Marshall McLuhan
Vier Lesarten zur Einführung
0317
2025
978-3-8385-6376-3
978-3-8252-6376-8
UTB
Sven Grampp
10.36198/9783838563763
Das Medium ist die Botschaft!
Kaum ein Medien- und Kulturforscher ist so verworren und provokativ wie Marshall McLuhan. Dennoch sind seine Ideen aus dem Kanon der Medien- und Kulturwissenschaft nicht wegzudenken. Sven Grampp betrachtet McLuhan aus verschiedenen Perspektiven. Gezeigt wird, welchen Traditionslinien seine Ideen folgen, wie unterschiedlich McLuhan interpretiert werden kann und was er uns noch heute zu sagen hat.
Kurzum: Ein unverzichtbares Buch für Studierende der Medien-, Kommunikations- sowie der Kultur- und Sozialwissenschaften.
<?page no="0"?> Sven Grampp Marshall McLuhan Vier Lesarten zur Einführung 2. Auflage <?page no="1"?> utb 3570 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Psychosozial-Verlag · Gießen Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> PD Dr. Sven Grampp ist Akademischer Oberrat am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Uni‐ versität Erlangen-Nürnberg. <?page no="3"?> Sven Grampp Marshall McLuhan Vier Lesarten zur Einführung 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage UVK Verlag <?page no="4"?> 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2025 1. Auflage 2011 DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838563763 © UVK Verlag 2025 ‒ Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Heraus‐ geber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung Druck: Elanders Waiblingen GmbH utb-Nr. 3570 ISBN 978-3-8252-6376-8 (Print) ISBN 978-3-8385-6376-3 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6376-8 (ePub) Umschlagabbildung: © hakkiarslan ∙ iStock Autorenbild: © privat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 23 1 31 1.1 32 1.2 54 1.2.1 54 1.2.2 62 1.2.3 71 1.2.4 74 2 83 2.1 93 2.2 134 2.3 174 2.4 216 3 219 3.1 224 3.2 246 3.2.1 246 3.2.2 256 4 269 4.1 271 4.2 283 4.3 292 4.4 369 Inhalt Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Schwierigkeit McLuhan zu lesen - vier Lesarten . . . . . . . . . . . Lesart: Rhetorik - McLuhan singen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Close Reading . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesarten der Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medienreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . These 1: Medien sind Körperausweitungen . . . . . . . . . . . . . These 2: Wir leben in einem globalen Dorf . . . . . . . . . . . . . These 3: Das Medium ist die Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . Everything is connected . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesart: Kritik - McLuhan zerstören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Objektkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturelle Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ideologiekritische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dekonstruktivistische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . McLuhan und die Massenmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . McLuhan und die Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . McLuhan und die Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . McLuhan und das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 377 397 401 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsbelege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 1 Siehe für diese treffende Wendung in Bezug auf McLuhans Zugriffsweise und die Rezeption von McLuhan in den 1960er Jahren: Brigitte Weingart, Alles (McLuhans Fernsehen im Global Village), in: Irmela Schneider u. a. (Hg.), Medienkultur der 60er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Bd.-2, Opladen 2003, S.-215-240. 2 Siehe dazu ausführlicher: Martin Lindner, Das Fernsehen, der Computer und das Jahrhundert von ‚die Medien‘. Zur Konstruktion der mediasphere um 1950: Riesman, McLuhan, Bradbury, Orwell, Leinster, in: Archiv für Mediengeschichte - 1950, hrsg. von Lorenz Engell u.-a., Weimar 2004, S.-11-34. Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf Wie kein anderes Jahrzehnt vorher waren die 1960er Jahre durch massen‐ mediale Spektakel und technologische Vernetzungsprozesse geprägt. Das Fernsehen avancierte in diesem Jahrzehnt endgültig zum ‚Leitmedium‘ der ‚westlichen‘ Hemisphäre. Damit brachte der Vietnamkrieg seine Schrecken nun direkt in die nordamerikanischen Wohnzimmer. Die Studentenrevolte wurde zu einer nahezu globalen Angelegenheit. Pop-Art war die dominie‐ rende Kunstrichtung, die sich vorrangig mit Motiven und Materialien der Alltagskultur und Massenmedien beschäftigte. Am Ende dieses Jahrzehnts fand die Hippie-Bewegung ihren friedlichen Höhepunkt im Woodstock-Fes‐ tival. Kurz davor, im Juli 1969, verfolgten knapp eine halbe Milliarde Menschen den ersten Schritt eines Menschen auf dem Mond live am Fernsehen. Währenddessen kreisten bereits knapp 400 Satelliten um die Erde, unablässig Daten empfangend, speichernd, verarbeitend und sendend. Dieses Jahrzehnt, das in amerikanischen Fernsehserien wie WUNDER‐ BARE JAHRE (ABC, 1988-1993) häufig nostalgisch verklärt wird, hat mit Sicherheit auch einige von Marshall McLuhans ‚wunderbarsten Jahre‘ erlebt. Zumindest war es mit Abstand das erfolgreichste Jahrzehnt des kanadischen Medienforschers. Das Geheimnis seines Erfolges lag wohl nicht zuletzt darin, für all die oben angeführten Ereignisse (und noch für vieles andere, ja, wie zu sehen sein wird, eigentlich für buchstäblich „Alles“ 1 ) pointierte, mitunter erstaunlich einfache, dann wieder sehr dunkle, meist provokative und irritierende Erklärungen bereitzuhalten. Diese Erklärungen standen unmittelbar oder mittelbar so gut wie immer mit dem neuen Zauberwort des Jahrzehnts in Verbindung, ein Zauberwort, das seither selten in Be‐ schreibungen gesellschaftlicher Befindlichkeit fehlen darf und das bis dato wenig an seiner Zauberkraft eingebüßt zu haben scheint, nämlich ‚die Medien‘. 2 Zwar wusste man damals (wie im Übrigen auch heute noch) <?page no="8"?> 3 Siehe zu dieser Wendung die deutsche Ausgabe von McLuhans heute wohl bekanntestem Buch: Magische Kanäle. Understanding Media [1968], Dresden/ Basel 1995 (die engl. Ausgabe heißt im Unterschied dazu: Understanding Media. The Extensions of Man, London u.-a. 3 1964). 4 Siehe dazu: Marshall McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen. P L A Y B O Y -Interview mit Eric Norden, in: ders., absolute McLuhan, S. 7-55 (engl. Original: A Candid Conversation with the High Priest of Popcult and Metaphysician of Media, in: Playboy 3/ 16 [1969], S.-53-74, 158). nicht recht, was genau mit ‚die Medien‘ gemeint sein soll (und was nicht). Noch weniger wusste (und weiß) man, was sie mit uns eigentlich tun, während wir etwas mit ihnen tun. Dass ‚die Medien‘ aber ‚magische Kanäle‘ sind, die undurchsichtige, geheimnisvolle Wirkungen auf uns ausüben, uns ‚verzaubern‘, diesen Verdacht artikulierte McLuhan wie kaum ein Zweiter. 3 Dass er den Menschen damals (und in seinen Schriften uns auch heute noch) überdies verspricht, man könnte ‚die Medien‘ womöglich dennoch verstehen und vielleicht sogar kontrollieren, dürfte die Attraktivität seiner Beobachtungen über ‚die Medien‘ nicht gerade geschmälert haben. Hohepriester der Popkultur Im Jahr 1969 bezeichnete das P LAY B O Y -Magazin McLuhan als „Hohepriester der Popkultur und Metaphysiker der Medien“. 4 Das ist für ein ‚Herren‐ magazin‘, das sich in weiten Teilen ganz anderen Bedürfnissen widmet, eine erstaunlich hellsichtige Beschreibung. Denn McLuhan hat die mediale Signatur seiner Gegenwartskultur immer wieder in kühnen metaphysischen Spekulationen umrissen, die eigentümlich zwischen Kalauern, Pop-Jargon, Aphorismen, New-Age-Vokabular, hanebüchenen Assoziationen, labyrin‐ thischen Verzweigungen voller Widersprüche, weitsichtigen Analysen, historischen Tiefenbohrungen und theologischer Spekulation oszillieren. Die abenteuerlichsten Behauptungen konnte er dabei im Brustton vollkom‐ mener Gewissheit äußern. Damit trägt McLuhan durchaus Züge eines ‚Hohepriesters‘. Wie es sich für einen erfolgreichen Hohepriester gehört, war McLuhan in jenen Jahren, zumindest verbal, in Bestform. Man lud ihn gern und häufig als Gastredner ein. Auch in Wirtschaftskreisen war man von ihm augenschein‐ lich so angetan, dass er häufig angefragt wurde, vor Unternehmerverbänden oder vor Manager: innen von Firmen wie IBM zu sprechen. Ab Mitte der 1960er Jahre war er zudem Dauergast in Fernsehtalkshows, was für die da‐ 8 Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf <?page no="9"?> 5 Siehe dazu ausführlicher: Philip Marchand, Marshall McLuhan. Botschafter der Medien. Biographie, Stuttgart 1999, S.-79, 216 ff., 245ff. 6 Zitiert nach: Neil Postman, Vorwort, in: Marchand, McLuhan, S. 7-15, hier: S. 8; zu einer ähnlichen Aussage siehe: Marchand, McLuhan, S.-192. 7 Zitiert nach: ebd., S.-280. 8 Helmut Heissenbüttel [sic! ], Die totale Vermittlung. Von Walter Benjamin zu Marshall McLuhan. Ein kritischer Vergleich [Manuskriptvorlage zur Sendung vom 25.2.1968 auf Sender Freies Berlin], S.-2. maligen Verhältnisse durchaus ein Novum bedeutete. Denn es war verpönt, sich als Akademiker: in Medien populärkultureller Unterhaltung allzu häufig auszuliefern. Auch umgekehrt kam es normalerweise, zumindest was die kanadischen und US-amerikanischen Fernsehanstalten betrifft, nicht gerade zu Begeisterungsstürmen, wenn sich Akademiker: innen televisuell zu Wort melden wollten. Doch bei dem eloquenten wie gewitzten kanadischen Professor für englische Literatur, der sich in kurzen, dennoch druckreif dichten Sätzen zu artikulieren wusste, war das augenscheinlich anders. 5 McLuhan war ganz ohne Zweifel ein Mann mit einer Mission. Aber, und hier enthüllt sich die tiefere Bedeutung der Bezeichnung McLuhans durch den P LAY B O Y , er war nicht einfach irgendein Hohepriester, sondern eben einer der Popkultur. Damit ist nicht nur gemeint, dass McLuhan die Populärkultur seiner Zeit deutete und dies häufig in populären Medien wie dem Fernsehen tat. Darüber hinaus übte er sein Hohepriesteramt mit einer der Popkultur entsprechenden selbstironischen Distanz und Gelassenheit aus, die mitunter clowneske Züge annehmen konnte. Legendär ist etwa seine Standardantwort, wenn er gebeten wurde, den einen oder anderen Gedanken noch einmal genauer zu erläutern, den er in einem Vortrag äußerte, oder ihm ein Widerspruch in der Argumentation vorgehalten wurde. McLuhan pflegte auf solche Einwürfe achselzuckend zu antworten: „Wenn Ihnen das nicht gefällt, erzähle ich Ihnen etwas anderes.“ 6 Nicht weniger legendär ist seine Aussage: „Ich behaupte nicht, meine Theorien zu verstehen - schließlich sind sie ziemlich schwierig.“ 7 Vor allem gegen Ende der 1960er Jahre schien der ‚Hohepriester der Popkultur und Metaphysiker der Medien‘ so hoch im Kurs zu stehen, dass ein deutscher Rezensent, der Schriftsteller Helmut Heißenbüttel, bereits ein Jahr vor dem angeführten P LAY B O Y -Interview in einem Radio-Feature über McLuhan von einem „Zeit‐ alter des McLuhanismus“ 8 sprechen konnte. Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf 9 <?page no="10"?> 9 Marshall McLuhan, Letters of Marshall McLuhan, hrsg. von Matie Molinaro u. a., Oxford u.-a. 1987, S.-217. 10 Siehe dazu ausführlicher: Marchand, McLuhan, S. 172ff. oder auch: W. Terrence Gordon, Marshall McLuhan. Escape into Understanding. A Biography, New York 1997, S. 160ff.; Erhard Schüttpelz, 60 Jahre Medientheorie: Die Black Box der EXPLORATIONS wird geöffnet, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 11/ 2 (2014), S.-139-142. Der Aufstieg McLuhan erfuhr in den 1960er Jahren einen geradezu kometenhaften Auf‐ stieg. 1941 hatte er über einen eher unbekannten Satiriker aus dem 17. Jahr‐ hundert, nämlich Thomas Nashe, in englischer Philologie promoviert. Diese Doktorarbeit ist für McLuhans Verständnis der ‚Grammatik der Medien‘ zwar retrospektiv äußerst aufschlussreich; damals jedoch interessierte sich für diese Arbeit außer deren Gutachter wohl kaum jemand. Anfang der 1950er Jahre veröffentlichte der inzwischen immerhin zu Professorenehren gekommene McLuhan ein Buch, an dem er knapp zehn Jahre (wenngleich sporadisch) gearbeitet hatte. D I E M E CHANI S CHE B R AUT , so der Titel, gewählt in Anlehnung an eine Phrase von Marcel Duchamp, die dieser im Zusam‐ menhang mit der Herstellung seines Werkes D A S G R OẞE G LA S (1915-1923) häufig verwendete, nämlich „Junggesellenmaschine“, enthielt eine Reihe von Werbeanalysen mit dezidiert kulturkritischem Unterton. Vor allem die Form dieses Buchs ist ungewöhnlich: Beim Blättern findet man auf den linken Seiten meist eine Werbeanzeige, einen Zeitungsausschnitt oder einen Comicstrip, auf der rechten McLuhans Analysen und Assoziationen dazu. Obwohl sich McLuhan durch diese Art Auseinandersetzung mit der Gegen‐ wartskultur intellektuelle Anerkennung und öffentliche Aufmerksamkeit erhoffte, blieb beides weitgehend aus. Der Autor selbst führte das auf die Eingriffe und Beschneidungen des Verlages zurück. In einem Brief an Ezra Pound heißt es diesbezüglich 1951 sichtlich frustriert und unverhohlen chauvinistisch: „Publishers offices now are crammed with homosexuals who have a horror of any writing with balls to it.“ 9 Erst mit der Zeitschrift E X P L O R ATIO N S , die sich aus Geldern der Ford-Stif‐ tung finanzierte und die McLuhan (mit Unterbrechungen) gemeinsam mit dem Anthropologen Edmund Carpenter zwischen 1953 und 1959 herausgab, sollte sich die intellektuelle Anerkennung in größerem Umfang einstellen. 10 In Wissenschaftskreisen machten Carpenter und McLuhan im Rahmen der E X P L O R ATION S mit ungewöhnlichen und innovativen Ideen auf sich aufmerksam. Nicht weniger als die ‚Grammatik der neuen Medien‘ sollte 10 Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf <?page no="11"?> 11 Edmund Carpenter/ Marshall McLuhan, Introduction, in: dies. (Hg.), Explorations in Communication. An Anthology [1960], London 1970, S. ix-xii, hier: S. xii. 12 Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters [1968], Dres‐ den/ Basel 2 1995 (engl. Original: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man [1962]). 13 Siehe dazu ausführlicher: Marchand, McLuhan, S. 221ff. und: Gordon, McLuhan, S. 185ff. in dieser Zeitschrift untersucht werden, wie es bündig im Vorwort zu einer Anthologie heißt, die zentrale Texte der Zeitschrift versammelt: „Without an understanding of media grammars, we cannot hope to achieve a contem‐ porary awareness of the world in which we live.“ 11 Um die Strukturen der gegenwärtigen Medienwelt verstehen zu können, versammelten Carpen‐ ter und McLuhan diverse namhafte Forscher: innen aus unterschiedlichen disziplinären Zusammenhängen, etwa den Architekturhistoriker und Wölff‐ lin-Schüler Siegfried Giedion oder McLuhans Kollege an der Universität in Toronto, den Literaturwissenschaftler Northrop Frye, die Anthropologin Dorothy Lee oder Daisetz Teitaro Suzuki, einen der damals führenden Exper‐ ten für Zen-Buddhismus. Diese Art der (interdisziplinären) Medienanalyse war für Geisteswissenschaftler: innen, allen voran Philolog: innen, neu. Der ganz große Durchbruch jenseits des akademischen Elfenbeinturmes war für McLuhan damit jedoch immer noch nicht erreicht. Dieser erfolgte erst in den 1960er Jahren. Der Durchbruch 1962 erschien D I E G UT E NB E R G -G ALAXI S . 12 Darin präsentierte McLuhan zum ersten Mal in Buchform, nachdem er die Thesen des Wirtschaftshistori‐ kers Harold A. Innis zur tragenden Rolle von Medientechnologien für Geschichtsverläufe kennen gelernt hatte, seine Vorstellung kulturgeschicht‐ licher Prozesse als medienbestimmte. Für dieses Buch, das größtenteils wie eine kommentierte Zitatencollage wirkt und dessen Titel im populärkultu‐ rellen Gedächtnis der folgenden Jahrzehnte einen festen Platz einnehmen sollte, erhielt McLuhan den in Kanada angesehenen Governor-General’s Award für kritische Prosa. Im selben Jahr wurde eigens für ihn das Centre for Culture and Technology an der Universität in Toronto gegründet. 13 Damit sollten die Abwanderungspläne zerstreut werden, die McLuhan durchaus hegte, wurde er doch nun auf einmal von anderen Universitäten, vor allem aus den USA, umworben. Die Strategie der Universität Toronto hatte Erfolg: Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf 11 <?page no="12"?> 14 Siehe dazu: Till A. Heilmann/ Jens Schröter (Hg.), Medien verstehen. Marshall McLu‐ hans Understanding Media, Lüneburg 2017. 15 Siehe: Marchand, McLuhan, S.-244. 16 Siehe zur damaligen deutschsprachigen Rezeption: Till A. Heilmann, Ein Blick in den Rückspiegel. Zur Vergangenheit und Gegenwärtigkeit von ‚Understanding Media‘, in: Navigationen. 50 Jahre Understanding Media, S.-87-103. 17 Siehe auch: Marchand, McLuhan, S.-251f. Bis zu seinem Tod im Jahre 1980 sollte McLuhan, abgesehen von einigen Gastdozenturen, das Center leiten. 1964 wurde dann das Buch veröffentlicht, das wohl bis dato McLuhans berühmtestes, auf jeden Fall wissenschaftlich einflussreichste sein dürfte, nämlich U ND E R S TANDIN G M E DIA . 14 Dieses Buch ging weg wie die sprichwört‐ lichen warmen Semmeln. Binnen kürzester Zeit waren bereits knapp 100.000 Exemplare verkauft; noch im selben Jahr wurde eine zweite und dritte Auflage gedruckt. 15 Das ist durchaus erstaunlich. Denn es handelt sich um ein inhaltlich recht sperriges Werk, das aus knapp 400 eng bedruckten Seiten besteht. In den Folgejahren wurde es in viele Sprachen übersetzt. Die deutsche Übersetzung, im Übrigen die erste Übersetzung eines Buches von McLuhan ins Deutsche, wartete mit einem noch verheißungsvolleren Titel als das Original auf. U ND E R S TANDIN G M E DIA wanderte in den Untertitel und als Haupttitel wählte man stattdessen: D I E MAG I S CH E N K ANÄL E . Das entsprach durchaus präzise der Zielrichtung des Buches. Denn es geht darin primär um die Beobachtung und Erläuterung, wie Medien, quasi hinter unserem Rücken, jenseits unserem willentlichen Zugriff auf sie und scheinbar wie eine übernatürliche Instanz unsere Wahrnehmungen, Erkenntnisse und Kommunikationsweisen beeinflussen, ja umformen. Das Buch wurde zwar nicht nur gefeiert, vor allem europäische Intellektuelle reagierten darauf äußerst skeptisch, aber eben beinah weltweit als eine Position wahrgenommen, zu der man sich zumindest zu verhalten hatte, wollte man im akademischen Diskurs Schritt halten. 16 Zur Steigerung des Bekanntheitsgrades in der Öffentlichkeit trug Mitte der 1960er Jahre wohl noch sehr viel mehr als dieses Buch ein Porträt bei, das kurz nach der Veröffentlichung von D I E MAGI S CH E N K ANÄL E erschien und aus dem noch Jahre später immer wieder zitiert wurde. 17 Dieser Artikel prägte McLuhans Bild in der Öffentlichkeit wie wohl kein anderer. Der Journalist und Schriftsteller Tom Wolfe, der heute wohl vor allem noch bekannt sein dürfte für den Roman F E G E F E U E R D E R E IT E LK E IT E N und die Verfilmung seines Berichts über die Frühphase des amerikanischen Weltraumprogramms T H E 12 Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf <?page no="13"?> 18 Tom Wolfe, What if he is right? , in: New York [Sonntagsmagazinsektion von W O R L D J O U R N A L T R I B U T E ], Nov. 1965, o.S. 19 Ebd. 20 Siehe: McLuhan, Letters, S.-330. 21 Marshall McLuhan/ Quentin Fiore, Das Medium ist Massage [1969], Frankfurt u. a. 1984 (engl. Original: The Medium is the Massage [1967], London u.-a. 2008). 22 McLuhan, Magische Kanäle, S.-21. R IGHT S TU F F , veröffentlichte im November 1965 ein längeres Porträt über McLuhan in der Sonntagsbeilage von W O R LD J O U R NAL T R IB UN E . Unter dem Titel W HAT I F H E I S R I GHT ? entwirft Wolfe darin das Bild eines zerstreuten Professors, der sich um sein Aussehen keine größeren Gedanken macht. Ein charakteristisches Detail hebt Wolfe dabei hervor, nämlich eine spezielle Krawatte: „If he feels like it, he just puts on the old striped tie with the plastic neck band. You just snap the plastic band around your neck and there the tie is, hanging down and ready to go, Pree-Tide.“ 18 Für diese Art von Krawatte wurde McLuhan in der Folge nachgerade berühmt. Nachdem Wolfe zu Beginn seines Porträts das schrullige und clowneske an McLuhans Auftreten mit milder Ironie beschrieben hat, folgt ein Satz in Frageform, der recht erfolgreich Karriere in der nordamerikanischen und der europäischen Presse machen sollte. Darin wird das gängige Klischee des zerstreuten Professors mit einer nicht weniger gängigen Erweiterung versehen. Es handelt sich um den Topos des herausragenden Genies, das von Normalsterblichen nicht recht verstanden werden kann und aufgrund seiner neuartigen Gedanken zunächst zur Lachnummer mutiert. Über kurz oder lang werden sich aber die revolutionären Gedanken Bahn brechen. Dieses Klischee unterbreitet uns Wolf bezogen auf McLuhan zumindest in Form einer Möglichkeit, wenn er schreibt: „Suppose he is what he sounds like, the most important thinker since Newton, Darwin, Freud, Einstein, and Pavlov, studs of the intelligentsia game suppose he is the oracle of the modern times - what if he is right? “ 19 In dieser Ahnengalerie fühlte sich McLuhan durchaus wohl, wie er dem Verfasser des Artikels in einem Brief versicherte. 20 1967 veröffentlichte McLuhan sein bis heute auflagenstärkstes Buch. Es trägt den Titel T HE M E DIUM I S TH E M A S S AG E (dt.: D A S M E DIUM I S T M A S S AG E ). 21 Dies ist ein Wortspiel, das auf den bekanntesten Slogans McLuhans aus D I E MAGI S CH E N K ANÄL E referiert, nämlich „The Medium is the Message“. 22 Aus der ‚Message‘ wird hier die ‚Massage‘. Das Buch beinhaltet Textausschnitte und Thesen aus McLuhans vorhergehenden Büchern und kombiniert diese mit Fotografien, Collagen, Zeichnungen und Letterdruck-Experimenten, die Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf 13 <?page no="14"?> 23 Siehe dazu ausführlicher: Marchand, McLuhan, S.-272ff. 24 McLuhan, Letters, S.-267. 25 Allein in McLuhans Büro an der Universität von Toronto wurden nach seinem Ableben ca. 80.000 lose, dicht beschriebene Blätter gefunden - siehe dazu Matie Molinaro, Preface I, in: McLuhan, Letters, S. vii-ix, hier: S. viii. der Publizist und Autor Jerome Agel gemeinsam mit dem Buchdesigner Quentin Fiore entwarf. Dieses kleine Buch, das man innerhalb einer Stunde durchgeblättert hat, verkaufte sich innerhalb eines Jahres sage und schreibe über eine Million Mal. 23 Mit unterschiedlichen Kooperationspartner: innen und Verlagen waren zudem Ende der 1960er Jahre mindestens acht weitere Buchprojekte an‐ gedacht. Ferner war eine Buchreihe geplant, D I E M A R S HALL M C L UHAN B IB LIOTH E K , die von McLuhan ausgewählt die maßgeblichen Texte für das Verständnis der Gegenwartskultur umfassen sollte. Der Unternehmer Eu‐ gene Schwarz konzipierte für McLuhan gar eine Art Late-Night-Talkshow: In T H E M A R S HALL M C L UHAN S HOW sollte der Medienforscher Gäste aus Kunstkreisen, Wissenschaft und Wirtschaft empfangen und in lockerer Atmosphäre mit diesen über die wichtigen Dinge der Zeit plaudern. Aus den meisten dieser Projekte wurde schließlich nichts, wohl auch, weil McLuhan beinah obsessiv immer weitere Projektideen in immer kürzeren Abständen entwarf, für deren tatsächliche Realisierung dann aber immer weniger Zeit blieb. „I wish I had time to go into it in detail, but […].“ 24 Diese Wendung findet sich häufig in McLuhans Briefen. Kaum war ein Projekt kurz skizziert, hetzte McLuhan zum nächsten. Zusehends verzettelte er sich - ganz buchstäblich. 25 Jedenfalls zeigt die Existenz solcher Projekte und Kooperationspläne, welch hohe Popularität McLuhan zu dieser Zeit genoss oder zumindest, welche Anziehungskraft man ihm von unterschiedlicher Seite zutraute. Der Absturz Entsprechend der klassischen Dramaturgie einer Geschichte von Aufstieg und Fall folgt dem kometenhaften Aufstieg in den Swinging Sixties der Niedergang in den 1970er Jahren - ein sehr rascher Niedergang im Übrigen. Sicherlich hat dieser Abstieg vielfältige Gründe, denen man eigentlich länger nachgehen müsste, als es hier der Fall sein wird. Jedenfalls wurde seine Popularität immer geringer, obwohl McLuhan weitere Bücher veröf‐ fentlichte, Vorträge hielt und im Fernsehen auftrat. Es sei dahingestellt, 14 Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf <?page no="15"?> 26 Jonathan Miller, Marshall McLuhan [1971], München 1972, S.-116. 27 McLuhan, Letters, S.-238. 28 Ebd. 29 Ebd., S.-435. 30 Ebd., S. 426. Millers Kritik löste bei McLuhan augenscheinlich nicht weniger als eine paranoide Obsession aus. Das lässt sich besonders gut ablesen an Briefen, die McLuhan an das Magazin T H E L I S T E N E R schrieb und aus denen die hier angeführten Zitate stammen. Der erste Brief McLuhans wurde von T H E L I S T E N E R kurz nach seinem ob das daran lag, dass McLuhan nichts wirklich Neues mehr lieferte oder seine Ideen immer krudere Formen annahmen oder man einfach seiner Clownerie überdrüssig war, sei es, dass er körperlich wie geistig durch einige Schlaganfälle geschwächt, nicht mehr den Esprit früherer Tage versprühte. Vielleicht hatte sich auch einfach der Zeitgeist verändert. Wie dem auch immer sei, der Widerstand aus der Wissenschaft jedenfalls wuchs in dieser Zeit enorm und kulminierte bereits 1971 in einem Buch von Jonathan Miller. Millers Buch war die erste Monografie zu Marshall McLuhans Werk überhaupt - und beinhaltete ein vernichtendes Urteil. McLuhan hat auf die Besonderheit von Medien hingewiesen, das sei unbestritten sein Verdienst, so Miller. Doch im Resümee heißt es dann, McLuhans größte Leistung besteht darin, „uns mit einem gigantischen System von Lügen erschreckt“ 26 zu haben. Zwar gab es auch davor sehr viele kritische Stimmen zu McLuhan, besonders aus dem wissenschaftlichen Lager. Die Kommentator: innen ho‐ ben immer wieder den wirren Stil, die Redundanz, die fehlende empirische Sättigung, das vermeintlich Apolitische und Affirmative des Werkes von McLuhan hervor. So umfassend und systematisch wie in Jonathan Millers Monografie wurden McLuhans Thesen und Behauptungen jedoch zuvor nicht durchleuchtet und argumentativ durchaus überzeugend für unwis‐ senschaftlich erklärt. McLuhan selbst reagierte auf dieses Buch merklich irritiert; er sprach von einem „anti-McLuhan crusade“. 27 Ja, er ließ sich sogar dazu hinreißen, von einem „anti-Catholic-crusade“ 28 zu sprechen, warf Miller vor, ihn als „undercover agent for Rome“ 29 zu verunglimpfen, weil dieser ihm den Vorwurf gemacht hatte, religiöses Gedankengut als wissen‐ schaftlich valide hinzustellen. Argumentativ ging McLuhan auf diese Kritik jedoch, zumindest strategisch gesehen, eher suboptimal ein. Auf Millers Vorwurf, er habe keine Beweise oder Bestätigungen für seine Behauptungen, antwortet McLuhan schlicht: „The last thing in the world that anybody wants is proof of anything I am saying. The evidence is plentiful for those who are interested.“ 30 Unter Forscher: innen, die sich auch nur ein klein Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf 15 <?page no="16"?> Eintreffen veröffentlicht. Danach entwickelte sich ein regelrechter Schlagabtausch in Briefen zwischen McLuhan und Miller, die in dem Magazin abgedruckt wurden. Siehe zu McLuhans Briefen: ebd., S. 435, 442 ff. Auch bei anderen Briefadressat: innen beschwerte sich McLuhan bitterlich über Miller, siehe bspw.: ebd., S.-425f., 440f. 31 Hans Magnus Enzensberger, Baukasten zu einer Theorie der Medien [1970], in: ders., Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kritische Diskurse zur Pressefreiheit, hrsg. von Peter Glotz, München 1997, S.-97-132, hier: S.-121. 32 Ebd. 33 Siehe: Umberto Eco, Vom Cogito interruptus [1977], in: ders., Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, München 1988, S.-245-266. 34 Zitiert nach: Marchand, McLuhan, S.-312f. wenig um wissenschaftliche Redlichkeit scheren, dürfte sich McLuhan mit diesem rüden Verweis auf Evidenz nicht gerade Freunde gemacht haben. Schnell wurde Millers Buch populär. An einigen wenigen Hinweisen lässt sich das veranschaulichen: Vier Jahre gingen ins Land, bis die deutschspra‐ chige Übersetzung von U ND E R S TANDIN G M E DIA publiziert wurde. Die ins Deutsche übersetzte Ausgabe von Millers Buch stand dagegen schon ein Jahr nach dem Original in den Regalen. Zudem erschien es dort in der Reihe M OD E R N E T H E O R E TIK E R und war damit dezidiert als eine Einführung in McLuhans Werk ausgewiesen. Schon ein Jahr zuvor, 1970, war McLuhan von Hans Magnus Enzensberger in seinem, im deutschsprachigen Bereich wahrscheinlich noch wirkmächtigeren Text B AU S T E IN E ZU E IN E R T H E O R I E D E R M E DI E N ganz ähnlich beurteilt worden. Dort heißt es, McLuhan ist ein Autor, dem „alle analytischen Kategorien zum Verständnis gesellschaftlicher Pro‐ zesse fehlen.“ 31 Enzensberger spricht ihm kurzerhand die wissenschaftliche „Satisfaktionsfähigkeit“ 32 ab. 1977 veröffentlichte der berühmte italienische Semiotiker und Romanschriftsteller Umberto Eco seine Sicht auf McLuhan. Wenngleich diese Kritik weit weniger polemisch ausfiel als die Enzensber‐ gers und Millers, war sie dennoch ähnlich vernichtend. 33 Für den wissen‐ schaftlichen und kritisch-intellektuellen Bereich war McLuhan damit von der Agenda gestrichen. In der öffentlichen Wahrnehmung sank der Stern McLuhans sogar noch schneller. Indiz dafür ist ein Cartoon aus dem N EW Y O R K E R vom 26. September 1970. Dort ist eine Frau abgebildet, die zu ihrem Mann beim Verlassen einer Cocktailparty leicht vorwurfsvoll sagt: „Ashley, bist du sicher, dass es nicht zu früh ist, auf Partys herumzulaufen und die Leute zu fragen: ‚Was ist eigentlich aus Marshall McLuhan geworden? ‘“ 34 16 Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf <?page no="17"?> 35 Es gibt jedoch in diesem Jahrzehnt eine wichtige Ausnahme im fiktionalen Bereich: McLuhan hatte 1977 einen viel beachteten (und bis heute gern angeführten und auf YouTube abrufbaren) Auftritt in Woody Allens oscarprämiertem Spielfilm A N N I E H A L L (dt.: D E R S T A D T N E U R O T I K E R , USA 1977). Dort erklärt er einem sich selbst als McLuhan-Experte bezeichnenden Dozenten, dass dieser sein Werk vollkommen falsch verstanden hat. Das war eine recht prophetische Aussage: Bis heute scheiden sich die Geister, wie McLuhan angemessen zu verstehen ist. Auch vorliegende Einführung legt davon Zeugnis ab. Auf McLuhan wird im Übrigen bis heute gern in fiktionalen Werken verwiesen. Vor allem in den international erfolgreichen Fernsehserien von Pay-TV-An‐ bietern scheint ein solcher Verweis inzwischen fester Bestandteil des Drehbuchs zu sein, siehe bspw. die Folge H O U S E A R R E S T der Serie T H E S O P R A N O S (HBO, 1999-2007; Staffel 2, Folge 11) oder auch die Folge B A B Y L O N der Serie M A D M E N (AMC, 2007-2015; Staffel 1, Folge 6). Bereits im Film V I D E O D R O M E (CAN/ USA 1983) von David Cronenberg erklärt uns ein Professor namens Brian O’Blivion, der auffällige Ähnlichkeiten mit McLuhan hat, inwieweit das Fernsehen eine Psychodroge darstellt (siehe dazu knapp: Bernard Siegert, Kulturtechniken. Rastern, filtern, zählen und andere Artikulationen des Realen, Baden-Baden 2023, S. 154; ausführlicher: Elena Lamberti, Marshall McLuhan’s Mosaic. Probing the Literary Origins of Media Studies, Toronto u. a. 2012, S. 239ff.) All diese Referenzen scheinen mir deutliche Indizien dafür zu sein, dass McLuhan längst einen festen Platz im populärkulturellen Gedächtnis einnimmt. Die Renaissance Ja, was ist eigentlich aus Marshall McLuhan geworden, nachdem er in den 1970er Jahren in der Bedeutungslosigkeit verschwunden war? 35 Physisch lässt sich das ziemlich genau beantworten: In der Silvesternacht 1980 ist er an den Folgen eines erneuten Hirnschlages gestorben. Doch gerade gegen Ende dieser Dekade, an deren Beginn McLuhan starb, erfuhren seine Ideen eine ungeahnte Renaissance, sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Forschung. Zu tun hat das wohl nicht zuletzt mit neuen, dramati‐ schen medientechnologischen Entwicklungen und dem Bedürfnis, diese irgendwie fassbar zu machen. So wurde seit den 1980er Jahren allmählich die Computertechnologie auch jenseits von Großrechenanlagen etabliert und in den 1990er Jahren die digitale Vernetzung auch außerhalb von universitären und militärischen Zirkeln durch das Internet vorangetrieben. McLuhan selbst hat diese Entwicklungen nur noch sehr sporadisch miterlebt und wahrscheinlich noch weniger verstanden. Seine Beschreibungen der Gegenwartskultur bezogen sich auf ein mit der Telegrafie aufgekommenes Zeitalter der Elektrizität, an deren Endpunkt tatsächlich der Computer als Medium totaler Vernetzung in einem globalen Dorf aufscheint. Aber geprägt werde das Zeitalter, das die Gutenberg-Galaxis verabschieden sollte, laut McLuhan, vor allem durch das Fernsehen. Im Fernsehen hat das Zeitalter sein ideales Leitmedium gefunden, verändert sich doch, davon war McLuhan Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf 17 <?page no="18"?> 36 Siehe dazu bspw.: McLuhan, Magische Kanäle, S.-466ff. 37 Um nur zwei Beispiele aus den Feuilletons zu nennen: Alexander Stille, Marshall McLuhan Is Back From the Dustbin of History; With the Internet, His Ideas Again Seem Ahead of Their Time, in: The New York Times, 14.10.2000; auch online zugänglich unter: http: / / www.nytimes.com/ 2000/ 10/ 14/ arts/ marshall-mclu‐ han-back-dustbin-history-with-internet-his-ideas-again-seem-ahead.html [12.12.20]; für den deutschsprachigen Kontext: Uwe Justus Wenzel, Eine Ausdehnung des Nerven‐ systems. Das Internet als Medium der Bewusstseinserweiterung und als Medium der Bewusstseinstrübung, in: NZZ online 27.10.10. Online zugänglich: https: / / www.nzz.ch / eine_ausdehnung_des_nervensystems-ld.988512 [11.11.23]. 38 Zur näheren Erklärung dieser Wahl siehe: Gary Wolf, The Wisdom of the Saint Marshall, the Holy Fool, in: Wired, 4.01 ( Jan. 1996), auch online zugänglich unter: https: / / www. wired.com/ 1996/ 01/ saint-marshal/ [12.12.23]. 39 Die Gutenberg-Galaxis wurde 1992 (und 1995), Die magischen Kanäle 1995 neu aufgelegt - um nur zwei Beispiele aus dem deutschsprachigen Kontext anzuführen. 40 Siehe: Gary Genosko (Hg.), Marshall McLuhan. Critical Evaluation in Cultural Theory, Bd. I-III, London/ New York 2005. 41 Siehe: Marchand, McLuhan; Gordon, McLuhan und Douglas Coupland, Marshall McLu‐ han. You Know Nothing of My Work! , Ashland 2010. überzeugt, mit dem Fernsehen unsere Wahrnehmung, unsere Beziehung zur Welt und zu den anderen Menschen radikal. 36 Viele Kommentare seit den 1980er Jahren wollen in McLuhan indes einen Vordenker des vernetzten Computers und damit einen Visionär des digitalen Zeitalters erkennen - ohne dass McLuhan dies selbst klar hätte sehen können. Er wird so zu einem Vordenker der globalen Vernetzung, der seine Visionen eben nur (historisch bedingt) auf das falsche Medium bezogen hat. 37 Der kanadische Medienforscher wird seither zu einer Art Moses stilisiert, der zwar den Weg in das gelobte Land weist, dieses aber selbst nie (oder zumindest nur aus weiter Ferne) zu Gesicht bekommt. Das Computermagazin W I R E D erhob McLuhan dementsprechend konsequent zu ihrem „patron saint“, 38 also zum Schutzheiligen. So wurde der Professor für englische Literatur vom Hohepriester der 1960er Jahre am Ende des Jahrtausends zum Schutzheiligen des Computerzeitalters. Die Renaissance McLuhans lässt sich ganz einfach daran ablesen, dass seine Schriften in den 1980er und 1990er Jahren neu aufgelegt wurden. 39 Allmählich gelangte McLuhan in den Stand eines Klassikers, inklusive dementsprechender philologischer Bearbeitung. Zentrale Stellungnahmen zu McLuhans Werk aus knapp 40 Jahren wurden in einer dreibändigen Publikation gesammelt. 40 Nicht weniger als drei umfangreiche Biografien erschienen in den letzten Jahren über ihn. 41 Seit 2002 liegt eine kritische 18 Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf <?page no="19"?> 42 W. Terrence Gordon (Hg.), Marshall McLuhan. Understanding Media. The Extensions of Man [2003], Berkley 4 2017. 43 Siehe: Paul Levinson, Digital McLuhan. A Guide to the Information Millennium, London 1999. 44 Siehe: Carmen Birkle u. a. (Hg.), McLuhan’s Global Village Today. Transnational Perspectives, London 2014 45 Richard Cavell, Remediating McLuhan, Amsterdam 2016, S.-19. 46 Siehe den Tagungsband: Derrick de Kerckhove u. a. (Hg.), McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2008. Ein Versuch, McLuhan systematisch für die digitale Kultur zu aktualisieren, findet sich auch in: Robert K. Kogan, Understanding New Media. Extending Marshall McLuhan, New York u.-a. 2010. 47 Siehe bspw. die Tagung M C L U H A N G A L A X Y : U N D E R S T A N D I N G M E D I A , T O D A Y in Barcelona vom 23.-25. Mai 2011 oder auch die Erstauflage vorliegenden Buches. 48 Siehe: Marshall McLuhan, Report on Project in Understanding New Media, hrsg. von National Association of Educational Broadcasters, Washington 1960. Online zugänglich unter: https: / / blogs.ubc.ca/ nfriesen/ 2014/ 11/ 18/ mcluhans-1960-report-on-project-in-u nderstanding-new-media/ [30.12.2023]. 49 Siehe bspw.: Heilmann/ Schröter (Hg.), Medien verstehen; Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften (Themenschwerpunkt: 50 Jahre Understanding Media) 14/ 2 (2014). Ausgabe von U ND E R S TANDIN G M E DIA vor. 42 Eine Auswahl seiner Briefe wurde veröffentlicht und im Jahr 2003 sogar seine bis dahin noch nie publizierte Dissertation gedruckt. Man machte sich Gedanken über den D I GITAL M C L U ‐ HAN , 43 über das G L O BAL V ILLAG E T ODAY , 44 verteidigte McLuhans Gedankengut vehement gegen den „McLuhanism“; 45 im Schloss Thurnau bei Bayreuth fand 2007 ein großes internationales Symposium statt, auf dem man McLu‐ han hinsichtlich der Aufgaben, die da im 21. Jahrhundert auf uns warten, „neu lesen“ wollte. 46 Zu seinem 100. Geburtstag, 2011, traf man ebenfalls allerorten auf Tagungen und Publikationen zu McLuhan. 47 Seit 2014 ist der R E P O R T O N P R O J E C T IN U ND E R S TANDIN G N EW M E DIA , den McLuhan im Auftrag der National Association of Educational Broadcasters (NAEB) für das Department of Education mit Sitz in Washington 1960 anfertigte, als Typoskript online zugänglich. 48 Zum 50-jährigen Jubiläum der Erstveröffentlichung von U ND E R S TANDIN G M E DIA gab es Tagungen, Sam‐ melbände und Zeitschriftenausgaben, die ebenfalls erkunden wollten, was McLuhan uns heute noch zu sagen haben könnte oder wie sein Gedankengut zumindest historisch akkurat zu verorten ist. 49 Die gesamten Artikel der Zeitschrift E X P L O R ATIO N S , zum ersten Mal herausgegeben von Carpenter und McLuhan zwischen 1953 und 1959, ist seit 2016 in acht Bänden gesammelt Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf 19 <?page no="20"?> 50 Siehe dazu: Schüttpelz, 60 Jahre Medientheorie. 51 Siehe: Marshall McLuhan, On the Nature of Media. Essays, 1952-1978, hrsg. von Richard Cavell, Richmond 2016. 52 Siehe Adam Lauder/ Jaqueline McLeod Rogers, McLuhan and the Arts after the Specu‐ lative Turn, in: Imaginations. Journal of cross-cultural image studies/ Revue d’études interculturelles de l’image 8/ 3 (2017), S. 5- 24, hier: S. 5ff. Wahrlich eine ‚spekulative Wendung‘ mit rechten kühnen Verknüpfungen. Jedenfalls kann ein Relevanzausweis des Denkens McLuhans ‚für die (kulturwissenschaftliche) Gegenwart‘ rhetorisch kaum stärker markiert werden. 53 Siehe: Peter Bexte/ Martina Leeker (Hg.), Ein Medium namens McLuhan. 37 Befragun‐ gen, Lüneburg 2020. Die Befragungen fallen jedoch dort in den meisten Fällen eher ernüchternd aus. McLuhan wird zwar zugestanden in den Basisveranstaltungen eines medienwissenschaftlichen Studiums als ‚Klassiker‘ wichtig zu sein - darüber hinaus, also in der ‚echten Forschung‘, spielt er aber, so das Fazit vieler Befragter, keine Rolle (mehr). 54 Siehe: Sarah Sharma/ Rianka Singh (Hg.), Re-Understanding Media. Feminist Extensions of Marshall McLuhan, Durham/ London 2022. Siehe dazu auch das instruktive Interview, das im Vorfeld dieser Veröffentlichung mit Sarah Sharma geführt wurde: Johannes Bruder u. a., McLuhan unter Palmen. Über Orte des Denkens, Sprechens und Handelns, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 26 (2022), S.-125-138, v.a.: S.-126f. 55 Für eine ausführlichere Vorstellung diverser Aktualisierungen und historischer Veror‐ tungen siehe: Sven Grampp, Hundert Jahre McLuhan, in: Zeitschrift für Medienwis‐ senschaft 4/ 1 (2011), S. 183-187 und noch ausführlicher in: Oliver Zöllner, Marshall McLuhan (1911-1980): Medienorakel im ‚global village‘. Eine Rückschau auf sein Werk aus Anlass seines 100. Geburtstages - und darüber hinaus [21.07.2011, zuletzt aktualisiert: 01.10.2023], Online zugänglich unter: https: / / www.research-worldwide.de / mcluhan.html [04.09.24]. wieder aufgelegt. 50 Im selben Jahr findet sich eine Sammlung mit Texten von McLuhan aus den Jahren 1952 bis 1978 unter dem großspurigen Titel O N TH E N ATU R E O F M E DIA (neu) veröffentlicht. 51 Im Themenheft der Zeitschrift I MAGINATIO N S , das 2017 unter dem Titel M A R S HALL M C L UHAN AND TH E A R T S erschien, schaffen es die Herausgeber: innen in ihrer Einleitung auf weniger als zwei Seiten McLuhan als Vorläufer der Immanenzphilosophie von De‐ leuze, des spekulativen Realismus, neuerer Affekttheorien sowie dem New Materialism zu inthronisieren, um von dort aus die Relevanz von McLuhans Denken für die Gegenwartskunst näher zu beleuchten. 52 Im Jahr 2020 wurde ein Buch mit dem Titel E IN M E DIUM NAME N S M C L UHAN veröffentlicht, das 37 Statements von Mediewissenschaftler: innen zur Stellung McLuhans in der gegenwärtigen Forschung vorstellt. 53 Zwei Jahre später erschien ein Sam‐ melband unter dem Titel R E -U ND E R S TANDIN G M E DIA , der sich zur Aufgabe macht, eine kritische Re-Lektüre von U ND E R S TANDI G M E DIA zu offerieren - und zwar in Form von, wie es im Untertitel heißt, F E MINI S T E XT E N S IO N S O F M A R S HALL M C L UHAN . 54 Die Liste ließe sich fortsetzen. 55 20 Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf <?page no="21"?> Dass McLuhan kanonisch geworden ist, zeigt sich recht klar auch daran, dass mittlerweile jeder und jede Medienwissenschaftsstudent: in wissen muss, was es mit dem Ende der Gutenberg-Galaxis auf sich hat oder was mit der paradoxen Formel vom Medium, das die Botschaft sein soll, gemeint ist (zumindest so ungefähr). Studierende der Medienwissenschaft, die das nicht wissen, haben es schwer, erfolgreich über ihre Grundkurse hinauszugelangen. Get a Life! McLuhan im Schnelldurchlauf 21 <?page no="23"?> Über die Schwierigkeit McLuhan zu lesen - vier Lesarten Nicht zuletzt im deutschsprachigen Forschungsgefilde wurde McLuhan seit Ende der 1980er Jahre als wichtiger Medienforscher wiederentdeckt. Vor allem für die sich allmählich konstituierenden Medienwissenschaften erhielt McLuhan, mancherorts zumindest, einen ganz ähnlichen Stellenwert wie für das Computermagazin WIRED. In vielen Publikationen figuriert McLuhan nämlich als der (wenngleich etwas wilde und wirre) ‚Gründungsvater‘ der Medienforschung. Seither werden Generationen von Studierenden, vorran‐ gig der Medienwissenschaften, mit McLuhans Thesen und Behauptungen konfrontiert - ja geradezu malträtiert, ist es doch recht mühsam, sich durch das Gestrüpp von McLuhans Texten zu kämpfen. Kaum ein Medienforscher ist so widerborstig, verworren, enzyklopädisch angelegt und gleichzeitig den technikutopischen wie medienkritischen Sze‐ narien seiner Zeit verhaftet wie McLuhan. Zudem sind seine Texte, was man auf den ersten Blick vielleicht gar nicht vermuten würde, vergleichsweise voraussetzungsreich. Um ihn einigermaßen zu verstehen oder doch zumin‐ dest einordnen zu können, sollte man nicht nur die maßgeblichen Texte von McLuhan kennen. Ein wenig Bescheid sollte man auch darüber wissen, was in den 1960er Jahren kulturell, medientechnologisch und gesellschaftspoli‐ tisch vor sich ging. Darüber hinaus - und das ist noch weit wichtiger -, sollte man ideen- und wissenschaftsgeschichtlich beschlagen sein. Es ist bspw. zur Einordnung McLuhans sehr hilfreich zu wissen, was der New Criticism ist und worauf der Wirtschaftshistoriker Harold A. Innis abzielte. Daneben sollte man am besten zumindest in groben Grundzüge die Theologie Thomas von Aquins kennen, ebenso das antike Trivium aus Dialektik, Rhetorik und Grammatik, das für McLuhans Forschungs- und Schreibverständnis von zentraler Bedeutung ist. Die Kenntnis grundlegender Darstellungsprin‐ zipien der künstlerischen Avantgarde sind ebenfalls sehr hilfreich, um zu verstehen, warum McLuhans seine Texte so seltsam gestaltet und sich wenig um argumentative Kohärenz gekümmert hat. Freilich ist es mühsam, sich solch ein Wissen anzueignen. Man weiß ja nicht, ob die Mühe überhaupt lohnt. Genau deshalb gibt es schließlich Einführungsliteratur. <?page no="24"?> 56 Werner Faulstich, Einführung in die Medienwissenschaft, München 2002, S.-22. 57 Bspw.: Frank Hartmann, Medienphilosophie, Wien 2000, S.-248ff. 58 Bspw.: Rainer Leschke, Einführung in die Medientheorie, München 2003, S.-245ff. 59 Bspw.: Angela Spahr, Magische Kanäle. Marshall McLuhan, in: Daniela Kloock/ Angela Spahr, Medientheorien. Eine Einführung, München 1997, S. 39-76; Andreas Ströhl, Medientheorien. Grundwissen und Geschichte, München 2 2024, S.-91ff. 60 Jana Mangold zeigt in ihrer dickleibigen Dissertation kleinteilig auf, wie subtil McLuhan rhetorische Strategien einsetzt, um mit seinen ‚irren‘ Texten ganz bestimmte Effekte zu erzielen, siehe: Jana Mangold, McLuhans Tricksterrede. Archäologie einer Medien‐ theorie, Berlin 2018. McLuhan zur Einführung - ein Literaturbericht An einführenden Texten zu McLuhan herrscht im deutschsprachigen Raum deshalb auch kein wirklicher Mangel. Wenngleich es nach Millers oben angeführter ‚Einführung‘, die 1972 ins Deutsche übersetzt wurde, bis zur Erstauflage vorliegender Monografie kein Buch gab, ja nicht einmal ein Büchlein, das sich einführend ausschließlich mit McLuhan beschäftigte, so gab und gibt es zumindest etliche Einführungen in die Medienwissenschaft bzw. Medientheorie, aber auch in die Kommunikationswissenschaft, die sich mehr oder minder ausführlich McLuhans Gedanken widmen. Zumeist findet man dort eine von zwei Darstellungsvarianten. Entweder wird McLuhan in der Tradition Millers und Enzensbergers kurzerhand als unwissenschaftlich oder gleich als „Schwätzer“ 56 abgetan. Oder aber er wird als ‚Gründungsva‐ ter‘ bzw. Ideengeber der Medienforschung gefeiert, um dann, nach einem kurzen Exkurs über die seltsame Schreibweise McLuhans, seine Ideen anhand von wahlweise zwei, 57 drei 58 oder vier 59 Slogans zu erläutern, gern anhand von kurzen Textpassagen aus D I E MAGI S CH E N K ANÄL E . Radikale Komplexitätsreduktion ist als Maßnahme bei solch einem Autor durchaus nachvollziehbar. Und schließlich greift man ja zu einer Einfüh‐ rung, um eine systematische, kompakte Reduktion auf das Wesentliche und/ oder eine kritische Einschätzung des Gegenstands zu erhalten. Nur leider geht dabei, zumindest im Fall McLuhans, allzu oft der Spaß oder doch zumindest die Faszination an der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Autor schnell verloren. Dass McLuhan - um in der Sprache seiner Zeit zu formulieren - ‚irre Texte‘ schrieb, ist schwer zu bestreiten. Dass er sie so schrieb, wie er sie schrieb, liegt aber nicht einfach daran, dass er irre war, seine Thesen und Argumente einfach nicht ordnen konnte. 60 Diesen Irrsinn zu verwerfen, hat man freilich alles Recht der Welt. Nur sollte man es, zumindest als Wissenschaftler: in, mit guten Gründen tun. Man sollte 24 Über die Schwierigkeit McLuhan zu lesen - vier Lesarten <?page no="25"?> 61 Für solch eine Darstellung (samt genauen bibliografischen Angaben zu den Publikationen McLuhans wie zu Texten über McLuhan) siehe: Gordon, McLuhan. sich klar machen, dass dieser Irrsinn Methode hat (oder zumindest haben könnte), zudem eine Geschichte, die über das hinausgeht, was durch die Lektüre einer oder zwei kurzen Textpassagen aus D I E MAGI S CH E N K ANÄL E zu vermuten ist. Weiterhin eignet sich die Lektüre McLuhans bestens zur Auseinandersetzung mit Positionen heutiger Medienforschung. Denn in seinem Œuvre ist, wenn schon nicht alles, so doch vieles angelegt, das gegenwärtig, wenngleich meist in anderem Vokabular, diskutiert wird. Zugriffsweisen Woher McLuhans Ideen kamen, wie sie organisiert sind, wie unterschiedlich sie rezipiert wurden, ob man damit auch heute noch etwas anfangen kann, und wenn ja, was, darüber möchten die folgenden Seiten Aufschluss geben. Es soll aber nicht um eine chronologische Darstellung der Entwick‐ lung McLuhans gehen, weder ideengeschichtlich noch biografisch fundiert. Was ich zu McLuhans Biografie zu sagen habe, wurde bereits mit dem vorliegenden Kapitel weitestgehend erschöpft. Es werden also nicht Quel‐ len fein säuberlich nacheinander ausgebreitet, aus denen sich McLuhan bediente und dann die einzelnen Werke McLuhans in ihrem zeitlichen Verlauf vorgestellt und interpretiert, um daran anschließend darzustellen, wer sich nun wieder der Ideen McLuhans bediente usw. 61 Anstatt einer solchen gradlinigen, diachronen Darstellungsform habe ich eine andere, wie ich hoffe, spannendere und zumindest für wissenschaftliche Interessen aufschlussreichere Zugangsweise gewählt. McLuhans Werk möchte ich aus verschiedenen Perspektiven in den Blick nehmen, um unterschiedliche Facetten und Lesarten vorzustellen. ‚Verschiedene Perspektiven‘ zu wählen heißt in diesem Fall nicht zuletzt, widerstrebende Facetten und Lesarten vorzustellen, die in einigen Fällen sogar untereinander inkompatibel sind. Damit wähle ich im Übrigen eine Herangehensweise, die McLuhan selbst immer wieder forderte. Im Sinne McLuhans sind solche Zugänge Proben oder Tests, die einer Experimental‐ anordnung gleichen: Man fordert den Untersuchungsgegenstand durch die Schaffung künstlicher, am besten extremer Rahmenbedingungen (bspw. eine überspitzte Hypothese) heraus und schaut dann, wie der Gegenstand darauf regiert, was er von sich preisgibt. Anschließend wählt man eine weitere, Über die Schwierigkeit McLuhan zu lesen - vier Lesarten 25 <?page no="26"?> 62 Siehe bspw.: McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S. 7f. oder: ders., Die me‐ chanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen, Amsterdam 1996, S. 8f. (engl. Original: The Mechanical Bride. Folklore of Industrial Man [1951]); oder: ders., Gutenberg-Galaxis, S.-269. 63 Ebd., S.-89. nicht weniger extreme Rahmenbedingung, die möglichst wenig mit der ersten zu tun hat usf. Daraus ergibt sich dann eine Art Mosaik, auf dem sich der Gegenstand, wenngleich gebrochen und unscharf, abzuzeichnen beginnt. 62 Wichtig sind nach McLuhan an dieser Methode vor allem zwei Aspekte. Erstens muss man sich von dem Glauben an die eine, vermeintlich richtige Herangehensweise verabschieden, also konsequent multiperspek‐ tivisch arbeiten. Zweitens sollte man sich mit endgültigen Urteilen über seinen Gegenstand zurückhalten, da sonst der Erkenntniswert und die Kom‐ plexität des Gegenstandes unangemessen eingeschränkt werden. Deshalb nennt McLuhan diese von ihm präferierte Herangehensweise auch „Technik des schwebenden Urteils“. 63 Die McLuhans Konstruktivistisch gewendet heißt das, dass mit jedem Zugang entschieden ist, was und wie ein Gegenstand überhaupt in den Blick genommen werden kann, damit eben auch: was und wie nicht. Ja, noch radikaler: Es werden mit unterschiedlichen Zugangsweisen nicht einfach unterschiedliche Aspekte eines Gegenstands beleuchtet. Vielmehr verändert jede Zugriffsweise die Wahrnehmbar- und Erkennbarkeit des untersuchten Phänomens qualitativ. Mit anderen Worten: Jeder Zugriff erschafft seinen ganz eigenen McLuhan. Gerade an den Zugängen zu dem Forschungsobjekt McLuhan möchte ich nachvollziehbar machen, was das konkret bedeutet. Zu dieser multiperspek‐ tivischen Perspektive gehört auch, dass der jeweils in den unterschiedlichen Ansätzen gepflegte Jargon aufgegriffen wird. So argumentiert ein oder eine Ideologiekritik: in bspw. nicht nur anders als ein oder eine Pragmatiker: in, hat nicht nur andere Ziele und Interessen am Gegenstand, sondern formu‐ liert diese auch in einem ganz anderen Vokabular und bedient sich eines anderen Stils. Durch die Übernahme der unterschiedlichen Argumentations‐ weisen, Vokabulare und Sprechweisen sollen die gewählten Zugänge ein‐ deutig unterscheidbar gemacht werden. Das scheint mir insofern sinnvoll, als so die unterschiedlichen ‚McLuhans‘ möglichst klar Kontur gewinnen können. 26 Über die Schwierigkeit McLuhan zu lesen - vier Lesarten <?page no="27"?> 64 In den jeweiligen Kapiteln wird zumindest in Fußnoten auf anderen Lesarten verwiesen, in denen der gerade im Fließtext behandelte Aspekt ebenfalls diskutiert wird. Mit diesen ‚Hyperlinks‘ sollen Ähnlichkeiten und Differenzen der Zugriffe direkt und konkret vergleichbar gemacht werden. Mit dieser Ausrichtung verfolgt die Einführung zwei eng zusammenhän‐ gende Ziele. Mein erstes Ziel ist es, das facettenreiche Werk McLuhans vorzustellen, dessen Grundlagen, Wirkungsgeschichte und Relevanz für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Medienforschung möglichst ver‐ ständlich darzulegen. Leisten will ich das, eben indem ich unterschiedliche Zugriffsweisen auf das Werk wähle. Damit ist denn auch das zweite Ziel benannt: Nicht nur soll McLuhan als ein Autor vorgestellt werden, der facettenreich ist bzw. aus vielen ‚McLuhans‘ besteht. Darüber hinaus will ich andersherum ebenfalls zeigen, dass die jeweilige Zugriffsweise entschei‐ det, welche Facetten überhaupt beobachtbar werden, welcher ‚McLuhan‘ durch welchen Zugriff zuallererst ‚erschaffen‘ wird. So sind en passant Begrenzungen, Relativität, Unvereinbarkeit, aber auch Produktivität diffe‐ renter wissenschaftlicher Zugriffsweisen konkret und exemplarisch zu ver‐ anschaulichen - und damit deren zentrale rhetorischen wie argumentativen Operationsweisen einführend vorgestellt. Dem und der Leser: in wird es da‐ bei überlassen bleiben, Verbindungslinien zwischen den einzelnen Lesarten herzustellen, Widersprüche zwischen ihnen aufzulösen oder auszuhalten, Vor- und Nachteile der einzelnen Ansätze zu beurteilen. 64 Vier Lesarten Doch wie sehen diese Zugangsweisen denn nun genau aus? Vier recht unterschiedliche Zugriffe habe ich gewählt. Sie sind in den Geistes- und Kul‐ turwissenschaften beheimatet und dort, so möchte ich behaupten, gängige oder doch zumindest traditionelle Grundlagen für Analysen. Gewählt wur‐ den genau diese vier, weil sie es möglich machen, unterschiedliche Facetten von McLuhans Werk zu betrachten und zu beleuchten. Im Einzelnen sind das erstens eine rhetorische Lesart, zweitens eine hermeneutische, drittens ein kritische und viertens eine pragmatische. Diese Lesarten sollen auch und gerade in ihrer Inkommensurabilität ein Spannungsfeld erzeugen, in dem zumindest einige wichtige Umrisse von McLuhans Werk sichtbar werden. Zwar können die einzelnen Zugriffsweisen unabhängig voneinander rezi‐ piert werden. Ihre Abfolge im Text ist aber nicht zufällig gewählt. Diese Über die Schwierigkeit McLuhan zu lesen - vier Lesarten 27 <?page no="28"?> folgt vielmehr einer sukzessiven Reihe von Irritationen, die die Lektüre von McLuhans Werk auszulösen imstande sind, und den Versuchen, auf diese Irritationen zu reagieren. In der ersten Lesart werde ich mich mit den rhetorischen Strategien aus‐ einandersetzen, derer sich McLuhan bedient; vor allem auf die Darstellungs‐ form möchte ich mich hier konzentrieren. Die Analyse der Schreibweise soll am Anfang stehen, da hier unmittelbar Verwirrungen des Lesers und der Leserin zu erwarten sind. McLuhan schreibt keine klassischen wissen‐ schaftlichen Texte. Kohärente Argumentation, Explikation seiner Thesen, Plausibilisierung anhand von Beispielen - all das sucht man (zumeist) vergeblich in McLuhans Texten. Seine Argumentation ist ganz im Gegenteil sprunghaft, dann wieder voller Wiederholungschleifen; unterschiedliche Diskurse werden collagenartig vermischt; die Texte sind mit allerlei rheto‐ rischem Prunk geschmückt: Wortspiele, Alliterationen, Ellipsen, Metaphern und Paradoxien. Auf diese Irritation gilt es zuerst einzugehen, um heraus‐ zufinden, welches Strukturierungsverfahren dem Ganzen zugrunde liegt und welche Funktionen diese Darstellungsform haben könnten. Im zweiten Kapitel wird eine hermeneutische Perspektive eingenommen. Dabei wird das angewandt, was man in der Philosophie als Prinzip der wohlwollenden Interpretation kennt. Es handelt sich um die Unterstellung, dass die sich äußernde Person überwiegend wahre und rationale Gründe für ihre Handlungen und Aussagen hat. Damit ist den Rezipient: innen aufgege‐ ben, aktiv und wohlwollend die bestmögliche, kohärenteste und sinnvollste Interpretation dieser Äußerungen zu finden. Aus dieser Perspektive wird der Versuch unternommen, McLuhans Texte als ein in sich geschlossenes, kohärentes und sinnvolles Werk zu verstehen. Eine hermeneutische Heran‐ gehensweise bedeutet für mich dementsprechend hier zweierlei: Erstens soll McLuhan innerhalb seines historischen Kontextes verortet und gefragt werden, auf welche Traditionen er zurückgreift, vor welchem Hintergrund er überhaupt erst zu verstehen ist. Zweitens wird McLuhans Werk als eines verstanden, das trotz aller Brüche, scheinbarer Widersprüchlichkeiten und Wandlungen als die kohärente Entfaltung einiger grundlegender Gedanken und Argumente zur ‚Grammatik der Medien‘ gelesen und verstanden wer‐ den kann, deren Bedeutungsgehalt sich im sukzessiven, interpretativen Nachvollzug anzunähern ist. Das genaue Gegenteil wird mit der dritten Lesart versucht. In einer Art dialektischem Umschlag soll hier vor allem darauf geachtet werden, was brüchig ist, inkonsequent, widersprüchlich, ideologisch bedenklich. 28 Über die Schwierigkeit McLuhan zu lesen - vier Lesarten <?page no="29"?> Dafür scheinen McLuhans Texte sogar das ideale Übungsfeld; denn es gibt kaum etwas in diesen Texten, das nicht kritisierbar wäre. Gerade in der Differenz der Herangehensweisen der zweiten und dritten Lesart zeigt sich, dass in den einzelnen Kapiteln nicht einfach unterschiedliche Facetten des Werks von McLuhan beleuchtet werden. Vielmehr soll deutlich werden, dass mitunter sogar dieselben Phrasen, Textstellen, dieselben Argumente, die in der hermeneutischen und in der kritischen Lektüre auftauchen, jeweils so unterschiedliche Deutungen erfahren, dass schwerlich noch von demselben McLuhan zu sprechen ist. In der letzten Lesart wird erneut eine Kehrtwendung vollzogen. Hier wird nach den pragmatischen Aspekten in McLuhans Texten gefragt. So geht es denn nicht mehr darum, die rhetorischen Strategien McLuhans zu analysieren, aus hermeneutischer oder kritischer Perspektive zu fragen, was McLuhans Werk eigentlich ausmacht. Vielmehr wird gefragt, welche Aspekte durch Rezipient: innen mit unterschiedlichen Interessen nutzbar ge‐ macht wurden bzw. heute noch nutzbar zu machen sind, völlig unabhängig von Fragen der Schlüssigkeit des Gesamtwerks, dessen Widersprüche oder seiner ideengeschichtlichen Kontextualisierung. McLuhans enigmatisches, je nach Interpretation faszinierend facettenreiches oder einfach nur wirres Werk ist, um hier nur ein Beispiel anzuführen, nützlich allein schon deshalb, weil es denjenigen, der in McLuhans Gedankenwelt einführen will, dazu provoziert, eine ungewöhnliche Darstellungsweise zu wählen. Über die Schwierigkeit McLuhan zu lesen - vier Lesarten 29 <?page no="31"?> 65 Siehe dazu ausführlicher → 3. Lesart: Kritik. 66 Siehe bspw.: Marshall McLuhan, Testen, bis die Schlösser nachgeben. Gespräch mit Gerald Emanuel Stearn [1967], in: ders., Das Medium ist die Botschaft - The medium is the message, Dresden 2001, S.-55-107, hier: S.-80f., 94; oder auch: ders., Letters, S.-448. 67 Siehe dazu bspw.: Enzensberger, Bausteine, S.-121 oder: Faulstich, Einführung, S.-22. 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen Rhetorik der Form Das erste massive Problem, mit dem sich Leser: innen konfrontiert sehen dürften, wenn sie einen Text von McLuhan lesen, betrifft die ungewöhnliche Form. Argumentative Folgerichtigkeit, umsichtige Entfaltung des Gegen‐ standes oder eine klare Fragestellung - solche Dinge scheinen McLuhan kaum zu kümmern. Das hat im Laufe der Rezeption seines Werkes zu einigen Irritationen geführt (um es zurückhaltend zu formulieren). 