige psychische Faktoren im Wettkampf wie Stress und Erholung, Motivation und Konzentration, Emotionsregulation oder Persönlichkeits‐ aspekte wie mental toughness unterliegen situationsabhängigen und dynamischen Veränderungen sowie kontextbedingten Einflüssen. Diese wurde allerdings durch die meist retrospektive Erfassung zu einzelnen Zeitpunkten nicht adäquat abgebildet und der Komplexität des Verhaltens nicht Rechnung getragen (Kellmann et al., 2018; Pierpaolo & Antonia, 2018; Tranæus et al., 2018). Forschung unter Berücksichtigung dieser Aspekte würde ermöglichen, Fragen zu beantworten, wie es zum Beispiel für ein*e Athlet*in möglich ist, am nächsten Wettkampf so leistungsstark und ausgeruht wie möglich teilzunehmen (Brüßler et al., 2024). Mit Hilfe von AA lassen sich beispiels‐ weise durch ein kontinuierliches Menstruationszyklusmonitoring der Zeitpunkt der Ovulation und die damit verbundenen Zyklusphasen bestimmen (z. B. über die (intra‐ vaginale) Körpertemperatur oder Urin). Sinnvolle damit verbundene Parameter sind Symptome (z. B. Schmerzen), biologische Parameter (z. B. Herzfrequenzvariabilität) und psychische Parameter (z. B. Leistungsbereitschaft) sowie Trainings- und Leistungs‐ daten (z. B. Laufumfang, Sprintzeiten). Damit können mögliche Auswirkungen des Zyklus auf die mentale Gesundheit, Erholungszeiten, affektive und physiologische Stressreaktionen oder besondere Trainingsbelastungen analysiert werden (Brüßler et al., 2023; Lautenbach et al., 2023). Dadurch wird es möglich, auf die Zyklusphase abge‐ 15.3 Bisherige Forschung zu den Wirkzusammenhängen körperlicher Aktivität und mentaler Gesundheit 305 <?page no="306"?> stimmte Interventionen gezielt umzusetzen, zum Beispiel einen am Zyklus orientierten Trainingsplan zur Steigerung der Maximalkraft anhand dieser Daten zeitkritisch auf die hormonellen Veränderungen einer Athletin abzustimmen. 15.4 Fazit Die zunehmende Anzahl an Publikationen der letzten Jahre sowie der technologi‐ sche Fortschritt zeigen ein gesteigertes Interesse an der Verwendung von AA. Die Ergebnisse bisheriger AA-Studien für die drei hier aufgeführten Anwendungsfelder sind vielversprechend. So unterstreichen die durch AA identifizierten Ergebnisse im Anwendungsfeld Public Health zum Beispiel, dass affektives Befinden in Abhängigkeit des Aktivitätsverhaltens und Kontextvariablen wie sozialer Interaktionen und Umge‐ bung variiert. Daneben ergaben AA-Studien zu Stresspuffer-Effekten, dass durch die Betrachtung individueller Verläufe und situationsspezifischer Veränderungen wichtige Erkenntnisse zu den Wirkzusammenhängen von akuter und regelmäßiger körperlicher Aktivität und psychophysiologischen Reaktionen auf alltägliche Stressoren identifi‐ ziert werden können. Für das Anwendungsfeld der psychischen Störungen konnte mithilfe von AA bereits gezeigt werden, dass Personen mit potenziell erhöhtem psychopathologischem Risiko auf bestimmte Art und Weise von körperlicher Aktivität im Alltag profitieren können. Ergebnisse bisheriger AA-Studien unterstützen also die Sinnhaftigkeit, AA zukünf‐ tig vermehrt für die eingangs genannten Fragestellungen wie Drop-out aus Sportpro‐ grammen, antidepressive Wirkungen von körperlicher Aktivität oder Wettkampfangst, einzusetzen. Wenn es zum Beispiel um Drop-out aus Sportprogrammen geht, so können mithilfe intensiver Längsschnittdaten individuelle Verläufe und dynamische Veränderungen von Affekt über Tage, Wochen oder sogar Monate eines Sportpro‐ gramms in Verbindung mit anderen psychischen Faktoren (z. B. Habituationsbildung) und dem Aktivitätsverhalten erfasst werden, um Gründe für ein Dabeibleiben oder Aussteigen zu identifizieren. Im Anwendungsfeld der psychischen Störungen kann durch die Nutzung von AA-Methoden das alltägliche Wechselspiel der Störungsbilder mit zum Beispiel affektiven Reaktionen in Verbindung mit dem körperlichen Verhalten (körperliche Aktivität, sitzende Lebensweise und Schlaf) untersucht werden. Dadurch wird es möglich, detailliertere Bewegungsempfehlungen für die Therapie psychischer Störungen zu entwickeln. Darüber hinaus können diese in Bezug auf konkrete As‐ pekte der Störungsbilder, wie zum Beispiel die affektive Variabilität über den Tag, evaluiert und in Verbindung mit den anderen Aspekten des körperlichen Verhaltens bzw. der Störungsbilder (z. B. Schlafverhalten) untersucht werden. Im Bereich des Leistungssports steht das AA erst am Anfang. Hier besteht ein großes Potenzial sowohl für die Untersuchung situationsspezifischer Aspekte im Vergleich Training versus Wettkampf als auch im Bereich des Trainingsmonitorings (z. B. Prävention von Übertraining, psychische und physische Leistungsaspekte im Monats-Jahres-Verlauf, z. B. unter Beachtung des Menstruationszyklus), um auf der Makroebene den Zielen 306 15 Ambulantes Assessment und mentale Gesundheit <?page no="307"?> der Leistungsoptimierung einerseits und dem Erhalt bzw. der Förderung mentaler Gesundheit andererseits Rechnung zu tragen. Für die drei eingangs angesprochenen Anwendungsfelder Public Health, der Thera‐ pie psychischer Störungen und den Leistungssport bietet das AA wie aufgezeigt ein großes Potenzial im Kontext von körperlichem Verhalten und mentaler Gesundheit. Zukünftig gilt es auch, den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn besser vor dem Hin‐ tergrund vorhandener Theorien zu verorten. Beispielsweise konnten durch bisherige AA-Studien Erkenntnisse identifiziert werden, die die Wichtigkeit sogenannter Dual- Process-Modelle in Bezug auf die Vorhersage der Aufrechterhaltung von Aktivitätsver‐ halten unterstreichen (Liao et al., 2015). Mithilfe von AA-Methoden können bestehende Theorien beispielsweise im Bereich der Verhaltensänderung, die bisher primär als Pro‐ dukt stabiler interpersoneller Faktoren (between-person) betrachtet wurde, in Bezug auf mikrotemporale, sich im Alltag abspielende Prozesse (z. B. Stimmungsschwankungen über den Tag, Intentionen für die kommende Woche) überprüft werden. Entsprechend könnten Theorien wie die der Habituationsbildung für Aktivitätsverhalten weiterent‐ wickelt werden oder neue Subtheorien bestehender Theorien formuliert werden. Über die Untersuchung der Wirkzusammenhänge körperlichen Verhaltens und men‐ taler Gesundheit hinaus, bieten die Methoden des AA die Möglichkeit, Echtzeitfeedback und sogenannte Just-in-time-adaptive-Interventionen/ digital interventions umzusetzen (Heron & Smyth, 2010). Damit wird es möglich, die Vorteile von AA nicht nur bei der Datenerfassung, sondern auch bei der Implementierung von Interventionen zu nutzen. In der Zukunft wird auch vermehrt der Einsatz von künstlicher Intelligenz (z. B. bei der Auswertung der intensiven Längsschnittdaten) zunehmen. Zusätzlich wird die virtuelle Realität eine immer wichtigere Rolle spielen, zum Beispiel bei Interventionen, wenn eine anleitende Person in Präsenz ersetzt werden soll. Frage an die Praxis � Ist aus Ihrer Sicht ein Monitoring von Aspekten der psychischen Gesundheit im Leistungssport sinnvoll? Welche Faktoren wären interessant und wie können diese dazu beitragen, die mentale Gesundheit zu fördern? → „Hohe Prävalenzraten für psychische Erkrankungen im Leistungssport indizie‐ ren ein entsprechend präventiv ausgerichtetes Monitoring (z. B. des bio-psychosozialen Wohlbefindens und Depressivität) als Ergänzung zur Trainings- und Wettkampfsteuerung. Hinsichtlich der Akzeptanz muss bei der Implementierung auf Praktikabilität und Vertrauen (u. a. überschaubare aber kontinuierliche Mess‐ zeitpunkte, wenige Fragen, die nicht zeitintensiv sind, Absprache mit anderen Teil‐ disziplinen zur Vermeidung von Redundanzen, Datenspeicherung und -einsicht, Ableitung von Handlungsempfehlungen im Spannungsfeld von sportlichem Erfolg und Gesundheit) geachtet werden. Letztlich muss eine digitale Datenerhebung um Frage an die Praxis 307 <?page no="308"?> psychoedukative Gesundheitsimpulse ergänzt werden, um Sportler*innen zu sen‐ sibilisieren und Tabuthemen abzubauen.” (Dr. Moritz Anderten, Sportpsychologe des 1. FC Köln und am Olympiastützpunkt NRW/ Rheinland) Literatur Arent,-S.-M., Landers,-D.-M. & Etnier,-J.-L. (2000). The Effects of Exercise on Mood in Older Adults: A Meta-Analytic Review. Journal of Aging and Physical Activity, 8(4), 407-430. https : / / doi.org/ 10.1123/ japa.8.4.407 Bauman, A. E., Reis, R. S., Sallis, J. F., Wells, J. C., Loos, R. J. F. & Martin, B. W. (2012). Correlates of physical activity: why are some people physically active and others not? Lancet, 380(9838), 258-271. https: / / doi.org/ 10.1016/ S0140-6736(12)60735-1 Baumeister, R. F., Vohs, K. D., DeWall, C. N. & Zhang, L. (2007). How emotion shapes behavior: feedback, anticipation, and reflection, rather than direct causation. 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Es wird eine umfassende Definition von digitalen Gesundheitsinterventionen vorgestellt und der konkrete Nutzen dieser Technologien für die Bevölkerung herausgearbeitet. Besondere Beachtung findet die valide Messung körperlicher Aktivität und physiologischer Parameter wie Energieverbrauch, Herzfrequenz und Blutzucker. Dabei wird deutlich, dass die Wirksamkeit digitaler Gesundheitsinterventionen maßgeblich von der Ausrichtung an wissenschaftlichen Theorien, der Einbettung in soziale Kontexte, der Anwendung geprüfter Verhaltenstechniken und der datenbasierten Individualisierung von Inhalten abhängt. Im Zentrum der Diskussion stehen mobile Interventionen und insbesondere Justin-time-adaptive-Interventionen ( JITAIs), die in entscheidenden Momenten indi‐ viduell angepasste Unterstützung bieten. Diese Interventionen stützen sich auf hochauflösende Längsschnittdaten und Teilnehmendenfeedback, um den Nutzen zu maximieren und die Belastung zu minimieren. Dabei werden auch kritische Aspekte wie die Herausforderungen bei der Implementierung von JITAIs, die Komplexität der Entscheidungsfindungsalgorithmen und die Notwendigkeit der Anpassung an individuelle Verhaltensweisen und Präferenzen angesprochen. Es wird betont, dass trotz der Fortschritte in maschinellen Lernprozessen und Entscheidungsalgorithmen das Feld der JITAIs sich noch in der Entwicklung befindet und weitere Forschung zur Integration von Verhaltenstheorien und zur Überwindung von Implementierungshürden erforderlich ist. Abschließend bietet der Beitrag einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen in diesem jungen Forschungsbereich der Sportpsychologie. Dabei wird die Not‐ wendigkeit hervorgehoben, die Potenziale digitaler Gesundheitsinterventionen voll auszuschöpfen und gleichzeitig die Herausforderungen und Grenzen die‐ ser Technologien, insbesondere im Hinblick auf die Nutzerakzeptanz und die ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen, kritisch zu reflektieren. Der Artikel unterstreicht die Bedeutung einer ganzheitlichen und multidimensionalen Betrachtung für die effektive Gestaltung und Implementierung digitaler Gesund‐ heitsinterventionen. <?page no="316"?> Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1310. Lernziele ■ Den Begriff digitale Gesundheit verstehen, den konkreten Nutzen von digitalen Interventionen für die Bevölkerung herausstellen. ■ Die Schlüsselfaktoren im Zusammenhang mit der Effektivität digitaler Ge‐ sundheitsinterventionen kennenlernen und deren Bedeutung für die Wirksam‐ keit von Interventionen verstehen. ■ Konzepte der Individualisierung von Interventionen sowie des kontinuier‐ lichen Monitorings und Feedbacks in digitalen Gesundheitsinterventionen verstehen und deren Auswirkungen auf die Effektivität nachvollziehen. ■ Konzept der Just-in-time-adaptive-Interventionen ( JITAIs) kennenlernen und verstehen, wie diese Interventionen den Nutzen maximieren und die Belastung der Teilnehmenden minimieren können. ■ Herausforderungen und zukünftigen Entwicklungen im Bereich der Individua‐ lisierung von digitalen Interventionen zur Unterstützung der Verhaltensände‐ rung erkennen und reflektieren können. 16.1 Grundlagen digitaler Gesundheit Digitale Gesundheit (digital health) ist als transdisziplinäres Paradigma anerkannt, das den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheits‐ sektor und in der Gesundheitsverwaltung fokussiert (World Health Organisation, 2019). Diese umfangreiche Konzeption beinhaltet diverse Unterbereiche, darunter die Nutzung von elektronischen Gesundheitsakten, Telemedizin, Gesundheits-IT-Syste‐ men, mobilen Gesundheitsapplikationen und tragbaren Geräten, deren Hauptaufgabe darin besteht, eine Bandbreite gesundheitsbezogener Daten zu erheben und zu ana‐ lysieren (Boulos et al., 2021; Chaput et al., 2020). Allgemein lässt sich die digitale Gesundheitsförderung in den Überbegriff elektronische Gesundheit (eHealth) - die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen (World Health Organization, 2020) - und die Unterkategorie mobile Gesundheit (mHealth) - die der Einsatz mobiler Technologien wie Mobiltelefone, Smartwatches, Fitness-Tracker und persönliche digitale Assistenten charakterisiert (World Health Organization, 2019) - unterteilen. Besonders in der Sportpsychologie gewinnen die Grundlagen der digitalen Gesundheitsförderung kontinuierlich an Relevanz. Eine der bekanntesten bisherigen Implementierungen digitaler Technologien zeigt sich in der Verwendung von Smartwatches, Fitnesstrackern und Gesundheitsapps. Die wissen‐ 316 16 Individualisierte digitale Interventionen zur Unterstützung bewegungsbezogener Verhaltensänderung <?page no="317"?> schaftliche Evidenz unterstreicht die Potenziale der kontaktlosen und kosteneffektiven Maßnahmen mit großer Reichweite von eHealth und zeigt andererseits, dass sich bisherige Evaluationen der Wirksamkeit hauptsächlich auf kleine Studien beziehen und heterogene Ergebnisse aufzeigen (Vandelanotte et al., 2016; Hosseipour et al., 2019; Stockwell et al., 2019). Auch wenn mittlerweile valide digitale Möglichkeiten zur kontinuierlichen Messung von körperlicher Aktivität (z. B. Energieverbrauch, Schritt‐ zahl oder Aktivitätsminuten) sowie physiologischer gesundheitsrelevanter Parameter (z. B. Herzfrequenz, Blutzucker und Cortisol) bereitstehen, zeigen gesundheitliche Interventionen, die sich diese Technologien zu Nutze machen, sehr unterschiedliche Effektgrößen oder beschränken sich auf Machbarkeitsstudien. Evident ist in diesem Kontext unter anderem die Wirksamkeit der gezielten Nutzung von Behavior Change Techniques (BCTs), also Techniken zur Verhaltensänderung. In einer umfassenden Dar‐ stellung offerieren Michie und Kolleg*innen (2013) eine Taxonomie, die einen Überblick über die vorliegende Evidenz ermöglicht. Ziel dieser Techniken ist es, Veränderungen im Verhalten zu fördern und Individuen bei der Realisierung ihrer Ziele zu unterstützen. Hier konnten vorangehende Metaanalysen zeigen, dass die Verwendung von mehr BCTs mit einer höheren Effektivität der Intervention verknüpft ist (Webb et al., 2010). Beispiele hierfür sind das präzise Monitoring individueller Gesundheitsparameter, das Setzen von messbaren Zielen sowie die Integration von gamifizierten Elementen wie beispielsweise Fortschrittsbalken oder Avatarnutzung, wodurch Nutzer*innen die Möglichkeit erhalten, ihre Motivation zu steigern und effizienter auf ihre Trainingsziele hinzuarbeiten. Weiterhin können digitale Interventionen durch erprobte Methoden wie kognitive Umstrukturierung oder die Selbstregulation spezifisch auf die Förderung gesundheitsrelevanter Veränderungen ausgerichtet werden. Gleichzeitig bleibt unge‐ wiss, welche BCT-Kombinationen für welche Outcomes am vielversprechendsten sind und wie diese in die Intervention optimalerweise integriert sein sollten (Michie et al., 2018). In der sportpsychologischen Perspektive ergänzen psychische und kognitive Fak‐ toren die körperliche Aktivität als wesentliche Elemente für die Etablierung und Bei‐ behaltung gesundheitsfördernder Verhaltensweisen. Diese ganzheitliche Betrachtung verbindet sich mit den zuvor beschriebenen Behavior Change Techniques (BCTs) und den im nächsten Abschnitt erwähnten digitalen Technologien, indem sie verschiedene Parameter psychischer Gesundheit integriert. Digitale Technologien bieten außerdem innovative Ansätze zur Stärkung von Resilienzbildung und Stressregulationsfähigkeit. Studien von Wang und Kolleg*innen (2023) und Gong und Kolleg*innen (2023) belegen beispielsweise, dass der Einsatz mobiler Interventionen zur Stressbewältigung und Achtsamkeitsmeditation zu signifikanten Rückgängen von Stresssymptomen führt. Digitale Interventionen ermöglichen somit eine flexible Unterstützung beim Aufbau von Resilienz und können zum allgemeinen Wohlbefinden beitragen. Ein wichtiger Punkt für die Wirksamkeit digitaler Gesundheitsförderung ist die Dauer und Inten‐ sität der Intervention sowie die Adhärenz zur Nutzung der Interventionsinhalte der Teilnehmenden (Kelders et al., 2020). Da digitale Interventionen jederzeit und 16.1 Grundlagen digitaler Gesundheit 317 <?page no="318"?> an jedem Ort verfügbar sind, muss z. B. die Häufigkeit der Intervention sorgsam abgestimmt sein um Proband*innen nicht zu überlasten. Gleichzeitig ermöglicht es auch hochintensive Interventionen, die mehrmals am Tag, dafür aber nur über einen kürzeren Zeitraum gesendet werden und bereits Interventionseffekte zeigen (Garde et al., 2015). Dies wird insbesondere bei individualisierten Interventionen (Baumann et al., 2022) im Allgemeinen und Just-in-time-adaptive-Interventionen (Spruijt-Metz et al., 2014; Wunsch et al., 2022) im Speziellen angewandt, auf die wir in einem späteren Ka‐ pitel eingehen. Zusammengenommen deuten bisherige Erkenntnisse darauf hin, dass digitale Interventionen im Bereich der Gesundheitsförderung eine vielversprechende Perspektive für die Verbesserung der allgemeinen Gesundheit und des Wohlbefindens der Bevölkerung bieten (Howarth et al., 2018; Vandelanotte et al., 2016). Die umfassende Integration digitaler Technologien könnte dazu führen, dass Menschen ihre Gesund‐ heits- und Fitnessziele effektiver verfolgen, ihre psychische Gesundheit nachhaltig stärken und einen proaktiveren Ansatz zur Krankheitsprävention verfolgen - die tatsächliche Wirksamkeit hängt jedoch vermutlich sehr von individuellen Faktoren ab. Insgesamt scheinen digitale Interventionen zur Förderung körperlicher Aktivität von theoriebasierten Techniken der Verhaltensänderung zu profitieren. Es ist jedoch festzustellen, dass die Effektivität digitaler Interventionen nicht eindeutig und die Datenlage in diesem Bereich uneinheitlich ist. Bevor wir in die Details der Gestaltung und Umsetzung solcher Interventionen eintauchen, ist es notwendig, die bestehenden Herausforderungen und Unsicherheiten zu betrachten. In dem nachfolgenden Kapitel werden daher die Schlüsselfaktoren für effektive digitale Interventionen beleuchtet, wobei gleichzeitig offene Kontroversen in diesem Bereich kritisch analysiert werden. 16.2 Schlüsselfaktoren für effektive digitale Interventionen Effektive digitale Gesundheitsinterventionen sollten basierend auf einer Kombination von Schlüsselfaktoren implementiert werden, die maßgeblich die Effizienz, die Nut‐ zungsadhärenz und die Wirksamkeit dieser Interventionen bestimmen (Fiedler et al., 2020). Der erste Faktor, der als Schlüsselfaktor genannt wird, ist der Bezug zu wissenschaft‐ lichen Theorien. In Bezug auf die theoretische Grundlage digitaler Interventionen ist anzumerken, dass eine kohärente Orientierung an etablierten Theorien der gesundheit‐ lichen Verhaltensänderung (wie die sozial-kognitive Theorie, die Selbstbestimmungs‐ theorie, die Theorie des geplanten Verhaltens oder das transtheoretische Modell) eine wesentliche Rolle spielen kann. Diese Theorien bieten einen wertvollen Rahmen für das Verständnis von Verhaltensänderungsprozessen. Allerdings ist anzuerkennen, dass auch kritische Diskussionen in der Forschung stattfinden: 1. Es gibt Hinweise darauf, dass einige der etablierten Modelle nicht immer ausrei‐ chend geeignet sind, um das Verhalten vollständig zu erklären, insbesondere in Bezug auf die sogenannte Intentions-Verhaltens-Lücke. Neuere Ansätze wie 318 16 Individualisierte digitale Interventionen zur Unterstützung bewegungsbezogener Verhaltensänderung <?page no="319"?