65 Nicht, dass McLuhans Werk mit vielen Sentenzen aufwartet, die sich in endlosen Satzwindungen verzweigen. McLuhan ist meilenweit entfernt von den syntaktischen Girlanden eines Jacques Derridas oder den verschachtelten Genitivungetümen Martin Heideggers. Ganz im Gegenteil sogar: McLuhans Schreibweise ist eher geprägt von vergleichsweise kurzen, prägnanten Formulierungen. Andere Dinge sind es, die eine Lektüre von McLuhans Texten anstrengend machen und frustrieren können: Es sind die wilden Assoziationsketten und kühnen Analogien, der permanente Einsatz von Slogans (und damit notorisch unscharfen Formulierungen), die elliptische, sprunghafte Darstellungsform, nicht zuletzt der Metaphernreigen mit einem Faible für Paradoxien und Kalauer. Darüber hinaus beinhalten McLuhans Bücher einen für wissenschaftliche Texte erstaunlich hohen Redundanzan‐ teil. So kann man sich bei der Lektüre eines Buches von McLuhan trotz aller Sprunghaftigkeit und Uneindeutigkeit kaum des Eindrucks erwehren, in einer Endlosschleife gefangen zu sein. Die immer gleichen Slogans und Plattitüden verfolgen einen auf Schritt und Tritt. Diese eigentümliche Form - und das hat der kanadische Medienforscher selbst immer wieder betont 66 - ist wichtig für das Verständnis von McLuhans Texten. Was mit einigem Recht durchaus als wirr und unwissenschaftlich bezeichnet werden kann, 67 lässt sich zwar kaum in etwas umdeuten, das auch nur entfernt klassischen wissenschaftstheoretischen Minimalstandards ge‐ nügt. Nichtsdestotrotz folgt die Form einer rhetorischen Strategie, der <?page no="32"?> nachzugehen lohnend ist. Die Sprunghaftigkeiten und Redundanzschleifen sind durchaus kalkuliert. McLuhan will auf seine Rezipient: innen mit der eigentümlichen Organisation seiner Texte eine bestimmte, noch näher zu klärende Wirkung ausüben. Die Leser: innen sollen im klassisch rhetorischen Sinne überredet, statt argumentativ überzeugt werden. Diese ‚Überredungs‐ kunst‘ erfolgt aber weniger auf inhaltlicher Ebene; vielmehr wird die Form relevant. Dass die Form generell das Entscheidende ist bei der Rezeption von Artefakten - und damit eben auch bei der Lektüre von Texten -, und weniger ihr Inhalt, dieser Kardinalmaxime der Ästhetik (und spätestens seit McLuhan auch der Medienforschung) gilt in einem besonderen Sinne gerade für McLuhans Werk selbst. Hier wird nämlich die Form zu einer rhetorischen Strategie, die jenseits argumentativer Inhalte und Folgerichtigkeit alle nur denkbaren Phänomene zwischen Pop und Gott verbindet. Eine rhetorische Strategie ist das deshalb, weil die Rezipient: innen dazu gebracht werden sollen, selbst solch einen vernetzten und vernetzenden Standpunkt einzu‐ nehmen. Insofern betrifft die Rhetorik der Form einen wichtigen, vielleicht sogar den entscheidenden Aspekt der ‚McLuhan’schen Botschaft‘. Das heißt ebenfalls, dass jeder Lektüre, die McLuhans Texte vor allem im Hinblick auf ihre Argumente und Inhalte hin liest und beurteilt, die eigentliche Pointe dieses Œuvres entgehen muss. 1.1 Close Reading ‚Wilde Assoziationen‘, ‚kühne Analogien‘, ‚Ellipsen‘, ‚Metaphern‘, ‚Parado‐ xien‘, ‚Kalauer‘, ‚Wiederholungsschleifen‘, ‚sloganfähige Formulierungen‘ - solche Bezeichnungen wurden eingangs gewählt, um die stilistische Eigentümlichkeit der Texte McLuhans zu kennzeichnen. So etwas schreibt sich leicht und schnell hin (und verkürzt McLuhans Werk selbst auf einige wenige, inzwischen in der Forschungsliteratur gängige ‚Slogans‘). Um aber diesen Formulierungen mehr Substanz zu verleihen, soll die Funktionsweise der Form genauer an einem konkreten Beispiel beschrieben werden. Dabei werde ich jedoch zunächst nicht, wie in der Sekundärliteratur zu McLuhan sonst üblich, auf die wenigen bekannten Slogans McLuhans eingehen. Dort wird gern auf den Hang McLuhans zur paradoxen Formulierung verwiesen, wie er sich idealtypisch zeigt in der Wendung „Das Medium ist die Botschaft“. Oder man macht darauf aufmerksam, dass die Wendung „Gu‐ tenberg-Galaxis“ eine Alliteration und überdies hochgradig metaphorisch 32 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="33"?> 68 Siehe bspw.: Sven Grampp, Das Buch der Medientheorie. Zum Jargon der Uneigentlich‐ keit, in: Ursula Rautenberg (Hg.), Buchwissenschaft in Deutschland: Ein Handbuch, Berlin/ New York 2010, S.-111-137, v.a.: S.-125ff. 69 Siehe bspw.: Spahr, Magische Kanäle, S.-41f. 70 Ein Verfahren, das der sogenannte New Criticism literaturtheoretisch fundierte. McLu‐ han besuchte bei einigen Vertretern dieser Schule noch Vorlesungen und Seminare - siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 3. 71 Siehe: McLuhan, Magische Kanäle, S. 275-287. (Da es hier um Fragen der Form geht und dementsprechend auch um Wortrhythmus, Klang etc., wird neben der deutschen Übersetzung, wenn nötig, das englischsprachige Original angeführt. Zitiert wird nach: McLuhan, Understanding Media; das Kapitel lautet dort: „Wheel, Bicycle, and Airplane“, S.-243-253). 72 Für eine andere Deutung dieses Kapitels, nämlich als eines, das den für McLuhan zentralen Zusammenhang zwischen Medien als Transportmittel und Medien als Trans‐ formationsvehikel besonders deutlich macht, siehe Mangold, Tricksterrede, S.-413ff. ist. 68 Zusätzlich wird noch auf die mosaikartige Struktur der Texte McLuhans verwiesen, 69 um sich dann aber rasch in Richtung des vermeintlich eigent‐ lichen Gegenstandes, eben den inhaltlichen Thesen, von der Beschreibung der Form zu verabschieden. Für eine angemessene Beschreibung der Textorganisation sind aber solche kurzen Verweise auf die Form einiger prägnanter Slogans nicht ausreichend. Erfolgsversprechender ist es, eine längere Textpassage einem close reading zu unterziehen. 70 Denn überhaupt erst im genaueren Nach‐ vollzug eines längeren Textabschnitts kann gezeigt werden, wie die Dar‐ stellungsform McLuhans spezifische Konturen gewinnt und sich entfaltet. Zu diesem Zwecke wurde aus McLuhans bis dato bekanntestem Buch, nämlich D I E MAGI S CHE N K ANÄL E , das 19. Kapitel ausgewählt; es trägt den Titel „Rad, Fahrrad und Flugzeug“. 71 Ein anderer Ausschnitt hätte zur Veranschaulichung ebenfalls gewählt werden können. Denn der spezifische ‚McLuhan-Sound‘ findet sich, so zumindest meine Unterstellung, überall in den M AGI S CHE N K ANÄL E N , ja, mehr oder weniger ausgeprägt in jedem Buch des Medienforschers. Aus einem einfachen Grund wurde aber genau dieses Kapitel gewählt: Es ist kein herausragendes Kapitel, kein besonders klares, aber umgekehrt auch nicht voller ungewöhnlich wilder Textpassagen. „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ ist ein Kapitel wie viele andere im Textuniversum McLuhans und eben genau deshalb exemplarisch. 72 1.1 Close Reading 33 <?page no="34"?> 73 McLuhan, Magische Kanäle, S.-282. 74 Ebd., S.-281. „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ Auf gerade einmal knapp 12,5 Seiten legt McLuhan in diesem 19. Kapitel einen beeindruckenden Parforceritt hin: Nahezu die gesamte Kultur- und Technikgeschichte wird durchkämmt. Vom „Nahrungssammeln der Nom‐ aden“ 73 bis zur vermeintlich kurz bevorstehenden „elektromagnetische[n] Automation“ 74 mithilfe des Computers geht die Reise. Dabei schreitet der Text aber keineswegs chronologisch voran. Es wird also nicht eine Kul‐ tur- und Technikgeschichte erzählt, die sukzessive von der Erfindung des Rades über das Fahrrad hin zum Flugzeug voranschreitet, wie es doch die Überschrift „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ nahelegt. Vielmehr wird ständig die Perspektive gewechselt und neu angesetzt. Oder anders formuliert: McLuhan schlägt horizontale Schneisen durch das Dickicht der Kultur- und Technikentwicklung, anstatt seinem Gegenstand in der historischen Ent‐ wicklung linear zu folgen. Dabei verkettet er unterschiedliche Phänomene in Folgebeziehungen. Schematisch lassen sich mindestens zehn solcher Schneisen unterscheiden, die Folgebeziehungen ausbilden und im Text nacheinander entfaltet werden (vgl. Abb. 1). 1. Steigbügel → Feudalsystem (S. 275f.) 2. Radpflug → Veränderung der Ernährungsgewohnheiten im Mittelalter (S. 276) 3. Pferdegeschirr → Pferdewagen → Stadt → Pferdeomnibus → Straßenbahn → Auto → Flugzeug → Informationszeitalter (S. 275ff.) 4. Rad → Filmkamera/ projektor (S. 278f.) 5. Auto(bahn) → Flugzeug (S. 279) 6. Rad → Fahrrad → Flugzeug (S. 280) 7. Fahrrad → Spezialisierung → elektronisches Zeitalter (S. 280ff.) 8. Töpferscheibe → sesshafte Menschen → Schlitten → Rad → Straße (S. 282ff.) 9. Rad → Zentralismus → Stadt → Spezialistentum → Gewalt (S. 284f.) 10. Auto → Flugzeug → Dezentralismus (S. 285ff.) Abb. 1 Abb. 1: Folgebeziehungen im Kapitel „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ 34 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="35"?> 75 Darstellung inhaltlicher Aspekte des Werkes McLuhans sind ausführlich nachzulesen in → 2. Lesart: Hermeneutik und → 3. Lesart: Kritik. 76 McLuhan, Magische Kanäle, S.-275. Diese Liste von Folgebeziehungen soll hier nicht auf ihre inhaltliche Plau‐ sibilität hin überprüft werden. 75 Wichtiger ist die Präsentation und Organi‐ sation des Materials. Auffällig ist zunächst: Immer ein technisches Artefakt bildet den Ausgangspunkt einer Entwicklungslinie. Häufig werden dabei sehr ungewöhnliche Folgebeziehungen behauptet. Dass die Töpferscheibe verantwortlich für die Sesshaftigkeit des Menschen sein soll (Folgebezie‐ hung 8) oder dass das Feudalsystem ein Resultat der Erfindung des Steigbü‐ gels darstellt (Folgebeziehung 1), sind nicht nur recht exotische und erklä‐ rungsbedürftige Kausalverkettungen. Sie sind überdies in ihrer sprachlichen Pointierung irritierend, jedoch auch durchaus betörend: „[D]as Feudalsys‐ tem als gesellschaftliche Erweiterung des Steigbügels“ 76 zu bezeichnen, hat aphoristische Qualität, die viele Formulierungen McLuhans, gerade seine bekanntesten Slogans, charakterisiert. Darauf wird zurückzukommen sein. Die einzelnen Folgebeziehungen sind weder chronologisch angeordnet noch auf derselben Ebene angesiedelt. So ist die sechste Folgebeziehung von der Erfindung des Rades über das Fahrrad zum Flugzeug vielleicht erklärungsbedürftig, zumindest jedoch noch chronologisch nachvollziehbar. Zudem sind Rad, Fahrrad und Flugzeug kategorial auf derselben Ebene angesiedelt, sind doch alle Fortbewegungsmittel. Mit dem Übergang zur siebten Reihe greift McLuhan jedoch das Thema Fahrrad noch einmal auf, geht also chronologisch gesehen wieder einen Schritt zurück. Das Fortbe‐ wegungsmittel Fahrrad wird dann mit gesellschaftlichen Spezialisierungs‐ tendenzen in Zusammenhang gebracht, deren Resultat Wahrnehmungs- und Übertragungsmedien wie Telegrafie, Radio und Fernsehen sein sollen, die wiederum nach McLuhans Überzeugung die Tendenzen der Spezialisie‐ rung im elektronischen Zeitalter umkehren. In der achten Reihe erfolgt demgegenüber ein zeitlicher Sprung von einigen tausend Jahren zurück zur Töpferscheibe. Diese Rückkehr in die Vergangenheit wird nicht eigens be‐ gründet oder gar direkt mit der zuvor dargelegten Reihe verknüpft. Überdies wird hier die Kategorie gewechselt, geht es doch nun nicht mehr, wie zuvor noch, um Fortbewegungs-, Wahrnehmungs- oder Vermittlungsmedien, son‐ dern um ein technisches Hilfsmittel zur Herstellung von Haushaltswaren. Gegen Ende dieser Folgereihe kommen wir wieder zum Rad, also dem Ausgangspunkt der sechsten Reihe zurück. Hier wird aber nicht mehr, wie 1.1 Close Reading 35 <?page no="36"?> zuvor, die Linie Rad → Fahrrad verfolgt. Stattdessen zeichnet McLuhan die Entwicklung eines Straßennetzes als Resultat der Erfindung des Rades nach. Eine andere Entwicklungslinie wird, erneut ausgehend vom Rad, in der nächsten Sequenz verfolgt: Dort werden Effekte des Rades auf Zentralismus und Städteentwicklung diskutiert. Dabei landet McLuhan, über den Umweg des Autos, letztlich wieder, wie bereits in der sechsten Reihe, beim Flugzeug und dessen Effekten. ‚Forschungsreisen‘ McLuhans Geschichtsschreibung operiert in dem Kapitel „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ also mit Brüchen, zeitlicher wie kategorialer Art. Ständig wird neu angesetzt, verschiedene Folgebeziehungen werden ausgebildet und neue Zusammenhänge ausprobiert. Der Text scheint damit, auf den ersten Blick zumindest, eine rastlose, ja ziellose Suchbewegung zu dokumentieren, permanent neu ansetzend, weitere Bahnen ziehend, die sich überschneiden und verzweigen. In einem Interview, das mit McLuhan geführt wurde, wird diese Herangehensweise von ihm selbst sehr präzise charakterisiert: Ich begebe mich auf Forschungsreisen, bei denen ich nie weiß, wohin sie mich führen werden. […] [M]eine Bücher zielen eher darauf, den Prozeß des Entde‐ ckens offenzulegen, als mit einem fertigen Ergebnis aufzuwarten. Statt meine Ergebnisse traditionsgemäß steril in schön geordnete Versuchsreihen, Kategorien 36 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="37"?> 77 McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S. 8f. (Hervorhebungen von mir [SG]). Dieses Interview wird im Übrigen sehr oft zitiert - und zwar wohl nicht nur, weil es im P L A Y B O Y erschien, sondern weil es für McLuhans Verhältnisse seine Position argumentativ erstaunlich klar entfaltet, zu klar vielleicht, wenn man dieses Interview mit anderen vergleicht, die McLuhan gegeben hat und wenn man sich zusätzlich vor Augen hält, welche ablehnende Einstellung McLuhan zur klaren Entfaltung von Argumenten immer wieder artikulierte. Diese Skepsis ist durchaus begründet, so schreibt etwa Edmund Carpenter, ein enger Mitarbeiter und Freund McLuhans in seinen Erinnerungen: „Everything […] got mauled, including a Playboy interview, often cited at the instance when Marshall was understandable. First attempted by Jean Shepard in 1967, the interview was successfully concluded by Gerald Stearn in 1969. I wasn’t present, but I was told that Marshall’s monologs left Stearn stunned. He solved this problem by excerpting phrases & ideas from Marshall’s sources & writings, as well as from writings about him, translated these into conventional prose, then organized the whole as question & answers. The result satisfied the many.“ (Edmund Carpenter, That Not-So-Silent-Sea, in: Theall, Virtual Marshall, S. 236-261, hier: S. 254) Nichtsdestotrotz bringt dieses ‚Interview’ viele wichtige Aspekte präzise auf den Punkt. Dementsprechend ist es auch nicht so wichtig, ob McLuhan tatsächlich all die dort zu findenden Formulierungen tatsächlich so von sich gegeben hat oder nicht. und Schubladen zu stecken, verwende ich sie wie Probebohrungen, um Einblick in gewisse Dinge zu gewinnen und Strukturen zu erkennen. 77 Nicht die Ergebnisse einer ‚Forschungsreise‘ werden also in einem ‚For‐ schungsbericht‘ vorgestellt. Vielmehr wird eine ‚Forschungsreise‘ samt ihrer ausufernden Verzweigungen im Text selbst in Szene gesetzt. Solch eine Darstellungsform ist aber keineswegs einfach chaotisch oder wirr. Denn, wenn auch McLuhans ‚Probebohrungen‘ nicht systematisch aufeinander aufbauen und keine kontinuierlichen Kausalketten ausbilden, so heißt das noch lange nicht, dass die einzelnen Segmente untereinander ohne Zusammenhang sind. Im Gegenteil sogar: Zwischen den einzelnen Fol‐ gereihen sind mannigfaltige Verbindungsoptionen angelegt. Damit ist nicht nur gemeint, dass McLuhan im Text immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven auf Rad, Fahrrad und Flugzeug zu sprechen kommt. Einige Segmente sind darüber hinaus chronologisch wie kausal zu verbinden. So lässt sich bspw. retrospektiv die achte Folgereihe vor die sechste setzen und damit zeitlich wie kausal mit dieser verbinden. Denn das Rad bildet das Ende der einen Folgereihe und den Ausgangspunkt der anderen. Somit geht es von der Töpferscheibe zum Rad und von dort zum Flugzeug. In diesem Sinne lassen sich auch die achte und die zehnte Reihe verbinden. Das letzte Element der achten Reihe, die Straße, lässt sich nämlich direkt an den Ausgangspunkt der zehnten Reihe, das Auto, anschließen. 1.1 Close Reading 37 <?page no="38"?> 78 McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S.-8f. 79 Ebd. Die Appellstruktur der Texte Entscheidend ist: Ordnen müssen diese Segmente die Rezipient: innen selbst. Die Leser: innen erhalten also unterschiedliche Folgereihen, die nicht chro‐ nologisch oder gar kausal angeordnet sind. Sie sind Elemente wie in dem Computerspiel T E T R I S : Die Spieler: innen erhalten relativ willkürlich Bausteine, die sie zu Reihen ordnen müssen. Dabei entstehen immer wieder unvollständige Reihen und Lücken. Durch das Schließen nachfolgender Rei‐ hen erhalten die Spieler: innen jedoch wieder die Möglichkeit, die Lücken mit anderen Elementen aufzufüllen. Ganz ähnlich müssen die Leser: innen bei McLuhan unterschiedliche Reihen resp. Bausteine selbst zusammensetzen, um chronologische und kausale Ordnung herzustellen. Zudem, und das zeigt das Beispiel eben auch, haben die Leser: innen unterschiedliche Möglichkei‐ ten, die Folgereihen zu verbinden und kommen so zu unterschiedlichen ‚Geschichten‘. Wenn man etwa die achte Reihe vor die sechste setzt, dann erhält man eine andere Folgebeziehung, als wenn man stattdessen die achte Reihe mit der zehnten verbindet. Einmal verzweigt sich der Weg vom Rad ausgehend einmal hin zum Fahrrad, das andere Mal hin zum Auto (ohne dass diese wiederum in eine Folgebeziehung gebracht werden). Einige Teile pas‐ sen also zwar zueinander, können aber unterschiedlich ‚ineinandergesteckt‘ werden. Oder um es mit einer kriminalistischen Metapher zu umschreiben, die McLuhan selbst gewählt hat: Er formulierte einmal, er fühle sich wie ein Panzerknacker. „Ich weiß nie, was ich innen finden werde. Ich setze mich einfach hin und beginne zu arbeiten. Ich suche herum, ich höre hin, ich teste etwas aus […]. Ich probiere es in einer anderen Reihenfolge […].“ 78 Genau solche Panzerknacker sollen die Leser: innen McLuhans ebenfalls werden. Sie müssen suchen, testen, unterschiedliche Reihenfolgen ausprobieren „bis sich das Schloß öffnet und die Tür aufspringt.“ 79 …Falls denn das Schloss aufspringt. Denn so leicht macht es einem McLuhan nicht. Es bleiben, selbst wenn man die Reihen akribisch neu geordnet und unterschiedliche Verzweigungen bedacht hat, erhebliche (Verständnis-)Lücken. Auch bei einer einigermaßen chronologischen Grup‐ pierung der Segmente bleibt bspw. die Folgebeziehung von Radpflug und Steigbügel weiterhin ein Rätsel. Ebenso verharrt das Verhältnis der Effekte untereinander, die das Rad in seinen unterschiedlichen Funktionen und 38 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="39"?> 80 Siehe: Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedin‐ gung literarischer Prosa [1970], in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik: Theorie und Praxis, München 1975, S.-228-252. 81 Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, S. 302 (Hervorhebungen von mir [SG]). 82 McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S.-8f. zu unterschiedlichen Zeiten ausgelöst haben soll, im Dunkeln. Was Ernäh‐ rungsveränderung, Zentralisierung oder Spezialisierung miteinander zu tun haben, verharrt im Unbestimmten. Im Kapitel „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ werden also viele Verbindungen nahegelegt, aber die genaue Verbindungen der Textsegmente bleiben zumeist unscharf. McLuhan operiert hier mit einer vor allem aus fiktionalen Texten be‐ kannten Strategie, die der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser als „Ap‐ pellstruktur“ 80 literarischer Prosa bezeichnet. Fiktionale Texte operieren nämlich vornehmlich mit sogenannten Leerstellen. Mit Isers Beschreibung dieser Leerstellen scheint aber auch ziemlich genau der Appellcharakter der Texte McLuhans charakterisierbar zu sein: „Immer dort, wo Textseg‐ mente unvermittelt aneinanderstoßen, sitzen Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen.“ 81 Die Pointe solcher Leerstellen besteht also darin, eine relative Unbestimmtheit zu erzeugen. Ein weites Beziehungsgeflecht ist angelegt, das nur teilweise expliziert wird. Damit sind dem Text auch viele Beziehungsmöglichkeiten eingeschrieben, die im ‚Akt des Lesens‘, also zuallererst durch die Rezipient: innen, aktualisiert bzw. realisiert werden. Den Leser: innen wird in McLuhans Texten, analog zur modernen Literatur, die nach Iser mit einem hohen Anteil an Leerstellen operiert, eine aktive Rolle zugewiesen. Die Leser: innen müssen selbst sehr kreativ mit dem Text umgehen und ein, zumindest im Vergleich zu konventionellen wissenschaftlichen Texten, hohes Maß an Fantasie und kombinatorischem Geschick aufbringen, wollen sie die Leerstellen sinnhaft schließen. Oder um es in McLuhans Vokabular zu formulieren: Die Leser: in‐ nen von McLuhans Texten müssen recht gewiefte, kreative und geduldige Panzerknacker sein. Und selbst, wenn sie das Schloss tatsächlich knacken und die Tür aufspringt, besteht immer noch die Gefahr, wie McLuhan selbst nicht ohne Ironie betont, dass „der Safe“ durchaus „leer“ sein könnte. 82 1.1 Close Reading 39 <?page no="40"?> 83 McLuhan, Magische Kanäle, S.-277. 84 Zu finden ist die These bereits im Untertitel. Während man sich in bei der deutschen Übersetzung für „Die magischen Kanäle. Understanding Media“ entschied, heißt es im englischsprachigen Original „Understanding Media. The Extensions of Man“ (Hervor‐ hebung von mir [SG]). 85 Siehe: McLuhan, Magische Kanäle, S.-15ff. 86 Siehe: ebd, S.-286. Auf der Suche nach Ähnlichkeit In dem hier näher untersuchten Textabschnitt wird Kultur- und Technik‐ geschichte aber nicht nur mittels diverser Folgebeziehungen vorgestellt, die mehr oder minder aneinander anschließbar sind und unterschiedlichen Interpretationen offenstehen. Ein weiteres Merkmal, das im Kapitel „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ omnipräsent in Erscheinung tritt, ist die Perspektive, aus der McLuhan die Kultur- und Technikgeschichte durchforstet. Unabläs‐ sig scheint er auf der Suche nach Ähnlichkeiten zu sein. So wird bspw. eine Ähnlichkeit hergestellt zwischen der Mobilität eines europäischen Bauern aus dem 13. Jahrhundert, der seinen Wagen von einem Ochsen ziehen lässt, und der Mobilität eines „motorisierten Farmer[s]“ 83 in Kanada des 20. Jahrhunderts. Dabei wird keine wie auch immer geartete Folgebeziehung behauptet, sondern nur eine Strukturanalogie: Spezifische Prinzipien der Landwirtschaft des 13. Jahrhunderts sollen dieselben sein wie solche, die im 20.-Jahrhundert zu finden sind. Universeller und um einiges verschachtelter funktioniert eine Analogie, die für das 19. Kapitel der M AG I S CH E N K ANÄL E relevant ist, aber bereits im ersten Kapitel eingeführt und erläutert wird: 84 Alle technischen Artefakte sind laut McLuhan Ausweitungen des menschlichen Körpers. Dabei erfül‐ len sie in strukturell ähnlicher Weise (wenngleich meist jedoch sehr viel effizienter) bestimmte Funktionen von Körperteilen oder Sinnen. 85 So soll etwa das Rad, wie McLuhan im 19. Kapitel nicht müde wird zu betonen, die mechanische Erweiterung des Bewegungsablaufs der Füße sein. Das Rad funktioniert demgemäß also ähnlich wie die Füße und wird gleichzeitig entwicklungslogisch als deren Fortsetzung verstanden. Dasselbe gilt für architektonische Einrichtungen, wie bspw. Städte: Ihre Entwicklung und Aufteilung entspricht der des menschlichen Organismus. Deshalb werden Städte als die technik- und kulturhistorische Ausweitungen des Körpers verstanden. 86 Also auch hier: Körper und Städte werden strukturanalog gesetzt und in eine Folgebeziehung gebracht. 40 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="41"?> Um einiges kühner noch werden Rad und Töpferscheibe im 14. Abschnitt des Kapitels „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ ins Verhältnis gesetzt. Die Dreh‐ bewegung der Töpferscheibe, die zur vertikalen Herstellung eines Gegen‐ standes dient, wird mit der Drehbewegung eines Rades, das die horizontale Fortbewegung eines Gegenstandes ermöglicht, analog gesetzt. Nachdem die Strukturanalogie gefunden ist, werden Töpferscheibe und Rad in einer (doch recht kontraintuitiven) Kausalkette verbunden: Die Töpferscheibe ermöglicht es uns, Gefäße aus Ton herzustellen. Das wiederum macht es möglich, Dinge länger zu lagern, zu horten und gegen andere Dinge in großen Mengen zu tauschen. Für diesen Austausch wiederum ist ein geeignetes Transportmittel nötig, was letztlich zur Erfindung des Rades geführt haben soll. Durch das tertium comparationis, die Drehbewegung, werden also Dinge in Beziehung zueinander gesetzt, die zumindest nicht unmittelbar etwas miteinander zu tun haben. Noch vertrackter als der Analogieschluss von der Töpferscheibe zum Rad ist der vom Rad zum Film, entfaltet in den Abschnitten 7 und 8 des 19. Kapitels. McLuhan weist in diesen Abschnitten darauf hin, dass in Filmkameras und -projektoren das Prinzip des Rades Anwendung findet. Was schlicht heißt: Es finden sich Rädchen in Kameras und Projektoren. So weit, so trivial. Der Analogieschluss zwischen Rad und Film ist auf einer anderen Ebene vollzogen. Der Film wird dafür zunächst in Verbindung zu einer natürlichen Bewegung gebracht, genauer zur Bewegung eines Pferdes. Der Erfindungslegende des Films entsprechend greift McLuhan dabei auf ein häufig kolportiertes Ereignis zurück: Der Fotograf Eadweard Muybridge wurde von Leland Stanford 1872 engagiert, um herauszufinden, ob ein galoppierendes Pferd alle vier Füße gleichzeitig von der Erde hebt oder eben nicht. Für die Beantwortung dieser Frage entwickelte Muybridge die Serienfotografie, die das Pferd in kurzen Zeitintervallen nacheinander im Galopp fotografiert. Dadurch konnte nicht nur bewiesen werden, dass Pferde im Galopp tatsächlich alle vier Füße von der Erde heben, sondern es war damit en passant ein Grundprinzip des Films gefunden: Bewegungsab‐ 1.1 Close Reading 41 <?page no="42"?> 87 Bei der Verarbeitung dieser Ereignisse zeigt sich im Übrigen - zumindest am Rande sei das erwähnt - noch ein ganz anderes Merkmal McLuhan’scher Prosa, neigt sie doch nicht nur, wie vielfach vermerkt, zur sloganhaften Pointierung, sondern ebenso zu dramaturgischen Zuspitzungen im Detail. So wird aus dem Auftrag an Muybridge in McLuhans Version eine Wette zwischen diesem und Stanford. Diese Wette wird außerdem ins Jahr 1889 verlegt (der Auftrag erfolgte indes bereits 1872). Historische Sachverhalte werden also modifiziert bzw. falsch wiedergegeben. Es ist keineswegs unplausibel, ja sogar wahrscheinlich, den Grund dafür in mangelnder Recherche seitens McLuhans zu finden. (McLuhan wurde die Missachtung von Details häufig und häufig zu Recht vorgeworfen; er selbst gab gleichfalls immer wieder freimütig zu, dass seine Forschung vorrangig den ‚großen Mustern‘ folgt und eher Entdeckungsreisen gleicht; genaue Daten und Fakten sind dabei eher nebensächlich, wenn nicht sogar hinder‐ lich (siehe bspw.: McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S.. 7ff.; ders., Letters, S. 426). Nichtsdestotrotz ist aber durchaus bezeichnend, in welcher Weise McLuhan die Ereignisse falsch wiedergibt. Sie gewinnen so nämlich häufig an Dramatik und symbolischem Wert. Dass der Auftrag zu einer ‚Wette unter Gentlemen‘ umgemünzt wird, nimmt sich aus wie die Szene eines Abenteuerromans von Jules Verne. Man denke nur an den exzentrischen Millionär Phileas Fogg, der mit seinen Kollegen aus dem britischen Reform Club wettet, dass es möglich sei, in 80 Tagen um die Welt zu reisen. Die Datierung der Wette auf das Jahr 1889 (statt 1872) fällt wiederum genau auf das 100-jährige Jubiläum der Französischen Revolution, ein Jubiläum das fundamentalen Wandel konnotiert. 88 McLuhan, Magische Kanäle, S.-279; Hervorhebung von mir (SG). 89 Ebd. Dieses Wortspiel findet sich auch im Original: „The wheel, that began as extended feet, took a great evolutionary step into the movie theater.“ (McLuhan, Understanding Media, S. 247f.; Hervorhebung von mir [SG]) Die deutsche Übersetzung entscheidet sich im Übrigen dafür „into the movie theater“ als zeitliche Abfolge zu deuten: „zum Filmtheater“ hin. Näher am Original wäre aber wohl eine Übersetzung, die den läufe müssen zuerst in Einzelbilder segmentiert werden, bevor sie wieder zur Bewegungsillusion des Films synthetisiert werden können. 87 Die Reihenfotografie Muybridges wird in Analogie zur Körperausweitung des Rades gesetzt. Wie aber lässt sich das verstehen? In der Reihenfotografie Muybridges wird ein Pferd im Galopp aufgenommen. Da es dabei darum ging, ob alle vier Füße zur selben Zeit von der Erde gehoben werden, kann McLuhan schreiben: „Die Filmkamera und der Projektor entwickelten sich aus dem Gedanken, den Bewegungsablauf der Füße zu rekonstruieren.“ 88 Da McLuhan das Rad als technische Erweiterung der Füße, genauer der Füße in Bewegung versteht, kann er die Filmaufnahme von Füßen, die in Bewegung sind, und die Ausweitung der Bewegung der Füße zum Rad in ein Ähnlichkeitsverhältnis setzen. Gleichzeitig vernetzt er beides kausal (ohne zu vergessen, noch ein Wortspiel einzubauen): „Das Rad, das als Ausweitung der Füße begonnen hatte, macht einen großen Schritt [sic! ] nach vorne zum Filmtheater.“ 89 Kategorial unterschiedliche Dinge, Fortbewegungs- und 42 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="43"?> räumlichen Aspekt betont, also: „in das Filmtheater hinein“. Solch eine Übersetzung würde der Plaszitität wie der Bewegungsdynamik des Bildes eher gerecht werden - und damit den rhetorischen Wortwitz McLuhans noch klarer konturieren. 90 Ebd. 91 Ebd. 92 Ebd.; im Original: „the wheel is reabsorbed“ (McLuhan, Understanding Media, S. 248; Hervorhebung von mir [SG]). Aufzeichnungsmittel werden durch das tertium comparationis ‚Füße in Bewegung‘ ähnlich gemacht, obwohl die Bezugnahmen auf die Füße ganz offensichtlich auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen. Denn das Rad ist im ersten Fall historischer Ausgangspunkt der Entwicklung eines Fortbe‐ wegungsmittels, im zweiten Fall hingegen Objekt einer Aufzeichnungsbzw. Darstellungsapparatur. Fuß, Rad und Film werden aber trotz aller ka‐ tegorialen Differenzen via Analogie in eine ungewöhnliche Folgebeziehung gebracht. Im darauffolgenden Abschnitt geht McLuhan vom Film aus und entwi‐ ckelt eine Analogiekette, bei der er am Ende bei Flossen und Flügeln ankommt. Da der Film Fotografien aneinanderreiht, funktioniert er nach McLuhan wie ein „Fließband […]“. 90 Gleichzeitig findet aber beim filmischen Prinzip eine „gewaltige Beschleunigung“ statt: „organische Prozesse und Bewegungen“ werden sichtbar. 91 Strukturanalog dazu funktioniert wiede‐ rum das Flugzeug: „Durch Beschleunigung rollt das Flugzeug die Autobahn in sich selbst auf. Die Straße verschwindet im Flugzeug, wenn es sich von der Rollbahn abhebt […]. In diesem Stadium wird das Rad wieder von der Vogel- oder Fischform aufgenommen, die das Flugzeug annimmt, wenn es sich in die Lüfte hebt.“ 92 Die Analogiekette reicht also von Rad und Fließband über den Film zum Flugzeug, zu Flossen und Flügeln. In dieser Kette werden die Phänomene nicht etwa alle gleichgemacht. Ähnlichkeiten sind keine Identitäten. Mit den Analogien werden hier vielmehr sogar Differenzen modelliert. Wie gerade an den letzten Zitaten zu sehen ist, kann die Bedeutung innerhalb der Analogiekette geradezu ins Gegenteil umschlagen: vom mechanischen Prinzip ins organische, vom Rad zurück zu Flosse und Flügel. Damit macht McLuhan seine Analogien auch fruchtbar für seine Kultur- und Technikgeschichte, impliziert doch seine Analogiekette eine Rückkehr zu quasiorganischen Formen und eine Verabschiedung me‐ chanischer Prinzipien. 1.1 Close Reading 43 <?page no="44"?> 93 McLuhan, Magische Kanäle, S.-275. 94 Ebd. (Hervorhebung von mir [SG]). 95 Henning Schmidgen versteht dieses analogische Verfahren als historiografische Me‐ thode McLuhans (vgl. Henning Schmidgen, Horn oder Die Gegenseite der Medien, Berlin 2018, S. 220ff.). Jenseits linearer Entwicklungsprozessen, Revolutionen oder Evolutionen, Epochengrenzen, Vorher und Nachher-Konstruktionen ergibt sich so eine „Zusammenschau“ (ebd., S. 221) aller möglicher medientechnologischer und kultureller Phänomene. „In dieser Zusammenschau“, so Schmidgen, „kann das Fernsehen“ dann eben auch problemlos, „neben das Bauhaus rücken, oder auch neben die Gotik und die Höhlenmalerei“ (ebd., S. 222). Siehe ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, 2. These. 96 Siehe dazu bspw.: Jacques Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud [1973], in: ders., Schriften II, Berlin 3 1999, S.-15-55. Auf der Suche nach Querverbindungen Per Analogien werden bei McLuhan Folgereihen generiert und ebenfalls „Querverbindungen“ 93 hergestellt und zwar mitunter zwischen sehr unter‐ schiedlichen Dingen und Phänomenen, die räumlich wie zeitlich weit voneinander entfernt sein können: ‚Querverbindungen‘ zwischen Fuß und Rad, Rad und Fahrrad, zwischen Töpferscheibe und Fortbewegungsmittel, Stadt und Zentralismus, zwischen Film, Flugzeug und Fischflosse. Sie sollen die untergründigen ‚Wechselwirkungen‘ der Dinge beleuchten, die, so zu‐ mindest McLuhans Einschätzung, in der Wissenschaft bisher vernachlässigt wurden. Er schreibt: „Die verschiedenen Wechselbeziehungen zwischen Rad, Fahrrad und Flugzeug überraschen jene, die noch nie darüber nachge‐ dacht haben. Die Gelehrten neigen zur Arbeitshypothese, daß Dinge isoliert betrachtet werden müssen.“ 94 Das heißt: McLuhan will keine Isolation und keine Untersuchung, die die Phänomene in Einzelteile segmentiert, keine lineare Kultur- und Technikgeschichte, die fein säuberlich Ereignis an Ereignis reiht. Und das heißt dann umgekehrt eben auch nach der Ma‐ xime vorzugehen: Suche nach Querverbindungen und Wechselwirkungen! Anstelle linearer Darstellungen von Geschichtsprozessen geht es also um Vernetzung mittels Analogie. 95 Ebenso ist diese Vernetzungsstrategien in der assoziativen Reihenbildung zu finden. Im Grunde geht es auch hier um Ähnlichkeiten. Nur werden nicht einzelne Dinge explizit in ein Ähnlichkeitsverhältnis gesetzt (‚das Rad ist wie der Fuß‘), sondern Phänomene, Merkmale oder auch Handlungen implizit aus einem Kontext in einen anderen übertragen und dabei von einem Textsegment in das nächste überführt. Mit Jacques Lacan könnte man so etwas eine metonymische Reihe nennen, die die syntagmatischen Bezie‐ hungen, also die Art und Weise der Wort- und Satzfolge des Textes, regelt: 96 44 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="45"?> 97 McLuhan, Magische Kanäle, S.-281. 98 Ebd. (Hervorhebung von mir [SG]). 99 Ebd. Ein Element aus dem einen Bereich wird herausgenommen und in einen benachbarten überführt; dort wird wiederum ein Element herausgegriffen und in einen weiteren benachbarten Kontext überführt usf. Somit finden sukzessive Verschiebungen der Bedeutungen und Kontexte statt, die nicht auf argumentativen Ableitungen oder kausalen Folgebeziehungen beruhen, sondern auf Assoziationen. Ein Beispiel aus dem Kapitel „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ soll dieses Prin‐ zip der metonymischen Reihe verdeutlichen: In Abschnitt 10 beschäftigt sich McLuhan mit der Rolle des Fahrrades in Samuel Becketts Theaterstücken. Er deutet das Fahrrad als „Ursymbol des cartesianischen Geistes“. 97 Als solches wird es als Ausdruck der Entfremdung des modernen Menschen verstanden. Wie fragwürdig solch eine Deutung auch sein mag, wichtig ist etwas anderes: McLuhan kommt in diesem Kontext darauf zu sprechen, dass der Mensch in Becketts Stücken als Clown in Szene gesetzt wird. In Abschnitt 11 wird genau dieser Aspekt aufgegriffen und auf Humpty Dumpty, eine fiktive Figur, bezogen, die aus einem populären Kinderreim stammt und in der Erzählung A LIC E IM W UND E R LAND einen kurzen, aber wichtigen Auftritt hat. Das menschenähnliche Ei Humpty Dumpty ist nach McLuhan ein Clown, der auf einer Mauer sitzt. In Abschnitt 12 erfährt dann das Thema Mauer eine nähere Entfaltung. Die Mauer wird als Zeugnis menschlicher Spezialisierung und Entfremdung interpretiert, die das Schicksal Humpty Dumpties besiegelt: Es fällt von der Mauer und zerspringt. „Mauern sind aus einheitlichen Ziegelsteinen gemacht, die mit der Spezialisierung und den Bürokratien aufkommen. Sie sind Todfeinde ganzheitlicher Wesen, wie es das Ei ist. Humpty Dumpty antwortete auf die Herausforderung der Mauer mit einem aufsehenerregenden Sturz.“ 98 Der Sturz bildet im nächsten Abschnitt den Ausgangspunkt für den Verweis auf den Roman F INN E GAN S W AK E von James Joyce. Nach McLuhan ist das große Thema des Romans das „Zeitalter der Elektrizität“, 99 in dem ganzheitliches Denken, nach einer langen Zeit der Spezialisierung und Entfremdung, wieder möglich ist. Joyce betrachtet aus dieser Perspektive ein Zeitalter, das dabei ist - und hier kommt McLuhan in Form einer Metapher auf das menschenähnliche Ei 1.1 Close Reading 45 <?page no="46"?> 100 Ebd. 101 Iser, Akt des Lesens, S.-302 (Hervorhebungen von mir [SG]). 102 McLuhan, Magische Kanäle, S.-21. zurück - „Humpty-Dumpty wieder zusammenzusetzen“ 100 (vgl. zu dieser metonymischen Reihe: Abb. 2). - Abschnitt 10: Becketts Theaterstücke → Fahrrad → Mensch als Clown - Abschnitt 11: Humpty Dumpty als Clown → Humpty Dumpty sitzt auf der Mauer - Abschnitt 12: Humpty Dumpty sitzt auf der Mauer → Humpty Dumpty stürzt von der Mauer - Abschnitt 13: Sturz als Thema in F INNEGANS W AKE → (metaphorisch) Zusammensetzung von Humpty Dumpty --- - Abschnitt 14: Töpferscheibe als Agens geschichtlicher Entwicklung Abb. 2 Abb. 2: Metonymische Reihung und Leerstellen Ist die assoziative Reihe von Abschnitt 10 bis 13 noch vergleichsweise stabil und findet mit der Interpretation künstlerischer Darstellungen ein einigermaßen homogenes Themenfeld, so fällt der Übergang zu Abschnitt 14 sehr hart und unvermittelt aus. Von Humpty Dumpty, dem Zeitalter der Elektrizität und F INN E GAN S W AK E wird nämlich mit einem harten Schnitt ei‐ nige Jahrtausende zurückgesprungen, nämlich zur Töpferscheibe als Agens geschichtlicher Entwicklung (vgl. Abb. 2). Damit wären wir wiederum bei dem bereits genannten formalen Aspekt von McLuhans Texten angelangt, dem Einsatz von Leerstellen: Abschnitt 13 stößt unvermittelt an Abschnitt 14, „die erwartbare Geordnetheit“ des Textes wird „unterbrochen.“ 101 Auf der Suche nach Zuspitzung Neben Leerstellen, assoziativen Reihen und Analogien findet sich in McLu‐ hans Texten, darauf wurde am Rande bereits immer wieder hingewiesen, ein Faible für pointierte, aphoristische, ja kalauernde Formulierungen und dra‐ matische Zuspitzungen. McLuhans bekanntester Slogan legt dafür beredtes Zeugnis ab. „Das Medium ist die Botschaft“ 102 - diese Sentenz ist nicht nur kurz und knackig (und im englischen Original als „The Medium is 46 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="47"?> 103 McLuhan, Understanding Media, S.-17. 104 Zur Entstehung dieser Phrase und deren Variationen bei McLuhan siehe: Carpenter, That Not-So-Silent-Sea, S.-244. 105 McLuhan, Magische Kanäle, S.-282f. ‚Eine Neugestaltung bewirken‘ heißt im Original: „effects new configurations“ (McLuhan, Understanding Media, S. 250). Wörtlich über‐ setzt als ‚neue Konfigurationen‘ sind damit ‚neue Anordnungen‘ gemeint, was letztlich konkreter und auch stärker ist als eine ‚Neugestaltung‘. the Message“ 103 noch mit einer Alliteration versehen). Sie irritiert darüber hinaus durch ihr augenscheinliches Paradox und beinhaltet ein immenses Wortspielpotenzial, das McLuhan im Laufe seiner Veröffentlichungen auch weidlich zu nutzen wusste (‚message‘ wird da bspw. zu ‚massage‘, ‚mass-age‘ und ‚mess-age‘). 104 Auch jenseits dieses Slogans findet man allerorten rhetorischen Wortschmuck und dramatische Zuspitzungen, so auch zuhauf im Kapitel „Rad, Fahrrad und Flugzeug“. Um nur ein Beispiel anzuführen: In einer Passage vergleicht McLuhan die entwicklungsgeschichtlichen Folgen der Ausweitung des Fußes durch das Rad mit der Ausweitung des mensch‐ lichen Hinterteils. Dieser Vergleich wird in die grammatikalische Metapher einer lateinischen Partizipialkonstruktion gewendet, um letztlich in einer universellen medientheoretischen These zu münden. Was so aufgeschlüsselt recht kompliziert und gewunden klingen mag, liest sich bei McLuhan selbst durchaus eingängig: Das Rad [als] Beschleunigung der Füße machte Straßen notwendig, genauso wie mit der Ausweitung unseres Hinterteils in Form von Stühlen Tische notwendig wurden. Das Rad ist ein Ablativus absolutus der Füße, wie der Stuhl ein Ablativus absolutus des Hinterns ist. Aber wenn solche Ablative eindringen, ändern sie die Syntax der Gesellschaft. […] Jede Ausweitung oder Beschleunigung bewirkt sofort eine Neugestaltung der Gesamtsituation. 105 McLuhans Rhetorik - ein Zwischenfazit Die ausführlichen Analysen zeigen recht deutlich, dass im Grunde drei Prinzipien die Texte McLuhans organisieren: (1) Pointierung in sloganfähi‐ gen Aussagen bzw. durch dramatische Zuspitzungen, (2) häufiger Einsatz von Leerstellen und (3) Ausbildung von vernetzenden Analogien und As‐ soziationsketten. Alle drei Prinzipien stehen in harschem Gegensatz zur konventionellen wissenschaftlichen Schreibweise oder zumindest zu tradi‐ tionellen Forderungen der Wissenschaftstheorie an Forschung. Denn diesen Forderungen zufolge sollen Leerstellen möglichst vermieden, Analogien und 1.1 Close Reading 47 <?page no="48"?> 106 Siehe dazu ausführlicher → 3. Lesart: Kritik. 107 Bei Ludwig Wittgenstein ist dieses Feiern der Sprache geradezu der Ausgangspunkt philosophischer Probleme: „Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert.“ (Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen [1953], in: ders., Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Band 1, Frankfurt a. M. 1988, S. 225-577, hier: S. 260) So gesehen ist McLuhan ein zuverlässiger Lieferant philosophischer Probleme. 108 Siehe dazu ausführlicher → 3. Lesart: Kritik. 109 Siehe: Gilles Deleuze/ Felix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie. Bd.-1 [1972], Frankfurt am Main 1977, S.-309. Assoziationen in einen argumentativen, kohärenten Zusammenhang aufge‐ löst werden, damit die Thesen überhaupt erst verifizierbar bzw. falsifizierbar zu machen sind, also bestätigt oder widerlegt werden können. 106 Zudem sind sloganartige Pointierungen und dramatische Zuspitzungen in diesem Zusammenhang suspekt. Denn sie stehen - wohl nicht ganz zu Unrecht - unter dem Verdacht, komplexe Sachverhalte unangemessen zu vereinfachen oder gar zu verfälschen. Vor allem dann wird Unmut geäußert, wenn die Zu‐ spitzungen, wie im Falle McLuhans, im Metapherngewand daherkommen. ‚Sprache zu feiern‘, um eine Wendung Ludwig Wittgensteins aufzugreifen, gilt es aus dieser Perspektive für wissenschaftliche Beschreibungsformen zu vermeiden. 107 McLuhans Rhetorik verstößt geradezu mutwillig gegen alle diese Regeln. Dementsprechend ließ Kritik an seinen Texten nicht lange auf sich warten. 108 Für die Weigerung, klassisch wissenschaftlichen Anforderungen zu er‐ füllen, hat McLuhan jedoch ebenfalls einigen Beifall erhalten, auch aus dem wissenschaftlichen Milieu. So wird er etwa von den französischen Poststrukturalisten Gille Deleuze und Felix Guattari 1972 in ihrem damals Aufsehen erregenden Buch A NTI -Ö DI P U S gerade für die Verweigerung tra‐ ditioneller wissenschaftlicher Schreibformen regelrecht gefeiert: 109 Ist der traditionelle Forschungsdiskurs einer, der seine Gegenstände unablässig starr klassifiziert und hierarchisiert und damit, davon sind Deleuze und Gu‐ attari überzeugt, illegitim beschneidet, begrenzt, ja zurichtet, wirkt hingegen gerade McLuhans verrätselnde, weit verzweigte Schreibweise entgrenzend und befreiend. Damit ist diese Schreibweise, so argumentieren Deleuze und Guattari, eben ein Mittel, eine kreative Denkweise einzuüben, die starre und illegitime Denk- und Machtgefüge aufzulösen hilft, gerade in Wissenschaft und Forschung. 48 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="49"?> 110 Siehe McLuhan, Magische Kanäle, S.-15. 111 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. 112 McLuhan, Magische Kanäle, S.-278. 113 Ebd., S.-280. Auf der Suche nach Wiederholung Leider wird bei dieser Art, McLuhan zu feiern, häufig ein wichtiger Sach‐ verhalt unterschlagen: Zwar ist es vollkommen richtig, dass sich McLuhans Texte traditionell-wissenschaftlichen Schreib- und Argumentationsweisen verweigern. Auch bewirken die Assoziationsreihen, Analogien, Leerstellen und Slogans sowohl eine komplexe Vernetzung unterschiedlicher Phäno‐ mene als auch massive Unbestimmtheiten. Aber McLuhans Texte weisen ein entscheidendes Merkmal auf, das zu dieser Interpretation eines ‚öffnen‐ den‘, ungeordneten, auf Informationsvielfalt ausgelegten Diskurses nicht recht passen will: McLuhans Texte sind extrem redundant, voller Wieder‐ holungsschleifen - und scheinen so immer wieder nur dasselbe zu erzählen. Statt Öffnung also Schließung, statt Chaos Wiederholung, anstelle neuer Botschaften immer wieder die alten. Wie zeigen sich diese Wiederholungsschleifen aber konkret? Zur Beant‐ wortung dieser Frage soll erneut auf eine Passage aus dem 19. Kapitel der M AGI S CH E N K ANÄL E zurückgegriffen werden. Wiederholt wird darin vor allem die Körperextensionsthese, die McLuhan bereits auf der ersten Seite des Buches einführt hat. 110 Diese These besagt (um es in aller Kürze noch einmal zu wiederholen): Technische Artefakte sind Ausweitungen unserer Sinnesleistungen bzw. Körperfunktionen. 111 So ist, um ein einfaches Beispiel zu wählen, die Brille eine Ausweitung des Sehvermögens der Augen oder, um näher an McLuhan zu bleiben, die Kleidung eine Erweiterung unserer Haut. Die Körperextensionsthese wird in den M AG I S CH E N K ANÄL E N auf den Seiten 275 bis 283 nicht weniger als acht Mal (! ) angeführt. Einmal wird sie in Form eines generellen Ausweitungsbedürfnisses des Menschen beschrieben: „In allen Arten von Geräten kommt zum Ausdruck, daß wir diesem körperlichen Drang in den Erweiterungen des Körpers nachgehen.“ 112 An anderer Stelle zeigt sie sich in einer Variante, in der eine permanente Fortsetzung der Ausweitung behauptet wird: „Die Reaktion auf die gesteigerte Kraft und Geschwindigkeit unserer eigenen erweiterten Körper ist derart, daß sie neue Erweiterungen erzeugt. Jede Technik bringt neue Belastungen und Bedürfnisse für die menschlichen Wesen, die sie gezeugt haben.“ 113 In einer dritten Passage werden die Veränderungen in den Blick genommen, die mit 1.1 Close Reading 49 <?page no="50"?> 114 Ebd., S.-283. 115 Siehe: ebd. 116 Siehe: ebd., S.-279. 117 Siehe: ebd., S.-277. 118 Siehe: ebd., S.-275. 119 Siehe: ebd., S.-283. einer Körpererweiterung zusammenhängen: „Es gibt kein ceteris paribus [d.h. das unveränderte Fortbestehen von Randbedingungen] in der Welt der Medien und Technik. Jede Ausweitung oder Beschleunigung bewirkt sofort eine Neugestaltung der Gesamtsituation.“ 114 Die These findet sich auch in einzelnen Beispielen durchdekliniert. So führt McLuhan das Rad als Ausweitung des Fußes an, 115 den Film als Ausweitung des Rades, 116 Straßenbahnen als Extensionen der Pferdeomnibusse, 117 das Feudalsystem als Ausweitung des Steigbügels, 118 den Stuhl als Erweiterung des Hinterns 119 usf. Die Körperextensionsthese wird also extrem häufig wiederholt, insofern scheint mir die Bezeichnung Wiederholungsschleife hier nicht abwegig. Jedoch - und das ist nicht unerheblich - wird die Körperextensionsthese nicht einfach identisch wiederholt, sondern tritt eben in unterschiedlichen Varianten auf. Unterscheiden lässt sich zunächst einmal die universale These von der Anwendung auf konkrete Fälle wie Füße, Räder und Hintern. Zudem sind bei den Wiederholungen unterschiedliche Aspekte und Impli‐ kationen der Körperextensionsthese virulent. In einem Fall ist zentral, dass der Mensch ein Bedürfnis nach Erweiterung hat, in einem anderen Fall dagegen, dass jede Ausweitung zwangsläufig eine weitere nach sich zieht. Und in einem dritten Fall ist vor allem von Belang, dass jeder technischen Erweiterung unmittelbar gesellschaftliche Veränderungen folgen. Auf der Anwendungsebene wiederum werden einmal Menschen und technische Artefakte vernetzt (Fuß → Rad), aber auch funktionsäquivalente techni‐ sche Artefakte (Pferdeomnibus → Straßenbahn → Auto) sowie Artefakte, die unterschiedliche Funktionen erfüllen (Fortbewegungsmittel Rad → Darstellungsmittel Film). Es gibt also mit der Körperextensionsthese eine Art Zentrum, das aber in mannigfaltigen Variationen erscheint und unter‐ schiedlich ausgedeutet wird. Dementsprechend ist dieses Ordnungsprinzip des Kapitels „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ als Spiel von Wiederholung und Variation zu begreifen. Dieses Spiel von Wiederholung und Variation findet sich im gesamten Buch. D I E MAGI S CHE N K ANÄL E tragen im englischsprachigen Original nicht 50 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="51"?> 120 Vgl. bspw.: ebd., S.-17, 281. 121 Vgl. bspw.: ebd., S.-18, 283. umsonst den Untertitel T H E E XT E N S IO N S O F M AN . Von der ersten Seite an durchzieht diese These in unterschiedlichsten Facetten das gesamte Buch. Ebenso kehren Detailbeobachtungen und Formulierungen im Zusammen‐ hang mit der Körperausweitungsthese wieder. So wird auf den ersten Seiten der M AG I S CH E N K ANÄL E „Becketts Clown“ 120 angeführt, der dann in Kapitel 19 wiederkehrt. Genauso wiederholen sich Wortwitze: Die Ausweitung des Gesäßes als ablativus absolutus ist im 19. Kapitel bspw. ein Wiedergänger aus dem 1. Kapitel. 121 McLuhans Spiralenrhetorik Das Prinzip Wiederholung/ Variation lässt sich auch mit den zuvor angeführ‐ ten Prinzipien, die die Texte McLuhans organisieren, nämlich Leerstellen, pointierten Slogans und Analogien, zusammenbringen. Damit ist ganz nebenbei zudem ein Problem gelöst, war doch die Schwierigkeit folgende: Permanente Redundanz schirmt den Text gegen Neues ab; Wiederholung des Immergleichen hält den Text ‚geschlossen‘. Wie sollte das mit den auf viele Kontexte hin öffnenden Prinzipien der Analogien, Leerstellen und Aperçus, die in McLuhans Texten ebenfalls ausfindig zu machen sind, zusammengehen? Da im Nachvollzug der Wiederholungsschleifen im Text McLuhans gezeigt werden konnte, dass es sich dabei eigentlich nicht um identische Wiederholungen handelt, sondern vielmehr um ein Wechselspiel von Wiederholung und Variation, fällt die Antwort auf die Frage nun um einiges leichter. Am einfachsten lässt sich das an der Analogie zeigen. Dass es bei einer Analogie um die Konstruktion bzw. Entdeckung von Ähnlichkeiten geht, lässt sich auch anders formulieren: Unterschiedliche Dinge werden nicht nur ähnlich gemacht, sondern damit wird ja implizit auch behauptet, dass sich in ihnen zumindest bestimmte Aspekte des jeweils anderen wiederholen. Da die analogisierten Phänomene aber nicht identisch sind, sondern eben ähnlich, treten sie per se als Variation des jeweils anderen auf. Auf ein Beispiel McLuhans bezogen heißt das: Das Rad wiederholt in gewissem Sinne den Fuß und variiert ihn gleichzeitig. Formal wird das Analogieprin‐ zip weitergeführt, wenn mittels Assoziationsfolgen bzw. metonymischen Reihen Textabschnitte ähnlich gemacht werden. Auch hier ist das Prinzip 1.1 Close Reading 51 <?page no="52"?> 122 Ebd., S.-18. 123 Ebd., S.-283. Wiederholung/ Variation am Werk. Insofern ist das Prinzip von Wiederho‐ lung/ Variation auch das zentrale Strukturgesetz für Analogien wie für metonymische Reihen. Leerstellen wiederum sind in McLuhans Texten allerorten zu finden. Insofern wiederholen sie sich zumindest auf formaler Ebene. Sie variieren aber auch. Und zwar nicht einfach dadurch, dass es unterschiedliche Text‐ segmente gibt, zwischen denen Leerstellen gebildet werden, vielmehr noch dadurch, dass die Unschärfe der Leerstellen variiert wird. Ist die Unschärfe in manchen Textsegmenten sehr hoch, etwa, wie gezeigt, beim Übergang von F INN E GAN S W AK E / dem elektrischen Zeitalter zur Töpferscheibe, so ist sie an anderen Stellen vergleichsweise gering, etwa wenn der Mensch am Ende eines Abschnitts als Clown bezeichnet wird und im nächsten Abschnitt das menschenähnliche Ei Humpty Dumpty ebenfalls einen Auftritt als Clown hat. Pointierte Formulierungen durchziehen das Textkorpus McLuhans eben‐ falls. Zum einen wiederholt sich dieses Prinzip formal. Zum anderen werden immer wieder ähnliche Pointierungen aufgegriffen und variiert. Man denke nur an die Formulierung bezüglich des Stuhls, der ein ablativus absolutus des Hinterns sein soll. Heißt es im ersten Kapitel der M AGI S CH E N K ANÄL E : „Als Ausweitung des Menschen ist der Stuhl eine spezialisierte Ablagerung des Gesäßes, eine Art Ablativus absolutus des Hinterns, während das Sofa das ganze menschliche Wesen ausweitet“, 122 so ist in Kapitel 19 ganz ähnlich formuliert: „Das Rad ist ein Ablativus absolutus der Füße, wie der Stuhl ein Ablativus absolutus des Hinterns ist.“ 123 Die Formulierung wird also wiederholt aufgegriffen, jedoch Wortwahl und Vergleichsobjekt (einmal Sofa, einmal Rad) variiert. Das Prinzip von Wiederholung und Variation lässt sich somit vom hier näher untersuchten Kapitel aus den M AG I S CH E N K ANÄL E N auf das gesamte Buch ausdehnen, ja auf das gesamte Œuvre McLuhans anwenden, erfolgt doch im gesamten Werk ein massiver Einsatz von Analogisierung, Leerstellen und Slogans, die nach dem Prinzip von Wiederholung und Variation operieren. Damit lässt sich das Prinzip von Wiederholung und Variation als das zentrale Operationsprinzip schlechthin in McLuhans Werk verstehen. McLuhans Schreibweise ist also weder radikal fragmentarisch, ungeord‐ net oder gar rhizomatisch, noch ist sie klassisch wissenschaftlich argumen‐ 52 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="53"?> 124 Ebd., S.-50. 125 McLuhan, Mechanische Braut, S.-9. tativ. Sie funktioniert stattdessen nach einem Prinzip, das McLuhan selbst in den M AG I S CH E N K ANÄL E N formuliert: „Die ganze Botschaft wird […] immer wieder entlang der Kurven einer konzentrischen Spirale mit sichtbarer Redundanz verfolgt und weiterverfolgt.“ 124 Zwar bezeichnet McLuhan mit dieser Formulierung nicht seine eigene Schreibweise. Er beschreibt damit vielmehr die spezifische Kommunikationsweise von Kulturen, die keine Schrift kennen und nur mündlich interagieren. Nichtsdestotrotz passt diese Formulierung wunderbar auf McLuhans eigene Schreibweise, verfolgt diese doch mit ‚sichtbarer Redundanz‘ Botschaften, wie die der Körperextensions‐ these, die McLuhan auf unterschiedlichen Ebenen wiederholt und dabei deren Bedeutungs- und Vernetzungsmöglichkeiten ‚spiralförmig‘ entfaltet. Eine winzige Modifikation wäre jedoch wohl einzufügen: Die konzentri‐ sche Spirale wird in McLuhans Werk nicht von ihrem Mittelpunkt her sukzessive nachgezeichnet oder auf ein Zentrum allmählich hingeführt. Vielmehr erhalten wir im Textverlauf immer wieder nur Ausschnitte aus der konzentrischen Spirale. McLuhan springt von Ebene zu Ebene, greift unterschiedliche Facetten auf, bringt sie in Wechselwirkung und variiert sie. Zur Untermauerung der These, dass dieses Organisationsprinzip im gesamten Œuvre zu finden ist und dass McLuhan dieses Prinzip durchaus strategisch einsetzt, lässt sich eine Passage anführen, die sich in McLuhans erstem Buch, D I E ME CHANI S CH E B R AUT , - und damit bereits dreizehn Jahre vor der Erstveröffentlichung von den M AGI S CH E N K ANÄL E N - ausfindig machen lässt. In einer Leseanweisung heißt es zu Beginn des Buches: „Wegen seines kreisenden Blickwinkels muß das Buch in keiner bestimmten Reihenfolge gelesen werden. Jeder Abschnitt liefert eine oder mehrere Perspektiven auf die gleiche gesellschaftliche Landschaft.“ 125 Wiederholung und Variation allerorten - und gerade weil Wiederholung und Variation allerorten zu finden sind, sind alle relevanten Aspekte der Prosa McLuhans noch in den kleinsten Einheiten am Werk. So kann eben anhand einer Analyse des 19. Kapitels der M AGI S CH E N K ANÄL E buchstäblich alles Wichtige dieser Schreibweise gezeigt werden. Aus dieser Perspektive ließe sich durchaus die Konsequenz ziehen, die McLuhan selbst aus der Beschäftigung mit der Kommunikationsform oraler Kulturen gezogen hat: „Man kann nach den ersten Sätzen beliebig innehalten und hat schon die vollständige Botschaft 1.1 Close Reading 53 <?page no="54"?> 126 McLuhan, Magische Kanäle, S.-50. 127 Ebd. 128 Siehe bspw.: Deleuze/ Guattari, Anti-Ödipus, S.-309. […]“. 126 In McLuhans Fall ist das freilich eine ‚vollständige Botschaft‘, die ein „endlose[s] Ineinandergreifen von Ebenen“ 127 und Variationsmöglichkeiten impliziert. 1.2 Lesarten der Form Doch wie verhält man sich nun zu dieser Schreibweise? Was ist ihr Zweck, was ihr Ziel? Dass sie nicht wie herkömmliche wissenschaftliche Prosa funktioniert, solch eine Aussage ist trivial. Unmittelbar lassen sich daraus zwei Konsequenzen ziehen: Entweder entscheidet man sich, McLuhans Prosa einfach als wirr zu beurteilen und beschäftigt sich nicht weiter damit oder aber man sieht darin eine bewusste Absage an wissenschaftliche Prin‐ zipien. Das führt dann schnell zu Auslassungen über die subversive Kritik an wissenschaftlichen Grundsätzen bzw. über die künstlerische Kreativität, die dieser Darstellungsform eingeschrieben sein soll. 128 Interessanter als solche häufig sehr allgemein und recht vage gehaltenen Aussagen über die Schreibweise McLuhans dürfte vielleicht die Frage sein, welchen Mehrwert solch eine Schreibweise über die bloße Verweigerung wissenschaftlicher Standards hinaus noch haben könnte. Was kann sie oder zeigt sie, was vielleicht in traditioneller wissenschaftlicher Prosa nicht getan oder gezeigt werden kann? Hierauf gibt es verschiedene Antwortoptionen, die im Fol‐ genden kurz skizziert werden sollen. Diese Antworten stehen, zumindest teilweise, in einem Spannungsverhältnis zueinander. Nichtsdestotrotz gibt es für alle vorgeschlagenen Deutungen gute Gründe. Und vielleicht sind es ja gerade die vielfältigen Deutungsmöglichkeiten, die McLuhan zumindest zeitweilig für sehr unterschiedliche Leser: innen und damit eine große Leser: innenschaft attraktiv gemacht haben. 1.2.1 Pop Wenn man sich die Rezeption McLuhans anschaut, ist auffällig, dass er vor allem im populärkulturellen Milieu Aufmerksamkeit erzielen und Erfolge 54 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="55"?> 129 Siehe dazu ausführlicher → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „McLuhan und die Massen‐ medien“. 130 McLuhan, Magische Kanäle, S.-50. 131 Siehe bspw.: McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S.-48f. 132 Siehe bspw.: Umberto Eco, Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien, in: ders., Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, Leipzig 1989, S. 301-324; oder auch: Knut Hickethier, The Same Procedure. Die Wiederholung als Medienprinzip der Moderne, in: Jürgen Felix u. a. (Hg.), Die Wiederholung. Thomas Koebner zum 60. Geburtstag, Marburg 2001, S.-41-62. feiern konnte. 129 In den vielen Talkshows, in denen er zu Gast war, und in den unzähligen Interviews, die er für Zeitungen und Magazine gab, setzte sich dabei die Form seiner Prosa nahezu nahtlos fort: Die Aussagen drehen sich in Wiederholungsschleifen um einige wenige Slogans, die mit Wortwitzen und vielfältigen Querverbindungen angereichert werden. Seine Interviews funktionieren genauso, wie McLuhan die Kommunikationsform oraler Kulturen beschreibt: „[I]mmer wieder entlang der Kurven einer konzentrischen Spirale mit sichtbarer Redundanz“ 130 formulierte er knappe und prägnante Slogans. Bspw. wird die These von der Körpererweiterung (auch) in den Interviews ständig wiederholt und von McLuhan selbst variantenreich ausgedeutet. 131 Ewig stampft die McLuhan-Maschine Das Organisationsprinzip von Wiederholung und Variation wird von ei‐ nigen Theoretiker: innen als die zentrale Strukturlogik massenmedialer Artefakte bzw. populärkultureller Phänomene betrachtet. So finden bereits Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in den 1940er Jahren das Muster von Wiederholung und Variation in massenmedialen bzw. populärkulturel‐ len - oder wie sie es nennen: kulturindustriellen - Erzeugnissen. Eine Perspektive, die bis heute zur Beschreibung der Massenmedien, insbeson‐ dere des Fernsehens in unterschiedlichen Varianten im medienwissenschaft‐ lichen Diskurs herangezogen wird. 132 Zur Veranschaulichung ihrer These wählen Adorno und Horkheimer nicht minder sloganförmige Formulierun‐ gen wie McLuhan. Die ‚Väter‘ der modernen Medienkritik beschreiben die Strukturlogik massenmedial fundierter Populärkultur bspw. wie folgt: „Ewig grinsen die gleichen Babies aus den Magazinen, ewig stampft die 1.2 Lesarten der Form 55 <?page no="56"?> 133 Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno, Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug [1947], in: dies., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 14 2003, S.-144-198, hier: S.-157. 134 Rainer Leschke, Vom Eigensinn der Medienrevolutionen. Zur Rolle der Revolutions‐ rhetorik in der Medientheorie, in: Sven Grampp u. a. (Hg.), Revolutionsmedien - Medienrevolutionen, Konstanz 2008, S.-143-169, hier: S.-166. 135 Im CBC-Onlinearchiv finden sich einige aufschlussreiche Beispiele dafür, siehe: http: / / archives.cbc.ca/ arts_entertainment/ media/ topics/ 342/ [10.01.22]. Jazzmaschine.“ 133 Ersetzt man nun ‚Babies‘ etwa durch ‚These von der technischen Ausweitung des Körpers‘ und die ‚Magazine‘ durch ‚Texte und Interviews McLuhans‘, so ist diese Passage wunderbar zur Beschreibung der Prosa McLuhans geeignet. Gerade die Metapher der ‚ewig stampfenden Jazzmaschine‘ bezeichnet das Strukturprinzip dieser Prosa besonders gut, ist doch sowohl im Jazz als auch in McLuhans Texten ein sich beständig wiederholendes Grundschema auszumachen, auf dem ‚endlos‘ improvisiert wird. In diesem Sinne bedient sich McLuhan, mit einer Wendung von Rainer Leschke formuliert, einer „medienaffine[n] Ästhetik“. 134 ‚Medienaffin‘ er‐ scheint McLuhan aber nicht einfach deshalb, weil er ständig in ‚den Medien‘ zu Gast war, sondern weil sich in seinem Werk die Strukturlogik der Massen‐ medien bzw. der Populärkultur wiederfindet. Oder sehr viel pragmatischer gedacht: Mit knappen, sich in Varianten wiederholenden Statements ist eine Forschungsposition in den Massenmedien wahrscheinlich um einiges attraktiver zu vermitteln, als wenn sie in komplexen argumentativen Ablei‐ tungen und Fachtermini vorgetragen wird. Deshalb war wohl McLuhan in Fernsehstudios und Radiostationen ein gern gesehener Gast, dem man (eine Weile lang zumindest) mit Wohlwollen beim ‚endlosen Improvisieren‘ zuschaute bzw. zuhörte. 135 McLuhans Popsongs Bezüglich der Slogans, die sich in McLuhans Werk zuhauf finden, ist der Vergleich mit einem traditionellen Popsong wohl noch treffender. Denn es gibt in McLuhans Texten nicht nur ein Grundschema, das endlos variiert wird, McLuhan’sche Slogans kehren zudem häufig wortwörtlich wieder, eben wie im Refrain eines Songs. Zudem beinhalten Popsongs im Refrain nicht selten besonders prägnante, phrasenhaft und gleichzeitig konnotati‐ onsreiche Formulierungen, die ähnlich sloganfähig sind wie die McLuhans. 56 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="57"?> 136 Siehe: The Medium is the Massage. With Marshall McLuhan (CBS, 1968); Aus‐ schnitte auch online zugänglich: http: / / www.culturalfarming.com/ McLuhan/ Extensi‐ ons%20of%20McLuhan.mov [10.01.21]. 137 McLuhan, Medium ist Massage, S.-26. 138 Ebd. So gesehen sind die Unterschiede sehr gering zwischen Songtiteln wie L IK E A R O LLIN G S T ON E oder A LL Y O U N E E D I S L OV E und „The Medium is the Message“ (alles im Übrigen Lied- und Textpassagen aus den 1960er Jahren, also aus dem Jahrzehnt, in dem sich die Popmusik international etablierte). Ange‐ sichts dieser ‚Popsong-Affinität‘ verwundert es wenig, dass vergleichsweise früh, nämlich bereits 1967, die erste McLuhan-Schallplatte auf den Markt kam. Dort ist eine psychodelische Soundcollage aus Pop- und Jazzrhythmen zu hören, die begleitet wird von Textpassagen aus McLuhans Werken, die dieser höchstselbst auf Tonband gesprochen hatte. Diese Platte erschien im selben Jahr wie eine ebenfalls von McLuhan inspirierte und unter seinem Namen veröffentlichte Bild-Text-Collage. Beide Werke nehmen McLuhans populärsten Slogan, „The Medium is the Message“, zum Ausgangspunkt und variieren ihn zur titelgebenden (Popsong-)Phrase: T H E M E DIUM I S TH E M A S S AG E . 136 Bild-Text-Collagen Aus dieser Bild-Text-Collage soll ein Beispiel näher betrachtet werden, um zu zeigen, wie dort McLuhans Thesen visuelle Evidenz erhalten und damit noch einmal auf einer anderen Ebene wiederholt und variiert werden. Die These von der Körperausweitung spielt über weite Passagen dieses Buches eine große Rolle. Vor allem die Ausweitung des Fußes zum Rad findet sich über mehrere Seiten hinweg entfaltet. Auf Seite 26 ist zunächst eine vergleichsweise nüchterne und umfassende Erläuterung angeführt, warum das Medium die ‚Massage‘ sein soll (vgl. Abb. 3a): „Alle Medien massieren uns gründlich durch. Sie sind dermaßen durchgreifend in ihren persönlichen, politischen, ökonomischen, ästhetischen, psychologischen, moralischen, ethischen und sozialen Auswirkungen, daß sie keinen Teil von uns unberührt, unbeeinflußt, unverändert lassen.“ 137 Abgesetzt von diesem Textblock, fett gedruckt und jeweils nur mit einem Wort pro Zeile, wird die Körperausweitungsthese benannt: „Alle / Medien / sind / Erwei‐ terungen / bestimmter / menschlicher / Anlagen - / seien / sie / psy‐ chisch / oder / physisch.“ 138 1.2 Lesarten der Form 57 <?page no="58"?> Auf der gegenüberliegenden Seite ist schemenhaft ein kleiner Zeh in einer extremen Nahaufnahme eher zu erahnen als klar abgebildet. An dieser Stelle ist noch unklar, was die allgemeine These von der Körperausweitung mit diesem schemenhaften Zeh zu tun haben könnte. Blättert man um, dann ist auf einem Foto, das sich über zwei Seiten erstreckt, derselbe Fuß zu erkennen (vgl. Abb. 3b). Hier sehen wir drei Zehen - sehr deutlich nun tatsächlich als Zehen zu identifizieren. Blättert man dann noch eine Seite weiter, ist der große Zeh dieses Fußes in Nahaufnahme zu sehen (vgl. Abb. 3c). Rechts oben im Bild findet sich eine kleine Aufschrift: „Das Rad“. Eine Seite weiter ist dann das Rad eines Automobils abgebildet, versehen mit dem Text „…ist eine Erweiterung des Fußes“ (vgl. Abb. 3d). Abb. 3 a-d: Körperausweitung vom Fuß zum Rad im Daumenkinoprinzip Die Abbildungen sind nacheinander angeordnet wie Einzelbilder aus einer filmischen Sequenz, die eine Kamerafahrt beinhaltet und insofern eine dynamisierende Bewegung vom Fuß zum Rad nachzeichnet: Zu Beginn ist der kleine Zeh zu sehen, dann schwenkt die Kamera nach rechts auf die anderen Zehen bis zum großen Zeh. Mit einer Art match cut wird diese Kamerabewegung beibehalten und auf dem nächsten Bild weiterverfolgt, aber mit dem Autorad ein anderes Objekt an die Stelle des Fußes gesetzt. Der Fuß oder genauer eigentlich der Blick auf den Fuß wird mittels des Kameraschwenks dynamisiert, in eine Bewegung, die dann über einige Seiten hinweg in die Bewegung eines Rades mündet. Wir haben es mit einer kurzen Daumenkinoepisode zu tun. Der match cut vom Fuß zum Rad ist dabei das visuelle Äquivalent zur Analogie wie auch zur Genealogie von Fuß und Rad. Oder genauer formuliert: Diese Visualisierung ist der performative Vollzug der These von der Ausweitung des Fußes zum Rad. Das ist durchaus suggestiv und damit mehr als eine bloße visuelle Veranschaulichung. 58 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="59"?> 139 Dass McLuhan vor allem als Satiriker zu lesen ist - und zwar als einen, der in der Tradition abendländischer Satire zu verstehen ist, das macht Donald F. Theall in seiner Monografie zu McLuhan sehr plausibel (siehe: Theall, The Virtual Marshall McLuhan, v.a.: Kap.-11: „McLuhan as Modern Satirist“, S.-187ff.). 140 Siehe: Arthur Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst [1981], Frankfurt am Main 6 1991. Andy Warhol/ Marshall McLuhan Werbeinserate für Spülmittel, Pastillen, Filmplakate, Zeitungsseiten, Car‐ toons - als das sind Dinge, die in T H E M E DIUM I S TH E M A S S AG E , aber auch bereits in D I E M E CHANI S CHE B R AUT abgebildet werden und über die McLuhan während seiner gesamten Laufbahn nachdachte. Gegenstände und Phänomene der medialen Alltagswelt besetzen somit einen zentralen Ort in McLuhans Büchern. Allein schon damit besteht eine gewisse Nähe zu Ver‐ fahrensweisen von Pop-Art-Künstler: innen, die sich seit den 1950ern, also zeitlich parallel zu McLuhan, daran machten, Phänomene der Alltagskultur zu sammeln und in ihren Werken zu verarbeiten. Diese Nähe zur Pop-Art bleibt nicht nur auf die Wahl bestimmter Gegen‐ stände der Populärkultur beschränkt. Noch wichtiger ist die Art und Weise dieser Aneignung. Der Aneignungsmodus besteht im Falle der Pop-Art als auch in dem McLuhans in einem schwer zu fassenden satirischen und cool-ironischen Distanzierungsgestus. 139 So ist etwa bei dem Pop-Art-Künst‐ ler Andy Warhol nie recht klar, ob er sich seinem Darstellungsgegenstand gegenüber nun affirmativ oder kritisch verhält. Feiert er, um nur ein be‐ kanntes Beispiel zu nennen, C AM P B E LL ’ S S U P P E NDO S E in seinen Zeichnungen und Gemälden als ästhetischen Objekt? Verklärt er also, um eine Wendung des Kunstphilosophen Arthur Danto aufzunehmen, das Gewöhnliche? 140 Oder ist es vielmehr so, dass er damit die Fetischisierung der Warenwelt kritisch reflektiert? Oder macht er sich vielleicht über die künstlerische Praxis der ‚Verklärung des Gewöhnlichen‘ im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit lustig? Die Antwort lautet wohl: Alle diese Deutungen treffen gleichermaßen zu. Genau das soll gemeint sein mit der Bezeichnung des cool-ironischen Distanzierungsgestus. Diese Ironie ist nicht einfach eine Inversionsfigur; es geht nicht wie noch im klassischen Verständnis von Ironie darum, dass das genaue Gegenteil von dem gemeint ist, was explizit ausgesagt wird. Vielmehr ist für diese Art von Ironie die Unschärfe bzw. das Moment der Indifferenz kennzeichnend: Ich meine das eine als auch das 1.2 Lesarten der Form 59 <?page no="60"?> 141 McLuhan, Magische Kanäle, S.-7. 142 Ebd., S.-14. andere; ich meine ein wenig das eine, aber gleichzeitig auch ein wenig sein Gegenteil, zumindest vielleicht, möglicherweise. Schon in McLuhans erstem Buch zeichnet sich solch ein unscharfer, in‐ differenter Aneignungsmodus ab. Dort heißt es gleich im Vorwort scheinbar unmissverständlich medien- und populärkulturkritisch: „Der Sinn vieler Werbeanzeigen sowie zahlreicher Produktionen der Unterhaltungsbranche besteht darin, jeden einzelnen durch permanente geistige Aufgeilung in einem Zustand der Hilflosigkeit verharren zu lassen.“ 141 Seine Analysen, so formuliert McLuhan explizit im Anschluss, sollen eine kritische Reflexion dieser ‚Aufgeilung‘ ermöglichen, sodass sich die Rezipient: innen dagegen zur Wehr setzen können. Gleichwohl zeigt sich McLuhan äußerst fasziniert von diesen ‚Produktionen der Unterhaltungsbranche‘. So wird die Zeitungs‐ seite der Massenpresse als eine „symbolische Landschaft“ gefeiert, die nicht nur zu „radikalen künstlerischen Entwicklungen geführt“ haben soll, sondern zudem „den Geist dazu bringen kann, auf kosmische Harmonien einer besonders hohen Ordnung zu hören.“ 142 Bereits in der ersten größeren Veröffentlichung McLuhans sind also Kritik und Affirmation der Alltags‐ kultur ineinander verwoben. Dass McLuhans Hauptthesen, etwa „The Medium is the Massage“, selbst affin mit dem Duktus diverser Werbeslogans sind, muss wohl nicht eigens betont werden. Doch ist dabei mitunter nicht ganz klar, für was genau eigentlich Werbung gemacht wird bzw. wie ironisch der Werbeslogan gemeint ist. Wenn McLuhan bspw. seinen damals bereits berühmtesten Slogan, eben „The Medium is the Message“/ „Das Medium ist die Botschaft“, zu „The Medium is the Massage“/ „Das Medium ist Massage“ umformuliert, ist das ein Wortspiel, mit dem er sich einerseits über seine eigene Hauptthese lustig macht. Anderseits scheint er die darin formulierte Idee, dass wir von Medien regelrecht massiert werden, ernst zu nehmen und als Erweiterung seiner Ausgangsthese zu verstehen (vgl. die Formulierungen in Abb. 3a). Auch hier findet man also den ironisch-distanzierenden Gestus. Es wird in der Schwebe gehalten, was genau die Aussage bedeuten soll: Karikiert McLuhan damit nun seine eigenen Forschungen und Behauptungen, macht er sich vielleicht sogar damit über den Wissenschaftsbetrieb und dessen 60 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="61"?> 143 Siehe dazu ausführlicher: Johannes Meinhardt, Malerei nach dem Ende der Malerei, Ostfildern 1998. 144 McLuhan, Magische Kanäle, S.-283. 145 McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S.-89. 146 Siehe: McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen. Wahrheitsansprüche lustig oder handelt es sich um eine wissenschaftlich ernstzunehmende Fortführung der Ausgangsthese? 143 Nicht minder ironisch ist eine Aussage wie die bereits zitierte: „Das Rad ist ein Ablativus absolutus der Füße, wie der Stuhl ein Ablativus absolutus des Hinterns ist.“ 144 Denn solch eine Aussage vermischt die Beschreibung von Dingen mit denen von Satzeigenschaften. Zudem könnten die Leser: innen gerade mit dem Hinweis auf den Hintern verunsichert werden: Vielleicht wird man buchstäblich nur verarscht? Auch hier stellen sich Fragen, wie sie weiter oben bereits formuliert wurden: Macht sich McLuhan damit über seine eigene Forschung lustig, über den Wissenschaftsbetrieb oder handelt es sich um eine wissenschaftlich ernstzunehmende Konkretisierung seiner Körperextensionsthese? In der Tradition der Pop-Art, lässig die Anforderungen einer zweiwertigen Logik hinter sich zu lassen, in der eine Aussage entweder a bedeutet oder b, lautet die Antwort wohl auch bei McLuhan: sowohl als auch. Der Autor distanziert sich durch diese Art von Ironie von einem klaren Urteil. McLuhan selbst nennt so etwas „schwe‐ bende[s] Urteil“. 145 Das meint nicht nur, dass man über ein Phänomen nicht vorschnell urteilen soll, sondern weit mehr: Die Bedeutung der jeweiligen Aussagen wird unbestimmt in der Schwebe gehalten. Der „Hohepriester der Popkultur“ 146 ist ebenfalls ein Anhänger der Pop-Art-Philosophie. Mit dem unangefochtenen Hohepriester der Pop-Art, nämlich Andy Warhol, verbindet McLuhan nicht nur die Verarbeitung von Materialien der Alltagskultur, nicht nur der ironische Gestus. Darüber hinaus findet man bei Warhol und McLuhan ein ähnliches Organisationsprinzip. Warhol stellte zu Anfang seiner Karriere, in den 1960er Jahren, einige sehr bekannte Siebdrucke her. Bspw. fertigte er auf Grundlage einer Pressefotografie von Marilyn Monroe eine Siebdruckvorlage an, mit deren Hilfe das Porträt seriell reproduziert wurde. In dieser Reihe wird Monroes Gesicht aber nicht identisch reproduziert. Die einzelnen Exemplare weichen - bezüglich der Farbgebung sowie durch unterschiedliche Verwischungen der Konturen - minimal voneinander ab (vgl. Abb. 4). In dieser Art gruppiert auch McLuhan seine Texte, ist doch deren Hauptorganisationsprinzip, wie oben anhand des 19. Kapitels der M AGI S CHE N K ANÄL E ausführlich beschrieben, im Wechselspiel 1.2 Lesarten der Form 61 <?page no="62"?> von Wiederholung und Variation zu identifizieren. Damit finden denn auch das Strukturprinzip der Warhol’schen Siebdrucke, McLuhans Textorganisa‐ tionsprinzip und die Strukturlogik der Massenmedien, wie sie im Eingang dieses Kapitels beschrieben wurde, zusammen: In allen drei Fällen geht es um Wiederholung und minimale Differenz. Abb. 4: Gesund ist, was sich (in minimaler Abweichung) wiederholt: Andy Warhols Sieb‐ druckreihe „Marylin Diptych“ (1962) [Ausschnitt] Somit hat McLuhan auch vergleichsweise viele Anschlussstellen innerhalb populärkultureller Diskurse. Seien es Massenmedien, Jazz, Pop oder Pop-Art - zu all diesen Feldern lassen sich in McLuhans Texten strukturelle Affini‐ täten ausmachen. 1.2.2 Medienreflexion Dass McLuhan Elemente aus der Populärkultur, der Pop-Art und den Massenmedien aufnimmt und verarbeitet, sollte indes nicht als einfache Übernahme damals zirkulierender Praktiken und Ideen verstanden werden oder gar als bloße Einschreibung des Zeitgeistes in das Werk McLuhans. Auch die Annahme, es handle sich letztlich nur um die Anbiederung an einen (vermeintlichen) Massengeschmack, ist kaum geeignet, McLuhans Texte angemessen zu deuten. Plausibler scheint mir, dass McLuhan in der Darstellungsweise seine eigenen medientheoretischen und -historiografi‐ schen Axiome ernst nimmt. Gerade die Form seiner Texte trägt hochgradig 62 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="63"?> 147 McLuhan, Magische Kanäle, S.-15. 148 McLuhan unterscheidet - wie bis dato umgangssprachlich üblich - nicht zwischen den Begriffen elektrisch und elektronisch. Er gebraucht beide Begriff als Synonyme. (Meist verwendet er den Begriff elektrisch.) Ich folge in meiner Rekonstruktion seinem Vorbild. Genau genommen müsste man diese beiden Begriffe aber unterscheiden. Elektrisch meint den energetischen Aspekt von Elektrizität. Ein Zitteraal kann elektrische Entla‐ dungen bis zu 600 Volt erzeugen. Das Stromnetz verteilt Elektrizität und Kupferdraht‐ kabel leiten als passive Bauelemente den Strom weiter. Elektronisch meint hingegen den aktiv steuernden und verarbeitenden Aspekt von Strom durch technologische Elemente, wie Röhren, Transistoren oder Halbleiter. Bspw. das Fernsehen, das McLuhan beschreibt, funktioniert elektronisch, weil dabei der elektrischen Strom mithilfe von Vakuumröhren verarbeitet und so reguliert in optische Signale umgewandelt wird. Elektronik setzt als die Existenz von Elektrizität voraus, ist aber nur ein spezieller Teilbereich der Verarbeitung elektrischer Phänomene mittels aktiv transformierender Bauelemente. medienreflexive Züge. In dieser Lesart lassen sich wiederum zwei Interpre‐ tationen unterscheiden, eine moderate und eine radikale. Beide sollen kurz vorgestellt werden. Moderate Lesart der Medienreflexion Seine zentralen medientheoretischen und -historiografischen Axiome for‐ muliert McLuhan gleich zu Beginn der M AG I S CH E N K ANÄL E . Dort heißt es unter anderem: Nach dreitausendjähriger, durch Techniken des Zerlegens und der Mechanisie‐ rung bedingter Explosion erlebt die westliche Welt eine Implosion. In den Jahr‐ hunderten der Mechanisierung hatten wir unseren Körper in den Raum hinaus ausgeweitet. Heute, nach mehr als einem Jahrhundert der Technik der Elektrizität, haben wir sogar das Zentralnervensystem zu einem weltumspannenden Netz ausgeweitet […]. 147 Während der Zeit der Mechanisierung hat sich demzufolge der menschliche Körper durch technische Artefakte wie Automobile, Fertigungstechnologien wie das Fließband oder auch durch Aufzeichnungsmedien wie der Schrift ausgeweitet. Damit ist, so das Argument, allmählich eine distanziert-ana‐ lytische Geisteshaltung etabliert worden. Im Zeitalter der Elektrizität, 148 beginnend mit der Telegrafie und weitergeführt durch Radio und Fernsehen, hat sich dann das Zentralnervensystem des Menschen ausgeweitet. Damit sollen letztlich alle Menschen miteinander vernetzt sein. In solch einem globalen Dorf, wie es McLuhan nennt, ist so ein Prozess in Gang gekommen, 1.2 Lesarten der Form 63 <?page no="64"?> 149 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 2. 150 McLuhan, Magische Kanäle, S.-50. der dem der Mechanisierung diametral entgegensteht. 149 Nun sollen Dinge und Menschen, die zuvor getrennt wahrgenommen wurden, zum ersten Mal in einem ‚weltumspannenden Netz‘ verbunden betrachtet werden können. Eine Denkhaltung ist damit etabliert, die nicht mehr distanziert-analytisch vorgeht, sondern vielmehr auf Interdependenz und Synthese zielt. Im Zeitalter der Elektrizität ist somit auch ein klassisch analytischer Zugriff, bei dem Argumente sukzessive entfaltet werden und kausale Erklärungen dominieren, obsolet geworden. Überholt ist solch eine Zugriffsweise nach McLuhan erstens, weil sie selbst einen Effekt des mechanischen Zeitalters darstellt, und dementsprechend eben mit dem Aufkommen des Zeitalters der Elektrizität obsolet wurde. Zweitens kann solch ein Zugriff die komplexen, interdependenten und simultan ablaufenden Prozesse im globalen Dorf schlicht nicht mehr abbilden, geschweige denn erklären. Im globalen Dorf kehren nach McLuhan in Folge der Vernetzungsten‐ denzen Kommunikations-, Wahrnehmungs- und Denkformen wieder, die für die menschliche Kultur vor der Mechanisierung konstitutiv gewesen sind. Dieses orale Zeitalter soll dadurch gekennzeichnet gewesen sein, dass alle Menschen zum einen ständig „gleichzeitig und gegenseitig in Wechselwirkung zueinander“ 150 standen. Zum anderen manifestierte sich eine solche Wechselwirkung in kommunikativen Wiederholungsschleifen mit minimalen Variationen. Diese Aspekte - Wechselwirkung, Wiederho‐ lung und Variation - sind nun ebenso für die Kommunikationsform des globalen Dorfs kennzeichnend. Das lässt sich an Überlegungen anschließen, die bereits weiter oben im Kapitel „Pop“ formuliert wurden: Wenn es wahr sein sollte, was Medienforscher: innen unterschiedlichster Provenienz behaupten, nämlich dass die Strukturlogik der Massenmedien, zuvorderst die des Fernsehens, in einem Wechselspiel von Wiederholung und Variation zu finden ist, so fügt sich diese Perspektive nahtlos in McLuhans Beschrei‐ bung des globalen Dorfs ein. Auch dort findet sich im Wechselspiel von Wiederholung und Variation das zentrale kommunikative Strukturprinzip. Freilich kommen dabei um einiges komplexere Wechselwirkungen zum Tragen als im oralen Zeitalter: Wechselwirkungen, die instantan, auf dem gesamten Globus Effekte zeitigen sollen und unvorhersehbar neue Variati‐ onen emergieren lassen. Doch das Grundprinzip von Wiederholung und Variation kehrt aus dem oralen Zeitalter im globalen Dorf wieder. 64 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="65"?> Um nun dieses Grundprinzip angemessen zu beschreiben, muss nach McLuhan die Erforschung des globalen Dorfs genau auf dieselben Formen zurückgreifen. Das bedeutet, dass in der Form der Forschungsprosa nun Vernetzungen, Wiederholungen und Variationen virulent werden sollen. ‚Understanding (New) Media‘ heißt dann eben nicht mehr, klassische Analyse zu betreiben, den Gegenstand klar und deutlich zu bestimmen und die zentralen Punkte einsichtig zu machen. Das funktioniert in einer vernetzten, simultan operierenden holistischen Welt, wie sie McLuhan entwirft, nicht mehr. Vielmehr muss nun über angedeutete Verbindungen, Konnotationen, Wiederholungsschleifen und Variationen, also in der Form der Textorganisation, einsichtig gemacht werden, wie im elektrischen Zeit‐ alter kommuniziert, wahrgenommen und gedacht wird. Forscher: innen sollen ihre Texte ungefähr so gestalten, wie die meisten Zuschauer: innen ihre Fernsehabende. Denn diese zappen sich durch die Programme, stellen damit vorher unbedachte Zusammenhänge her und treffen aber immer wieder auf dieselben, sich wiederholenden Programme. Sie überlassen sich mitunter aber auch dem flow des heterogenen Programmablaufs, in dem unterschiedliche Formate ähnlich werden und verschmelzen. Da McLuhan zufolge gerade das Fernsehen das Leitmedium des Zeitalters der Elektrizi‐ tät darstellt und damit die Struktur des Fernsehens eben dieses Zeitalter auch idealtypisch repräsentiert, wäre McLuhans eigener Schreibstil die konsequente Umsetzung der damaligen medialen Lage oder doch zumindest die Ausformulierung seiner eigenen medientheoretischen und -historiogra‐ fischen Thesen. Insofern ist McLuhans Darstellungsweise hochgradig selbst- und medienreflexiv. McLuhans Texte als Fernsehbildschirm In diesem Zusammenhang könnte man auch noch einmal etwas anders ansetzen. Als zentraler Ausdruck und visuelle Verdichtung für die Art und Weise, wie die Wahrnehmung durch Medientechnologie im elektri‐ schen Zeitalter organisiert wird, bezieht sich McLuhan auf den Fernseh‐ bildschirm. Die Zeilenabtastung im klassischen Röhrenfernsehen erzeugt, so McLuhan, auf dem Bildschirm eine Mosaikstruktur von Lichtpunkten, 1.2 Lesarten der Form 65 <?page no="66"?> 151 McLuhan schreibt dazu: „Das Fernsehbild ist […] ein mosaikartiges Maschennetz von hellen und dunklen Punkten […].“ (McLuhan, Magische Kanäle, S. 342; Hervorhebung von mir [SG]). Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. 152 Siehe dazu: Lorenz Engell, Extensions of Man: Ernst Kapp und Marshall McLuhan, in: Maye/ Scholz (Hg.), Ernst Kapp, S. 33-46, hier: S. 40. Die Literaturwissenschaftlerin Elena Lamberti argumentiert, dass im Zentrum von McLuhans Schreibweise die Mosaikstruktur steht. Sie führt aber nicht das Fernsehen als Grund für McLuhans mosaikförmige Texte an, sondern findet Vorbilder dafür in der literarischen Moderne (siehe Lamberti, Marshall McLuhan’s Mosaic). 153 Zum Begriff der Remediation siehe ausführlicher → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Remediation“. die die Rezipient: innen aktiv zusammenfügen müssen. 151 Erst so ergibt sich ein vollständiges Bild. McLuhan denkt hier an Fernsehbildschirme mit vergleichsweise schlechter Auflösung. Diese erzeugen in der Tat ein grobkörniges Bild aus differenten und unsteten Lichtpunkten - und haben dementsprechend durchaus Ähnlichkeit mit Mosaikteilen, die im Blick der Rezeptint: innen zu einem ganzheitlichen Bild zusammengesetzt werden müssen. Da das Fernsehen aus McLuhans Perspektive sowohl die globale Vernetzung und Simultanität der Übertragbarkeit von Ereignissen ermög‐ licht und somit den Weg zu einer instantanen Vernetzung der Welt ebnet, als auch die Wahrnehmung jedes einzelnen Zuschauers und jeder einzelnen Zuschauerin vor dem Gerät durch eine spezifische Bildorganisation prägt, stellt das Fernsehen das dominante Leitmedium des elektrischen Zeitalters da. Hier greifen nicht nur die Art der elektrischen Vernetzungsform auf sozialer Ebene und die visuelle Darstellung auf Fernsehbildschirmen für die individuelle Wahrnehmung ineinander. Darüber hinaus gilt: McLuhans Texte, in denen das Fernsehens eine dominante Rolle spielt, funktionieren in gewisser Weise selbst wie ein Fernsehbildschirm. Denn ihre Struktur ergibt sich aus unterschiedlichen Mosaikteilen, die die Leser: innen aktiv zusammenfügen müssen. 152 McLuhans Textgestaltung greift so gewendet die Mosaikstruktur des Fernsehens auf und soll einen ganz ähnlichen Effekt wie die Fernsehrezeption hervorbringen. Das alte Medium, das geschrieben Wort, ahmt das neue Medium, das Fernsehen, in seiner Form nach - und wird insofern remediiert. 153 McLuhans Texte als Amplifikatoren Um eine letzte Wendung moderater medienreflexiver Deutungen von McLu‐ hans Rhetorik vorzustellen: Jana Mangold versteht McLuhans Texte, insbe‐ 66 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="67"?> 154 Vgl. Mangold, Tricksterrede, v.a.: S. 337ff.; dies., Lob der Medien: Marshall McLuhans Lobrede U N D E R S T A N D I N G M E D I A , in: Heilmann/ Schröter (Hg.), Medien verstehen, S. 15- 36. 155 Ebd., S.-18. 156 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. 157 Im englischsprachigen Original heißt das Kapitel „Wheel, Bicycle, and Airplane“. Dadurch wird nicht nur eine sukzessive raum-zeitliche Ausdehnung durch die Reihung impliziert, Wheel → Bicycle → Airplane, sondern zudem gegenläufig dazu eine alphabetische Inversion, wenn man die ersten Buchstaben des jeweils gewählten Wortes betrachtet: W → B → A. sondere die M AG I S CH E N K ANÄL E , als Lobrede auf das elektrische Zeitalter. 154 Die Lobrede ist seit der Antike eine rhetorische Gattung, die nicht primär für oder gegen etwas argumentiert (im Gegensatz zur Gerichtsrede) und nicht von moralischen Verpflichtungen überzeugen will (wie die politische Rede), sondern vor allem ein Ziel verfolgt, nämlich ihren Gegenstand zu feiern. Eine zentrale rhetorische Strategie, um dieses Ziel zu erreichen, beschreibt Mangold mit dem Begriff der amplificatio: „Unter amplificatio fasst die antike Kunst der Rhetorik sprachliche Mittel des Zuwachses, der Vergleichung, Schlussfolgerung und Häufung, die der Steigerung oder Überbietung […] eines Sachverhaltes in der Rede dienen.“ 155 Diese Charakterisierung scheint vor dem Hintergrund der hier vorgestell‐ ten kleinteiligen Analyse eines Kapitels aus D I E MAG I S CH E K ANÄL E recht plausibel. ‚Häufung‘ und ‚Zuwachs‘ bedeutet ja erst einmal nichts anderes, als dass immer und immer wieder dasselbe (in Variationen) erzählt wird - und zwar weit über das notwendige Maß hinaus. ‚Vergleichung‘ lässt sich wiederum als Prinzip der Analogie verstehen, das in McLuhans Texten, wie gezeigt, exzessiv zum Einsatz kommt. Durch dieses Mittel wird die Wichtigkeit eines Sachverhalts (‚die elektrischen Medien‘) hervorgehoben und immer weiter hervorgehoben (‚Steigerung‘ und ‚Überbietung‘), der Gegenstand damit gefeiert. Interessant wird diese Perspektive insbeson‐ dere dadurch, dass bei McLuhan die formalen Steigerungen und Überbie‐ tungen durch Zuwachs, Vergleichung und Häufung in vielen Fällen mit inhaltlich Steigerungen und Überbietungen des Sachverhaltes, um den es geht, gekoppelt sind. Konkret bedeutet das: Immer wieder gibt es eine räumliche Ausweitung und Beschleunigungslogik, wenn es um die Körper‐ ausweitungsthese McLuhans geht. 156 Bereits die Überschrift des 19. Kapitels, „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ macht das deutlich. 157 Von der Erfindung des Rades als Ausweitung des Fußes über das Fahrrad zum Flugzeug wird eine räumliche Ausweitung sowie eine Beschleunigung im Lauf des historischen 1.2 Lesarten der Form 67 <?page no="68"?> Prozesses impliziert. Durch diese Überschrift ergibt sich also das prozess‐ hafte Bild eine Ausweitung und Überbietung im Laufe medienkultureller Entwicklung. Auf diese Überschrift folgen dann Abschnitten, die diese raum-zeitlichen Ausweitungen und Überbietungen in diversen Variationen wiederholen, also ‚häufen‘. Zur Verdeutlichung sei nur auf Abschnitt 3 näher eingegangen (vgl. noch einmal Abb. 1). Dort geht die (Ausweitungs-)Reise vom Rad via Pferdegeschirr zum Pferdewagen (für den Gütertransport auf dem Land), von dort zum Pferdewagen (für den Transport von Menschen in der Stadt), weiter zum Auto (als Individualverkehr zwischen Stadt und Land), zum Flugzeug (als transkontinentales Transportmittel von Menschen) und von dort aus zum Informationszeitalter, in dem man nicht mehr Reisen muss, sondern alles (mittels Fernsehen oder auch Computertechnologie) miteinan‐ der simultan vernetzt sein soll. Die zeitlich-räumliche Ausweitung ist auch in dieser Reihung offensichtlich. Am Ende steht die entscheidende Zäsur in Form einer Inversion: Das Informationszeitalter, in dem wir laut McLuhan nunmehr leben, ist nicht mehr die Ausweitung der Füße, sondern die Ex‐ ternalisierung des Zentralnervensystems (durch Telegrafie und Fernsehen). Alles ist nunmehr vernetzt; Informationen überall gleichzeitig zugänglich. (Körper-)Ausweitung und Überbietung könnten weiter kaum gehen (vgl. Abb. 5). Sie stellen den Endpunkt dar, auf den McLuhans Darstellungen immer wieder in Variationen zulaufen. Man könnte auch formulieren, dass McLuhan immer wieder zu einer Lobrede der medientechnologischen Gegenwart ansetzt durch diese Steigerungslogik. McLuhans Texte sind so verstanden Amplifikatoren: rhetorische Verstärkungen, um auf die enorme Relevanz gegenwärtiger elektrischer Medientechnologie hinzuweisen. 68 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="69"?> 158 angold selbst geht ebenfalls genau auf das Kapitel „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ ein, um zu verdeutlichen, dass hier Uneindeutigkeit, Fremdartigkeit und Dynamisierung des Bedeutungsgehaltes insbesondere durch die Verwendung von Metaphern strategisch erzeugt wird, siehe: Mangold, McLuhans Tricksterrede, S.-429ff. Simultanität historische Zeit Textverlauf Beschleunigung Abb. 5: Erweiterung und Beschleunigung im textuellen und historischen Verlauf Hinzu kommt durch die vielen Leerstellen, die häufig unklaren Kausalitäten zwischen den Entwicklungsschritten, den Sprüngen in der Argumentati‐ onsfolge, die Pointierungen, den Analogiereihen, dass McLuhans Texte in vielen Aspekten ambig, also mehrdeutig bleiben. Diese Ambiguität, so könnte aus rhetorischer Perspektive argumentiert werden, ist durchaus kalkuliert. Denn in dieser Weise wird die neue mediale Konstellation des elektrischen Zeitalters, seine Funktionsweisen und Effekte als fremdartig ausgewiesen, als neu, wichtig, aber eben (noch? ) undurchsichtig - so neu, schnell, komplex vernetzt und undurchsichtig, dass die klassische wissenschaftlichen Argumentationslogik (jede Wirkung hat eine Ursache, kohärente argumentative Ableitungen und Schlussfolgerungen oder auch die Eindeutigkeit von Begriffsbestimmungen) obsolet wird. 158 Genau das wird in McLuhans Rhetorik mitkommuniziert - als Lobrede des neuen medialen Zeitalters. McLuhans Texte sind aus dieser Perspektive hochgradig medienreflexiv, reagieren sie doch außerordentlich sensibel auf die neue unübersichtliche mediale Lage - gerade in ihrer Form. 1.2 Lesarten der Form 69 <?page no="70"?> 159 Siehe dazu ausführlicher → 3. Lesart: Kritik, Kap. „Das Problem des performativen Selbstwiderspruchs“. Radikale Lesart der Medienreflexion Die Zielrichtung McLuhan’scher Medienreflexion könnte noch radikaler interpretiert werden. Dann nämlich, wenn man seine systematische Haupt‐ these tatsächlich ernst nimmt. Sollte es zutreffen, dass das Medium die Botschaft ist, dann bedeutet das: Der mediale Träger, mit dem eine Botschaft übermittelt wird, bestimmt, was übermittelt und wie es verstanden werden kann. Der vermeintliche Inhalt einer Botschaft ist irrelevant. Konsequent weitergedacht heißt das dann aber ebenso: Auch die Botschaften von McLuhans Texten sind irrelevant, denn die eigentliche Botschaft liegt ja im gewählten Medium, in diesem Fall in den Büchern, und findet sich nicht in deren Inhalt - und sei dieser Inhalt auch eine These, die behauptet, der Inhalt ist irrelevant. Aus dieser Perspektive befindet sich McLuhan in der ungemütlichen Lage eines performativen Selbstwiderspruchs: Sollte das, was er schreibt, wahr sein, dann könnte er das, was er schreibt, nicht mit einem Wahrheitsanspruch formulieren bzw. es müsste schlicht falsch sein. Oder anders formuliert: Die Anweisung ‚Betrachte nicht den Inhalt des Mediums, denn dieser ist für die Wirkung des Mediums irrelevant, achte stattdessen auf seine Form, wenn Du etwas über die Wirkungsweise des Mediums erfahren möchtest‘ ist selbstwidersprüchlich, schlicht weil wir doch gerade, um diesen Satz überhaupt verstehen zu können, auf seinen Inhalt achten müssen und nicht auf seine Form. 159 Aber hier wird die Form, die McLuhan wählt, um seine Thesen und Beobachtungen zu formulieren, interessant. Die Form von McLuhans Prosa bietet nämlich einen, wenngleich sehr indirekten Ausweg aus dem eben beschriebenen Dilemma. Nach McLuhan gehen mit dem Medium Buch diverse konventionalisierte Präfigurationen für die Textgestaltung einher. Bspw. impliziert dieser mediale Träger die Forderung nach kohärentem Textverlauf, argumentativer Folgerichtigkeit, sukzessiver Entfaltung eines Gegenstandes, Problemformulierung am Anfang und am Ende einen Lö‐ sungsvorschlag. McLuhan selbst gestaltet indes seine Bücher gegen diese Präfigurationen. Dort wird der Gegenstand nicht kohärent entfaltet, ver‐ netzt werden kategorial unterschiedliche Phänomene, verzichtet wird auf klare Problemstellungen wie auf eindeutige Lösungen, Formulierungen variieren und ziehen Redundanzschleifen. Man könnte Sinn und Zweck 70 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="71"?> 160 Siehe dazu ausführlich: Hubert van den Berg/ Walter Fähnders (Hg.), Metzler Lexikon Avantgarde, Stuttgart/ Weimar 2009. Siehe zur literarischen Tradition, in der McLuhan steht, ausführlich: Lamberti, Marshall McLuhan’s Mosaic. 161 Siehe bspw.: McLuhan, Letters, S. 443ff.; ders., Magische Kanäle, S. 59 oder bereits 1954: ders., Joyce, Mallarmé und die Presse [1954], in: ders., Die innere Landschaft. Literarische Essays, Berlin 1974, S.-21-39. dieser Textoperationen folgendermaßen verstehen: Die ansonsten selbstver‐ ständlich und wie natürlich ablaufenden medialen Prozesse sollen gestört, die Rezeption dadurch irritiert werden, um so auf die präfigurierenden Effekte des Mediums zu verweisen. Die Medialität des Buches wäre somit in der Form der Darstellung reflektiert, nämlich dadurch, dass eine dem Medium unangemessene oder doch zumindest zutiefst unkonventionelle Form gewählt wird. Vielleicht weiß man dadurch noch immer nicht, wie das Medium genau seinen Inhalt formt. Jedoch erkennt man zumindest, welche es nicht sind. In diesem Sinne praktiziert McLuhan eine Art negative Medientheorie der Form: Er macht das, was nicht direkt sagbar ist, was sich immer schon dem Sagbaren entzieht - eben die Präfigurationen des Mediums - durch die Wahl unangemessener Formen ex negativo sichtbar. 1.2.3 Hypothesenbildung Neben medialer Formreflexion und dem Zusammenhang mit populärkultu‐ rellen Phänomenen lässt sich noch eine weitere Affinität McLuhan’scher Prosa ausfindig machen, nämlich deren Nähe zur Kunst des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, zur sogenannten klassischen Avantgarde. 160 Diese Verbundenheit zeigt sich dadurch, dass McLuhan selbst ständig Positionen und Werke der klassischen Avantgarde als maßgebliche Referenzfolien für seine eigenen kulturgeschichtlichen und medientheoretischen Thesen anführt. Vor allem James Joyce ist eine maßgebliche Autorität für McLuhan, wenn es um die Reflexion medialer Effekte geht. 161 Die Affinität zeigt sich weiterhin in der Übernahme einiger formaler Prinzipien, die mit der klassi‐ schen Avantgarde stilbildend wurden. Wichtiger aber als der bloße Verweis darauf, dass McLuhan auch einige avantgardistische Verfahrensweisen übernommen hat, ist die Frage nach Sinn und Zweck dieser Übernahmen in einen wissenschaftlichen Text. Diese Frage lässt sich in aller Kürze wie folgt beantworten: Zum einen soll damit die Wahrnehmung der Rezipient: innen gestört werden. Sie sollen regelrecht gezwungen werden, bei der Lektüre des Kunstwerkes selbst kreativ zu werden. Diesen Effekt will auch McLuhan 1.2 Lesarten der Form 71 <?page no="72"?> 162 Marshall McLuhan, Probleme der Kommunikation mit Menschen mittels Medien [1969], in: ders., Wohin steuert die Welt? Massenmedien und Gesellschaftsstruktur, Wien u. a. 1978, S. 42-72, hier: S. 49. Auch seine eigene Prosa beschreibt McLuhan in seinen Büchern erzielen. Zum anderen ist es McLuhan möglich, mit dem Einsatz avantgardistischer Verfahrensweisen künstlerische Strategien als Mittel zur forschungsleitenden Hypothesenbildung einzusetzen und in der Textstruktur selbst als eine Art ästhetischer Entdeckungsmethode zu inszenieren. Beide Aspekte sollen im Folgenden etwas näher betrachtet werden. Avantgarde Was auch immer sonst noch die klassische Avantgarde ausmachen mag, ein zentrales Merkmal ist sicherlich die Multiperspektivität - sei es, dass im Kubismus ein Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven simultan auf einer Bildfläche erscheint oder sei es, dass in Virginia Woolfs Romanen die Erzählperspektive durch unterschiedliche Figuren flaniert. Weiterhin operieren diese Werke mit einem massiven Einsatz von Leerstellen. So ist in James Joyce F INN E GAN S W AK E von Abschnitt zu Abschnitt häufig ein abrupter Wechsel des Themas, der Perspektive, des Stils oder der zeitlichen Verortung auszumachen. Verbunden sind damit zumeist exzessive Abschweifungen vom ‚eigentlichen‘ Gegenstand, Assoziationsreihen und Wortspiele, die - und dafür ist wiederum vor allem die surrealistische Dichtung bekannt - auf dem Prinzip der Kombinatorik basieren. Phänomene werden hier zusammengebracht, die weder kausal aufeinanderfolgen noch kategoriale Gemeinsamkeiten aufweisen. Damit - zumindest dann, wenn man den Selbsteinschätzungen der Avantgardist: innen folgt - werden Wahrnehmungsstörungen provoziert. Die Rezipient: innen sollen regelrecht schockiert werden, um ihren Blick zu entautomatisieren, also die eingeübten, als natürlich empfundenen, jedoch tatsächlich stereotypen Wahrnehmungsschemata zu zersetzen. Damit gehen mindestens drei hehre Ziele einher: Erstens soll Kritik geübt werden an konventionellen Darstellungsformen. Zweitens ist damit die Hoffnung auf Befreiung der Wahrnehmung von Zwängen und Zurichtungen verbunden. Die Rezipient: innen werden aufmerksam gemacht auf die Vielzahl der Betrachtungsmöglichkeiten bzw. die Vielfalt und Heterogenität der Welt. In diesem Sinne beschreibt McLuhan Kunst generell als ein „Gegenmilieu“, 162 72 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="73"?> ähnlich: „Wie auch immer, ich bin Anti-Umwelt.“ (McLuhan, Testen bis die Schlösser nachgeben, S.-93) 163 Siehe dazu ausführlicher 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Kuns als Medienökologie der Gegenumwelten“. 164 Siehe: Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main 11 1977. 165 McLuhan, Testen, bis die Schlösser aufgehen, S.-76. das durch ihre Störungen (‚gegen‘) überhaupt erst auf die Bedingungen und Limitierungen der Umwelt bzw. unserer Lebenswelt, mitsamt ihren Wahrnehmungs- und Denkschemata, aufmerksam macht. 163 Drittens wird den Rezipient: innen eine kreative Rolle zugewiesen: Da diese Kunstwerke mit einem hohen Anteil an Leerstellen operieren und damit die semantische, sinnhafte Schließung der Lücken zwischen einzelnen Textpassagen sehr viele Möglichkeiten bereithalten, ist es weitestgehend den Rezipient: innen überlassen, die Lücken sinnvoll zu schließen. Konfrontiert mit solchen, wie es Umberto Eco nennt, ‚offenen Kunstwerken‘, 164 müssen die Rezipient: in‐ nen hochgradig kreativ Deutungen generieren, um den Text zu vervollstän‐ digen und so überhaupt erst lesbar zu machen. Der Aktivierungsappell an die Leser: innen, selbst kreativ an dem Text zu arbeiten, ist dementsprechend um einiges höher als bei Werken, die mit klaren kausalen Verkettungen und narrativen Plausibilitäten operieren. Diese Emphase der klassischen Avantgarde übernimmt McLuhan. Sie ist tief in die Form seiner Prosa eingeschrieben. Wenngleich McLuhans Texte kaum die Radikalität vieler bis heute als unlesbar geltender literari‐ scher Avantgardetexte haben - ein besonders gutes Beispiel ist hier das Werk, das McLuhan zeitlebens am meisten schätzte, nämlich der bereits erwähnte Roman F INN E GAN S W AK E von Joyce -, so weisen sie doch zumindest einige der Merkmale eines klassischen avantgardistischen Textes auf. In McLuhans Texten, wie die Analyse des Kapitels „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ gezeigt hat, lässt sich bspw. der häufige Einsatz von Leerstellen ausma‐ chen. Zudem finden sich viele Assoziationsketten, ebenso kombinatorische Analogien. Weiterhin formuliert McLuhan explizit das hehre Ziel vieler Avantgardist: innen als sein eigenes: Durch Wahrnehmungsstörungen sollen die Rezipient: innen zu neuen, komplexeren, kritischeren oder kreativeren, auf jeden Fall aber besseren Einschätzungen und Wahrnehmungen der Welt, der Kulturgeschichte und nicht zuletzt der Medien gelangen. Dementspre‐ chend sind D I E MAGI S CH E N K ANÄL E , wie McLuhan schreibt, dafür da, „eine Entdeckungsarbeit einzuleiten.“ 165 1.2 Lesarten der Form 73 <?page no="74"?> 166 Ebd. Entdeckungsmethode Diese ‚Entdeckungsarbeit‘ wird eben durch die Form der Texte ‚eingeleitet‘. McLuhans ‚Werkzeugkasten‘ besteht aus Leerstellen, Wortspielen, Assozi‐ ationsreihen und vor allem kombinatorischen Analogieschlüssen. Hieran lässt sich wunderbar das dominierende Generierungsverfahren der Hypo‐ thesen McLuhans zeigen: Die Welt wird nach Ähnlichkeiten durchforstet, womit neue Betrachtungsweisen möglich werden. In der rhetorischen Argu‐ mentationslehre der antiken Rhetorik wird so etwas inventio genannt: Finde‐ kunst. Analogieschlüsse, Wortspiele, Assoziationsreihen sind bei McLuhan Instrumente zum Finden von Argumenten und neuen möglichen Perspekti‐ ven. McLuhans Texte verfahren so gesehen nicht nach einer traditionellen Forschungslogik, in der die Argumente klar entfaltet, verifiziert oder falsifi‐ ziert werden. Vielmehr führt McLuhan in die Forschung eine Art ästhetische Entdeckungsmethode ein. Eine solche Methode besagt erstens, dass durch Analogien, Wortspiele und Assoziationen fruchtbare Hypothesen hervor‐ zubringen sind. Zweitens wird die Methode in actu vorgeführt. Nicht die systematisierten Ergebnisse finden sich in McLuhans Texten, sondern wir verfolgen den Forscher bei der allmählichen Verfertigung der Hypothesen während seiner Erkundungen. McLuhan selbst schreibt diesbezüglich: „Ich lasse mich einfach vor dem Problem nieder und fange an zu arbeiten. Ich taste, ich suche, ich lausche, ich teste […].“ 166 Drittens sind im Textgefüge einige Leerstellen gesetzt. Damit wird nicht der gesamte Erkundungsprozess dokumentiert, sondern die Leser: innen werden aufgefordert, selbst in ähn‐ licher Weise kreativ auf Entdeckungsreise zu gehen - ‚zu tasten, zu suchen, zu lauschen, zu testen‘. 1.2.4 Gott McLuhans Textorganisation lässt sich noch - und hier tritt zu den vorher‐ gehenden Deutungen doch eine erhebliche Spannung auf - in eine ganz andere Richtung interpretieren, nämlich in eine theologische. Häufig wird McLuhan als theologischer, genauer noch katholischer Denker beschrieben. Hierbei wird so gut wie immer zunächst auf seine Biografie verwiesen - McLuhan konvertierte im Jahr 1937 zum Katholizismus -, um dann auf die inhaltliche Nähe von McLuhans Mediengeschichte zur Heilsgeschichte auf‐ 74 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="75"?> 167 Früh findet man diese Sicht schon bei: Miller, McLuhan, S. 26ff.; siehe auch: Hartmut Winkler, Die magischen Kanäle, ihre Magie und ihr Magier. McLuhan zwischen Innis und Teilhard de Chardin, in: Kerckhove u.-a. (Hg.), McLuhan neu lesen, S.-158-168. 168 Eine Ausnahme bildet hier: John Durham Peters, McLuhans grammatische Theologie, in: Kerckhove u. a. (Hg.), McLuhan neu lesen, S. 61-75. Siehe dazu auch (wenngleich kritisch): Mangold, McLuhans Tricksterrede, S.-84f. 169 Siehe: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissen‐ schaften [1966], Frankfurt am Main 1971. 170 Ebd., S.-46. merksam zu machen. 167 Wie zutreffend diese Interpretationen auch immer sein mögen, sie beschränken sich zumeist auf die inhaltliche, argumentative Ebene. Die Darstellungsform hingegen wird nicht in den Blick genommen, obwohl genau hier die interessantesten Affinitäten von McLuhans Texten zu bestimmten theologischen Auffassungen zu finden sind. 168 Episteme der Analogie Um diese formale Affinität einsichtig zu machen, muss zunächst ein we‐ nig ausgeholt werden. Weiter oben wurde bereits mehrmals die Vorliebe McLuhans für Analogien vermerkt. Michel Foucault weist dieser Denk- und Darstellungsform einen spezifischen historischen Ort in seiner A R CHÄO L O GI E D E R H UMANWI S S E N S CHA F T E N zu. 169 Im analogischen Denken manifestiert sich nach Foucault ein vormodernes Erkenntnisprinzip, das sich fundamental von den Epistemen moderner Wissensgenerierung und -organisation unter‐ scheidet. Vereinfacht formuliert: Auf der Seite der Vormoderne steht das Analogiedenken, aufseiten der modernen Wissenschaft die abstrakte Klas‐ sifikation von Dingen. In D I E O R DNUN G D E R D IN G E charakterisiert Foucault die vormoderne Episteme demgemäß wie folgt: Bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts hat die Ähnlichkeit im Denken (savoir) der abendländischen Kultur eine tragende Rolle gespielt. Sie hat zu einem großen Teil die Exegese und Interpretation der Texte geleitet, das Spiel der Symbole organisiert, die Erkenntnis der sichtbaren und unsichtbaren Dinge gestattet und die Kunst ihrer Repräsentation bestimmt. Die Welt drehte sich in sich selbst: die Erde war die Wiederholung des Himmels, die Gesichter spiegelten sich in den Sternen, und das Gras hüllte in seinen Halmen die Geheimnisse ein, die dem Menschen dienten. 170 1.2 Lesarten der Form 75 <?page no="76"?> 171 Ebd., S.-51. 172 Ebd. 173 Ebd., S.-52. 174 Siehe zu diesem Beispiel: ebd., S.-58. 175 Rolf Schönberger, Thomas von Aquin zur Einführung, Hamburg 1998, S.-43. 176 Ebd., S.-27. Diese Verbundenheiten und Spiegelungen können gerade in Analogie‐ schlüssen idealtypisch nachgezeichnet bzw. dargestellt werden, hat doch die Analogie, so wiederum Foucault, ein „universales Anwendungsfeld“ 171 : „Durch sie können sich alle Gestalten der Welt einander annähern.“ 172 Diese „analogische […] Kosmographie“, 173 wie Foucault es nennt, steht in harschem Gegensatz zur modernen wissenschaftlichen Erkenntnisweise. Es gibt keine Klassifikationsschemata, die die Dinge eindeutig zuordnen, differenzieren und hierarchisieren; kategorial unterschiedliche Dinge werden vermischt; anstatt eindeutiger kausaler Ableitungen werden (oftmals kryptische und opake) Ähnlichkeitsverhältnisse und Abhängigkeiten postuliert. So etwa sollen Kopfschmerzen durch den Kern einer Nuss vertrieben werden kön‐ nen, allein weil der Kern einer Nuss und das Gehirn eine ähnliche Oberflä‐ chenstruktur aufweisen. 174 Dabei geht es ganz augenscheinlich weniger um formale Logik oder differenzierte Argumentation als vielmehr um Evidenz mittels Ähnlichkeit. Die Faszination solch einer Sichtweise dürfte wohl (auch noch heute) nicht zuletzt darin liegen, dass sie verspricht, Dinge verstehbar zu machen oder zumindest doch Weltverhältnisse anzudeuten, die argumentativ nicht einholbar sind. Dementsprechend ist es wenig verwunderlich, dass auch und gerade in der theologischen Tradition solch eine ‚analogische Kosmografie‘ lange Zeit Konjunktur hatte. Denn: „Innerhalb der Theologie kann es […] in der Regel lediglich ‚Konvenienzgründe, Wahrscheinlichkeitsgründe‘ (rationes versimiles) geben, eine Form von Einsicht, welche auf Vergleichen und Analogien beruht […].“ 175 Gott bzw. der Schöpfungsgrund ist, so urteilt etwa der für das Mittelalter maßgebliche Theologe Thomas von Aquin, ar‐ gumentativ nicht einholbar, schlicht weil Gott „unendlich die Möglichkeiten menschlicher Einsicht“ 176 übersteigt. Etwas argumentativ nicht erkennen zu können, heißt aber, zumindest aus dieser theologischen Perspektive, nicht, es überhaupt nicht erkennen zu können. Den menschlichen Sinnes‐ wahrnehmungen ist es nämlich möglich, Muster und Strukturen in den Dingen zu erkennen. Diese lassen sich per Analogie aufeinander beziehen und in einen Zusammenhang bringen. Dadurch wird das ihnen zugrunde 76 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="77"?> 177 Peters, McLuhans grammatische Theologie, S.-67. 178 McLuhan, Letters, S. 368f. Inzwischen gibt es auch eine eigenständige Anthologie von Äußerungen McLuhans zur Religion - siehe: Marshall McLuhan, The Medium and the Light. Reflections on Religion, hrsg. von Eric McLuhan/ Jacek Szklarek, Eugene 2010, dort ist der zitierte Brief ebenfalls abgedruckt (siehe: ebd., S.-69). 179 Zur Rezeption von Thomas von Aquin und dem analogischen Denken bei McLuhan knapp, aber instruktiv: Florian Sprenger, Medien des Immediaten. Elektrizität - Tele‐ graphie - McLuhan, Berlin 2012, S.-377f., 392 f. 180 Zu einer genauen (aber etwas anders als hier gelagerten) Lektüre dieser Dissertation siehe: Mangold, McLuhans Tricksterrede, S.-74ff. liegende Strukturprinzip bzw. der göttliche Logos erkennbar, wenngleich nicht argumentativ beweisbar. Das ist Thomas von Aquins Prinzip der Noesis, „d.h. des Prozesses, in dem sinnliche Wahrnehmung das Universum durch Analogien in eine Gesamtheit des Verstehens filtert.“ 177 Diese Filterung mittels Analogie soll es also möglich machen, Gott bzw. den göttlichen Logos zu erkennen. In McLuhans Texten stellen Analogien ein zentrales Moment dar. Und McLuhan selbst verweist sehr häufig darauf, dass ihn sein analogisches Vorgehen als ‚Thomist‘, also als Anhänger der Lehre Thomas von Aquins, identifizierbar macht. In einem Brief schreibt McLuhan diesbezüglich: „[…] I am a Thomist for whom the sensory order resonates with the divine Logos. I don’t think concepts have any relevance in religion. Analogy is not concept. It is community. It is resonance. It is inclusive. It is the cognitive process itself.“ 178 Angesichts solcher Aussagen und eingedenk der Dominanz des Analogieprinzips in McLuhans Werk dürfte es nicht allzu kühn sein, McLuhan vor dem Hintergrund Aquin’scher Theologie lesen zu wollen. 179 McLuhan operiert ganz eindeutig mit theologischen Instrumentarien, um seine Kultur- und Mediengeschichte zu entfalten und einsichtig zu machen. So verstanden wären McLuhans Texte, im Sinne Foucaults, der Episteme der Vormoderne verpflichtet, ja hinsichtlich ihrer theoretischen Grundlagen in der Theologie des Mittelalters zu situieren. Grammatik Genau betrachtet lässt sich diese Traditionslinie sogar noch weiter zurück‐ verfolgen, bis hinein nämlich in die Lehren des klassischen Triviums aus Rhetorik, Dialektik und Grammatik. McLuhan beschäftigte sich bereits in seiner Dissertation mit der Geschichte des Triviums von der Antike bis zur Renaissance. 180 Die Geschichte, die McLuhan in seiner Dissertation entwirft, ist, wie Peters anmerkt, „eine parteiliche Geschichte, die aus 1.2 Lesarten der Form 77 <?page no="78"?> 181 Peters, McLuhans grammatische Theologie, S.-62 (Hervorhebung von mir [SG]). 182 Ebd., S.-63f. 183 Siehe dazu: Marshall McLuhan, The Classical Trivium: The Place of Thomas Nashe in the Learning of His Time [Diss. 1943, zunächst unveröffentlicht], hrsg. v. W. Terrence Gordon, Berkeley 2006; siehe auch: Gordon, McLuhan, S.-331. dem spezifischen Blickwinkel der Grammatik erzählt wird […].“ 181 Denn McLuhan behauptet, dass im Laufe der abendländischen Kulturgeschichte die Dialektik immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zog und letztlich in die Dominanz moderner wissenschaftlicher Prinzipien mündete, während die Rhetorik als Kunst der Präsentation von Argumenten und - noch weit wichtiger - die Grammatik als argumentative Praxis und Wissensform marginalisiert worden sind. Unter Grammatik ist hier nicht einfach die Erforschung der Syntax zu fassen, vielmehr ist es nach McLuhan eine spezifische Erkenntnis- und Wissensform. Die klassischen Grammatiker verstanden Grammatik als Kunst der Interpretation im Allgemeinen, die sich über Literatur hinaus auf das Universum selbst bezog. Die Grammatiker gehen von einer Beziehung ‚zwischen der Ordnung der Rede und der Sprache und der Ordnung der Natur‘ aus. […] Grammatiker sind Alchimisten und Enzyklopädisten, die ihren Auftrag darin sehen, alles in einem Bezug auf die grammatikalischen Formen einer zugrunde liegenden sprachlichen Ordnung zu verstehen und zu untersuchen. […] Grammatik ist der Königsweg zur Lektüre sowohl biblischer Schriften wie auch der Natur. 182 Die Grammatik sucht McLuhan zufolge nach diesen fundamentalen Struk‐ turen in Worten und Dingen vor allem mit Hilfe von Analogieschlüssen. 183 Dementsprechend gilt: Weniger die argumentative Kohärenz und Ablei‐ tung ist hier wichtig; keine Klassifikationssysteme werden erstellt. Viel entscheidender ist es, die Verhältnisse, Relationen und eben Ähnlichkeiten der Dinge und Worte in den Blick zu nehmen. Dieser Argumentationsform (und ihrer zunehmenden Marginalisierung) spürt McLuhan in seiner Disser‐ tation nach. Einen zentralen Kulminationsknoten grammatischen Denkens findet McLuhan dabei bei einigen Vertretern der mittelalterlichen Theologie, Stichwort Thomas von Aquin, die nach McLuhans Verständnis vorrangig Grammatiker gewesen sind. McLuhan will aber nicht nur die Geschichte der Grammatiker nachzeich‐ nen. Erstens ist es, wie bereits vermerkt, eine ‚parteiliche‘ Geschichte: Die Marginalisierung der Grammatik wird kritisiert. Zweitens macht sich McLuhan am Ende seiner Arbeit darüber Gedanken, wer denn heute noch 78 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="79"?> 184 Skeptisch verhält sich Jana Mangold zu diesem Argument, siehe: Mangold, McLuhans Tricksterrede, S.-74ff. 185 Peters, McLuhans grammatische Theologie, S.-62. 186 McLuhan, Magische Kanäle, S.-18. einer grammatikalischen Denkweise verpflichtet sein könnte und wird hier bei James Joyce fündig. Drittens - und das ist hier entscheidend - setzt er sich selbst in diese Tradition. Und die folgenden Publikationen McLuhans lassen sich genau in diesem Sinne verstehen, nämlich als Fortsetzung grammatischer Argumentations- und Erkenntnisformen. 184 Damit dürfte auch nachvollziehbar sein, warum Peters McLuhan als „grammatischen Theologen“ 185 bezeichnet, setzt sich McLuhan selbst doch explizit in diese Tradition und organisiert überdies seine Texte nach ‚grammatischen‘ Prin‐ zipien. McLuhans Texte bieten aber weit mehr als bloße Imitation mittelalter‐ licher Theologie. Liegen seinen Texten tatsächlich ähnliche Prämissen zu‐ grunde, wie denen Thomas von Aquins, so steht doch die Darstellungsform in einiger Differenz zu derjenigen mittelalterlicher Theologen. Von diesen unterscheiden sich McLuhans Texte unter anderem durch die ironische Dis‐ tanziertheit, die Sprunghaftigkeit der Argumentation, die Assoziationsrei‐ hen und nicht zuletzt durch die vielen Leerstellen. Damit nähern sich McLu‐ hans Texte den Prinzipien der klassischen Avantgarde bzw. der Pop-Art an, wie sie oben beschrieben wurden, also den Prinzipien moderner Kunst. McLuhans Texten liegen also nicht einfach nur ‚grammatische‘ Prämissen der Theologiegeschichte zugrunde; seine Texte beinhalten nicht nur ein paar Analogien, die die Ähnlichkeit der Dinge und Worte ausarbeiten, um damit auf den Zusammenhang aller Dinge, ja auf deren scheinbare „Harmonie“ 186 in Gottes Schöpfung hinzuweisen. Die Texte reagieren vielmehr in ihrer Form auf ein zentrales Problem ‚analogischer Kosmografie‘, das McLuhans Texte als zutiefst moderne Texte ausweist. Das Problem ‚analogischer Kosmografie‘ fasst wiederum Michel Foucault sehr präzise: [D]ie Ähnlichkeit bleibt niemals in sich selbst fest, sie wird nur fixiert, wenn sie auf eine andere Ähnlichkeit verweist, die ihrerseits neue anspricht, so daß jede Ähnlichkeit nur durch Akkumulation aller anderen ihren Wert erhält und die ganze Welt durchlaufen werden muß, damit die geringste Analogie gerechtfertigt wird und schließlich als gesichert erscheint. Es handelt sich also um ein Wissen, das durch unendliche Anhäufung von Bestätigungen, die sich einander auflösen, 1.2 Lesarten der Form 79 <?page no="80"?> 187 Foucault, Ordnung der Dinge, S.-61. 188 Ebd. 189 McLuhan, Magische Kanäle, S.-50. vorgehen kann und muß. Dadurch ruht dieses Wissen mit seinem Fundament auf sandigem Boden. 187 Analogiedenken kämpft also mit dem Problem der Unendlichkeit. Nie wird ein mittels Analogie erzeugtes Wissen gesichert sein können; per se gibt es unendlich viele mögliche Ähnlichkeiten. Diese müssten alle durchlaufen werden, was unmöglich ist, um zu einer gesicherten Erkenntnis zu kommen, bspw. um sich der Existenz Gottes zu versichern. ‚Analogische Kosmografie‘ ruht also tatsächlich, wie Foucault schreibt, ‚auf sandigem Boden‘ und er‐ reicht niemals das „Ende einer unendlichen Bahn“. 188 Genau hier kommt die Form der Darstellung als Problemlösungsstrategie ins Spiel. Die romantische Literatur eines Friedrich Schlegels oder Novalis hat sich dem Problem der Repräsentation gestellt. Stark vereinfacht lautet die Problemstellung der Romantiker um 1800: Wie kann das Unendliche dargestellt werden, obwohl nur Endliches mit Worten bezeichnet werden kann? Ihre Antwort: durch die Form der Verweisungen. Nicht durch Argumente und Inhalte wird die Unendlichkeit darstellbar, nicht durch einzelne Analogien (der Kern der Nuss ist wie das Gehirn, der Fuß wie das Rad etc.). Stattdessen wird eine möglichst komplexe, möglichst nicht letztendlich deutbare Vernetzung der einzelnen Textsegmente angestrebt, um indirekt auf das Unendliche zu verweisen. Analog dazu lässt sich McLuhans Schreibweise lesen: Zwar geht es bei McLuhan auch inhaltlich, also in einem traditionellen, vormodernen Sinne um Analogien. Aber sehr viel wichtiger wird die Vernetzung der Textteile untereinander. Wenngleich sich hier keine radikale Diskontinuität findet, wie etwa in den A TH E NÄUM S -F R AGME NT E N Schlegels, ist dennoch sein Dar‐ stellungsprinzip der „konzentrischen Spirale mit sichtbarer Redundanz“ 189 verbunden mit radikalen Zäsuren und Sprüngen, deutungsoffenen Slogans, ironischen Distanzierungen und Multiperspektivität. Damit verweisen die Texte McLuhans auf einen unendlichen, argumentativ nicht vollständig ein‐ holbaren Zusammenhang aller Phänomene. Das Problem der Unendlichkeit ist damit argumentativ nicht gelöst, aber das Prinzip der Analogie ist in die Form der Darstellung gewandert, macht dort die Zusammengehörigkeit aller Phänomene evident und eben nicht mehr auf der Ebene einzelner Analogien. 80 1 Lesart: Rhetorik - McLuhan singen <?page no="81"?> 190 Siehe bspw.: McLuhan, Letters, S.-368f. 191 Siehe dazu: Sprenger, Medien des Immediaten, S.-393. In diesem Zusammenhang ist McLuhans Unterscheidung zwischen Kon‐ zepten und Perzepten instruktiv. 190 Konzepte sind zu verstehen als Klassi‐ fikationssysteme, aus denen logische Beweisführungen abgeleitet werden können; Perzepte hingegen zeigen per Analogie etwas, machen etwas evident, ohne es argumentativ einholen zu können, ohne es direkt sagen zu können. Analogien können strikt genommen ebenso wenig unmittelbar gesehen werden (entweder ist da die Nuss abgebildet oder das Gehirn, nicht beides gleichzeitig am selben Ort). Analogien müssen in die Dingen imaginativ hineingesehen werden. 191 Die Texte McLuhans zeigen uns in ihrer Form etwas, was sie nicht direkt sagen können und auch nicht direkt zeigen können. Sie zeigen uns vielmehr in ihrer Form, in ihrem textuellen Verweisungen indirekt den göttlichen Logos, der alles zusammenhält. So verstanden ist McLuhan tatsächlich durch und durch ein ‚theologischer Grammatiker‘. Oder genauer noch müsste man formulieren: Er ist ein theologischer Avantgardegrammatiker. Rhetorik der Form Dass McLuhans Darstellungsweise Elemente der Pop-Art bereithält, medi‐ enreflexive Züge trägt, Wahrnehmungsschemata irritiert, zur Hypothesen‐ generierung taugt und uns darüber hinaus den göttlichen Logos offenbart, das verweist eindrücklich noch einmal auf eines der Grundprinzipien der Texte McLuhans, nämlich die Ähnlichkeit. Buchstäblich ‚alles‘ zwischen Pop und Gott ist ähnlich und in McLuhans Texten aufgehoben. Aber nicht die inhaltlichen Argumente sind dabei das eigentlich Interessante, sondern die Rhetorik der Form. In dieser Lesart ist die Form die eigentliche Botschaft. 1.2 Lesarten der Form 81 <?page no="83"?> 192 Peters, McLuhans grammatische Theologie, S.-61. 