> Dual-Process-Modelle integrieren wichtige Aspekte, die in klassischen Modellen möglicherweise fehlen. Die Integration solcher „neueren Ansätze“ in digitale Interventionen verdient daher Aufmerksamkeit und weitere Forschung (vgl. Smith et al., 2017; Johnson et al., 2020). 2. Die Debatte über die Überlegenheit von theoriebasierten Interventionen ist kont‐ rovers. Einige Studien und Literaturquellen wie Hagger und Kolleg*innen (2019) haben die Wirksamkeit von theoriebasierten Ansätzen in Frage gestellt. Es ist wichtig zu beachten, dass die Beurteilung von „besser“ oder „effektiver“ in diesem Zusammenhang von verschiedenen Kriterien abhängt und differenziert betrachtet werden muss. In Anbetracht dieser Diskussionen wird deutlich, dass die Anwendung theoretischer Modelle in digitalen Interventionen eine komplexe Angelegenheit ist. Während sie eine solide Basis für das Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen bieten können, erfordert es auch Flexibilität und die Berücksichtigung neuerer Erkenntnisse, um den Erfordernissen der Nutzer gerecht zu werden. Eine umfassende Betrachtung der Lite‐ ratur und eine kritische Analyse sind daher von großer Bedeutung, um sicherzustellen, dass digitale Interventionen auf robusten wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren und die gesetzten Ziele erreichen. Des Weiteren ist die Einbettung der digitalen Intervention in einen sozialen Kontext von entscheidender Bedeutung. Der Austausch mit anderen, sei es durch Peer-Support, virtuelle Gemeinschaften oder die Beteiligung von Expert*innen und Trainer*innen, spielt eine essenzielle Rolle für den Erfolg der Intervention. Soziale Interaktionen ermöglichen den Nutzern, Erfahrungen auszutauschen, sich gegenseitig zu motivie‐ ren und eine unterstützende Gemeinschaft zu bilden. Eine Studie von Deng und Kolleg*innen (2023) belegt die Bedeutung der Einbettung in einen sozialen Kontext für digitale Interventionen. Das bedeutet, dass diese digitalen Lösungen nicht isoliert betrachtet werden sollten, sondern als Teil eines sozialen Systems, in dem Interaktionen und Beziehungen zwischen den Nutzern eine zentrale Rolle spielen. Drittens ist die Implementierung empirisch validierter Techniken zur Verhaltensänderung von großer Bedeutung (siehe Kapitel 1.2). Eine Vielzahl von Studien, beispielsweise Edwards und Kolleg*innen (2016), Direito und Kolleg*innen (2014) und Spohrer und Kolleg*innen (2021), verdeutlichen den Einfluss dieser Techniken auf den Erfolg digitaler Gesund‐ heitsinterventionen. Letztlich ist die datenbasierte Individualisierung von Inhalten (Baumann et al., 2022) ein entscheidender Faktor für die Effektivität digitaler Ge‐ sundheitsinterventionen. Durch kontinuierliche Erfassung und Analyse individueller Daten, wie Verhaltensmuster, Präferenzen und Zielsetzungen, können die Inhalte der Interventionen maßgeschneidert und auf die Bedürfnisse der Nutzer*innen abge‐ stimmt werden. Dies wird im Folgekapitel zum Thema ambulantes Assessment und mentale Gesundheit noch ausführlich erläutert. Eine Studie von Riley und Kolleg*innen (2011) unterstreicht die Relevanz individualisierter Inhalte für das Engagement der Nutzer und die langfristige Wirksamkeit digitaler Interventionen. Zusammenfassend können durch die Berücksichtigung dieser Schlüsselfaktoren - der Ausrichtung an 16.2 Schlüsselfaktoren für effektive digitale Interventionen 319 <?page no="320"?> wissenschaftlichen Theorien, der Einbettung in soziale Kontexte, der Implementierung validierter Verhaltensänderungstechniken und der datenbasierten Personalisierung - die Effektivität digitaler Gesundheitsinterventionen maximiert und die Nutzer*innen optimal in ihrem Streben nach gesundheitlicher Verbesserung unterstützt werden (Fiedler et al., 2020). 16.3 Mobile Gesundheitsinterventionen mHealth-Interventionen stellen sich als spezifische Untergruppe digitaler Gesund‐ heitsinterventionen dar, die eine zukunftsweisende Möglichkeit mit dem Potenzial zur Neugestaltung der Gesundheitsförderungs- und Präventionslandschaft darstellen. mHealth ermöglicht, individuell zugeschnittene Interventionen in großem Maßstab zu realisieren und eine Vielzahl an Menschen zu erreichen. Dank der rasanten Entwicklung von Sensoren, wie Beschleunigungsmessern und Herzfrequenzmonitoren (Reichert et al., 2020), ermöglichen solche Interventionen auch valide Echtzeitinter‐ ventionen direkt in der Lebenswelt der Proband*innen. Frühere Studien, weisen auf vielversprechende Ergebnisse bei der Förderung körperlicher Aktivität und Reduzie‐ rung von sitzendem Verhalten hin, insbesondere dann, wenn theoretische Grundlagen, soziale Unterstützung und verschiedene Techniken zur Verhaltensänderung in die Intervention integriert werden (Fiedler et al., 2020). Der größte Vorteil von digitalen Interventionen liegt in der Möglichkeit, diese hochzuskalieren. Hierdurch bekommen auch kleine bis moderate Effektstärken in Interventionen eine große Bedeutung, da diese sich auf Populationsebene potenzieren und dadurch aus der Perspektive der Gesundheitsförderung eine hohe Relevanz bekommen (Mönninghoff et al., 2021). Ein Beispiel dafür ist das 10.000-Schritte-Programm der CQUniversity Australia (Duncan et al., 2018) bei dem die mehr als 630.000 Teilnehmende in den letzten 22 Jahren bereits über 370 Milliarden Schritte gesammelt haben (Government of Queensland, 2024). Da bekannterweise jeder Schritt zählt, wenn es um Gesundheitsförderung geht (Paluch et al., 2022), ist der mögliche Nutzen solcher Interventionen erheblich. Steinhubl (2015) illustriert, wie mHealth-Interventionen die Bereitstellung von Ge‐ sundheitsdienstleistungen in traditionell unterversorgten und schwer zugänglichen Gebieten ermöglichen könnten. Mit zunehmender globaler Verbreitung mobiler Tech‐ nologien könnten diese Interventionen zur Minderung von Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung beitragen. Jedoch beleuchtet eine Studie von Szinay und Kolleg*innen (2023) kritische Aspekte hinsichtlich des digital divide. Sie untersucht, ob mobile Interventionen zur Förderung gewichtsbezogener Verhaltensweisen für alle Nutzergruppen gleich wirksam sind und stellt fest, dass Nutzungsmuster und Wirksamkeit je nach Alter, Geschlecht und sozioökonomischem Status variieren.Trotz der Vielzahl an Möglichkeiten, die mHealth-Interventionen bieten, befindet sich das Forschungsfeld noch in einer frühen Entwicklungsphase (Kamilu Sulaiman et al., 2023). Es bestehen Herausforderungen in Bezug auf den wissenschaftlichen Nachweis ihrer Wirksamkeit (multimodale Interventionen, geringe Datengenauigkeit) und deren 320 16 Individualisierte digitale Interventionen zur Unterstützung bewegungsbezogener Verhaltensänderung <?page no="321"?> praktische Anwendung (Usability, Skalierbarkeit und technologische Einschränkun‐ gen). Diese Diskrepanzen erfordern eine sorgfältige und differenzierte Untersuchung, die sowohl die positiven Aspekte als auch die Hürden, die mHealth-Interventionen mit sich bringen, hervorhebt. Die primäre Herausforderung, die oft in der Literatur betont wird, ist die Benutzerfreundlichkeit und Akzeptanz dieser Technologien. Die Arbeit von Stowell und Kolleg*innen (2018) deutet darauf hin, dass das Design und die Benutzeroberfläche von mHealth-Interventionen oft verwirrend und komplex sein können, was die Akzeptanz und langfristige Nutzung dieser Interventionen durch die Endbenutzer*innen erheblich einschränken kann. Dies ist besonders relevant für bestimmte Bevölkerungsgruppen wie ältere Menschen und Personen mit geringem technischem Wissen, die Schwierigkeiten bei der Anpassung an die Nutzung dieser In‐ terventionen haben könnten (Wildenbos et al., 2018). Darüber hinaus zeigen mHealth- Interventionen gemischte Ergebnisse hinsichtlich ihrer Effektivität. Eine systematische Übersichtsarbeit von Mönninghoff und Kolleg*innen (2021) bestätigt lediglich das Auf‐ treten von Gesundheitsveränderungen durch mHealth-Interventionen, weist jedoch auf die Notwendigkeit hin, diese Ergebnisse vorsichtig zu betrachten, da Langzeitstu‐ dien fehlen. Diese Lücke in der Forschung lässt Fragen hinsichtlich der Dauerhaftigkeit und des tatsächlichen Umfangs der Gesundheitsveränderungen offen. Daher ist es wichtig, die Wirksamkeit dieser Interventionen mit einer gewissen Zurückhaltung zu bewerten, bis umfassendere und langfristigere Daten verfügbar sind. Dennoch bieten mHealth-Interventionen erhebliche Vorteile und Potenziale. Ein Vorteil ist zum Beispiel die Fähigkeit zur kontinuierlichen, hochauflösenden Datenerfassung im Sinne von vielen Daten über den Tag verteilt (z. B. einen Datenpunkt pro Minute) als Grundlage für Interventionsinhalte. Die Erfassung von minutiösen Bewegungsdaten ermöglicht unter anderem die Analyse des 24-h-Zyklus (Rosenberger et al., 2019) der voneinander abhängigen Variablen Schlaf, körperliche Aktivität und sedentären Verhaltens, sowie zeitliche Schwankungen im Tagesablauf die zunehmend mehr Bedeutung in der Forschungslandschaft erhalten. Swan und Kolleg*innen (2012) heben in ihrer Studie die Bedeutung dieser Komponenten zur Verbesserung des Gesundheitsmonitorings und der Gesundheitsverwaltung hervor. Durch die kontinuierliche Erfassung von Gesundheitsdaten ermöglichen mHealth-Technologien eine präzise und zeitnahe Über‐ wachung des Gesundheitszustands und -verhaltens, was zu verbesserten Diagnosen, Behandlungen und Interventionen führen kann. Während mHealth-Interventionen durch ihre Fähigkeit zur kontinuierlichen und detaillierten Datenerfassung wichtige Einblicke und Vorteile bieten, liegt der Schlüssel zur Effektivität dieser Technologien in der Personalisierung der Gesundheitsversorgung, die individuelle Bedürfnisse und Umstände berücksichtigt und datennah bereitstellt. 16.4 Individualisierte Interventionen In der fortschreitenden Evolution der personalisierten Gesundheitsversorgung spielt der Grad der Individualisierung eine Schlüsselrolle. Im Rahmen von mHealth-Interven‐ 16.4 Individualisierte Interventionen 321 <?page no="322"?> tionen wird Individualisierung als Anpassung an die spezifischen Anforderungen und Umstände einer Person definiert. Sie bietet eine Möglichkeit, Barrieren zu überwinden, die Menschen davon abhalten, ihr Gesundheitsverhalten zu ändern oder unerwünsch‐ tes Verhalten zu stoppen (Chen et al., 2021; Maron et al., 2010). Individuell angepasste Interventionen, oft auch als adaptive, bedürfnisspezifische, zielgruppenspezifische, maßgeschneiderte oder personalisierte Interventionen bezeichnet (Baumann et al., 2022), bieten die Möglichkeit, personenzentrierte Interventionen auf verschiedenen Ebenen individueller Bedürfnisse zu implementieren und Individuen dabei zu unter‐ stützen, ihre Gesundheit aktiv zu überwachen (Tong et al., 2021). Solche Interventionen zielen darauf ab, das Gesundheitsverhalten und den Lebenskontext der Nutzer*innen optimal abzustimmen, wobei die Relevanz und Aktualität der Interventionen von essenzieller Bedeutung sind. Ein Beispiel im Kontext von Bewegung wäre eine App, die individuelle Bewegungsempfehlungen basierend auf dem täglichen Aktivitätsniveau und persönlichen Zielen des Nutzers bietet. Solche Apps können Echtzeitfeedback und maßgeschneiderte Übungspläne anbieten, die sich an den aktuellen Lebensumständen und Gesundheitszielen des Nutzers orientieren, um eine optimale Abstimmung zwi‐ schen Gesundheitsverhalten und Lebenskontext zu erreichen. Ein spezieller Anwendungsfall von Individualisierung in mHealth-Interventionen sind Just-in-time-adaptive-Interventionen ( JITAIs). Diese zielen darauf ab, Echt‐ zeitfeedback zu generieren, indem sie auf Präferenzen der Personen, Einzelpersonen und gesammelte Daten zurückgreifen. Mit diesem zusammengestellten, dynamischen Wissen können maßgeschneiderte Interventionen erstellt werden, die genau auf die Bedarfe und die Lebensbedingungen der jeweiligen Person abgestimmt sind. Das Grundprinzip ist dabei geleitet von der Theory of Change (Funnell et al., 2011). Das Ziel ist es dabei, in vielversprechenden Momenten eine Verhaltensveränderung zu unterstützen, wie z. B. eine Unterbrechung langer sedentärer Phasen, bei dem die Nutzer*innen gleichzeitig auch tatsächlich diese Verhaltensveränderung umsetzen können, also z. B. nicht in einem wichtigen Präsenzmeeting sind (Spruijt-Metz et al., 2014). Eine Intervention definiert sich als JITAI, wenn sie auf Echtzeitbedürfnisse reagiert, sich an Eingabedaten anpasst und automatisiert mit dem Ziel ausgelöst wird, die Intervention in einem Zustand sowohl von Vulnerabilität/ Opportunität als auch von Rezeptivität der Person zu liefern (Nahum-Shani et al., 2015). Nahum-Shani und Kolleg*innen (2018) verdeutlichten, dass durch die Integration von Echtzeitdaten, die durch mobile Technologien erfasst werden, Interventionen gezielter, relevanter und zeitlich angepasster angeboten werden können. Hierbei können selbstverständlich auch verschiedene BCTs wie Zielsetzung, Feedback etc. in die JITAI eingebaut werden. Um eine JITAI zu erstellen, müssen mehrere Punkte beachtet werden, die im Folgenden an einem einfachen Anwendungsbeispiel veranschaulicht werden sollen. Zuallererst ist es wichtig, ein distales Ziel der Intervention, z. B. Gesundheitsförderung, festzulegen und darauf basierend ein proximales Ziel, welches in der Intervention angesteuert wird, z. B. die Unterbrechung von langem Sitzverhalten, auszuwählen. Nun werden die Variablen ausgewählt, die die Datenbasis für das JITAI bilden. Ein einfaches 322 16 Individualisierte digitale Interventionen zur Unterstützung bewegungsbezogener Verhaltensänderung <?page no="323"?> Beispiel wäre, einen Bewegungssensor am Oberschenkel zu tragen, der misst, wie lange man sitzt. Diese Informationen werden dann über Bluetooth an ein Smartphone oder Tablet gesendet. Die Person kann auch Zeiten festlegen, zu denen er/ sie nicht gestört werden möchte oder keine Zeit für Übungen hat. Im nächsten Schritt wird festgelegt, wann genau die Unterstützung angeboten werden soll (sogenannte decision points). Hier bietet sich bei unserem proximalen Ziel zum Beispiel jede Minute während der Wachzeit an. Nun muss entschieden werden, unter welchen Bedingungen das JITAI ausgelöst wird (decision rule). Für das Fallbeispiel können wir festlegen, dass die Intervention gesendet wird, wenn 60 Minuten sedentäres Verhalten auf dem Sensor detektiert wurde und die Zeit der Intervention nicht in der von der Person gewählten Zeitspanne liegt. Zuletzt fehlen noch die intervention options. Hier wird festgelegt, was an einem decision point passiert. In unserem Beispiel würden wir festlegen, dass, wenn am decision point die decision rule nicht erfüllt wurde, kein JITAI stattfindet. Wenn die decision rule jedoch erfüllt wird, erhält die Person eine Push-Nachricht, die zu einer dreiminütigen Bewegungspause animiert. Dies ist eines der einfachsten Beispiele für eine JITAI. Es ist problemlos möglich, durch mehrere Datenquellen, decision rules und intervention options das JITAI sehr genau an die Bedürfnisse der Personen zuzuschneiden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Studie von Rabbie und Kolleginnen aus dem Jahr 2015. In dieser Studie wurden sowohl körperliche Aktivität als auch Ernährungs‐ daten untersucht. Sie nutzten GPS-Daten und berücksichtigten die Präferenzen der Nutzer*innen. Dabei kamen maschinelle Lernprozesse zum Einsatz. Diese Prozesse verwenden Algorithmen und Methoden der künstlichen Intelligenz, um aus Erfahrun‐ gen und Daten zu lernen. Dadurch können sie sich kontinuierlich verbessern, ohne dass eine explizite Programmierung notwendig ist. Diese Techniken wurden erfolgreich in ein JITAI integriert. So wird die digitale Gesundheitsversorgung von einer starren Struktur zu einer dynamischen, personalisierten und adaptiven Prozessgestaltung transformiert. Allerdings ist die Implementierung von JITAIs kein einfacher Prozess. Die Bestimmung des richtigen Zeitpunkts und des angemessenen Kontexts für eine Intervention birgt hierbei die größten Herausforderungen (Wunsch et al., 2022). Ein tiefgreifendes Verständnis der zugrundeliegenden Dynamiken des Gesundheitsverhaltens und der in‐ dividuellen Lebensumstände der Nutzer*innen ist unerlässlich. Liao und Kolleg*innen (2020) betonten die Bedeutung von robusten und präzisen Algorithmen für maschi‐ nelles Lernen und künstliche Intelligenz, die in der Lage sind, die Komplexität und Dynamik menschlicher Gesundheitsverhaltensmuster zu erfassen. Das Themenfeld der JITAIs steckt noch in den Kinderschuhen und gerade das Thema der Integration von Verhaltenveränderungstheorien muss dringend noch ausgebaut werden (Nahum-Shani et al., 2018). Doch trotz diverser Hindernisse bieten JITAIs gute Möglichkeiten zur Verbesserung von Gesundheitsinterventionen. Sie ermöglichen eine fein abgestimmte und personalisierte Unterstützung, die auf die spezifischen Bedürfnisse und Umstände des oder der Einzelnen zugeschnitten ist. Durch die Bereitstellung von relevanten und 16.4 Individualisierte Interventionen 323 <?page no="324"?> zeitnahen Interventionen könnten JITAIs das Engagement der Nutzer*innen erhöhen, da sie unnötige Interventionen möglichst vermeiden, was zu einer nachhaltigeren und effektiveren Nutzung von Gesundheitsinterventionen führt. Zusammenfassend repräsentieren JITAIs einen möglichen vielversprechenden Fortschritt in der Gesund‐ heitsforschung. Sie markieren einen bedeutenden Schritt in Richtung einer individuel‐ leren und dynamischeren Gesundheitsversorgung und stellen eine spezialisierte Form der Individualisierung dar, die das Potenzial hat, den Prozess der Verhaltensänderung grundlegend zu formen. 16.5 Ausblick Es wurde deutlich, dass das Feld der mobilen Gesundheitsinterventionen (mHealth) im Kontext von Digitalisierung, welche transformative Möglichkeiten für das Gesund‐ heitswesen verspricht, an Bedeutung gewinnt. Obwohl mHealth das Potenzial hat, individualisierte und kontextabhängige Lösungen für die Gesundheitsvorsorge und das Management chronischer Krankheiten anzubieten, wurden auch kritische Fragen bezüglich der Effektivität, Zugänglichkeit und Datensicherheit aufgeworfen, die wei‐ ter erforscht werden sollten. Während mHealth-Anwendungen das Potenzial zur Verbesserung der Patientenversorgung und -autonomie haben, ist es entscheidend, die Limitationen in Bezug auf Datenschutzbedenken, den digital divide und die Notwendig‐ keit einer evidenzbasierten Validierung zu berücksichtigen. Diese Herausforderungen müssen angegangen werden, um mHealth als integralen und verlässlichen Bestandteil in modernen Gesundheitssystemen zu etablieren. Innerhalb dieses umrissenen Rahmens manifestieren sich Just-in-time-adaptive- Interventionen ( JITAIs) als eine innovative methodologische Strategie, die datenge‐ stützte, personalisierte und reaktive Interventionen ermöglicht (Wang et al., 2020). Auf dem Gebiet der Sportpsychologie können JITAIs beispielsweise genutzt werden, um Menschen in Momenten hoher Anspannung oder Erschöpfung mental unterstützende Interventionen anzubieten, etwa durch achtsamkeitsbasierende Bewegungsinterventi‐ onen oder motivierende Erinnerungen an frühere Erfolge. Ebenso könnten sie bei der Modifikation gesundheitsschädlicher Verhaltensweisen helfen, beispielsweise indem ein Raucher in Zeiten starker Versuchung aufgefordert wird, eine Atemübung durch‐ zuführen oder einen Ort aufzusuchen, der mit Nichtrauchen assoziiert ist (Carpenter et al., 2020). JITAIs können auch eingesetzt werden, um langes Sitzen zu unterbrechen und regelmäßige Bewegungsphasen zu fördern (Fiedler et al., 2023). Betrachtet man den Blick in die Zukunft, so lässt sich ein wachsendes Forschungsinteresse an der Optimierung der Leistung und Effizienz von JITAIs erkennen. Eine mögliche Strategie ist die Integration fortschrittlicher Algorithmen des maschinellen Lernens, welche die Prognosegenauigkeit und Anpassungsfähigkeit dieser Systeme verbessern könnten (Aleem et al., 2022; Triantafyllidis & Tsanas, 2019). Die Verwendung von Deep Learning in der prädiktiven Analytik könnte beispielsweise dazu dienen, Verhaltensmuster und Kontexte tiefergehend zu analysieren, um präzise und zeitgerechte Interventionen zu 324 16 Individualisierte digitale Interventionen zur Unterstützung bewegungsbezogener Verhaltensänderung <?page no="325"?