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen McLuhan verstehen zu wollen, ist ein schwieriges Unterfangen. Darüber zumindest scheint man sich in der Sekundärliteratur einig zu sein. So schreibt etwa John Durham Peters: McLuhan […] zu lesen konfrontiert uns mit einem klassischen Problem der Hermeneutik. Wie kann man jemanden lesen, der sich nicht lesen lässt? Welche Teile seines Werkes sollen wir lesen? […] Geht es um den Professor der Anglis‐ tik, der 1951 T H E M E C H A N I C A L B R I D E schrieb und sich dort als entschlossener moralischer Kritiker der Vulgärkultur zeigte […]? Haben wir es etwa mit einem technodeterministischen kanadischen Historiker und Medienphilosophen in den Fußstapfen Harold Innis zu tun? Oder dem ersten Intellektuellen, der im Fern‐ sehen über das Fernsehen spricht? Handelt es sich um einen modernistischen Literaturkritiker in der Nachfolge von Joyce und Pound? Oder doch eher um den katholischen-humanistischen Kritiker der Schriftkultur, dem wir in T H E G U T E N ‐ B E R G G A L A X Y (1962) begegnen? Vielleicht ist McLuhan ja auch der gegenkulturelle Prophet des Cyberspace im Geiste von W I R E D M A G A Z I N E […]. Ist McLuhan nun ein Weggefährte des Poststrukturalismus oder der Frankfurter Schule, wie manche behauptet haben, oder hat er sich an die Konsumkultur verkauft, wie es ihm von den Cultural Studies lange Zeit vorgeworfen wurde? 192 Nichtsdestotrotz scheint wiederum gerade ein hermeneutischer Zugriff un‐ umgänglich, um McLuhan überhaupt ‚irgendwie‘ oder auch nur ‚teilweise‘ verstehen zu können. Denn selbst eine Aussage wie die, dass McLuhans Werk nicht zu verstehen ist, impliziert: Irgendetwas zumindest muss daran zu verstehen sein - und sei es auch nur, dass es nicht zu verstehen ist. Ich möchte jedenfalls in meiner hermeneutischen Lesart zeigen, dass McLuhans Œuvre nicht vornehmlich als disparates Gebilde zu interpretieren ist oder, wenn überhaupt, nur jeweils einzelne Aspekte sinnvoll verstanden werden können. Stattdessen soll gezeigt werden: McLuhans Werk ist, trotz aller Vielfältigkeit und vermeintlicher Widersprüchlichkeit, als schlüssiges, kohärentes und sinnvolles, wenngleich komplexes Ganzes zu erschließen. In den Schriften, Interviews und Briefen McLuhans werden zwar immense Mengen an Ideen aus sehr unterschiedlichen Diskurstraditionen aufgegrif‐ <?page no="84"?> 193 Das ‚Principle of Charity‘ wurde bekannt durch Ausführungen von Donald Davidson, die dieser im Rahmen seiner Vorstellung einer ‚radikalen Interpretation‘ entwickelte - siehe bspw.: Donald Davidson, A Coherence Theory of Truth and Knowledge [1983], in: Ernest LePore (Hg.), Truth and Interpretation. Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson, Oxford 1985, S. 307-319. Zur Kontextualisierung des ‚Principle of Charity‘ siehe: Kathrin Glüer, Donald Davidson zur Einführung, Hamburg 1993, S. 63ff. 194 Siehe ausführlicher dazu: Gordon, Marshall McLuhan, S. 196ff., knapper: Jana Man‐ gold/ Florian Sprenger, Einleitung, in: Navigationen. 50 Jahre Understanding Media, S. 7-15, hier: S. 10ff. Ein Auszug des Briefverkehrs zwischen Autor und Lektorat findet sich in: o.A., Archiv, in: Navigationen. 50 Jahre Understanding Media, S.-19-37. fen, verarbeitet und häufig in ein erklärungsbedürftiges Verhältnis zueinan‐ der gesetzt. Dennoch lassen sich McLuhans Äußerungen auf einige wenige dominante und ineinandergreifende Argumente und Thesen zurückführen. Der hermeneutische Zirkel Von einem hermeneutischen Blickwinkel aus will ich dementsprechend eine ‚wohlwollende‘ Lesart von McLuhans Texten unterbreiten. Solch eine Lesart folgt zuvorderst der Maxime einer Wahrheits- und Konsistenzunterstellung für alle Äußerungen einer Person, dem sogenannten „Principle of Charity“. 193 Demnach ist die erste Pflicht der Rezipient: innen, die bestmögliche, kohä‐ renteste und sinnvollste Interpretation der Argumentation des Gegenübers ausfindig zu machen. Solch einen Willen zur ‚wohlwollenden Lesart‘ von McLuhan findet sich früh und anhand eines sehr konkreten Gegenstands, nämlich im Verlauf des Lektorats zu U ND E R S TANDIN G M E DIA . Der Lektor Leon Wilson hatte offen‐ sichtlich mit einigen Verständnisschwierigkeiten zu kämpfen, als McLuhan sein Manuskript dem Verlag McGraw-Hill übergab. 194 Beleg dafür ist der rege Briefverkehr zwischen Wilson und McLuhan. Vor allem um die Anordnung und die Systematik des Buches wurde darin gestritten und gefeilscht. Immer wieder finden sich in der Korrespondenz Vorschläge seitens des Lektors, wie das Buch denn (besser) geordnet werden könnte, etwa durch die Aufteilung in zwei Teilen, einen ersten Teil, in dem die allgemeinen Grundlinien der medientheoretischen Prämissen entfaltet werden, und einen zweiten, in dem dann einzelne Medien in separaten Unterkapitel näher zur Darstellung kommen sollten. Einleitend zu einem der vielen Strukturierungsvorschläge, um McLuhans Gedanken- und Argumentationsvielfalt zu bändigen, ist zu lesen: „This is the form and sequence to the best of my understanding of 84 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="85"?> 195 Brief während des Lektorats zu U N D E R S T A N D I N G M E D I A (vermutlich) von Leon Wilson an Marshall McLuhan, Oktober 1962, zitiert nach: o.A., Archiv, S. 22 (Hervorhebung von mir [SG]). McLuhan hat genau diese Stelle („to the best of my understanding“) selbst eigens ‚als wichtig‘ unterstrichen. 196 Tatsächlich liest sich U N D E R S T A N D I N G M E D I A , trotz aller Redundanz und Sprunghaftig‐ keit (siehe dazu ausführlich → 1. Lesart: Rhetorik), um einiges systematischer und weniger ‚mosaikförmig‘ als etwa D I E G U T E N B E R G -G A L A X I S . Zum großen Teil ist das wohl tatsächlich der Arbeit des Lektorats geschuldet (siehe: Gordon, Marshall McLuhan, S.-196ff.). 197 Siehe zu diesem Beispiel: Foucault, Ordnung der Dinge, S.-58. what you have submited […].“ 195 Der Briefverkehr zwischen McLuhan und Wilson zeugt nicht nur von einem recht zähen Ringen um die Struktur des Buches, sondern eben auch davon, dass der Lektor das Buch - ‚seinem besten Verständnis‘ gemäß - in eine verständliche Form bringen wollte. Mit anderen Worten: Er interpretierte den für ihn stellenweise unverständlichen Text ‚wohlwollend‘, um eine kohärente Interpretation und Lesbarkeit des Buches zu garantieren. 196 Mein Ausgangspunkt, McLuhan von drei Thesen her zu ordnen und ‚wohlwollend‘ zu verstehen, ist einem ganz ähnlichen Impuls und Willen zur Lesbarkeit entsprungen. Meine ‚wohlwollende‘ Interpretation impliziert über ‚reine‘ Lektoratsarbeit hinaus aber auch: Durch eine möglichst genaue Lektüre von McLuhans Texten und mit Bezugnahme auf ihren Entstehungs‐ kontext soll vermieden werden, vorschnell die inzwischen doch recht ein‐ gefahrenen shortcut-Deutungsschemata der Sekundärliteratur aufzugreifen, die im Blick zurück auf McLuhan ein angemessenes Verständnis oftmals eher verhindern als fördern. Nicht zuletzt haben diese verkürzenden Lesarten wohl damit zu tun, dass einfach Kategorien, Bezugssysteme, Bedeutungszuweisungen aus der Ge‐ genwart projiziert werden in eine Vergangenheit, die unter Umständen ganz andere Kategorien, Bezugssysteme und Bedeutungszuweisungen gehorchte. Die Absichten, Motivationen und Bestrebungen eines Naturphilosophen aus dem 12. Jahrhundert, der behauptet, der Kern einer Nuss vertreibe beim Verzehr Kopfschmerzen, da der Nusskern dem Gehirn ähnlich sieht, allein im Bezugsrahmen neuzeitlichen Wissens verstehen zu wollen, ohne sich mit der antiken und mittelalterlichen Tradition des Denkens in Ana‐ logien zu befassen, kann eigentlich nur dazu führen, die mittelalterliche Naturphilosophie der Irrationalität zu schelten und/ oder zu belächeln. 197 Ein angemessenes Verstehen der Argumentation, Motivation und Absicht der Naturphilosophie des Mittelalters jedoch wäre damit sicher nicht gewonnen. 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen 85 <?page no="86"?> 198 Siehe dazu grundlegend: Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960], Tübingen 6 1990. 199 Ebd., S.-274. 200 Ebd., S.-290. Kurz: Lässt man sich nicht auf den jeweiligen Kontext ein, ist Missverstehen (samt Abwertungsgestus) geradezu vorprogrammiert. Das Gegenteil ist aber genauso wahr. Und auch dies ist einer hermeneuti‐ schen Einsicht geschuldet. Wie sollte denn eine solche Annäherung an einen anderen Kontext überhaupt funktionieren, ohne unsere Kategorien, Bezugs‐ systeme und Bedeutungszuweisungen bereits zu verwenden? Ermöglichen diese es ja zuallererst, überhaupt irgendetwas in der Welt zu verstehen. Jenseits unserer Kategorien, Bezugssysteme und Bedeutungszuweisungen können wir nicht einmal etwas missverstehen. Ohne sie müsste alles schlichtweg unverstanden bleiben. Der daraus resultierende Widerspruch, der eben darin besteht, einerseits von den eigenen Kategorien Abstand nehmen zu müssen, um andere(s) verstehen zu können, andererseits aber gerade die eigenen Kategorien notwendigerweise voraussetzen zu müssen, um überhaupt irgendetwas zu verstehen, lässt sich mit einem kurzen Seitenblick auf Hans-Georg Gadamers Verständnis von Hermeneutik auflösen oder doch zumindest produktiv machen. 198 Zunächst einmal muss, laut Gadamer, die „wesenhafte […] Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens“ 199 anerkannt werden. Verstehen funktioniert demnach nicht durch die Aufhebung von Vorurteilen, sondern Vorurteile sind im Gegenteil der notwendige Ausgangspunkt für das Ver‐ stehen. Die Vorurteile, oder weniger provokativ formuliert, die jeweils ausgebildeten Kategorien, Bezugssysteme und Bedeutungszuweisungen bil‐ den den „Verstehenshorizont der Gegenwart“, 200 vor dessen Hintergrund man sich zuallererst sukzessive einem anderen, fremden, vergangenen Verstehenshorizont annähern kann. Dies lässt sich zu einem spezifischen hermeneutischen Interpretationsverfahren wenden, dessen Grundlage der sogenannte hermeneutische Zirkel bildet. Um ein sehr einfaches Beispiel für solch ein ‚zirkuläres‘ Verfahren zu wählen (vgl. Abb. 6): Habe ich ein Wort gelesen (etwa in einem Text von McLuhan das Wort „Medium“), entwerfe ich automatisch aufgrund meines Verstehenshorizonts Hypothesen über die Bedeutung dieses Wortes innerhalb des Satzes, in dem das Wort zu finden ist (etwa: das Wort „Me‐ dium“ verstehe ich als Träger von Botschaften). Habe ich den Satz gelesen 86 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="87"?> (bspw.: „Das Medium ist die Botschaft“), revidiere ich (unter Umständen) meine Vorstellung von der Bedeutung des Wortes innerhalb des Satzes und verändere damit (unter Umständen) zugleich meine Vorstellung davon, was dieses Wort innerhalb des Textes von McLuhan bedeutet (etwa: „Oh, McLuhan kann das Medium nicht als Träger der Botschaft verstehen, dennoch scheint er beide doch in eins zu setzen. Seltsam! “). Nachdem ich den Abschnitt gelesen habe, in dem der Satz situiert ist (wenn etwa McLuhan erläutert, dass die Wahl des jeweiligen Mediums die Wahrnehmbarkeit der Botschaft verändert und damit die Botschaft selbst beeinflusst), bilde ich eine Hypothese über die Bedeutung des Satzes und revidiere diese (unter Umständen) wiederum und verändere damit zugleich meine Vorstellung davon, was dieser Satz innerhalb McLuhans Œuvre bedeutet (bspw. „Ah, das Medium ist nicht einfach nur der Träger einer Botschaft, sondern beeinflusst diese als Träger und ist somit eine ‚zweite‘, unterschwellige Botschaft“). Dieses Textlektüreprinzip kann ich beliebig weit treiben. Es ist also prinzipiell unendlich und auf alle möglichen Ebenen anzuwenden: Wort, Satz, Text, Werk, Œuvre, persönliche Situation des Autors oder der Autorin, historischer Kontext, in dem er oder sie situiert ist, übergreifende ideengeschichtliche und kulturhistorische Zusammenhänge, die sich in das Werk eingeschrieben haben bzw. dort spezifisch verhandelt werden, bis hin zu übergreifenden Epochencharakterisierungen oder der Deutung aller möglichen Artefakte, Tätigkeiten, Ideen oder gar der gesamten Welt‐ geschichte. Alles lässt sich letztlich mit diesem Verfahren mit allem in Beziehung setzen und interpretieren. 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen 87 <?page no="88"?> 201 Bezüglich der Annäherung zweier Verstehenshorizonte spricht Gadamer von ‚Hori‐ zontverschmelzung‘ (siehe Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 289). Die Idee, dass „Medium“ „…ist die Botschaft“ [Botschaft <-> Medium? ] „Das Medium entscheidet über die Wahrnehmbarkeit der Botschaft“ [Der mediale Träger hat eine ‚eigene‘ Botschaft] [Träger einer Botschaft] […] Abb. 6: Spiralen-Galaxis: Der hermeneutische Lektürezirkel als Methode Hermeneutisch ist dieser Zirkel, weil ich immer von einem bestimmten Vorverständnis ausgehe, das konstitutiv meine Interpretation leitet, das aber aufgrund des Materials, das ich lese, verändert wird. Mein anfänglicher Verstehenshorizont verschiebt sich somit sukzessive und nähert sich dem meines Interpretationsgegenstandes immer weiter an. Einen Zirkel bildet dieses Verfahren insofern, als der Vorgang des Verstehens eine Kreisbe‐ wegung vollzieht, bei der ich am Ende wieder an den Ausgangspunkt zurückkehre. Dies geschieht in Form eines rückgekoppelten Wechselspiels zwischen Teil und Ganzem: Aufgrund meines Vorverständnisses (‚Ganzes‘) verstehe ich ein Wort (‚Teil‘). Von diesem Verständnis ausgehend schließe ich auf die nächsthöhere Ebene, den Satz (‚Ganzes‘). Nachdem ich den Satz tatsächlich gelesen habe, verändere ich unter Umständen die Interpretation des Wortes (‚Teil‘) und damit richte ich wiederum mein Verständnis von McLuhans Werk (‚Ganzes‘) neu aus. Dieses Spiel kann ich, wie erwähnt, unendlich fortsetzen. Daraus ergeben sich mindestens drei Konsequenzen: Erstens gibt es ‚nur‘ eine Annäherung an den Verstehenshorizont eines Gegenübers, es ist (und muss konstitutiv bleiben) eine unendliche und damit niemals abschließbare Annäherung. 201 Folglich muss man zweitens, will man bspw. eine Einfüh‐ 88 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="89"?> die Horizonte tatsächlich verschmelzen, also eins werden, bleibt eine kontrafaktische, nichtsdestotrotz aber notwendige Operation. Denn ohne die Vorstellung und den Zielpunkt vollkommenen Verstehens, so zumindest die klassische hermeneutische Prä‐ misse, hätte man überhaupt keine Vorstellung, was verstehen sein sollte im Gegensatz zu einer ‚nur‘ funktionalen Informationsweitergabe. Dass eine hermeneutische Einstel‐ lung nichtsdestotrotz mit Irritationen und Veränderungen des eigenen Verstehens und dem, was das eigene Verstehen eigentlich ausmacht oder ausmachen sollte, einhergeht, dementsprechend Distanzierung vom eigenen Verstehen und Offenheit gegenüber an‐ derer Verstehensparameter impliziert, darauf verweist nachdrücklich Georg W. Betram in seiner kritischen (Re-)Lektüre klassischer hermeneutischer Positionen: Gerorg W. Bertram, Die Freiheit des Verstehens. Eine hermeneutisch-kritische Theorie, Berlin 2024. 202 Wegen solchen Prämissen werden Hermeneutiker: innen unter anderem vonseiten der Dekonstruktion arg kritisiert. (Zum Verfahren der Dekonstruktion siehe → 3. Lesart: Kritik) Denn im Grunde impliziert die Hermeneutik, dass man letztlich alles und alle verstehen kann, dass man sich selbst durchsichtig machen können wird und noch zugespitzter: eigentlich sich und die anderen immer schon (zumindest intuitiv) verstanden haben muss. Dies gilt es ‚nur‘ noch aufzudecken. Hier scheint alles (wenngleich im Rahmen eines unendlichen Annäherungsprozess) auf Einheit und Harmonie ausgerichtet. Für radikalen Widerstreit, Dissens, Inkompatibilität bleibt letztlich wenig Platz. Siehe generell zum problematischen Verhältnis von Hermeneutik und Dekonstruktion aus philosophischer Perspektive: Georg W. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie, München 2002. Zu einer stärker auf Dissens und Kritik ausgelegten (Re-)Lektüre der Hermeneutik siehe: ders., Freiheit des Verstehens, S.-136ff. rung in die Gedankenwelt McLuhans schreiben, den Zirkel pragmatisch abbrechen, also trotz aller hermeneutischer Fürsorge selektiv vorgehen. Drittens ist der hermeneutische Zirkel genauer betrachtet vielmehr eine hermeneutische Spirale. Zwar ist die Annäherung niemals abgeschlossen und muss irgendwann pragmatisch abgebrochen werden, aber durch die zirkuläre Bewegung von Teil und Ganzem ist eine Annäherung der beiden Verstehenshorizonte durchaus möglich. Damit ist der Verstehensprozess eigentlich nicht einfach zirkulär, wie doch der Ausdruck ‚hermeneutischer Zirkel‘ nahelegt, sondern folgt einer Kurve, auf deren Achse man sein Vorverständnis allmählich modifiziert und sich dem Verstehenshorizont des anderen unendlich annähert (vgl. noch einmal Abb. 6). Vorausgesetzt wird bei solch einem hermeneutischen Ansatz freilich, dass der Gegenüber in seinen Handlungen und Äußerungen tatsächlich zu verstehen ist. Und das heißt: Die Handlungen und Äußerungen des Gegenübers dürfen meinem Verstehenshorizont zumindest nicht radikal fremd sein. Beide Verstehenshorizonte können so zumindest nicht als prinzipiell untereinander inkompatibel gedacht werden. 202 Akzeptiert man 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen 89 <?page no="90"?> aber diese Voraussetzung, so lässt sich das Problem, wie man einen anderen Bezugsrahmen verstehen können soll, obwohl doch der eigene Bezugsrah‐ men jegliches Verstehen präformiert, mit dem Interpretationsverfahren des hermeneutischen Zirkels zwar vielleicht nicht endgültig lösen, aber zur An‐ näherung an fremde Verstehenshorizonte - und damit ‚horizonterweiternd‘ - produktiv machen. Drei Fundamentalthesen McLuhans In diesem Sinne möchte ich mich in vorliegendem Kapitel an McLuhans Werk ‚spiralförmig‘ annähern und dieses dadurch immer besser verstehen. Aufgrund der ‚unendlichen Aufgabe‘, die die hermeneutische Herangehens‐ weise impliziert, muss man sich aber in einem endlichen Text (insbesondere, wenn es sich um ein Kapitel in einem Einführungsbändchen handelt) beschränken. Den Ausgangspunkt setze ich bei drei Phrasen aus McLuhans Texten - Phrasen, von denen zumindest zwei weit über die medien- und kulturwissenschaftliche Forschung hinaus Eingang in die Umgangssprache gefunden haben. Im Einzelnen sind das: „The Global Village“ (dt.: „das Globale Dorf “), „Extensions of Man“ (dt.: „Ausweitungen des Menschen“) und „The Medium is the Message“ (dt.: „Das Medium ist die Botschaft“). Diese drei Phrasen lassen sich in drei Fundamentalthesen (re-)formulieren, die sich in unterschiedlichen Varianten und Deutungshinsichten in nahezu allen Texten McLuhans wiederfinden: These 1: Medien sind Körperausweitungen. These 2: Wir leben in einem globalen Dorf. These 3: Das Medium ist die Botschaft. Wenn man von McLuhan irgendetwas gehört hat, dann dürfte es mit diesen Thesen zu tun haben oder zumindest mit den darin angeführten Schlagwor‐ ten. Deshalb soll bei diesem Verstehenshorizont angesetzt, mit diesen ‚Vorur‐ teilen‘ begonnen werden. Mit Blick auf die hermeneutische Relation von Teil und Ganzem formuliert: Das Vorverständnis von McLuhans Werk (‚Ganzes‘) wird in diesen drei Thesen verdichtet (‚Teil‘). Anschließend werden diese Slogans nacheinander in der Lektüre von McLuhans Werk in wiederholten zirkulären Bewegungen, also der wiederholten Durcharbeitung der Thesen, 90 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="91"?> 203 Zentraler Referenzbereich wird dabei vor allem das Buch D I E M A G I S C H E N K A N Ä L E sein. Zwar wird immer wieder auf frühere und spätere Texte verwiesen und eingegangen, auch Briefe und Interviews werden zur Interpretation herangezogen, nichtsdestotrotz wird die Monografie D I E M A G I S C H E N K A N Ä L E Hauptbezugspunkt bleiben. Dass dieses Buch solch eine zentrale Rolle in diesem Kontext spielt, hat zwei Gründe. Erstens wird es in der Forschung bis heute als das Hauptwerk McLuhans rezipiert (siehe bspw.: Heilman/ Schröter (Hg.), Medien verstehen). Dementsprechend folge ich zunächst ein‐ fach diesem gängigen ‚Vorurteil‘ als Ausgangspunkt der hermeneutischen Befragung. Zweitens scheint es mir tatsächlich so zu sein, dass dieses Werk die wichtigsten Thesen McLuhans am dichtesten und - zumindest für McLuhans Verhältnisse - einigermaßen systematisch präsentiert. Ob das daran liegt, dass dieses Buch eigentlich eine Kooperati‐ onsarbeit mit dem Ethnologen Edmund Carpenter darstellt, wie dieser behauptet (siehe: Carpenter, That Not-So-Silent-Sea, S. 253) und/ oder sich der Strukturierungsleistung des Lektorats verdankt (siehe dazu: Mangold/ Sprenger, Einleitung, S. 11f. und o.A, Archiv) wird hier keine Rolle spielen. Denn meine hermeneutische Befragung zielt ja weder darauf ab, McLuhans Arbeitsweise besser zu verstehen noch eine chronologische Werkbefragung zu betreiben, sondern einzig darauf, die Hauptargumente in McLuhans Texten im ideen- und kulturgeschichtlichen Kontext so klar wie möglich herauszuar‐ beiten und zu verstehen. 204 McLuhan, Testen, bis die Schlösser nachgeben, S.-105. in immer weitere Bezugsrahmen gestellt (‚Ganzes‘), 203 um die Bedeutung der einzelnen Slogans (‚Teil‘) sukzessive besser verstehen zu können und damit das eigene Vorverständnis von McLuhans Werk allmählich zu verändern (‚Ganzes‘). Dabei soll McLuhan auch in einen größeren, nämlich ideen-, wissenschafts- und zeitgeschichtlichen Kontext gestellt werden (‚Ganzes‘), um besser nachvollziehbar zu machen, warum McLuhan so argumentiert, wie er argumentiert und in welcher spezifischen Weise er sich dabei die Tradition aneignet (‚Teil‘). McLuhans Wiederverwertungsmaschine Dringlich ist eine solche historische Kontextualisierung insbesondere bei einem Autor wie McLuhan zumindest dann, wenn man bestimmte Hinweise McLuhans selbst ernst nimmt. So gibt er in einem Interview freimütig zu Protokoll: „Das meiste, was ich zu sagen habe, ist aus zweiter Hand […].“ 204 Bei Edmund Carpenter, der seit der gemeinsamen Arbeit an der Zeitschrift E X P L O R ATION S Ende der 1950er Jahre McLuhan in Freundschaft zugeneigt war, lässt sich eine Passage finden, die das noch etwas konkreter fassbar macht: Entgegen der vorherrschenden Meinung über McLuhan, die im Übrigen von Freund und Feind bis heute kolportiert wird, soll sich der kanadische Medienforscher durch keine einzige besonders originelle Ideen 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen 91 <?page no="92"?> 205 Carpenter, That Not-So-Silent-Sea, S.-245. 206 Ebd., S.-244 (Hervorhebung von mir [SG]). 207 Damit ist im Übrigen en passant auf eine weitere Konsequenz der hermeneutischen Herangehensweise verwiesen: Durch die historische Kontextualisierung wird der zu behandelnde Autor oder die behandelte Autorin einerseits ‚kleiner‘ gemacht, da seine oder ihre Ideen auf Ideen anderer zurückgeführt und innerhalb des ‚Zeitgeistes‘ situiert werden. Anderseits wird die Besonderheit des Autors oder der Autorin hervorgehoben, eben durch die Rekonstruktion, in welcher spezifischen Weise er oder sie vorherge‐ hende Ideen transformieren und auf den herrschenden ‚Zeitgeist‘ reagieren und diesen eventuell spezifisch umformen. auszeichnen. „Writers commonly speak of Marshall’s original ideas. He had none.“ 205 Ganz im Gegenteil sogar: McLuhan griff, so Carpenter, so gut wie immer auf bereits Formuliertes zurück, das er dann ein wenig umformulierte und in einen anderen Kontext stellte. McLuhans Originalität findet man dementsprechend weniger in irgendwelchen revolutionären, neuen Ideen oder Paradigmen, sondern vielmehr in McLuhans spezifischer Verarbeitung bereits existierender Ideen. Rückblickend schreibt Carpenter: An easy way to find the source of many of Marshall’s phrases is to examine the back pages of the books in his library. As he read, he jotted down phrases & ideas, by page in the rear. ‚Global village‘, properly noted, appears in a Wyndham Lewis book. Marshall liberated that phrase. […] ‚The medium is the message,‘ came from Ashley Montagu’s lecture ‚The Method is the Message,‘ which Marshall & I attended. Marshall improved the wording and extended the concept. ‚The medium is the massage‘ came from Sam Zacks. Marshall had been asked to explain his earlier phrase, to which Sam, who favored steam baths & massages, replied: ‚You mean, like a massage? ‘ At which point, message became massage, massage, message. So it went, an Andy Warhol factory. Everything from classics to comics got recycled. With input from 360, Marshall distilled, shaped, burnished, orchestrated. 206 Weil in McLuhans Texten tatsächlich alles Mögliche, von Klassikern bis Comics, recycelt, destilliert, umgeformt, poliert und orchestriert wird, McLuhan also als eine Art DJ unterschiedlichster Diskursformen und For‐ schungsrichtungen zu verstehen ist, gilt es, zunächst einmal zumindest die zentralen Quellen dieser Wiederverwertungs- und Vermischungsproze‐ duren ausfindig zu machen. Erst wenn man weiß, was eigentlich das Aus‐ gangsmaterial dieser Bearbeitungen ist, lässt sich die Frage beantworten, in welcher spezifischen Weise dieses wiederverwertet und vermischt wurde. 207 Ausgehend von jeweils einer der drei kurz benannten Thesen soll durch das 92 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="93"?> 208 Siehe dazu bspw.: McLuhan, Magische Kanäle, S.-78f. 209 Siehe: ebd., S.-75. 210 Siehe zu dieser Liste: ebd., S.-5ff. hermeneutischen Interpretationsverfahren allmählich offen gelegt werden, welches Ausgangsmaterial McLuhan in welcher Weise nutzte. 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen Die Idee, dass Medien Ausweitungen des Menschen sind, wird in McLuhans Werk spätestens Mitte der 1960er Jahre dominant. Wichtig wird sie bleiben bis hinein in die posthum veröffentlichten L AW S O F M E DIA . Vor allem aber in dem 1964 erstmals publizierten Buch D I E MAGI S CH E N K ANÄL E ist diese Idee genauer entfaltet. Bereits im Untertitel wird die Relevanz dieses An‐ satzpunktes klar markiert. Im englischsprachigen Original heißt es dort nach der Titelnennung „Understanding Media“: „The Extensions of Man“. Mit diesen Extensionen, also Ausweitungen, meint McLuhan Medien. Medien sind für McLuhan denn auch alle möglichen Artefakte und Techniken, die der Mensch herstellt und die Funktionen des menschlichen Körpers bzw. der menschlichen Sinne übernehmen. 208 Der Hammer ist demnach ein Medium, weil er eine Ausweitung (der Schlagkraft) des Armes bedeutet, das Teleskop wiederum, weil es eine Ausweitung (des Sehvermögens) des Auges ist. Oder - um McLuhans Lieblingsbeispiel anzuführen - das Rad ist ein Medium, weil es eine Ausweitung (der Bewegung) des Fußes darstellt. 209 Medien, verstanden als Körperausweitungen, dehnen folglich buchstäblich den menschlichen Handlungs-, Wahrnehmungs- und Erkenntnisspielraum aus. Das hat unter anderem zur Konsequenz, dass neben Phänomenen, die man wohl durchaus alltagssprachlich Medien nennen würde, wie etwa Schrift, Buch oder Fernsehen, auch Dinge unter diesen Begriff fallen, die man nicht ohne Weiteres darunter vermutet hätte. Nicht nur Hämmer, Teleskope oder Räder gehören dazu, sondern auch Geld, Comics, Auto, Kleidung, Waffen oder Straßen. 210 Tatsächlich sind dann jedes Artefakt und jede Technik als Ausweitungen des Menschen zu verstehen und folglich Medien. Genauer betrachtet finden sich bei McLuhan mindestens vier unterschied‐ liche Ausweitungstypen (vgl. Abb. 7). Erstens lassen sich Ausweitungen biologischer Körper von solchen sozialer Körper differenzieren. Im einen Fall sind es - wie bereits beschrieben - technische Artefakten, wie Hammer 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 93 <?page no="94"?> 211 Auf der Differenz zwischen biologischer und sozialer Ausweitungen basiert die Deutung, die Jens Schröter McLuhan gibt, verschaltet er doch damit den (in der marxistischen Theorie entwickelten) Antagonismus zwischen Produktivkräften und Produktionsmitteln, siehe: Jens Schröter, Medientheorie der Automation (Marshall McLuhan), in: Ivo Ritzer (Hg.), Schlüsselwerke der Medienwissenschaft, Wiesbaden 2020, S.-39-52, v.a.: S.-46f. 212 Siehe bspw.: „Spiele sind wie Institutionen Ausweitungen des sozialen Menschen und der organisierten Gesellschaft“ (McLuhan, Magische Kanäle, S.-357). 213 Deshalb ist es auch wenig verwunderlich, dass im zweiten Teil von U N D E R S T A N D I N G M E D I A , in dem diverse Medien in einzelnen Kapiteln behandelt werden, auch bspw. Kapitel zu „Spiel und Sport“ (ebd., S.-356) zu finden sind. oder Teleskop, die Fähigkeiten des biologischen Köpers erweitern. Daneben gibt es aber auch soziale Erweiterungen. Dabei geht es um Ausweitungen zwischenmenschlicher Interaktionen. 211 McLuhan unterscheidet hier wiede‐ rum einerseits Institutionen, etwa einen Verein, eine Bank oder auch ein Staatsgebilde. Diese sind insofern Ausweitung menschlicher Interkationen, als sie diese koordinieren, festigen und so auch den Interaktionsradius ausweiten. 212 Anderseits versteht McLuhan konventionalisierte Praktiken, wie Spielen, Zählen oder auch Krieg-führen als Ausweitungen sozialer Körper. 213 Extension I Ausweitung biologische Körperelemente Werkzeuge Maschinen soziale Körperelemente Praktiken Institutionen Abb. 7: McLuhans Extensionsthese, ausdifferenziert Trotz dieser Ausdifferenzierung beschäftigt sich McLuhan vor allem mit den Ausweitungen des biologischen Körpers bzw. menschlicher (Sinnes-)Or‐ 94 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="95"?> 214 Ebd., S.-235. 215 Diese Perspektive ist nicht unproblematisch - siehe dazu → 3. Lesart: Kritik, Kap. „Das Problem der Körperausweitungsthese“. Siehe für eine Weiterentwicklung zu einer spezifischen Medienanthropologie → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Medienökologie als relationale Medienanthropologie“. gane. Hier unterscheidet er noch einmal zwischen Ausweitungen zu Werk‐ zeugen und solchen zu Maschinen. Der Hammer ist die Ausweitung der Schlagkraft des Armes zu einem Werkzeug, das Teleskop die Ausweitung der Stärke des Sehsinns. Maschinen sind demgegenüber Ausweitungen, die eine „Dreh- oder Ablaufbewegung“ beinhalten, ein „Nach-außen-Bringen eines Vorgangs“ (etwas des Rades) und/ oder eine komplexe Vernetzung von Teilelementen aufweisen (etwa der Buchdruck als mechanisierte Form der Handbewegung oder elektrische Medien wie der Telegraf, der die vernet‐ zende Ausweitung des Zentralnervensystems in den Raum hinein darstellen soll). 214 Die Unterscheidung von Werkzeuge und Maschinen führt McLuhan wohl ein, weil im ersten Fall die Ausweitung offensichtlich(er) und zumeist strategisch erfolgt, im zweiten Fall aber die körperliche Ausweitung sehr viel weniger eindeutig ist. Maschinen sind so verstanden Ausweitungen, von denen nicht ohne Weiteres klar ist oder zumindest war, dass es solche sind. Darüber hinaus ist an diesen besonders klar zu verdeutlichen, dass sie nicht mehr rein funktional zu betrachten sind, weil sie Effekte erzeugen, die weit über den rein strategischen Einsatz hinausgehen und gerade so massiv auf den Menschen zurückwirken. Technikanthropologie Werkzeuge und Maschinen als Ausweitungen des Menschen zu verste‐ hen, ist zuvorderst einer anthropologischen Technikauffassung geschuldet. Anthropologisch ist dieser Ansatz allein schon deshalb, weil hier Technik vom Menschen her gedacht wird. Der Mensch wird als Ausgangspunkt und maßgebliche Referenzfolie (medien-)technischer Entwicklungen ver‐ standen. Technik ist ganz buchstäblich Ausweitung des Menschen und also solche integraler Bestandteil menschlicher Entwicklung. Technik wird demgemäß nicht als ein dem Menschen entgegengesetztes Phänomen ver‐ standen - hier der (natürliche) Mensch, dort die (künstliche) Technik. Stattdessen ist Technik als Erweiterung des Menschen Teil der menschlichen Natur. 215 Diese Art der Technikanthropologie hat eine lange Tradition, die 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 95 <?page no="96"?> 216 Siehe dazu ausführlicher: Christoph Hubig, Historische Wurzeln der Technikphiloso‐ phie, in: ders. u. a. (Hg.), Nachdenken über Technik: Die Klassiker der Technikphiloso‐ phie, Berlin 2000, S.-19-40. 217 Ralph Waldo Emerson, Works and Days [1870], in: ders., The Collected Works of Ralph Waldo Emerson. Bd. VII: Society and Solitude, S. 79-94, hier: S. 79 (Hervorhebung von mir [SG]). Emerson wird diesbezüglich auch direkt zitiert von McLuhan; bspw. in: Marshall McLuhan/ Eric McLuhan, Laws of Media. The New Science, Toronto 1988, S.-96. in die Antike mindestens bis Aristoteles reicht und vor allem in der frühen Neuzeit virulent war. 216 McLuhan bezieht sich aber in diesem Kontext nicht explizit auf Aristo‐ teles oder einen Renaissancekünstler wie Leonardo da Vinci. Vielmehr übernimmt er direkt und bis in die Formulierungen hinein sein anthro‐ pologisches Technikkonzept von drei nordamerikanischen Denkern aus dem 19. bzw. 20. Jahrhundert. Im 1870 veröffentlichten Essay W O R K S AND D AY S schreibt der US-amerikanische Philosoph und Schriftsteller Ralph Waldo Emerson Sätze, die ganz ähnlich in McLuhans Texten zu finden sind. Vor allem die Extensionsthese McLuhans wird hier bereits explizit ausbuchstabiert: Our nineteenth century is the age of tools. They grew out of our structure. ‚Man is the metre of all things‘, said Aristotle, ‚the hand is the instrument of the instruments, and the mind is the form of the forms.‘ The human body is the magazine of inventions, the patent-office, where are the model from which every hint was taken. All the tools and engines on earth are only extensions of its limbs and senses. 217 Bei den Forschern des 20. Jahrhunderts, auf die sich McLuhan bei seiner These von der Körperausweitung direkt bezieht, handelt es sich zum einen um den Ethnologen Edward Hall und zum anderen um den Architektur- und Technikhistoriker Lewis Mumford. Mumford, auf den McLuhan sehr häufig in seinen Texten eingeht, formuliert 1934 in T E CHNIC S AND C IVILIZATION bereits mit explizitem Bezug auf Kommunikations- und Wahrnehmungs‐ medien (und damit genau auf den Bereich, der auch in McLuhans Texten trotz seines sehr weiten Medienbegriffs im Mittelpunkt stehen wird): „[T]he Organic has become visible again even within the mechanical complex. Some of our most characteristic mechanical instruments - the telephone, the phonograph, the motion picture - have grown out of our interest in human voice and human ear and out of knowledge of their physiology 96 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="97"?> 218 Lewis Mumford, Technics and Civilization, New York 1934, S. 6. Auch Mumford nimmt im Übrigen in seinen (späteren) Werken auf McLuhan Bezug. Jedoch um einiges kritischer als umgekehrt McLuhan auf ihn: Mumford bezeichnet McLuhans Ausführungen in T H E M Y T H O F T H E M A C H I N E bspw. als „psychedelic extravagance“ und einige Seiten weiter noch deutlicher als „humbug“ - siehe: Lewis Mumford, The Myth of the Machine. Bd.-2: The Pentagon of Power, New York 1970, hier: S.-293, 297. 219 Siehe: Edward T. Hall, The Silent Language, New York 1959. Siehe zum Briefverkehr von Hall und McLuhan: Everett M. Rogers (Hg.), The Extensions of Men: The Correspon‐ dence of Marshall McLuhan and Edward T. Hall, Oxford/ New York 2000. 220 Hall, Silent Language, S.-79 (Hervorhebung von mir [SG]). 221 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur [1930], in: ders., Gesammelte Werke. Bd. XIV, Frankfurt am Main 1960, S.-421-506, hier: S.-451. 222 Siehe: Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Pro‐ bleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957. and anatomy.“ 218 Hall wiederum, mit dem McLuhan seit den 1960er Jahren in regem Briefkontakt stand, veröffentlichte 1959 ein Buch mit dem Titel T H E S IL E NT L AN G UAG E . 219 Dort ist die Körperextensionsthese McLuhans ähnlich klar vorformuliert wie schon bei Emerson, zusätzlich aber bis in die Gegenwart der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlängert (und damit - zumindest aus Halls Sicht - an ein Ende gekommen): „Today man has developed extensions for practically everything he used to do with his body. The evolution of weapons begins with the teeth and the fist and ends with the atom bomb.“ 220 Auffällig ist, dass dieses Konzept der Körperextension nicht nur von einzelnen nordamerikanischen Philosophen, Historikern, Ethnologen und Medientheoretikern in spe Mitte des 20. Jahrhunderts einen ungemeinen Aufschwung erlebte. Auch andernorts, und zwar in unterschiedlichsten Forschungszusammenhängen, hatte solch eine Idee zu dieser Zeit Konjunk‐ tur. Auf einige Beispiele sei kurz verwiesen: Sigmund Freud beschrieb wirkmächtig in einer seinen kulturhistorischen Schriften, nämlich in D A S U N B E HAG E N IN D E R K U LTU R , den Menschen als „eine Art Prothesengott“, der sich mit seinen „Hilfsorganen“ in Form von Werkzeugen und Maschinen gegen die feindliche Natur zu wappnen versucht. 221 Der Soziologe Arnold Gehlen wiederum bezeichnet 1957 in D I E S E E L E IM T E CHNI S CH E N Z E ITALT E R den Menschen als Mängelwesen, das Werkzeuge und Maschinen hervorbringt, um seine Organe zu verstärken, zu entlasten oder zu ersetzen. 222 In den informationstheoretisch fundierten Entwürfen der Kybernetik, die gerade Mitte des 20. Jahrhunderts auch einiges Aufsehen in den Sozial- und Geisteswissenschaften erregten, ist die Vorstellung von der Technik als 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 97 <?page no="98"?> 223 Siehe dazu ausführlicher: Claus Pias, Die Welt des Schmoo. „Computer als Medium“ - nach, mit und neben McLuhan, in: Kerckhove u. a. (Hg.), McLuhan neu lesen, S. 140-157, v.a.: S.-142f. 224 André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst [1964], Frankfurt am Main 1995, S.-149. 225 Dies ist eine Formulierung von Frank Hartmann zur Kennzeichnung von Leroi-Gour‐ hans Ansatz: Frank Hartmann, Techniktheorien der Medien, in: Stefan Weber (Hg.), Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus, Konstanz 2003, S.-49-80, hier: S.-55. 226 Siehe dazu ausführlicher: Lindner, Das Fernsehen. 227 Siehe dazu die ‚Mutter‘ so gearteter Medienkritik: Horkheimer/ Adorno, Kulturindust‐ rie. Auch die literarische Dystopie eines durch (Medien-)Technologie ermöglichten Überwachungsstaates schlechthin, nämlich N I N E T E E N E I G H T Y F O U R , wird ziemlich genau Ausweitung des menschlichen Gehirns gang und gäbe. 223 Als letztes Beispiel sei auf den französischen Paläontologen André Leroi-Gourhan verwiesen. Im selben Jahr wie McLuhans M AGI S CH E K ANÄL E , also 1964, erscheint sein zweibändiges Hauptwerk W O R T UND G E S T E . Dieser voluminösen und für die Technikhistoriografie wegweisenden Publikation liegt die These zugrunde, dass sowohl Symbolproduktion als auch Werkzeugherstellung „auf die gleiche Grundausstattung im Gehirn zurückgehen“ 224 und insofern als „Ex‐ teriorisierungen des Geistes“ 225 zu verstehen sind. Vor diesem Hintergrund betrachtet ist McLuhans Ansatz, Medientechniken als Ausweitung des Menschen zu verstehen, nicht nur nicht neu, sondern ein solcher Ansatz ist Mitte des 20. Jahrhunderts geradezu Mainstream, zumindest in weiten Teilen der Technikgeschichtsschreibung. Funktionen der Technikanthropologie Dass diese These gerade seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine Renaissance erlebte und in unterschiedlichen Diskursen wichtig wurde, dafür lassen sich durchaus auch im Bereich (medien-)technischer Entwicklungen Gründe finden: Das Fernsehen wird zum Leitmedium der westlichen Hemisphäre. Die ersten Computer gehen in Serie und finden damit ihren Weg in kom‐ merzielle Anwendungen. Am Ende der 1960er Jahre kreisen bereits knapp 400 Erkundungs- und Kommunikationssatelliten um die Erde. Die Unterhal‐ tungsindustrie steigt zu einem der maßgeblichen Wirtschaftsfaktoren auf und durchdringt mit ihren massenmedialen Angeboten nahezu alle sozialen Sphären. 226 Das Phantasma einer totalen Manipulation durch Technik oder ‚die Medien‘ wird zum kulturkritischen Standardrepertoireargument. 227 98 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="99"?> in der Mitte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht, nämlich 1949 - siehe: George Orwell, 1984 [1949], Frankfurt am Main 1984. 228 Lindner, Das Fernsehen, S.-11. 229 Siehe zu dieser - umstrittenen - Funktionszuschreibung an die Geisteswissenschaften: Odo Marquard, Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, in: ders., Apo‐ logie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S.-98-116, hier: S.-106. 230 Was in meiner Rekonstruktion jedoch etwas zu kurz kommt, ist Folgendes: Im Grund artikulieren alle angesprochenen Ansätze trotz aller ‚Humanisierung‘ der Technik und der Medien eine Befürchtung: Es könnte sein, dass sich die Ausweitungen des Menschen irgendwann gegen den Menschen wenden. Der Mensch könnte seine Handlungsmacht an ‚die Maschinen‘ bzw. ‚die Medien‘ verlieren und/ oder durch seine Ausweitungen massiv verändert, ja zerstört werden. Dementsprechend stehen die Vertreter: innen der Körperextensionsthese Körperausweitungen äußerst ambivalent gegenüber. Was jedoch wiederum die allermeisten Vertreter: innen dieser These eint - und was sich vor allem bei McLuhan sehr deutlich Bahn bricht -, ist die Hoffnung, der Mensch könne letztendlich doch die Technik und die Medien in seinem Sinne verwenden (und sei es Mitte des 20. Jahrhunderts entstand ganz offensichtlich etwas, das man heute mit Begriffen wie ‚Informationsgesellschaft‘, ‚Netzwerkgesellschaft‘ oder auch ‚Mediengesellschaft’ zu fassen versucht. Martin Lindner spricht in diesem Kontext von einer regelrechten „Konstruktion der mediasphere um 1950“. 228 Aber auch jenseits massenmedialer Unterhaltung und Informationszirku‐ lation lassen sich Gründe finden, warum Mitte des 20. Jahrhunderts die Frage nach den Grundlagen des Menschseins mit dem Wesen der Technik eng verknüpft wird: Nunmehr war eine technologisch mögliche Zerstörung der gesamten Erde handgreiflich gemacht durch Entwicklung und Einsatz der Atombombe. Dass in solch einer Zeit die Frage nach der Technik drän‐ gend wird, scheint kaum verwunderlich. Und die Körperextensionsthese ist eben einer der häufig aufgegriffenen Versuche, diesen technologischen Problemkomplex in einem kulturgeschichtlichen und anthropologischen Kontext zu situieren, um die Frage nach Genese (medien-)technologischer Entwicklungen beantworten zu können - und zwar (zumindest mit Blick auf McLuhan) in einem ganz bestimmten Sinne: Denn damit wird der Ausgangspunkt der Technik in der menschlichen Natur situiert. Technik ist damit nicht etwas, das dem Menschen fremd gegenübersteht, sondern es ist als Ausweitung des Menschen etwas dem Menschen zutiefst Zugehöriges, Vertrautes. Die Körperextensionsthese fungiert so als ein Masternarratem für eine durchaus beruhigende „Orientierungsgeschichte,“ 229 in der die technische Entwicklung als etwas zutiefst Menschliches vorgestellt und verstehbar gemacht wird. 230 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 99 <?page no="100"?> durch Automatisierungsprozesse bzw. autonom operierende Maschinen). Siehe dazu noch einmal → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Holistische Medienökologie“. 231 Siehe: Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsge‐ schichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten [1877], Hamburg 2015. Zur Darlegung diverser Aspekte von Kapps Technikphilosophie siehe: Harun Maye/ Leander Scholz (Hg.), Ernst Knapp und die Anthropologie der Medien, Berlin 2019. Zur kritischen Einschätzung der Ineinssetzung von Kapps Organprojektionsthese und McLuhans Körperausweitungsthese siehe: Frank Hartmann, Globale Medienkultur. Technik, Ge‐ schichte, Theorien, Wien 2006, S. 79ff. Hartmann präferiert in diesem Zusammenhang recht klar den Ansatz von Kapp. Demgegenüber argumentiert Lorenz Engell, dass McLuhans Ansatz im Verhältnis zu Kapps der medienphilosophisch interessantere ist, siehe: Engell, Extensions of Man. 232 Siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes [1807], Hamburg 1988, vor allem Kapitel IV.: „Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst“. Ernst Kapps Technikhermeneutik Die Technikentwicklung bleibt somit verstehbar, weil der Ausgangspunkt ihrer Entwicklung vom Menschen her gedacht wird. Daraus zieht McLuhan eine wichtige Konsequenz: Technik ist eine menschliche Ausdrucksform - und zwar eine Ausdrucksform, durch die sich der Mensch selbst überhaupt erst zu verstehen lernt. ‚Understanding Media‘ heißt so gesehen immer auch ‚Understanding Man‘. Nicht nur die Technik ist verstehbar, weil sie Ausweitung des Menschen ist. Andersherum versteht sich der Mensch zuallererst selbst, weil er sich in der Technik begegnen kann. Technik ist damit nicht nur Perfektionierungs- oder wahlweise Zerstörungsvehikel, sondern ein Medium zur Selbstreflexion des Menschen. Technik als ein Medium der Selbstreflexion zu verstehen, diese Idee liegt McLuhans Körperextensionsthese zugrunde, ohne dass diese Grundlage bei McLuhan eigens ausführlich argumentativ ausgefaltet oder wissenschafts‐ historisch kontextualisiert wird. Argumentativ ausformuliert ist diese Idee hingegen explizit knapp 100 Jahre früher und zwar in Ernst Kapps 1877 erschienenen G R UNDLINI E N E IN E R P HIL O S O P HI E D E R T E CHNIK . 231 Kapp zeigt sich hierin als gelehriger Schüler Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Denn er folgt Hegels These, dass der menschliche Geist seiner selbst zuallererst durch (verändernde) Tätigkeit in der Welt gewahr wird. 232 Insbesondere in den vom Menschen selbst geschaffenen Artefakten objektiviert sich, so Hegel, der menschliche Geist. Und erst in und mittels dieser Objektivierung wird sich der Mensch im Laufe der Geschichte sukzessive bewusst, wer er ist. Herstellungsprozesse und Artefakte sind also schon bei Hegel Medien der Selbstreflexion. 100 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="101"?> 233 Kapp, Grundlinien, S.-3. 234 Ebd. 235 Ebd., S.-50. 236 Ebd., S.-3. 237 Gadamer universalisiert solch eine Sicht: „[A]lles solches Verstehen“ ist, so schreibt er, „am Ende ein Sichverstehen […].“ (Gadamer, Wahrheit und Methode, S.-265) 238 Was sich so formuliert sehr allgemein anhören mag, beschreibt Kapp mitunter sehr konkret, bspw. mit Bezug auf die ‚Organprojektion‘ des Telegrafenkabels: Erst durch dieses verzweigte Kabelnetz versteht der Mensch sein eigenes körperliches Nervensys‐ tem (siehe: Kapp, Grundlinien, S.-139ff.). Kapp wendet diese Idee explizit auf technische Artefakte und formuliert basierend darauf ein Prinzip der „Organprojektion“. 233 Dabei will er eine Genealogie der „Vervollkommnung“ nachzeichnen: 234 Es geht von der „Hand als Werkzeug der Werkzeuge“ 235 bis hin zur Telegrafie als Ausweitung der Nervenbahnen und damit - ganz analog zu McLuhan, wie noch näher zu zeigen sein wird - hin zur Auslagerung auch geistiger Tätigkeiten des Menschen. Im Verlauf der Untersuchung will Kapp, wie es im Vorwort der G R UNDLINI E N E IN E R P HIL O S O P HI E D E R T E CHNIK heißt, durch „unbestreitbare Tatsachen“ nachweisen, „dass der Mensch unbewusst Form, Funktionsbe‐ ziehung und Normalverhältnis seiner leiblichen Gliederung auf die Werke seiner Hand überträgt und dass er dieser ihrer analogen Beziehungen zu ihm selbst erst hinterher sich bewusst wird.“ 236 Der menschliche Ausdruck ist demnach zunächst ein unbewusster, der erst retrospektiv als solcher bewusst und also verstehbar gemacht werden kann. Diesem Konzept liegt eine hermeneutische Operation zugrunde: Analog zu Texten, Bildern oder Statuen sollen die technischen Artefakte lesbar sein und interpretiert werden können. Dem hermeneutischen Axiom zufolge sind Texten, Bildern oder auch Statuen menschliche Absichten, Bedürfnisse, Wünsche eingeschrieben, deren Bedeutung im hermeneutischen Nachvoll‐ zug entschlüsselt und so verstanden werden können. 237 Analog soll es sich nach Kapp generell mit technischen Artefakten verhalten: Der Mensch spiegelt sich in den von ihm produzierten Artefakten wieder und kann sich in der interpretativen Auslegung dieser Artefakte selbst verstehen. 238 Tiefenhermeneutik Jedoch gibt es hier zwei fundamentale Unterschiede zur ‚gängigen‘ Her‐ meneutik: Erstens geht es nicht um bewusste Absichten einer Autorin oder eines Künstlers, die nachvollzogen werden, sondern Technik wird per 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 101 <?page no="102"?> 239 Siehe zur Methode der Traumdeutung den ‚Klassiker‘ schlechthin: Sigmund Freud, Die Traumdeutung [1900], Frankfurt am Main 13 2005. Die Psychoanalyse hatte im ersten Drittel und in der Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem in den USA Hochkon‐ junktur; siehe dazu: Ulrike May, Psychoanalyse in den USA, in: Walter Spiel (Hg.), Die Psychologie des 20.-Jahrhunderts. Konsequenzen für die Pädagogik (1). Entwicklungs‐ möglichkeiten und erzieherische Modelle, Zürich 1976, S.-1219-1264. 240 McLuhan/ McLuhan, Laws of Media, S.-96 (Hervorhebung von mir [SG]). se als zunächst unbewusster Ausdruck des Menschen verstanden. Denn die Technik gibt dem Menschen, laut Kapp, zuallererst die Möglichkeit, sich seiner selbst bewusst zu werden. Es bedarf dann freilich eines Tech‐ nikhermeneuten wie Kapp, der diese Möglichkeiten auch erkennt und zu deuten weiß. Dieses Konzept eines Unbewussten, das bewusst gemacht werden muss, entspricht dem Modell der Tiefenhermeneutik. Wie bereits der Ausdruck selbst nahelegt, wird dabei angenommen: Jeder menschliche Ausdruck manifestiert etwas in der Tiefe Verborgenes, das dem und der Handelnden selbst unbewusst bleibt. Der bzw. die Tiefenhermeneut: in ver‐ sucht nun dieses Unbewusste zu bergen. Der bzw. die Tiefenhermeneut: in par excellence ist der bzw. die Psychoanalytiker: in in der Tradition Sigmund Freuds. Er bzw. sie erforscht die meist verdrängten, auf jeden Fall aber unbewussten Bedürfnisse von Patient: innen, die bspw. mit spezifischen Traumdeutungstechniken, wie der Assoziationsmethode, zu bergen sein sol‐ len. 239 Was den Psychoanalytiker: innen Freud’scher Provenienz der Traum ist mit seinen unbewussten Strukturen, die es aufzudecken gilt, sind den Technikhermeneu: innen in der Tradition Kapps die technischen Artefakte, deren latente Strukturen aufgedeckt werden sollen, um den Menschen zu verstehen. In dieser tiefenhermeneutischen Tradition steht auch McLuhans Projekt, Medien verstehen zu wollen. Zweitens geht mit der ‚Organprojektion‘ nicht einfach eine Ausweitung des Menschen einher, in der sich der Mensch dann erkennen können soll. Diese Ausweitung hat nämlich auch umgekehrt Rückwirkung auf den Men‐ schen und verändert diesen. Was bei Kapp zumindest angelegt ist, wird bei McLuhan explizit ausgeführt. In L AW S O F M E DIA heißt es diesbezüglich sehr deutlich: „[T]here is the effect of the changes in man himself that result from using his own devices to create environments of service. Any new service environment, such as those created by the alphabet or railways or motor cars or telegraph or radio deeply modifies the very nature and image of people who use it.“ 240 Eine Rückkopplungsschleife zwischen Ausweitung des Menschen in die Technik und Rückwirkung der ausgeweiteten Technik auf 102 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="103"?> 241 Siehe dazu auch → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Medienökologie als relationale Medienanthropologie“. 242 Siehe dazu: Engell, Extensions of Man, S. 35f.; siehe auch Harun Mayes und Leander Scholz Ausführungen zu Kapp, in denen sie die Differenz von Kapp zu Gehlens und Freuds Ansatz hervorheben. Leider subsumieren sie auch McLuhans Ausweitungsthese fälschlicherweise en passant unter diese ‚Mängelthese‘ (siehe: Harun Maye/ Leander Scholz, Zur Anthropologie der Medien bei Ernst Kapp, in: dies. (Hg.), Ernst Kapp und die Anthropologie der Medien, Berlin 2019, S.-7-14, hier: S.-7ff.). 243 Siehe McLuhan, Magische Kanäle, S. 97, 123, 126. Siehe zu dieser Deutung: Till A. Heilmann, Digitalität als Taktilität. McLuhan, der Computer und die Taste, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 3 (2010), S. 125-134, hier: S. 127. Bezogen auf Kapp den Menschen wird hier also eingezogen. Aus dieser Sicht hat der Mensch keinen festen Kern, der via hermeneutischen Operationen zu enthüllen ist. Vielmehr ist es so, dass die Ausweitungen den Menschen eben auch verändern, ja regelrecht transformieren. So gesehen ist das menschliche Wesen radikal historisch und dynamisch verstanden, ja eigentlich genauer noch technikhistorisch zu verstehen: Denn dann ist die Technik Mittel zur Selbsterkenntnis, gleichzeitig aber auch Mittel zur Transformation des Menschen. Das Projekt ‚Understanding Media‘ impliziert dann nicht mehr nur die unendliche Aufgabe, die Medien und durch die Medien die Menschen immer besser zu verstehen, sondern weit radikaler, den Menschen als permanent sich wandelndes, von Technik durchdrungenes und sich in Technik entäußerndes Wesen zu begreifen. 241 Was Kapps wie auch McLuhans ‚Tiefenhermeneutik‘ menschlicher Aus‐ weitungen von der Externalisierungthese Freuds und Gehlens unterschei‐ det, ist, dass in beiden Fällen der Mensch nicht als ein Mängelwesen erscheint, der aufgrund seiner Defizite technisch aufgerüstet werden muss und so durch Werkezuge und Maschinen sein fehlendes Fitting in die Welt kompensiert. 242 Im Fall von McLuhan gilt sogar ganz im Gegenteil: Am Beginn der ‚Menschwerdung‘ haben sich die unterschiedlichen Sinneswahr‐ nehmung noch in einem harmonischen Gleichgewicht befunden. Interessant und ungewöhnlich ist dieser ‚Urzustand‘ insofern, als er genau genommen mit der ersten Auslagerung verbunden ist. Das gesprochene Worte ist, laut McLuhan, die erste mediale Auslagerung des Menschen - und diese primäre Auslagerung schafft überhaupt erst den ‚Urzustand‘ des Menschen. Diese Auslagerung ist zum einen eine multisensorische - auditiv (man hört sich sprechen), visuell (man sieht jemanden sprechen), taktil (man spürt die Artikulation). Zum anderen ist es eine, die das Bewusstsein des Sprechenden in seiner Gesamtheit auslagert. 243 Damit wird - noch vor der 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 103 <?page no="104"?> schreiben wiederum Mayen und Scholz, dass dieser die „Vollkommenheit des Menschen und seines Körpers“ (Mayen/ Scholz, Zur Anthropologie der Medien, S. 8) noch vor aller Ausweitung hervorhebt. Siehe: Kapp, Grundlinien einer Philosophie, S.-45f. 244 Diese historisch wie logische erste Auslagerung lässt sich nur schwer in die weiter oben vorgestellte Ausdifferenzierung diverser Auslagerungstypen einordnen (siehe nochmal Abb. 7). Das Sprechen ist ganz sicher auch eine soziale Praxis und damit als Ausweitung des sozialen Körpers zu verstehen; es ist aber auch - und bei McLuhan vor allem - eine Ausweitung des biologischen Körpers (mehrere Sinne werden ausgeweitet sowie das Bewusstsein und damit Teile des Gehirns). Weder Maschine noch Werkzeug in einem engeren Sinne wäre das gesprochen Wort wohl eine Art Technik oder ein Prä-Werkzeug, das keine feste artifizielle Form annimmt. 245 Siehe dazu auch knapp, aber instruktiv: Lorenz Engell, Das Schaltbild. Philosophie des Fernsehens, Konstanz 2021, S.-130ff. Auslagerung des ersten technischen Artefakts - ein harmonischer Gleich‐ gewichtszustand hergestellt, der dann mit den kommenden Auslagerung massiv gestört wird. 244 Bei McLuhan gilt damit: Der Mensch erhält seine Identität erst in einem Zustand, in dem seine Sinne bereits ausgelagert sind und insofern er sich selbst, seine biologische wie kognitive Ausstattung, immer schon überschritten hat. Der Mensch ist also konstitutiv dezentriert, mehr und anderes als er selbst, auch wenn er sich im harmonischen Gleichgewicht befinden mag, ja dieses erst aufgrund seiner Dezentrierung finden kann. Stress, Amputation und Betäubung Was McLuhans Ausweitungsthese von Kapps Vorstellung der Organprojek‐ tion fundamental unterscheidet, ist die Art und Weise, wie die Rückwirkung auf den menschlichen Körper und die damit verbundene Veränderung der Wahrnehmung verstanden wird. McLuhan will Technik nicht nur als Körperausweitung verstanden wissen, nicht nur als Mittel zur Bildung und Umbildung des Selbstbewusstseins. Andersherum soll nämlich sehr viel brutaler ebenfalls gelten: Technische Artefakte sind Amputationen des menschlichen Körpers. 245 Als solche sedieren sie die Wahrnehmung und verhindern Selbsterkenntnis. Dieser augenscheinliche Widerspruch - einer‐ seits soll Technik eine Erweiterung des Menschen sein und Selbsterkenntnis ermöglichen, anderseits aber Amputation und Selbstverkennung zur Folge haben - lässt sich über einen kleinen Umweg auflösen, nämlich wenn man sich klar macht, was genau mit Amputation und Betäubung in diesem Kontext gemeint ist. 104 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="105"?> 246 Im Übrigen stammt der Begriff ‚Extension‘ ursprünglich ebenfalls aus der Medizin und meint die Streckung eines Gelenkes (bspw. die Aufrichtung der Wirbelsäule). 247 Siehe dazu bspw. den kurzen Artikel: Hans Selye, A Syndrome Produced by Diverse Nocuous Agents [1936], in: Journal of Neuropsychiatry & Clinical Neurosciences, Volume 10/ 2 (1998), S. 230-231 oder auch ausführlicher und populärwissenschaftlicher: ders., Stress beherrscht unser Leben [1957], München 1991. 248 Siehe dazu ausführlicher: Petra Löffler, Narzissmus als Narkose? McLuhan und das Zeitalter der Elektrizität, in: Heilmann/ Schröter (Hg.), Medien verstehen, S.-87-113. Begriffe wie ‚Amputation‘ und ‚Betäubung‘ stammen aus dem medizin‐ ischen Diskurs. 246 Diese Begriffe wurden vor allem durch die Arbeiten des Mediziners Hans Selye populär. Selye gilt als Begründer der Stressforschung. Seit den 1930er Jahren beschäftigte er sich mit diesem Phänomen und veröffentlichte in der Folge auch viele populärwissenschaftliche Bücher darüber. 247 Seine Theorie besagt, in aller Kürze formuliert: Unter extremem Stress reagiert der Organismus mit Anästhetisierung des jeweiligen (Sin‐ nes-)Organs, um weiterhin funktionstüchtig zu bleiben. Diese Betäubung kommt, so kann man metaphorisch formulieren, einer Selbstamputation des jeweiligen (Sinnes-)Organs gleich. Bspw. kann ein permanenter Ton im hohen Frequenzbereich eine Überreizung der akustischen Wahrnehmung zur Folge haben. Der Körper reagiert auf diesen Stress durch Betäubung der akustischen Wahrnehmung. Die Ohren werden quasi amputiert. Wichtig für vorliegenden Zusammenhang ist daran: McLuhan liest diese medizi‐ nische Sinneswahrnehmungshypothese aus dem Blickwinkel der anthro‐ pologischen Körperextensionslehre. 248 Geht es bei Selyes keineswegs um (medien-)technische Ausweitungen (allenfalls um Wirkungen, die eine tech‐ nisierte Zivilisation auf unsere Wahrnehmung hat), so wird in McLuhans Lesart Selyes Konzept genau in diese Richtung modifiziert: Forscher auf dem Gebiete der Medizin wie Hans Selye und Adolphe Jonas sind der Ansicht, daß alle Ausweitungen unserer selbst […] Versuche darstellen, das innere Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Jede Ausweitung unserer eigenen Person betrachten sie als ‚Selbstamputation‘ und glauben, daß der Körper zu dieser Methode oder diesem Mittel der Selbstamputation greift, wenn das Wahr‐ nehmungsvermögen den Grund der Reizung nicht genau feststellen oder sie umgehen kann. […] Wenn Jonas und Selye auch nicht direkt beabsichtigen, uns eine Erklärung für menschliche Erfindungen und Technik zu geben, haben sie uns doch eine Theorie der Krankheit (oder des Unbehagens) geschenkt, die weitgehend erklärt, warum der Mensch gezwungen ist, die verschiedenen Teile seines Körpers in einer Art Selbstamputation auszuweiten. Unter körperlichem 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 105 <?page no="106"?> 249 McLuhan, Magische Kanäle, S.-74f. ‚Streß‘ oder bei Überreizung schützt sich das Zentralnervensystem selbst aktiv mit der Waffe der Amputation oder Absonderung des ‚kränkenden‘ Organs, Sinnes oder der gestörten Funktion. 249 Wie aber sieht denn solch ein Vorgang konkret aus? Ein schlichtes Beispiel soll das deutlich machen. Man stelle sich vor: Aufgrund des zunehmenden Warenaustausches zwischen Ort A und Ort B werden die Anforderungen an den einzigen Postboten in dieser Gegend zusehends größer. Immer mehr Postsendungen müssen in immer kürzerer Zeit vom Postboten zu Fuß aus‐ geliefert werden. Das führt zu solch einem Stress, dass der Postbote irgend‐ wann überfordert ist. Genau deshalb weiten sich die Füße des Postboten, folgt man McLuhans Extensionsthese, letztlich zu einem DHL-Lastwagen aus. Die Funktion der Füße übernimmt nun der Lastwagen. Jedoch sind die Füße damit in einem gewissen Sinne amputiert: Sie werden weniger verwendet und dadurch schwächer. Indes können die Paketsendungen mit dem DHL-Lastwagen sehr viel schneller und in größeren Mengen transpor‐ tiert werden als zu Fuß. Das hat wiederum zur Folge: Der Warenverkehr zirkuliert noch schneller und führt ab einem bestimmten Zeitpunkt zu solch einem Stress, dass die Wahrnehmung des Lastwagenfahrers massiv gestört oder doch zumindest radikal modifiziert wird. Der Lastwagenfahrer nimmt nämlich seine Umgebung zusehends nur noch im Schema des funktionalen Transports wahr - Verkehrsschilder, Fahrbahnbegrenzungen, Geschwindigkeitskontrollen, Paketzustellungsbestätigungen. Alles andere wird ausgeblendet, wird nur noch gedämpft und wie unter Narkose wahr‐ genommen, damit die Aufgabe, Postsendungen von A nach B und vice versa zu transportieren, überhaupt noch zu bewältigen ist. Die Ausweitung der Füße zum DHL-Lastwagen hat also einige Konse‐ quenzen: Sie führt zur Verkümmerung der Beine, zur Beschleunigung des Warenverkehrs und damit zur Dämpfung der visuellen Wahrnehmung des ehemaligen Postboten. So trivial und fiktiv dieses Beispiel auch sein mag, es soll verstehen helfen, wie für McLuhan eine Ausweitung des Körpers gleichzeitig auch eine Amputation sein kann, die zur Betäubung von Sinnen führt und damit die Funktionsweise des gesamten Organismus modifiziert. Den Vorgang der Betäubung durch technische Ausweitung erläutert McLuhan selbst eindrücklich mit seiner Deutung des Narziss-Mythos: Nar‐ ziss wird dabei nicht, wie sonst üblich, als jemand verstanden, der sich in 106 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="107"?