> ermöglichen (Fond et al., 2019). Eine weitere wichtige Forschungslücke bezieht sich auf die Verbesserung der Akzeptanz und Nutzung von JITAIs und digitalen Interventionen im Allgemeinen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Hier ist ein interdisziplinärer Ansatz vonnöten, der Designansätze zur Verbesserung der Nutzererfahrung und Zu‐ gänglichkeit dieser Systeme integriert und dabei soziodemographische und kulturelle Aspekte berücksichtigt, die die Akzeptanz und den Einsatz von mHealth-Technologien beeinflussen können (Latulippe et al., 2020; Ozkaynak et al., 2021). Für ältere Bevöl‐ kerungsgruppen könnte beispielsweise die Akzeptanz und Benutzerfreundlichkeit einer JITAI durch die Berücksichtigung von Aspekten wie größerer Schriftgröße, Sprachsteuerung oder einem vereinfachten Benutzerinterface erheblich gesteigert werden, für Kinder beispielsweise durch gamifizierte Ansätze. Auch Augmented- Reality- oder Virtual-Reality-Anwendungen könnten für einzelne Zielgruppen von Interesse sein. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Evaluation der Wirksamkeit dieser Interventionen. Hier stoßen traditionelle randomisierte kontrollierte Studien an ihre Grenzen. Neue Verfahren wie mikrorandomisierte Studien, Feldstudien und N = 1-Stu‐ dien rücken dabei in den Fokus, um die hochauflösenden Daten innerhalb von Personen präziser analysieren zu können (Conroy et al., 2020). Es ist zudem unerlässlich, eine gründliche Untersuchung der ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen von JITAIs durchzuführen. Insbesondere Fragen des Datenschutzes, der Datensicherheit und der sozialen Gerechtigkeit treten in den Vordergrund, da die zunehmende Nutzung von persönlichen Gesundheitsdaten und der Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen neue ethische und rechtliche Herausforderungen aufwirft (Martani et al., 2021). Dies könnte beispielsweise die Entwicklung von Datenschutzrichtlinien umfassen, die sowohl den Schutz der Privatsphäre der Nutzer*innen gewährleisten als auch die Vertrauenswürdigkeit und Transparenz von mHealth-Interventionen sicherstellen. In der aktuellen Forschungslandschaft der digitalen Gesundheitsinterventionen, einschließlich der mobilen Gesundheitsförderung (mHealth), werden transformative Potenziale für das Gesundheitswesen durch personalisierte und kontextbezogene Ansätze aufgezeigt, wobei zugleich Herausforderungen in Bezug auf die Effektivität, Zugänglichkeit und Datensicherheit bestehen. Just-in-time-adaptive-Interventionen repräsentieren eine spezifische Innovation innerhalb dieses Bereichs, die durch ihre datengesteuerte und individuell abgestimmte Ausrichtung gekennzeichnet ist, jedoch durch variierende Nutzerakzeptanz und komplexe Implementierungsanforderungen limitiert wird. Im Fokus der wissenschaftlichen Debatte steht die Integration von Verhaltenstheorien und fortschrittlichen Technologien, wie maschinellem Lernen, zur Steigerung der Leistungsfähigkeit und Effizienz von JITAIs, wobei die Herausforderung in der Verbesserung ihrer Akzeptanz über diverse Bevölkerungsgruppen hinweg besteht. Essenziell ist die Berücksichtigung ethischer, rechtlicher und sozialer Aspekte, insbesondere im Hinblick auf Datenschutz und soziale Gerechtigkeit, um die Integrität und Transparenz von mHealth-Interventionen zu sichern und ihre langfristige Effek‐ tivität zu gewährleisten. 16.5 Ausblick 325 <?page no="326"?> Frage an die Praxis � „Herr Schneider, in Ihrer Funktion als Leiter für globale mHealth-Interventionen einer internationalen Gesundheitsorganisation sind Sie maßgeblich für die Imple‐ mentierung digitaler Gesundheitsprogramme zur Verbesserung der allgemeinen Gesundheit und Lebensqualität von Menschen weltweit verantwortlich. Wie stel‐ len Sie sicher, dass Ihre Interventionen möglichst alle erreichen und global skaliert werden können? “ → „Ein entscheidender Faktor für den Erfolg unserer mHealth-Interventionen ist sicherlich die Zusammenarbeit mit regionalen Gesundheitsbehörden und -or‐ ganisationen. Die Akzeptanz und das Engagement dieser lokalen Partner sind entscheidend für die wirksame Implementierung unserer digitalen Gesundheits‐ programme. Wir arbeiten daher eng mit ihnen zusammen, teilen regelmäßig Fortschrittsberichte und holen ihr Feedback ein, um die Interventionen optimal an die lokalen Bedingungen anzupassen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Ausbildung und Schulung der lokalen Gesundheitsdienstleister. Wir bieten umfas‐ sende Schulungsprogramme an, um sicherzustellen, dass sie mit den digitalen Interventionen vertraut sind und diese effektiv an die Zielgruppen weitergeben können. Besonderes Augenmerk legen wir darauf, ihnen die Vorteile und den Nutzen unserer mHealth-Interventionen deutlich zu machen, um ihr Engagement und ihre Motivation zur Umsetzung dieser Programme zu stärken. Zur Verbreitung unserer mHealth-Interventionen nutzen wir auch eine breite Palette von Kom‐ munikationskanälen, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Dazu gehören digitale Plattformen, Social-Media-Kanäle, aber auch traditionellere Medien wie Rundfunk und Printmedien, insbesondere in Regionen, in denen der Zugang zum Internet eingeschränkt ist. Darüber hinaus sind die kontinuierliche Evaluation und Anpassung unserer Interventionen von zentraler Bedeutung. Wir führen regelmäßige Überprüfungen durch und holen Feedback von den Nutzern ein, um die Wirksamkeit unserer Interventionen zu beurteilen und gegebenenfalls Anpas‐ sungen vorzunehmen. Diese Rückmeldungen sind für uns unerlässlich, um die Interventionen kontinuierlich zu verbessern und auf die spezifischen Bedürfnisse der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen abzustimmen. Letztendlich hängt der Erfolg unserer mHealth-Interventionen von einer Kombination verschiedener Faktoren ab: einer engen Zusammenarbeit mit lokalen Partnern, einer effektiven Schulung von Gesundheitsdienstleistern, einer umfassenden Kommunikations‐ strategie und einer ständigen Evaluation und Anpassung. Diese ganzheitliche Herangehensweise ermöglicht es uns, unsere digitalen Gesundheitsprogramme auf globaler Ebene zu skalieren und dabei möglichst viele Menschen zu erreichen.“ 326 16 Individualisierte digitale Interventionen zur Unterstützung bewegungsbezogener Verhaltensänderung <?page no="327"?> Literatur Aleem,-S., Huda,-N.-u., Amin,-R., Khalid,-S., Alshamrani,-S.-S., & Alshehri,-A. (2022). Machine Learning Algorithms for Depression: Diagnosis, Insights, and Research Directions. Electro‐ nics, 11(7), 1111. https: / / doi.org/ 10.3390/ electronics11071111 Baumann, H., Heuel, L., Bischoff, L. L., & Wollesen, B. (2023). Efficacy of Individualized Sensory- Based mHealth Interventions to Improve Distress Coping in Healthcare Professionals: A Multi-Arm Parallel-Group Randomized Controlled Trial. Sensors, 23(4), 2322. https: / / doi.org / 10.3390/ s23042322 Baumann, H., Fiedler, J., Wunsch, K., Woll, A., & Wollesen, B. 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Neben dieser theoretischen Einbettung teilt Hans-Dieter Hermann seine Expertise und geht auf eigene Erfahrungen und praktische Impulse für die Sportpsychologie zu diesem Themenfeld ein. Hieraus lassen sich sowohl für die Theorie als auch für die Praxis Ableitungen ziehen. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1311. Lernziele ■ Die Leser*innen kennen grundlegende und aktuelle Ansätze der Führungsfor‐ schung, ■ entwickeln ein Verständnis dazu, wie diese Forschungsansätze in die Praxis überführt werden können, ■ entwickeln ein Verständnis dazu, was bei der Begleitung und beim Coaching von Führungspersonen im Sport berücksichtigt werden sollte und ■ verstehen, weswegen eine zeitgemäße Ethik für Führung im Sport wesentlich ist. Kathrin Staufenbiel: Hans, zunächst möchte ich mich herzlich bei dir bedanken, dass du dich für dieses Buchkapitel in Interviewform bereit erklärt hast! Mir war wichtig, das Thema Führung in das Buch aufzunehmen, da es ein sehr wichtiges Themenfeld für die angewandte Sportpsychologie ist und zukünftig sein wird. Hierbei geht es explizit um jede Form von Führung: Führung durch Athlet*innen, Trainer*innen und auch Funktionär*innen, z.-B. der Verbandsspitze. <?page no="336"?> Als langjähriger Sportpsychologe der Fußballnationalmannschaft hast du viel dazu beigetragen, dass die Sportpsychologie im Leistungssport angekommen ist. Durch deine Vorträge und Buchbeiträge bereicherst du unser Feld. Du bist einer der herausra‐ genden Führungspersonen der angewandten Sportpsychologie und begleitest in deiner Arbeit Führungskräfte wie Trainer*innen, Sportfunktionär*innen und Führungskräfte in der Wirtschaft. Ich bin daher sehr froh, dass wir uns über das Themenfeld Führung austauschen werden. Hans-Dieter Hermann: Vielen Dank, Kathrin, dass ich mich hier einbringen darf. Und vielen Dank für Deine Wertschätzung. Ich bin sehr gespannt auf Deine Fragen. Führung und Führungsstile im Sport Kahtrin Staufenbiel: Um inhaltlich einzusteigen, kommt nun zunächst eine offene Frage an dich: Was macht für dich eine erfolgreiche Führungsperson aus? Hans-Dieter Hermann: Man könnte zunächst ganz einfach sagen, dass eine Füh‐ rungskraft dann erfolgreich ist, wenn die Menschen, die sie führt, machen, was sie machen sollen. Aber das wäre sehr kurz gegriffen und zielt nur auf den Output. Zwingend gehört die Frage nach einer zeitgemäßen Ethik für eine Führungskraft dazu. Und zwar nicht nur, um den Ansprüchen einer zivilisierten Gesellschaft gerecht zu werden, sondern auch, weil diese Ethik einen wichtigen Teil dazu beiträgt, dass Menschen sich frei und sicher fühlen. Das wiederum führt dazu, dass sie aus eigenem Interesse auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten und für dieses Ziel kreative und vielleicht auch mutige Ideen entwickeln. Erst wenn das möglich ist, können alle ihr volles Potenzial entwickeln. Dadurch steht einer Führungskraft bzw. einem Team mehr Potenzial zur Verfügung als bei Führung durch Zug und Druck, obwohl die prinzipiell auch funktionieren kann. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Eine Führungs‐ kraft ist dann erfolgreich, wenn es ihr gelingt, Führung und Rahmenbedingungen einer gemeinsamen Aufgabe so zu gestalten, dass alle Beteiligten zur Lösung dieser Aufgabe ihr volles Potenzial entwickeln wollen und können. Kathrin Staufenbiel: Danke für diese Einordnung. Ich werde nun mit dir auf ein paar Ansätze und Theorien zu Führung schauen und ich freue mich über deine Sichtweise aus der Praxis dazu. Anschließend haben wir noch Zeit und Raum, um auf weitere Erfahrungen und Impulse aus der Praxis des Spitzensports einzugehen. Ein bekannter Mythos zu Führung ist ja, dass nur bestimmte Persönlichkeiten, nur bestimmte „Typen“ erfolgreiche Führungspersonen darstellen können. Die Forschung zu Führung widerlegt diese These - es können ganz unterschiedliche Menschen erfolgreiche Führungspersonen sein. Inwiefern entspricht dies deiner Erfahrung? Gibt es aus deiner Sicht etwas, was erfolgreiche Führungskräfte vereint? Hans-Dieter Hermann: Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie die jeweilige Führungskraft Erfolg definiert und in welchem Umfeld man sich bewegt. 336 17 Führung im Sport <?page no="337"?> Trotzdem gibt es im Kern ein paar Faktoren, auf die eine Führungskraft nicht verzichten kann. Dazu zählen insbesondere Konsistenz bzw. Verlässlichkeit in ihrer Kommu‐ nikation und in ihren Entscheidungen sowie die Verantwortungsübernahme für diese Entscheidungen. In engem Zusammenhang damit steht die Glaubwürdigkeit. Sie entsteht zum Teil durch konsistentes Verhalten, aber darüber hinaus ist es auch wichtig, dass eine Führungskraft echt und ehrlich wirkt. Das gelingt in aller Regel nur dann in vollem Umfang, wenn sich die Person mit den wesentlichen Merkmalen ihrer Aufgabe und ihrem Führungsstil identifizieren kann. Sowohl Konsistenz als auch Glaubwürdigkeit bieten schließlich einen guten Nährboden für Vertrauen - und ohne Vertrauen ist maximal wirksame Führung nicht möglich. Die genannten Konstrukte sind nicht angeboren bzw. Teil einer festgelegten Persönlichkeit, sondern sie entwi‐ ckeln sich aus einer angemessenen inneren Haltung in Verbindung mit regelmäßiger Reflexion und regelmäßigem Feedback. Dadurch bekommt eine Führungskraft ein zunehmendes Bewusstsein über ihr Verhalten sowie ihrer Wirkung auf andere. Zu diesem Bewusstsein gehört im Spitzensport insbesondere der eigene Umgang mit Drucksituationen als zentraler Faktor. Bewusstsein allein genügt allerdings nicht. Um Führung zu transportieren, braucht sie natürlich auch ein paar Werkzeuge, die aber ebenfalls erlernbar und nicht angeboren sind. Kathrin Staufenbiel: Damit sprichst du etwas an, was in der Führungsforschung als unterschiedliche Führungsstile bekannt geworden ist. Hier wird nicht die Persönlichkeit, sondern das Verhalten der Führungskräfte analysiert. Die Ursprünge dieses Ansatzes stammen von Bass (1985), der den Laissez-faire-, den transaktionalen und den transformationalen Führungsstil eingeführt hat. Während der Laissez-faire- Führungsstil die Abwesenheit von Führung beschreibt und somit die Führungskraft keine Führung übernimmt, beschreibt der transaktionale Führungsstil, dass hier der Fokus auf den Transaktionen zwischen Führungskraft und Mitarbeiter*in oder Spie‐ ler*in liegt. Es geht hier darum, dass genau festgelegt wird, was Mitarbeiter*innen oder Spieler*innen leisten müssen, um eine Gegenleistung wie Geld oder Einsatzzeit zu erreichen. Bei einem transformationalen Führungsstil geht die Führungskraft hingegen über diese Transaktionen hinaus und fördert die intrinsische Motivation beispielsweise durch das Aufzeigen einer attraktiven Vision, durch das Auftreten als Vorbild und die individuelle Förderung der Mitarbeiter*innen oder Spieler*innen. Wofür kann die Beschreibung der Führungsstile deiner Meinung nach für die Praxis hilfreich sein? Hans-Dieter Hermann: Die Anzahl und Unterschiedlichkeit der Führungsmodelle ist nicht zuletzt ein Hinweis, dass es offensichtlich schwierig ist, Führungsverhalten oder -modelle als „richtig“ oder „falsch“ zu bewerten. Es scheint sinnvoller, in Kategorien wie beispielweise „angemessen“ und „unangemessen“ bzw. „passend“ oder „nicht passend“ zu denken. Zu beachten ist darüber hinaus, dass die Führungsstilkategorien nicht disjunkt und zum Teil auch nicht zeitstabil sind. Gerade bei den vielbeachteten Führungskräften im Profifußball findet man häufiger wechselhaftes Führungsver‐ halten. Die Modelle helfen dabei, ein abstraktes und umfassendes Konstrukt, also Führung und Führungsstile im Sport 337 <?page no="338"?> Führung, konkret und greifbar zu machen. Durch das Wissen über relevante Faktoren und deren Zusammenhänge entsteht eine Art von Transparenz, man könnte auch sagen: so etwas wie eine Checkliste, die eine Führungskraft oder auch ein Führungs‐ kräfte-Coach nutzen kann, um sich zu orientieren und sich bewusst zu positionieren. Wer in der Führungspraxis allerdings rein auf der Verhaltensebene bleibt, greift zu kurz. Ein großer Vorteil von Verhalten ist, dass es konkret und oft gut sichtbar ist. Somit stellt Verhalten eine gute Basis für Reflexion und Feedback dar. Gerade mit Blick auf Glaubwürdigkeit ist es aber mindestens genauso wichtig, die Haltung zu hinterfragen, die hinter einem Verhalten steht und damit natürlich auch, wie es gelingt, Haltung und Führungsverhalten in Einklang zu bringen. Die Frage ist dann: Wofür willst Du stehen, liebe Führungskraft? Kathrin Staufenbiel: Reviewartikel belegen, dass die transformationale Führung positiv mit der Zufriedenheit, Motivation und Leistung der Mitarbeiter*innen in Verbindung steht (z. B. Judge & Piccol, 2004). Dabei wurde auch gezeigt, dass dies von der Situation und dem Kontext abhängt, z. B. von der bisherigen Leistung des Teams (Mach, Ferreira, Abrantes, 2021) oder der Kommunikation im Team (Smith, Arthur, Hardy, Callow & William, 2013). Kannst du das erfolgreiche Abschneiden von transformationalen Führungspersonen in der Praxis bestätigen? Und was trägt aus deiner Sicht zusätzlich zum Erfolg bei? Hans-Dieter Hermann: Von transformationalen Führungspersonen zu sprechen, wäre aus meiner Sicht nicht richtig. Eine Person ist nicht transformational, sondern ihr Stil und der kann sich grundsätzlich auch jederzeit in andere Richtungen verschieben. Und wenn wir vom Stil sprechen wollen, würde ich eindeutig sagen: Ja, Führungskräfte, die die Dimensionen der transformationalen Führung als Basis ihres Führungsstils nutzen, konnten damit in vielen Fällen positive Effekte erzielen. Ein zentraler Baustein ist dabei neben der Inspiration das gegenseitige Vertrauen, das bei einer guten trans‐ formationalen Führung entsteht. Bezüglich der Wirksamkeit von transformationaler Führung sollten wir aber auch bedenken, dass es in der Führungspraxis immer störende und möglicherweise nicht planbare Drittvariablen gibt, die das Ergebnis beeinflussen. Um diese negativen Effekte möglichst gering zu halten, genügt es in der Praxis nicht, wenn eine Führungskraft transformational führt, sondern auch das Umfeld bzw. die Team- oder Unternehmenskultur muss dazu passen, damit diese Art von Führung ihre volle Wirkung entfalten kann. Kathrin Staufenbiel: Danke dir für diese Einordnung. Auf weitere Personen im System kommen wir gleich noch zu sprechen. Ein Führungsansatz aus dem Sport ist das 3 + 1C-Modell ( Jowett & Poczwardowski, 2007). Jowett und Poczwardowski (2007) beschreiben die Beziehung zwischen Trainer*innen und Athlet*innen als inter‐ dependent, somit sollten nicht einzelne Verhaltensweisen im Fokus der Forschung und Praxis stehen, sondern das Zusammenspiel der Emotionen, des Verhaltens und der Gedanken zweier Personen. 3 + 1C steht für closeness, die emotionale Verbindung zwischen Trainer*in und Athlet*in, commitment, die Gedanken beider Personen und 338 17 Führung im Sport <?page no="339"?> die Intention, dieser Beziehung treu zu bleiben, complementarity, die Wechselhaftig‐ keit und Ergänzung der Verhaltensweisen und das zusätzliche C für coorientation stellt die Metaebene dar, inwieweit, Trainer*in und Athlet*in in der Wahrnehmung ihrer Beziehung übereinstimmen. Studien untersuchten die Antezedenzien und Kon‐ sequenzen einer positiven Beziehung zwischen Trainer*in und Athlet*in. Hier konnte beispielsweise gezeigt werden, dass eine positive Beziehung die Entwicklung von Spitzenathlet*innen maßgeblich beeinflusst ( Jowett & Cockerill, 2003). Inwiefern können Trainer*innen in Mannschaftssportarten aus deiner Sicht darin unterstützt werden, positive Beziehungen zu den einzelnen Teammitgliedern aufzubauen? Hans-Dieter Hermann: Die meisten Trainer*innen, insbesondere der jüngeren Generation, implizieren die Grundzüge des Modells von Jowett und Poczwardowski - auch wenn es nur wenige kennen dürften. Ihr Verhalten resultiert möglicherweise aus einer Mischung aus einer zunehmend führungsorientierten Trainer*innenausbildung und einer gewissen Empathie, die man in dieser Rolle benötigt. D. h. viele handeln vermutlich nicht bewusst nach diesem Modell, achten aber trotzdem darauf, eine gute und tragfähige Beziehung zu ihren Athlet*innen zu haben. Somit wäre das Bewusstmachen ein Punkt, an dem man ansetzen kann. Dieses Bewusstsein über das eigene Handeln und die damit verbundenen Effekte kann man z. B. dadurch unterstützen, dass man Trainer*innen Zeit und Methoden an die Hand gibt, um ihr Verhalten mit den Komponenten des 3 + 1C-Modells abzugleichen. Darüber hinaus hängen viele Komponenten dieses Modells im Wesentlichen von einer guten Kommu‐ nikation ab. Dementsprechend lohnt es sich, Trainer*innen die dafür notwendigen Kommunikationswerkzeuge zu vermitteln. Neben den Werkzeugen selbst sollten sie auch regelmäßig die Möglichkeit bekommen, sich zu reflektieren, z. B. mit Hilfe eines Coaches oder im Rahmen von Intervision, also dem gezielten Austausch auf Augenhöhe unter Trainer*innen. Außerdem sollte man das Thema Transparenz nicht unterschätzen. Es handelt sich dabei zwar nicht um ein Kommunikationswerkzeug im engeren Sinne, aber mit zunehmender Führungsspanne wird es zunehmend wich‐ tig, für Nachvollziehbarkeit zu sorgen. Insbesondere bei Mannschaftssportarten mit großem Konkurrenzdruck innerhalb einer Mannschaft ergibt sich daraus in vielen Fällen ein Balanceakt zwischen Nachvollziehbarkeit für alle Teammitglieder und Persönlichkeitsschutz einzelner. Aber unabhängig von den genannten Kompetenzen sollten Trainer*innen ganz pragmatisch vor allem darauf achten, Zeit mit all ihren Athlet*innen zu verbringen, gemeinsame Erfahrungen zu machen, um mit und an ihnen zu wachsen. Das setzt jedoch gegenseitiges Interesse und Vertrauen voraus und vor allem die Grundhaltung, als Trainer*in nicht nur taktisch, sondern sich auch menschlich weiterzuentwickeln. Kathrin Staufenbiel: Ein weiterer Ansatz der Führungsforschung ist die Geteilte Führung oder Shared Leadership, eingeführt beispielsweise von Conger und Pearce (2003). Bei Shared Leadership werden die Führungsansätze in Frage gestellt, die sich auf die Eigenschaften oder Verhaltensweisen einer einzelnen Person (z.-B. Trainer*in) be‐ Führung und Führungsstile im Sport 339 <?page no="340"?> ziehen. Ansätze von Shared Leadership gehen davon aus, dass Führung durch ein Netz an Personen unterschiedlicher Ebenen geschieht. Führung ist hier ein dynamischer, sozialer Prozess, bei dem mehrere Personen beteiligt sind. Teammitglieder führen sich gegenseitig, um die gemeinsamen Ziele zu erreichen. Um erfolgreich zu sein, ist es nach diesem Ansatz wesentlich, kollektive Lernprozesse zu ermöglichen. Was ist deine Sicht auf diesen Ansatz? Und wie schätzt du die Relevanz für den Leistungssport ein? Hans-Dieter Hermann: Für die Führungspraxis sollten wir uns zunächst noch einmal klar machen, dass die von dir bisher genannten Führungsansätze sich nicht gegenseitig ausschließen. Sie ergänzen sich. Ich habe ja bereits bei deiner Frage zu den Erfolgsfakto‐ ren von transformationaler Führung angesprochen, dass das Führungsverhalten einer einzelnen Person in der Praxis meist nicht genügt, um zuverlässig Effekte zu erzielen. Es benötigt darüber hinaus Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, dass Führung mög‐ lichst ungestört Wirkung entfalten kann. Neben Organisation, Werten und Prozessen gehören dazu selbstverständlich auch weitere Personen, die z. B. als Multiplikator oder Katalysator, also Verstärker, dienen. Durch die Perspektive der geteilten Führung wird das klassische Führungsverständnis aufgelöst. Führende und Geführte sind keine klar trennbaren Kategorien mehr, sondern es gibt unterschiedlich ausgeprägte Anteile. Wenn wir uns vor Augen führen, wie eine Fußballmannschaft funktioniert, wirkt das überraschend naheliegend: Ein*e Cheftrainer*in steht hierarchisch als Schlüssel‐ figur über den Spielern und gibt dadurch in der Regel die strategische Richtung vor. Parallel hat er*sie einen Staff, der diese Vorgabe im Rahmen der Expertise in den jeweiligen Bereichen interpretiert und sich in dieser jeweiligen Interpretation ebenfalls mit den Spielern auseinandersetzt. Innerhalb des Spielerkreises übernehmen ein Kapitän und ein Mannschaftrat Führungsaufgaben. Dazu gehört auch, sich mit dem*der Cheftrainer*in auseinanderzusetzen und ihm oder ihr Rückmeldung zu geben. Bisher reden wir vor allem über das, was vor und nach einem Spiel passiert. Im Spiel selbst ist jedoch der vermeintlich große Einfluss von hierarchischer und institutioneller Führung nur noch gering. Trainer*innen und Fachleute können nur noch sehr begrenzt steuern. Dafür sind bei einer Standardsituation vor dem eigenen Tor dann plötzlich die Führungsqualitäten des Torhüters gefragt, um diese Situation zu lösen. In einem Team mit gut funktionierenden Führungs- und Kommunikationsprozessen wäre es aber mit hoher Wahrscheinlichkeit so, dass Art und Inhalt der Führung des Torwarts zu dem Führungsrahmen passen, der ursprünglich durch Cheftrainer*innen abgesteckt wurde. Wie man an diesem Beispiel sieht, ist Shared Leadership ein ganz natürlicher Teil des Mannschaftssports, auch wenn es in der Praxis wahrscheinlich niemand so nennen würde. Aber die Mechanismen sind gegeben, deshalb sollten wir selbstverständlich auch den Anspruch haben, ihr Potenzial gezielt zu nutzen. Um es nutzen zu können, braucht es neben vielen anderen Komponenten gegenseitiges Vertrauen in Verbindung mit Handlungssicherheit durch Rollen- und Aufgabenklarheit. Je mehr Personen am Prozess beteiligt sind, umso weniger Raum darf es für typische Sätze wie „Das hätte doch allen klar sein müssen“ geben. Um das zu gewährleisten, brauchen alle Personen, 340 17 Führung im Sport <?page no="341"?> die an geteilter Führung beteiligt sind, eine dauerhaft hohe Bereitschaft zum gegenseitigen Austausch. Kathrin Staufenbiel: Shared Leadership ist mit dem Ansatz von Athlete Leadership oder der Führung durch Athlet*innen oder Spieler*innen verbunden. Hier wird betont, wie wichtig eine geteilte Führung unter den Athlet*innen ist und als praktische Beispiele Führungsworkshops für alle Teammitglieder empfohlen (Schotanus & Martin, 2022). Was denkst du dazu? Hans-Dieter Hermann: Prinzipiell ist es sinnvoll, möglichst viele Spieler*innen beim Thema Führung besser zu machen. Je weiter Führung verteilt wird, umso wichtiger wird dann aber auch, sich zwei Dinge klarzumachen: 1. Bei diesem Führungsverständnis spielt Hierarchie und Weisungsbefugnis nur noch eine nachrangige Rolle, deshalb ist oft Augenhöhe wichtig bzw. sogar erforderlich. Spieler*innen würden dabei vermutlich gar nicht von „Führung“ sprechen, sondern eher von „andere mitnehmen“. 2. Führung hat zwei Seiten: Führende und Geführte. Wenn viele Personen sich an Führung beteiligen, wird es zunehmend wichtig, Rollen klar abzugrenzen. Und das betrifft nicht nur Führungsrollen. Alle Beteiligten brauchen ein klares Verständnis dafür, dass es nicht nur eine Kompetenz ist, gut zu führen, sondern auch, sich führen zu lassen. Kathrin Staufenbiel: Ich finde diesen Ansatz spannend, auch weil ich davon ausgehe, dass es zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen passt. Athlet*innen werden aus meiner Sicht eine sehr hierarchische Führung nicht mehr so häufig akzeptieren oder hierbei zumindest nicht ihr Potenzial abrufen. Wie schätzt du das ein, bin ich zu „optimistisch“? Hans-Dieter Hermann: Ich denke auch, dass geteilte Führung zum Zeitgeist und insbesondere zum Selbstverständnis der Generation Z passt. Wie alle anderen Führungsmodelle auch sollte geteilte Führung aber keinen alleinigen Anspruch auf Richtigkeit haben. Ich sehe den Wert dieses Modells vor allen Dingen darin, dass sich dadurch eine weitere Dimension eröffnet. Meiner Einschätzung nach gibt es im Leistungssport und in der Wirtschaft eine zunehmende Zahl von Situationen und Konstellationen, in denen geteilte Führung großes Potenzial hat. Aber ich gehe auch für die Zukunft davon aus, dass in extrem zugespitzten Situationen unter hohem, zeitlichem Druck oder unter einer hohen Erwartungshaltung klare Hierarchien und Verantwortungsübernahme etwas sehr Entlastendes und Zielführendes haben. Coaching im Leistungssport Kathrin Staufenbiel: Nun komme ich zu ein paar allgemeineren Fragen: Was ist aus deiner Sicht auf Seiten der sportpsychologischen Kolleginnen und Kollegen besonders Coaching im Leistungssport 341 <?page no="342"?> wichtig, um Führungskräfte im Leistungs- und Spitzensport, Trainer*innen oder Manager*innen, zu coachen und in ihren Aufgaben zu unterstützen? Hans-Dieter Hermann: Ähnlich meiner Sicht auf Führungsmodelle und Führungs‐ verhalten glaube ich auch hier sagen zu dürfen: Es gibt nicht die eine richtige Lösung. Weder für die Führungskräfte noch für ihre Coaches. Aus Sicht der Führungskraft selbst finde ich es deshalb zunächst wichtig, dass sie bereit und in der Lage ist, sich selbst in der Rolle anzunehmen und sie somit auch in der Lage ist, in ihrer Arbeit und Führung glaubwürdig zu bleiben. Das bedeutet für unsere sportpsychologischen Kol‐ leginnen und Kollegen zum einen, dass sie eine große Offenheit für unterschiedliche Herangehensweisen und Typen brauchen, und zum anderen, dass sie die Führungskraft in diesem Prozess der Selbstfindung unterstützen und stärken sollten. Da heute viele Führungskräfte gut ausgebildet sind, geht es bei diesem Prozess sicher deutlich mehr um Feedback und Reflexion als um die Vermittlung von Fach- und Führungswissen. Kathrin Staufenbiel: Was hat sich für dich in dieser Hinsicht bei der Begleitung von internationalen Großevents wie Europa- oder Weltmeisterschaften als wichtig erwiesen? Hans-Dieter Hermann: Das Wichtigste ist die Vorbereitung. Alle wesentlichen Punkte sollten mit ausreichend Vorlaufzeit, also im Regelfall über Monate verteilt, so gut wie möglich bearbeitet und ggf. auch trainiert sein. Dabei können Fragen wie „Was könnte beim Event wichtig werden? “, „Worauf wollen wir achten? “ und „Wie können wir das vorbereiten? “ eine Rolle spielen. Eigentlich eine Banalität, aber es ist oft nicht leicht, Personen mit Führungsverantwortung davon zu überzeugen, dass es sich im Vorfeld eines Events lohnt, Zeit und Energie in die Prävention zu stecken. Beim Event selbst sollte man vor allem der Gefahr widerstehen, in Aktionismus zu verfallen. We‐ niger ist mehr. Interventionen sollten vorsichtig dosiert, aber dafür umso sorgfältiger ausgewählt werden. Gezielte, klar abgegrenzte Impulse in die richtige Richtung. Für die Rolle des Sportpsychologen oder der Sportpsychologin bedeutet das vor allen Dingen, ansprechbar und flexibel zu sein und durch eigene Reflexionsmechanismen dafür zu sorgen, dass man selbst den klaren Blick auf die Situation nicht verliert. In Bezug auf die Arbeit mit Führungskräften sollte auch beim Großevent Raum für regelmäßiges Feedback eingeplant werden. Dementsprechend sollte auch dazu mit ausreichend Vorlaufzeit vor dem Event geklärt werden, wie und in welcher Dosierung sich eine Führungskraft auf so etwas einlassen kann und will. Führungsforschung Kathrin Staufenbiel: Hast du auch Anregungen oder Impulse für die Führungsfor‐ schung im Sport? Welches Phänomen aus der Praxis könnte aus deiner Sicht einmal theoretisch oder empirisch beleuchtet werden? 342 17 Führung im Sport <?page no="343"?> Hans-Dieter Hermann: Es ist zwar kein ganz neues Forschungsthema, aber ich halte den Social-Identity-Leadership-Ansatz (Steffens et al., 2021), der auf Henri Tajfel und vor allem auf John Turner zurückgeht, für eine sehr interessante Ergänzung zu den Modellen, über die wir bisher gesprochen haben. Dieser Ansatz beschäftigt sich kurz gesagt damit, wie stark eine Führungskraft von einer Gruppe als sozial zugehörig wahrgenommen wird und wie sich das auf die Wirksamkeit des Führungsverhaltens auswirkt. Bei einem Promotionsprojekt, das ich begleiten durfte, haben sich aus diesem Ansatz ein paar durchaus interessante Implikationen für den Leistungs- und Profisport ergeben. Zum Beispiel ist es für Trainer*innen eine große Herausforderung, dass sie genau genommen nicht nur einen hohen Identifizierungsgrad bei der Mannschaft brauchen, sondern auch beim Staff und den Funktionären eines Vereins oder Verbandes. Es ist gar nicht so leicht, den Anforderungen aller drei Gruppen gerecht zu werden und dabei auch noch bei sich selbst zu bleiben. Ich fände es spannend, wenn diese Zusam‐ menhänge und daraus resultierende Ansatzpunkte für Interventionen insbesondere mit Anwendungsbezug noch näher beleuchtet werden können. Kathrin Staufenbiel: Vielen Dank für das Teilen deiner Erfahrung und Mitwirken an diesem Buch! Ein weiterführendes Interview mit Monika Liesenfeld und Hans-Dieter Hermann ist unter https: / / m.youtube.com/ watch? v=PAJUemRa4Is zu finden. Literatur Bass, B. M. (1985). Leadership and performance beyond expectations. New York: Free Press. Jowett, S. (2007). Interdependence analysis and the 3+1Cs in the coach-athlete relationship. In S. Jowett & D. Lavallee (Hrsg.), Social psychology in sport (S.-15-77). New York, NY: Routledge. Jowett, S. & Cockerill, I. M. (2003). Olympic medallists’ perspective of the althlete-coach relationship. Psychology of Sport and Exercise, 4, 313-331. doi: 10.1016/ S1469-0292(02)00011-0. Judge, T. A. & Piccol, R. F. (2004). Transformational and transactional leadership: A metaanalytic test of their relative validity. Journal of Applied Psychology, 89, 755-768. doi: 10.1037/ 0021-9010. 89.5.755. Mach, M., Ferreira, A. I. & Abrantes, A. C. M. (2021). Transformational leadership and team performance in sports teams: A conditional indirect model. Applied Psychology, 71, 662-694. doi: 10.1111/ apps.12342. Schotanus E. & Martin L. (2022). Let them lead: The benefits of shared athlete leadership. https: / / sirc.ca/ blog/ shared-athlete-leadership/ Smith, M., J., Arthur, C., A., Hardy, J. & Callow, N. (2013). Transformational leadership and task cohesion in sport: The mediating role ofintrateam communication. Psychology of Sport and Exercise, 14 (2), 249-257. https: / / doi.org/ 10.1016/ j.psychsport.2012.10.002 Literatur 343 <?page no="344"?> Steffens, N. K., Munt, K. A., van Knippenberg, D., Platow, M. J., & Haslam, S. A. (2021). Advancing the social identity theory of leadership: A meta-analytic review of leader group prototypicality. Organizational Psychology Review, 11(1), 35-72. https: / / doi.org/ 10.1177/ 2041 386620962569 344 17 Führung im Sport <?page no="345"?> 18 Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl Monika Liesenfeld, Kathrin Staufenbiel Das Kapitel ist ein Expertinnengespräch in Interviewform zwischen den Sport‐ psychologinnen Monika Liesenfeld und Dr. Kathrin Staufenbiel. Dabei werden grundlegende und aktuelle Ansätze und Theorien zu Selbstvertrauen und Selbst‐ mitgefühl im Sport kurz beschrieben und in Bezug auf die praktische Relevanz und Anwendbarkeit hinterfragt. Hierbei wird insbesondere auf Forschung zu Selbstwirksamkeit bzw. self-efficacy in sport (z. B. Feltz, Short & Sullivan, 2008) und zu Selbstmitgefühl bzw. self-compassion in sport (z. B. Crozier, Mosewich, & Ferguson, 2019) eingegangen. Neben dieser theoretischen Einbettung teilt Monika Liesenfeld ihre Expertise und geht auf eigene Erfahrungen und praktische Impulse für die Sportpsychologie zu diesem Themenfeld ein. Hieraus lassen sich sowohl für die Theorie als auch für die Praxis Ableitungen ziehen. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1312. Lernziele ■ Kenntnis der psychologischen Konstrukte Selbstvertrauen und Selbstmitge‐ fühl ■ Kenntnis von Interventionen, wie in der sportpsychologischen Praxis an den Themen Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl gearbeitet werden kann ■ Kenntnis des systemischen Beratungsansatzes und Entwicklung eines Ver‐ ständnisses, wie dieser systemische Beratungsansatz in der Praxis des Spitzen‐ sports wirksam ist Kathrin Staufenbiel: Monika, zunächst möchte ich mich herzlich bei dir bedanken, dass du dich für dieses Buchkapitel in Interviewform bereit erklärt hast! Du bist seit 2005 am Olympiastützpunkt in Berlin als hauptamtliche Sportpsychologin angestellt - ein reicher Erfahrungsschatz über viele Sportarten, der in Deutschland in diesem Umfang einmalig ist. Zudem gehören wir beide zu den systemisch arbeitenden Sport‐ psychologinnen, was ich auch gerne in unser Interview einfließen lassen möchte. Bei all den Themen, die mir in der sportpsychologischen Praxis begegnen, kommt das Thema Selbstvertrauen sehr häufig vor. In den letzten Jahren erlebe ich den Trend, nicht nur das Selbstvertrauen, sondern viel mehr auch das Selbstmitgefühl zu betrachten. <?page no="346"?> Selbstmitgefühl beschreibt das Mitgefühl und die Freundlichkeit mit sich selbst. Aus meiner Sicht ist das ein wichtiger Ansatz gerade im Leistungssport. Wie war dein beruflicher Werdegang und wie sind die Themen Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl für dich in den Fokus geraten? Monika Liesenfeld: Liebe Kathrin, vielen Dank für deine einleitenden Worte. Also ich bin Diplom-Psychologin und Diplom-Sportlehrerin und arbeite, wie bereits von dir gesagt, seit 2005 als festangestellte Sportpsychologin am Olympiastützpunkt (OSP) in Berlin. Bevor ich in Berlin als damals einzige festangestellte Sportpsychologin an einem OSP in Deutschland angefangen habe, arbeitete ich in Köln an der Deutschen Sport‐ hochschule bei Prof. Nitsch und Prof. Kleinert. Von Köln bin ich an die Universität in Potsdam gegangen und war dort bei Prof. Beckmann in der Abteilung Sportpsychologie tätig. Anschließend hat es mich aus der sportpsychologischen Forschung heraus in die Angewandte Sportpsychologie verschlagen, wo ich heute immer noch tätig bin. Die praktische Arbeit mit den Athlet*innen macht mir sehr viel Spaß. In der Zusammenar‐ beit mit den Sportler*innen habe ich schnell gemerkt, dass meine beiden Studiengänge für die Arbeit allein nicht ausreichen und ich mich weiterbilden muss. Entsprechend habe ich noch einige Weiterbildungen absolviert: Ressourcenorientierte Beratung (BDP), Hypnosystemische Beratung (MEG), systemische Therapeutin und Supervisorin (DGSF) und Ego-State Therapie. Alle Weiterbildungen haben einen systemischen Hintergrund, der mich schon seit meiner ersten Diplomarbeit im Sport begleitet und mich seitdem fasziniert. Ich finde die systemische Arbeit besonders geeignet für den Sportkontext und auch das Thema Selbstvertrauen kann mit dem systemischen Hintergrund gut bearbeitet werden. Dass Athlet*innen Probleme mit Selbstvertrauen haben, vermutet man ja erst mal nicht im Leistungssport. Häufig existiert immer noch das Bild von starken, selbstbewussten Athlet*innen im Leistungssport, die so schnell nichts erschüttern kann. Aber auch Leistungssportler*innen beschäftigen Fragen zum Thema Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl, auch vielleicht gerade, weil von ihnen gefordert wird, ein bestimmtes gesellschaftliches Bild aufrecht zu erhalten. Selbstvertrauen Kathrin Staufenbiel: Vielen Dank für die Einführung. Um weiter inhaltlich einzu‐ steigen, kommt nun eine offene Frage an dich: Woran würdest du als systemisch arbeitende Sportpsychologin ein „gutes“ Selbstvertrauen festmachen? Monika Liesenfeld: Da möchte ich im Folgenden zunächst mein Verständnis des systemischen Ansatzes skizzieren. Die systemische Arbeit hat einen konstruktivisti‐ schen Hintergrund, d. h. vereinfacht gesagt, dass man nicht davon ausgehen kann, dass es eine allgemeingültige Wirklichkeit gibt, sondern dass Beschreibungen, Unter‐ scheidungen und Annahmen, die unsere Wirklichkeitskonstruktion bestimmen, immer vom jeweiligen Beobachtungsausschnitt und dem zugehörigen Kontext abhängig sind. Dies erfordert ein kontextorientiertes Vorgehen. Dabei liegt der Fokus auf Ressourcen- 346 18 Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl <?page no="347"?