> 250 Ebd., S.-73. 251 Ebd. 252 Ebd., S.-77f. sein eigenes Spiegelbild verliebt, nachdem er es im Wasser erblickt hat. McLuhan interpretiert die Erzählung stattdessen mit Blick auf den griechi‐ schen Wortstamm des Namen ‚Narziss‘ als Vorgang einer Narkotisierung: „Diese Ausweitung seiner selbst im Spiegel betäubte seine Sinne […].“ 250 Das Spiegelbild deutet McLuhan als eine Ausweitung des Körpers, in die sich Narziss verliebt. Solch ein Verliebtsein bedeutet aber Betäubung. Und Betäubung schließt nach McLuhan Selbsterkenntnis aus. Folglich kann sich Narziss im Spiegelbild nicht selbst erkennen. Fasziniert von seinem Spiegelbild und gleichsam unfähig, dieses als sein Spiegelbild zu erkennen - diesen narzisstischen Zustand deutet McLuhan als Inbegriff der Situation des modernen Menschen. Denn dieser sei regelrecht „[v]erliebt“ in seine „Apparate“ 251 und gleichzeitig durch diese Apparate so betäubt, dass er unfähig ist, sie als Ausweitungen seiner selbst zu erkennen. Homöostase und Selbsterkenntnis Betäubung und Selbstverkennung sind nach McLuhan aber nicht per se Konsequenzen der technischen Ausweitungen (sonst wäre schließlich Selbsterkenntnis überhaupt nie möglich). Sie werden vielmehr vorrangig durch die Stimulierung einzelner Sinne vorangetrieben, also durch Spezi‐ alisierungstendenzen, die die anderen Sinne betäuben. Ein Großteil der Medientechnikgeschichte soll genau solch einer Spezialisierungstendenz folgen: Die Auswahl eines einzigen Sinnes zur starken Stimulierung oder eines einzigen erweiterten, isolierten oder ‚amputierten‘ Sinnes in der Technik ist zum Teil der Grund für die betäubende Wirkung, die die Technik als solche auf jene ausübt, die sie geschaffen haben und sie verwenden. Denn das Zentralnervensystem antwortet mit allgemeiner Betäubung auf eine Herausforderung spezialisierter Erregung. 252 McLuhan illustriert die Betäubung durch Spezialisierung selbst sehr plas‐ tisch am Beispiel einer experimentellen Zahnbehandlung: „Der Patient setzt Kopfhörer auf und stellt ein Geräusch von so großer Lautstärke ein, daß 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 107 <?page no="108"?> 253 Ebd., S.-77. 254 Demgemäß schreibt McLuhan in einem seiner Briefe: „[…] I am a Thomist for whom the sensory order resonates with the divine Logos.“ (McLuhan, Letters, S.-368) 255 Zur Kopplung von Thomas von Aquin an die zeitgenössische Biologie bzw. Medizin siehe auch: Sprenger, Medien des Immediaten, S.-372. er vom Bohrer keinen Schmerz mehr spürt.“ 253 Durch die Betonung des auditiven Sinnes wird also die taktile Schmerzempfindung betäubt. Das Gegenmodell zu solch einer betäubenden Spezialisierung bildet bei McLuhan ein harmonisches Wechselspiel, ein homöostatisches Gleichge‐ wicht der Sinne. Die Vorstellung eines Wechselspiels der Sinne findet sich auch bei dem Stressforscher Selye, geht aber sehr viel weiter zurück bis zur antiken Medizin eines Hippokrates. Sie ist in der Philosophie Aristoteles zu finden und in den Schriften Thomas von Aquins prominent. Gerade auf Letzteren bezieht sich McLuhan in diesem Zusammenhang häufig. Thomas von Aquin nimmt bereits in McLuhans Dissertation einen zentralen Platz ein und bleibt seitdem ein wichtiger Referenzpunkt. Bei dem für das christliche Denken des Mittelalters maßgeblichen Theologen findet man unter anderem die Idee, dass die Sinne sich gegenseitig beeinflussen, ineinander übersetzt werden können und ihr Wechselspiel von einem sensus communis, einem übergreifenden Ordnungsprinzip geleitet wird, das von Aquin als göttlicher Logos beschrieben wird, der den Sinnen Sinn gibt. 254 Dieses Wechselspiel der Sinne garantiert bei Aquin die Erkennbarkeit Gottes. Daran schließt McLuhan an. Nur geht es bei ihm nicht mehr nur um die Erkennbarkeit Gottes, sondern um die Erkennbarkeit der Technik und, vermittelt durch die Technik, die des Menschen. In D I E MAG I S CH E N K ANÄL E koppelt McLuhan dieses Idee mit der Stressforschung Selyes: 255 Werden vor allem einzelne Sinnesorgane stimuliert, wird das Wechselspiel der Sinne gestört. Das Gleichgewicht kann nur wieder hergestellt werden, indem einzelne Sinne eine Betäubung erfahren. Werden aber einzelne Sinne betäubt, so verhindert das die Erkenntnisfähigkeit und somit eben auch die Erkennbarkeit der Technik als Körperausweitung. Aus McLuhans Perspektive auf die Technikgeschichte führen nach der ersten Körperausweitung, dem Sprechen, alle weiteren Körperausweitun‐ gen zu einer fortwährenden Irritation des Wahrnehmungsgleichgewichts, die zu einem Zustand permanenter Betäubung und Selbstverkennung führt. Wenn denn dem tatsächlich so sein sollte, liegt natürlich die Frage nahe, wie (und wer) denn dann überhaupt Technik als Ausweitung des menschli‐ chen Körpers verstehen kann. Diese Frage ist insofern umso drängender, 108 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="109"?> 256 Für eine prägnante Zusammenfassung des Zusammenhangs von Tasten, Elektrizität und Visualität bei McLuhan siehe: Sonja Kirschall, Audiovisionen zwischen Hand und Haut. Zu einer hatpo-taktilen Filmtheorie, Bielefeld 2024, S.-93ff. als McLuhan ja gleichzeitig davon ausgeht, dass Technik eine Art von Selbstartikulation des Menschen darstellt, durch die und in der sich der Mensch seiner selbst zuallererst bewusst werden kann. Wie passen also Selbsterkenntnis und Selbstverkennen in und durch Technik zusammen? Darauf gibt McLuhan zwei Antworten, eine wahrnehmungstheoretische, die mediengeschichtlich gewendet wird, und eine ästhetische. Um diese Antworten verständlich machen zu können, muss etwas ausgeholt werden. Die Sinne und der taktile Meta-Sinn Zunächst zur wahrnehmungstheoretischen Antwort: Mit den Körperaus‐ weitungen gehen Extensionen der Sinne einher. Die Brille erweitert die Sehkraft der Augen; Kleidung ist als Ausweitung der Haut und damit des taktilen Sinnes zu verstehen usf. (vgl. Abb. 8). Ein Sinn wird dabei meist präferiert bzw. ins Zentrum gerückt, wodurch das Gleichgewicht der Sinne eine Störung erfährt. Das wiederum wird, wie angeführt, durch eine partielle Betäubung kompensiert. Sinnesorgan Sinn Tätigkeit taktile Elemente (biologisch) Taktilität als (Meta-)Sinn Ausweitung der Sinne (Beispiel) Auge visueller sehen Netzhaut Koordination, Gleichgewicht und Wechselspiel aller Sinne Teleskop Ohr auditiver hören Trommelfell Radio Mund gustativer schmecken Geschmacksporen Kaugummi Nase olfaktorischer riechen Schleimhäute Parfüm Haut taktiker tasten/ berühren Umhüll-, Schutz und Gleichgewichtsorgan Sprache, Kleidung, Elektrizität, Fernsehen Abb. 8 Abb. 8: Der Meta-Sinn und die Sinne Bei McLuhan kommt dem taktilen Sinn eine ganz besondere Rolle zu. 256 Gemäß der Vorstellung des Medienwissenschaftlers gibt die Taktilität den 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 109 <?page no="110"?> 257 Siehe dazu: Heilmann, Digitalität als Taktilität, S.-127. 258 Lorenz Engell geht in seiner Lektüre der Extensionsthese so weit zu behaupten, dass nach McLuhan letztlich alle Sinne „Komplikationen und Spezialisierungen des Haut- und Tastsinns“ (Engell, Extensions of Man, S.-39) darstellen. 259 McLuhan schreibt explizit, dass „das ‚Tastgefühl‘ nicht die Haut ist, sondern das Wechselspiel der Sinne“ (McLuhan, Magische Kanäle, S.-102). 260 Bei McLuhan heißt es: Der „‚[c]ommon sense‘“ ist die „Fähigkeit […] eine Form der Erfahrung eines Sinnes auf alle Sinne zu übertragen und das Ergebnis fortlaufend als Gesamteindruck dem Geiste vorzustellen“ (ebd.). Siehe dazu instruktiv: Sprenger, Medien des Immediaten, S.-371ff. 261 Ins Deutsche wird sensus communis bzw. common sense häufig als gesunder Menschen‐ verstand übersetzt. Das ist in diesem Fall problematisch. Zwar geht es tatsächlich um den Zusammenhang von Sinnlichkeit und Verstand, aber ‚gesund‘ erhält häufig die Bedeutung einer weitverbreitenden oder herrschenden Meinung bzw. Erkenntnis über einen Sachverhalt. Darum geht es aber bei McLuhan nicht. anderen Sinnen erst ihren Sinn. 257 Das hat diverse Gründe. Zunächst einmal ließe sich behaupten, dass alle anderen Sinne Komponenten des Taktilen bzw. von Hautelementen aufweisen: Für das Riechen benötigt man Schleim‐ häute, zum Sehen braucht es eine Netzhaut usw. 258 Wichtiger aber noch ist der Rückgriff McLuhans auf die bereits in der Antike von Aristoteles vertretenen und von Thomas von Aquin im Mittelalter ausbuchstabierten Idee, nämlich dass die Taktilität nicht einfach ein Sinn unter anderen ist, sondern dasjenige Organ, das das Wechselspiel aller Sinne koordiniert und im Gleichgewicht hält. 259 Taktilität ist, wie es bei Aquin heißt, der sensus communis, der common sense, wie McLuhan ihn auch bezeichnet, 260 also der Gemeinschaftssinn oder besser vielleicht, weil man im Deutschen hier eher an eine menschliche Gemeinschaft denkt: der vereinigende bzw. über‐ greifende Sinn. 261 Erst aufgrund dieses durch den taktilen Sinn ermöglichte und koordinierte Wechselspiels der Sinne ist nicht nur ein harmonische Verbindung der Sinne garantiert, sondern ebenso die Erkenntnis von Gott und der Welt. Folgt man Aquin, führt taktile Wahrnehmung zum Begreifen. Taktilität macht angemessene Wahrnehmung und Erkenntnis der Welt und Gottes möglich. Wird durch diese Bestimmung bei Aquin der taktile Sinn vergeistigt, also aus den sinnlichen Wahrnehmungsmodi herausgehoben, entkoppelt und den Sinnen übergeordnet, versucht McLuhan zwischen beiden Ebenen zu vermitteln, also die sinnlich-taktile Wahrnehmung mit dem Verständnis 110 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="111"?> 262 McLuhans verknüpft und recycelt hierfür recht kühn oder wahlweise kreativ medi‐ zinische bzw. biologische Erkenntnisse zur Stressforschung bzw. Synästhesie mit theologischen Argumentationsfiguren, siehe dazu: Sprenger, Medien des Immediaten, S.-372f.; siehe auch: Schmidgen, Horn, S.-195f. 263 Es gibt also in dieser weltumspannenden Elektrizität eine Präsenz des ‚Berührens‘, die entkoppelt von Nähe ist. Trotz Entfernung gibt es so verstanden keine Trennung mehr. Siehe dazu: Sprenger, Medien des Immediaten, S. 374f. Das Radio macht ferne Dinge unmittelbar hörbar, das Fernsehen macht räumlich Entferntes sichtbar etc. 264 McLuhan schreibt diesbezüglich: „Im Zeitalter der Elektrizität wird die ganze Mensch‐ heit zu unserer eigenen Haut.“ (McLuhan, Magische Kanäle, S. 83) Siehe dazu aus‐ führlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 2. Dementsprechend versteht McLuhan Elektrizität auch als taktiles Medium (siehe ebd., S.-379). 265 Ebd., S.-198. 266 McLuhan, Understanding Media, S.-128. von Taktilität als Mittel der geistigen Koordinationsfunktion aller Sinne zu verbinden. 262 Nach McLuhan ist das gesprochene Wort für diese Wechselwirkung der Sinne und die Koordinationsfunktion der Taktitlität ein herausragendes Bei‐ spiel. Sprache ist erstens taktil, weil durch viele Sinne gleichzeitig vermittelt (sehen, fühlen, hören, schmecken). Zweitens werden dabei die Gedanken nach außen gebracht und die gesprochenen Worte umgeben uns so wie eine Haut. Wir werden somit drittens im Gleichwicht der Sinne gehalten. Die Sprache ist aber nicht irgendein Beispiel für die Harmoniefunktion der Tak‐ tilität, sondern das Medium, mit dem McLuhan seine Medienhistoriografie beginnen lässt. Nach der Externalisierung des gesprochenen Wortes wird nämlich mit jeder weiteren Körperausweitung nur noch ein einzelner Sinn ausgeweitet. Die harmonische Wechselwirkung des Taktilen ist dahin und muss permanent durch Amputationen und Sedierung kompensiert werden. Erst mit den elektrischen Medien der Vernetzung (Telegraf, Radio und vor allem Fernsehen) nimmt nach McLuhan diese Verfalls-, Trennungs- und Sedierungsgeschichte eine andere Wendung. Zum einen vollzieht sich dies auf sozialer Ebene Richtung taktiler Vernetzung aller mit allen und allem. Dies geschieht durch die flächendeckend Nutzung von Elektrizität als Grundlage für Kommunikations- und Wahrnehmungsmedien wie Radio oder Fernsehen. Alle werden aus dieser Perspektive von allen und allem über räumliche Distanzen hinweg instantan und simultan ‚berührt‘ und ‚ergriffen‘. 263 Ein globales Dorf entsteht, das die Hülle, die ‚Haut‘ bildet, die uns seither alle umgeben soll. 264 Der Mensch wird so zu einem, wie McLuhan schreibt, „kosmischen Froschmann“ 265 oder, wie es im Original näher noch am Vokabular des Taktilen formuliert ist, zu einem „cosmic skin-diver“ 266 , 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 111 <?page no="112"?> 267 McLuhan, Magische Kanäle, S.-102. also zu einem Tauchenden, der nunmehr nicht mehr von Wasser umgeben ist, sondern permanent in einem kosmisches Feld von Elektrizität schwimmt. Zum anderen werden auf Wahrnehmungsebene Medien virulent, die die Sinne ihrer Rezipient: innen in ein spezifisches Wechselspiel bringen, um so die verloren gegangene Harmonie durch eine bestimmte Form von Tak‐ tilität wieder herzustellen. In diesem elektrischen Zeitalter wird dann auch folgerichtig erst erkennbar, dass (Medien-)Techniken Körperausweitungen sind, durch die der Mensch sich selbst und damit sein Geworden-sein durch Technik erkennen kann. Das taktile Fernsehen Das zentrale Medium dieses elektrischen Zeitalters ist nach McLuhan das Fernsehen. In diesem Zusammenhang dürfte einigermaßen überraschend sein, dass das Fernsehen in McLuhans Systematik nicht primär die Auswei‐ tung der Augen und Ohren darstellt, sondern der Haut. Genauer noch: Es ist das Medium „der fruchtbaren Verbindung aller Sinne“, 267 weil es in be‐ sonderer und besonders erkenntnisstiftender Weise taktil sein soll, obwohl keine direkte haptische Berührung vorliegt. Wir berühren den Fernsehap‐ parat ja normalerweise nicht ständig, wenn wir dem Geschehen auf dem Fernsehbildschirm folgen. Um diese zunächst einmal völlig kontraintuitive These verstehen zu können, bedarf es wiederum einiger Erklärungen. Wie die Sprache ist das Fernsehen multisensuell. Es stimuliert gleichzeitig und in Wechselwirkung den auditiven wie den visuellen Sinn. Demenspre‐ chend ist es bereits, so könnte man im Sinne McLuhans argumentieren, auf eine ‚fruchtbare Verbindung‘ zumindest zweier Sinne angelegt. Wichtiger aber ist nach McLuhan, dass das Fernsehen eine besondere visuelle Wahr‐ nehmungsmodalität aufweist. Dem Medienforscher geht es dabei um einen Fernsehapparat mit kleinem Bildschirm und noch wichtiger: schlechter visueller Auflösung. Kurz, es geht um ein Fernsehen zwischen den 1930er bis hinein in die 1960er Jahre. Die ästhetischen und dramaturgischen Auswirkungen der technischen Bedingungen dieses Fernsehens beschreibt Rick Marschall in seinem Buch T HE G O LD E N A G E O F T E L E VI S IO N eindrücklich: In the early days, television screens were small, and dramatic fare was obliged to rely on small casts, close-ups […]: television plays were intimate productions. 112 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="113"?> 268 Rick Marschall, The Golden Age of Television, New York 1995, S.-60. 269 Zur generellen Umwertung des Taktilen im Kontext von Reflexionen medientechno‐ logischer Entwicklungen, die davon ausgehen, dass in der Moderne mit Film, Radio und Fernsehen eine ‚Mediation‘ aller Wahrnehmung stattfindet, also der Kontakt zwischen Menschen und der Kontakt des Menschen zur Welt generell immer stärker auf technologischen Wahrnehmungsmedien basiert, siehe: Ulrike Bergermann, Tastaturen des Wissens. Haptische Technologien und Taktilität in medialer Reproduktion, in: Sibylle Peters/ Martin Jörg Schäfer (Hg.), „Intellektuelle Anschauung“. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 301-324. Sie schreibt: „Nicht mehr der Mensch steht im Fokus, wo es ums Tasten geht - vielmehr taucht dort, wo industrielle Fertigung und Massenmedien neu sind, das alte Anfassen in neuen Bedeutungen auf. Als Eindringen oder Raumwahrnehmung, als Ergriffenwerden oder Berührungspunkt im Prozess medialer Reproduktion gefasst, ist das Taktile damit in neue epistemologische Konzepte gestellt.“ (Ebd., S. 303) Bergermann geht dort auch auf die Diskurstradition ein, in der äußeres Berühren (Tastsinn) und innere Erfahrung (Gefühl) ins Verhältnis gesetzt werden, ja in vielen Fällen das Verhältnis von taktilem Berühren und emotionalem Berührt-werden konvergieren (siehe ebd., S. 304). Siehe als Überblick über diverse kulturhistorischen Reflexionen zum Zusammenhang von Affizierung, Subjektivierung und Taktilität instruktiv: Kirschall, Audiovisionen, S. 64ff. Writers and producers had to forego the spectacular dimensions of the movie screen, and even shrink, in effect, the dimension of the theatrical stage, heretofore drama’s most intimate mode. Hence television dramas were those of personality rather than action; the focus was on characters, conflict and emotion. 268 Allein schon diese Intimität durch close ups ist eine, die sich - zumindest me‐ taphorisch - in Kategorien des Taktilen beschreiben lässt: Die Rezipient: in‐ nen werden durch die Vorherrschaft der Charaktere in Großaufnahmen, durch den Fokus auf Gesichter und Emotionen, ‚berührt‘, ‚ergriffen‘, also unmittelbar affiziert. Damit, so ließe sich behaupten, geht es nicht mehr um Sehen in einem strikten Sinne. Dinge oder Menschen werden nicht mehr zueinander in ein räumliches Verhältnis und in Relation zum Betrachter: in‐ nenstandpunkt gesetzt. Die Dinge oder Menschen, die auf dem Bildschirm erscheinen, kommen uns stattdessen so ‚nah‘, dass eine räumlich-visuelle Distanz aufgehoben scheint oder doch zumindest eine räumlich-visuelle Orientierung im Rezeptionsakt unterminiert wird. Stattdessen werden wir berührt bzw. der Effekt entsteht, emotional ‚angefasst‘ zu werden. 269 Hierbei berühren sich zwei Elemente (etwa die Großaufnahme und die Rezpient: innen dieser Großaufnahme) aber nicht unmittelbar, sondern es entsteht im Rezeptionsakt ein Zwischenraum, in dem die beiden Elemente in ein Wechselverhältnis treten. Dieses Wechselverhältnis lässt sich mit einem Begriff näher bestimmen, den McLuhan in seinen späteren Texten und 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 113 <?page no="114"?> 270 Siehe Marshall McLuhan, Das resonierende Intervall [1989], in: ders., Absolute Marshall McLuhan, Freiburg 2002, S. 210-18; ders., A Note on Tactility, in: ders./ Harley Parker, Through the Vanishing Point: Space in Poetry and Painting. New York 1968, S. 263- 266; McLuhan/ Powers, Globale Village, S. 25ff. oder auch Marshall McLuhan, Man and Media [1979], in: ders., Understanding Me. Lectures and Interviews, Cambridge (Mass.) 2003, S. 277-298, v.a.: S. 280). McLuhan bezieht sich - einmal mehr um kühne Metaphernkonstruktionen nicht verlegen - mit diesem Begriff auf Beschreibungen und Ergebnisse der Quantenphysik. Werner Heisenberg wollte mit dem Begriff der ‚Re‐ sonanz‘ verdeutlichen, dass auf mikrophysikalischer Ebene Fernwirkungen zwischen unterschiedlichen Elementen möglich sind, die sich nicht aufgrund einfacher kausaler Verknüpfungen erklären lassen und dementsprechend auch nicht mehr im Vokabular klassischen Physik beschrieben werden können. McLuhan übertragt diese Idee auf die menschlichen Wahrnehmungsmodalitäten im Zeitalter der Elektrizität. Siehe zu diesem Transfer kritisch: Sprenger, Medien des Immediaten, S.-433ff. 271 Siehe dazu Schmidgen, Horn, S. 193f. Dort heißt es sehr klar: „[D]as Taktile [wird] als eine Funktion des Einfügens von Lücken und des Abstandnehmens, also paradoxer‐ weise als Instanz der Distanzierung beschrieben.“ (Ebd., S.-193) 272 Selbst - so könnte man behaupten - eine körperliche Berührung beruht ja darauf, dass etwa ein Finger das Gesicht berührt, aber dennoch beide Elemente (materiell) unterscheidbar bleiben, obwohl die räumliche Distanz zwischen ihnen aufgehoben ist. McLuhan formuliert demensprechend in einem Interview: „Touch is actually not connection but inverval. When you touch an object there is a little space between yourself and the object, a space with resonates.“ (McLuhan, Man and Media, S. 280) McLuhan weist als Beispiele für diese Art der Taktilität unter anderem auch auf das „Sporttauchen“ (McLuhan, Magische Kanäle, S. 478), also die (langanhaltende) Berührung des gesamten Körpers durch Wasser, hin, ebenso auf Sex (siehe ebd., S. 490) und damit auf die die „Involviertheit mit einem anderen Körper [als] […] sexuelle Verstrickung“ (Engell, Schaltbild, S. 141). Die Idee einer Verbindung, die nicht in Verschmelzung, aber ebenso wenig in klare Differenzen mündet, sondern in Übergangs‐ zonen, Oszillationen und Vermischungen, wo Subjekt und Objekt nicht mehr eindeutig zu unterscheiden sind, wo Berühren immer gleichzeitig und unvermeidlich auch Interviews Ende der 1970er bis zu seinem Tod häufig verwendet, nämlich das „resonierende Intervall“. 270 Damit meint er einen Vorgang zwischen zwei oder mehreren Elementen, die miteinander und sich gegenseitig beeinflus‐ send, über eine Distanz hinweg in Schwingung geraten. Wichtig daran ist hier: McLuhan bestimmt Taktilität nicht als ein materielles Ertasten, einen direkten körperlichen Kontakt bzw. eine unmittelbare Verbindung, 271 sondern als ein in Schwingung versetzendes Wechselspiel aus Nähe und Distanz. Gerade weil es eine gewisse Distanz gibt, ist eine spezifische Nähe möglich. In diesem Fall ist es ein Distanz/ Nähe-Gefüge, das sich nicht mehr primär in visuellen Kategorien beschreiben lässt, sondern eben als eine sehr spezielle Form von Berührung im (visuellen) Rezeptionsakt, ein in Schwingung versetzendes Berührt-werden aufgrund einer gewissen Distanz. 272 Und genau das ist wiederum laut McLuhan die Voraussetzung 114 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="115"?> Berührt-werden bedeutet, wurde für Positionen wichtig, die Taktilität als Alternativ‐ modell zu Erkenntnismodellen, die entweder klare Subjekt-Objekt-Unterscheidungen präferieren oder indifferent ineinander auflösen - siehe dazu: Bergermann, Tastaturen des Wissens, S. 305; Engell, Schaltbild, S. 140; Sprenger, Medien des Immediaten, S. 373. 273 Er schreibt: „Technisch kommt das Fernsehen dem Medium der Großaufnahme nahe.“ (Ebd., S. 481) Hier geht McLuhan auch auf den Unterschied zur Großaufnahme im Film ein: „Die Großaufnahmen, die im Film zur Schockwirkung verwendet werden, sind im Fernsehen etwas ganz Gewöhnliches.“ (Ebd.) Der Film wurde im Übrigen immer wieder und sehr viel früher im Register des Taktilen beschrieben. Gerade die Schockwirkungen durch Montage wird etwa bei Walter Benjamin als taktile Qualität des Film bestimmt (siehe Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier‐ barkeit [1936/ 1939], in: ders., Medienästhetische Schriften, Frankfurt am Main 2002, S. 351-383, v.a.: S. 378; zu den diversen Bestimmungen des Taktilen bei Benjamin siehe instruktiv: Bergermann, Tastaturen des Wissens, S. 304ff.). Béla Balázs wiederum beschreibt die filmische Großaufnahme bereits 1930 als Qualität, die uns die Dinge im Bildraum nicht nur näher bringt, sondern die Distanz dazu affizierend überwindet (siehe Béla Balázs, Der Geist des Films [1930]. Frankfurt am Main 2001, S. 16f.). Da McLuhan augenscheinlich das Fernsehen von Medien wie dem Film scharf abgrenzen will, geht er auf diese filmtheoretische Diskurstradition nicht näher ein. 274 Diese ‚schlechte‘ Auflösung ist wichtig, ja entscheidend für McLuhan. Er schreibt: „‚Verbessertes‘ Fernsehen wäre kein Fernsehen mehr.“ (McLuhan, Magische Kanäle, S. 474) Heutige HDTV, Plasmafernsehen u.ä. mit ihren ‚scharfen‘ Auflösungen sind dementsprechend eigentlich kein Fernsehen. Siehe dazu noch einmal ausführlicher → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Mosaik-Ästhetik armer Bilder“. 275 Ebd., S. 475. Die Idee, Fernsehen als taktiles Medium zu verstehen, findet sich bereits sehr viel früher, nämlich bei Rudolf Arnheim (siehe dazu: Klemens Gruber, Taktile Medien: Theorien aus der Vorgeschichte. Dreieinhalb Vereinfachungen, in: Maske und Kothurn, 62/ 2-3 [2017], S.-207-234, v.a.: S.-223f.) Arnheim bezeichnet bereits in einem 1935 erschienenen Text das Fernsehen als „nervöse[s] Tastsinninstrument“, das als „Mosaikbild“ in unserer Wahrnehmung zusammengesetzt wird (Rudolf Arnheim, Ein Blick in die Ferne [1935], in: ders., Die Seele in der Silberschicht, Frankfurt am Main 2004, S. 354-369, hier: S. 354f.). Diese Text ist gekürzt in englischer Sprache in folgender Aufsatzsammlung erschienen: Rudolf Arnheim, A Forecast of Television, in: ders., Film as Art, Berkeley u. a. 1957, S. 188-198. Dort fehlt indes die Ausführung zum Fernsehen als ‚nervösem Tastinstrument‘. Zudem kommt in diesem Text zwar noch der Begriff für ein harmonisches Wechselspiel der Sinne bzw. ihrem harmonischen ‚Schwingen‘. McLuhan geht auf den taktilen Aspekt der televisuellen Großaufnahme nur kurz ein. 273 Zentraler ist bei ihm die schlechte Auflösung des Fernseh‐ bildes (vgl. Abb. 9a-b), durch die etwas herstellt wird, was er die Mosaik‐ struktur des Fernsehens nennt: 274 „Das Fernsehbild ist […] ein mosaikartiges Maschennetz von hellen und dunklen Punkten.” 275 Dieses ‚mosaikartiges Maschennetz‘ soll ebenfalls taktil und nicht visuell strukturiert sein, obwohl man es sehen kann: „[Die] Mosaikform ist […] keine visuelle Gestalt. Man 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 115 <?page no="116"?> Mosaik vor; dieser bezieht sich aber nicht auf das Fernsehen, sondern auf die Art und Weise wie unsere visuellen Rezeptoren generell funktionieren: „The mosaic that results from this collaboration of the receptors depicts three-dimensional space and volume as best it can.“ (Ebd., S. 189) Dementsprechend ist es nicht so, dass McLuhan die Idee der Taktilität des Fernsehens bzw. die Beschreibung des Fernsehens als Mosaikstruktur direkt von Arnheim übernommen hat (auch wenn er den Text gekannt haben könnte). Zumindest ist bei ihm der Begriff des Mosaiks zur Beschreibung der Funktionsweise des Auges zur Kennzeichnung des Fernsehbild gewandert. 276 McLuhan, Magische Kanäle, S.-503. 277 Ebd. kann das Mosaik sehen, wie man den Tanz sehen kann, aber es ist nicht visuell strukturiert und ist auch keine Erweiterung des Sehvermögens.“ 276 Abb. 9a-b: TV-Mosaike: Fernsehbild(-auflösung) einmal in den 1920er Jahren mit 45 Zeilen (l.), einmal in den 1960er Jahren mit 525 Zeilen (r.) Um das zu verstehen, hilft wieder die Idee des resonierenden Intervalls weiter. Ein Mosaik besteht aus (zumeist heterogenen) Elementen, die in ihrer Gesamtheit ein Bild formen (vgl. Abb. 10). Die Einzelteile befinden sich dabei in einem spezifischen Verhältnis von Nähe und Distanz. Sie sind klar getrennt und stehen doch in Relation zueinander. Diese Relation ist - etwa im Gegensatz zu dem in einem geometrisch klar geordneten, einheitlichen Raster aus Vertikalen und Horizontalen - heterogen, zusammengesetzt aus vielen unterschiedlichen Elementen. „[D]as Mosaik ist nicht einheitlich, stetig und wiederholend. Es ist unstetig, asymmetrisch und nicht linear […].“ 277 Das ist ein Gefüge resonierender Intervalle. Die Einzelteile, so könnte man aus Sicht McLuhans formulieren, geraten in ihren jeweiligen Grenzbereich in unterschiedliche wechselseitige Schwingungen, durch die wir ‚berührt‘ werden. Genau deshalb soll das Mosaik taktil sein. 116 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="117"?> 278 Siehe: ebd., S.-472ff. 279 Zu einer rhetorischen Nachahmung dieser Anordnung in McLuhans Texten → 1. Lesart: Rhetorik, Kap. „McLuhans Texte als Fernsehbildschirm“. Abb. 10: Resonierende Mosaikelemente Diese Art des Berührt-Werdens durch Elemente, die getrennt und doch im Verhältnis zueinander stehen, lässt, so McLuhan weiter, die Rezipient: innen in einer besonderen Weise aktiv werden, genauer ihre Imagination, da sie die Leerstellen zwischen den Elementen selbst aktiv füllen bzw. die Elemente in Relation zueinander setzen müssen. 278 So resonieren genau genommen nicht nur die Elemente des Mosaiks untereinander, sondern das Mosaik und der jeweilige Betrachter bzw. die jeweilige Betrachterin. 279 Denn diese stehen - ganz analog zu den einzelnen Elemente des Mosaiks - ebenfalls in einem Nähe/ Distanz-Verhältnis zum Mosaik im Gesamten. Oder genauer: Die Elemente des Mosaiks treten einerseits erst im und durch den aktiven Rezeptionsakt in einen Zustand wechselseitiger Schwingungen, anderseits ist dieser Rezeptionsakt selbst ein durch das Ins-Verhältnis-setzen zur Mosaikstruktur ausgelöster Schwingungsakt zu verstehen. Oder einfacher ausgedrückt: Die Mosaikstruktur ist auf ‚resonierende‘ Rezeption angelegt. Wir sehen das Mosaik, rezipieren es aber aufgrund seiner spezifischen visuellen Struktur taktil. Diese mosaikartige Anordnung lässt sich an bestimmten Kunstrichtungen besonders gut veranschaulichen. Im Pointelismus etwa, auf den McLuhan in diesem Zusammenhang wiederholt eingeht, wird der Farbauftrag so gewählt, dass die dargestellten Gegenstände in einzelne Punkte und Striche 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 117 <?page no="118"?> 280 Siehe bspw.: ebd., S.-290f., 378, 474. 281 Ebd., S.-475. aufgelöst werden. 280 Im Rezeptionsakt müssen sie ins Verhältnis zueinander gesetzt werden, um die dargestellten Gegenstände identifizierbar zu machen (vgl. Abb. 11). Abb. 11: ‚Making points‘ im Pointelismus: Paul Signacs „V E N E D I G , D I E R O S A W O L K E (1909) Und damit komme ich endlich wieder zum Fernsehen zurück: Die Bilder des Fernsehens - zumindest in der Variante körniger Auflösung - sind aus McLuhans Perspektive eine Art Pointelismus in Bewegung oder eben ein bewegtes „mosaikartiges Maschennetz von hellen und dunklen Punkten“. 281 Zur Bezeichnung dessen, was hier geschieht, passt der Begriff resonie‐ rendes Intervall nahezu ideal: Die schwingende Wechselwirkungen der einzelnen Elemente werden nämlich im Fall des Fernsehbildes tatsächlich als Intervallprozess beschreibbar. Denn es geht hier um zeitliche Verläufe, um Bewegtbilder, genauer um in Licht umgewandelte elektrische bzw. 118 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="119"?> 282 Siehe dazu ausführlicher: Albert Abramson, Electronic Motion Pictures. A History of the Television Camera [1955], New York 1974, S. 48ff., siehe knapper dazu (mit Fokus auf die transitorische Dynamik und Unabgeschlossenheit televisueller Bildgebung): Engell, Schaltbild, S.-18f. 283 Um die haptische Dimension dieses Vorgangs hervorzuheben, nennt McLuhan dieses Abtasten an einigen Stellen „scanning finger“ (McLuhan, Understanding Media, S. 249, 378). In der deutschen Ausgabe ist stattdessen ‚nur‘ von „Bildabtastung“ (McLuhan, Magische Kanäle, S.-378) bzw. „Abtastsystem“ (ebd., S.-423) zu lesen. elektronische Signale, die als wechselnde Bildpunkte auf dem Bildschirm in bestimmten Abständen erscheinen. Dabei werden durch Zeilenabtastung und Zeilensprung - zeitlich leicht versetzt, auf gerade und ungerade Zeilen verteilt, mitsamt Zeilenrückläufen - Halbbilder erzeugt, die in der Rezeption vervollständigt werden müssen (vgl. Abb. 12a-b). 282 Man könnte auch etwas zugespitzt formulieren: Das Bild entsteht zwischen zwei Halbbildern aus wechselnden, ‚flimmernden‘ Bildpunkten, also in einem Intervall, auf das stets weitere Intervalle folgen. Fernsehbilder konstituieren sich dementspre‐ chend aus resonierenden Punkten, Zeilen und Intervallen. Im elektrischen Zeitalter wird mit dem Fernsehen - so ließe sich mit McLuhan behaupten - aus einer künstlerischen Stilrichtung (Pointelismus) bzw. einer Praxis der bildenden Kunst (Mosaik) eine technologische Anordnung taktiler Wahrnehmung. Abb. 12a-b: Mosaik-Intervalle: Zeilenabtastungen auf dem Fernsehbildschirm Das Fernsehen hat nach McLuhan noch weitere, sehr viel konkretere materielle Aspekte des Taktilen zu bieten. Denn der Bildschirm selbst wird erstens materiell durch Lichtimpulse berührt. In solche Lichtimpulse trans‐ formierte elektrische Signale tasten unablässig die Bildschirminnenseite ab (vgl. noch einmal Abb. 12a). 283 Zweitens „tastet“, wie McLuhan schreibt, die 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 119 <?page no="120"?> 284 Ebd., S.-473. 285 Diese Photozellen, so könnte man im Sinne McLuhans argumentieren, sind selbst wieder mosaikförmig angeordnet. Friedrich Kittler wird sehr viel später die Aufzeich‐ nungsweise der Fernsehkamera genau in diesem Sinne beschreiben: „Das aufzuneh‐ mende Bild sollte auf den Schirm einer Braunschen Röhre projiziert werden, die mit einem Mosaik aus trägheitslosen Photozellen bedeckt war.“ (Friedrich Kittler, Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S.-296; Hervorhebung von mir [SG]) 286 McLuhan, Magische Kanäle, S.-473. 287 Ebd. 288 Demensprechend formuliert McLuhan sehr deutlich an anderer Stelle: „Light comes through the image at the viewer; the viewer is not a camera, but a screen.“ (McLuhan, A Note on Tactility, S. 266) Siehe dazu ausführlicher: Engell, Schaltbild, S. 142ff. Siehe zur Anwendung diese Ideen auf digitale Abtast-Vorgänge der Gegenwart → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Abstasten als digitale Operation“. Fernsehkamera „pausenlos Konturen von Dingen mit einem Abtastsystem ab.“ 284 Also nicht nur die Ausstrahlung im Fernsehen, ebenso die Aufnahme mit einer Fernsehkamera ist in taktilem Vokabular zu fassen: Egal, ob Filme, Bilder oder Live-Aufnahmen von Sportveranstaltungen - all diese Phänomene werden durch Bildpunkt- und Zeilen-Abtastung in Photozellen aufgenommen 285 und anschließend in elektrische Impulse umgewandelt. Drittens lässt sich das Taktile in einem besonderen Sinne auf die Rezeptions‐ seite wenden. McLuhan beschreibt das in einem martialisch-militärischem Vokabular: „Der Zuschauer wird mit Lichtimpulsen beschossen, die James Joyce die ‚Attacke der leichten (Light = leicht und Licht) Kavallerie‘ nannte […].“ 286 Im Gegensatz zum Mosaik aus Stein oder einem Gemälde, bei denen die Lichtquelle von der Seite oder von oben kommen muss, um es sehen zu können, und auch im Gegensatz zum Film im Kino, wo Licht der Projektion von hinten oben auf die Leinwand strahlt, ist der Fernsehbildschirm selbst die Lichtquelle, die die Rezipierenden anstrahlt. Herrscht im Fall des Films „Auflicht“, wie McLuhan das in kunstwissenschaftlichem Vokabular nennt, so ist es beim Fernsehen „Durchlicht“. 287 In gewisser Weise sind wir, die Rezipient: innen, die Bildschirme des Fernsehens, werden wir doch durch die Lichtimpulse, die das Fernsehgerät ausstrahlt, unmittelbar abgetastet und ‚berührt‘. So sind wir integrativer Teil der elektrisch-televisuellen Anordnung. 288 Noch eine weitere Ebene des Taktilen wird bei McLuhan relevant. Er schreibt: „Außerdem nimmt sich das Fernsehen der verschiedenartigen und rohen Formen [textures] der Reitsättel, Kleider, Felle und schäbigen 120 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="121"?> 289 McLuhan, Magische Kanäle, S. 484. Auch hier setzt McLuhan das Fernsehen in ein kon‐ trastives Verhältnis zum Film. Er schreibt: „Die Filmkamera hingegen ist in der glatten Chromwelt der Nachtklubs und Luxushotel der Weltstädte zu Hause.“ (Ebd., S. 484f.) Auf der einen - televisuellen - Seite also ‚schlechte‘ (Bild-)Auflösung und ‚rohe Formen‘, auf der anderen - filmischen - Seite ‚gute‘ (Bild-)Auflösung und ‚glatte Oberflächen‘. Diese Gegenüberstellung ist sicherlich allzu einfach. Auch Fernsehsendungen kennen glatte Oberflächen und ebenso gibt es Film mit rohen Formen. Besonders anschaulich wird das am 1965 eingeführten Filmformat Super 8. Wenngleich dieses Format insbesondere im privaten Umfeld wie in der künstlerischen Avantgarde Anwendung fand, so handelt es sich nichtsdestotrotz um Film. Dieses Format zeichnet sich vor allem durch seine körnige Auflösung aus (vgl. zu vielen Beispielen und der Geschichte diese Filmformats: Fridolin Schley, Die Achte Welt. Fünfzig Jahre Super 8, Berlin 2014). Insofern wäre es für McLuhans Mosaik-These geradezu prädestiniert. Wohl nicht zuletzt, weil McLuhan die Ästhetik und Materialität des Fernsehen gegen die des Film stark machen will, schenkt er diesem bereits in den 1960er Jahren äußert populären Filmformat keine Beachtung. Dennoch scheint mir McLuhans Kontrastierung von Film und Fernsehen deshalb interessant, weil bei dieser Unterscheidung Bildobjekt (die dargestellten Dinge) und das Bildvehikel (der Fernsehbildschirm bzw. die Kinoleinwand mitsamt ihrer divergenten Optionen der Bildauflösung) als sich wechselseitig bestimmend gedacht werden. Mit einem Wort McLuhans formuliert: Bildvehikel und Bildobjekt ‚resonieren‘. 290 Zu Riegls Konzept des tastenden Sehens siehe: Gruber, Taktile Medien, 216 ff.; Kirschall, Audiovisionen, S. 126ff. Siehe zu Gombrichs Beschreibungen von Riegl und dem tastenden Sehen: E. H. Gombrich, Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation [1960], Princeton/ Oxford 2000, S.-18ff. Kistenholzbars und Hotelfoyers an.“ 289 Hier geht es also um die Oberflä‐ chenstruktur der Dinge, die durch die Darstellungen des Fernsehens in den Blick kommen. Da sich diese Darstellungsart besonders für die Ober‐ flächenstruktur der Dinge interessiert, lässt sich behaupten, dass es eine Rezeptionsweise nahe legt, die in der Kunstwissenschaft, etwa von Alois Riegl und Ernst Gombrich als ‚tastendes Sehen‘ bezeichnet wird. 290 Ein tastendes Sehen ist nach Riegl eines, das sich nicht für die illusionistischen Effekte, die den Dingen auf zweidimensionalen Flächen Tiefe verleihen, interessiert, sondern eben für die Oberfläche der dargestellten Phänomene, ihre Beschaffenheit und Relationen, wie etwa beim Mosaik. Gombrich wiederum beschreibt den Kubismus, als eine Malrichtung, bei der es weniger um die Gegenstände geht als vielmehr um die Spannungen der Elemente im 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 121 <?page no="122"?> 291 Siehe ebd., S. 286. Streng genommen müsste hier noch einmal differenziert werden. Gombrich lehnt nämlich eigentlich die Idee ab, dass der Kubismus ‚taktiles Sehen‘ herausfordert, wenn er schreibt: „The function of representational clues in cubist paintings is not to inform us about guitars and apples, nor to stimulate our tactile sensations. It is to narrow down the range of possible interpretations till we are forced to accept the flat pattern with all its tensions.“ (Ebd.; Hervorhebungen von mir [SG]) McLuhan wiederum bezieht sich dennoch auf Gombrichs Beschreibung des Kubismus zur Plausibilisierung ‚seines‘ tastenden Sehens (siehe McLuhan, Magische Kanäle, S. 29f.). Das ist durchaus konsequent, wenn man bedenkt, dass laut McLuhan ja die Spannungen (‚tensions‘) der Bildelemente untereinander den taktilen Sinn aktivieren und so das Wechselspiel der Sinne verursacht wird. Bild, die wir im Rezeptionsakt, wie McLuhan formulieren würde, ‚tastend‘ zusammensetzen. 291 Das mag sich auf den ersten Blick verwunderlich ausnehmen, da über die Fernsehbildschirme (auch schon in McLuhans Zeit) trotz ihrer Mosaik‐ struktur nicht primär Mosaike oder kubistische Animationen flimmerten, sondern vielmehr Nachrichten, Sport, Soaps oder Westernserien, bei denen es scheinbar primär um das geht, was übermittelt wird, nicht um das Wie, ganz zu schweigen von der Sensibilisierung für Oberflächenstrukturen. Indes ist es doch recht erstaunlich, wenn man geleitet von McLuhans Beschreibungen Reitsättel, Saloninnenräume aus Sperrholz, Felle und Klei‐ der in Westernserien der 1950er und 1960er-Jahre genauer betrachtet. Zur Veranschaulichung sei nur auf einige Bespiele aus der damals im US-ame‐ rikanischen Fernsehen sehr populären Westernserie G UN S MO K E (CBS, 1955- 1975) verwiesen. Hier finden sich auffällig viele Einstellungen, die sich in der Tat auf die Oberflächen der Dinge, etwa Cowboyhüte, Kaffeekannen, Holzbaracken, Pferdegeschirr oder auch (Kleider-)Stoffe, konzentrieren (vgl. Abb. 13a-f). Bereits im Vorspann von G UN S MO K E wird der Fokus in Stand‐ bildern eigens genau auf die Oberfläche solcher Alltagsgengestände gelenkt (vgl. Abb. 13a-c). Damit greifen Bildobjekt (die Darstellung von Dingen im Fernsehbild) und das Bildvehikel (die Ausstrahlung des Fernsehbildes) ineinander: Die Mosaikstruktur des Fernsehbildes, die allein schon einen taktile Rezeption nahelegt, wird durch das Interesse des Fernsehbildes für die Darstellung von Oberflächenstrukturen unterstützt bzw. verstärkt zu einem taktilen/ tastenden Sehen. 122 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="123"?> 292 Ebd., S.-487 293 Siehe als Überblick: Winfried Nerdinger, Das Bauhaus: Werkstatt der Moderne, Mün‐ chen 2018. 294 McLuhan, Magische Kanäle, S.-487. 295 Siehe dazu und zum Folgenden ausführlich: Schmidgen, Horn, S.-196ff. Abb. 13a-f: Lob der Oberfläche in der Westernserie G U N S M O K E Dieser Zusammenhang lässt sich noch mit einer anderen - ebenfalls erst einmal recht erklärungsbedürftigen Referenz McLuhans verdeutlichen und ideengeschichtlich bzw. kunsthistorisch wenden. McLuhan schreibt: „Das Fernsehen ist das Bauhaus-Programm der Formgebung des Lebens […] ins Technische erweitert […].“ 292 Das Bauhaus war eine in Weimar 1919 gegründete Kunstschule, die sich programmatisch zum Ziel setzte, Kunst und Handwerk, Architektur, bildenden Künste und Design so zu verknüp‐ fen, dass, wie McLuhan schreibt, durch Formgebungen die menschliche Wahrnehmung umfassend sensibilisiert und letztlich unser Leben umge‐ staltet werden sollte. 293 Genau in diese Traditionslinie stellt McLuhan das Fernsehen: „Die plötzliche künstlerische Offensive mit dem Ziel der Neu‐ schaffung des westlichen Menschen ist über das Fernsehen eine allgemeine und überwältigende Erscheinung im amerikanischen Leben geworden.“ 294 Was in diesem Zusammenhang besonders von Interesse ist: Die Mitar‐ beiter: innen des Bauhaus setzten sich früh mit Taktilität auseinander. 295 Zu Beginn waren es zunächst sogenannte Tastübungen, bei denen die Stu‐ dierenden unterschiedliche Stoffe ertasten und dann beschreiben mussten, welche Reaktionen diese auslösen. Hier ging es - ganz dem reformpäda‐ 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 123 <?page no="124"?> 296 László Moholy-Nagy, Von Material zu Architektur [1929], Mainz/ Berlin 1968, S.-33. 297 Schmidgen, Horn, S.-201. 298 Moholy-Nagy, Von Material zu Architektur, S.-33. 299 Schmidgen, Horn, S.-201. 300 Moholy-Nagy, Von Material zu Architektur, S.-33 gogischen Diktum des Bauhaus entsprechend - um eine Sensibilisierung und Umgestaltung der Wahrnehmung. Seit László Moholy-Nagy Dozent am Bauhaus war, gingen diese Taststudien über in Material- und Texturstudien. Das bedeutete vor allem ein wachsendes Interesse an Oberflächenstrukturen der Dinge. László Moholy-Nagy differenziert in seinen Texten drei Aspekte: Struktur, Textur und Faktur. Die Struktur ist „die unveränderbare aufbauart des materialgefüges“. 296 Als Beispiele ließen sich die geologischen Schichten von Gebirgsformationen nennen, „die faserige Konsistenz von Papier“ 297 oder auch die innere Struktur eines Baumstumpfes (vgl. Abb. 14a). Textur ist im Gegensatz dazu „die organisch entstandene anschlußfläche jeder struktur nach außen“, 298 „also ihre Einfassung oder Hülle“. 299 Hier ließen sich als Beispiele anführen die verschrumpelte Schale eines Apfels, die Falten einer Gesichtshaut oder das Fell einer Katze (vgl. Abb. 14b). Faktur wiederum wird als „der sinnlich wahrnehmbare niederschlag (die einwirkung) des werkprozesses“ 300 auf das Material bestimmt, etwa die sichtbaren Bearbei‐ tungsspuren an Metalllegierungen (vgl. Abb. 14c). Abb. 14a-c: Die Oberfläche der Dinge: Struktur (l.), Textur (m.), Faktur (r.) 124 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="125"?> 301 Ebd., S.-24. 302 Ebd. 303 Diskussion über Ernst Kállai’s Artikel ‚Malerei und Fotografie‘, in: i 10, 1, 6 (1927), S. 233, zitiert nach: Gruber, Taktile Medien, S.-213. 304 Ebd. Für all diese Ebenen gilt: Sie führen zu einem sensibilisierenden tatsenden Sehen der Oberflächen, das, wie Moholy-Nagy schreibt, „fast jeden - nicht etwa nur den handwerker - zur erprobung seiner tastfunktion“ 301 anregt. Die Unterteilung von Struktur, Textur und Faktur lassen sich sehr einfach auf die angeführten Darstellungen in der Serie G UN S MOK E anwenden: sei es die Struktur von Holzmaserungen in den Holzspanplatten (vgl. noch einmal Abb. 13d, e), die Textur von Falten im Gesicht des Sheriffs, die ‚anschlußfläche‘ der Cowboyhüte oder der textilen Stoffe (vgl. noch einmal Abb. 13c, f). Auch die Faktur lässt sich allerorten finden: seien es die bearbeiteten Holzplatten, beschlagene Metallrohre oder auch Abnutzungsflächen von Kaffeekannen (vgl. noch einmal Abb. 13b, d, e). Aus diesem Blickwinkel könnte man diese Art televisueller Darstellung tatsächlich im Sinne McLuhans in die reformpädagogische Tradition des Bauhaus zur Sensibilisierung der Wahrnehmung stellen. Wichtiger aber noch ist ein anderer Aspekt: Moholy-Nagy verbindet die Sichtbarmachung dieser Oberflächenaspekte der Dinge vor allem mit der Fotografie. Durch fotografische Groß- und Detailaufnahmen soll ge‐ nau solch eine Fokussierung auf bis dahin zumeist unbeobachtete „(tast) werte[.]“ 302 des Materials und deren Oberflächen ermöglicht werden. Foto‐ grafische Darstellungen aktivieren also den Tastsinn. Diese Aktivierung hat wiederum eine bestimmte medientechnologische Grundlage. Denn laut Moholy-Nagy weist die Fotografie eine spezifische Faktureigenschaft auf: „durch einen chemischen prozeß bilden sich die feinsten tonabstufungen in einer homogenen schicht. […] es entsteht die ‚lichtfaktur‘“ 303 Klemens Gruber beschreibt dies im Sinne Moholy-Nagy in taktilem Vokabular: „So wie der Mensch mit seinen Händen etwas berührt, etwas ertastet, so fährt das Licht über das Fotopapier oder den dazwischenliegenden Gegenstand. Es tastet die Anordnung ab. Das Fotopapier spürt das Licht, wo der Gegenstand es passieren lässt, und zeigt eine chemische Reaktion. Es erzeugt eine ‚lichtfaktur‘.“ 304 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 125 <?page no="126"?> 305 McLuhan hat indes Moholy-Nagys Konzept der Taktilität nicht aufgegriffen, ge‐ schweige denn ausbuchstabiert oder sich selbst explizit in dessen Traditionslinie gestellt. In U N D E R S T A N D I N G M E D I A geht McLuhan kurz auf Moholy-Nagy ein, aber nicht auf sein Taktilitätskonzept. McLuhan erzählt vielmehr eine Anekdote über Moholy-Nagys Erfahrung in einem Jazz-Club und wie dort musikalische Improvisati‐ onen aufgrund von sich gegenseitig zugerufenen Zahlen in Szene gesetzt wurden (vgl. McLuhan, Magische Kanäle, S. 172f.). Zwar wird in diesem Kontext Taktilität verhandelt (genauer die Taktilität der Zahl), aber nicht Moholy-Nagys Konzept der Taktilität. Auch in der G U T E N B E R G -G A L A X I S findet Moholy-Nagy kurz Erwähnung (siehe McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S. 88), aber dort wiederum nur bezüglich der angeblichen ‚Resakralisierung‘ der Moderne durch/ in Kunst. Überhaupt gilt: Der Rückgriff auf das Bauhaus als Vorläufer des Fernsehens bleibt bei McLuhan recht unbestimmt. Dennoch sind die Parallelen auffällig - und zumindest zeugt dies davon, wie aus unterschiedlichen Zusammenhängen heraus im 20. Jahrhundert ideengeschichtlich die Vorstellung von Taktilität mehr und mehr an medientechnologische und -ästhetische Verfahren gekoppelt wurde. 306 Siehe zur problematischen Metaphorik des Taktilen und der damit einhergehenden - wie Bergermann pointiert im Register McLuhan’schen Wortwitzes formuliert - „extensions of tactility“: Bergermann, Tatasturen des Wissens, S.-315. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu McLuhans Beschreibung des Fernsehens. 305 Auch das Fernsehen soll ja die Dinge abtasten, auch dieses bringt die Oberfläche der Dinge in einer spezifischen ‚lichtfaktur‘ zur Darstellung - in diesem Fall, im Gegensatz zur Fotografie, durch die Umwandlung elektrischer Impulse in mosaikförmige Lichtintervalle. Es gibt so verstanden eine eigene televisuelle Bearbeitung der Dinge, eine Art ‚Fernseh-Faktur‘, die an uns appelliert, taktil zu sehen und so das Wechselspiel der Sinne aktiviert. Die vorangegangenen Darstellungen des Zusammenhangs von Fernsehen und Taktilität, mitsamt diversen ideengeschichtlichen Ausflügen, könnten vielleicht als zu weitschweifige und unnötige (metaphorische) Ausweitung des Begriffs der Taktilität kritisiert werden. 306 Jedoch wollte ich mit den Ausführungen mindestens vier Dinge verdeutlichen: Erstens sollte aufzeigt werden, auf wie vielen Ebenen mit McLuhan Fernsehen als das herausra‐ gende taktile Medium des elektrischen Zeitalters zu verstehen ist (vgl. als Überblick Abb. 15). 126 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="127"?> Taktilität Modus des Taktilen zentrale Operationen und Metaphern des Taktilen Relation zum Fernsehen technologisch elektronische Verbindung über räumliche Distanzen hinweg verbinden, berühren, umhüllen technologische Voraussetzung des Fernsehens apparativ elektrische Lichtabtastung der Dinge, des Bildschirms, der Rezipient: innen abtasten, mosaikförmig konfigurieren apparative Operation des Fernsehens ästhetisch affektive und aktivierende (visuelle) Wahrnehmung affizierendes Berühren, tastendes Sehen, Wechselspiel der Sinne aktivieren, begreifen ästhetische Wahrnehmung des Fernsehens Abb. 15: Facetten und Ebenen des televisuellen Fernsehens Das war deshalb so wichtig, weil es zunächst kontraintuitiv erscheint, das Fernsehen als Ausweitung des taktilen Sinnes zu verstehen. Zum einen gilt dies, weil doch das Fernsehen auf den ersten Blick viel mehr als Erweiterung des Hörens und Sehens gelten müsste, zum anderen, weil das Fernsehen keinen direkten Körperkontakt im engeren Sinne herstellt und dementsprechend die Kopplung von Fernsehen und Taktilität rätselhaft ist. Zweitens sollte deutlich gemacht werden, wie die Erweiterung des taktilen Sinns (auf materieller Ebene) mit dem Meta-Sinn der Taktilität (der die Wechselwirkung der Sinne garantiert) - insbesondere durch metaphorische Formulierungen wie tastendes Sehen, resonierendes Intervall - ineinander‐ gefügt werden. Drittens waren die weitreichenden ideengeschichtlichen Kontexte einzuholen, auf die sich McLuhan - zumeist kurz und kryptisch - bezieht oder in die er sich doch einreihen lässt. Viertens - und das war ja der eigentliche Ausgangspunkt für diesen ausgiebigen Exkurs über McLuhans Television - ist damit erklärt, warum insbesondere mit dem Fernsehen die Erkenntnis möglich wird, dass Medien die Ausweitung des Menschen sind und diesen formen. Solch eine (Selbst-)Erkenntnis ist nach McLuhan, daran sei noch einmal erinnert, nur möglich, wenn sich die Sinne in einem harmonischen Wechselspiel befinden. Das Fernsehen soll laut McLuhan 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 127 <?page no="128"?> 307 John T. Caldwell, Televisuality. Style, Crisis, and Authority in American Television, New Brunswick/ New Jersey 1995, S.-372. 308 Neil Postman wird diese Art der Fernsehkritik in den 1980er Jahren mit explizitem Bezug auf McLuhans These vom Medium, das die eigentliche Botschaft sein soll, wirk‐ mächtig reformulieren, siehe: Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie [1985], Frankfurt am Main 1988; siehe dazu genauer → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „McLuhan und die Forschung“. 309 McLuhan, Magische Kanäle, S.-39 (Hervorhebung von mir [SG]). genau das möglich gemacht haben: Es berührt und ergreift uns in einer Weise, die uns uns und unsere Medienwelt begreifen lässt. Das ausgerechnet das Fernsehen zu dieser Art der Selbst- und Mediener‐ kenntnis führen soll, ist wohl eine durchaus erstaunliche Wendung, wenn man bedenkt, wie viel Kritik das Fernsehen als Medium des „zero degree style“ 307 par excellence von Anbeginn an aufgrund seiner vermeintlichen Tri‐ vialisierungen, Verdummung und Sedierungseffekten einstecken musste. 308 Künstler: innen (und Forscher: innen) als Seismografen Nun zur ästhetischen Antwort auf die Frage, wie die Köperausweitungen als solche erkannt werden können, obwohl sie uns doch sedieren und so verhindern, dass wir sie erkennen. Zwar formuliert McLuhan, wie gerade dargestellt, dass erst im Zeitalter der Elektrizität die Betäubung durch Medien erkannt und auf Grundlage der Operationslogik elektrischer Medien gebannt werden kann. Das gilt aber nicht für einen bestimmten Typus Mensch, nämlich den Kunstschaffenden. Dieser stellt insofern eine Ausnahme dar, als er der Einzige ist, der sich der Betäubung durch die Medientechniken immer schon erfolgreich erwehren konnte und zu Gegen‐ maßnahmen befähigt ist: „Der ernsthafte Künstler ist der einzige Mensch, der der Technik ungestraft begegnen kann, und zwar deswegen, weil er als Fachmann die Veränderung der Sinneswahrnehmung erkennt.“ 309 Künstler: innen sind so verstanden Seismografen, die Veränderungen und Gefahren sehr viel eher registrieren als andere. Als ‚Expert: innen für die Sinneswahrnehmung‘ können Künstler: innen Werke kreieren, die vor allem durch ihre Form - und das heißt eben auch auf sinnlicher Ebene - die Rezipient: innen beeinflussen können. Bei der Diskussion des Fernsehens wurde diese Annahme McLuhans bereits en passant angeführt. Die dort angeführten Beispiele aus dem Pointelismus oder auch dem Bauhaus, bei denen es um die Aktivierung 128 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="129"?> 310 Ebd., S.-497. 311 Siehe dazu und zum Folgenden: Schmidgen, Horn, S.-192ff. Abb. 16: Dali als „TV Guide“ des Wechselspiels der Sinne und die Sensibilisierung der Wahrnehmung geht, sind bei McLuhan selbst explizit als künstlerische Vorläufer der Wahrnehmungsmodalitäten des Fernsehens verstanden. Hinsichtlich des Bauhaus schreibt McLuhan bspw., dass das Fernsehen dessen ästhetisches Programm „ins Technische erweitert“ 310 hat. Um noch ein sehr konkretes und wunderbar passendes Beispiel für die Sensibilität der Kunst, nämlich auf Veränderungen der Sinneswahrnehmung zu reagieren und reflexiv wahrnehmbar zu machen, anzuführen, sei auf ein Werk von Salvador Dali eingegangen, das McLuhan unmittelbar nach seinem Erscheinen begeistert kommentierte (vgl. Abb. 16). 311 Der surrealistische Maler gab der US-amerikanischen Fernsehzeit‐ schrift TV G UID E ein Interview, das dort in der Ausgabe vom 12. Juni 1968 erschien. Für diese Aus‐ gabe gestaltete Dali eigens das Ti‐ telblatt. Vor einem monochromen, körnigen Hintergrund sind zwei Daumen abgebildet, die Schatten (in unterschiedliche Richtungen) wer‐ fen (vgl. Abb. 16). In deren Nä‐ gel sind zwei Schwarz-Weiß-Fern‐ sehbildschirme integriert, auf denen jeweils in close ups zwei männli‐ che Figuren in Anzügen zu sehen sind, die höchstwahrscheinlich aus einer politischen Sendung einmon‐ tiert wurden. Rechts im Bildvorder‐ grund ist eine auf einem Stein sit‐ zende abstrahierte Figur dargestellt, deren Blick auf die Daumen gerichtet ist. Dieses Bild lässt sich mit McLuhans Darlegungen zur Taktilität besonders gut beschreiben und interpretieren. Erstens weist allein schon das Motiv, Daumen, auf das Tasten hin, genauer noch auf die haptische Betätigung der (Einschalt-)Taste des Fernsehens mit dem Daumen. Zweitens zeigen 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 129 <?page no="130"?> 312 Moholy-Nagy, Von Material zu Architektur, S.-33 313 McLuhan, Letters, S.-354. die in den Daumennägel einmontierten Fernsehbildschirme close ups von Gesichtern, die nicht nur selbst Emotionen ausdrücken (das eine Gesicht lächelt, die andere Figur ist augenscheinlich aufgeregt), sondern die als close ups die Rezient: innen affizieren, also ‚berühren‘ sollen. Drittens zeugen die Bildschirme, die in Dalis Bild einmontiert sind, von einer schlechten Auflö‐ sung. Sie haben also im Sinne McLuhans eine mosaikförmige Struktur, die die Rezipient: innen aktiv zusammensetzen müssen, was gemäß McLuhan ein Wechselspiel der Sinne herruft. Viertens lässt sich die Oberfläche der Daumen als Textur im Sinne Moholy-Nagy beschreiben, sehen wir doch dort deutlich die Falten der Haut. Der monochrome Hintergrund des Bildes ist wiederum als Struktur zu fassen, weil er eine faserige Konsistenz aufweist. Die Hervorhebung von Struktur und Textur führen mit Moholy-Nagy gedacht zu einem ‚tastenden Sehen‘. Fünftens handelt es sich bei diesem Bild um das Cover einer Fernsehzeitschrift, die in die Hand genommen werden muss, um gelesen zu werden. Die Leser: innen müssen also - unter anderem mit ihren Daumen - ganz konkret haptisch-taktil tätig werden. Das hier reproduzierte Titelbild trägt in diesem Sinne deutliche Gebrauchsspuren und ist so ein, mit Moholy-Nagy formuliert, „sinnlich wahrnehmbare […] einwirkung“ 312 dieses Rezeptionsprozesses, in gewissem Sinne also eine Faktur, die sich während des Betastens im Bild niederschlägt. Sechstens - und damit komme ich zu McLuhans eigener Interpretation des Bildes - findet zwischen den zwei Daumen das statt, was der Medien‐ forscher als resonierendes Intervall zwischen zwei Elementen beschreibt, die trotz räumlicher Distanz, wie beim Mosaik, eine taktil-verbindende Wechselwirkung der Sinne aktivieren sollen. Explizit schreibt McLuhan in einem Brief vom 12. Juni 1968: „The cover of the June 8-14 tv Guide is a Dali masterpiece. It manifests in detail the tactile quality of the tv image….The two thumbs with the tv images on the nails are carefully separated to indicate the ‚gap‘ or interval instituted by touch.“ 313 Für die 1971 erschienene Taschenbuchversion zu einer Sammlung von einigen literaturkritischen Texten McLuhans, die erstmals 1969 unter dem Titel T H E I NT E R IO R L AND S CA P E erscheinen war, schrieb der Medienforscher ein - im Vergleich zur Erstpublikation aus dem Jahr 1969 - erweitertes Vorwort. Dort heißt es etwas ausführlicher und mit einem Hinweis auf die generelle Rolle der Kunst versehen: „That art is a means of giving us new awareness 130 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="131"?> 314 Marshall McLuhan, Foreword by Marshall McLuhan, in: Eugene McNamara (Hg.), The Interior Landscape. The Literary Criticism of Marshall McLuhan 1943-1962, New York 1971, S. xiii-xiv, hier: xiv. 315 Siehe dazu: Marchand, McLuhan, S.-63ff. 316 McLuhan, Magische Kanäle, S.-109. through an intensification of our sensory life is obvious. TV Guide for June 8-14, 1968, has a painting by Dali on the cover. Two thumbs exhibit two TV screens as thumbnails. That is pure poetry, acute new perception. Dali immediately presents the fact that TV is a tactile mode of perception. Touch is the space of the interval, not of visual connection.“ 314 Dali soll also in diesem Bild verdichtet zur Darstellung gebracht haben, um was es eigentlich beim Fernsehen geht, eben um eine besondere Form taktil-resonierender Wahrnehmung. Dass Dali das wiederum, wie dargelegt, durch den Fokus auf diverse Facetten des Taktilen sichtbar gemacht hat, plausibilisiert McLuhans Überzeugung hinsichtlich der Aufgabe der Kunst, nämlich Aufklärungsar‐ beit über medientechnologische Eigenschaften und Effekte weniger oder doch nicht nur inhaltlich-motivisch zu thematisieren, sondern vor allem auf Ebene der Form wahrnehmbar zu machen. Dass Kunstwerke durch ihre Formgebungen entscheidend auf die Wahr‐ nehmung der Rezipient: innen einwirken und man deshalb in ihrer Analyse vor allem diesen Aspekt untersuchen muss (weniger den Inhalt, den biogra‐ fischen Kontext oder den Zeitgeist), diese These findet sich sehr prominent vertreten von Anhänger: innen des New Criticism, einer literaturwissen‐ schaftlichen Ausrichtung, die sich in den 1920er Jahren konstituierte und in den USA bis in die 1970er Jahre hinein ein wichtiges Forschungsparadigma blieb. Auch McLuhan war vom New Criticism fasziniert. Er lernte diesen während seines Studiums in Cambridge in Gestalt zweier Dozenten am Englischen Seminar kennen. Die Thesen der Literaturwissenschaftler Ivor A. Richards und Frank R. Leavis prägten McLuhans Sichtweise auf die Struktur eines Kunstwerkes maßgeblich. 315 Mit dem Übergang von der Formanalyse zur Wirkungsbehauptung und vor allem mit der Zuweisung einer weitreichenden gesellschaftlichen Auf‐ klärungsfunktion über die Wirkweise von Medien geht McLuhan indes weit über seine Lehrer Richard und Leavis hinaus. Künstler: innen können nämlich, so McLuhan, „das Verhältnis der Sinne zueinander berichtigen, noch ehe ein neuer Anschlag der Technik bewusste Vorgänge betäubt.“ 316 An anderer Stelle ist noch viel weiteichender zu lesen: „Keine Gesellschaft war sich jemals klar genug über die eigenen Handlungen, um gegen die 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 131 <?page no="132"?> 317 Ebd., S.-107. 318 Ebd., S. 108. Man muss nicht unbedingt McLuhans enthusiastische Einschätzung der Kunst und der Künstler: innen teilen, um dennoch der Kunst eine besondere Funktion hinsichtlich ihres reflexiven Potenziales und/ oder experimentellen Umgangs mit neuen Medientechnologien zuzuweisen. 