> und Lösungsorientierung, Wertschätzung und Prozessbegleitung als zentrale Säulen der systemischen Beratung. Die Sportler*innen werden als Expert*innen angesehen, die die Lösung des Problems schon in sich tragen. Ihre Denk- und Handlungsmuster werden transparent gemacht, eine autonome Zielbestimmung angestrebt sowie Kom‐ munikationsprozesse verbessert (Königswieser et al. 2006, Lang 2005, Lieb 2009). Dabei werden verschiedene Perspektiven (innen und außen) erhoben, die für den Kontext und die Problemsituation relevant sind und die sich zu einem Gesamtbild ergänzen. Durch das Hinterfragen der bisherigen „Wirklichkeitskonstruktionen“ der Athlet*innen erweitert sich der Blick auf das Problem oder die schwierige Situation, und die Sportler*innen können durch die Anregung von Suchprozessen (in der Regel über Fragen) kreative Möglichkeiten zur Lösung des Problems in dessen persönli‐ chen Kontext entwickeln (vgl. Bamberger, 2001). Somit ist ein Ziel der systemisch arbeitenden Sportpsycholog*innen, subjektive Theorien und Erklärungsmodelle der Sportler*innen möglichst detailliert zu erfragen, da dies der Unterschiedsbildung und dem Anstoßen von Veränderungen dient. Vor diesem Hintergrund kann ich die Frage nach einem guten Selbstvertrauen nicht so pauschal beantworten. Ich betrachte das Selbstvertrauen immer im Kontext und in der Zusammenarbeit mit den Athlet*innen. Was bedeutet für die jeweiligen Athlet*innen Selbstvertrauen? In welchen Situationen zeigt es sich, wo zeigt es sich nicht? Welche Kontextbedingungen haben Einfluss auf das Erleben von Selbstvertrauen? Dies erkunde ich bei jedem*r Athlet*in immer wieder neu. Aspekte, die aber häufig bei vielen Sportler*innen eine Rolle spielen sind Fragen wie „Wie gehe ich mit Erwartungen anderer um? Wie mit eigenen Fehlern und Misserfolgen? Wie differenziert betrachte ich meine Situation? “ Hier gibt es schon Unterschiede im Umgang mit Erwartungen, Misserfolgen oder Druck, die sich dann auf das Selbstvertrauen einer Person auswirken. Ich spreche von einem guten Selbstvertrauen, wenn Sportler*innen im Einklang mit sich sind, es schaffen, bei Misserfolgen differenziert auf ihre Situation zu schauen, Druck und Erwartungen anderer gut kanalisieren können und an ihre Fähigkeiten glauben. Ansätze und Theorien zu Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl Kathrin Staufenbiel: Danke für diesen Einblick. Ich werde nun mit dir auf ein paar Ansätze und Theorien zu Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl schauen. Dazu freue ich mich über deine Sichtweise aus der Praxis. Anschließend haben wir noch Zeit und Raum, um auf weitere Erfahrungen und Impulse aus der Praxis des Spitzensports einzugehen. Umgangssprachlich wird Selbstvertrauen meist als positives Wertgefühl einer Person verstanden. Selbstvertrauen ist dabei der Glaube an die eigenen Fertig‐ keiten und Fähigkeiten. In der wissenschaftlichen Forschung, insbesondere auch in der Angewandten Sportpsychologie, wurde in diesem Zusammenhang am häufigsten die sogenannte Selbstwirksamkeitserwartung betrachtet (self-efficacy expectation), ein Konstrukt, welches auf Bandura (1982) zurückgeht. Die Selbstwirksamkeitserwartung beschreibt die Erwartung an die eigenen Fertigkeiten und Fähigkeiten und ist relativ Ansätze und Theorien zu Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl 347 <?page no="348"?> situations- und bereichsspezifisch. So kann die Selbstwirksamkeitserwartung von einer Athletin für schulische Leistungen in Klausuren höher liegen als für die sportlichen Leistungen bei Wettbewerben. Die Forschung zur Selbstwirksamkeitserwartung hat zeigen können, dass dies ein positiver Prädiktor für sportliche Leistungen und für das Erlernen motorischer Fertigkeiten ist (Feltz, Short, & Sullivan, 2008). Inwiefern kannst du das aus deiner Praxis bestätigen? Monika Liesenfeld: Das passt gut zu dem, was ich oben schon zum systemischen Selbstverständnis beschrieben habe. In der systemischen Arbeit sagen wir nicht, „ein*e Sportler*in hat Selbstvertrauen“. Wir fragen danach, in welchen Situationen eine Person Selbstvertrauen zeigt und fragen nach, wodurch dies beeinflusst werden kann. Wir schauen also hier situations- und bereichsspezifisch. Ich habe es schon oft erlebt, so wie du es oben beschrieben hast, dass ein*e sehr erfolgreiche*r Athlet*in z. B. Probleme hat, ein Referat vor der Klasse zu halten, also sich den Mitschüler*innen und Lehrer*innen zu präsentieren. Eine Eigenschaft, die im Wettkampf gut beherrscht wird, in der vergleichbaren Schulsituation aber gar nicht bis schlecht funktioniert. Also bezogen auf diesen Punkt kann ich deine Ausführungen aus meiner Praxis bestätigen. Geringe Selbstwirksamkeitserwartungen ziehen aber nicht zwangsläufig auch schlechtere sportliche Leistungen nach sich. Hier muss man differenzieren. Ich kenne Athlet*innen, die sehr negative Selbstwirksamkeitserwartungen haben und international dennoch sehr erfolgreich sind. Über negative Erwartungen kann man kurzfristig sehr viel Energie aktivieren, was zu einer guten Leistung führen kann. Ob das im Hinblick auf das psychische Wohlbefinden eine gute Strategie ist oder nicht, würde ich hinterfragen, doch kurzfristig kann es zumindest erfolgreich sein. Diese Erfahrung deckt sich auch mit Forschungsergebnissen zur Handlungs- und Lageorientierung (vgl. Beckmann & Strang, 1991). Bei Schnellkraftsportarten, wo es darum geht, über einen kurzen Wettkampfzeitraum Leistungen zu erbringen, können lageorientierte Menschen mit Misserfolgserwartung durchaus gute Leistungen zeigen. Dies ist natürlich schwierig, über einen langen Wettkampfzeitraum aufrechtzuerhalten, da es viel zu anstrengend wäre. Hier ist es dann gut, mit den Sportler*innen an anderen Strategien und der Selbstwirksamkeitserwartung zu arbeiten. Kathrin Staufenbiel: Laut Studienergebnissen führen erfolgreiche Leistungen auch zu einer gesteigerten Selbstwirksamkeitserwartung (Feltz, Short, & Sullivan, 2008). Insgesamt werden vier Quellen der Selbstwirksamkeitserwartung beschrieben: 1. bisherige Erfolgserlebnisse 2. Einfluss der Trainer*innen (Überredung, Überzeugung) 3. Beobachtungen und Vergleich mit erfolgreichen Vorbildern (Modellen) 4. Interpretation der eigenen Körpersignale (z.-B. körperliches Befinden) Wie schätzt du diese Quellen der Selbstwirksamkeitserwartung ein und inwiefern arbeitest du mit diesen Quellen in deiner Beratungspraxis? 348 18 Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl <?page no="349"?> Monika Liesenfeld: Ich denke, dass sind vier wichtige Quellen der Selbstwirksam‐ keitserwartung. Häufig höre ich von Sportler*innen, dass sie gerne mal wieder Erfolg hätten, dann würde sich auch ihr Selbstvertrauen wieder steigern. Den Einfluss der Trainerschaft halte ich ebenfalls für sehr wichtig. Und auch die beiden anderen Aspekte halte ich für bedeutend bezogen auf Selbstwirksamkeitserwartung. In meiner Praxis arbeite ich häufig in der Kombination dieser vier Quellen. Ich kombiniere z. B. die Arbeit mit dem eigenen Körper mit aktuellen Situationen und bisherigen Erfolgserleb‐ nissen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell sich unsere Körperreaktionen an Situationen anpassen. Ein*e Athlet*in hat eine ganz andere Körperhaltung etc., wenn sie von einem Erfolgserlebnis spricht oder von einem Misserfolg. Diese Unterschiede herauszuarbeiten und den Athlet*innen bewusst und spürbar zu machen, ist ganz wichtig. Überhaupt ist für mich die vierte Quelle, also die Interpretation der eigenen Körpersignale sehr bedeutend. Kathrin Staufenbiel: Beckmann-Waldenmayer und Beckmann (2019) beschreiben, dass die Erwartungen anderer (z. B. Eltern, Trainer*innen, Sponsoren) einen großen Einfluss auf das Selbstvertrauen haben können. Sie schlagen vor, dass es hier eine wichtige Intervention sein kann, mit den Athlet*innen diese Erwartungen zu prüfen. Sind dies z. B. eigene, wahrgenommene oder tatsächlich geäußerte Erwartungen? Wie siehst du das vor dem Hintergrund deiner Praxiserfahrung? Monika Liesenfeld: Ich erlebe oft Sportler*innen, die sagen, dass sie ihre Eltern oder den*die Trainer*in nicht enttäuschen wollen. Oder Athlet*innen, die international sehr gut unterwegs sind und plötzlich den Druck und die Erwartungen der Medien spüren, unbedingt eine „Medaille zu machen“. Das macht was mit den Athlet*innen und hat natürlich auch Einfluss auf das Selbstvertrauen. Hier ist es wichtig, dass sich die Athlet*innen immer wieder auf ihre Handlungsebene fokussieren. Was ist in dem Moment wichtig, was können sie in dem Moment selbst steuern und worauf haben sie Einfluss. Darüber hinaus ist es häufig auch sinnvoll, sich mit den Athlet*innen ihr eigenes inneres Team anzuschauen. In der Ego-State-Therapie geht man davon aus, dass sich unsere Persönlichkeit in verschiedene Anteile gliedert, in sogenannte Ego- States. Dies sind neuronale Netzwerke, in denen Wissen (Wünsche, Bedürfnisse und Problemlösungsstrategien) einer früheren Zeit gespeichert ist (Peichl, 2021). So kann es einen Anteil geben, der alles kontrollieren möchte, oder einen anderen Anteil, der alles perfekt machen möchte, wieder einen Anteil, der allen alles recht machen möchte, und einen Anteil, der an die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen glaubt. Konflikte und Probleme entstehen dann, wenn die verschiedenen Ich-Anteile mit ihren Wünschen und Bedürfnissen nicht übereinstimmen. Diese Konflikte zwischen den inneren Zu‐ ständen können viel Energie verbrauchen, so dass die eigentlichen ressourcenstarken Ego-States dann nicht mehr ausreichend zum Zuge kommen. Stattdessen rücken die Ego-States in den Vordergrund, die z. B. vor Scham und Zweifel schützen und dadurch alles kontrollieren möchten oder die alles perfekt machen wollen und somit unbedingte Fehlerlosigkeit propagieren. Hier ergibt die Arbeit mit den verschiedenen Ego-States Ansätze und Theorien zu Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl 349 <?page no="350"?> 4 Die Affektbrücke oder somatische Brücke wurde von John Watkins entwickelt. Unter Nutzung eines leichten Trancezustandes wird von einem konkreten Erleben in der Gegenwart bis zum Ursprung dessen in der Biographie zurückgegangen. Das Ziel besteht darin, sich biographischer Entstehungsbedingungen von Affekten oder somatischen Zuständen bewusst zu werden und diese so für sich bearbeiten zu können und nutzbar zu machen (vgl. Fritzsche, 2021). großen Sinn und gibt den Athlet*innen Werkzeuge für den Umgang mit ihren Ego- States an die Hand und somit auch für den Umgang mit Erwartungen. Kathrin Staufenbiel: Danke für diese Beschreibung. Beckmann-Waldenmayer und Beckmann (2019) geben auch einen Überblick zu verschiedenen Interventionen zum Aufbau positiver Selbstwirksamkeitserwartung und einem positiven Selbst‐ vertrauen. Sie unterscheiden hier Interventionen in vier verschiedenen Bereichen in Anlehnung an das 4-Ebenen-Modell der Angstreaktion (Alsleben, Weiss, Rufer, Karwen & Hand, 2003): Interventionen bezogen auf die kognitiv-interpretierende Ebene, die körperlich (physiologische) Ebene, die emotionale Ebene und die Verhaltensebene. Hast du in deiner Beratungspraxis einen Schwerpunkt diesbezüglich? Mit welchen Interventionen/ Ansätzen machst du besonders gute Erfahrungen? Monika Liesenfeld: Wie bei so vielen Versuchen, eine Einteilung von Interventionen vorzunehmen, ist eine solche nicht ganz trennscharf. Von daher arbeite ich auf allen vier Ebenen, die sich miteinander vermischen. Ich habe jedoch festgestellt, dass allein kognitive Verfahren nicht ausreichen. Das gilt besonders beim Thema Selbstvertrauen. In Stresssituationen, wo unser Körper und unsere Emotionen schneller reagieren als unsere Kognition, brauchen die Athlet*innen auch Zugänge über den Körper und die Emotion. Aufbau von kognitiven Interventionen wie Routinen und Selbstgesprächs‐ regulation können meiner Meinung nach erst dann wirksam werden, wenn eine gute Basis über emotionale und körperliche Interventionen geschaffen wurde. Dazu eignen sich besonders individualisierte Trancen (z. B. die Arbeit mit einer Affektbrücke 4 , einer somatischen Brücke oder mit individualisierten Metaphern) oder die Arbeit, wie oben bereits erwähnt, mit den jeweiligen Ego-States zur Gefühlsexternalisierung in Kombination mit Körperreaktionen auf Bodenankern. Dies ist eine sehr wirksame Intervention. Selbstmitgefühl Kathrin Staufenbiel: Super, danke für das Teilen dieser Erfahrungen. Nun möchte ich einmal mit dir das Thema Selbstmitgefühl (self-compassion) beleuchten. In einem Reviewartikel unterscheidet Neff (2023) drei Bereiche oder Facetten, die das eigene Selbstmitgefühl beeinflussen: 1. Self-kindness versus self-judgement beschreibt dabei die Art und Weise, wie wir mit uns selbst umgehen, freundlich oder richtend, angesichts von persönlichen Niederlagen, Herausforderungen oder (angenommenen) Fehlern. Gelingt es uns, 350 18 Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl <?page no="351"?> mit uns selbst wohlwollend umzugehen bei gleichzeitiger Annahme unserer Unzulänglichkeiten? 2. Common humanity versus isolation beschreibt, inwiefern wir eigene Probleme und Unzulänglichkeiten als Teil von Menschlichkeit sehen oder es nur auf uns selbst beziehen (während alle anderen „ok“ sind). Gelingt es uns, unsere Unzulänglich‐ keiten als Teil menschlicher Normalität anzuerkennen? 3. Mindfulness versus overidentification beschreibt eine achtsame Annahme eige‐ ner Unzulänglichkeiten im Vergleich zu einer Überidentifikation mit negativen Gedanken. Gelingt es uns, unsere Sorgen achtsam anzunehmen und mit Selbst‐ fürsorge darauf einzugehen oder lassen wir uns von negativen Gedanken und Annahmen treiben? Soweit die theoretische Beschreibung von self-compassion. Inwiefern kann dieses Konstrukt aus deiner Sicht hilfreich für die sportpsychologische Beratungspraxis sein? Monika Liesenfeld: Ich erlebe bei Sportler*innen immer wieder, dass sie sehr hart mit sich selbst umgehen. Sie verurteilen sich bei Fehlern, schreiben sich Unzulänglichkeit und Unfähigkeit bei Misserfolgen zu und schauen oft nur auf das Negative. Sie gehen davon aus, dass bei allen anderen Athlet*innen immer alles gut bzw. besser läuft. Hier die Erfahrung mit den Sportler*innen zu teilen, dass selbst sehr erfolgreiche Athlet*innen auch Phasen in ihrer Karriere haben, in denen sie zweifeln, kann sehr hilfreich und entlastend sein. Vor diesem Hintergrund erlebe ich das Konstrukt des Selbstmitgefühls als sehr hilfreich für die sportpsychologische Beratung, auch wenn ich persönlich denke, dass die Bereiche ja nicht neu sind, sondern nur in einem anderen Fachvokabular erscheinen bzw. sie jemand jetzt erforscht hat. Der Ursprung liegt in der buddhistischen Philosophie und hat sich seitdem in verschiedene Richtungen weiterentwickelt. In der Ego-State-Therapie beispielsweise geht es unter anderem auch darum, für die Anteile, die man nicht mag und ablehnt, ein tieferes Verständnis zu entwickeln, sie zu würdigen und eine neue Beziehung zu ihnen einzugehen. Hier wer‐ den die Ähnlichkeiten der Konzepte deutlich. Die Art und Weise, mit diesen Konzepten zu arbeiten bzw. die Umsetzung ist jedoch eine völlig andere. Letztendlich bräuchte man einen Duden für psychotherapeutische Begriffe und deren zugrunde liegender Konzepte. Denn die psychologische/ psychotherapeutische Sprache ist untrennbar mit den jeweiligen Konzepten verbunden und hier kann es zu vielen Missverständnissen durch unterschiedliche psychologische/ psychotherapeutische Sprachen (verhaltens‐ therapeutische, hypnotherapeutische, systemische etc.) kommen (Fritzsche 2014). Hilfreich finde ich das Konzept insofern - auch wenn ich es mehr aus der syste‐ mischen Sichtweise betrachte und damit ein anderes Vokabular benutze -, als es mehr als nur um Achtsamkeit geht. Die Achtsamkeit ist hier das Fundament des Selbstmitgefühls. Die Achtsamkeitsforschung hat sich größtenteils auf fokussierte Aufmerksamkeit und bewusste Wahrnehmung konzentriert. Das Konzept zum Selbst‐ mitgefühl geht von dort noch einen Schritt weiter. „Was nimmst Du wahr, was erlebst Du? “, fragt die Achtsamkeitsforschung. In der Verbindung aus Achtsamkeit und Selbstmitgefühl 351 <?page no="352"?> Selbstmitgefühl fragt man auch nach den Bedürfnissen, „Was brauchst du? “ (Germer & Neff 2021). Hier wird also explizit neben der kognitiven auch die emotionale Seite miteinbezogen. Wie oben bereits erwähnt, erachte ich dies für Veränderungsprozesse als sehr relevant. Und meist ist dies auch der Knackpunkt in der Beratung. Kognitiv haben viele Athlet*innen verstanden, worum es geht. Auf der emotionalen Ebene haben sie aber noch keinen Zugang. Dann passiert meiner Erfahrung nach auch keine oder wenig Veränderung. Hier erlebe ich oft, dass es für viele Athlet*innen erst mal befremdlich wirkt und schwierig ist, sich selbst empathisch gegenüber zu sein. Die Arbeit mit inneren Anteilen bietet dann wieder einen sehr hilfreichen Zugang zu den emotionalen Bereichen. Kathrin Staufenbiel: Kuchar, Neff und Mosewich (2023) haben ein kurzes Online- Training für den Sport entwickelt, Resilience and Enhancement in Sport, Exercise, & Training (RESET), um Selbstmitgefühl bei Athlet*innen einzuführen und dem Mythos zu begegnen, dass nur (überzogen) selbstkritisches Denken und Handeln zu Spitzen‐ leistungen führen kann. In der Studie geben die Studienteilnehmer*innen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe nach dem Online-Training ein erhöhtes Selbstmitgefühl und bessere, wahrgenommene Leistungen im Sport an. Wie schätzt du dieses Vorgehen und das Ergebnis ein? Monika Liesenfeld: Eine gute Frage … Ich weiß, dass die Kolleg*innen das eigentli‐ che Training zum Selbstmitgefühl stark gekürzt haben und auch die Wortwahl an den Sportkontext angepasst haben. Die genauen Inhalte, die durchgeführt wurden, kenne ich jedoch nicht. Grundsätzlich finde ich aber gut, dass das eigentliche Trai‐ ning an den Sportkontext angepasst wurde und auch der Begriff Selbstmitgefühl durch Resilienz ersetzt wurde. Die Kernkompetenzen von Selbstmitgefühl, Selbstliebe, Mitmenschlichkeit, Achtsamkeit wurden aber weiter berücksichtigt. Die Änderung der Begrifflichkeit wurde vorgenommen, da der Begriff Selbstmitgefühl bei einigen Athlet*innen und Trainer*innen eher auf Unverständnis stößt, denn sie gehen häufig davon aus, dass ein Training zu mehr Selbstmitgefühl die Motivation, Disziplin und die nötige Härte im Sport untergrabe. Hier ist viel Aufklärungsarbeit dahingehend nötig, dass Selbstmitgefühl den Wunsch nach dem eigenen Wohlergehen im Sinne der psychischen Gesundheit stärkt und dies zuträglicher für die Leistungsentwicklung ist als eine Leistung, die aus Angst vor Unzulänglichkeit entsteht. Meines Erachtens muss hier ein Umdenken in der Sportwelt stattfinden. Ich bin davon überzeugt, dass sich gute sportliche Leistungen und Spitzenleistungen gerade mit einer solchen selbstmit‐ fühlenden Haltung entwickeln können und nicht über harsche Kritik, übertriebenen Perfektionismus und der permanenten Sorge, nicht gut genug zu sein. Hier wird sich hoffentlich in den nächsten Jahren noch einiges verändern. Und sicherlich ist auch noch mehr Forschung nötig, denn in dieser Studie waren z. B. die Probandenzahlen schon gut, aber nicht ausreichend. Kathrin Staufenbiel: Eine weitere Studie möchte ich mit dir teilen, deren Ergebnisse dich als systemisch arbeitende Sportpsychologin nicht überraschen wird: Die eigene 352 18 Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl <?page no="353"?