319 McLuhan kannte - trotz einiger struktureller Ähnlichkeiten - Kapps Ansatz aller Wahrscheinlichkeit nach nicht (vgl. Sprenger, Medien des Immediaten, S. 363). Dennoch war zu Zeiten McLuhans, wie gezeigt, die These von der Körperausweitung des Menschen auch in der englischsprachen Welt äußerst virulent (wenngleich in anderen Varianten). Siehe dazu auch: Engell, Extensions of Man, S.-36; Schmidgen, Horn, S.-33. 320 McLuhan, Magische Kanäle, S.-82. neuen Ausweitungen oder Techniken immun zu werden. Heute spüren wir allmählich, daß die Kunst uns vielleicht diese Immunität geben kann.“ 317 Der Typus Künstler wird so Mentor der gesamten Menschheit: „Um einen unnötigen Schiffbruch der Gesellschaft zu verhindern, will der Künstler nun seinen elfenbeinernen Turm verlassen und den Kontrollturm der Ge‐ sellschaft übernehmen.“ 318 McLuhan ist davon überzeugt, dass nicht nur Künstler: innen diese Über‐ lebensfunktion übernehmen können, den ‚Kontrollturm der Gesellschaft‘ übernehmen wollen und auch sollten, sondern ebenso Forscher: innen, zumindest einige, wenigstens seit einer gewissen Zeit und ganz sicher er selbst. Hier lässt sich wieder ein Bogen schlagen zu der Technikhermeneutik Ernst Kapps von 1870 und zur mediengeschichtlichen Erklärung McLuhans, der zufolge inzwischen die medialen Effekte auch für Nicht-Künstler: innen erkennbar geworden sind. Kapp formuliert nämlich seine Thesen in einer Zeit, in der der Telegraf bereits etabliert ist. Hätte McLuhan Kapps These gekannt, 319 hätte er sie in sein medienhistorisches Modell einbauen können, denn: Kapp kann, McLuhans Medienhistoriografie zufolge, im Zeitalter der Elektrizität die Technik nicht nur als Körperausweitung erkennen (diese Erkenntnis lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen). Er kann sie nun zudem als unbewussten Ausdruck des Menschen entschlüsseln, der auf den Menschen zurückwirkt, also bewusst machen, welche Auswirkungen diese Ausweitungen auf unser Psyche haben. Denn für McLuhans elektrisches Zeitalter gilt: Es ist das „Zeitalter, in dem wir uns des Unbewußten bewußt“ 320 werden. Was für Kapp gilt, folgt man McLuhans medienhistoriografischer Rekon‐ struktion, gilt mindestens ebenso für McLuhans eigenen Ansatz. Auch dieser ist ja im elektrischen Zeitalter formuliert und auch McLuhan ist 132 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="133"?> 321 Dementsprechend gibt es auch viele Ideen für solch eine Rettung durch Herstellung eines (immer gefährdeten) Gleichgewichts - siehe sehr deutlich bspw.: ebd., S.-53f. 322 Zur Ausgestaltung und Funktion von McLuhans Teststrategien siehe ausführlicher → 1. Lesart: Rhetorik. Zu künstlerischen Projekten im Umfeld von und mit Bezug auf McLuhan siehe → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „4.2 McLuhan und die Avantgarde“ und „Kunst als Medienökologie der Gegenumwelten“. Im Anschluss an McLuhan ließe sich im Übrigen umgekehrt ebenso formulieren, dass künstlerische Strategien längst in den akademischen Elfenbeinturm eingedrungen sind und traditionelle wissenschaftliche Verfahren mit künstlerischen Verfahren verbinden, nicht selten artikuliert mit einem ganz ähnlichen Aufklärungsimpetus, wie ihn McLuhan selbst formulierte. Häufig firmieren solche Projekte inzwischen unter dem Stichwort Artistic Research (siehe als Überblick: Nick Wilson/ Schelte van Ruiten (Hg.), SHARE. Handbook for Artistic Research Education, Amsterdam 2013). Hier sei nur auf ein derzeit besonders populä‐ res, viel und kontrovers diskutiertes Artistic Resarch-Projekt verwiesen, nämlich auf Forensic Architecture, siehe: https: / / forensic-architecture.org/ [05.04.24]. 323 McLuhan, Magische Kanäle, S.-18f. somit die Möglichkeit gegeben, die bisher unbewussten Betäubungen der Technik wahrzunehmen und anderen bewusst zu machen. Diese Wahrneh‐ mungsmöglichkeit wendet McLuhan in einen regelrechten Aufklärungsim‐ petus: Wie ein Psychoanalytiker will er das Unbewusste bewusst machen, wenngleich nicht auf individualpsychologischer Ebene, sondern als tiefen‐ hermeneutischer Technik- und Kulturanalytiker. Forscher: innen sollen im elektrischen Zeitalter den akademischen Elfenbeinturm verlassen, um - ana‐ log zu Kunstschaffenden - den Schiffbruch der Menschheit zu verhindern. 321 Dieses Verlassen des akademischen Elfenbeinturms bedeutet, zumindest im Fall von McLuhan, die Adaption künstlerischer Strategien zur Bewusstma‐ chung medientechnologischer Effekte. 322 Im Vorwort der M AG I S CH E N K ANÄL E heißt es demgemäß programmatisch: „Es [das vorliegende Buch] erforscht die Grenzen unserer in den Techniken ausgeweiteten Menschennatur und sucht das Prinzip, mit dem jede von ihnen verständlich wird. Im vollen Vertrauen darauf, daß es möglich ist, Einsicht in diese Formen zu bekommen, und sie planmäßig einsetzen zu können, habe ich sie neu gesichtet […].“ 323 McLuhan als Wiederverwertungsmaschine - Zwischenfazit ‚Neu gesichtet‘ hat McLuhan aber eigentlich weit weniger die technischen Artefakte selbst, sondern vielmehr eine Vielzahl an Ideen über diese tech‐ nischen Artefakte (und über viele andere Dinge). McLuhan recycelte, wie Carpenter völlig richtig angemerkt, sehr viele Konzepte und Thesen, die 2.1 These 1: Medien sind Körperausweitungen 133 <?page no="134"?> 324 Siehe: Carpenter, That Not-So-Silent-Sea, S.-244f. 325 Siehe: Martin Baltes, Global Village, in: Alexander Roesler/ Bernd Stiegler (Hg.), Grund‐ begriffe der Medientheorie, München 2005, S.-73-76. andere vor ihm bereits formuliert hatten. 324 Im Grunde genommen finden sich nahezu alle seine Äußerungen im Kontext der These von der Technik als Ausweitung des menschlichen Körpers, zum Teil sogar bis in die For‐ mulierungen hinein, bei anderen vorher. Zumindest aber sind McLuhans Verknüpfung von bereits Bekanntem doch mitunter recht originell. Diese Originalität resultiert unter anderem daraus, dass es McLuhan mit seinen Wiederverwertungen versteht, sehr unterschiedliche Diskurse und Diskur‐ selemente zu verbinden und sie in (resonierende? ) Wechselwirkung treten zu lassen. So synthetisiert er die Körperausweitungsthese mit medizinischer Stressforschung, Teile der Wahrnehmungstheorie Thomas von Aquins mit Ideen des Bauhaus und der Quantenphysik, greift auf Prämissen des New Criticism zurück, übernimmt dabei kulturkritische Thesen von Emerson und Mumford, um das Ganze in einen tiefenhermeneutischen Aufklärungsimpe‐ tus münden zu lassen. Diese Ingredienzien werden in der Phrase ‚Extensions of Man‘ verdichtet, die McLuhan (leicht abgewandelt) von einem Kollegen aus der Ethnologie, Edward Hall, übernommen hat - und fertig ist ein äußerst originelles Produkt der Wiederverwertungsmaschine McLuhans. 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf ‚Globales Dorf ‘ - diese Phrase McLuhans wurde kurz nach der Millennium‐ schwelle in eine Sammlung aufgenommen, die mit dem Anspruch auftritt, nicht weniger als die G R UND B E G R I F F E D E R M E DI E NTH E O R I E vorzustellen. 325 Das ist aufschlussreich zumindest in zweierlei Hinsicht. Es verweist zum einen auf die anhaltende Virulenz von Begriffen, die durch McLuhan geprägt wur‐ den (zumindest im medienwissenschaftlichen Kontext). Zum anderen macht es ebenso deutlich, wie eng Medientheorie und Mediengeschichtsschrei‐ bung häufig zusammengedacht werden. Denn ‚globales Dorf ‘ ist zuvorderst ein historiografischer Begriff, bezeichnet er doch eine kulturgeschichtliche Phase, an deren Schwelle wir uns nach McLuhan befinden. Die Vermischung von theoretischen Universalaussagen und kulturgeschichtlichen Beschrei‐ bungen ist, wenn nicht gar für die gesamte Medientheorie, so doch auf jeden Fall für McLuhans Herangehensweise bezeichnend, auch und gerade hinsichtlich der damit verbundenen Provokationen. Für McLuhan sind 134 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="135"?> 326 McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S.-8. 327 Die ‚Gutenberg-Galaxis‘ fällt im Übrigen ebenfalls unter die ‚Grundbegriffe der Medi‐ entheorie‘ - siehe: Rainer Höltschl, Gutenberg-Galaxis., in: Alexander Roesler/ Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, München 2005, S.-77-81. die medientechnischen Entwicklungen nämlich die alles entscheidenden Faktoren geschichtlicher Veränderungen - und nirgends zeigen sie sich deutlicher als im ‚globalen Dorf ‘. Sollte diese Behauptung zutreffen, dann muss konsequenterweise die gesamte Geschichte der Menschheit vorrangig unter diesem Blickwinkel betrachtet werden. Dass dies jedoch (abgesehen von einigen wenigen Aus‐ nahmen) nicht geschehen ist, diese Behauptung lässt sich auf beinah jeder Seite in McLuhans Publikationen nachlesen. So lässt sich auch McLuhans mitunter recht polemischer Avantgarde-Habitus verstehen. Im berühmten P LAY B O Y -Interview heißt es demgemäß: „Die Wirkung von Medien - von Sprache, Schrift, Buchdruck, Fotografie, Radio und Fernsehen - ist von den Erforschern der gesellschaftlichen Entwicklung der westlichen Welt in den vergangenen 3500 Jahren systematisch übersehen worden.“ 326 ‚Systematisch übersehen‘ und zwar ‚in den vergangenen 3500 Jahren‘, also im Grunde in der gesamten okzidentalen Ideen- und Philosophiegeschichte - das ist nicht nur eine starke These, McLuhan schließt daran auch den nicht gerade zurückhaltenden Anspruch an, dieses Defizit mit seinen Arbeiten zu beseitigen. Umso dringender muss dieses Defizit beseitigt werden, weil wir, so McLuhan, am Übergang zweier kulturgeschichtlicher Sphären stehen, die unterschiedlicher kaum sein könnten und deren Differenz verstanden wer‐ den muss, damit wir geeignete Maßnahmen für die Zukunft ergreifen können. Aus dieser Sicht befinden wir uns am Ende einer knapp vierhundert Jahre währenden Epoche, die McLuhan mit einer ebenfalls immer noch populären Phrase als ‚Gutenberg-Galaxis‘ bezeichnet, und am Anfang einer neuen Epoche, die eine weltumspannende Vernetzung verspricht, eben dem ‚globalen Dorf ‘. 327 Gleich auf der ersten Seite der M AG I S CH E N K ANÄL E findet sich unter Rückgriff auf die hier bereits ausführlich dargestellte Körperausweitungsthese eine dicht gedrängte Passage, in der McLuhan Jahrhunderte der Mediengeschichte genau in diesem Sinne resümiert: „In den Jahrhunderten der Mechanisierung hatten wir unseren Körper in den Raum hinaus ausgeweitet. Heute, nach mehr als einem Jahrhundert der Technik der Elektrizität, haben wir sogar das Zentralnervensystem zu einem 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 135 <?page no="136"?> 328 McLuhan, Magische Kanäle, S.-15 (Hervorhebungen von mir [SG]). 329 Siehe: Kapp, Grundlinien, S.-139ff. 330 Siehe bspw.: „[M]it der Telegrafie hatte der Mensch die Veräußerlichung oder Auswei‐ tung seines Zentralnervensystems eingeleitet, die nun mit der Funkübertragung mittels Satelliten einer Ausweitung des Bewußtseins entgegengeht.“ (McLuhan, Magische Kanäle, S. 383.) Dort geht McLuhan auch darauf ein, dass der Mensch mit dem Telegrafen „seine Nerven nach außen“ (ebd.) bringt. 331 Ebd., S. 15. Solch eine Idee (wenngleich unter anderem Namen) war im Übrigen bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht gerade selten. Um nur zwei sehr prominente Quelle aus dieser Zeit zu nennen: Paul Valéry, Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit [1928], in: ders., Werke. Frankfurter Ausgabe, Frankfurt am Main 1995, S. 479-483; Rudolf Arnheim, Rundfunk als Hörkunst [1933], Frankfurt am Main 2001, v.a.: S.-142f. 332 Siehe zum Verhältnis von McLuhan und Lewis ausführlicher: Marchand, McLuhan, S.-114ff. 333 Wyndham Lewis, America and Cosmic Man, New York 1941, S. 27 (Hervorhebung von mir [SG]). 334 Ebd., S.-179. weltumspannenden Netz ausgeweitet und damit, soweit es unseren Planeten betrifft, Raum und Zeit aufgehoben.“ 328 Wir haben folglich mit der auf Elektrizität basierenden Telegrafie eine neue Qualität an Körperausweitungen erreicht. Nicht mehr nur Funktionen von Körperteilen und Sinnesorganen sind ausgeweitet, sondern eben das Zentralnervensystem. Strukturanalog zu Kapp, der ebenfalls in der Telegra‐ fie die Ausweitung menschlicher Nervenbahnen sah, 329 imaginiert McLuhan damit den Ausgangspunkt umfassender Vernetzung von Kommunikations- und Wahrnehmungsprozessen. 330 Im Falle McLuhans soll es eine ‚weltum‐ spannende‘ Vernetzung sein, die mit Medien wie Radio, Fernsehen und Computer vorangetrieben wird. Die vorhergehende Bewegungsrichtung der Körperausweitungen ist damit umgekehrt: Statt weiterer Ausweitungen in den Raum „erlebt die westliche Welt“ nunmehr „eine Implosion“, also einen rapiden Verdichtungsprozess, der in einem simultan operierenden globalen Dorf kulminiert. 331 Direkt hat McLuhan das Konzept eines globalen Dorfes von dem Maler, Schriftsteller und Essayisten Wyndham Lewis übernommen, mit dem er vor allem in den 1950er Jahren in regem Austausch stand. 332 Lewis entfaltet die Vorstellung einer globalen Vernetzung der gesamten Menschheit durch Kommunikationsmedien in seinem 1949 erstmalig erschienen Buch A M E R ICA AND C O S MIC M AN . Dort heißt es unter anderem: „[N]ow […] the earth has become one big village, with telephones laid in from one end to the other […].“ 333 Es ist auch die Rede von „global ubiquity“, 334 also davon, dass 136 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="137"?> 335 Ebd., S.-225. 336 Siehe zu den stilistischen Aspekten in McLuhans Werk ausführlicher → 1. Lesart: Rhetorik. 337 In seinen Briefen gebraucht McLuhan die Wendung bereits seit 1955 (siehe bspw.: McLuhan, Letters, S.-253). 338 Carpenter/ McLuhan, Introduction, S. x (Hervorhebung von mir [SG]). 339 Dass das ‚globale Dorf ‘ einer der maßgeblichen Grundbegriffe in McLuhans Publika‐ tionen bleiben wird, ist allein schon an den Titeln diverser Bücher abzulesen, heißt doch eine Veröffentlichung aus dem Jahre 1968 K R I E G U N D F R I E D E N I M G L O B A L E N D O R F (Original: Marshall McLuhan/ Quentin Fiore/ Jerome Angel, War and Peace in the Global Village, New York 1968), ein anderes 1989, und damit posthum veröffentlichtes Buch T H E G L O B A L V I L L A G E . D E R W E G D E R M E D I E N G E S E L L S C H A F T I N D A S 21. J A H R H U N D E R T (Original: Marshall McLuhan/ Bruce R. Powers, The Global Village: Transformations in World Life and Media in the 21st Century, New York 1989). Informationen gleichzeitig überall auf der Erde zugänglich sind. Ebenso wird eine „global society“ 335 imaginiert, eine über alle Grenzen hinweg vernetzte Weltgesellschaft. Solch eine weltweite, ubiquitäre Vernetzung via Kommu‐ nikationstechniken bildet die Grundlage für McLuhans globales Dorf. Neu jedoch ist dabei zum einen die Kopplung von Lewis’ Globalisierungsthese und der Vorstellung von Technik als Körperausweitung. Zum anderen - und das ist bezeichnend für den Hang (und Fähigkeit) des ‚Werbefachmanns‘ McLuhan, Bonmots zu kreieren 336 - besteht die Innovation in der Wieder‐ verwertung des Ausgangsmaterials, in diesem Falle in der Kopplung der Wendungen big village und global society zu dem paradoxen Begriffspaar global village. Zum ersten Mal in einer Publikation nachzuweisen ist die Phrase 1960 in einer mit Carpenter herausgegebenen Anthologie, die Texte der von McLuhan und vor allem Carpenter in den Jahren 1953 bis 1959 betreuten Zeitschrift E X P L O R ATION S zusammenstellt. 337 Dort ist im Vorwort nachzule‐ sen: „Postliterate man’s electronic media contract the world to a village or tribe where everything happens to everyone at the same time: everyone knows about, and therefore participates in, everything that is happening the minute it happens. Television gives the quality of simultaneity to events in the global village.“ 338 Damit ist zum einen das Konzept des globalen Dorfs knapp umrissen, zum anderen eine Agenda gesetzt, an der sich McLuhan zeitlebens abarbeiten wird. 339 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 137 <?page no="138"?> 340 Siehe dazu: James T. Patterson, Grand Expectations. The United States, 1945-74, Oxford 1997, S. 348; oder auch: Hans Hiebel u. a., Große Medienchronik, München 1999, S. 514ff. 341 Siehe hierzu bspw.: Brian Winston, Media Technology and Society. A History: From the Telegraph to the Internet, London 1998, v.a.: S.-279ff. 342 Siehe dazu: Mary Ann Watson, The Expanding Vista: American Television in the Kennedy Years, Oxford 1990, S.-206ff. 343 Siehe: Winston, Media Technology, S. 289f. Am 2.5.1965 wurde durch den Satelliten vermittelt für Zuschauer: innen sowohl aus Nordamerika als auch aus Europa die Fernsehunterhaltungssendung P R E M I E R E I M W E L T R A U M ausgestrahlt. Das Fernsehen als maßgeblicher Agent des globalen Dorfes Der maßgebliche Agent des globalen Dorfs ist für McLuhan, wie im letzten Teil des obigen Zitats klar benannt, das Fernsehen. Dass es das Fernsehen sein soll - und nicht etwa der Telegraf, das Radio oder der die damals sich erst allmählich auch außerhalb von militärischen Laboratorien und universitären Kontexten etablierenden Computertechnologie -, ist technik- und sozialhistorisch kaum verwunderlich. Denn erstens etablierte sich das Fernsehen zwischen den 1950er und 1960er Jahren buchstäblich zu dem Massenmedium schlechthin, zumindest was die nordamerikanischen Haushalte betraf. Man muss sich vor Augen halten, dass es dort in der Mitte des 20. Jahrhunderts einen recht dramatischen medialen Wandel gab. Besaßen noch 1950 ‚nur‘ knapp 900 000 US-amerikanische Haushalte einen Fernsehapparat, so waren es 1960 bereits 90-%. 340 Zweitens ist mit der Etablierung von Fernsehprogrammen die Entwick‐ lung der Satellitentechnik, die letztlich tatsächlich globale Kommunikati‐ onsverbindungen ermöglichen sollte auf engste verbunden. 341 Zwar wurden die Fernsehsignale in den 1950ern und 1960ern - also in dem Zeitraum, in dem McLuhan seine wichtigsten Ideen entwickelte - auch in Nordamerika noch weitestgehend terrestrisch gesendet oder per (Überland- und Unter‐ see-)Kabel übertragen und waren dementsprechend in ihrem Sendebzw. Empfangsradius vergleichsweise begrenzt, auf jeden Fall nicht imstande, global zu operieren. So gab es dennoch bereits erste Testsendungen, die via Satellit gesendet wurden. Bspw. kam am 23. Juli 1962 eine Varietéshow in den USA und in Europa zur Ausstrahlung. Ca. 200 Millionen Menschen ver‐ folgten diese ‚Globalvision‘ an den heimischen Fernsehapparaten. 342 Und es sollte nicht mehr lange dauern, bis der erste kommerzielle geostationäre Sa‐ tellit namens Early Bird sein regelmäßiges Fernsehprogramm ausstrahlte. 343 Damit war (nahezu) simultane globale Übertragbarkeit von Informationen, wie sie McLuhan seit den 1960er Jahren immer wieder beschrieb, nicht 138 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="139"?> 344 Paul Nipkow, Elektrisches Teleskop. Patentiert im Deutschen Reiche vom 6. Januar 1884. Patentschrift No. 30105, zitiert nach: Joachim-Felix Leonhard u. a. (Hg.), Medien‐ wissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen, Berlin 2002, S.-229. 345 McLuhan, Magische Kanäle, S.-377 (Hervorhebungen von mir [SG]). 346 Ebd., S. 83. Auch findet sich hier die Idee des resonierenden Intervalls wieder, die bei Mcluhan ebenfalls zur Beschreibung der Wahrnehmung vor dem Fernsehbildschirm re‐ levant ist - nunmehr freilich von dem Wechselspiel der Sinne in die globale Vernetzung via Elektrizität ausgeweitet (siehe bspw. McLuhan/ Powers, Globale Village, S. 25ff.; dazu ausführlicher: Sprenger, Medien des Imediaten, S. 385ff.). Siehe zu McLuhans Verständnis von Taktilität, dem resonierenden Intervall und dem taktilen Fernsehen ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. mehr nur Gedankenexperiment, sondern in Form von Satellitensystemen technisch in die Wege geleitet. Drittens hat das Fernsehen für McLuhan spezifische Vernetzungsmerk‐ male, die es besonders geeignet machen, ein globales Dorf zu etablieren, macht doch das Fernsehen, wie bereits Paul Nipkow in seiner berühmten Patentschrift von 1848 schreibt, „ein am Orte A befindliches Objekt an einem beliebigen anderen Orte B sichtbar“. 344 Damit wird prinzipiell die Möglichkeit geschaffen, Ereignisse über räumliche Distanzen hinweg (na‐ hezu) simultan sichtbar zu machen. Ja, eigentlich ist noch mehr möglich. Zumindest mit dem Fernsehen des 20. Jahrhunderts werden Ereignisse audiovisuell übertragbar. McLuhan geht noch einen Schritt weiter: „Wir leben heute im Zeitalter der Information und Kommunikation, weil elektrische Medien sofort und ständig ein totales Feld von gegenseitig sich beeinflussenden Ereignissen erzeugen, an welchen alle Menschen teilhaben. […] Diese Gleichzeitigkeit der elektrischen Kommunikation […] bewirkt, dass jeder von uns für jeden Menschen auf der Welt gegenwärtig und erreichbar ist.“ 345 Simultan, perma‐ nent und interdependent - das sind die drei maßgeblichen Eigenschaften des globalen Dorfs, die McLuhan am Fernsehen festmacht. Dieses televisuell vernetzte, auf Elektrizität basierende globale Dorf bringt uns Fernes unmit‐ telbar nah, verbindet alles und alle mit allen und allem. Dementsprechend wählt McLuhan häufig Metaphern der Taktilität, um diese Verbindung zu beschreiben. Im globalen Dorf, so heißt es etwa in den M AG I S CH E N K ANÄL E N , „wird die ganze Menschheit zu unserer eigenen Haut.“ 346 Heute würde man diese Eigenschaften, vor allem die der Interdependenz, wohl sehr viel eher dem vernetzten Computer resp. dem World Wide Web bzw. Social-Media-Plattformen zusprechen, weniger dem Fernsehen. 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 139 <?page no="140"?> 347 Mark Kurlansky, 1968. Das Jahr, das die Welt veränderte, München 2007, S. 60. Und selbst wenn die transkontinentale Übertragung solcher Prozesse nicht unmittelbar live von statten ging (was wohl auf die allermeisten Fälle in diesem Zusammenhang zutreffen dürfte, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für das von Kurlansky angeführte Beispiel), so wurde doch viel Aufwand betrieben, um eine möglichst zeitnahe Ausstrah‐ lung der Ereignisse im Gericht zu gewährleisten. So schreibt Judith Keilbach in ihrer Untersuchung der medialen Aspekte der Berichterstattung über den Eichmann-Prozess von 1961 anschaulich: „Der umfangreichste Einsatz von Videorecordern zur instanta‐ nen Berichterstattung fand schließlich 1961 statt, als Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht stand. Die 19 Wochen dauernde Verhandlung war öffentlich und die Bilder aus dem Gerichtssaal waren auf den Fernsehbildschirmen in 38 Ländern zu sehen. Für diese Fernsehberichterstattung wurde der Prozess auf Magnetbänder aufgenommen, die am Ende jedes Sitzungstages an die verschiedenen Fernsehstationen weitergeleitet wurden. Schnelle Düsenflugzeuge, die ab den späten 1950er-Jahren die Reisezeit erheblich beschleunigten, ermöglichten es dabei, dass Fernsehzuschauer in New York bereits morgens sehen konnten, was sich am Vortag im Jerusalemer Gericht ereignet hatte. Denn das Fernsehen ist ein klassischer Fall eines Mediums, das nicht nur eine technische Kontaktunterbrechung zwischen Sender und Empfänger impliziert, sondern es den Rezipient: innen unmöglich macht, unmittelbar zu antworten. Wechselwirkung kann es so, wenn überhaupt, nur indirekt geben. Jedoch geht es McLuhan überhaupt nicht um solch eine direkte Antwort, sondern um eine andere Art von Interdependenz. Entscheidend ist für ihn, dass durch vernetzte Fernsehsysteme prinzipiell alles von allen überall beobachtet werden kann. Solch eine medientechnische Konstellation hat erhebliche Konsequenzen auf unsere Wahrnehmung der Welt und unser Verhalten. Um ein sehr konkretes Beispiel zu nennen: Es scheint kein Zufall zu sein, dass sich die erste nahezu globale Protestbewegung in den 1960er Jahren etabliert hat. So unterschiedliche Ereignisse wie der Vietnamkrieg, Bürgerrechtsbewegungen oder der Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die damalige ČSSR wurden im Fernsehen übertragen. Man wurde als Rezipient: in mit diesen Ereignissen regelrecht direkt vernetzt und ‚live‘ vor Ort gebracht. Das ging bereits in den 1960er Jahren so weit, dass erstens die Ereignisse nicht mehr nur live zu sehen waren, sondern die Ereignisse auf die Live-Übertragung ausgerichtet wurden. Von einem be‐ sonders eindringlichen Beispiel berichtet Mark Kurlansky in seiner Studie über die sogenannte 68er-Bewegung: „CBS brachte sogar ein deutsches Gericht dazu, seine Verhandlungen gegen einen Nazi nach Mitternacht abzuhalten, damit diese live übertragen werden konnte - anstatt die normale Sitzung tagsüber zu filmen und sie abends zu senden.“ 347 Daraus folgert 140 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="141"?> Angesichts der Geschwindigkeit, mit der die Videoaufnahmen aus Jerusalem in den USA zur Verfügung standen, prägte das Branchenblatt Variety den Begriff ‚Instant TV‘ […].“ ( Judith Keilbach, Zur Instantaneität der Magnetbandaufzeichnung. Die Medien‐ konstellation der Fernsehberichterstattung vom Eichmann-Prozess, in: Sven Grampp u. a. (Hg.), Medien | Zeiten. Interdependenzen, Wiesbaden 2023, S. 363-375, hier: S. 367f.) Ob tatsächlich live oder als ‚Instant TV‘: die transnationale und transkontinentale televisuelle Vernetzung führte zu einem gesteigerten Bewusstsein, Teil eines globalen Zusammenhangs zu sein. 348 Kurlansky, 1968, S.-60. 349 Ebd., S.-57. 350 Siehe dazu: ebd., v.a.: S.-54ff. Kurlansky: „Das Zeitalter des Livefernsehens hatte begonnen.“ 348 Zweitens rechneten die Protagonist: innen der Protestbewegungen selbst immer mehr mit der medialen Berichterstattung und wurden so zu Medienexpert: innen: „Das Fernsehen entwickelte sich zum unerlässlichen Bestandteil jeder Ak‐ tionsstrategie.“ 349 Zudem konstituierte sich in dieser medial vernetzen Welt drittens das Bewusstsein einer übergreifenden Unzufriedenheit in ‚Ost‘ und ‚West‘. Und das wiederum führte zu einer immer weiter ausgreifen‐ den Pendelbewegung: Denn die televisuelle Übertragung weitreichender Unzufriedenheit motivierte den lokalen Widerstand, dessen Konsequenzen wiederum im Fernsehen zu betrachten waren und so das Bewusstsein weit‐ greifender Unzufriedenheit verstärkte usf. So gesehen sind die Strategien und das nahezu weltumspannende Ausmaß der 68er-Bewegung ein Effekt des televisuell fundierten globalen Dorfs. 350 Aber bei McLuhan hat die Etablierung eines globalen Dorfs nicht nur Effekte auf einige politische Akteur: innen. Das, was ihn eigentlich inte‐ ressiert (und was dann für die medienwissenschaftliche Forschung von entscheidender Bedeutung werden wird) ist sehr viel weitreichender: Die Effekte des globalen Dorfs auf unsere Wahrnehmung und unser Verhalten greifen jenseits und vor jeder inhaltlichen Ausgestaltung der jeweiligen Sen‐ dungen und Nachrichten. Für die Veränderung der Wahrnehmung ist es so verstanden dann auch irrelevant, ob über die Schrecken des Vietnamkriegs berichtet wird, über die Mondlandung, eine Fußballweltmeisterschaft oder wir Sendungen wie B AU E R S U CHT F R AU (RTL, seit 2005) oder W E R WI R D M IL ‐ LIO NÄR ? (RTL, seit 1999) vor dem Fernsehapparat verfolgen. Entscheidend ist vielmehr: Absonderung, Distanzierung, Vereinzelung werden in einer global vernetzten Welt schwerlich noch möglich sein. Stattdessen gibt es ein globales holistisches Feld, in dem jede Handlung sofort eine Veränderung der Gesamtsituation verursachen kann, in dem jede Verhaltensweise im 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 141 <?page no="142"?> 351 Siehe dazu ausführlicher (und explizit in den Fußstapfen McLuhans argumentierend): Joshua Meyrowitz, No Sense of Place. The Impact of Electronic Media on Social Behaviour, Oxford 1985, v.a.: S. 3ff. McLuhan spitzt - in typisch McLuhan’scher Manier - diese These in einem kurzen Text, zum ersten Mal veröffentlicht Mitte der 1970er Jahre, bereits im Titel zu. Dort heißt es: „At the moment of Sputnik the planet became a global theater in which there are no spectators but only actors.“ (Marshall McLuhan, At the moment of Sputnik the planet became a global theater in which there are no spectators but only actors, in: Journal of Communication, 24 (1974), S. 48-58.) Zwar war der erste künstlichen Satellit, der 1957 in den Erdorbit gebracht wurde, noch gar kein Kommunikationssatellit, da er noch keine Signale (von der Erde) weiterleiten konnte. Stattdessen übermittelte er ‚nur‘ selbst ein Piepen Richtung Erde. Dennoch, so lässt sich mit McLuhan behaupten, war damit das ‚Satellitenzeitalter‘ eingeleitet, in dem ab den 1960er Jahren sehr viele Satelliten in den Erdorbit gebracht wurden, die ‚echte‘ Kommu‐ nikationssatelliten waren. Dementsprechend wurde dadurch auch Satellitenfernsehen ermöglicht, das wiederum die transnationale und transkontinentale, ja transglobale (man denke nur an die Live-Übertragung der ersten bemannten Mondladung 1969) Kommunikationsvernetzung im Zeichen der Simultanität vorantrieb. Siehe dazu noch einmal ausführlicher → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Medientheorie (2)“. 352 McLuhan, Magische Kanäle, S.-521. 353 Siehe dazu ausführlicher: Hartmann, Medienphilosophie, S. 254f.; zu McLuhans Kon‐ zept der Automation, insb. aus ökonomischer Perspektive siehe: Schröter, Medienthe‐ orie der Automation. Wechselverhältnis zu allen anderen auf der Welt steht und dies zeitgleich beobachtet werden kann. Damit etabliert sich eine Rückkopplungsschleife in unserer Wahrnehmung und unserem Verhalten: Wenn es klar ist, dass prinzipiell jede Verhaltensweise beobachtet werden und direkt Konsequen‐ zen haben kann, werden sich die Bewohner: innen der globalen Welt danach ausrichten, damit rechnen und dementsprechend handeln. 351 Kybernetik und ‚Kybernation‘ Gegenseitige Beeinflussung und unmittelbare Wechselwirkung umfasst bei McLuhan neben die globale Vernetzung via Kommunikationstechnologie ebenso die Form der (Waren-)Produktion, die in naher Zukunft vollkommen automatisiert ablaufen soll. „Kybernation“ 352 ist die Wortneuschöpfung, die McLuhan verwendet, um generell die Prozesse zu bezeichnen, auf die das Zeitalter der Elektrizität zusteuert. ‚Kybernation‘ heißt bei McLuhan: Alle Elemente stehen erstens aufgrund der elektrischen Medientechnik in einer permanenten und unmittelbaren Wechselbeziehung. Zweitens soll diese Wechselbeziehung auf Selbstorganisation zulaufen, also sich automatisch und autonom vollziehen. 353 142 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="143"?> 354 McLuhan, Magische Kanäle, S.-103. 355 Ebd., S.-53. 356 McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S.-44f. McLuhan imaginiert in diesen Zusammenhang sogar eine Welt, in der nicht mehr das Fernsehen, sondern der (Universal-)Computer die zentrale Leitstelle sein wird. Dieser wird uns nicht mehr nur unmittelbar vernetzen, sondern durch eine permanente Rückkopplungsschleife auch berechenbar machen, was wir benötigen. Damit wird der Endpunkt der Mediengeschichte und auch der Endpunkt der (medien-)technischen Körperausweitungen erreicht worden sein: „Wenn wir einmal unser Zentralnervensystem zur elektromagnetischen Technik ausgeweitet haben, ist es nur noch ein Schritt zur Übertragung unseres Bewusstseins auch auf die Welt des Computers.“ 354 Ist dieser Schritt erst einmal vollzogen, dann könnten Kommunikation, Wahrnehmung, Denken und Produktionsprozesse durch einen Zentralrech‐ ner programmierbar sein und via Rückkopplungsschleife automatisch ge‐ steuert und verbessert werden: Wir kommen sicher noch so in den vorstellbaren Bereich einer Welt, die soweit automatisch gesteuert wird, daß wir sagen können: ‚Sechs Stunden weniger Radioprogramm nächste Woche in Indonesien, oder es kommt zu einem starken Nachlassen des Interesses an Literatur.‘ Oder: ‚Wir können nächste Woche weitere zwanzig Stunden Fernsehprogramm in Südafrika senden, um das durch den Rundfunk letzte Woche aufgeheizte Stammesklima abzukühlen.‘ Ganze Kulturen könnten so programmiert werden, um ihr emotionales Klima zu stabilisieren, wie wir ja auch bereits etwas darüber wissen, wie ein Gleichgewicht in der Weltwirtschaft aufrechterhalten werden kann. 355 Noch spekulativer (und gespickt mit spirituellen Vorstellungen) äußert sich McLuhan zu diesem Thema in einem Interview: Wenn eine Rückkopplung der Daten durch den Computer möglich ist, warum sollte es nicht möglich sein, das Denken einen Schritt weiter voranzutreiben, indem man das Weltbewußtsein an einen Weltcomputer anschließt? Mit Hilfe des Computers könnten wir also, statt Sprachen zu übersetzen, dazu übergehen, sie völlig zu ignorieren - zugunsten eines umfassenden kosmischen Unbewußten […]. Der Computer trägt also in sich das Versprechen eines technologisch her‐ gestellten Zustands universalen Verständnisses und universaler Einigkeit, eines Vertieftseins in den Logos, das die Menschheit zu einer einzigen Familie verbindet und für dauerhafte Harmonie und dauerhaften Frieden sorgen könnte. 356 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 143 <?page no="144"?> 357 Schon mit Bezug auf seine erste Buchveröffentlichung, D I E M E C H A N I S C H E B R A U T , schreibt McLuhan in einem Brief: „[I]t’s really a new form of science fiction.“ (McLuhan, Letters, S.-217) 358 Marchand, McLuhan, S.-293. 359 Dort lässt sich ebenfalls die Idee eines globalen Dorfes ausfindig machen - siehe bspw.: Norbert Wiener, Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft, Frankfurt am Main/ Berlin 1952, S.-100f. 360 Siehe dazu: Claus Pias, Zeit der Kybernetik - Eine Einstimmung, in: ders. (Hg.), Cyber‐ netics | Kybernetik. The Macy-Conferences 1946-1953. Bd. 2: Documents/ Dokumente, Berlin 2004, S.-9-41. 361 Siehe dazu: Bernhard Dotzler, Futurum exactum: Norbert Wiener (1894-1964). Vorwort, in: Norbert Wiener, Futurum Exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie, Wien/ New York 2002, S.-1-11, v.a.: S.-7f. Was sich wie eine Idee zu einem Science-Fiction-Roman liest, ist tatsächlich und gewollt Science-Fiction. McLuhan sah in Entwurf und Darstellung möglicher Zukunftsszenarien eine zentrale Aufgabe seiner Arbeit. 357 Gern setzte er, wie Philip Marchand in seiner Biografie über McLuhan treffend schreibt, die „Maske des akademischen Futurologen“ 358 auf. Dafür plündert McLuhan im Kontext seiner Vorstellung vom computergesteuerten, sich selbst organisierenden globalen Dorf das Ideenarsenal der Kybernetik. 359 In den 1940er und 1950er Jahren sorgte dieser damals relativ neue Wissen‐ schaftszweig für einiges Aufsehen. 360 Viele Ideen der Kybernetik wurden Mitte des 20. Jahrhunderts ausgehend von den Ingenieurwissenschaften in so unterschiedlichen Disziplinen wie Mathematik, Biologie, Ökonomie, Psychologie oder Anthropologie heiß diskutiert und beeinflussen bis dato auch sozial- und geisteswissenschaftliche Modelle, bspw. konstruktivisti‐ sche wie systemtheoretische Theoriebildung oder Methoden der Digitial Humanities. Und eben auch McLuhan griff gern und häufig auf einige Ideen der Kybernetik zurück, wenn er über Rückkopplungseffekte und Automation sinnierte. Die Kybernetik hat zum Ziel, Gesetzmäßigkeiten technischer und bio‐ logischer Regelsysteme zu erkunden. Ihr Namensgeber Norbert Wiener liefert hierfür ein anschauliches Beispiel: Im Zweiten Weltkrieg war Wiener dafür verantwortlich, eine Apparatur für die Flugabwehr zu entwickeln, die die Flugkurve eines Flugzeuges verfolgen und dessen zukünftige Position vorhersagen sollte. 361 Solch eine Apparatur reagiert auf die Bewegung des Flugzeugs, steht also mit diesem in Wechselwirkung. Zudem richtet sich die Apparatur ohne weiteren Eingriff, also automatisch, auf die zukünftige Position des Flugzeuges aus. Diese Art von Steuerung, Rückkopplung und 144 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="145"?> 362 1952 ist dieses Buch zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erschienen - siehe: Wiener, Mensch und Menschmaschine. 363 Ebd., S.-11. 364 Siehe dazu: Pias, Schmoo, S. 144; oder auch: Theall, The Virtual Marshall McLuhan, S.-30. 365 Norbert Wiener, Kybernetik [1948], in: ders., Futurum Exactum, S.-13-29, hier: S.-19. 366 Für eine differenziertere Diskussion der Kybernetik (und einer Verteidigung der Ky‐ bernetik gegen den Vorwurf einer rein funktionalen Ordnungsfantasie menschlicher Akteure aufzusitzen) siehe knapp, aber instruktiv: Florian Sprenger, Epistemologien des Umgebens. Zur Geschichte, Ökologie und Biopolitik künstlicher environments, Bielefeld 2019, S.-472ff. Automation sollen Wieners Kybernetik zufolge, technische Abläufe von Maschinen erklären, aber auch animalisches Verhaltensmuster bis hin zu menschlicher Kommunikation und Denkprozessen beschreibbar machen. 1950 veröffentlichte Wiener das Buch T HE H UMAN U S E O F H UMAN B E IN G S (C Y B E R N E TIC S AND S O CI E T Y ), 362 in dem er einige Grundzüge der Kybernetik „für Laien“ unter Vernachlässigung zentraler „mathematischer Symbole und Ideen“, 363 wie es im Vorwort heißt, verständlich machen wollte und damit viele Leser: innen fand. Unter anderem begeisterte sich auch McLuhan für dieses Buch. 364 Wiener zufolge beschäftigt sich die Kybernetik „mit Automaten“, egal, „ob aus Metall oder Fleisch“ und bildet so einen „Zweig der Nachrich‐ tentechnik“ 365 - einen Zweig allerdings, der kaum einen umfassenderen Erklärungsanspruch haben kann. Denn: Wenn alle Prozesse, die in und zwischen Apparaten, Institutionen, Tieren und Menschen ablaufen, in nachrichtentechnischem Vokabular zu beschreiben sind, hat die Kybernetik erstens einen umfassenden Erklärungsanspruch. Alles lässt sich letztlich auf Gesetzmäßigkeiten von Regelsystemen zurückführen. Zweitens impliziert die Kybernetik auch das Versprechen (zumindest in ihrer klassischen For‐ mulierung bei Wiener) einer weitestgehenden Kontrollmöglichkeit dieser Prozesse. 366 Beides findet sich, wie gezeigt, ebenfalls bei McLuhan wieder: Auch in seinen Texten werden unterschiedliche Aspekte wie Kommunikation, Wahrnehmung und Warenproduktion als kybernetische Prozesse beschrie‐ ben. Und noch weit signifikanter: Die Imagination eines alles umfassend kontrollierenden Computers, wie ihn McLuhan beschreibt, ist vom Prinzip her nichts anderes als Wieners Flugabwehrapparat, wenngleich um einiges universeller angelegt und vielleicht weniger martialisch: Auch McLuhans Computer steht in Wechselwirkung mit Ereignissen in der Welt und auch 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 145 <?page no="146"?> 367 McLuhan, Magische Kanäle, S.-377. 368 Ebd., S.-15. 369 Ebd., S.-522. 370 Gegen solch eine holistische Deutung McLuhans siehe → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Konstruktivistische Medienökologie“. 371 Zum religiösen Erweckungserlebnis McLuhans und zu seinem Übertritt in die katholi‐ sche Kirche siehe: Marchand, McLuhan, S.-80f. er reagiert automatisch auf Veränderung. Der Unterschied zur klassischen Kybernetik besteht jedoch in Folgendem: McLuhan weist die kybernetischen Steuermechanismen einer bestimmten kultur- und mediengeschichtlichen Periode zu, ihre Zuständigkeit ist also historisiert: ‚Kybernation‘ ist ein Prozess, der sich erst im Zeitalter der Elektrizität, ja erst mithilfe von Medientechniken wie Telegrafie, Fernsehen und Computer ausbilden kann, um ein globales Dorf voller Rückkopplungen zu schaffen. McLuhans „kybernetische[s] Verfahren“ 367 ist zudem umfassend holis‐ tisch: Alles hängt mit allem zusammen und die Veränderung eines Elements verändert zwangsläufig das Gesamtsystem. Es bezieht sich nicht nur auf unterschiedliche Ebenen. Nicht nur stehen diese Ebenen in Wechselbezie‐ hung, sondern buchstäblich alles, zumindest „soweit es unsern Planeten betrifft“, 368 steht im Zeitalter der Elektrizität mit allem in Beziehung und wird in diesem Beziehungsgeflecht erkennbar: „Jeder Gegenstand, in dem man tief und ganz eindringt, zeigt sich sofort in seinen Beziehungen zu an‐ deren Gegenständen.“ 369 Die Erde wird von riesigen Rückkopplungsschleifen durchzogen, die alles mit allem verbinden. 370 Die Noosphäre und das globale Dorf In diesen kybernetischen Ideen lässt sich unschwer eine technologische Imagination von Einheit, Zusammenhang, ja von Harmonie erkennen (wenngleich eine recht dynamische). Der Katholik McLuhan verbindet diese Implikationen explizit mit religiösem Gedankengut und malt seinen Leser: innen dementsprechend eine paradiesische Zukunft aus. 371 In der Einleitung zu D I E MAGI S CH E N K ANÄL E heißt es in diesem Sinne geradezu programmatisch: Das Streben unserer Zeit nach Ganzheit, Einfühlungsvermögen und Erlebnistiefe ist eine natürliche Begleiterscheinung der Technik der Elektrizität. […] Wir sind plötzlich darauf aus, daß Dinge und Menschen sich uns restlos erklären. Es liegt ein tiefer Glaube in dieser neuen Haltung - ein Glaube, der auf eine 146 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="147"?> 372 McLuhan, Magische Kanäle, S.-18. 373 Siehe zu Teilhard und seine Rezeption bei McLuhan: Sprenger, Medien des Immediaten, S.-428ff. 374 McLuhan zitiert eine längere Passage aus D E R M E N S C H I M K O S M O S in: Gutenberg-Ga‐ laxis, S. 39; auch in seinen Briefen kommt er bspw. im Kontext seiner Körperauswei‐ tungsthese auf Chardin zu sprechen: McLuhan, Letters, S.-292. 375 Pierre Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos [1940], München 1959, S.-232. 376 Winkler, Die magischen Kanäle, S.-160. 377 Marchand, McLuhan, S.-292. schließliche Harmonie aller Kreaturen gerichtet ist. In diesem Glauben ist dieses Buch geschrieben worden. 372 Dieser religiöse Impetus lässt sich direkt mit den metaphysischen Spekula‐ tionen des französischen Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin in Zusammen‐ hang bringen. 373 In D E R M E N S CH IM K O S MO S , ein Buch, das erstmalig 1955 veröffentlicht wurde, entwickelt der Jesuit ein Konzept der sogenannten ‚Noosphäre‘. Dieses Konzept wird nicht nur von McLuhan zitiert, es weist zudem einige Parallelen zu McLuhans Vorstellung vom globalen Dorf auf. 374 Teilhard geht davon aus, dass die zwischenmenschlichen Kontakte immer dichter verbunden werden durch Verkehr und Technik. Letztlich soll dieser Prozess in einer globalen Vernetzung münden: Die Eisenbahn, die vor kurzem erfunden wurde, das Automobil, das Flugzeug ermöglichen es heute, den physischen Einfluß jedes Menschen, der einst auf einige Kilometer beschränkt war, auf Hunderte von Meilen auszudehnen. Ja, noch mehr: dank dem wunderbaren biologischen Ereignis der Entdeckung der elektromagnetischen Wellen findet sich von nun an jedes Individuum (aktiv und passiv) auf allen Meeren und Kontinenten gleichzeitig gegenwärtig und verfügt über dieselbe Ausdehnung wie die Erde. 375 Diese globale Vernetzung ist aber nicht nur materieller Natur. Viel entscheid‐ ender ist die daraus resultierende geistige, genauer eigentlich geistliche Vernetzung bei Teilhard. „[D]ies ist die Grundlage dafür, dass sein Buch in eine finale und universelle Vereinigung - eine Schlussapotheose, den Punkt Omega - mündet.“ 376 Die organische bzw. technische Evolution konvergiert demnach „in Richtung Parusie - der Wiederkunft des Herrn.“ 377 Die Noosphäre öffnet so gesehen die Pforten zum paradiesischen End‐ zustand. McLuhan selbst kommentiert diese Passage im Kontext seiner Körperextensionsthese und mit Bezug auf den Computer, wie folgt: Eine „kosmische Membran“ hat sich „durch die elektrische Erweiterung unserer 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 147 <?page no="148"?> 378 McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S.-40. 379 Ebd. 380 Dass das doch kein Missverständnis sein könnte, dafür wird argumentiert in → 3. Lesart: Kritik. 381 Zur Rezeption von Marshall McLuhan im deutschsprachigen Kontext und dem bereits früh erhobenen Vorwurf, eine Heilsgeschichte zu verbreiten, siehe: Heilmann, Blick in den Rückspiegel insb. S. 92. In einer generellen ‚Abrechnung‘ mit McLuhan anlässlich des Erscheinens einer Sammlung von Texten zu McLuhan (nämlich zu Gerald Emanuel Stearn (Hg.) McLuhan - Für und Wider, Düsseldorf 1969) heißt es im Wochenmagazin D I E Z E I T , in McLuhans Texten dominieren „mystifikatorische[…] und pseudotheolo‐ gische[…]“ Aspekte - und etwas später im Text ist noch polemischer formuliert: „Tatsächlich sieht McLuhan Christus in der Steckdöse [sic! ] und im Elektronengehirn. […] Kurz, das Elektronengehirn verheißt uns über die Technik das Pfingstwunder welt‐ weiter Verständigung und Einheit… immerwährende Harmonie und ewigen Frieden.“ (Müller [Pseudonym für Jörg Jochen Berns], Der elektrische Philosoph. McLuhan und der McLuhanismus, in: Die Zeit, 10.10.1969, S. 74.) Für eine neuere Kritik der ‚Heilsgeschichte‘ McLuhans vgl. bspw. Winkler, Die magischen Kanäle. 382 McLuhan, Mechanische Braut, S.-7. verschiedenen Sinne rund um den Globus gelegt […].“ 378 Und weiter: „Diese Hinausstellung unserer Sinne schuf das, was Teilhard de Chardin die ‚Noosphäre‘ nennt: ein technisches Gehirn für die Welt. Statt sich auf eine riesige alexandrinische Bibliothek hinzubewegen, ist die Welt ein Computer geworden, ein elektronisches Gehirn […].“ 379 Spuren des Noosphären-Konzepts finden sich in McLuhans M AGI S CHE N K ANÄL E N zuhauf, wenngleich anders noch als in der zwei Jahren zuvor erschienenen G UT E N B E R G -G ALAXI S nicht mehr explizit markiert. McLuhan entwickelt in D I E MAGI S CHE N K ANÄL E strukturanalog zu Teilhard einen teleologischen Geschichtsverlauf, der notwendig in einem harmonischen, quasi paradiesischen Endpunkt einer global vereinten Menschheit mündet. Das könnte man zumindest auf den ersten Blick meinen. Doch das ist ein (oft geschürtes) Missverständnis. 380 McLuhan ist nicht einfach, zumindest nicht nur der Apologet der ‚neuen Medien‘, wie es in vielen Sekundärtexten heißt. 381 Dagegen spricht schon, dass sich seine Einstellung zu Medien wie Radio oder Fernsehen im Laufe seiner Karriere stark verändert hat. So tritt er in seiner ersten Buchveröffentlichung noch als strikter Kritiker der neuen Medien auf, gegen die er seine Leser: innen wappnen will. D I E M E CHANI S CH E B R AUT setzt mit folgenden Worten ein: „Wir leben in einem Zeitalter, in dem zum ersten Mal Tausende höchstqualifizierte Individuen einen Beruf daraus gemacht haben, sich in das kollektive öffentliche Denken einzuschalten, um es zu manipulieren, auszubeuten und zu kontrollieren.“ 382 Mitte der 60er Jahre wird McLuhan die massenmediale Kommunikation, vor allem die des 148 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="149"?> 383 Siehe zu dieser Einschätzung auch: Marchand, McLuhan, S. 191. Genauer betrachtet, ist es noch etwas ambivalenter und unklarer. In D I E M E C H A N I S C H E B R A U T sind bspw. auch Passagen zu finden, in denen McLuhan die ‚neuen‘ Medien regelrecht feiert (siehe bspw.: McLuhan, Mechanische Braut, S. 3f.). Umgekehrt gibt es in D I E M A G I S C H E N K A N Ä L E Abschnitte, in denen McLuhan vor den Gefahren, die vor allem von den ‚neuen‘ Medien ausgehen, eindringlich warnt (siehe bspw.: McLuhan, Magische Kanäle, S. 113). Diese Ambivalenz durchzieht das gesamte Werk McLuhans, wenn es auch zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Gewichtungen geben mag. 384 McLuhan, Testen, bis die Schlösser aufgehen, S.-97. 385 Siehe dazu auch: Gordon, Marshall McLuhan, S. 303. Dort verteidigt er McLuhan gegen seine Kritiker - fett gedruckt: „Electricity has not unified the world into a global village.“ 386 McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S.-40 (Hervorhebung von mir [SG]). 387 McLuhan, Magische Kanäle, S.-18 388 McLuhan, Testen, bis die Schlösser aufgehen, S.-73. Fernsehens sehr viel positiver einschätzen, wie die vorhergehenden Zitate, die beinah alle aus dieser Zeit stammen, eindrücklich zeigen dürften. Gegen Ende der 60er und in den 70er Jahren wird die Einschätzung der (damals) neuen Medien wieder sehr viel skeptischer. 383 So heißt es in einem Interview von 1967 gar: „[D]ie meisten Medien [sind] pures Gift […].“ 384 Wichtiger ist in diesem Zusammenhang aber noch, dass McLuhan trotz aller Hoffnung, die er in die globale Welt setzte, auch Anfang und Mitte der 1960er Jahre äußerst skeptisch gegenüber Teilhards (und auch den eigenen) Harmonieversprechungen blieb. 385 Das zeigt sich unter anderem deutlich am Kommentar zu Teilhards Idee der Noosphäre. In D I E G UT E NB E R G -G ALA ‐ XI S heißt es, Teilhards „unkritische Begeisterung für die kosmische Memb‐ ran“ sei nicht nur befremdend, sondern lese sich darüber hinaus wie ein „kindischer Zukunftsroman“. 386 In einem Interview äußert sich McLuhan, nachdem er auf die Utopie einer „schließlichen Harmonie“ 387 in seinem Konzept des globalen Dorfes angesprochen wird, noch klarer: „Je mehr Dorfbedingungen man schafft, um so mehr Diskontinuität und Teilung und Unterschiedlichkeit erhält man. Das globale Dorf sichert die absolut maximale Uneinigkeit in allen Punkten. Es ist mir niemals eingefallen, daß Einheitlichkeit und Ruhe die Merkmale des globalen Dorfes sind.“ 388 Damit ergibt sich freilich ein Widerspruch: Zum einen soll das globale Dorf Hort einer kosmischen Harmonie werden, zum anderen Sphäre der Zwietracht und des Dissens sein. Doch dieser Widerspruch lässt sich mindestens nach drei Richtungen hin auflösen. Zunächst einmal behauptet McLuhan ja nicht, dass das globale Dorf notwendigerweise in die Harmonie führt (im Gegensatz etwa zu Teilhard). Er hegt zwar, zumindest wie er 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 149 <?page no="150"?> 389 McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S. 50 (Hervorhebung von mir [SG]). Siehe diesbezüglich bereits den Titel einer der Publikationen McLuhans: Krieg und Frieden im globalen Dorf. Darin heißt es u. a., dass „jede neue Technologie nach einem neuen Krieg verlangt.“ (Marshall McLuhan/ Quentin Fiore/ Jerome Angel, Krieg und Frieden, Düsseldorf/ Wien 1971, S.-98) 390 McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S.-51. 391 Ebd., S.-218. 392 Ebd. in den M AGI S CH E N K ANÄL E N schreibt, die Hoffnung auf eine solche. Das bedeutet aber mitnichten, dass solch ein Ziel den geschichtlichen Verlauf determiniert. Allein die Möglichkeit dazu ist im Zeitalter der Elektrizität gegeben, wie die Spekulationen McLuhans über den Computer zeigen, nicht aber deren Notwendigkeit. Auch diesbezüglich ist McLuhan sehr deutlich: „Die Ausweitung des menschlichen Bewußtseins durch die elektronischen Medien können durchaus ein Goldenes Zeitalter einleiten, aber sie können auch Wegbereiter des Antichrists sein […].“ 389 Zweitens lässt sich der Widerspruch zeitlich auflösen. Dann wäre die Zwietracht des globalen Dorfs eine vorübergehende: „Wir leben“, nach McLuhan, in einer „qualvollen Übergangsphase“, 390 in der die Konstitution des globalen Dorfs „von Gewalt begleitet ist“. 391 Jedoch werden die einzelnen Gruppen innerhalb des Dorfes „nicht auf Dauer als feindliche, konkurrie‐ rende kriegerische Lager gegenüberstehen, sondern sie werden vielleicht entdecken, daß das, was sie als Stammesgesellschaft verbindet, stärker ist als ihre Differenzen, und dann in Harmonie und gegenseitiger kultureller Befruchtung miteinander leben.“ 392 Die dritte Möglichkeit besteht in Folgendem: Harmonie ist nicht unbe‐ dingt gleichbedeutend mit Stillstand und Unifizierung. Sehr viel nahelieg‐ ender ist: McLuhan meint damit ein holistisches System, in dem sich die einzelnen Komponenten in permanenten Rückkopplungen befinden, in wechselnden Anziehungen und Abstoßungen, also in stetem Wandel. Anders formuliert: Das globale Dorf bildet eine Vernetzungsart aus, die Spannungen und Differenzen nicht verhindert, sondern ständig hervor‐ bringt. Harmonie gibt es hier nur insofern, als die einzelnen Komponenten der vernetzten Welt aufeinander reagieren und permanent neu ausgerichtet werden. Ein Endpunkt ist dabei gar nicht vorgesehen - schon gar kein heilsgeschichtlicher. 150 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="151"?> 393 Siehe bspw.: McLuhan, Magische Kanäle, S.-17f. 394 Höltschl, Gutenberg-Galaxis, S. 77. McLuhan selbst stellt seine Epochenzuteilungen nicht systematisch oder im Zusammenhang dar, bezeichnet sie aber an unterschiedli‐ chen Stellen sehr deutlich. Um nur auf einige Passagen aus der G U T E N B E R G -G A L A X I S zu verweisen: McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S. 307 (zur oralen Kultur), 102 (zur Manuskriptkultur), 159 (zur Gutenberg-Galaxis) und S. 175 (zum elektrischen Zeitalter). 395 Gemäß dem Konzept des Leitmediums bedeutet bspw. die Etablierung der Schrift als dominantes Kommunikationsmedium zwangsläufig eine Veränderung auch der mündlichen Kommunikation. Siehe zum Konzept der Leitmedien und dessen Weiter‐ Phasen der Kultur- und Mediengeschichte Zuvorderst ist das globale Dorf eine Epochenkategorie. Häufig spricht McLuhan davon, dass wir uns in einem Übergangsstadium befinden von einer Epoche zu einer anderen und dass uns dieser Übergang schwer fällt, ja mit Schock und Traumata einhergeht. 393 Folglich muss es vor dem globalen Dorf nicht nur noch etwas anderes gegeben haben, außerdem muss es dort zudem radikal anders gewesen sein. Durch solch eine radikale historische Differenzsetzung macht McLuhan deutlich, wie anders das Zeitalter der Elektrizität tatsächlich ist und damit letztlich ebenso, wie stark der Wandel medientechnologischer Parameter die Kulturgeschichte prägt. Spätestens seit dem 1962 zum ersten Mal publizierten Buch D I E G UT E N ‐ B E R G -G ALAXI S unterteilt McLuhan die Geschichte des Menschen in vier Phasen: Nach einer langen Vorherrschaft der oralen Kultur „folgt nach Einführung des phonetischen Alphabets (8.-5. Jh. v. Chr.) eine von der Schrift geprägte Manuskriptkultur. Die schließlich um 1450 nach Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg von der Gutenberg-Galaxis abgelöst wird.“ 394 Ab dem 19. Jahrhundert, genauer seit dem Aufkommen der Telegrafie, sind wir dann, wie es im Untertitel der G UT E N B E R G -G ALAXI S heißt, am „Ende des Buchdruckzeitalters“ angelangt. Seither findet ein allmählicher Übergang zum elektrischen Zeitalter statt, das bis in unsere Gegenwart hineinreicht und Mitte des 20. Jahrhunderts im Fernsehen seinen idealen Agenten globaler Vernetzung gefunden haben soll. Für jede Phase der Kulturgeschichte benennt McLuhan immer genau ein Medium, das als Leitmedien für die jeweilige Epoche fungiert. Dieses Me‐ dium soll für diese Phase die entscheidende Prägekraft auf Kommunikation, Wahrnehmung und Denken haben; diese also ‚anleiten‘. Zudem dominiert folgerichtig seine Funktionsweise alle anderen Medien und ‚leitet‘ diese auch an. 395 Mit dem Konzept der Leitmedien nimmt McLuhan eine strikte Selektion vor. Obwohl mit seiner weiten Definition alles mögliche Medium 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 151 <?page no="152"?> entwicklung zu einem Konzept der Konversion: Jochen Hörisch, Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet [2001], Frankfurt am Main 2004, S.-404ff. 396 Siehe ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. 397 Siehe dazu eindrücklich das Kapitel „Energie aus Bastarden. Les Liasions Dangereuses“ in: McLuhan, Magische Kanäle, S.-84ff. sein kann, nämlich alles, was als Ausweitung des menschlichen Körpers beschreibbar ist, wird mit dem Konzept der Leitmedien die Medien- und Kulturgeschichte klar und übersichtlich strukturiert. McLuhan wählt dafür Leitmedien, die direkt mit Kommunikations- und Wahrnehmungsprozessen zu tun haben: Im ersten Fall ist es die gesprochene Sprache, im zweiten die Schrift, im dritten der Buchdruck und im vierten das elektrifizierte Fernsehen (vgl. Abb. 17). Diesen Medienphasen ordnet McLuhan Sinneswahrnehmungen zu, die durch die jeweiligen Medien vor allem angesprochen werden. Im ersten Fall ist es die auditive Wahrnehmung, im zweiten ebenfalls die auditive, zusätzlich aber auch die visuelle, im dritten nur die visuelle und im vierten und letzten Stadium soll vorrangig die taktile Wahrnehmung aktiviert wer‐ den (vgl. Abb. 17). Die Bezeichnung ‚taktile Wahrnehmung‘ für diese letzte Phase kann zu einiger Verwunderung führen, geht es doch dabei nicht um direkte Berührungen, etwa wie beim Abtasten einer rauen Oberfläche durch die Finger. ‚Taktilität‘ bezeichnet bei McLuhan vielmehr einen integrativen Wahrnehmungsmodus, der unterschiedliche Sinne verbindet und diese in eine harmonische Wechselwirkung bringt. 396 Solche Verbindungen und Wechselwirkungen sind, laut McLuhan, im Zeitalter der Elektrizität, eben durch elektrifizierte Medien, an der Tagesordnung. Das gilt sowohl auf der konkreten Wahrnehmungsebene, insbesondere durch die mosaikförmige Anordnung der elektrisch gesteuerten Lichtimpulse auf Fernsehbildschir‐ men, die den taktilen Sinn in besonderer Weise aktivieren, als auch für die Distributionsebene: Durch Elektrizität werden wir von Fernem ‚berührt‘ und miteinander ‚verbunden‘. In einer elektrisch vernetzten Welt wird zudem nahegelegt, eine Vielzahl an unterschiedlichen Medien gleichzeitig zu rezipieren. Folglich findet eine noch nie dagewesene Vermischung und Wechselwirkung medialer Sinneseindrücke statt. 397 Für solch eine Welt lässt sich denn auch ein computergesteuertes Kontrollsystem imaginieren, das unterschiedliche Medien zur Herstellung eines sinnlichen, emotionalen wie kognitiven und damit taktilen Gleichgewichts steuern kann. 152 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="153"?> Epoche Orales Zeitalter Manuskriptkultur Gutenberg-Galaxis Zeitalter der Elektrizität Leitmedium Stimme/ Sprache Schrift Buchdruck Fernsehen sinnlicher Modus (taktil) auditiv auditiv/ visuell visuell taktil kognitive Ausrichtung intuitiv intuitiv/ analytisch analytisch synthetisch psychosoziale Auswirkung lokal integrativ integrativ/ differenzierend differenzierend, distanzierend global integrativ soziale Einheit Familie, Stamm, Dorf Polis, Kloster, Stadt Individuum, Nation globales Dorf, Weltgesellschaft Produktionsform Jagen, Sammeln, Ackerbau Handwerk Industrie Automation Abb. 17 Abb. 17: Kultur- und Medienepochen nach McLuhan Das orale Zeitalter Die Vorstellung der ‚taktilen‘ Wechselwirkung der Sinne wie auch McLu‐ hans Prämisse, dass eine harmonische Wechselwirkung der Idealzustand ist, geht zurück auf antike Vorstellungen der Homöostase, auf das mittelalter‐ liche Konzept der Sinneseindrücke von Thomas von Aquin wie auch auf die Stresstheorie Selyes. Dies wurde bereits in der Diskussion der Körper‐ ausweitungsthese näher erläutert. Interessant ist hier nun, wie McLuhan diese Vorstellung historisch wendet: Nämlich schon für die erste Phase der Kulturgeschichte ist eine Störung der harmonischen Wechselwirkung der Sinne zu konstatieren, und zwar durch die Dominanz des gesprochenen Wortes im sozialen Kontakt. Harmonische Wechselwirkung ist also ein ideelles Konstrukt, das gleich zu Beginn der Kulturgeschichte nicht mehr zu haben ist. Doch schon an dieser Stelle wird es historisch und historiografisch schwierig. Denn genau besehen ist das gesprochene Wort nach McLuhan das Medium, das zuvorderst einen taktilen Gleichgewichtssinn garantiert. 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 153 <?page no="154"?> 398 Siehe dazu noch einmal McLuhan, Magische Kanäle, S. 97, 123, 126 oder auch: McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschine, S. 12; dazu: Heilmann, Digitalität als Taktilität, S. 127. 399 Zugegeben: Diese Interpretation bedeutet eine starke, strikt kohärenzorientierte Zu‐ richtung von McLuhans Position, die genau genommen sehr viel schwankender ist. So gibt es Aussagen, die meine Interpretation stützen (vgl. bspw. McLuhan, Guten‐ berg-Galaxis, S. 30), aber auch viele, die eine andere Interpretation nahelegen. Denn in vielen Passagen scheint McLuhan doch davon auszugehen, dass im oralen Zeitalter die Harmonie der Sinne herrschte. Besonders deutlich wird diese Position in einem Interview, wo es heißt: „Vor der Erfindung des phonetischen Alphabets lebte der Mensch in einer Welt, in der alle Sinne ausbalanciert und gleichzeitig präsent waren, in einer Stammeswelt voller Tiefe und Resonanz […].“ (McLuhan, Geschlechtsorgan der Medien, S.-11; Hervorhebung von mir [SG]) 400 McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S.-27. Laut McLuhan findet der Mensch im gesprochenen Wort seinen eigentlichen ‚Urzustand‘. Denn zum einen vollzieht sich damit eine multisensorische Ausweitung - das Sprechen ist zu hören, zu sehen und zu spüren. Zum anderen wird das Bewusstsein des Sprechenden ausgelagert. 398 Erst danach, mit jeder weiteren Ausweitung der Sinne, gerät das harmonische Wech‐ selspiel der Sinne in Dissonanz. Wie kann also das gesprochene Wort einerseits der Inbegriff des harmonischen Wechselspiels der Sinne sein und anderseits gleichzeitig das Leitmedium des oralen Zeitalters, das dieses harmonische Wechselspiel stört? Dieser Widerspruch lässt sich zumindest dann auflösen, wenn zwischen biologischer und sozialer Ausweitung der Sinne unterschieden wird (vgl. dazu noch einmal die Ausdifferenzierung in Abb. 7). Als biologische Ausweitung wäre demzufolge das Sprechen noch der Inbegriff zur Herstellung und Bewahrung des harmonischen Wechselspiels der Sinne. Sobald aber diese biologische Ausweitung eine soziale wird, also im kommunikativen Kontakt mit anderen Menschen an Relevanz gewinnt und zu einer sozialen Struktur gerinnt, wird es zum Leitmedium der oralen Kultur, das als solches die harmonische Wechselwirkung der Sinne stört. 