> Einschätzung bezüglich Selbstmitgefühl steht in Zusammenhang mit der Wahrneh‐ mung, inwiefern Teammitglieder Selbstmitgefühl praktizieren (Crozier, Mosewich, & Ferguson, 2019). Was denkst du dazu und welche praktischen Implikationen siehst du? Monika Liesenfeld: Ich muss da sofort an Mannschaften oder Trainingsgruppen denken, bei denen im Sinne der „sozialen Ansteckung“ Emotionen, Einstellungen oder Verhalten schnell weitergegeben werden. Dies im positiven wie im negativen Sinn. Die Ergebnisse verwundern mich also nicht. Für mich entsteht daraus die praktische Relevanz von Gruppenangeboten für das Thema Selbstmitgefühl, so wie Kuchar, Neff und Mosewich (2023) es bereits in ihrer Studie umgesetzt haben. Und eben auch, wie bereits oben erwähnt, viel Aufklärungsarbeit, so dass jedes einzelne Teammitglied und auch die Trainer*innen um die Relevanz des eigenen Verhaltens wissen. Weitergehende Anregungen für Sportpsycholog*innen und Forschungsbedarf Kathrin Staufenbiel: Nun komme ich zu ein paar allgemeineren Fragen: Was ist aus deiner Sicht für sportpsychologische Kolleginnen und Kollegen besonders wichtig, die Athlet*innen oder Trainer*innen im Themenfeld Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl begleiten? Hast du noch einen methodischen Vorschlag, Hinweis oder eine Idee, wie hierbei vorgegangen werden kann? Monika Liesenfeld: Mich inspiriert das Faktoren-Schichten-Modell des Selbst‐ werts von Frauke Niehues (2023). Sie ist Diplom-Psychologin und approbierte Psy‐ chotherapeutin und hat dieses Modell entwickelt, da die bestehenden Modelle und Methoden zum Thema Selbstwert in ihren Augen keinen ausreichend nachhaltigen Effekt in der praktischen Arbeit erzielen. Das Modell setzt sich aus fünf Faktoren zusammen, die ihrer Erfahrung nach Einfluss auf das Selbstwertgefühl haben und sich gegenseitig beeinflussen. 1. Grundgefühl: Es bildet sich früh in der Interaktion mit den Bindungspersonen heraus. Grob geht es darum, ob man sich eher geliebt und angenommen oder ungeliebt und abgelehnt fühlt. 2. Selbstakzeptanz: Selbstakzeptanz ist der Stabilisator des Selbstwertgefühls; bei hoher Selbstakzeptanz kann auch dann ein positiver Grundwert gespürt werden, wenn man Fehler macht. 3. Selbstwirksamkeit: Hier geht es um das Wissen und Erleben, selbst etwas bewirken zu können. 4. Fähigkeitenpräsenz: Sie ist das Wissen um die eigenen Stärken und Fähigkeiten. 5. System: Selbstwert und System beeinflussen sich gegenseitig. Das Selbstwertge‐ fühl einer Person hat Einfluss auf ihr Auftreten und ihr Verhalten und damit auch auf die Stellung im System und umgekehrt. Weitergehende Anregungen für Sportpsycholog*innen und Forschungsbedarf 353 <?page no="354"?> Niehues beschreibt jede dieser Schichten und wie sie in den einzelnen Schichten arbei‐ tet. Die Idee dahinter ist, dass die Arbeit am Selbstwert effektiver und nachhaltiger ist, wenn genau auf die für den Klienten problematischen Punkte (Schichten) eingegangen wird. Dabei integriert sie bereits bestehende Modelle, wie Selbstwirksamkeit oder Selbstakzeptanz mit ihren Erfahrungen aus der Praxis. Ich finde das Modell sehr gut und praxisrelevant, und es bestätigt auch meine Erfahrungen, dass es bei dem Thema Selbstvertrauen nicht ausreicht, nur kognitiv zu arbeiten. Ein weiteres Modell, mit dem ich gerne arbeite, ist von Chmielewski und Han‐ ning (2021): Sie kombinieren das Bedürfnismodell, angelehnt an die Selbstbestim‐ mungstheorie von Ryan und Deci (2017), mit der Selbstdiskrepanztheorie von Higgings (1987). Dabei gehen sie davon aus, dass drei Grundbedürfnisse (Bindung, Kompetenz und Selbstbestimmung) den Selbstwert speisen und dabei auch biografische Erfahrungen eine Rolle spielen, die zu unterschiedlichen Selbstkonzepten führen (das Bin-Ich, das Soll-Ich, das Wunsch-Ich). Sie haben eine schöne Grafik dazu erstellt, die ich gerne mit den Athlet*innen zusammen anschaue und darüber mit ihnen ins Gespräch komme und so ihre Wirklichkeitskonstruktion bezogen auf das Thema Selbstwert erkunden kann. Kathrin Staufenbiel: Hast du Anregungen oder Impulse für die Forschung zu Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl im Sport? Welches Phänomen aus der Praxis könnte aus deiner Sicht einmal theoretisch oder empirisch beleuchtet werden? Monika Liesenfeld: Zu dem Modell von Frauke Niehues (2023) gibt es noch nicht viel Forschung, schon gar keine sportpsychologische Forschung. Hierzu würde ich mir Forschung wünschen. Grundsätzlich, auch unabhängig vom Thema Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl, würde ich mir wünschen, den systemischen Beratungsansatz mehr in der Forschung bzw. bei der Erstellung von Hypothesen und Fragestellungen zu berücksichtigen. Eine Forschungskonzeption ist mit Sicherheit in der Umsetzung aufwendiger, die sich nicht nur an Einzelzusammenhängen und linearkausalen Über‐ legungen orientiert, sondern die Aspekte in den Kontext eingebettet betrachtet und Interaktionen und Vernetzungen berücksichtigt. Sie könnte jedoch auf eine stärkere Akzeptanz bei den systemischen Praktiker*innen stoßen und die Integration von Forschung und Praxis in der Sportpsychologie weiter vorantreiben. Kathrin Staufenbiel: Vielen Dank, Monika, für das Teilen deiner Erfahrung und Mitwirken an diesem Buch! Ein weiterführendes Interview mit Monika Liesenfeld und Hans-Dieter Hermann ist unter https: / / m.youtube.com/ watch? v=PAJUemRa4Is zu finden. 354 18 Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl <?page no="355"?> Selbstwert Bindung Gefahr, Gewalt, Bedrohung, Vernachlässigung, Missbrauch, Einsamkeit, Ausgeschlossensein, Mobbing, Demütigung, Abwertung Schutz, Zuwendung, Liebe , Angenommensein, Akzeptanz, Zugehörigkeit Selbstbestimmung Freiheit, Freiwilligkeit, Kontrolle, Autonomie, Entscheidungsspielräume Fremdbestimmt, Hilflosigkeit, keine Entscheidungsspielräume, überstrenge Regeln, Missbrauch Kompetenz Erfolg, Anerkennung, Bewältigungserfahrungen, Selbstwirksamkeitserfahrungen Überforderung, Misserfolg, Scheitern, Überbehütung, alles wird abgenommen, übertriebene Ansprüche, Spott „Ich werde nicht geliebt.“ „Ich bin nicht liebenswert.“ „Ich werde nicht geschützt.“ „Ich bin nicht lebenswert.“ „Ich werde geliebt.“ „Ich bin liebenswert.“ „Ich werde geschützt.“ „Ich bin lebenswert.“ „Es gibt vieles, das ich kann.“ „Ich kann nichts.“ „Ich bin ein Versager.“ „Ich kann über mein Leben bestimmen.“ Ich kann tun, was ich für richtig halte.“ „Ich muss tun, was die anderen wollen. „ „Ich kann meinen Entscheidungen nicht trauen.“ „Was ich will, spielt keine Rolle.“ Abb. 18-1 | Selbstwert und Selbstwertprobleme (eigene Darstellung auf Grundlage von Chmielewski und Hanning (2021)) Weitergehende Anregungen für Sportpsycholog*innen und Forschungsbedarf 355 <?page no="356"?> Literatur Bandura, A. (1982). Self-efficacy mechanism in human agency. The American Psychologist, 37 (2), 122-147. http: / / dx.doi.org/ 10.1037/ 0003-066X.37.2.122 Beckmann-Waldenmeyer D. & Beckmann, J. (2019). Selbstvertrauen und ein selbstwirksamer Umgang mit Erwartungen. In K. Staufenbiel, M. Liesenfeld & B. Lobinger (Hrsg.). Angewandte Sportpsychologie für den Leistungssport. Göttingen: Hogrefe, 156-170. Beckmann, J. & Strang, H. (1991). Handlungskontrolle im Sport. Sportpsychologie, 5, (4), 5-10. Crozier, A. J., Mosewich, A. D., & Ferguson, L. J. (2019). The company we keep: Exploring the relationship between perceived teammate self-compassion and athlete self-compassion. Psychology of sport and exercise, 40, 152-155. https: / / doi.org/ 10.1016/ j.psychsport.2018.10.005 Feltz, D., Short, S., & Sullivan, P. J. (2008). Self-efficacy in sport. Human Kinetics. Kuchar, A. L.., Neff, K. D. & Mosewich, A. D. (2023). Resilience and Enhancement in Sport, Exercise, & Training (RESET): A brief self-compassion intervention with NCAA studentathletes. Psychology of sport and exercise, 67, 1-9. https: / / doi.org/ 10.1016/ j.psychsport.2023.1 02426 Neff, K. D. (2023). Self-Compassion: Theory, Method, Research, and Intervention. Annual Review of Psycholy, 74, 193-218. https: / / doi.org/ 10.1146/ annurev-psych-032420-031047 Fritzsche, K. (2014). Praxis der Ego-State-Therapie. Heidelberg: Carl-Auer. Fritzsche, K. (2021). Ego-State Therapie bei Traumafolgestörungen. Heidelberg: Carl-Auer. Germer, C. & Neff, K. (2021). Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten. Das Handbuch für die professionelle Arbeit. Freiburg: Arbor. Higgins, E.T. (1987). Self-discrepancy: a theory relating self and affect. Psychological review, 94(3), 319-340. https: / / doi.org/ 10.1037/ 0033-295X.94.3.319 Königswieser, R., Sonuc, E. , Gebhardt, J. & Hillebrand, M. (2006). Komplementärberatung. Das Zusammenspiel von Fach- und Prozess-Know-How. Stuttgart: Klett-Cotta. Lang, A. (2005). Ressourcenorientierte Beratung. Seminarunterlagen zur Ausbildung an der Deutschen Psychologen Akademie (DPA). Lieb, H. (2009). So hab ich das noch nie gesehen. Systemische Therapie für Verhaltenstherapeuten. Heidelberg: Carl-Auer. Niehues, F. (2023). Das Faktoren-Schichten-Modell des Selbstwertes. In F. Niehues (Hrsg.). Impacttechniken. Kompetenz! Box Therapie und Beratung. Paderborn: Junfermann. Peichl, J. (2014). Rote Karte für den inneren Kritiker. Wie aus dem ewigen Miesmacher ein Verbündeter wird. München: Kösel. Ryan, R. M. & Deci, E. L. (2017). Self-determination theory: Basic psychological needs in motivation, development, and wellness. New York: Guilford Press. 356 18 Selbstvertrauen und Selbstmitgefühl <?page no="357"?> 19 Interpersonale Gewalt im Sport Helena Schmitz, Teresa Greither, Janina Jaspers, Annika Söllinger, Jeannine Ohlert Das Thema interpersonale Gewalt im Sport hat seit dem Jahr 2020 in Deutsch‐ land sowohl in der Presse als auch in Sportverbänden vermehrte Aufmerksam‐ keit bekommen, vor allem aufgrund von Vorfällen in Vereinen und Verbänden bezüglich psychischer und/ oder sexualisierter Gewalt. In der Praxis arbeitende Sportpsycholog*innen werden dabei von den Sportorganisationen häufig mit der Erwartung konfrontiert, über das Thema Bescheid zu wissen und aufgetretene Probleme lösen zu können. Aus diesem Grund werden in diesem Kapitel zunächst Grundlagen, Daten und Fakten zu interpersonaler Gewalt im Sport präsentiert, bevor mögliche Risikofaktoren in Sportvereinen sowie Strategien von Tatpersonen skizziert werden. Abschließend wird auf das Thema Prävention und Intervention in Sportorganisationen sowie mögliche Rollen von Sportpsycholog*innen in diesem Kontext eingegangen, und es werden Unterstützungsmöglichkeiten aufgezeigt. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1313. Lernziele ■ Die Leser*innen kennen die unterschiedlichen Formen, Grundlagen und Daten der interpersonalen Gewalt im Sport und können diese in den Sportalltag projizieren. ■ Die Leser*innen verstehen, welche Besonderheiten und Risikofaktoren im Sport Gewalt begünstigen können. ■ Die Leser*innen erkennen das weitreichende Problem rund um interpersonale Gewalt im Sport und verstehen die Relevanz, Präventionsmaßnahmen umzu‐ setzen. ■ Die Leser*innen erlangen Handlungswissen und -sicherheit, wie sie in ihrer Rolle als Sportpsycholog*innen in Präventions-, Interventions- und Aufarbei‐ tungsprozessen mitwirken können. ■ Die Leser*innen kennen Unterstützungsstrukturen und Ansprechstellen, an die sie sich selbst bei Erfahrung/ Beobachtung von Gewalt wenden oder die sie an andere Personen weitergeben können. <?page no="358"?> 19.1 Grundlagen, Daten und Fakten zu interpersonaler Gewalt im Sport 19.1.1 Definitionen Definition | Der Oberbegriff Gewalt wird definiert als „der tatsächliche oder angedrohte absichtliche Gebrauch von physischer oder psychologischer Kraft oder Macht, die gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft gerichtet ist und die tatsächlich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“ (Weltgesundheitsorganisation [WHO], 2002) Durch die WHO werden verschiedene Kategorien von Gewalt unterschieden. Inter‐ personale Gewalt lässt sich beschreiben als Gewalt, welche innerhalb persönlicher zwischenmenschlicher Beziehungen stattfindet, also beispielsweise innerhalb der Familie, zwischen Personen des Freundeskreises oder eben zwischen Menschen in Gemeinschaften wie Sportvereinen. Daher ist sie für den Bereich Sportpsychologie die relevanteste und am besten untersuchte Kategorie der Gewalt. Abgegrenzt wird interpersonale Gewalt von Gewalt gegen die eigene Person (z.-B. Suizidalität und Selbstschädigung) und kollektiver Gewalt (z.-B. zur Durchsetzung politischer oder wirtschaftlicher Ziele). Interpersonale Gewalt wird in vier verschiedene Formen eingeteilt (WHO, 2002): ■ psychische Gewalt ■ körperliche Gewalt ■ sexualisierte Gewalt ■ Vernachlässigung 19.1.2 Studienlage zu interpersonaler Gewalt im Sport 75 % von 10.302 Befragten einer europäischen Studie aus dem Breiten- und Leistungssport gaben an, mindestens eine Form von interpersonaler Gewalt im Sport erlebt zu haben (Hartill et al., 2021). Rund 8 % der europäischen Bevölkerung nehmen am organisierten Sport in einem der 800.000 europäischen Sportvereine teil (Deutscher Bundestag, 2008). Wenn die Ergebnisse der CASES-Studie für diese sporttreibende Bevölkerung repräsen‐ tativ sind, dann erfahren rund 27 Millionen Menschen europaweit interpersonale Gewalt im Sport. Dies verdeutlicht das ernsthafte Ausmaß des Problems von Gewalt im Sport. Wegweisende Forschungsprojekte wie SafeSport (Rulofs et al., 2016; Ohlert et al., 2020), Child Abuse in Sport: European Statistics (CASES; Hartill et al., 2021; Rulofs et al., 2022a) und SicherImSport (Rulofs et al., 2022b) haben Daten zur Prävalenz von Gewalt im organisierten Sport und gegen Kinder und Jugendliche erfasst. Zentrale Aspekte dieser drei Studien werden in Tabelle 19-1 dargestellt. 358 19 Interpersonale Gewalt im Sport <?page no="359"?> Studienname SicherImSport CASES SafeSport Leistungsniveau Breiten- und Leis‐ tungssport Breiten- und Leis‐ tungssport Leistungssport Länder Deutschland Deutschland, Öster‐ reich, Belgien, Spa‐ nien, Rumänien, UK Deutschland Teilnehmendenzahl 4.367 10.302 1.132 irgendeine Gewalter‐ fahrung 70-% 75-% k.A. psychische Gewalt 63-% 65-% 87-% körperliche Gewalt 37-% 44-% 29-% sexualisierte Gewalt ohne Kontakt 26-% 35-% 37-%; sexualisierte Gewalt ohne und mit Kör‐ perkontakt sexualisierte Gewalt mit Kontakt 19-% 20-% Vernachlässigung 15-% 37-% k.-A. Tab. 19-1 | Zusammengefasste Darstellung von Prävalenzstudien zu interpersonaler Gewalt im orga‐ nisierten Sport Anhand der Studienergebnisse lässt sich feststellen, dass der Großteil der befragten Sportler*innen bereits einmal interpersonale Gewalt im Rahmen sportlicher Aktivi‐ täten erlebt haben. Meist waren Gewalterfahrungen keine einmaligen Ereignisse, sondern wiederholten sich häufig und dauerten teils lange an (Hartill et al., 2021; Rulofs et al., 2022b). Zudem scheint es Wechselwirkungen von Gewalterfahrungen in unterschiedlichen Kontexten gegeben zu haben. Wissen | Überlappende Gewalterfahrungen Im direkten Vergleich zeigt sich, dass die Prävalenz in Kontexten außerhalb des Sports (z. B. Familie, Schule) nur wenig höher liegt als die Prävalenz innerhalb des organisierten Sports (Hartill et al., 2021; Rulofs et al. 2022b). Daraus lässt sich ableiten, dass Sportvereine keine Orte sind, an denen Kinder und Jugendliche wirklich besser vor Gewalt geschützt sind als in anderen Umfeldern. Darüber hin‐ aus scheinen Personen, die Gewalt in anderen Kontexten erlebt haben, ein erhöhtes Risiko zu haben, auch im Sportverein von interpersonaler Gewalt betroffen zu sein. Charakteristika von Betroffenen Für die sportpsychologische Arbeit ist wichtig zu erkennen, dass es kein „typisches“ Opfer gibt und davon ausgegangen werden muss, dass sowohl Frauen als auch Männer in 19.1 Grundlagen, Daten und Fakten zu interpersonaler Gewalt im Sport 359 <?page no="360"?> jeder Sportart und auf jedem Leistungsniveau potenziell von interpersonaler Gewalt im Sport betroffen sein können. Besonders hervorzuheben sind drei Aspekte, die mit einem erhöhten Risiko für Betroffenheit einhergehen (Hartill et al., 2021; Rulofs et al. 2022b): ■ Sexuelle Orientierung: Nicht heterosexuelle Sporttreibende haben über alle Studien hinweg häufiger Gewalt erfahren als heterosexuelle Sportler*innen. ■ Leistungsniveau und die Teilnahme an Wettkämpfen: Leistungssportler*in‐ nen haben im Vergleich zu Freizeitsportler*innen (keine Wettkämpfe) ein leicht erhöhtes Risiko, interpersonale Gewalt zu erfahren. ■ Sportler*innen mit Behinderungen: Gleiche (oder sogar häufigere) Erfahrun‐ gen von interpersonaler Gewalt, dennoch kann gerade für diese Betroffenen je nach individueller Situation eine zusätzliche Vulnerabilität für Übergriffe vorliegen Psychische Gewalt Definition | Unter psychischer Gewalt versteht man Handlungen, die (mit hoher Wahrscheinlichkeit) dazu führen, dass die psychische, mentale oder soziale Ge‐ sundheit bzw. Entwicklung der Betroffenen beeinträchtigt wird. Hierzu zählen jegliche Verhaltensweisen, die dazu verwendet werden, jemanden zu erniedrigen, zu kontrollieren, zu bedrohen oder lächerlich zu machen (WHO, 1999). Im Sport ist auch das Unter-Druck-Setzen von Sportler*innen und das Abverlangen von unrealistischen Leistungen hinzuzuzählen (Child Protection in Sport Unit [CPSU], 2022). Psychische Gewalt verursacht seelische Schäden und kann oft unsichtbar und schwer zu erkennen sein, da Merkmale dieser Gewaltform vielfältig sein können und verbal sowie nonverbal ausgedrückt werden. „Die brutalen, fiesen Sachen - die sagte sie (die Trainerin) nicht vor allen. Nur unter vier Augen. Und dann wehrtest du dich erst recht nicht, weil dir klar war, dass niemand es gehört hatte. Sie wusste genau, wie sie mit unserer Angst spielen musste, damit wir nicht aufmuckten.“ (Zitat aus den Magglingen-Protokollen, welche Missstände im Schweizer Turnverband aufdeckten (Gertsch & Krogerus, 2020)) Solche grenzwertigen und missbräuchlichen Verhaltensweisen gelten für einige Trai‐ ner*innen, Eltern und Sportler*innen auch heute noch als „harte Trainingsmethoden“, welche von den Sportler*innen auf dem Weg hin zum Erfolg erduldet werden müssen. Zur psychischen Gewalt zählen folgende Verhaltensweisen (Fortier et al., 2020): ■ Verbale Entgleisungen wie Anschreien, extreme Kritik und demütigende, belei‐ digende, abwertende oder einschüchternde Kommentare ■ Drohungen wie Ausschluss aus dem Training oder Bestrafung durch exzessives Training 360 19 Interpersonale Gewalt im Sport <?page no="361"?> ■ Vorenthalten emotionaler Unterstützung wie z. B. Gleichgültigkeit gegenüber Gefühlen und Meinungen sowie absichtliches Ignorieren von Sportler*innen ■ Beschränkung von sozialen Kontakten (zu Familie, Freunden, Teamkolleg*in‐ nen) bis hin zur Isolation der Sportler*innen ■ Unterstützung/ Akzeptanz schädigender Verhaltensweisen: □ Mangelernährung oder gestörtes Essverhalten □ Missachtung ärztlicher Empfehlungen □ Medikamentenmissbrauch oder Doping □ Mobbing und Gewalt zwischen Sportler*innen Sexualisierte Gewalt im Sport Definition | Sexualisierte Gewalt ist ein Oberbegriff für verschiedene Formen der Machtausübung mit dem Mittel der Sexualität (Rulofs, 2015). Handlungen mit Körperkontakt, ohne Körperkontakt und grenzverletzendes Verhalten werden hierbei mit einbezogen ( Jud, 2015). „Es hat mir nicht gefallen. Aber was soll ich machen? “ Aussage der spanischen Fußballnationalspielerin Jennifer Hermoso nach dem unerwünsch‐ ten Kuss von Verbandschef Luis Rubiales nach dem WM-Finale 2023 (Leopold, 2023) Die Handlungen sexualisierter Gewalt reichen von unangemessenen Bemerkungen und anzüglichen Witzen (Handlungen ohne Körperkontakt) bis hin zu physischen Übergriffen, bei dem die persönlichen Grenzen der betroffenen Person verletzt werden (siehe Tabelle-19-2): Sexualisierte Gewalt ohne Körperkon‐ takt Sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt ■ sexistische Witze ■ anzügliche Bemerkungen ■ Nachpfeifen oder sexuell anzügliches Nachrufen ■ Mitteilungen mit sexuell anzüglichem Inhalt ■ Bildnachrichten mit sexuellem Inhalt ■ Anstarren ■ Exhibitionismus ■ Aufforderungen zum Ausziehen ■ unangemessene Nähe ■ sexualisierte Berührungen oder Massa‐ gen ■ unerwünschte Küsse ■ (versuchter) Sex ohne oder mit Penetra‐ tion ohne Einwilligung Hinweis: Kinder unter 14 Jahre können nicht in sexuelle Handlungen einwilligen, daher handelt es sich hier immer um sexualisierte Gewalt. Tab. 19-2 | Beispiele für sexualisierte Gewalt mit und ohne Körperkontakt (Fortier et al., 2020; Rulofs et al., 2016) 19.1 Grundlagen, Daten und Fakten zu interpersonaler Gewalt im Sport 361 <?page no="362"?> Sexualisierte Gewalt missachtet die körperliche und emotionale Integrität einer Person und hat schwerwiegende Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Gesundheit. Aus diesem Grund sind sexuelle Handlungen ohne vorherige eindeutige und freiwil‐ lige Zustimmung des Gegenübers unangemessen und inakzeptabel. Im Bereich des Leistungssports kommen Altersunterschiede und Abhängigkeitsverhältnisse hinzu, welche dazu beitragen, dass (sexualisierte) Beziehungen zwischen Trainer*innen, Funktionär*innen und Sportler*innen grundsätzlich immer sehr kritisch zu betrachten sind. Insbesondere sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt (Berührungen bis hin zu Vergewaltigung) wird als äußerst schwerwiegend betrachtet und daher in vielen Fällen strafrechtlich verfolgt. Körperliche Gewalt Definition | Unter körperlicher Gewalt versteht man jede Handlung, die eine tat‐ sächliche oder potenzielle physische Schädigung bei den Betroffenen hervorrufen kann (Rulofs, 2020). „Ich hatte Trainer, die mich mit Schonern auf den Kopf geschlagen haben, wenn ich irgendwelche Elemente schlecht gemacht habe. Ich hatte Trainer, die mit Wasserpistolen in der kalten Eishalle geschossen haben. Ich hatte Trainer, die uns wenig Essen gegeben haben.“ Aussage von Aljona Savchenko, Olympiasiegerin im Eiskunstlauf 2018 (Berliner Morgenpost, 2022) Körperliche Gewalt umfasst nicht nur offensichtliche Übergriffe wie Schläge, sondern schließt im weitesten Sinne auch diejenigen Verhaltensweisen mit ein, die selbst ohne direkten Körperkontakt zu einer körperlichen Schädigung führen können. Daher zählen zu körperlicher Gewalt folgende Verhaltensweisen (Hartill et al., 2021): ■ Zwang zu Wettkampf oder Training trotz Verletzung, Schmerz oder völliger Erschöpfung ■ Zwang zur Einnahme von Substanzen zur Leistungssteigerung oder Gewichtsre‐ duktion ■ Bestrafungen durch exzessive sportliche Belastung (z. B. übermäßiges Konditions‐ training zur „Strafe“ nach schlechter Trainingsleistung) ■ Werfen von Gegenständen nach Personen ■ Festhalten oder gewaltsames Zurückhalten/ Drücken (bspw. in Dehnsituationen) ■ Schubsen, Schlagen, Würgen und andere körperliche Verhaltensweisen Die recht hohe Prävalenz körperlicher Gewalt (siehe Tabelle 19-1) gründet vorrangig im Einbezug von Verhaltensweisen, die von manchen Personen als „hartes Training“ für akzeptabel erachtet werden: z. B. den Zwang zum Training trotz Verletzung oder exzessives Training als Bestrafung (CPSU, 2022). Hinzu kommt der Aspekt 362 19 Interpersonale Gewalt im Sport <?page no="363"?> körperlicher Peer-Gewalt, die sich Sportler*innen gegenseitig zufügen bspw. im Rahmen von Auseinandersetzungen. Vernachlässigung Definition | Unter Vernachlässigung versteht man die Nichtbeachtung von grund‐ legenden Bedürfnissen eines*r Athlet*in in Bezug auf Gesundheit, Bildung, emo‐ tionale Entwicklung, Ernährung, Unterkunft und Sicherheit (CPSU, 2022). „Es kam vor, dass ich im Training ohnmächtig wurde. Ich fiel zusammen, kippte um. Wir durften selten etwas trinken während des Trainings. Abends kam ich mit weissen, ausgetrockneten Lippen zur Gastfamilie.“ Zitat von Lisa Rusconi aus den Magglingen-Protokollen, welche Missstände im Schweizer Turnverband aufdeckten (Gutzwiller, 2020) Vernachlässigung wird von verantwortlichen, erwachsenen Personen (z. B. Trainer*in‐ nen) oft an minderjährigen Sportler*innen verübt (CPSU, 2022; Mountjoy et al., 2016). Leistungssportler*innen haben ein höheres Risiko, Vernachlässigung im Rahmen des Sports zu erfahren, denn sie verbringen viel Zeit in Obhut von Trainer*innen, die für ihr Wohlergehen verantwortlich sind. Zu Vernachlässigung zählen folgende Verhaltensweisen (Hartill et al., 2021): ■ Vorenthalten medizinischer oder psychologischer Unterstützung ■ Ignorieren emotionaler Bedürfnisse, z.-B. fehlende Zuwendung ■ Vorenthalten von Essen, Trinken oder dem Toilettengang ■ Herunterspielen oder Ignorieren von Sicherheitsbedenken ■ Training/ Wettkampf unter unsicheren Bedingungen (z.-B. kaputte Geräte) ■ Verletzungen der Aufsichtspflicht ■ Alleinelassen/ Nichtbeachtung von Sportler*innen ■ Vernachlässigung von Bildung (Ausbildung, Schule oder Universität) zugunsten des Sports 19.1.3 Folgen, Mitteilung, Konsequenzen und Ende von Gewalterfahrungen im Sport Gewalterfahrungen können in langanhaltenden und schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen als auch für deren soziales Umfeld enden (Mountjoy et al., 2016). Gewalt‐ erfahrungen gehen mit einer Verschlechterung des Wohlbefindens, Selbstverletzungen und Essstörungen einher und können in schweren Fällen sogar zu Suizid führen (Mountjoy et al., 2016; Rulofs et al., 2022c; Willson et al., 2023). Gleichzeitig ist es sehr schwierig für die Betroffenen, sich zu öffnen und von ihren Erfahrungen zu berichten. Passive Haltungen oder Stillschweigen von verantwortlichen Personen im Sport kann 19.1 Grundlagen, Daten und Fakten zu interpersonaler Gewalt im Sport 363 <?page no="364"?> den Eindruck bei Betroffenen erwecken, dass gewaltvolle Verhaltensweisen toleriert werden und dass man im Sport machtlos ist, sich dagegen zu äußern (Mountjoy et al., 2016). Wenn eine Offenlegung der Gewalterfahrung erfolgt, dann suchen Betroffene in der Regel Unterstützung bei Familienmitgliedern oder Freunden. Im Kontext des Sports wird Unterstützung selten gesucht. Zusätzlich zeigt sich, dass selbst wenn der Vorfall in einem Sportverein oder einer Sportorganisation bekannt wird, oftmals keine Konsequenzen für die Täter*innen folgen. Die Beendigung von Gewaltsituationen erfolgt selten durch Dritte; stattdessen beenden die Täter*innen sie selbst oder die Betroffenen ergreifen selbst Maßnahmen (Rulofs et al., 2022b). 19.2 Risikofaktoren im Sportsystem Verschiedene individuelle, relationale, organisatorische und soziokulturelle Besonder‐ heiten werden mit dem Sportsystem in Verbindung gebracht und sind in keinem anderen pädagogischen Kontext vorzufinden. Je nach Umgang mit diesen Besonder‐ heiten kann das Sportsystem auch ein Potenzial für Konflikte, Spannungen, unange‐ messene Kommunikation und Grenzüberschreitungen bergen. Denn durch die starke Ausrichtung auf Leistung und Erfolg im Sport, das Disziplinieren der Athlet*innen und das oft von Hierarchien und Abhängigkeiten geprägte Sportumfeld können Grenzen leichter verschwimmen und somit Risikostrukturen für zwischenmenschliche Gewalt begünstigt werden (Parent & Fortier, 2018). Relationale Risikofaktoren Allein durch die Semantik des Wortes interpersonal lässt sich vermuten, dass relationale Ri‐ sikofaktoren eine große Bedeutung für das Auftreten von allen Formen der interpersonalen Gewalt haben. Die Definition von sexualisierter Gewalt bezieht sich bspw. direkt auf Über‐ schreitungen innerhalb von zwischenmenschlichen Beziehungen, da diese Gewaltform auf einem Missbrauch von Macht und Vertrauen beruht (Mountjoy et al., 2016). Ein zentraler Punkt ist das asymmetrische Machtgefüge innerhalb des Sports, sei es zwischen Trainer*innen sowie Sportler*innen oder sogar innerhalb einer Peergroup. Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse können zu einer ungesunden Dynamik führen, in der eine Person ihre Machtposition ausnutzt, um andere zu dominieren oder zu manipulieren, und die andere Person eine mögliche Grenzüberschreitung nicht kommuniziert oder sogar ignoriert (Rulofs et al., 2022c). Ein weiteres Risiko kann eine negative Gruppendynamik innerhalb des Teams darstellen. Konfliktreiche und dysfunktionale Beziehungen können ein Trainingsklima erschaffen, das zur Entstehung von gewalttätigen Verhaltensweisen, wie Mobbing oder Ausgrenzung, führen kann. Organisatorische Risikofaktoren Neben weiteren organisatorischen Risikofaktoren wie der Umsetzung von Präventions‐ maßnahmen oder auch der Einbezug von bzw. Transparenz gegenüber Erziehungsberech‐ 364 19 Interpersonale Gewalt im Sport <?page no="365"?> tigten, kann das Trainingsumfeld ein Risikofaktor für interpersonale Gewalt im Sport sein. Hierbei geht es vermehrt um den Trainingsort, die Einsehbarkeit des Trainingsumfelds sowie die Intensität des Trainings. Geschlossene Räume oder Einzeltrainings mit dem Trainer oder der Trainerin können also Grenzüberschreitungen begünstigen. Soziokulturelle Risikofaktoren Ein weiterer wichtiger Risikofaktor von interpersonaler Gewalt im Sport ist die generelle Toleranz und/ oder Akzeptanz gegenüber dominanten und grenzüberschrei‐ tenden Verhaltensweisen. Hierbei handelt es sich vermehrt um die Toleranz von psychischer oder körperlicher Gewalt als vermeintliche „Trainingsmethodik“. Aber auch alle sportethischen Normen, die das Streben nach Perfektion, Gehorsamkeit gegenüber Trainer*innen, das Aushalten von Schmerzen und das Überwinden eigener Grenzen betonen, können ebenfalls zur Entstehung interpersonaler Gewalt und/ oder zu einer Grenzverschiebung der Betroffenen beitragen. Wissen | Hyperinklusion Der Sport ist für den Alltag eines*r Athlet*in sehr einnehmend. Der Begriff Hy‐ perinklusion beschreibt die komplette Einbindung einer Person in eine Institution wie bspw. im Sportverein, wodurch sich das gesamte Leben dieser Person auf diese Institution ausrichtet (Anders, 2008). Diese Hyperinklusion kann dafür sorgen, dass aus Angst vor möglichen Konsequenzen für den eigenen Alltag Grenzen verschwimmen und Überschreitungen ggf. nicht kommuniziert werden. 19.3 Tatpersonen interpersonaler Gewalt im Sport 19.3.1 Charakteristika von Tatpersonen interpersonaler Gewalt Obwohl Trainer*innen in den Medien oft als Haupttäter*innen genannt werden, zeigen Studien ein differenzierteres Bild. Nicht nur Trainer*innen können potenzielle Tatper‐ sonen sein, sondern auch die eigene Peergroup bzw. Gleichaltrige üben Gewalt aus. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes SicherImSport (Rulofs et al., 2022b) heben hervor, dass psychische und sexualisierte Gewalt häufiger von Gleichaltrigen verübt werden, während bei Vernachlässigung in der Mehrheit von Trainer*innen als Tatpersonen gesprochen wird. Sportpsycholog*innen sollten daher ein besonderes Augenmerk auf das Trainingsklima, die Gruppendynamik und Rollenverteilung innerhalb der Mannschaft legen, da diese Gefahren für Gewalt bergen können (siehe Kap.-19.2). Weitere Studien haben erkannt, dass je nach Geschlecht der Betroffenen das Täter*innenprofil variieren kann. Über alle Gewaltformen hinweg wurden Männer häufiger als Täter identifiziert (69-89 %), während Frauen seltener genannt wurden (ca. 10-30%; Rulofs et al., 2022b). Außerdem erfuhr nur etwa ein Drittel bis die Hälfte 19.3 Tatpersonen interpersonaler Gewalt im Sport 365 <?page no="366"?> der Betroffenen Gewalt von einer einzelnen Tatperson; häufig wird also von mehr als nur einer Tatperson berichtet (Rulofs et al., 2022b; Vertommen et al., 2017). Neben detaillierten Täter*innenprofilen konnten Strategien und bestimmte tatvor‐ bereitende Verhaltensweisen bisher nur bei sexualisierter Gewalt erfasst werden (siehe Kap. 1.3.2). Täter*innenstrategien können in Verbindung mit weiteren Charakteristika jedoch auch zur Typisierung von Tatpersonen genutzt werden (Rulofs et al. 2022c; siehe Abbildung 19-1). Abb. 19-1 | Täter*innenprofile nach Rulofs et al. (2022c) 19.3.2 Strategien und Vorgehensweisen von Tatpersonen bei interpersonaler Gewalt Die Strategien und Vorgehensweisen von Tatpersonen sind vielfältig und häufig dennoch sehr ähnlich. Insbesondere sexualisierte Gewalt wird meist schrittweise vorbereitet und geschieht nicht aus dem Affekt. Brackenridge (2001) hat dazu ein Modell entwickelt, das den Vorgang des Groomings beschreibt und in Abbildung 19-2 dargestellt wird. Grooming bedeutet, dass Betroffene durch die Tatperson von der 366 19 Interpersonale Gewalt im Sport <?page no="367"?> Gruppe und ihrem sozialen Umfeld isoliert sowie auf grenzüberschreitendes Verhalten schrittweise vorbereitet werden (Brackenridge, 2001). Abb. 19-2 | Vorgehensweisen von Tatpersonen bei interpersonaler Gewalt (nach Brackenridge, 2001) Diese Vorgehensweise wurde sowohl in der Fallstudie von Rulofs et al. (2022c) als auch in einer kanadischen Studie von St-Pierre et al. (2022) bestätigt. In beiden Studien wurde noch einmal deutlich, dass die Normalisierung von Berührungen, Intimität und sexualisierten Handlungen ein wichtiger Bestandteil der Täter*innenstrategien ist und dass Sport- und Privatleben immer weiter miteinander verschmelzen. Das bedeutet, dass Betroffene beispielsweise zu den Tatpersonen nach Hause eingeladen werden oder dass die Täter*innen auch außerhalb des Vereins präsent im Leben der Betroffenen sind. Für die sportpsychologische Arbeit ist es wichtig, die unterschiedlichen Phasen und Manipulationsstrategien zu kennen, um beobachtete oder erzählte Situationen im Sportalltag nochmals zu reflektieren und womöglich präventiv eingreifen zu können. 19.3 Tatpersonen interpersonaler Gewalt im Sport 367 <?page no="368"?> 19.4 Prävention interpersonaler Gewalt in Sportorganisationen Prävention ist im Dreiklang der relevanten Ansatzpunkte für das Thema Schutz vor Gewalt - Prävention, Intervention und Aufarbeitung - der erste Baustein. Definition | „[Gewalt]prävention bedeutet, interpersonale Gewalttaten durch Eingreifen zu verhindern, um die zugrundeliegenden Risikofaktoren zu beseitigen oder zu verringern, die Schutzfaktoren zu stärken, oder das erneute Auftreten von Gewalt und ihre negativen Auswirkungen zu verringern.“ (Sethi et al., 2004, S.-7) Zur Prävention zählen alle gezielten Maßnahmen, die Gewalt verhindern, frühzeitig erkennen, unmittelbare Reaktionen auf Gewaltfälle verbessern und Folgen von Gewalt minimieren wollen (Sethi et al., 2004). Eine zentrale präventive Maßnahme ist die Entwicklung eines Schutzkonzepts. Besonders wichtig ist dabei die Risikoanalyse, die der erste Schritt und die Basis für alle weiteren Bestandteile des Prozesses zur Ent‐ wicklung und dauerhaften Weiterentwicklung des Schutzkonzepts ist. Auch wenn die Entwicklung eines Schutzkonzepts primär der Prävention zuzuordnen ist, bearbeitet es inhaltlich alle drei Bereiche der Prävention, Intervention und Aufarbeitung (siehe Abbildung 19-3). Abb. 19-3 | Schutzkonzepte als Prozess im Sportverein (Grafik in Anlehnung an Unabhängiger Beauf‐ tragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs [UBSKM], 2013) 368 19 Interpersonale Gewalt im Sport <?page no="369"?> 19.4.1 Risikoanalyse - der Individualität der Organisation gerecht werden Damit ein Schutzkonzept kein abstraktes theoretisches Papier ist, muss es auf Basis der realen Bedingungen der Organisation entwickelt werden. Dies geschieht durch die Durchführung einer Risikoanalyse (manchmal auch Risiko- und Potenzialanalyse genannt). Sie ist die inhaltliche Analyse der Gefahrenpotenziale und Schutzfaktoren in der Organisation. Die Bedingungen sind in keinen zwei Organisationen gleich, sodass eine individuelle Analyse immer nötig ist. Zu Beginn sollte festgelegt werden, auf welchen Rahmen sich die Inhalte beziehen: Welche Struktur, welche Personen und welche Orte gehören zu der Organisation? Wer trägt für welche Bereiche die Gesamtverantwortung? Anschließend wird die Organisation von verschiedenen Seiten beleuchtet und untersucht. Mögliche Themen der Risikoanalyse Die verletzlichen Stellen der Organisationen können unterschiedlich sein. Unter ande‐ rem können dabei die Organisationsstruktur, Wege und Räumlichkeiten, Zielgruppe, Personalauswahl und -entwicklung, (digitale) Kommunikation mit der Zielgruppe oder soziales Klima und Miteinander mögliche Risikofelder sein (Fegert et al., 2015, siehe Kap. 19.2). Die zugrundeliegende Frage ist immer: Welche Bedingungen können Tatpersonen vor Ort nutzen, um Gewalt vorzubereiten oder auszuüben (Fegert et al., 2018)? Wenn von einer Risiko- und Potenzialanalyse gesprochen wird, werden darüber hinaus ebenso die Schutzfaktoren und Stärken der Organisation untersucht. Aus beiden Ergebnissen werden dann Veränderungsmaßnahmen abgeleitet. Um einen objektiven Expertenblick auf die Organisation zu erhalten, ist es ratsam, diese Analyse durch externe Beratung durchführen zu lassen. Wissen | Risikoanalyse Methodisch sind der Risikoanalyse keine Grenzen gesetzt. In vielen Fällen finden (anonyme) Befragungen, Beantwortung von Fragenkatalogen oder Workshops statt. Es sind aber auch Planspiele oder kreative Übungen zum Perspektivwechsel denkbar. 19.4.2 Schutzkonzepte und ihre Bestandteile Das Schutzkonzept ist das Dokument, welches die Ergebnisse aller dieser Prozesse beschreibt und festhält. Es sollte sich mit der Organisation verändern und muss daher immer wieder neu geprüft und angepasst werden. So kann das Konzept als „partizipativer Dialog“ in der Organisation verstanden werden (Fegert et al., 2018; Wolff et al., 2017). 19.4 Prävention interpersonaler Gewalt in Sportorganisationen 369 <?page no="370"?> Die Inhalte des Konzepts ergeben sich aus der Risikoanalyse. Einige Bestandteile sind jedoch in Form der Überschriften meist gut übertragbar, wie ein Leitbild, Verhal‐ tenskodex, Präventionsmaßnahmen, Beschwerdeverfahren und Notfallplan (Fegert et al., 2018). Kultur der Achtsamkeit (auch: Kultur des Hinsehens) Maßnahmen zur Prävention von Gewalt können nur wirken, wenn sie in der Organisa‐ tion angenommen und gelebt werden. Dazu ist eine Kultur der Achtsamkeit in der Or‐ ganisation von zentraler Bedeutung. In einem Sportverein bzw. einer Sportorganisation zeigt sie sich dadurch, dass das Wohl der Athlet*innen im Vordergrund steht (Kampert, 2015). Wertschätzung und offene Kommunikation werden zum Interessensausgleich zwischen verschiedenen Beteiligten gelebt. Achtsamkeit bedeutet aufeinander zu achten, aufmerksam zu sein, einander und die Situation wahrzunehmen (Fegert et al., 2018). Gewaltpräventionsprogramme haben das Ziel, diese Kultur in der Organisation zu verankern (Schröer & Wolff, 2016). Es wird jedoch in der Praxis diskutiert, ob eine reine Kultur des Hinsehens in der Gewaltprävention „ausreicht“. Deutlicher wäre eine „Kultur des Hinsehens und Handelns“, die über die Achtsamkeit hinausgeht und einen weiteren entscheidenden Aspekt integriert: das Gesehene aktiv aufzugreifen und eine sofortige Intervention einzuleiten. 19.5 Akute Intervention bei Verdachtsfällen Definition | Intervention ist die Bezeichnung für alle Maßnahmen, die dazu dienen, Vorfälle von interpersonaler Gewalt zu beenden und die Betroffenen zu schützen. Dazu gehört, Vermutungen und Verdachtsäußerungen einzuschätzen, zu bewerten und auf dieser Grundlage geeignete Maßnahmen einzuleiten. Der Schutz, das Wohl, sowie die Rechte der Betroffenen stehen dabei im Mittelpunkt (Bartsch & Rulofs, 2020). Um Interventionsmöglichkeiten bei Verdachtsfällen praxisnah zu präsentieren, wird auf das folgende Fallbeispiel detailliert eingegangen. Fallbeispiel | Eine 15 Jahre alte Nachwuchskadersportlerin leidet seit einiger Zeit unter Verletzungen und ist sehr erschöpft. Der Trainer verlangt von der Sportlerin, trotz der Schmerzen und Müdigkeit weiterhin das normale Training zu absolvieren, was sie jedoch selten schafft. Die Sportlerin wird daraufhin vom Trainer vor der gesamten Trainingsgruppe als schlechtes Vorbild gedemütigt und er droht, sie nicht zum nächsten Kaderlehrgang mitzunehmen. Eine andere, jüngere Sportlerin der Trainingsgruppe erzählt ihren Eltern davon. Diese suchen daraufhin das Gespräch mit den Eltern der Betroffenen. Es stellt sich 370 19 Interpersonale Gewalt im Sport <?page no="371"?