399 Laut McLuhan lebt der Mensch in der oralen Kultur in einem Stammes‐ verband, der Individualität nicht zulässt, jeden ständig in „Abhängigkeit und Wechselbeziehung“ 400 zu allen anderen hält und ihn damit radikal in ein Kollektiv integriert. Das herausragende Medium dieser radikalen Integ‐ ration ist eben das gesprochene Wort. Denn das Akustische durchdringt den Raum in alle Richtungen gleichzeitig, ist so gesehen immer schon für mehrere Adressaten bestimmt. Zudem ist es ein transitorisches Medium und d. h.: Es ermöglicht Kommunikation nur unter Anwesenden. Ist man abwesend, läuft man in dieser Art Stammesgesellschaft Gefahr, Wichtiges 154 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="155"?> 401 Ebd., S.-34. 402 Ebd., S.-30. 403 McLuhan, Das Medium ist Massage, S.-48. 404 McLuhan, Magische Kanäle, S.-81. 405 Siehe bspw.: McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S.-37ff., 272. 406 Ebd., S.-39. 407 Ebd., S.-30. (mitunter sogar Lebenswichtiges) nicht mitzubekommen. Daraus erklärt sich die starke Bindung an das Kollektiv. In dieser oralen Kultur gibt es kein Wahrnehmungsgleichgewicht, weil eine „überwältigende Tyrannei des Ohres über das Auge“ 401 vorliegt. Durch dieses Ungleichgewicht werden die Mitglieder dieser Kultur „in eine[.] hyp‐ notische[.] Trance“ 402 voller „Urahnungen“ 403 versetzt. Denn McLuhans von Selye übernommene Prämisse zufolge ist die Konsequenz jeder einseitigen Verwendung eines Sinnesorgans nicht weniger als eine kognitive Betäu‐ bung. Diese Störung hat aber auch einen produktiven Nebeneffekt, ist sie doch ebenfalls Impulsgeber für weitere medientechnische Entwicklungen. Oder wie McLuhan selbst schreibt: „[D]er Ansporn zu Erfindungen und Neuerungen als Gegenreizmittel“ 404 wird letztlich in das globale Dorf mün‐ den. Medien- und kulturgeschichtliche Entwicklungen sind also ausgelöst und vorangetrieben durch ein Ungleichgewicht der Sinne. Mit der gewählten Begrifflichkeit impliziert McLuhan die Wiederkunft der oralen Stammesgesellschaft im elektrischen Zeitalter, wenngleich nicht mehr auf lokaler, sondern mit medientechnischer Unterstützung weltum‐ spannend, eben als globales Dorf. 405 So heißt es bspw. in der G UT E N B E R G -G A ‐ LAXI S zu dieser Rückkehr: „Wir leben in einem einzigen komprimierten Raum, der von Urwaldtrommeln widerhallt.“ 406 Nichtsdestotrotz ist für McLuhan zentral, dass die Dominanz des Akustischen eine Störung der Wahrnehmungsorganisation verursacht hat, die die medientechnische Ent‐ wicklung einleitete und die erst im globalen Dorf aufgehoben werden kann. Das heißt aber auch: Elektrifizierte Urwaldtrommeln funktionieren anders als manuell geschlagene. Das elektrische Zeitalter ist nicht die einfache Wiederkehr einer oralen Kultur, sondern verspricht vielmehr die Aufhebung der damals zuallererst initiierten Störung. Dies vollzieht sich etwa durch Einführung des ‚taktile‘ Fernsehen, das die „Tyrannei des Ohres über das Auge“ 407 auflöst oder genauer, Auditives und Visuelles in ein harmonisches Wechselverhältnis bringt. 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 155 <?page no="156"?> 408 Siehe zur Hochschätzung der hieroglyphischen Schrift und des Ideogramms im Kon‐ trast zum Alphabet bspw.: McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S. 33f. Nicht die Materialität der Schrift an sich ist also recht besehen der entscheidende Wendepunkt für McLuhan, sondern die Verbindung der Materialität der Schrift mit einer spezifischen Codierungs‐ form. 409 McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S.-102. 410 Siehe bspw. sehr deutlich dazu: McLuhan, Magische Kanäle, S.-86. Das phonetische Alphabet und die Manuskriptkultur Die Einführung der Schrift, vor allem in Form des phonetischen Alphabets, 408 bedeutet in McLuhans medial fundierter Kulturgeschichte eine zweite, noch weitaus gewichtigere Störung. Alphabetische Codierung bindet McLuhan an den materiellen Kanal der Schrift und des Buches. Deshalb nennt er diese Epoche auch „Manuskriptkultur“. 409 Zwar kommt in dieser Manuskriptkul‐ tur mittels schriftlicher Codierung (und den damit korrespondierenden Fertigkeiten des Lesens und Schreibens) die visuelle Wahrnehmung zu ihrem Recht, dafür aber wird die auditive ausgeschlossen (oder doch zumindest marginalisiert). Allein das soll schon zu einer immensen Störung des Wahr‐ nehmungsapparates beitragen haben. 410 Das phonetische Alphabet hat aber noch sehr viel weitreichendere Kon‐ sequenzen. Im Gegensatz zu Ideogrammen etwa ist es ein vollständig arbiträres Zeichensystem. D.h., es gibt keine Ähnlichkeit zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten; die Bedeutung der Zeichen ist rein kon‐ ventionell. Das macht das Alphabet extrem variabel hinsichtlich dessen, was es bezeichnen kann. Weiterhin haben die einzelnen Zeichen im Gegen‐ satz bspw. zu Hieroglyphen keine eigenständige referentielle Bedeutung, sondern sind syntaktische Bausteine, die erst innerhalb des jeweiligen Zeichensystems Bedeutung erhalten. Das wiederum macht das Alphabet leicht formalisierbar. Phonetische Schrift visualisiert zudem Sprache. Erst so können einzelne Elemente differenziert und Sprache in kleinste Einheiten zerlegt und formalisiert werden. Durch diese Visualisierung können so auch Argumentationsgänge schriftlich niedergelegt werden. Das hat erhebliche Folgen: Da man auf das Vorhergehende zurückgreifen kann, denn es ist ja aufgezeichnet, kann die Argumentation auch sehr viel komplexer und 156 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="157"?> 411 Darum kann jemand wie Eric A. Havelock auch argumentieren, dass philosophische Reflexion sich erst mit der (phonetischen) Schrift ausbildet: Aufgrund der schriftlichen Fixierung ist „die Bildung einer theoretischen Sprache mit ihren abstrakten Subjekten und begrifflichen Prädikaten“ möglich geworden (Eric A. Havelock, Als die Muse schreiben lernte. Eine Medientheorie zu Oralität und Literalität [1986], Berlin 2007, S. 119). McLuhan bezieht sich im Übrigen gern und enthusiastisch auf Havelock. So be‐ zeichnet er etwa im Vorwort zur zweiten Auflage von U N D E R S T A N D I N G M E D I A Havelocks Buch P R E F A C E T O P L A T O als „splendid work“ (Marshall McLuhan, Understanding Media. Introduction to the Second Edition [1964], in: Navigationen. 50 Jahre Understanding Media, S.-17-20, hier: S.-17). abstrakter gemacht werden, als wenn nur das gesprochene Wort zur Verfü‐ gung steht. 411 Überhaupt hat die Schrift als nicht-transitorisches Speichermedium, also als Medium, das nicht sofort vergeht und Raum und Zeit überbrücken kann, weitreichende, kulturgeschichtlich relevante Konsequenzen: Kann ich Sprache erst einmal fixieren, kann ich auf vorhergehende Informationen immer wieder zurückgreifen. Damit wird die Suche nach neuen Informa‐ tionen, nach neuem Wissen wichtiger als die Bewahrung des alten, den dieses ist ja nunmehr gespeichert. Innovation und Differenz wird zum Gebot der Stunde, und zwar nicht nur auf dem Gebiet des Wissens, auch auf Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Differenz zu anderen wird gesucht. Hier ist der Keim für den Individualitätsgedanken gelegt: Was zeichnet mich als besonderes, singuläres Wesen aus? Diese Frage ist laut McLuhan keine, die in einer rein oralen Kultur Sinn machen würde. Vielmehr ist die Idee der Individualität eine Geburt aus dem Geist der Schrift. Durch die Speicherungsmöglichkeit werden auch Informationen ver‐ gleichbar, damit differenzierbar und kritisierbar. Wenn Dinge schriftlich fixierbar sind, sind sie auch von einzelnen Personen lesbar. Kurz und gut: Die Implikationen der Schrift laufen bei McLuhan auf folgende Merkmale hinaus: Visualisierung, Formalisierung, Abstraktion, Innovation, Differen‐ zierung, Kritik und Individualität. Oder noch prägnanter formuliert: Eine objektivierende, distanzierend reflexive Perspektive auf die Welt (und die eigene Existenz) hält Einzug. Damit löst sich zudem das durch die Vor‐ herrschaft des Auditiven garantierte Gemeinschaftsgefühl auf zugunsten vereinzelter, reflexiver Individuen. Jedoch zeigen sich diese Implikationen der alphabetischen Schrift noch nicht in aller Härte während der Manuskriptkultur, obwohl deren Leitme‐ dium die Schrift ist. Diese Implikationen haben sich McLuhan zufolge erst mit dem Buchdruck gesellschaftlich Bahn gebrochen. Davor soll die alpha‐ 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 157 <?page no="158"?> 412 McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S.-107. 413 Siehe dazu auch: ebd., S.-102, 104ff. 414 Siehe bspw.: ebd., S.-102. 415 Siehe dazu bspw.: ebd., S.-34, 164. betische Schrift noch in eine soziale Praxis der „öffentlichen Rezitation“ 412 eingelassen gewesen sein. D.h.: In der Manuskriptkultur gab es noch eine orale Praxis, die die Auswirkungen der alphabetischen Schrift kompensieren konnte. 413 Genau deshalb ordnet McLuhan der Manuskriptkultur dem visu‐ ellen und dem auditiven Sinn zu. 414 Die Manuskriptkultur ist genau besehen ein Zwischenstadium, in dem die oralen Einflüsse noch nicht vollständig verloren gegangen und sich die Implikationen der Schrift gesellschaftlich noch nicht gänzlich durchgesetzt haben. In diesem Zwischenstadium kann sich eine temporäre Harmonie der Sinne entfalten, die Menschen sowohl analytisch als auch intuitiv handeln lässt. Der Einzelne ist kreativ und gleichzeitig in ein starkes Kollektiv integriert; die Tradition wird bewahrt und moderate Innovationen finden statt; Abstraktion und Orientierung an konkreten Phänomenen halten sich die Waage. Demgemäß verwundert es kaum, dass McLuhan die Manuskript‐ kultur sehr positiv beschreibt, kommt sie doch seinem Verständnis des idealen harmonischen Wechselspiels der Sinne sehr nah. Freilich ist sie gemäß der Strukturlogik seiner Mediengeschichte notwendigerweise nur eine vorübergehende Phase. 415 Die Gutenberg-Galaxis Kulturgeschichtlich relevant werden die epistemologischen Implikationen der alphabetischen Schrift erst in der Gutenberg-Galaxis, also mit der Etab‐ lierung der Druckerpresse mit beweglichen Lettern. Dies geschieht zunächst einmal einfach durch die quantitative Erhöhung der Schriftprodukte, da diese nun technisch reproduzierbar werden. Damit sind Schrifterzeugnisse sehr viel schneller und weiträumiger zu verbreiten als durch Handschriften. Allein schon damit werden nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche mit Schrift konfrontiert. Diese quantitative Zunahme hat massive qualitative Konsequenzen. Denn mit der technischen Reproduzierbarkeit von Informa‐ tionen lassen sich (nahezu) identische Exemplare von Texten herstellen und distribuieren. So ist es dann nicht nur möglich, sehr viel mehr und schneller Informationen am selben Ort zu speichern als zuvor. Vor allem befinden 158 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="159"?> 416 So der Teil einer Kapitelüberschrift in: McLuhan, Magische Kanäle, S.-261. 417 Siehe dazu auch: McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S. 205f., 270; ders., Magische Kanäle, S.-40. 418 Siehe bspw.: ebd., S.-305ff. sich nun dieselben Daten an unterschiedlichen Orten, wodurch diese Daten schnell auszutauschen und abzugleichen sind. Ein Rückkopplungseffekt gegenseitiger Koordination und Korrektur setzt ein: Informationen werden flächendeckend via Abgleich homogenisiert und formalisiert, um die Daten verfügbar zu halten. Gleichzeitig werden die Wissensbestände permanent modifiziert, erhalten sie doch ständige Zufuhr an neuen Informationen und Erkenntnissen. Damit wiederum ist eine Innovationslogik in Gang gesetzt, die nicht weniger als die Strukturlogik der Moderne ausmachen wird: Es geht dann nämlich nicht mehr primär um die Bewahrung und Wie‐ derholung zentraler Wissensbestände, wie noch in der Manuskriptkultur. Wertgeschätzt und gesucht wird nun das Neue, Differente, die Veränderung. Schon dieser qualitative Umschlag durch quantitative Vermehrung schrift‐ licher Produkte hat kulturgeschichtlich weitreichende Konsequenzen - und setzt dabei eben die Implikationen der alphabetischen Schrift frei. So kann der Buchdruck unter anderem, wie McLuhan schreibt, zum „Baumeister des Nationalismus“ 416 werden. Denn durch die umfassende Sichtbarmachung der Sprache und deren Vergleichbarkeit über lokale Be‐ schränkungen hinweg ergibt sich nahezu zwangsläufig ein homogenisieren‐ der Formalisierungseffekt: Sprache wird standardisierbar. Unterschiedliche Sprachgewohnheiten werden dann als Abweichung von der Norm, also als lokale Dialekte ein- und derselben Sprache beschreibbar. Gleichzeitig wird hierdurch überhaupt erst ein übergreifendes Bewusstsein für sprachliche Identität ermöglicht, die letztlich zu einem Konzept wie Nation führt. 417 Ähnliches gilt für die Etablierung neuzeitlicher Wissenschaft und Phi‐ losophie: Sie operieren mit formalen Kategorien; sie abstrahieren vom tat‐ sächlich Gegebenen und homogenisieren Phänomene, setzen eine reflexive Distanz zur Welt und etablieren so eine Subjekt/ Objektspaltung, wie sie etwa in der dualistischen Philosophie René Descartes ausbuchstabiert wird. Damit etabliert sich ein mechanisches Weltbild, in dem die Welt als quan‐ tifizierbares Gebilde gedacht wird, das durch Ursache-Wirkungs-Modelle vollständig zu beschreiben sein soll. 418 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 159 <?page no="160"?> 419 Eine Betonung, die - wie weiter oben bereits geschildert - in der Manuskriptkultur durch kulturelle Praktiken des Vorlesens noch verhindert werden konnte. Siehe dazu bspw. auch: McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S.-55. 420 Ebd., S.-305; siehe dazu auch: ebd., S.-20. 421 Siehe dazu bspw. die Gegenüberstellung von visuellem und akustischem Raum: McLu‐ han, Probleme der Kommunikation, v.a.: S.-62ff. 422 Zur Taktilität als herausragende Sinneswahrnehmung, die alle anderen Sinne koordi‐ niert, siehe ausführlicher Lesart → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. Durch die Etablierung des Buchdrucks ist mit McLuhan gedacht endgültig die Betonung des Visuellen und die Abwertung des Auditiven verbunden. 419 Zunächst trifft dies in einem ganz trivialen Sinne zu: Man liest selbst mehr (und leise) und hört weniger Vorgelesenes als in der Manuskriptkultur. Gemäß der oben geschilderten wahrnehmungstheoretischen Prämisse geht damit ebenfalls notwendigerweise eine erhebliche Störung des Wechsel‐ spiels der Sinne einher, durch die die Menschen betäubt und sie sogar - wie sich McLuhan dramatisch ausdrückt - in einen „geistigen Schlaf “ 420 versetzt werden. Doch damit nicht genug. Aufgrund der Etablierung des Buchdrucks wird nämlich noch eine ganz spezielle visuelle Wahrnehmung befördert, die die Implikationen der alphabetischen Schrift voll zur Geltung bringt. Visuelle Wahrnehmung ist nach McLuhan per se ein distanzierender und segmentierender Akt. 421 Ich nehme einzelne Dinge in Distanz zu mir war. Zudem stehen diese Dinge in einer räumlichen, quantifizierbaren Relation zueinander. Deshalb lassen sich auch unterschiedlichste Phänomene, wie Wetter, gesellschaftliche Prozesse, Zeit oder subatomare Phänomene, am besten mittels Visualisierung analysieren und damit berechenbar machen. Akustisch wäre das kaum möglich. Der akustische Raum wird dementspre‐ chend von McLuhan als ein ganzheitlicher und synthetisierender verstan‐ den, in den der oder die Hörende vollständig eintaucht. Dasselbe gilt für die taktile Wahrnehmung, sei es in direktem Körperkontakt mit den Dingen, sei es durch Berührungen und Vernetzung mittels Elektrizität. 422 Durch den Buchdruck wird nicht nur einfach die Sprache visualisiert, darüber hinaus werden via Holzdruck und dem im 16. Jahrhundert aufkommenden Kupferstich Bilder in die Texte integriert. Aber nicht irgendwelche Bilder, sondern technische Zeichnungen und Kunstwerke, die Dinge und Phäno‐ mene mittels der kurz vor der Etablierung des Buchdrucks eingeführten Linear- und Zentralperspektive darstellen. Damit werden die abgebildeten Objekte in eine homogene, mathematisch berechenbare Relation zueinander 160 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="161"?> 423 Siehe dazu bzw. mit Bezug auf die Konstruktion der Zentralperspektive in der Renais‐ sance: McLuhan, Medium ist Massage, S.-53; oder auch: McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S.-140. 424 Siehe: Albrecht Dürer, Underweysung der messung mit dem zirckel un[d] richtscheyt, in Linien ebnen unnd gantzen corporen, Nürnberg 1525, Online zugänglich unter: https: / / www.digitale-sammlungen.de/ de/ details/ bsb00084858 [08.04.24]. gebracht. Das wiederum leistet einer distanzierten und rein funktionalen Weltsicht weiter Vorschub. 423 Visualität, Mathematisierung, Formalisierung, Abstraktion, Rationalisierung, Distanzierung werden somit in ein Bedin‐ gungsverhältnis gesetzt, das sich im Buchdruck verdichtet, durch diesen verbreitet und potenziert. Sehr anschaulich kommt dieser Zusammenhang in einem 1525 zum ersten Mal gedruckten Buch von Abrecht Dürer zum Ausdruck. 424 Darin erklärt und zeigt der Verfasser, wie Bilder geometrische korrekt perspektivisch herzu‐ stellen sind. Unter anderem sind darin zwei Holzschnitte reproduziert, die unterschiedliche Methoden illustrieren, wie perspektivische Verkürzungen korrekt konstruiert werden können (vgl. Abb. 18). Abb. 18: Die Prinzipien der Gutenberg-Galaxis visuell verdichtet in zwei gedruckten Holzschnitten (1525) 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 161 <?page no="162"?> 425 Siehe dazu: McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S.-299ff. 426 Siehe: Michel de Montaigne, Essais [1580-1588], Frankfurt am Main 1998. Noch auf einen anderen Bereich wirkte der Buchdruck massiv ein: Er zeichnet verantwortlich für die Etablierung der Individualität. Ist mit dem Buchdruck eine Strukturlogik in Gang gesetzt, die das Neue präferiert, zudem einen reflexiv-distanzierenden Blick auf die Welt etabliert, so gilt beides auch für den Einzelnen. Menschen der Neuzeit reflektieren über sich selbst in einer anderen Weise als Menschen zuvor. Sie fragen sich nämlich, was ihre Besonderheit ist, ihre Individualität. Selbst wenn es zuvor schon Fragen danach gegeben haben mag, so wird im Zuge der Etablierung des Buchdrucks diese Frage flächendeckend gesellschaftlich relevant. The‐ matisch lässt sich das bspw. ablesen an den unablässig selbstreflexiven Passagen voller intimer Gedanken und Empfindungen in den zum ersten Mal zwischen 1580 und 1588 gedruckten E S S AI S von Michel de Montaigne, auf den McLuhan immer wieder in seinen Texten eingeht. 425 In diesen E S S AI S geht es um das Ich in seiner Privatheit, Intimität und Reflexivität. Kaum ein Wort kommt dementsprechend in diesen E S S AI S öfters vor als das Personalpronomen ich (mitsamt seinen Deklinationsformen meiner, mir, mich). 426 So ein ‚Ich‘ findet sich ebenfalls in Dürers angeführten Illustrationen zum perspektivischen Zeichnen - und zwar in einer besonders reflexiven Weise in der Darstellung, wie eine Laute perspektivisch korrekt gezeichnet werden kann (vgl. noch einmal Abb. 18, Bild rechts). Denn dort ist perspektivisch der Rezipient bzw. die Rezipientin, ein ‚Ich‘, gleich zweimal miteingezeichnet und festgelegt. Martin Mißfeldt arbeitet dies in seiner Analyse des Holzdru‐ ckes sehr deutlich heraus (vgl. Abb. 19): Das Besondere an diesem Bild ist, dass es quasi zwei Perspektiven gibt: da ist zum einen der Haken an der Wand, der quasi stellvertretend für den zukünftigen Betrachter des Bildes steht. Dieser Haken ‚schaut‘ auf die Spitze der Laute. Und dann ist da natürlich der Betrachter des Holzschnitts. Der beobachtet sich quasi beim Beobachten. Oder um es mit Paul Valery zu sagen: ‚Ich sehe mich mich sehen‘. […]. Der Holzschnitt zeigt einen virtuellen Betrachter (A1), der einen Punkt auf der Laute (A3) anvisiert. Dieser Punkt wird in dem ‚Fensterdurchblick‘ fixiert (A2). Der Betrachter des Holzschnitts, also ‚ich‘ (B1) sieht nun diesen Punkt auf der Zeichnung (B2). Der Punkt B2 entspricht somit auch dem Punkt A3 - aber 162 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="163"?> 427 Martin Mißfeld, Perspektive [2]: Analyse des Dürer Holzschnitts „Der Zeichner der Laute“, Online zugänglich unter: https: / / www.martin-missfeldt.de/ perspektive-zeichn en-tutorial/ perspektive-albrecht-duerer.php [08.04.24]. 428 Spahr, Magische Kanäle, S. 68. Siehe dazu bspw.: McLuhan, Gutenberg-Galaxis, 312 f.; ders., Magische Kanäle, S.-265f. Abb. 19: Die Geburt des ICH aus dem Geist der Perspektive das ist das Besondere einer perspektivischen Zeichnung: Realität und Abbild verschmelzen. 427 Perspektivische Darstellungen sind so verstanden unmittelbar verbun‐ den mit der Vorstellung eines Ichs, auf das die Darstellungen zuläuft und das durch die perspektivische Ausrichtung überhaupt erst herge‐ stellt wird. Die Gutenberg-Galaxis kommt bei McLuhan nicht besonders gut weg. Durch die Abstraktions- und Individualisierungsprozesse ist der Mensch aus dieser Warte von der Welt und den anderen entfremdet worden. „McLuhan erkennt“, wie Angela Spahr in ihrer Einführung zu McLuhans Thesen anschaulich schreibt, „im westlichen zivilisierten Menschen ein Wesen, das nur als Schatten oder Bruchteil seiner selbst existiert und in der Enge der Uniformität […] haust.“ 428 Demgegenüber steht die Hoffnung, die McLuhan mit dem Zeitalter der Elektrizität verbindet. Im globalen Dorf soll es möglich sein, dass die Entfremdung wieder aufgehoben wird - und zwar in einem harmonischen Wechselspiel der Sinne und der Bewohner: innen untereinander. Geschichtsschreibung als/ und christliche Heilsgeschichte McLuhans Mediengeschichte hat auffällige Ähnlichkeiten mit einer christ‐ lichen Heilsgeschichte. In der christlichen Heilsgeschichte gibt es den Sündenfall, damit eine Vertreibung aus dem Paradies, jedoch letztlich wieder eine Rückkehr ins Paradies. Die narrative Logik der christlichen Heilsge‐ schichte ist vergleichbar mit dem Plot eines klassischen Westerns: Zunächst gibt es Einheit und Ordnung (die kleine Präriestadt/ das Paradies), dann der Einbruch der Unordnung (der Schurke reitet in die Stadt und bringt ein paar 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 163 <?page no="164"?> 429 Siehe zum Übertritt McLuhans zum Katholizismus: Marchand, McLuhan, S.-80ff. 430 Siehe dazu vor allem die Sammlung: Marshall McLuhan, The Medium and the Light, insb. Kap. 7 „Our Only Hope Is Apocalypse“, S.-57ff. Leute um/ Sündenfall). Und letztlich wird die Ordnung wieder hergestellt (der Sheriff erledigt den Schurken/ Jesus und Gottvater rufen zum Jüngsten Gericht). Solch eine Narration besteht aus drei Phasen, wobei die dritte die Wiederkunft der ersten ist. Die narrative Strukturlogik ist also zirkulär ausgerichtet. Auch in McLuhans Mediengeschichte findet man dieses Zirkularität wieder, ist doch im Blick auf die Wahrnehmungsorganisation die Idee einer Störung virulent, die letztlich wieder aufgehoben werden kann. Es liegt nahe, im globalen Dorf die strukturelle Wiederkunft eines (lokalen) Dorfes zu erkennen, nur eben auf einer weltumspannenden Ebene. Zudem scheint das Ganze teleologisch ausgerichtet. Denn McLuhans Mediengeschichte ist eine immer umfassendere Vernetzung der Menschen vorgesehen sowie eine immer schnellere Koordination durch Medientechniken. Bis dann, im Zeitalter der Elektrizität, die Medientechnik Informationen so schnell ver‐ teilen kann, dass simultane Kommunikation rund um den Globus möglich ist. Retrospektiv gesehen liest sich die Kulturgeschichte als permanente Beschleunigungsgeschichte, die zu Beginn durch eine Wahrnehmungsstö‐ rung ausgelöst wurde und an deren Ende die Möglichkeit steht, diese Störung wieder zu überwinden. Es liegt nahe, dieses letzte Stadium als einen der Menschheitsgeschichte von Anfang an eingeschriebenen Zielpunkt zu verstehen. Ganz ähnlich wie bei dem Jesuitenpfarrer Teilhard die Mensch‐ heitsgeschichte auf die totale Vereinigung in der ‚Noosphäre‘ zuläuft, so scheint bei dem Katholiken McLuhan die Geschichte auf das globale Dorf hinauszulaufen. 429 Insofern wäre McLuhans Mediengeschichte eine kaum verdeckte, diesseitig gewendete christliche Heilsgeschichte in vier Akten. Doch sollte man sich hüten, Strukturähnlichkeiten für Strukturidentität zu halten. Zwar zeigen sich durchaus Parallelen zwischen der christlichen Heilsgeschichte (bzw. dem klassischen Western) und McLuhans Medienge‐ schichte. Auch McLuhans Vokabular ist durchdrungen von christlichen Figuren und Metaphern, von Heilserwartungen und apokalyptischen Ahn‐ ungen. 430 Jedoch ist seine Mediengeschichte keineswegs deckungsgleich mit der christlichen Heilsgeschichte. Erstens ist das globale Dorf mitnichten eine Wiederkehr des oralen Zeitalters. Zwar sind auch hier die Menschen vernetzt, jedoch medientechnisch fundiert in einem sehr viel größeren 164 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="165"?> 431 McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S.-50 (Hervorhebung von mir [SG]). 432 McLuhan, Magische Kanäle, S.-108. Maßstab. Und noch weit wichtiger: Unterschiedliche Medien können nun gekoppelt werden und unterschiedliche Sinnesorgane stimuliert werden. Die Dominanz des Ohres, das Hauptmerkmal des oralen Zeitalters, ist nicht wiedergekehrt, sondern ein Wechselspiel unterschiedlicher sinnlicher Stimulationen werden im Zeitalter der Elektrizität möglich. Weiterhin taugt das orale Zeitalter ebenso wenig als Ausgangsparadies, das dann im Zeitalter der Elektrizität wieder zugänglich wird, bringt doch das orale Zeitalter bereits die erste Störung in der Sinneskoordination hervor. Zwar ist die Störung, die die alphabetische Schrift in der Gutenberg-Galaxis erzeugt, noch um einiges erschütternder. Nichtsdestotrotz ist ein einfaches Dreierschema, Harmonie → Störung der Harmonie → Harmonie, nicht zu finden. Stattdessen lassen sich fünf Elemente/ Phasen unterscheiden, in deren Verlauf sich Störung und Harmonie ablösen: Harmonie (sprachliche Auslagerung) → Störung der Harmonie (orales Zeitalter) → Harmonie (Manuskriptzeitalter) → Störung der Harmonie (Gutenberg-Galaxis) → Harmonie (Zeitalter der Elektrizität). Weiterhin ist McLuhans Mediengeschichte nicht nur buchstäblich eine säkularisierte Heilsgeschichte, weil sie das Paradies weder am Anfang noch am Ende im Jenseits situiert, sondern vor allem deshalb, weil der Endpunkt der Geschichte nicht teleologisch determiniert ist. Der Verlauf der Geschichte ist nicht von Anfang an vorgezeichnet. Das Ende ist offen. Die Ironie des Vokabulars, das McLuhan für diese Einschätzung wählt, sticht aus dieser Perspektive besonders klar hervor, schreibt er doch, wie bereits weiter vorne zitiert, dass die elektronischen Medien ein paradiesisches Zeitalter einleiten könnten; ebenso möglich ist es aber, dass sie „Wegbereiter des Anti‐ christ“ 431 sind. Nach McLuhan ist der Verlauf der (Medien-)Geschichte keine vorentschiedene Sache, wie das doch für die christliche Heilsgeschichte gilt. Er appelliert hier vielmehr in Manier der Aufklärung an die Verantwortung der Menschen, vor allem an die der Künstler: innen, den „Kontrollturm der Gesellschaft“ zu übernehmen, um einen „Schiffbruch der Gesellschaft“, etwa durch mediale Entwicklungen, zu vermeiden. 432 Weiterhin ist McLuhans diesseitiges ‚Paradies‘, falls es denn zustande kommen sollte, ein recht mobiles. Wie bereits bei der Diskussion der kybernetischen Implikationen in McLuhans Texten benannt, versteht McLuhan das globale Dorf als ein äußerst dynamisches System. Die einzelnen Komponenten befinden sich 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 165 <?page no="166"?> 433 Siehe dazu: Edward R. Haymes, Das mündliche Epos. Einführung in die „Oral-po‐ etry-Forschung“, Stuttgart 1977. 434 Diese ‚Schule‘ muss wohl sehr viel eher als eine retrospektive Versammlung von Autor: innen angesehen werden, die irgendwann einmal in Toronto unterrichtet haben, einige Grundannahmen teilten, jedoch keinesfalls ein gemeinsames Programm entwi‐ ckelt haben - siehe dazu genauer: Rita Watson/ Menahem Blondheim (Hg.), The Toronto School of Communication. Theory, Interpretations, Extensions, Applications, Jerusalem 2007. 435 Dieter Mersch, Medientheorie zur Einführung, Hamburg 2006, S.-14. dabei in permanenter Rückkopplung, also in Anziehung, Abstoßung und Wandel. Das passt zumindest zu einer christlich-paradiesischen Unifizie‐ rungsfantasie nicht allzu gut. Toronto School of Communication Hingegen ist McLuhans Geschichtskonzept sehr viel besser zu verstehen, wenn man den direkten wissenschaftshistorischen Hintergrund in Betracht zieht, vor dem McLuhan sein historisches Phasenmodell entwirft. Gemeint ist damit die Forschung zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlich‐ keit, die bereits im 19. Jahrhundert in der Ethnologie auf der Agenda stand, seit den 1930ern unter dem Signum Oral Poetry in der Philologie primär im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Dichtung Homers virulent wurde 433 und Mitte des 20. Jahrhunderts in etwas mündete, was man retrospektiv als Toronto School of Communication bezeichnet. 434 Diese ‚Schule‘ zeichnet sich vor allem durch einen spezifischen Zugriff auf ihren Gegenstand aus. Denn sie setzt, wie Dieter Mersch schreibt, beim Problem der Kommunikation an, um deren unterschiedliche Ausprägungen als ‚Mündlichkeit‘, ‚Schriftlichkeit‘ und ‚sekundäre Mündlichkeit‘ zu untersuchen und vor allem die negativen Effekte des Buchdrucks und der Mechanisierung zu kritisieren. Sie begründet auf diese Weise zum ersten Mal eine ‚Medienkultur‐ geschichte‘, die das Ganze der okzidentalen Kultur unter die Perspektive ihrer medialen Konstruktion stellt. 435 McLuhan selbst gilt als einer der maßgeblichen Vertreter dieser Schule und seine oben dargestellte Medienkulturgeschichte beinhaltet nahezu idealtypisch die von Mersch benannte Zugriffsweise der Toronto School of Communication. 166 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="167"?> 436 McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S. 1. Lords Buch wurde 1960 zum ersten Mal unter dem Titel T H E S I N G E R O F T A L E S veröffentlicht. Sein ‚Lehrer‘ Milman Perry stellte die Homer-Frage seit den 1930er Jahren - siehe seine Texte dazu versammelt in: Milman Perry, The Making of Homeric Verse: The Collected Papers of Milman Parry, Oxford 1987. 437 Albert B. Lord, Der Sänger erzählt. Wie ein Epos entsteht [1960], München 1965, S. 21. 438 Siehe bspw.: Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken [1962], Frankfurt am Main 1973. Ein wichtiger Bezugspunkt für McLuhans Medienkulturgeschichte ist die Oral Poetry. Selbst in klassischer Philologie ausgebildet, bezieht sich McLuhan in D I E G UT E N B E R G -G ALAXI S explizit auf zwei Klassiker dieser Forschungsrichtung. Gleich zu Beginn heißt es: „Das vorliegende Buch stellt in mancherlei Hinsicht eine Ergänzung zu D E R S ÄN G E R E R ZÄHLT . W I E E IN E P O S E NT S T E HT von Albert B. Lord dar. Professor Lord hat das Werk von Milman Parry fortgesetzt, dessen Homer-Forschungen ihn veranlaßten, der Frage nachzugehen, wie die mündliche oder orale und die schriftli‐ che Dichtung naturgemäß verschiedenen Mustern folgen.“ 436 Die zentrale These Parrys ist: Orale und schriftliche Dichtung unterscheiden sich in ihrer Form - und zwar nicht aufgrund der jeweiligen Absicht des einen oder anderen Dichters, sondern aufgrund der unterschiedlichen Mittel des Sprachgebrauchs. Differente Medien haben unterschiedliche Effekte auf die dichterische Form, so also die These. In den 1930er Jahren machte Parry gemeinsam mit Lord sogar Feldstudien auf dem Balkan, um seine These nicht nur philologisch-historisch, sondern auch empirisch-kulturvergleichend zu bestätigen. Lord schreibt diesbezüglich: „Es wurde die Methode verwandt, Sänger zu beobachten […], um herauszufinden, inwieweit die Form ihrer Epen davon abhängig ist, daß sie ihre Kunst ausüben, ohne lesen und schreiben zu können.“ 437 Damit sind Parry und Lord auf einem Weg, der über rein philologische Studien hinausgeht und von den Ethnologen bereits seit dem 19. Jahrhundert beschritten wurde. Dieser Weg führte im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem Modell, das explizit ausbuchstabiert und berühmt wurde durch den strukturalistischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss, als er nämlich die Un‐ terscheidung zwischen kalten und heißen Gesellschaften einführte. 438 Dieser Unterscheidung liegt eine vergleichsweise einfache, aber weitreichende These zugrunde, der die strukturalistische Ethnologie wie auch die Toronto School anhängt: Schriftlose Kulturen unterscheiden sich radikal von Schrift‐ kulturen - und zwar nicht nur in ihrer Dichtung, sondern ganz generell in ihren kommunikativen Prozessen, ihrer Art der Gedächtnisverwaltung 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 167 <?page no="168"?> 439 Sybille Krämer, Mündlichkeit/ Schriftlichkeit, in: Alexander Roesler/ Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, München 2005, S.-192-199, hier: S.-192. 440 Havelock, Muse, S.-22. 441 McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S.-39. 442 Siehe hierzu: Eric A. Havelock, Preface to Plato, Cambridge 1963; oder auch (bereits rückblickend): Havelock, Muse. wie in ihrer Sozialordnung, ja sogar in den jeweiligen kognitiven Struk‐ turen ihrer Mitglieder. Von den strukturalistischen Ethnologen genauso wie in der Toronto School of Communication wurde diese Differenz zur Zäsurierung der Kulturgeschichte gewendet: „Die Unterscheidung zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache wird dabei verallgemeinert zu einer Epochenschwelle zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften.“ 439 Dass die Unterscheidung Mündlichkeit/ Schriftlichkeit Mitte des 20. Jahr‐ hunderts so wichtig in der Forschung wird, führt einer der Vertreter der Toronto School, nämlich Eric A. Havelock, auf die Wiederkehr der Stimme in den technischen Medien, allen voran dem Radio, zurück. In A L S DI E M U S E S CH R E IB E N L E R NT E heißt es rückblickend: „Die Zauberkraft der Oralität war wiedererwacht nach einem langen Dornröschenschlaf, in den sie […] verfallen war. Wenn wir heute der Oralität in der Geschichte nachforschen, so forschen wir ebensowohl ihrem partiellen Wiedererwachen in uns selbst nach.“ 440 Dieses ‚Wiedererwachen der Oralität‘ oder wie es McLuhan plas‐ tisch ausdrückt: dieser erneute Widerhall der „Urwaldtrommeln“ 441 führte Havelock zwar nicht zu einer genauen Analyse dieser neuen medialen Konstellation. Jedoch ist damit zumindest ein Grund benannt, warum mit dem Aufkommen technischer Medien wie Radio und Fernsehen das Interesse an nicht-schriftlicher Kommunikation wieder aufgeflammt ist. Darüber hinaus zeugt Havelocks Einschätzung vom Bewusstsein einer erneuten kulturgeschichtlichen Zäsur, die sich in der Gegenwart abspielt und von McLuhan spätestens seit seinen M AGI S CH E N K ANÄL E N ausführlich beschrieben wird. Jedenfalls geht Havelocks Blick auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit historisch zurück. Genauer noch kreisen seine Forschungen immer wieder um eine Zäsur, die er nimmermüde wird, als die maßgebliche Zäsur des Abendlandes zu beschreiben, nämlich die Einführung der phonetischen Alphabetschrift in der griechischen Antike. 442 Für die Toronto School war Havelocks Perspektive mustergültig, ja stilbildend. Die für McLuhans Kul‐ turgeschichte so folgenreichen Implikationen der alphabetischen Schrift - Formalisierung, Abstraktion, Innovation - finden sich in Havelocks P R E FAC E 168 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="169"?> 443 Krämer, Mündlichkeit/ Schriftlichkeit, S.-192. 444 Siehe etwa: Havelock, Muse, S.-36f. 445 Karlheinz Barck, Harold Adam Innis - Archäologie der Medienwissenschaft, in: Harold A. Innis, Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, hrsg. von Karlheinz Barck, Wien/ New York 1997, S.-3-13, hier: S.-11. 446 Ebd. (zweite Hervorhebung von mir [SG]). 447 McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S.-63; siehe ähnlich noch einmal: ebd., S.-270. T O P LAT O historisch recht genau situiert. Die Einführung der phonetischen Alphabetschrift in der griechischen Antike bildet denn auch nicht weniger als den Auftakt zur Moderne: „Die Alphabetschrift wird als ‚Motor‘ und Ursache eines einzigartigen kognitiven und wissenschaftlichen Fortschritts wie auch sozialer und politischer Entfaltung westlicher Zivilisationen ge‐ deutet, mithin als der Königsweg zur ‚Modernität‘ verstanden.“ 443 Harold A. Innis Havelock greift in diesem Zusammenhang nicht nur explizit auf Ideen von Parry und Lord zurück, zudem auf einige Vorstellungen des Wirtschaftshis‐ torikers Harold A. Innis. 444 Innis gab nicht nur Havelocks Arbeit Impulse, darüber hinaus kann er wohl ohne größere Übertreibung als der eigentliche ‚Stammvater‘ oder doch zumindest als der maßgebliche Ideengeber der gesamten Toronto School gelten. „Mit McLuhans T H E G UT E N B E R G G ALAX Y (1962), Eric A. Havelocks P R E FAC E T O P LATO (1963) und Jack Goodys und Ian Watts T H E C O N S E Q U E NC E S O F L IT E R AC Y (1963) war“, wie Karlheinz Barck schreibt, „eine epistemologische Konstellation entstanden, die Medienwis‐ senschaft zur Untersuchung der technologischen Umwelt […] befähigte.“ 445 Zurückgeführt wird diese neue epistemologische Konstellation auf Innis: „Als Anfang der 60er Jahre fast gleichzeitig jene drei Bücher erschienen, die das Profil der Toronto School of Communication als einer die vergangene Geschichte von Medien im Lichte gegenwärtiger Medienkultur analysier‐ enden Gruppe bekräftigten, hatte sich die Tragfähigkeit von Innis 10 Jahre zuvor publizierten Gedanken erwiesen.“ 446 Dass Innis der ‚Stammvater‘ vieler Ideen der Toronto School ist, das betont auch McLuhan immer wieder. In D I E G UT E NB E R G -G ALAXI S übt er sich in einer Bescheidenheit, die ihm normalerweise eher fremd ist, wenn er formuliert, sein Buch sei im Grunde nur „eine erklärende Fußnote“ 447 zu den Ideen Innis. Innis betreibt von Haus aus Wirtschaftsforschung, ist also nicht wie Havelock und McLuhan Philologe. Das ist insofern interessant, als Innis 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 169 <?page no="170"?> 448 Siehe: Harold A. Innis, A History of the Canadian Pacific Railway, London/ Toronto 1923, Online zugänglich unter: https: / / open.library.ubc.ca/ collections/ bcbooks/ items/ 1 .0347573 [26.09.24]. 449 All das sind Beispiele, die Innis selbst in einem Aufsatz gleich im 2. Abschnitt anführt - siehe: Harold Innis, Die Eule der Minerva [1951], in: Innis, Kreuzwege, S. 69-94, hier: S.-69. 450 Harold Innis, Tendenzen der Kommunikation [1951], in: Innis, Kreuzwege, S. 95-119, hier: S.-96. dementsprechend nicht von der Analyse sprachlicher Artikulationsweisen her kommt. Er hatte zunächst ganz andere Forschungsgegenstände im Blick, was seinen Zugriff auf mediale Phänomene sehr spezifisch macht. Innis erste Forschungsinteressen drehten sich, wie etwa in seiner 1923 veröffentlichten Dissertation A H I S TO R Y O F TH E C ANADIAN P ACI F IC R AIL R OAD , um die Entwicklung der kanadischen Eisenbahn und des nordamerikani‐ schen Pelzhandels. 448 Ihm ging es in diesen wirtschaftsgeschichtlichen Studien vor allem um den Einfluss, den die materiellen Bedingungen von Transportmitteln sowohl auf den Erfolg der Unternehmungen wie auf die sozialen Entwicklungen und die Machtgefüge von Kollektiven hatten. Dabei entwickelte Innis eine medienmaterialistische Position, die in ihrem Grundansatz dem marxistischen Materialismus ähnelt. Jedoch wird eine für McLuhan (und letztlich auch für die gesamte medienwissenschaftliche The‐ oriebildung) entscheidende Verschiebung vorgenommen. Sind es bei Karl Marx noch die ökonomischen Verhältnisse, genauer die Spannung zwischen Produktionsmitteln und Produktivkräften, die die Gesellschaftsstruktur und die kulturellen Artikulationen bestimmen, so sind es bei Innis die materiellen und technologischen Bedingungen der ‚Medien‘. ‚Medien‘ sind für Innis primär die materiellen Träger des Transports (bspw. Züge, Eisenbahnstre‐ cken, Schifffahrtswege) und der Kommunikation (bspw. „Ton, Meißel“, „Keilschrift“, „Papyrus, der Pinsel, die Hieroglyphen“, „das Schilfrohr“, „die Druckerpresse“ 449 ). Diese ‚Medien‘ - und genau das ist Innis medienmate‐ rialistische Position - bedingen und präformieren Wissens-, Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen. „Wir können wohl davon ausgehen“, so be‐ tont Innis in einem 1949 gehaltenen Vortrag, „daß der Gebrauch eines bestimmten Kommunikationsmediums über einen langen Zeitraum hinweg in gewisser Weise die Gestalt des zu übermittelnden Wissens prägt.“ 450 Noch fundamentaler und kulturhistorisch gewendet heißt es bereits zwei Jahre früher: „Ich habe versucht, darzulegen, welch tiefgreifenden Einfluß das Kommunikationswesen auf die Kultur des Abendlandes hatte und daß 170 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="171"?> 451 Innis, Eule, S.-69. 452 Innis, Tendenzen, S. 95. Für eine knappe, aber instruktive Einführung zu Innis’ Zeit- und Raummedien siehe: Gabriele Schabacher, Zur Einleitung [zum Kap. Infrastrukturen], in: Andreas Ziemann (Hg.), Grundlagentexte der Medienkultur. Ein Reader, Wiesbaden 2019, S.-283-288, merkliche Veränderungen bei den Kommunikationsmitteln weitreichende Auswirkungen zeitigen.“ 451 Einsichtig macht Innis diese ‚weitreichenden Auswirkungen‘ unter an‐ derem mit seiner Gegenüberstellung von Raum- und Zeitmedien: „Jedes einzelne Kommunikationsmittel spielt eine bedeutende Rolle bei der Vertei‐ lung von Wissen in Zeit und Raum und es ist notwendig sich mit seinen Charakteristiken auseinanderzusetzen, will man seinen Einfluß auf den jeweiligen kulturellen Schauplatz richtig beurteilen.“ 452 Steintafeln bspw. begünstigen zum einen die Konservierung von Wissen über lange Zeit hinweg, zum anderen bilden sie ein Bildungsmonopol aus - allein schon aufgrund ihrer Materialität: Sie sind vergleichsweise dauerhaft, jedoch relativ schwer zu transportieren. Deshalb ist ihre räumliche Expansion von Wissen erheblich eingeschränkt. Es entstehen Bildungsmonopole. Für Papyrus gilt das Gegenteil: leicht zu transportieren, deshalb geeignet für die räumliche Ausbreitung von Wissen und also für dessen Zugänglichkeit an diversen Orten, jedoch im Vergleich zu Steintafeln recht kurzlebig, dementsprechend schlecht geeignet, Wissen über sehr lange Zeiträume zu konservieren. Die Eigenschaften dieser materiellen Träger präformieren also laut In‐ nis unterschiedliche Wissens-, Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen: Gesellschaften, die auf Dauer und Tradition ausgerichtet sind, verwenden vorrangig zeitorientierte Medien. Gesellschaften hingegen, die auf Expan‐ sion, Innovation und Dynamik zielen, finden ihre Fundamente vorrangig in raumorientierten Medien. Damit markiert Innis eine Zäsur, die im Grunde genommen auch bei Lévi-Strauss zu finden ist, wenn er kalte und heiße Gesellschaften gegenüberstellt. Ähnlich wie Lévi-Strauss wendet Innis die Differenz kulturhistorisch: Die moderne Gesellschaft ist eine heiße Gesell‐ schaft. Oder in Innis’ Vokabular formuliert: Die moderne Gesellschaft findet ihre Grundlage im phonetischen Alphabet, in der Papierproduktion sowie der Druckerpresse - und tendiert so mehr und mehr dazu, ein Übergewicht an raumorientierten Medien zu produzieren. Zeitmedien, und das heißt eben auch Orientierung an Gedächtnis und Tradition, bleiben dabei immer mehr auf der Strecke. Auch für McLuhan wird diese kulturgeschichtliche Gegen‐ 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 171 <?page no="172"?> 453 McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S.-63. 454 McLuhan, Letters, S.-429 (Übersetzung nach: Barck, Innis, S.-5). 455 Innis, Tendenzen, S.-101. überstellung relevant werden und klingt vor allem bei der Kontrastierung von oraler Kultur und Gutenberg-Galaxis nach. Jedoch noch sehr viel prägender war für McLuhan Innis generelle Wendung zu einer medienmaterialistischen Kulturgeschichte. So schreibt McLuhan in D I E G UT E NB E R G -G ALAXI S : „Harold Innis war der erste, der darauf hinwies, daß die Formen einer bestimmten Medientechnik den Wandlungs‐ prozeß schon implizieren.“ 453 Noch enthusiastischer formuliert McLuhan knapp eine Dekade später in einem Brief an den damaligen Präsidenten der Universität von Toronto, Claude Bissell: Am Sonntag machte ich die größte Entdeckung meines Lebens. Es passierte, während ich an dem Vorwort zu Innis’ Empire and Communications arbeitete […]. Kurz gesagt besteht die Entdeckung in folgendem: 2.500 Jahre lang haben die Philosophen der westlichen Welt jede Technologie aus der Behandlung von Materie-Form-Problemen ausgeklammert. Innis hat viel Zeit seines Lebens darauf verwandt, um die Aufmerksamkeit auf die psychischen und sozialen Folgen von Technologien zu lenken. 454 Mit Innis findet McLuhan also den Forscher, der endlich, nach 2500jährigem Versäumnis der abendländischen Philosophie, den Blick auf die Technologie lenkt und die Frage nach deren Auswirkungen stellt. Mit dieser Positio‐ nierung Innis als dem Pionier, dem es zu folgen gilt, verweist McLuhan explizit auf das maßgebliche Fundament, von dem aus er selbst seine Medienkulturgeschichte ausformulieren und mit dessen Hilfe er sein Projekt gegen die philosophische bzw. geisteswissenschaftliche Tradition von knapp 2500 Jahren setzen konnte. Das gilt indes nicht nur für die strukturbildende medienmaterialistische Perspektive, sondern mindestens für zwei weitere Aspekte. Erstens operiert Innis mit einem recht weiten Medienbegriff. Mit solch einem Medienbegriff beschränkt man sich nicht mehr nur auf sprachliche Phänomene, sondern kann alle möglichen Gegenstände in den Blick nehmen: die Eisenbahn, Schifffahrtswege, Steintafeln oder auch Waffen wie etwa den „Langspieß […]“. 455 McLuhan ließ sich von solch einem weit gefassten Medienbegriff inspirieren. Denn auch für ihn gilt, dass bspw. „Straßen und Nachrichten‐ 172 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="173"?> 456 Zitiert aus dem Inhaltsverzeichnis der M A G I S C H E N K A N Ä L E , siehe: McLuhan, Magische Kanäle, S.-6f. 457 Barck, Innis, S.-4. 458 Mersch, Medientheorien, S.-96. 459 Siehe dazu etwa den Appell am Ende eines Vortrags vor Studierenden: „Vielleicht ist es angebracht, mit einer Bitte zu enden, die Rolle der mündlichen Tradition als eine Grundlage für effektive, lebhafte Auseinandersetzung zu bedenken […].“ (Innis, Eule, S.-94) wege“, „Rad, Fahrrad und Flugzeug“ oder auch „Waffen“ Medien sind. 456 Damit bot sich ihm in der Nachfolge Innis die Möglichkeit, die vergleichs‐ weise engen, weil sprachfixierten Grenzen einer philologisch inspirierten Forschung zu Stimme und Schrift zu überschreiten. So kommen nämlich auch Bilder und Zahlen in den Blick, ebenso unterschiedliche materielle und technologische Apparaturen, wie die Druckerpresse oder auch audiovisuelle Medien wie Film oder Fernsehen. Die Philologie erhält somit ihren „techno‐ logic turn“ 457 aus einem materialistischen Zweig der Wirtschaftsgeschichte, der sie über die bloße Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit hinausführt. Kulturgeschichte wird so zur Geschichte vielfältiger materieller Medienverhältnisse. Zweitens spielt für Innis trotz dieser Ausweitung des Medienbegriffs die Sprache immer noch eine zentrale Rolle, um seiner Kulturgeschichte Kontur zu verleihen. Insbesondere der Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit ist auch bei ihm Dreh- und Angelpunkt einer Geschichte des Abendlandes, die unverkennbar die Form einer Verfallsgeschichte annimmt. Innis schreibt regelrecht eine Geschichte „zunehmende[r] Eskalation der Verschriftlichung“, 458 die das Vorbild für McLuhans wie für Havelocks Kritik an der Mechanisierung der modernen Welt werden wird. Zwar kritisiert Innis sehr viel weniger pauschal als Havelock und McLuhan die Einführung des phonetischen Alphabets. Jedoch zeigen auch seine Ausführungen un‐ verkennbar massive Kritik an Schriftlichkeit überhaupt und eine deutliche Präferenz oraler Kommunikation. 459 Trotz dieser Übereinstimmungen beschreiben Innis und McLuhan das Ende der Kulturgeschichte sehr unterschiedlich. Bleibt es bei Innis im Großen und Ganzen eine melancholisch gestimmte Verfallsgeschichte, die mit der Schrift einsetzt und mit Apparaturen und Kommunikationsmitteln wie Rotationspresse, Radio und Fernsehen nur fortsetzt wird, gibt es bei McLuhan einen radikalen Bruch angesichts der elektrischen Medien. Die elektrischen Medien könnten uns aus Sicht McLuhans in ein globales Dorf 2.2 These 2: Wir leben in einem globalen Dorf 173 <?page no="174"?> 460 Havelock, Muse, S.-37 (Hervorhebung von mir [SG]). 461 Mersch, Medientheorien, S.-14. 462 Der Werbespot ist Teil einer Reihe ähnlicher Werbespots, die unter dem Titel H E R I T A G E M I N U T E S das ‚kanadische Erbe‘ anhand wichtiger historischer Figuren und Ereignisse feiern will (siehe: The CRB Foundation Heritage Project, A Part of our Heritage - „The Medium is the Message“, online abrufbar unter: https: / / www.historicacanada.ca/ produ ctions/ minutes/ marshall-mcluhan [09.04.24]). führen, das die Möglichkeit der Aufhebung der Mechanisierung und Ent‐ fremdung verheißt. Havelock drückt diese fundamentale Differenz zwischen Innis und McLuhan pointiert aus: Insofern auch er in der Druckerpresse einen Motor sozialen Wandels sah, war McLuhan Innis’ Schüler. Aber McLuhans Buchdruckerpresse mit ihren bewegli‐ chen Typen war nicht die Rotationspresse, gegen die Innis polemisierte. Wenn McLuhan gegen den Buchdruck zu Felde zog und die moderne Kommunikations‐ technik, insbesondere die elektronische, als eine Befreiung begrüßte, dann stellte er de facto Innis auf den Kopf. 460 Globale Vernetzung Dieses Auf-den-Kopf-stellen gelingt McLuhan, indem er auf Ideen zurück‐ greift, die eine vernetzte Welt imaginieren. Allen voran sind das Lewis’ Idee einer Weltgesellschaft, Teilhard de Chardins Vorstellung einer Noosphäre und Konzepte der Kybernetik Norbert Wieners. Weltgesellschaft, Noosphäre und Kybernetik synthetisiert McLuhan in der griffigen Phrase vom globalen Dorf - und zwar zu einer Zeit, als Ereignisse in der Welt tatsächlich via Satellitenübertragungen, Radio- und Fernsehberichterstattung nahezu überall zugänglich gemacht wurden. Vor diesem Hintergrund tritt nunmehr durch Vertreter: innen der Toronto School, allen voran eben durch McLuhan, Geschichte als Medienkulturgeschichte in Erscheinung, „die das Ganze der okzidentalen Kultur unter die Perspektive ihrer medialen Konstruktion stellt.“ 461 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft Ein kurzer Werbespot, der 1990 im kanadischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, beschreibt die ‚Entdeckung‘ des Slogans ‚Das Medium ist die Bot‐ schaft‘ sehr anschaulich und amüsant: 462 Wir schreiben das Jahr 1961 und 174 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="175"?> 463 Siehe dazu: Marchand, McLuhan, S.-198. 464 Siehe dazu: Carpenter, That Not-So-Silent-Sea, S.-224. befinden uns auf dem Campus der Universität Toronto. Wir sehen einige Stu‐ dierende in einem Seminarraum, während ein schlaksiger, hochaufgeschos‐ sener Mann wild vor ihnen gestikuliert. Dieser Dozent will augenscheinlich seine Studierenden, obwohl diese bereits zusammenpacken, unbedingt noch etwas Aufregendes, Interessantes, Bedenkenswertes mit auf den Weg geben. Nach kurzer Überlegung sagt er: „It’s obvious! The Medium is the Message! “ ‚Offensichtlich‘ ist jedoch auch: Der nunmehr selbstzufrieden lächelnde Dozent weiß selbst noch nicht genau, was dieser hastig dahingeworfene, ‚offensichtlich‘ auf Pointierung am Ende einer Seminarsitzung angelegte Satz eigentlich bedeuten soll. Zumindest ist er selbst sehr fasziniert von dieser paradoxen Wendung. Wie seine Studierenden, die nach dem Seminar heftig diskutieren, was diese Aussage denn genau bedeuten soll, so lässt auch unseren Seminarleiter die Phrase keine Ruhe mehr. Am Ende des Wer‐ bespots sehen wir McLuhan in seinem Büro, wie er in einem Selbstgespräch verwickelt unterschiedliche Deutungen des Satzes ausprobiert. Höchstwahrscheinlich entspricht diese Geschichte wohl - leider - nicht den Fakten. Tatsächlich lässt sich die Formulierung dieses Satzes einige Jahre früher finden. Seit 1958 verwendet McLuhan diese Phrase in seinen Vorträgen. 463 Ihren Ursprung hat sie jedoch weit weniger in einer genialen Eingebung als vermutlich vielmehr, wie so häufig bei McLuhan, in einer minimalen Abwandlung einer Formulierung eines anderen. In diesem Fall geht es um die kreative Wiederverwertung eines Titels, unter dem der Anth‐ ropologe Ashley Montagu einen Vortrag gehalten hat, dem, laut Carpenter, auch McLuhan beigewohnt haben soll. 464 Der Titel lautete: „Die Methode ist die Botschaft“. ‚Das Medium ist die Botschaft‘ ist ein Satz, der, ganz ähnlich wie die Wendung vom ‚globalen Dorf ‘, die Vorliebe des Medienforschers für poin‐ tierte Paradoxa exemplifiziert und er ist wohl das Etikett, das McLuhan in der Öffentlichkeit bis heute anhaftet. Darüber hinaus ist es ein Slogan, der in der medienwissenschaftlichen Forschung eine Erfolgsgeschichte ohneglei‐ chen aufweist und heute noch eines der Zentralaxiome der Medientheorie darstellt. Jochen Hörisch beschreibt diesen Satz in seiner G E S CHICHT E D E R M E DI E N mit Sinn für den Verve zäsuraler Ereignisgeschichtsschreibung dementsprechend als das Ereignis, das medienwissenschaftlicher Forschung überhaupt erst die Grundlage geliefert hat: „Die Geburt der neueren Medi‐ 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 175 <?page no="176"?> 465 Hörisch, Eine Geschichte der Medien, S.-71f. 466 Leschke, Einführung in die Medientheorie, S.-245f. 467 Dies ging auch den Lektoren von U N D E R S T A N D I N G M E D I A so. „Mehrmals ermahnten sie McLuhan, dass es eines einführendes ersten Kapitels bedürfe, in dem ‚[w]ithout any examples and metaphors‘ einmal klar gesagt würde, was ‚Medien‘ nun eigentlich sind.“ (Mangold/ Sprenger, Einleitung, S. 11; zitiert wird dort aus einem Brief von Leon Wilson an McLuhan vom 25.10.1962). enwissenschaft lässt sich […] präzise datieren. Sie betrat die Bühne mit dem Paukenschlagsatz des Exzentrikers McLuhan: ‚The medium is the mes‐ sage‘.“ 465 Ähnlich wie Hörisch sieht das auch Rainer Leschke, der indes etwas eloquenter und ausführlicher in seiner E IN FÜH R UN G IN DI E M E DI E NTH E O R I E dazu formuliert: Mit McLuhans These, dass die Medien selbst die Botschaft bildeten, und mit dem dadurch evozierten Übergang des Erkenntnisinteresses auf die Form von Medien ist allerdings von McLuhan erst das Terrain für eine eigenständige Medienwissenschaft geschaffen worden. […] Die[se] Umstellung auf die Form der Medien geht dabei von der Annahme aus, dass das Wesentliche des Mediums in seiner Form und nicht in den von ihm distribuierten Inhalten liegt und dass die Form der Medien nicht abgeleitet ist, sondern dass es sich um eine autonome Qualität handelt, die sich nicht über irgendwelche Motive aufschlüsseln lässt, sondern die einer eigenständigen Theorie bedarf. 466 Trotz aller Erfolgsgeschichte und Relevanz für die Medienforschung bleibt es jedoch nicht nur den Studierenden und McLuhan selbst im angeführten Werbespot recht unklar, wie dieser Slogan eigentlich genau zu verstehen sein soll. Was ist mit der Form des Mediums gemeint? Wie kann das Medium zugleich sein eigener Inhalt sein? Widerspricht es denn nicht dem gesunden Menschenverstand, davon auszugehen, dass die Form des Mediums wichtiger ist als der übermittelte Inhalt? Was genau könnte denn die Botschaft hinter der Botschaft sein und wie ist so etwas überhaupt zu beobachten? 467 McLuhan selbst liefert auf diese Fragen einige Antworten - Antworten aber, die sich im Laufe der Zeit ändern. Es ist ganz ähnlich wie in der oben angeführten Werbung: In einer Art andauerndem Selbstgespräch scheint sich McLuhan daran abzuarbeiten und zu ‚testen‘, was sein Slogan eigentlich bedeuten könnte. Einige seiner Antworten sollen im Folgenden nachgezeichnet werden. Dabei werde ich zum einen versuchen, einige Miss‐ verständnisse auszuräumen, die gerade bezüglich dieses Slogans kursieren. 176 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="177"?> 468 Siehe dazu: Carpenter, That Not-So-Silent-Sea, S.-224. 469 Montagu schreibt in einer Ausarbeitung dieses Gedankens: „[I]n teaching it is the method and not the content that is the message.“ (Ashley Montagu, The Cultured Man, Cleveland/ New York 1958, S. 62) Siehe dazu knapp: Kevin Pauliks, Meme Marketing in Social Media. Eine medienpraxeografischer Vergleich von Memes und Werbung, Marburg 2024, S.-77f. 470 T. S. Eliot, The Use of Poetry and the Use of Criticism, London 1933, S.-151. Zum anderen lässt sich zeigen, dass gerade die These, vom Medium, das die eigentliche die Botschaft sein soll, trotz der unterschiedlichen Interpre‐ tationsvorschlägen seitens McLuhans durchaus sinnvoll und konsistent verständlich zu machen ist. Die Methode ist die Botschaft Wie bereits erwähnt ist laut Carpenter McLuhans berühmtester Slogan eine Abwandlung eines Titels, unter dem der Anthropologe Ashley Montagu an der Universität in Vancouver in den 1950ern einen Vortrag hielt, den McLuhan besucht haben soll. Der Titel lautete im Original „The Method is the Message“, also ‚Die Methode ist die Botschaft‘. 468 Tatsächlich führt das Vortragsthema bereits relativ nah an das heran, was McLuhan mit seinem Slogan bezeichnen will. Dass ‚die Methode die Botschaft‘ ist, meint bei Ashley: Es kommt nicht so sehr darauf an, was ein Lehrer oder eine Lehrerin in einer Unterrichtssituation explizit sagt, sondern welche Methode er oder sie wählt, den Stoff zu vermitteln, wie er oder sie unterrichtet, nicht was. 469 Dies entscheidet über Erfolg und Misserfolg. Dazu passt McLuhans Begeisterung für den New Criticism. Denn diese literaturwissenschaftliche Schule geht davon aus, dass die Wahrnehmung eines Kunstwerkes vor allem mittels ihrer Form auf die Rezipierenden wirkt. Andere Aspekte, wie etwa der biografische Kontext einer Person, die ein Gedicht geschrieben hat, oder der Inhalt eines Gedichts sind dagegen völlig irrelevant. Zur Veranschaulichung dieser These, stützt sich McLuhan in seinen Texten und Briefen wiederholt auf eine Aussage von T. S. Eliot, der behauptet, dass es bei einem Gedicht darauf ankommt „to satisfy one habit of the reader, to keep his mind diverted and quit, while the poem does its work upon him: much as the imaginary burglar is always provided with a bit of nice meat for the house-dog.“ 470 Diese Aussage generalisiert McLuhan später im Hinblick auf Medien. In den M AGI S CH E N K ANÄL E N , dem Buch, in dem er seinen Slogan ‚Das Medium ist die Botschaft‘ zum ersten Mal ausführlich 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 177 <?page no="178"?> 471 McLuhan, Magische Kanäle, S.-38. 472 Erhard Schüttpelz, „Get the message through“. Von der Kanaltheorie der Kommunika‐ tion zur Botschaft des Mediums: Ein Telegramm aus der nordatlantischen Nachkriegs‐ zeit, in: Irmela Schneider/ Peter M. Spangenberg (Hg.), Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 1, Wiesbaden 2002, S. 51-76, hier: S. 72; siehe dazu ausführlicher: Carpenter, That Not-So-Silent-Sea, S. 238ff. Dort heißt es sogar, Dorothy Lee „was Explorations most influential force“ (ebd., S.-240). entfaltet, heißt es demgemäß: „Der ‚Inhalt‘ eines Mediums ist mit dem saftigen Stück Fleisch vergleichbar, das der Einbrecher mit sich führt, um die Aufmerksamkeit des Wachhundes abzulenken.“ 471 Entscheidend ist hier zu‐ nächst einmal: McLuhan übernimmt die These vom Medium, das relevanter ist als der eigentliche Inhalt, aus der anthropologischen Forschung zur Art und Weise des Unterrichtens und koppelt sie mit einer literaturtheoretischen Prämisse des New Criticism, für die die Form sprachlicher Kunstwerke der zentrale, ja ausschließliche Gegenstand ist. Fragen der Pragmatik (‚Wie unterrichten? ‘) und der Syntax (‚In welcher Art verbinden Kunstwerke Worte? ‘) werden so zur Befragung von Medien verschmolzen. Die Carpenter-McLuhan-Hypothese Radikaler und grundsätzlicher noch ist McLuhans Slogan vor dem Hinter‐ grund der sogenannten Sapir-Whorf-Hypothese zu lesen. Seit McLuhan zusammen mit Carpenter in den 1950er Jahren an der Zeitschrift E X P L O R A ‐ TIO N S arbeitete, dürfte ihm diese Hypothese bekannt gewesen sein. Denn die „Explorations besaßen sozusagen eine entsprechende ‚Hausethnologin‘ in Dorothy D. Lee, die ebenso emphatische Thesen zum Zusammenhang von Grammatik und Denkweise aufstellte“ 472 wie die sehr viel populäreren Ethnologen Edward Sapir und dessen Schüler Benjamin Lee Whorf. Linguistische Studien, die Sapir und Whorf unter anderem beim indigene Volk der Hopi unternommen hatten, führten zu einer Verallgemeinerung ihrer Studien in der sogenannten Sapir-Whorf-Hypothese. Der Kern dieser Hypothese bildet ein linguistisches Relativitätsprinzip, das besagt: Denken und Wahrnehmung werden durch die jeweils verwendete Sprache präfor‐ miert, wenn nicht gar determiniert. Unterschiedliche Sprachen bilden dieser These zufolge also buchstäblich unterschiedliche Weltanschauungen aus. Die Vorstellungen von der Welt sind relativ zu den jeweils herrschenden Sprachkonventionen und abhängig von deren grammatikalischen Struktu‐ ren. Whorf beschreibt diese Relativität unter anderem am Zeitkonzept des 178 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="179"?