> heraus, dass die Sportlerin nichts von den Verletzungen und dem Verhalten des Trainers erzählt hat, da sie befürchtete, nicht mehr ins Training gehen zu dürfen. Da es im Umkreis keine andere Trainingsmöglichkeit für ihren Leistungssport gibt, und sich insbesondere die Eltern bislang sehr gut mit dem Trainer verstanden und ihm aufgrund seiner Erfolge vertrauen, zögern sie jedoch, etwas zum Trainer zu sagen. Anhand des Fallbeispiels wird nochmals deutlich, dass interpersonale Gewalt unein‐ deutig und schwer erkennbar sein kann. Es liegen meist komplexe Begleitumstände vor (z. B. Interessenkonflikte oder persönliche Beziehungen), die bei einer Intervention berücksichtigt werden müssen. Daher ist ein besonnenes, geplantes Vorgehen anzura‐ ten, damit der Verdacht gut geprüft und Betroffene bestmöglich geschützt werden. Bei der Tätigkeit in Sportvereinen oder -organisationen sollte nach deren Schutzkonzepten und Verhaltensleitlinien agiert werden. Zudem kann man sich an Materialien von höhergestellten Verbänden (Deutscher Olympischer Sportbund [DOSB], Sportfachver‐ bände, regionale Sportverbände) orientieren. In Tabelle 19-3 ist ein mögliches Vorgehen in Anlehnung an den Leitfaden zur Intervention der deutschen Sportjugend [dsj] zusammengefasst (Bartsch & Rulofs, 2020). Vorgehensweise Handlungen 1. Erste Schritte bei einem Verdacht Bei Beobachtung oder Kenntnis eines Vorfalls: ■ Betroffene ernst nehmen ■ Unterstützung anbieten ■ unüberlegte Konfrontation mit Tatpersonen vermeiden ■ nach Absprache mit Betroffenen Ansprechperson hinzu‐ ziehen ■ bei akuter Gefahr Polizei rufen 2. Ersteinschätzung durch Ansprechperson Im nächsten Schritt sollte eine geschulte Ansprechperson hin‐ zugeholt werden: ■ sensible Prüfung des Verdachtsmoments ■ Gespräche mit Betroffenen ■ „Ausfragen“ vermeiden (Gefahr der Retraumatisierung) ■ Ersteinschätzung des Handlungsbedarfs ■ detaillierte Dokumentation 3. Hinzuziehen externer Fachberatungsstellen ■ Wenn sich der Verdacht erhärtet: Externe Hilfe hinzuzie‐ hen! ■ Kontakt zu einer Fachberatungsstelle ■ Vereinsleitung informieren (außer diese ist im Verdacht involviert) ■ Externe Fachkräfte empfehlen bzw. begleiten dann das weitere Vorgehen. ■ Wenn eine genaue Prüfung des Verdachts eine leichte oder einmalige Verfehlung ergibt, kann eine vereinsin‐ terne Lösung oder Sanktion in Absprache mit allen betei‐ ligten Personen erfolgen. 19.5 Akute Intervention bei Verdachtsfällen 371 <?page no="372"?> 4. Handeln im Interesse der Betroffenen Der Schutz und die Interessen der Betroffenen stehen im Vordergrund: ■ traumasensibles Vorgehen bei Gesprächen ■ Wünsche Betroffener berücksichtigen ■ sichere Teilnahme am Sport ermöglichen ■ Kontakt zu Tatperson durch geeignete Maßnahmen un‐ terbrechen ■ externe Unterstützungsangebote vermitteln (z.-B. Psy‐ chotherapie) 5. Fürsorge gegenüber Verdächtigten Bis zur Klärung des Verdachts gilt die Unschuldsvermutung. Gleichzeitig sind Falschverdächtigungen selten, denn in aller Regel denken sich Betroffene ihre negativen Erfahrungen nicht aus. Daher gilt: ■ Verdachtsäußerung vertraulich behandeln ■ keine Unbeteiligten involvieren ■ vorschnelle Verurteilung vermeiden ■ Persönlichkeitsrechte aller Beteiligten beachten ■ bei unbegründetem, öffentlich bekannt gewordenem Ver‐ dacht: Rehabilitation der falsch Verdächtigten 6. Kommunikation Mit Betroffenen: ■ fortlaufend Informationen zum Sachstand und weiterer Vorgehensweise geben ■ Einverständnis einholen bei wichtigen Schritten Mit Verdächtigten: ■ zu passendem Zeitpunkt über Vorwürfe und weiteren Ablauf informieren ■ Gelegenheit zur Stellungnahme geben Mit anderen Personengruppen/ Öffentlichkeit: ■ Information z.-B. von unbeteiligten Kolleg*innen oder Eltern ist bei erhärtetem Verdacht unter Umständen nötig ■ generell möglichst vertraulich zu den Geschehnissen informieren: sachliche, faktenorientierte Form nutzen 7. Sanktionen In der Satzung können Sportvereine und -verbände Ver‐ eins-/ Verbandsstrafen im Falle eines bestätigten Falls interper‐ sonaler Gewalt festhalten, z.-B.: ■ Verhaltenssanktionen ■ Regelungen zum Vereinsausschluss ■ Lizenzentzug Tab. 19-3 | Leitfaden zur Intervention, angelehnt an Empfehlungen der dsj (Bartsch & Rulofs, 2020). Zurück zum Fallbeispiel | Wie könnte eine Intervention in diesem Fall aussehen? Nehmen wir an, dass Sie als Sportpsycholog*in zu Rate gezogen werden von der jugendlichen Sportlerin. In einem vertraulichen Gespräch erzählt die Sportlerin von ihrer Situation und dem Vorfall. Es stellt sich heraus, dass eine Ärztin des 372 19 Interpersonale Gewalt im Sport <?page no="373"?> Stützpunkts bereits ein reduziertes Trainingsprogramm verordnet hat. Der Trainer weiß Bescheid, jedoch übergeht er den ärztlichen Rat und übt zusätzlich Druck aus. Sie besprechen mit der Sportlerin, dass die Ansprechperson hinzugezogen werden sollte und ein Gespräch mit den Eltern sinnvoll wäre, damit sie über die Verletzungen informiert sind. Zudem vereinbaren Sie, das Training in den kommenden Wochen zu reduzieren. Die Sportlerin geht mit Ihrer Hilfe auf die Ansprechperson zu. Diese prüft den Verdacht, hält Rücksprache mit einer Fachberatungsstelle und involviert die Ver‐ einsleitung, als sich der Verdacht erhärtet. Der Trainer wird zu einer Stellungnahme aufgefordert. Er räumt ein, das Training wissentlich nicht angepasst zu haben. In letzter Zeit sei er frustriert mit der Leistung gewesen, jedoch sei dieser Vorfall ein Einzelfall, aus dem er lernen werde. Die Sportlerin wird über die Stellungnahme des Trainers informiert. Sie bestätigt, dass zuvor keine Vorfälle dieser Art vorgekommen sind und sie in die Gruppe zurückkehren möchte, wenn der Umgang sich bessert. Da der Beschuldigte einsichtig ist und es keine weiteren schweren Vorfälle gab, ist eine vereinsinterne Lösung möglich. Der Trainer soll eine Schulung erhalten und enger mit den Sportpsycholog*innen zusammenarbeiten. Die Sportler*innen der Trainingsgruppe erhalten ebenso eine Schulung zum Thema Grenzen und erarbeiten gemeinsam mit dem Trainer Verhaltensregeln für den respektvollen Umgang miteinander. Exkurs | Strafrecht Dieses sanktioniert vor allem sexualisierte und körperliche Gewalt und eignet sich daher meist nicht als Maßstab bei anderen Formen interpersonaler Gewalt. Für den organisierten Sport sollte aus diesem Grund nicht das Strafrecht als Orientierungsrichtlinie dienen, sondern ethische Grundsätze eines gewaltfreien und wertschätzenden Umgangs im Sport, die beispielsweise in einem SafeSport- Code festgehalten sind (wird derzeit erarbeitet: Deutsche Sporthochschule Köln, 2023). 19.6 Aufarbeitung von Vorfällen interpersonaler Gewalt im Sport Im Anschluss an die Intervention sollte in der Regel eine Phase der Aufarbeitung anschließen. Dieser Aspekt ist besonders in den letzten Jahren durch öffentliche und mediale Thematisierung präsenter geworden. Eine wichtige Rolle spielte auch die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die Anhörungen von Betroffenen organisierte, auf deren Basis anschließend Aufarbei‐ 19.6 Aufarbeitung von Vorfällen interpersonaler Gewalt im Sport 373 <?page no="374"?> tungsprojekte initiiert wurden. Die Unabhängige Kommission beschreibt Aufarbeitung wie folgt: „Aufarbeitung soll aufdecken, in welcher Kultur sexueller Kindesmissbrauch in einer Insti‐ tution stattgefunden hat, welche Strukturen unter Umständen mit dazu beigetragen haben, dass Täter und Täterinnen Kindern und Jugendlichen Gewalt angetan haben, wer davon gewusst hat, aber sie nicht oder spät unterbunden hat. Sie soll sichtbar machen, ob es unter den Verantwortlichen in den Institutionen zu dem Zeitpunkt des Missbrauchs eine Haltung gab, die Gewalt begünstigt und Kinder oder Jugendliche abgewertet hat, und sie will klären, ob und wenn ja, warum sexueller Kindesmissbrauch in einer Einrichtung vertuscht, verdrängt, verschwiegen wurde.“ (Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, 2020, S.-8) Die Definition macht deutlich, dass die Aufarbeitung nicht einen spezifischen Fall in den Blick nimmt, sondern Strukturen aufdecken soll, die diese Gewalterfahrungen ermöglichen oder begünstigen. Die gesamte Institution und ihre Akteur*innen werden in den Blick genommen, um gewaltförderliche Konstellationen und Strukturen heraus‐ zustellen und diese im Nachgang zu verändern, sodass weitere Gewalterfahrungen verhindert werden können. Der Prozess der Aufarbeitung kann außerdem weiteren Betroffene von Gewalthandlungen in der Institution die Möglichkeit geben, ihre eigenen Erfahrungen mitzuteilen. In den Leitlinien zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt der dsj und des DOSB (2022) wird darauf hingewiesen, dass im Zuge der Aufarbeitung ggf. noch nicht verjährte Fälle ans Licht kommen, die dann zur Anzeige gebracht werden können. Weiterhin suchen sich Sportverbände in Deutschland immer häufiger externe, un‐ abhängige Unterstützung, um Aufarbeitungsprozesse im eigenen Verband anzustoßen (siehe z. B. Schültke, 2023). Dies ist nötig, da die Vereine und Verbände mit dem Prozess der Aufarbeitung einerseits oft überfordert, und andererseits nicht unabhängig sind. Die Unabhängigkeit ist in diesem Prozess unabdingbar, da Interessenskonflikte einzelner Personen den Erfolg der Aufarbeitung gefährden können. Wissen | Aufarbeitungsprozess Ein wichtiger Aspekt, der nicht zu vernachlässigen ist, ist die Beteiligung der Be‐ troffenen im Aufarbeitungsprozess. Betroffene Personen bringen einen anderen Blickwinkel als ein Aufarbeitungsteam von nicht Betroffenen in den Prozess, der hilft, alle Aspekte der Gewalterfahrungen, Strukturen etc. zu beleuchten. Die Aufarbeitung ist also ein wichtiger Prozess, um Gewalthandlungen und begünsti‐ gende Strukturen aufzudecken, um Aufklärung zu leisten, um Gehör für Betroffene zu schaffen und weitere Taten zu verhindern. 374 19 Interpersonale Gewalt im Sport <?page no="375"?> 19.7 Die Rolle der Sportpsycholog*innen Aufgrund der Möglichkeit zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Sportler*innen, Trainer*innen, Vereinsverantwortlichen und Eltern befinden sich Sportpsycholog*in‐ nen in einer Sonderposition. Sie können auf der einen Seite das Etablieren einer Präventionskultur vorantreiben, und stehen gleichzeitig auf der anderen Seite als Vertrauenspersonen im Bereich der Intervention zur Verfügung. Prävention Für die Gruppe der Erwachsenen (Trainer*innen, Betreuer*innen, Eltern oder Vereins‐ vorsitzende) eignen sich Schulungen, in denen Wissen zu interpersonaler Gewalt im Sport vermittelt wird, sowie Handlungsmöglichkeiten und (Schutz-)Maßnahmen der Sportorganisation bzw. des Vereins vorgestellt werden. Hierbei sollen Unsicherheiten im Umgang mit diesem Thema abgebaut und Gespräche über Grenzbereiche möglich werden. Darüber hinaus sollten Trainer*innen weiterführende Schulungsangebote erhalten, sodass sie Gelegenheiten zum Austausch sowie zur Reflexion erhalten. Da grenzüberschreitende Verhaltensweisen im Sport vielfach normalisiert sind (siehe Kap. 19.2), können mit den Trainer*innen zudem alternative Trainingsstile erarbeitet werden, hin zu einem positiven und förderlichen Trainer*innenverhalten (z. B. Empo‐ werment-Trainingsklima (Duda & Appleton, 2016)). In der Arbeit mit der Zielgruppe der Sportler*innen können kinderbzw. jugend‐ gerechte Praxiseinheiten zu Themen wie persönliche Grenzen, Kinderrechte und Handlungsmöglichkeiten angeleitet werden. Das Ziel bei diesen Praxiseinheiten ist die Stärkung der Sportler*innen hinsichtlich ihrer eigenen Grenzen, ihrer Handlungswirk‐ samkeit im System Sport sowie der Umgang mit möglichen (beobachteten) Vorfällen. Intervention Als vertrauliche Anlaufstelle für Athlet*innen bei Problemen sind Sportpsycholog*in‐ nen im Umgang mit sensiblen und unangenehmen Themen geschult. Sie sollten daher mit Beschwerdewegen, Anlaufstellen und den Besonderheiten des jeweiligen Schutzkonzepts vertraut sein, um bei einer möglichen Gefährdung aktiv werden zu können. Stets müssen jedoch beim Begleiten einer Intervention die Grenzen der eigenen Kompetenz berücksichtigt und eine frühzeitige Kooperation mit einer Fachberatungsstelle angestrebt werden. 19.8 Unterstützende Strukturen Zum Schutz vor Gewalt bestehen bereits zahlreiche Materialien und Angebote von verschiedenen (Dach-)Organisationen, deren Expertise eine wichtige Ressource bei der Einarbeitung und im Falle von konkreten Interventionen sehr hilfreich sein kann. Sowohl sportintern als auch -extern gibt es Kontaktstellen. Wichtig ist zu 19.7 Die Rolle der Sportpsycholog*innen 375 <?page no="376"?> beachten, dass jede Kontaktstelle eigene Verpflichtungen und Verfahren hat, mit gemeldeten Fällen umzugehen. Polizei und Jugendamt sind einer Verfolgung der Anzeige verpflichtet und ein einmal eingeleiteter Prozess ist nicht mehr aufzuhalten. Ob dies gewünscht ist, sollte mit der betroffenen Person unbedingt besprochen werden. Darüber hinaus dienen diese Anlaufstellen strafrechtlich relevanten Fällen oder Fällen, die eine Kindeswohlgefährdung vermuten lassen. Viele Fälle gehören nicht unter diese Kategorien und sollen dennoch unbedingt mit Unterstützung durch Fachexpert*innen begleitet werden. Exkurs | Anlaufstellen bei Vorfällen interpersonaler Gewalt ■ Zentrum Safe Sport (externe Anlaufstelle für Athlet*innen und deren Um‐ feld): https: / / ansprechstelle-safe-sport.de ■ Hilfeportal Missbrauch (anonyme sportexterne Beratungsmöglichkeit): htt ps: / / hilfe-portal-missbrauch.de Außerdem haben der DOSB, die dsj, die Landessportbünde und Sportjugenden sowie Fachverbände jeweils Ansprechpersonen, die über deren Homepages zu finden sind. Literatur Anders, G. (2008). Soziologie des (Hoch-) Leistungssports. Sozialwissenschaftlicher Fachinforma‐ tionsdienst soFid, (Freizeit-Sport-Tourismus 2008/ 1), 9-20. Bartsch, F., & Rulofs, B. (2020). »Safe Sport« - Ein Handlungsleitfaden zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Grenzverletzungen, sexualisierter Belästigung und Gewalt im Sport. Deutsche Sportjugend. https: / / static-dsj-de.s3.amazonaws.com/ Publikationen/ PDF/ Safe_Sport.pdf Berliner Morgenpost (2022, 19. Februar). Olympiasiegerin Savchenko: Schläge, Essensentzug, Zwang. Berliner Morgenpost. Abruf am 17.09.2023 unter: https: / / www.morgenpost.de/ sport / article234617995/ Olympiasiegerin-Savchenko-Schlaege-Essensentzug-Zwang.html Brackenridge, C. (2001). Spoilsports: Understanding and preventing sexual exploitation in sport. London: Routledge. Child Protection in Sport Unit [CPSU] (2022). Child Abuse in a Sports Setting. Child Protection in Sport Unit. Abruf am 15.09.2023 unter: https: / / thecpsu.org.uk/ help-advice/ introduction-t o-safeguarding/ child-abuse-in-a-sports-setting/ Deutsche Sporthochschule Köln (2023). BISp fördert Erarbeitung eines Safe Sport Codes. https : / / www.dshs-koeln.de/ aktuelles/ meldungen-pressemitteilungen/ detail/ meldung/ bisp-foerde rt-erarbeitung-eines-safe-sport-codes/ Deutsche Sportjugend [dsj] & Deutscher Olympischer Sportbund [DOSB] (2022). »Safe Sport« - Leitlinien zur Aufarbeitung sexualisierter Belästigung und Gewalt in Sportverbänden und Sportvereine. Frankfurt am Main: Deutsche Sportjugend. 376 19 Interpersonale Gewalt im Sport <?page no="377"?> Deutscher Bundestag (2008). Sportförderung in Deutschland und der EU. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, WD 10 - 001/ 08. https: / / www.bundestag.de/ resource/ blob / 413492/ f0f56e8ef808a37d24c84b3a4244bbf6/ wd-10-001-08-pdf-data.pdf Duda, J., & Appleton, P. R. (2016). 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B. emotionaler Affekt und kognitive Bewertungsprozesse), biologischen (z. B. endo‐ krine und inflammatorische Prozesse), sozialen und behavioralen (z. B. hastiges Verhalten, Konflikte mit anderen) Beschreibungsdimensionen verstanden. Neben den akuten Auswirkungen der akuten Stressreaktion, die sowohl adaptiv als auch nonadaptiv sein können, beschreibt das Kapitel auch chronisch stressbedingte Beschwerden im Wettkampf- und Leistungssport. Möglichkeiten zur Diagnostik und Prognose etwaiger negativer Prozesse und Konsequenzen für Leistung und Gesundheit werden vorgestellt. Interventionen zum Stressmanagement und zur Stressregulation als auch Möglichkeiten zum Training von Resilienz im Leistungs‐ sport schließen diese Übersicht. Wissenscheck | Zu diesem Kapitel werden Fragen online angeboten. Sie können diese über den folgenden Link aufrufen oder den QR-Code mit dem Smartphone scannen: https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1314. Lernziele ■ Verständnis des Stressbegriffs im Kontext des Leistungs- und Wettkampf‐ sports: Die Lesenden sollen erklären können, was der Begriff Stress im spezifischen Kontext des Leistungs- und Wettkampfsports bedeutet. ■ Kenntnis der möglichen Stressreaktionen im Leistungs- und Wettkampfsport: Die Lesenden sollen in der Lage sein, verschiedene Stressreaktionen zu beschreiben, die im Rahmen von Leistungs- und Wettkampfsituationen auftreten können. ■ Verständnis der Auswirkungen von akutem Stress auf die sportliche Leistung: Die Lesenden sollen die Auswirkungen von akutem Stress auf die sportliche Leistung verstehen können, insbesondere das Phänomen des Choking under pressure und die zugehörigen Theorien zwischen Stress und Aufmerksamkeit. ■ Kenntnis der Auswirkungen von langfristigem Stress auf die sportliche Leis‐ tung: Die Lesenden sollen die langfristigen Auswirkungen von chronischem <?page no="382"?> psychophysiologischem Stress auf die sportliche Leistung verstehen und beschreiben können. ■ Fähigkeit zur Benennung und Erläuterung von Stressbewältigungsstrategien: Die Lesenden sollen verschiedene Stressbewältigungsstrategien kennen und erklären können, die von Sportler*innen während Wettkämpfen angewendet werden können. ■ Verständnis des Begriffs Resilienz im Sport und ihre Rolle bei der Stressbe‐ wältigung: Die Lesenden sollen den Begriff Resilienz im Kontext des Sports erklären können und verstehen, welche Rolle Resilienz bei der Bewältigung von Stress im Sport spielt. 20.1 Stressfaktoren im Wettkampf- und Leistungssport 20.1.1 Stress im Sport Stressdefinition(en) Die Definition von Stress variiert in Abhängigkeit von der befragten Person und ihrem fachlichen Hintergrund. Der Begriff selbst stammt aus dem Lateinischen, stringere für eng ziehen, zusammenziehen. Schon im 14. Jahrhundert wurde der Begriff in England verwendet und meinte ursprünglich hardship (dt. Härte) oder adversity (dt. Widrigkeit). Im 17.-Jahrhundert fand der Begriff Eingang in die Materialkunde und Physik, beim Ent‐ werfen von Brücken, die schwere Lasten tragen oder auch starken Winden Widerstand leisten können. In diesem Kontext prägte sich die Unterscheidung in ■ load, das Gewicht, das auf Struktur lastet, ■ stress, der Bereich, auf der dieses Gewicht auftrifft, und ■ strain, die Deformierung der Struktur als Folge des Zusammenwirkens von load und stress. In der Psychologie spricht man von Stress, wenn die Aufrechterhaltung oder die (Wieder-)Herstellung einer günstigen Situation gefährdet erscheint (Nitsch, 2000). In der Sportpsychologie tauchte der Begriff erstmals 1979 auf als Kroll The stress of high performance athletes diskutierte (zit. nach Fletcher & Scott, 2010). Aus biologi‐ scher Perspektive kommt es dann zu Stress, wenn körperliche Veränderungen bzw. Anpassungsreaktionen auftreten, die ggf. zur Mobilisierung notwendiger Energie gebraucht werden (Hellmammer, 2008). Unter diesem Verständnis ist Stress zunächst adaptiv und nicht intrinsisch etwas „Negatives“. Zum einen kann Stress somit als (relevante) physiologische Veränderung verstanden werden (Stress als Reaktion) und zum anderen als die kognitive Bewertung einer Situation, wobei das Ergebnis der Bewertung dann die psychophysiologische Reaktion bedingt (Stress als Transaktion zwischen Umwelt und Individuum). 382 20 Leistungs- und Wettkampfsport: Stress, Stressreaktion und Stressmanagement <?page no="383"?> Auslöser von Stress im Sport Auch im Sport kann zwischen verschiedenen Stressreizen, der individuellen Stressver‐ arbeitung und der Stressreaktion sowie den Stressfolgen unterschieden werden. Auf Seite der Stressreize werden sportspezifisch verschiedene Kategorien vorgeschlagen (siehe Fletcher & Arnold, 2016 und Grassinger et al., 2023): ■ wettkampfbezogene (Leistungsdruck bei wichtigen Spielen, starke Gegner*in‐ nen, Probleme mit der eigenen Form und/ oder Technik, Verletzungen oder Rück‐ kehr von einer Verletzung), ■ organisationale (z. B. Trainingsprobleme, zwischenmenschliche Konflikte inner‐ halb des Teams/ mit Trainer*innen, wahrgenommene mangelnde Unterstützung durch die Organisation, Probleme mit der Anreise/ Unterkunft) und ■ persönliche (z. B. Veränderungen im Lebensstil, finanzielle Proble