> 473 Siehe zur kritischen philosophischen Rekonstruktion der Sapir-Whorf-Hypothese: Franz Kutschera, Sprachphilosophie, München 1975, S. 289ff., zum Kontext und zur Rezeption der Hypothese ausführlicher: Iwar Werlen, Sprachliche Relativität. Eine problemorientierte Einführung, Basel/ Tübingen 2002, v.a.: S.-201ff. 474 Siehe dazu die posthum veröffentlichte Aufsatzsammlung: Benjamin Lee Whorf, Spra‐ che, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie, Reinbek 1963. 475 Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, S.-19. 476 Claus Pias, ABC… Zur Einführung, in: ders. u. a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999, S. 77-80, hier: S. 77. 477 Carpenter/ McLuhan, Introduction, S. ix. indigenen Volkes der Hopi. Dieses hat, so folgert Whorf nach seinen Feld‐ studien in Nordamerika, in ihrer Sprache keine quantifizierenden Ausdrücke für Zeit, stattdessen nur qualitative Bezeichnungen des Wandels. Daraus zieht Whorf den (bis dato recht umstrittenen) Schluss, dass ein indigener Hopi eine völlig andere Zeitwahrnehmung hat als ein: e Bewohner: in der westlichen Zivilisation, deren gesellschaftliche Koordination maßgeblich von einer quantifizierten, exakten Zeitmessung abhängig ist. 473 Diese Diffe‐ renzen werden auf die fundamentalen Unterschiede der jeweiligen Sprach‐ struktur zurückgeführt. 474 Neil Postman, ein Medienwissenschaftler und Schüler McLuhans, der sich noch in den 1980er und 1990er Jahren auf die Sapir-Whorf-Hypothese stützen wird, (re-)formuliert dies folgendermaßen: „Wie die Menschen über Zeit und Raum, über Gegenstände und Vorgänge denken, das ist deutlich von den grammatischen Eigenschaften ihrer indi‐ viduellen Sprache abhängig.“ 475 Solch eine Perspektive dürfte vor allem im 20. Jahrhundert nicht allzu spektakulär gewesen sein, reiht sie sich doch in eine mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Linie sprachrelativistischer Konzepte ein: „Seit Nietzsches Rehabilitierung von Rhetorik und Lüge, der ‚Sprach‐ krise‘ und dem linguistic turn rückte die Strukturierung von Wahrneh‐ mung, Bewußtsein und Wirklichkeit durch Sprache zunehmend ins Blick‐ feld.“ 476 Interessanter ist vielleicht, was Carpenter und McLuhan aus der Sapir-Whorf-Hypothese machen. In der Einleitung zu einer Anthologie, die Carpenter und McLuhan herausgaben und die Texte aus den E X P L O R ATION S enthält, heißt es: „Explorations explored the grammars of such languages as print, the newspaper format and television.“ 477 Der Forschungsansatz besteht also vor allem darin, die Grammatik unterschiedlicher Medien, wie Schrift, Radio, Film oder Fernsehen, zu analysieren und ihren Einfluss auf unsere Wahrnehmung zu erforschen. Analog zur Sapir-Whorf-Hypothese 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 179 <?page no="180"?> 478 Siehe dazu ausführlich: Schüttpelz, Get the message, S.-59ff. 479 Harold D. Lasswell, The Structure and Function of Communication in Society, in: Lyman Bryson (Hg.), The Communication of Ideas, New York 1948, S.-37-52, hier: S.-37. formulieren der Anthropologe Carpenter und der in klassischer Philologie ausgebildete McLuhan etwas, das man die Carpenter-McLuhan-Hypothese nennen könnte: Die Grammatik der jeweiligen Medien präformiert das Denken und die Wahrnehmung der Welt. Aus einem linguistischen Relati‐ vitätsprinzip wird ein mediales Relativitätsprinzip. Der Slogan ‚Das Medium ist die Botschaft‘ bedeutet dann, dass das Medium den Zugang zur Welt und das, was denkbar ist, bestimmt und damit letztlich darüber entscheidet, was wie überhaupt inhaltlich transportiert bzw. verstanden werden kann. Die Mediendifferenz ist die Botschaft Dieses mediale Relativitätsprinzip beinhaltet noch eine Pointe, die vor allem wissenschaftshistorisch von Belang ist und zu verstehen hilft, warum McLuhans Slogan so viel Aufmerksamkeit auch in der Wissenschaft auf sich ziehen konnte. Sehr vereinfacht lässt sich die Situation in der nord‐ amerikanischen Forschung zu den Gegenständen Medien, Information und Kommunikation in der Mitte des 20. Jahrhunderts wie folgt umreißen: Vorherrschend sind zum einen die technisch-mathematisch ausgerichtete Informationstheorie und die Kybernetik, zum anderen die soziologisch ausgerichtete Propaganda- und Massenkommunikationsforschung. Beide Forschungsfelder finden ihre Schnittmenge im Begriff der Kommunika‐ tion. Gemeinsam ist ihnen überdies ein Desinteresse an der Spezifik des Kanals. Vielmehr sind die Forscher: innen darauf aus, ein allgemeines, übergreifendes Kommunikationsmodell zu entwickeln, das es im einen Fall ermöglichen soll, die Informationszirkulation berechenbar und im anderen Fall die Wirkungen verständlich zu machen, die eine Information bei den Empfänger: innen hervorruft. 478 Die sogenannte Lasswell-Formel, die der US-amerikanische Politologe und Kommunikationswissenschaftler Harold Lasswell 1948 vorstellte und die für die Kommunikationsforschung der damaligen Zeit maßgeblich wurde, lautet zwar: „Who/ Says What/ In Which Channel/ To Whom/ With What Effect.“ 479 Jedoch ging es dabei vor allem um die Funktionalität der Kommunikation, kaum um die Spezifik des ‚Channel‘. Der Kanal wurde al‐ lenfalls hinsichtlich der funktionalen Effizienz befragt, nicht aber bezüglich 180 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="181"?> 480 Siehe dazu: Claude Elwood Shannon/ Warren Weaver, Mathematische Grundlagen der Informationstheorie [1949], München 1976. 481 Marshall McLuhan, Brief an Jerry Angel (1976), zitiert nach: Graeme Patterson, History and Communications. Harold Innis, Marshall McLuhan, the Interpretation of History, Toronto u.-a. 1990, S.-100. 482 Jens Ruchatz, Licht und Wahrheit. Eine Mediumgeschichte der fotografischen Projek‐ tion, München 2003, S.-45. einer vermeintlichen autonomen Qualität, die das, was übertragen wird und wie es wahrgenommen wird, affiziert, ja vielleicht sogar präformiert. Genau darauf zielt aber McLuhans Slogan im Gegensatz zur Kommunikationswis‐ senschaft Lasswell’scher Provenienz ab. McLuhans Slogan beinhaltet die These, dass der Kanal unabhängig von den Absichten des Senders oder der Senderin, unabhängig von Funktionalisierungen, bestimmte Effekte zeitigt - und zwar nicht nur auf Empfänger: innenseite, sondern auch auf der des Senders oder der Senderin sowie bezüglich des Inhalts der Sendung. Sehr deutlich wird das, wenn McLuhan selbst auf die damals vorherrsch‐ enden Kommunikations- und Informationstheorien zu sprechen kommt. So verweist er bspw. auf die mathematische Informationstheorie von Claude Shannon und Warren Weaver. Diese machten es sich zur Aufgabe, ein übergreifendes quantifizierbares Modell der Informationszirkulation zu entwickeln. 480 Der Kanal ist dabei vor allem in dem Sinn von Interesse, dass es um dessen Effizienz bei der intendierten Informationsweitergabe geht. Alles, was die Effizienz mindert, wird dabei nicht als mögliche autonome Qualität des Kanals interpretiert, sondern schlicht als Störung. Genau dagegen positioniert sich McLuhan in einem Brief an Jerry Angel. Gefragt, wie er zur Theorie von Shannon und Weaver steht, schreibt er: „What they call ‚Noise‘ I call the medium, all the side effects, all the unintended patterns and changes.“ 481 Sehr instruktiv kommentiert der Medienwissenschaftler Jens Ruchatz diese Passage: Legt man diese Aussage zugrunde, dann ging es McLuhan darum, die uninten‐ dierten Effekte von Kommunikation neu zu gewichten, nämlich stärker als die intendierte Kommunikation, die traditionell als der Kern von Kommunikation aufgefasst wurde. Medienwissenschaft zu betreiben hieße dann, all das zu unter‐ suchen, was jenseits der beabsichtigten Botschaft unweigerlich und in der Regel unbewusst mitkommuniziert wird. 482 Solch ein Ansatz unterscheidet sich fundamental von den damals maßge‐ blichen soziologischen, kommunikations- und ingenieurwissenschaftlichen 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 181 <?page no="182"?> 483 Schüttpelz, Get the message, S.-72. Forschungsinteressen. Solch ein Ansatz ist aber auch kein Alleinstellungs‐ merkmal McLuhans, sondern zeichnet die gesamte Forschung der Toronto School of Communication aus, die von Philologen und Ethnologen voran‐ getrieben wurde und die sich auf die medienmaterialistischen Thesen des Wirtschaftswissenschaftlers Innis beruft. Darum ist die Toronto School of Communication genauer betrachtet eigentlich sehr viel eher eine ‚School of Media‘, denn eine ‚of Communication‘. Damit kommt eine weiter wichtige Differenz in den Blick. Geht es in der damaligen Kommunikationsforschung darum, ein vereinheitlichtes Modell von (Medien-)Kommunikation zu entwerfen, so ist es bei der an der kultur‐ geschichtlichen Gegenüberstellung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit geschulten Toronto School eben gerade der Unterschied der Medien, der einen wichtigen Unterschied macht: Verschiedene Medien haben verschie‐ dene Wirkungen, unabhängig von ihrer Funktionalisierung und dem zu transportierenden Inhalt. Genau das ist das Besondere und das besonders Innovative dieses Ansatzes, der in McLuhans Slogan verdichtet wird. Der Erfolg der Oralitäts-/ Literalitäts-Dichotomie hängt daher weniger mit den neuen Erkenntnissen zu dieser Dichotomie zusammen als mit einem Ende der 50er sich durchsetzenden Wunsch der Forschung, nicht mehr die Isomorphien der Kommunikation, sondern ihre ‚Mediendifferenzen‘ zu betonen, einem Wunsch, der sich auch aus den innovativen Ansätzen zur Oralitätsforschung der frühen 50er Jahre entwickelte. Die Explorations von Carpenter und McLuhan sind hier sowohl ein klares Beispiel als auch ein Schrittmacher dieser Entwicklung […]. 483 Aus dieser Sicht ließe sich McLuhans Slogan wieder modifizieren: Nicht das Medium ist die Botschaft, sondern die Mediendifferenz. Medien als magische Kanäle Doch wie hat man sich die Wirkung von Medien bzw. von Mediendifferen‐ zen, die jenseits ihrer inhaltlichen Botschaft und jenseits ihrer Funktionalität liegen, denn genau vorzustellen? Ausführlicher beschreibt dies McLuhan in D I E M AGI S CH E N K ANÄL E . Der Titel der deutschen Übersetzung, M AGI S CHE K ANÄL E , ist zwar keine direkte Übersetzung des Originals, jedoch kommt er dem, wie McLuhan Medien versteht und was dieser mit dem Slogan ‚Das Medium ist die Botschaft‘ ausdrücken will, sehr nah. In sehr unterschiedli‐ 182 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="183"?> 484 Explizit unter dem Begriff ‚Magie‘ geht McLuhan auf diese Magie jedoch eher selten ein. Eine dieser wenigen Passagen lautet: „Eine Analyse von Programm und ‚Inhalt‘ gibt keine Hinweise auf die Magie dieser Medien oder auf ihre unterschwellige Energie.“ (McLuhan, Magische Kanäle, S.-40) 485 McLuhan, Probleme der Kommunikation, S.-47. 486 McLuhan, Magische Kanäle, S.-39. 487 Marshall McLuhan, „I ain’t got no body…“. Gespräch mit Louis Forsdale [1978], in: ders., Das Medium ist die Botschaft, S.-7-54, hier: S.-9. 488 McLuhan, Das Medium ist Massage, S.-25. chen Zugriffen und Beschreibungen umkreist McLuhan immer wieder die ‚Magie‘ der Medien: 484 „[E]s [das Medium] beeinflußt uns in einer Weise, die wir, während wir ihm ausgesetzt sind, weder wahrnehmen noch verhindern können.“ 485 An anderer Stelle heißt es hinsichtlich des gesellschaftlichen Wandels, der durch die Medien hervorgerufen wird: „Diese Veränderung hängt nicht von einer Zustimmung oder Ablehnung der in einer Gesellschaft lebenden Menschen ab.“ 486 Mit Bezug auf die Gestaltpsychologie formuliert McLuhan wiederum in einem Interview: „Das, was man sieht, ist die Figur, das, was die Wirkung ausmacht, der Grund. Das ist der Sinn von: Das Medium ist die Botschaft. Das Medium ist verborgen, der Inhalt offensicht‐ lich. Aber die eigentliche Wirkung rührt vom verborgenen Grund her, nicht von der Figur. Von einem Grund, der nicht bemerkt wird.“ 487 Drei Jahre nach der Erstveröffentlichung von den M AGI S CHE N K ANÄL E N ist in einem weiteren Buch zu lesen: „Alle Medien massieren uns gründlich durch. […] Das Medium ist Massage.“ 488 Welchen Referenzrahmen und welche Metaphern McLuhan auch immer wählt, gemeinsam ist all den zitierten Aussagen: Medien haben tatsächlich etwas Magisches, das im Inhalt nicht direkt zum Ausdruck kommt. Man nimmt sie nicht unmittelbar wahr; sie wirken indirekt, verborgen und verzaubernd auf uns ein, ohne dass wir uns direkt wehren könnten; sie haben (Neben-)Effekte, auch und vor allem jenseits der spezifischen Kommunikations- oder Manipulationsabsicht einer Senderinstanz; sie wirken unabhängig von der vermeintlich eigentlichen Botschaft. McLuhan wird im ersten Kapitel der M AGI S CH E N K ANÄL E noch viel deutli‐ cher und drückt die ‚eigentliche Botschaft‘ seines Slogans dort auch weniger metaphorisch aus. Dabei schließt er, das zeigen die vielen Beispiele aus dem Transportwesen, unverkennbar an das medienmaterialistische Erbe seines ‚Mentors‘ Innis an: 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 183 <?page no="184"?> 489 McLuhan, Magische Kanäle, S.-22f. 490 Ebd., S.-21f. [D]ie ‚Botschaft‘ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabes, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt. Die Eisenbahn hat der menschlichen Gesellschaft nicht die Bewegung oder das Rad oder die Straße gebracht, sondern das Ausmaß früherer menschlicher Funktionen vergrößert und beschleunigt und damit vollkommen neue Art von Städten und neue Arten der Arbeit und Freizeit geschaffen. Und das traf zu, ob nun die Eisenbahn in einer tropischen oder nördlichen Umgebung fuhr, und ist völlig unabhängig von der Fracht oder dem Inhalt des Mediums Eisenbahn. Das Flugzeug anderseits führt durch die Beschleunigung des Transportwesens zur Auflösung der durch die Eisenbahn bedingten Form der Stadt, der Politik und der Gemeinschaft, ganz unabhängig davon, wie und wofür das Flugzeug verwendet wird. 489 Wichtig ist hier zunächst einmal die Feststellung McLuhans, dass die Situation menschlicher Kommunikation und Interaktion fundamental durch die Medien verändert wird, und eben nicht vorrangig durch die Absichten der Menschen oder die vermittelte Botschaft. Nicht, was übertragen wird, ist entscheidend, sondern durch welche mediale Form Wahrnehmung, Denkweise und Sozialstruktur geprägt werden. Um pointierte Beispiele ist McLuhan in diesem Kontext nicht verlegen: „Viele Menschen sind wohl eher geneigt zu sagen, daß nicht in der Maschine, sondern in dem, was man mit der Maschine tut, der Sinn oder die Botschaft liege. Für die Art und Weise, wie die Maschine unsere Beziehung zueinander und zu uns selbst verändert hat, ist es [aber] vollkommen gleichgültig, ob sie Cornflakes oder Cadillacs produziert.“ 490 Das Medium ist eine Botschaft (unter anderen) Bei all den bis hierin vorgestellten Deutungen des Slogans wurde immer von der Botschaft, dem übermittelnden Inhalt abgesehen, und damit letztlich von den jeweiligen Absichten, Funktionalitäten, Umgangsweisen und dem Kontext, in dem ein Medium auftritt bzw. verwendet wird. Damit könnte man der Meinung sein, dass nach McLuhan die Botschaft bzw. der jeweilige Kontext völlig irrelevant ist. McLuhan hat man dementsprechend nicht nur 184 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="185"?> 491 Siehe bspw.: Klaus Benesch, Does Technology Drive History? McLuhan, Leo Marx und die materialistische Medientheorie, in: Kerckhove u. a. (Hg.), McLuhan neu lesen, S.-95-104, v.a.: S.-96f. 492 Siehe dagegen die Argumentation in → 3. Lesart: Kritik. 493 McLuhan, „I ain’t got no body…“, S.-12. als Medienmaterialisten oder Medienformalisten verstanden, sondern ihm um einiges weitergehend ein mediendeterministische Position unterstellt. 491 Eine mediendeterministische Position basiert auf der Überzeugung, dass Medien unsere Lage bestimmen - und zwar radikal. Egal, wo sie auftreten, egal, was jemand vermitteln will, Medien bestimmen vollständig die Sozi‐ alstruktur, was und wie wir kommunizieren, wahrnehmen und denken. Um es zugespitzt zu formulieren: Martin Luther hat an der Durchsetzung der Reformation keinen entscheidenden Anteil; die Reformation war - aus mediendeterministischer Position - eine notwendige Folge der Einführung der Druckerpresse. Genauso soll ein harmonisches globales Dorf eine notwendige Folge der elektrischen Medien gewesen sein. Obwohl McLuhan immer wieder gerade mit Verweis auf seinen populärsten Slogan als Ahnherr für solch eine mediendeterministische Position einstehen muss, ist es doch eine sehr ungenaue, ja im Grunde falsche Deutung. 492 Zwar betont McLuhan wieder und wieder die kaum zu unterschätzende Relevanz der Medien für Kommunikation, Wahrnehmung und Denken. Aber damit ist nicht automatisch eine mediendeterministische Position verbunden. Das lässt sich auch an diversen Passagen in McLuhans Texten selbst klar zeigen. Zunächst einmal ist McLuhans extreme Betonung der Relevanz des Medi‐ ums dem wissenschaftshistorischen Kontext geschuldet. Denn, wie gezeigt, ging es Mitte des 20. Jahrhunderts in der nordamerikanischen Forschung vor allem um die Entwicklung eines universellen Kommunikationsmodells, weniger um Medienspezifika. Um dieses Desiderat klar zu markieren, scheint es durchaus sinnvoll, die Gegenposition so stark als möglich zu machen - auch und gerade in polemischer Zuspitzung. Zudem formuliert McLuhan nicht, dass der Inhalt überhaupt keine Rolle spielt; jedoch ist er für seine Forschungsinteressen, wie der Medienforscher selbst formuliert, „vollkommen uninteressant“. 493 Demgemäß ist, wenn man sich etwa eine der oben bereits zitierten Passagen noch einmal unter diesem Aspekt anschaut, darin kein Determinismus zu erkennen: „Für die Art und Weise, wie die Maschine unsere Beziehung zueinander und zu uns selbst verändert hat, ist es vollkommen gleichgültig, ob sie Cornflakes oder Cadil‐ 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 185 <?page no="186"?> 494 Ebd., S.-21f. 495 McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschine, S.-29. 496 McLuhan, Probleme der Kommunikation, S. 47 (Hervorhebungen von mir [SG]). Die Idee, dass Inhalt und mediale Form ineinandergreifen, führt Kevin Pauliks von McLu‐ han ausgehend umsichtig argumentierend zum „Entwurf einer Medienpraxeologie“ (Pauliks, Meme Marketing, S.-98) weiter (siehe: ebd., S.-80ff., 98 ff.). 497 McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschine, S.-31. lacs produziert.“ 494 Gleichgültig ist es für unsere Beziehung zueinander und zu uns selbst. Das impliziert aber keineswegs, dass das, was produziert wird, nicht relevant ist bspw. für unsere Gesundheit, die Umweltverschmutzung oder die Rate von Verkehrsunfällen. Auf diesen Punkt angesprochen erklärt McLuhan in einem Interview sehr deutlich: Wenn ich betone, daß weniger der Inhalt, sondern eher das Medium die Botschaft ist, dann meine ich damit nicht, daß der Inhalt überhaupt keine Rolle spielt - nur, daß er ganz klar eine untergeordnete Rolle spielt. […] Wenn wir das ganze Augenmerk auf den Inhalt richten und das Medium dabei praktisch ganz außer acht lassen, dann verschenken wir jede Chance, die Wirkung neuer Technologien auf den Menschen wahrzunehmen und zu beeinflussen […]. 495 McLuhans Position ist also: Erst durch das strategische und temporäre Au‐ ßerachtlassen bestimmter Faktoren können überhaupt spezifische Effekte in den Blick kommen. Das heißt aber keinesfalls, dass diese Faktoren an und für sich belanglos sind. Vielmehr werden Medien als formgebende Milieus betrachtet, die, wie jedes Milieu, Dinge möglich machen, andere ausschließen, aber nicht jeden einzelnen Vorgang determinieren oder andere Wirkungsfaktoren von vorneherein ausschließen. Ganz im Gegenteil sogar, die Inhalte der Medien treten in Wechselwirkung mit dem medialen Milieu, wie McLuhan schreibt: „[S]o besteht die eigentliche Botschaft in ihrem Gesamteffekt auf den menschlichen Empfänger und ist das Ergebnis des vielschichtigen Zusammenwirkens […] sowohl von Inhalt als auch Medium, die in einem physikalischen, psychologischen und sozialen Gesamtmilieu wirken und einander beeinflussen.“ 496 Zudem gibt McLuhan in der oben genannten Interview-Passage ganz explizit an, dass die Wirkungen neuer Technologien „zu beeinflussen“ 497 sind. Das wiederum muss bedeuten: McLuhan ist kein Mediendeterminist. Wäre er es, so könnte von einer Hoffnung auf Beeinflussung keine Rede sein. Wenn wir durch die Medien vollständig determiniert wären, würde 186 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="187"?> 498 McLuhan, Probleme der Kommunikation, S.-49. 499 Siehe zu diversen Strategien des künstlerischen Wahrnehmbar-machens durch Erzeu‐ gung von ‚Gegen-Milieus‘ bzw. ‚Gegen-Umwelten‘ → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Kunst als Medienökologie der Gegenumwelten“. 500 McLuhan, Probleme der Kommunikation, S.-47. es überhaupt keinen Sinn machen, diese beeinflussen zu wollen, denn sie bestimmen ja dann vollständig, was wir wahrnehmen und denken. Unser Bestreben, sie beeinflussen zu wollen, entspränge dann logisch nur dem deterministischen Programm der Medien selbst. Die freie Entscheidung zur Veränderung und Beeinflussung der Medien seitens der Nutzer: innen müsste so Illusion sein. Da aber McLuhan einige Hoffnung in die Fähigkeiten der Künstler: innen setzt, die Funktionsweise der Medien zu durchschauen sowie in ihrem (und unserem) Sinne beeinflussen zu können und er dieselbe Hoffnung für seine Art von Wissenschaft hegt, kann er keine mediendeter‐ ministische Position einnehmen. In diesem Zusammenhang spricht McLuhan auch von „Gegenmilieu“ 498 und meint damit: Kunst wie Wissenschaft müssen sich aktiv in Differenz zum jeweils vorherrschenden Medienmilieu setzen, um sich (und uns, den Bewohner: innen der jeweiligen Medienmilieus) deren Wirkungen über‐ haupt erst bewusst zu machen. Wie auch immer das genau aussehen mag, sei es durch schockierende oder unverständliche Kunst, durch provokative Thesen, die kontraintuitive Behauptungen aufstellen, wie bspw. die, dass das Medium die Botschaft ist - es impliziert auf jeden Fall, dass man sich von den Formgebungen seines jeweiligen medialen Umwelt distanzieren und sich reflektierend dazu verhalten kann. 499 McLuhan selbst formuliert auch hinsichtlich dieses Aspektes sehr klar: Das Medium ist ‚eine Botschaft‘ - es beeinflusst uns in einer Weise, die wir, während wir ihm ausgesetzt sind, weder wahrnehmen noch verhindern können. Wenn wir aber seine Auswirkungen nicht merken, dann wird das Medium zur ‚Botschaft‘ - einer Art von sensorischer ‚Botschaft‘, die umso stärker wirkt, als wir ihre Folgen nicht vorausgesehen und uns daher auch nicht vor ihr geschützt haben. 500 Wohlgemerkt, es heißt: Folgen, vor denen wir uns ‚nicht geschützt haben‘ und nicht: ‚nicht schützen hätten können‘. McLuhans Perspektivenwechsel, der im Slogan ‚Das Medium ist die Botschaft‘ seine Verdichtung findet, ist so gesehen weniger radikal als ihm Freund wie Feind gern unterstellen und 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 187 <?page no="188"?> 501 Medien als Umwelten zu verstehen, siehe dazu ausführlicher → 4. Lesart: Pragmatis‐ mus, Kap. „Medientheorie (2)“. 502 Aristoteles unterscheidet vier Arten der Kausalität, eine davon ist eben die formale Ursache - siehe: Aristoteles, Metaphysik [ca. 330. v. Chr.], Stuttgart 1970, S. 15ff. Siehe zur formalen Kausalität bei McLuhan: Florian Sprenger, (Be-)gründungen und Figurprobleme. Marshall McLuhans Denken über Medien und seine Folgen, in: Daniela Wentz/ André Wendler (Hg.), Die Medien und das Neue, Marburg 2009, S. 81-94, hier: S. 90f.; und ausführlicher in: ders., Medien des Immediaten, S. 394ff. Knapp, aber instruktiv dazu siehe ebenfalls: Pauliks, Meme Marketing, S. 83ff. Zum Verständnis von McLuhans formaler Kausalität und seiner Rezeption dieser aristotelischen Kategorie gibt es tiefenschürfende, mitunter scholastisch anmutende Untersuchungen, neben Sprenger, Medien des Immediaten, S. 394ff. ist hier vor allem aus philosophischer Sicht zu nennen: Laura Trujillo Liñán, Formal Cause in Marshall McLuhan’s Thinking. An Aristotelian Perspective, New York 2022. 503 McLuhan, Testen, bis die Schlösser nachgeben, S.-76f. bedeutet eigentlich: Das Medium ist eine Botschaft, eine besonders wichtige freilich, aber eben eine unter anderen. Das Medium als formgebende Umwelt Medien verändern die Bedingungen, unter denen produziert, kommuniziert, gedacht oder wahrgenommen wird. Sie sind mit anderen Worten nicht einfach nur Mittel, um Daten zu speichern bzw. zu übertragen, sondern sie bilden selbst eine Umwelt aus, in der produziert, kommuniziert, gedacht oder wahrgenommen wird. Die Qualitäten von Medien sind somit auch nicht direkt an den materiellen Artefakten ablesbar, sondern indirekt an den Effekten, die sie hervorrufen. 501 Mit Bezug auf Aristoteles wählt McLuhan hierfür seit Ende der 1960er Jahre den Begriff der formalen Ursache. 502 Medien sind aus diesem Blickwin‐ kel formgebend; sie sind die Ursache für die Formung der Wahrnehmung, der Kommunikation und der Sozialstruktur. Oder sehr viel einfacher an einem Beispiel ausgedrückt, das McLuhan in einem Interview selbst wählt: „Man würde sehr wenig über das Auto erfahren, wollte man es einfach als ein Vehikel betrachten, das Leute hin und her transportiert. Ohne die Verände‐ rungen der Stadt, die Schaffung von Vorstädten, Service-Veränderungen zu verstehen - die Umwelt, die es schuf -, würde man sehr wenig über das Auto erfahren.“ 503 Ein Medium ist etwas, das formgebend Umwelten schafft oder genauer: Elemente einer vorhergehenden Umwelt neu konfiguriert. 188 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="189"?> 504 Siehe hierzu v.a.: McLuhan/ McLuhan, Laws of Media, S.-129ff. 505 Bspw.: ebd., S.-158f. erweitern umkehren wiedererlangen obsolet werden Abb. 20: Die vier Gesetze der Medien Gesetze der Medien McLuhan hat sogar versucht, uni‐ verselle Gesetze zu finden, die be‐ schreiben sollen, wie Medien als formgebende Umwelten wirken. Damit macht sich McLuhan daran, der Forderung, die er und Carpen‐ ter Ende der 1950er in der Zeit‐ schrift E X P L O R ATIO N S stellten, näm‐ lich die Grammatik der Medien zu erkunden, selbst nachzukommen - und zwar nicht mehr nur bezüglich einzelner Medien. In den 1970er Jahren will McLuhan eine Grundstruktur ausgemacht haben, die alle Medien und ihre Effekte betreffen. Im posthum veröffentlichten Buch L AW S O F M E DIA werden diese Strukturen in Form von Gesetzen ausformuliert. Die zentrale These dieser sogenannten Tetrade lautet: 504 Jedes Medium ist durch eine viergliedrige Struktur gekennzeichnet (vgl. Abb. 20). An jedes Medium lassen sich dieser Idee zufolge vier Fragen stellen: (1) Was hat es erweitert bzw. verstärkt? (2) In was hat es sich im Laufe der Entwicklung umgekehrt bzw. ist es umkippt? (3) Welche Wahrnehmungs- und Erkenntnisformen, welche Praktiken sind dadurch zurückgekehrt bzw. wurden wiedererlangt? (4) Was ließ es veralten bzw. obsolet werden? McLuhan selbst gibt zahllose Beispiele für die Existenz und die konkreten Ausgestaltungen dieser Tetrade. 505 Hier seien diese ‚Gesetze‘ an zwei Bei‐ spiele kurz erläutert, am Automobil und am Handy. McLuhan konturiert die ‚Gesetze des Autos‘ selbst besonders anschaulich in einem Text mit dem Titel D A S R E S ONI E R E ND E I NT E R VALL (siehe Abb. 21). 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 189 <?page no="190"?> 506 McLuhan, Resonierendes Intervall, S.-217. 507 Ebd. 508 Ebd. Abb. 21: Automobil-Gesetze Zum ‚Erweiterungsgesetz‘ schreibt er dort: „Zum Beispiel erweitert das Automobil unsere Fähigkeit, Entfernungen schneller zu überwinden und Lasten zu transportieren“ 506 Im Anschluss kommt er zum Gesetz des ‚Obso‐ let-werdens‘: „Doch diese Erfindung beeinflusste von Anfang an auch die Beziehung des Menschen zu Raum und Zeit, indem sie Formen gesellschaft‐ licher Organisation veralten ließ, die ihre Wurzeln in den Traditionen des Gehens und Reitens hatten. Stadt- und Bezirksstrukturen brachen zusam‐ men. Die Innenstädte wurden einer Entwicklung überlassen, die sich nicht mehr am Menschen orientierte, während der städtische Raum, der für das Leben der Menschen vorbehalten war, in die Vorstädte verlagert wurde.“ 507 Das ‚Gesetz der Wiedererlangung‘ wird folgendermaßen beschrieben: „Das benzingetriebene Auto brachte eine Wiederkehr des Gefühls privater Iden‐ tität und Unabhängigkeit, das sich zuerst im amerikanischen Grenzland und zum Teil auch, wie Mark Twain zeigt, im Leben auf Farm und Dorf entwickelt hatte.“ 508 Und zum ‚Gesetz der Umkehrung‘ heißt es: „Ins Extrem verlängert - Ausdehnung der Städte, Staus und Umweltverschmutzung - schlägt das 190 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="191"?> 509 Ebd. Auto um in den elektrischen Kleinwagen und fördert erneut Aktivitäten wie Joggen, Radfahren oder die Errichtung von innerstädtischen Parks.“ 509 Um die ‚Gesetze‘ noch an einem anderen Beispiel zu erläutern, von dem McLuhan noch nichts wissen konnte, nämlich am Handy (vgl. Abb. 22): (1) Verstärkt und ausgeweitet wurde durch das mobile Telefon die kommu‐ nikative Vernetzungsmöglichkeiten - basierend auf Sattelitentechnologie - ins (nahezu) Globale hinaus. Menschen, die sich an unterschiedlichen Orten der Welt befinden, können damit nicht nur verbunden werden. Darüber hinaus sind sie selbst ‚kabellos‘ mobil gemacht, also nicht mehr von einem Festnetzanschluss abhängig, der (2) wiederum genau deshalb mehr und mehr obsolet wird. Im Zuge dessen erlebte (3) die Form oraler Kommunikation einen Aufschwung - und zwar u. a. durch die auditive und visuellen Simulation einer Interaktion unter Anwesenden, etwa via Skype oder Zoom. (4) Die Kommunikation per Handy ist im Zuge dessen aber schnell in etwas umgekippt, das kaum zu erwarten war: Es ist inzwischen sehr viel weniger oder zumindest nicht mehr primär ein orales Medium der Fernkommunikation, denn vielmehr ein Schreib-, Like-, Sharebzw. Follow-Medium, etwa in Form von SMS-Textnachrichten, Twitter/ X- oder Facebook-Beiträgen. Festzuhalten bleibt: Beim Durchspielen dieser ‚Gesetze‘ zeigt sich je unterschiedlich und sehr konkret, was es nach McLuhan bedeutet, ein Medium als eine formgebende Umwelt zu verstehen: Es hat vielerlei Effek‐ ten, die - und das zeigen die vier Gesetze - (nahezu) gleichzeitig in sehr unterschiedliche, ja widerstreitende Richtungen weisen. 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 191 <?page no="192"?> 510 Siehe: McLuhan, Magische Kanäle, S.-44ff. 511 McLuhan, Probleme der Kommunikation, S.-45. LOL Abb. 22: Handy-Gesetze Kalte und heiße Medien Neben den ‚Gesetzen‘ führt McLuhan eine Unterscheidung zwischen den Medien ein. Differenziert sein Mentor Innis zwischen Zeit- und Raumme‐ dien, so unterscheidet McLuhan kalte und heiße Medien. 510 Hieran zeigt sich denn auch klar ein Unterschied zwischen Innis’ und McLuhans Interessen‐ schwerpunkten. Geht es Innis mit seiner Differenz vor allem um mediale Wirkungen auf die Sozialstruktur, so interessiert sich McLuhan sehr viel mehr für direkte Wahrnehmungseffekte. Heiße Medien sind solche, die detailreich und/ oder einen einzigen Sinn ansprechen; kalte Medien hingegen sind detailarm und/ oder sie sprechen mehrere Sinne gleichzeitig an (vgl. Abb. 23). So sollen das Radio und die Schrift heiß, Fernsehen und Karikatur dagegen kalt sein. McLuhan verbindet damit diametral entgegengesetzte Effekte: Heiße Medien lassen „der Vorstellungskraft nur wenig Spielraum“, was wiederum „zu geringem persönlichen Engagement führt“, und das heißt „zur Distanzierung“. 511 Kalte 192 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="193"?> 512 Ebd., S.-46. 513 Ebd. 514 Siehe dazu ausführlicher → Lesart 2: Hermeneutik, These 1, These 2 Medien hingegen „erfordern“ geradezu „Vorstellungskraft und bieten ihr viel Spielraum. Sie wirken ‚integrierend und einschließend‘, was zu einem starken persönlichen Engagement führt - zur Partizipation.“ 512 Diese Unter‐ teilung wendet McLuhan kulturgeschichtlich. War die Gutenberg-Galaxis vor allem durch heiße Medien bestimmt, die ein distanziertes Verhältnis zur Welt etablierten, so sind die heutigen Bewohner: innen des globalen Dorfes vor allem in Kontakt mit kalten Medien, die durch ihre „multisensorische Kommunikation“ 513 viel Spielraum für die Vorstellungskraft freisetzen und zum Engagement anregen. Nicht nur die globale Vernetzung führt also zu einer gemeinsamen Welt, sondern mit dem zunehmenden Einsatz kalter Medien vollzieht sich parallel eine multisensorische bzw. taktile Wahrneh‐ mungsvernetzung. Heiße Medien Kalte Medien (zumeist) Erweiterung eines Sinnes (zumeist) Erweiterung mehrerer Sinne detailreich Detailarm geringe Stimulation der Imagination hohe Stimulation der Imagination Dominanz eines Sinnes Wechselspiel der Sinne analytisch, spezialisierend synthetisch, integrativ narkotisierend aktivierend Abb. 23 Abb. 23: Kalte vs. heiße Medien Die gedruckte Schrift, die für das Gutenberg-Zeitalter das Leitmedium darstellt, ist heiß, weil sie erstens nur einen Sinn anspricht (den visuellen), und zweitens distanzierende, spezialisierende und differenzierende Effekte haben soll. Damit wird das harmonische Wechselspiel der Sinne gestört und die Wahrnehmung narkotisiert. Das Fernsehen wiederum als Inbegriff des elektrischen Zeitalters, ist kalt, weil es erstens mehrere Sinne anspricht, zweitens seine Visualität als mosaikförmiger Lichtpunktanordnung prä‐ sentiert, die an den Rezpient: innen appelliert, die Lücken zwischen den einzelnen Elementen mit Hilfe der eigenen Imagination aktiv zu schließen. 514 Der Slogan ‚Das Medium ist die Botschaft‘ wird so mit Bezug auf Wahr‐ nehmungsdifferenzen unterschiedlicher Medien und deren emotionalen wie kognitiven Effekte konkretisiert. Diese Unterteilung ist hochgradig 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 193 <?page no="194"?> 515 McLuhan, Magische Kanäle, S.-474. 516 Siehe: Marshall McLuhan, The Future of the Book [1972], in: ders., Understanding Me: Lectures and Interviews, Cambridge (Mass.) 2003, S. 173-186, hier: S. 180. McLuhans Bücher, insbesondere T H E M E D I U M I S T H E M A S S A G E , sind dafür selbst die besten Beispiele, siehe dazu ausführlicher → 1. Lesart: Rhetorik. 517 Siehe McLuhan, Magische Kanäle, S.-456ff. normativ aufgeladen. Nicht nur kommen kalte Medien wesentlich besser weg als heiße; kalte Medien ‚heilen‘ im Lauf der Mediengeschichte darüber hinaus die Schäden, die heiße Medien hinterlassen haben. So weit, so schematisch einfach. Es wäre indes ein Missverständnis, diese Differenzierung als eine statische oder gar essentialistische zu verstehen. Erstens macht McLuhan selbst sehr deutlich, dass bspw. ein Fernsehen mit einer besseren Auflösung gar kein Fernsehen mehr ist, weil es dann seine spezifische mosaikförmige Wahrnehmungsmodalität verloren hätte. „‚Verbessertes‘ Fernsehen“ 515 ist nach McLuhan ein heißes Medium. Anders und verallgemeinert ausgedrückt heißt das: Medientechnologische Entwicklungen können dazu führen, dass ein- und dasselbe Medium von einem Zustand (etwa dem kalten) in einen anderen (etwa den heißen) wechselt. Zweitens sind Medien kalt oder heiß immer nur in Relation zu anderen Medien. Das Telefon ist ein kaltes Medium im Verhältnis zum Radio, ersteres animiert seine Nutzer: innen zu aktiver Teilnahme, letzteres überschwemmt seine Rezipient: innen mit Dauerbeschallung, die diese damit passiviert. Im Verhältnis zum Fernsehen wiederum ist das Telefon ein heißes Medium, weil Fernsehen viele visuelle Leerstellen lässt, im Gegensatz zu der viele Detailinformationen liefernden Stimme. Drittens können sich je nach medialem Milieu, unterschiedliche Medien aufheizen oder abkühlen. So wird nach McLuhan das heiße Medium Buch im elektronischen Zeitalter abgekühlt. 516 Viertens impliziert dies auch umgekehrt, dass neue Medien kalt oder heiß relativ zum Milieu sind, in dem sie in Erscheinung treten. So soll etwa das Radio, das auf orale Kulturen trifft, ganz andere Effekte haben als auf literalen Kulturen. 517 Im ersten Fall ist es eher ein kaltes Medium, weil es auf die ‚Dorfgemeinschaft‘ und ihre enge Verzahnung abkühlend wirkt. Die Rezipient: innen haben somit mehr Möglichkeiten, der eigenen Fantasie nachzugehen als zuvor. In literalen Kulturen hingegen ist das Radio ein heißes Medium, weil es einen totalitäre Vergemeinschaftung in Gang setzt. Was auch immer von den einzelnen Beispielen und Zuordnungen zu halten ist, festzuhalten bleibt: Die Differenzierung von heißen und kalten Medien ist bei McLuhan 194 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="195"?> 518 Friedrich Kittler bspw. interpretiert McLuhans „Unterscheidung als Wesensunterschied“ (Kittler, Optische Medien, S. 311; Hervorhebung von mir [SG]) der jeweils relationierten Medien, der nicht haltbar sei. Liest man aber McLuhan genauer, dann ist vielmehr Kittlers Lesart nicht haltbar. 519 Siehe dazu auch Engell, Schaltbild, S.-137ff. 520 McLuhan, Magische Kanäle, S.-50. 521 Ebd., S.-26. 522 McLuhan, Probleme der Kommunikation, S.-47. 523 McLuhan, Massage, S.-84. 524 McLuhan, Magische Kanäle, S.-32. - entgegen einer weitverbreiteten anderslauteten Interpretation 518 - eine dynamisch-relationale. 519 Das Medienmilieu ist die Botschaft Medien gibt es so verstanden nicht im Singular, es gibt immer schon meh‐ rere Medien, die nur im Verhältnis zueinander bestimmt werden können. Auch wenn McLuhan seine Kulturgeschichte um ein jeweils dominierendes Leitmedium herum organisiert, ist er sich sehr wohl darüber im Klaren, dass Medien in Wechselbeziehung zueinander stehen. „[K]ein Medium [hat] Sinn oder Sein aus sich allein […], sondern nur aus der ständigen Wechselwirkung mit anderen Medien.“ 520 Diese Wechselwirkungen können sich sehr unterschiedlich ausgestalten, eben je nachdem, welche Medien auf‐ einandertreffen und auf welchem „kulturellen Nährboden“ 521 dies geschieht. Dementsprechend bilden sich sehr unterschiedliche „Gesamtmilieus“ 522 oder „Umwelten“, 523 wie McLuhan das nennt. So soll sich etwa die Revolution, die die Einführung des Buchdrucks mit sich gebracht hat, bspw. in England nicht recht durchgesetzt haben. Der Grund dafür liegt im spezifischen ‚kulturellen Nährboden‘, auf dem das neue Medium weniger gut gedeihen konnte als im kontinentalen Europa: „In England jedoch war die Macht der alten mündlichen Überlieferung des Gewohnheitsrechts, gestützt von den mittelalterlichen Institutionen des Parlaments, so groß, daß die Uniformität und Kontinuität der neuen visuellen Zivilisation des Buchdrucks sich nicht vollkommen durchsetzen konnte.“ 524 McLuhans Mediengeschichte besteht so gesehen, wie Oliver Lerone Schultz in einem philosophisch inspirierten Einführungstext zu McLuhan schreibt, „aus einer ständigen Umorganisation 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 195 <?page no="196"?> 525 Oliver Lerone Schultz, Marshall McLuhan - Medien als Infrastrukturen, in: Alice Lagaay/ David Lauer (Hg.), Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Frank‐ furt/ New York 2004, S.-31-68, hier: S.-37. 526 McLuhan, Magische Kanäle, S.-22. 527 Ebd., S.-23. 528 Siehe bspw. Marshall McLuhan, Art as Survival in the Electric Age [1973], in: ders., Understanding Me: Lectures and Interviews. Cambridge (Mass.) 2003, S. 206-224; und Verschachtelung von aufeinander folgenden Umwelten.“ 525 Das Medium ist die Botschaft heißt dann: Die ineinander verschachtelten Medien sind die Botschaft(en). Oder einfacher: Das Medienmilieu ist die Botschaft. Aus diesem Blickwinkel lässt sich denn auch eine Aussage McLuhans, die oftmals zur Deutung des Slogans ‚Das Medium ist die Botschaft‘ herange‐ zogen wurde, nämlich: „[D]er Inhalt eines Mediums [ist] immer ein anderes Medium“, 526 in einer etwas anderen Weise deuten als üblich. Häufig wird diese Aussage so verstanden, dass McLuhan mit seinem Slogan eigentlich nur sagen wollte: Neue Medien bestehen aus anderen Medien bzw. sie beziehen sich auf diese. Bspw. in dem Sinne, dass der Inhalt der Schrift die Sprache ist oder das Fernsehprogramm in seinen Anfängen die Sende‐ formate und -strukturen des Radios übernommen hat. Dementsprechend könnte man annehmen, McLuhan interessiert sich für die Verschachtelun‐ gen, die in einzelnen Medien zu finden sind. Das geht jedoch haarscharf an der Intention McLuhans vorbei. Noch im selben Kapitel heißt es nämlich zwei Abschnitte weiter, dass „der ‚Inhalt‘ jedes Mediums der Wesensart des Mediums gegenüber blind macht.“ 527 Die Verschachtelungen eines einzelnen Mediums zu untersuchen, wäre also genau die falsche Strategie. Viel plausibler ist eine andere Deutung: Die Verschachtelungen müssen auf die medialen Milieus bezogen werden. Jedes einzelne Medium kann angemessen nur dann verstanden werden, wenn das Milieu untersucht wird, in dem es situiert ist bzw. auf das es trifft. Der Buchdruck hat dann eben nicht mehr überall dieselbe Wirkung, sondern je nach Milieu. Die ‚wahre‘ Botschaft, der ‚wahre‘ Inhalt eines Mediums ist das Verhältnis zu den vorhergehenden bzw. anderen Medien in einem jeweiligen Milieu. Das Medium als relationale Figur/ Grund-Verschachtelung Um solche Relationen näher zu fassen, greift McLuhan ab Anfang der 1970er Jahre 528 auf ein Konzept zurück, das vor allem in der Gestalttheorie wichtig 196 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="197"?> McLuhan, „I ain’t got no body…“, S. 9; McLuhan, Letters, S. 467; McLuhan/ McLuhan, Laws of Media, S.-5ff. 529 Siehe dazu Sprenger, Medien des Immediaten, S. 379ff.; ders., Epistemologien des Umgebens, S.-286f. 530 Siehe als Überblick zum Figur/ Grund-Schema und seinen diversen Facetten: Jörg R.J. Schirra/ Zsuzsanna Kondor, Figur-Grund-Differenzierung, in: Glossar der Bildphiloso‐ phie, Online zugänglich unter: https: / / www.gib.uni-tuebingen.de/ netzwerk/ glossar/ in dex.php? title=Figur/ Grund-Differenzierung [22.04.24]. 531 Siehe: Edgar Rubin, Visuell wahrgenommene Figuren. Studien in psychologischer Analyse. I. Teil, Kopenhagen u. a. 1921. McLuhan geht auf Rubin und die Grundlage des Figur/ Grund-Konzepts explizit ein in: McLuhan/ McLuhan, Laws of Media, S.-5ff. 532 Siehe dazu instruktiv (und im Kontext der Applikation dieses Konzepts durch McLu‐ han): Pauliks, Meme Marketing, S.-80ff. wurde. 529 Dabei handelt es sich um die Idee, dass Gestaltwahrnehmung auf einem spezifischen Wechselspiel zwischen Figur und Grund beruht. 530 Entwickelt wurde dieses Konzept vom Psychologen Edgar Rubin, das er unter anderem in seinem Buch V I S U E LL WAH R G E N OMM E N E F IG U R E N aus dem Jahr 1921 ausführlich und mit vielen Beispielen beschreibt. 531 Dort finden sich im Anhang auch einige Bilder, die das Wechselspiels zwischen Figur und Grund veranschaulichen sollen. Eine dieser Abbildungen wurde als Rubin-Vase bekannt (vgl. Abb. 24): Darauf ist entweder eine Vase vor schwarzem Hintergrund zu erkennen oder zwei Gesichter vor einem weißen Hintergrund. Es handelt sich also um eine Art Kippfigur, bei der entweder das eine (‚Vase‘) oder das andere (‚zwei Gesichter‘) zu erkennen sind, nicht aber beides gleichzeitig. Der jeweilige Hintergrund darf nicht unmittelbar wahrgenommen oder genauer: nicht fokussiert werden, damit eine konkrete Figur Gestalt annehmen kann. D.h. wiederum: Um eine Figur erkennen zu können, wird eine Grundierung benötigt, die selbst unauffällig ‚im Hintergrund‘ bleibt. 532 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 197 <?page no="198"?> 533 McLuhan, „I ain’t got no body…“, S.-9. Abb. 24: Die Rubin-Vase mit zwei Gesichtern Das lässt sich über visuelle Kipp‐ bildphänomene hinaus auf alle möglichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse beziehen, dementsprechend generalisieren: Eine Gestalt setzt sich zusammen aus Figur und Grund. Eine Figur ist nur vor einem Hintergrund wahr‐ nehmbar, der dabei selbst nicht wahrnehmbar ist. Grund und Figur sind relational und relativ, d. h. sie sind erstens konstitutiv aufeinan‐ der bezogen, ohne Grund keine Fi‐ gur und umgekehrt. Zweitens kann das, was vorher Grund war, zur Figur werden und damit wahrnehmbar, aber nur genau dann, wenn das, was vorher Figur war, zum Grund wird, also nicht mehr wahrgenommen werden kann. Je nach Beobachter: innenper‐ spektive kann etwas entweder als Grund oder als Figur dienen. McLuhan bezieht dieses Wahrnehmungs- und Erkenntnismodell auf Medientechnologien. Wie oben bereits angeführt formuliert er in einem Interview diesbezüglich sehr deutlich: „Das, was man sieht, ist die Figur, das, was die Wirkung ausmacht, der Grund. Das ist der Sinn von: Das Medium ist die Botschaft. Das Medium ist verborgen, der Inhalt offensichtlich. Aber die eigentliche Wirkung rührt vom verborgenen Grund her, nicht von der Figur. Von einem Grund, der nicht bemerkt wird.“ 533 Das Medium ist also der Hintergrund, vor dem und durch das Figuren erscheinen können. Das Me‐ dium ist dabei selbst nicht wahrnehmbar, zeitigt Wirkungen im Verborgenen und bleibt also unbemerkt. Das Fernsehen strahlt bestimmte Sendungen aus, bspw. Westernserien oder Nachrichten, das wären die Figuren. Jedoch liegt die eigentliche Wirkung des Fernsehens im Verborgenen, nämlich in der Umorganisation der Wahrnehmung und dem veränderten Weltverständnis durch simultane Vernetzung zum globalen Dorf. Zudem gilt: Das Medium Fernsehen ist nicht einfach der Fernsehapparat, der etwas ausstrahlt. Der Fernsehapparat selbst wäre wiederum eine Figur vor dem Hintergrund des Mediums Fernsehen. Das, was das Fernsehen ausmacht, ist also weder mit seinen Inhalten noch in seiner Materialität zu fassen. Was das Fernsehen 198 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="199"?> 534 Siehe: Marshall McLuhan, Living at the Speed of Light [1974], in: ders., Understanding Me: Lectures and Interviews, Cambridge (Mass.) 2003, S.-225-243, hier: S.-241f. 535 Ebd., S.-241. 536 McLuhan, Magische Kanäle, S.-22. 537 Siehe dazu auch: Sprenger, Medien des Immediaten, S.-350ff. eigentlich ist, was seine Botschaft ist, findet sich stattdessen immer nur in seinen Wirkungen. Oder um es mit einem leicht abgewandelten Beispiel zu beschreiben, das McLuhan selbst in einem Vortrag anführt: 534 Das Automobil ist als technisches Objekt eine Figur vor einem bestimmten Grund. Die Me‐ dialität des Autos zeigt sich aber nicht einfach am technischen Objekt Auto, sondern erst in seinen Effekten (etwa in der Etablierung von Autobahnen, Einrichtung von Tankstellen, Veränderung der Wahrnehmungsmodalitäten etc.). „In other words, the medium of the car is the effects of the car.“ 535 Wie aber kann man von den Wirkungen des Fernsehens oder des Autos wissen, wenn sie doch so verborgen sein sollen? Wie kann man überdies wissen, ob etwas tatsächlich der Wirkung des Fernsehens zuzuschreiben ist oder nicht etwa den Effekten anderer Medien (bspw. der Zeitung oder des Films)? Um dies erklärbar machen zu können, führt McLuhan das Axiom medialer Relationen ein, das für „alle Medien“ eine „charakteristische Tatsache“ sein soll, nämlich „daß der ‚Inhalt‘ jedes Mediums ein anderes Medium ist.“ 536 Das bedeutet, wie bereits weiter oben kurz skizziert: Ein Medium zeitigt seine Wirkungen immer vor dem Hintergrund eines anderen Mediums. Seine Wirkungen können nur in Relation und Differenz zu einem anderen Medium verstanden werden, vor dessen Hintergrund es erscheint. Diese Deutung hat zwei wichtige Konsequenzen, erstens eine anti-essentialistische: Ein Medium hat nicht an und für sich bestimmte Merkmale und Eigenschaften oder Wirkungen, sondern erhält solche erst im Verhältnis zu anderen Medien. 537 Zweitens wird so das Medium partiell als Figur sichtbar. Das be‐ deutet: Bestimmte Phänomene werden erst als Wirkungen eines spezifisch Mediums identifizierbar vor dem Hintergrund eines anderen Mediums (das andere Wirkungen zeitigt). Wieder am Medium Fernsehen exemplifiziert: Dass das Fernsehen bestimmte Wirkungen hat, etwa die multisensorische Aktivierung der Rezipient: innen, wird erst deutlich durch Abgleich mit den ganz anderen Wirkungen der phonetischen Schrift (die nach McLuhan den Sehsinn in den Vordergrund rückt, einen abstrakten, distanzierten Weltzugang bewirkt). Vor dem Hintergrund einer oralen Kultur sind nach McLuhan indes die Wirkungen des Fernsehens ganz andere als vor dem 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 199 <?page no="200"?> Hintergrund der ‚Gutenberg-Galaxis‘. Der Hintergrund entscheidet also mit, welche Wirkungen ein Medium haben kann und erst vor diesem Hintergrund wird wahrnehmbar, welche Wirkungen das sind. Die Botschaft, die das Medium sein soll, ist eine, die sich in ihren Wirkun‐ gen manifestiert. Diese werden aber nur vor dem Hintergrund eines anderen Medium wahrnehmbar und spezifiziert. Ein Medium ist so verstanden eine Verschachtelung der Figur/ Grund-Dynamik: Als Hintergrund bringt es Figuren hervor; vor dem Hintergrund eines anderen Mediums wird es zur Figur; diese Figur wird erst vor dem Hintergrund eines anderen Mediums als Hintergrund bestimmter Figuren und Effekte wahrnehmbar, die als solche dementsprechend nur vor dem differentiellen Hintergrund des anderen Mediums bestimmbar werden (vgl. Abb. 25). Medium 1 Hintergrund Medium 2 Figur Hintergrund Figur Abb. 25: Das Medium ist die Botschaft: Grund/ Figur-Verschachtelungen Um das Ganze noch komplizierter zu machen, kehrt McLuhan zusätzlich die Perspektive auf relationale Aspekte um. Nicht nur soll es so sein, dass ein (neues) Medium erst vor dem Hintergrund eines bereits vorher etablierten Mediums in Erscheinung tritt. Zusätzlich gilt: Neuen Medien machen alten Medien zu ihren Inhalten, womit die alten Medien als spezifische Figuren vor dem Hintergrund neuer Medien überhaupt erst sichtbar werden. McLuhan führt als Beispiel an, dass im Fernsehen (neues Medium) Filme (altes Me‐ dium) ausgestrahlt werden und damit, das, was das alte Medium ausmacht, in spezifischer Weise vor Augen geführt und so bewusst gemacht wird. Am einfachsten lässt sich das wohl als erkenntnisstiftender Verfremdungseffekt verstehen. Wenn etwa ein Film im Fernsehen ausgestrahlt wird, so ist im Verhältnis zur Filmprojektion im Kino erst einmal der Formatwechsel 200 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="201"?> sowie die Verkleinerung des Bildes durch den Fernsehbildschirm auffällig. Zweitens ist - vorausgesetzt wir haben es mit einem Fernsehen im McLu‐ han’schen Sinne zu tun, also mit einem, der eine schlechte Auflösung hat - das Fernsehbild sehr viel grobkörniger als im Fall der Projektion des Filmes im Kino. Beide Differenzen verweisen ex negativo auf Merkmale des Films oder zumindest auf Eigenschaften des Filmes zu einer bestimmten Zeit, eingebunden in eine spezifische Praxis (Aufführung im Kino, große Leinwand, Breitbildformat, Bildschärfe, Suggestion von Dreidimensionali‐ tät). Der Film ist so verstanden ein Medium, das vor allem auf illusionistische Immersionseffekte abzielt. Der im Fernsehen ausgestrahlte Film verweist darauf, weil er genau das im Fernsehen nicht mehr sein kann (grobkörnig, kleiner Bildschirm, Flächigkeit). Durch die Verfremdung im neuen Medium werden so Eigenschaften des alten Mediums bewusst gemacht. Da aber das alte Medium nur unter den Bedingungen des neuen Mediums ausgestrahlt werden kann, lässt sich formulieren: Die Merkmale des Films, die das neue Medium dem alten Medium zuweist, sind präfiguriert durch die Eigenschaften des neuen Mediums. Das heißt wiederum ganz analog zur Bestimmung eines neuen Mediums vor dem Hintergrund eines alten: das alte Medium kann nicht nur vor dem Hintergrund des neuen Mediums bestimmt werden. Darüber hinaus gilt, dass je nach dem, was das neue Medium ist, die Eigenschaften des Films andere sein können. So wären wohl ganz unterschiedliche Eigenschaften des Films auffällig bzw. sichtbar, abhängig davon, ob der Film im elektrischen Fernsehen der 1960er Jahre ausgestrahlt wird, auf einem großen Plasmaflachbildschirm oder verwaltet von einer App auf dem Interface eines Handys. Unter Rückgriff auf McLuhan könnte man noch einen Schritt weiterge‐ hen: Auch die Reflexion über mediale Relationen, über Figur und Grund, findet ja - notwendigerweise - selbst in einem Medium statt, etwa in einem Text, der in einem Buch gedruckt ist oder im PDF-Format, wahr‐ nehmbar gemacht auf einem Computerbildschirm. So gewendet kommt die Vorstellung, dass ein Medium erst vor dem Hintergrund eines anderen Mediums erscheint, selbst in einem Medium vor, das den Hintergrund für diese Aussage bildet und dementsprechend diese Aussage präfiguriert. Nimmt man dann noch die Überlegung ernst, dass dieses Medium selbst wiederum nur vor dem Hintergrund eines anderen Mediums in Erscheinung treten kann, das darüber entscheidet, welche Wirkungen und Formen dieses 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 201 <?page no="202"?> 538 McLuhan weißt auf so eine Verbindung eigens hin, wenn er darüber nachdenkt, wie sich das Buch als Figur vor dem Hintergrund gegenwärtiger medialer Umwälzungen umge‐ staltet und im Zuge dessen neue Darstellungsformen ausgebildet hat (siehe: McLuhan, Future of the Book, S. 180), die McLuhan selbst mit seiner Art der Textorganisation bzw. Buchgestaltung erprobte → 1. Lesart: Rhetorik. 539 Siehe dazu auch Sprenger, Medien des Immediaten, S. 350ff.; ders., Epistemologien des Umgebens, 282ff. 540 McLuhan selbst schreibt gewohnt selbstbewusst diese Reaktion antizipierend: „Many people may […] suppose that these matters belong to the realm of speculation and abstruse scientific investigation, but the […] fact is that we all live in this […] resonating, simultaneous world in which the relation between figure and ground […] have simply flipped and reversed again and again.“ (Marshall McLuhan, The End of Work Ethic [1972], in: ders., Understanding Me: Lectures and Interviews, Cambridge (Mass.) 2003, S.-187-205, hier: S.-194). 541 Vgl. bspw. Mersch, Medientheorien, S. 118. Dort schreibt Mersch, dass McLuhans Voraussetzungen „entweder in einen Zirkel oder einen infiniten Regress“ geraten, was wiederum ohne weiteren argumentativen Aufwand als „chronische[…] Haltlosigkeit“ dieser Voraussetzungen weggewischt wird (ebd.). Siehe dazu ausführlicher → 3. Lesart: Kritik. Medium hat, 538 dann kann einem vor lauter medialen Relationen und Form/ Grund-Verschachtelungen ganz schwindelig werden. Jedenfalls lässt sich so verstanden mit McLuhan das gestalttheoretische Konzept der Figur/ Grund-Konstellation medienepistemologisch generali‐ sieren: Wahrnehmen und Erkennen gibt es immer nur in Medien, in Diffe‐ renz von Medien und im Verhältnis von Medien, in deren dynamischen Verschachtelungen Figur und Grund je nach Interesse und Situierung umgedreht und verkehrt werden. Das wäre dann die eigentliche Botschaft, die McLuhan mit der Aussage, dass das Medium die Botschaft ist, bereithält: Was ein Medium ist, bleibt letztlich unterbestimmt, entzieht sich direkter Wahrnehmung und Erkenntnis, seine Wirkungen - und also seine eigentli‐ chen Botschaften - können nur indirekt, in medialen Relationen und durch diese hindurch erforscht werden. 539 Das kann man freilich als wilde und abstruse Spekulation abtun. 540 Gern wird insbesondere kritisiert, dass solch eine Perspektive wahlweise zirkulär ist (was ein Medium ist, wird bestimmt durch den Hinweis darauf, dass es im Verhältnis zu anderen Medien steht) oder in einen infiniten Regress münden muss (ein Medium wird darauf zurückgeführt, dass es in einem anderen Medium vorkommt, das wiederum in einem dritten Medium vorkommt und so immer weiter in einer endlosen Reihe). 541 Solch einer Kritik ließe sich erstens gerade vor dem Hintergrund einer hermeneutischen Lesart indes entgegenhalten, dass dieser erkenntnistheoretische Zirkel gar nicht 202 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="203"?> 542 Martin Heidegger, Sein und Zeit [1927], Tübingen 1986, S.-153. 543 Ebd. 544 Leschke, Einführung in die Medientheorie, S.-245. vermeidbar ist, sondern vielmehr die Grundvoraussetzung jedes Verstehen darstellt. Mit einer berühmten Formulierung Martin Heideggers kann stark gemacht werden, dass es nicht darum gehen kann, „aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.“ 542 Denn, so Heidegger, weiter: „Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist der Ausdruck der existenzialen Vor-struktur des Daseins selbst.“ 543 Mit McLuhan ließe sich hinzufügen: Diese ‚Vorstruktur des Daseins‘ ist unhintergehbar medial verschachtelt. Es kommt dann eben darauf an, in der ‚rechten Weise‘ in diese medialen Verschachtelungen hineinzukommen, um immer besser, gleichsam unabschließbar, zu verstehen, was es für uns bedeutet, dass das Medium die Botschaft ist. Zweitens ist McLuhans Medienverständnis als einem relationalen Vollzug von Medien in Medien für eine Medientheorie, die die Rolle medialer Prozesse für Wahrnehmung, Kommunikation und Erkenntnis in den Mit‐ telpunkt rücken und wirklich ernst nehmen will, durchaus attraktiv oder zumindest konsequent. Trotz aller assoziativer Sprunghaftigkeit, elliptischer Argumentation, dem überbordenden Metaphernreigen und der häufigen Verwendung binärer Schematismen ist McLuhans Vorschlag, Medienrelati‐ onen zu untersuchen, für medienwissenschaftliche Theoriebildung kaum noch hintergehbar. Essentialistische Medienbestimmungen, Medien als technologische Objekte zu adressieren, medienmaterialistischer Determi‐ nismus oder auch ein rein funktionales Medienverständnis sind meines Erachtens jedenfalls sehr viel unattraktiver Kandidaten für solch eine Grundlegung. Schlicht deshalb ist das der Fall, weil sie die Komplexität der (Medien-)Welt sehr viel weniger Rechnung tragen, als McLuhans Vorschlag, Medien zu verstehen. Vor diesem Hintergrund scheint es mir durchaus nicht übertrieben zu behaupten, dass McLuhan mit seinem Slogan vom Medium, das die Botschaft sein soll, tatsächlich auf nicht-triviale Weise das „Terrain für eine eigenständige Medienwissenschaft geschaffen“ 544 hat. 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 203 <?page no="204"?> 545 Siehe McLuhan, Resonierendes Intervall; genauer dazu: → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. Die Mediengeschichte als Medium der Botschaft, dass das Medium die Botschaft ist Die Erkenntnis, dass das Medium die Botschaft ist, versieht McLuhan - ganz analog zur Erkenntnis, dass Medien Körperausweitungen sind, die uns und unser Selbstverständnis massiv ändern - mit einem medienhistorischen Index. Vor dem elektrischen Zeitalter soll nämlich nicht klar gewesen sein, dass das Medium die eigentliche Botschaft ist. Erst mit den elektrischen Medien, insbesondere mit dem Fernsehen, soll das bewusst geworden sein. Zuvor musste man blind bleiben für den medialen Hintergrund und kon‐ zentrierte sich auf die Beobachtungen der Formen und Figuren. Doch diese These stellt wieder eine Herausforderung dar. Wenn es denn zutreffen sollte, dass der Hintergrund immer unsichtbar bleiben muss, um Figuren sichtbar zu machen, wie McLuhan unter Rückgriff auf die Grund/ Form-Relation immer wieder betont, wie kann dann der Grund überhaupt bewusst bzw. wahrnehmbar werden? Wie kann man unter dieser Voraussetzung auf den Gedanken kommen, Medien relational zur Aufdeckung der Medienwirkun‐ gen untersuchen zu wollen? McLuhans Antwort besteht in der Behauptung, dass mit den elektrischen Medien der Hintergrund von Figuren in gewisser Weise wahrnehmbar wird. So ist etwa in einer elektrischen Leuchtreklame sowohl die Reklame (also die Figur) als auch das elektrische Licht (also der Grund der Reklame) glei‐ chermaßen wahrnehmbar. Oder genauer formuliert: Durch eine elektrische Leuchtreklame wird an uns appelliert, unsere Wahrnehmung permanent zwischen Grund und Figur oszillieren zu lassen. Auch hier ist das Konzept des resonierenden Intervalls hilfreich, um das zu verstehen. 545 Zur Erinne‐ rung: Bei diesem Konzept resonieren zwei unabhängige Elemente miteinan‐ der, treten in ein sich zeitlich entfaltendes Wechselverhältnis. Und genau das soll bei einer elektrischen Leuchtreklame geschehen, analog zu dem, was sich bei der Wahrnehmung der Mosaikstruktur des Fernsehens vollzieht. Diese Mosaikstruktur hat nicht nur den Effekt, dass wir bei seiner Rezeption eine Verbindung zwischen zwei unabhängigen Elementen herstellen, die auf derselben Ebene angesiedelt sind (unterschiedliche Lichtpunkte bzw. Zeilen), sondern darüber hinaus gilt: Wir oszillieren ständig zwischen der Wahrnehmung der Lichtpunkte und dem, was durch diese Lichtpunkte 204 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="205"?> 546 Siehe bspw. McLuhan, Magische Kanäle, S. 29f., 428; ders., Popular/ Mass Culture: American Perspectives [1960], in: ders., Understanding Me: Lectures and Interviews, Cambridge (Mass.) 2003, S. 12-33, hier: S. 26; ders., Living at the Speed of Light, S. 232. McLuhan bezieht sich dabei häufig auf den Kunstwissenschaftler Gombrich (siehe bspw. McLuhan, Magische Kanäle, S. 29f.; ders., Popular/ Mass Culture, S. 26), der sich in dem von McLuhan begeistert rezipierten Buch A R T A N D I L L U S I O N wiederum mit der Gestalttheorie bzw. der Gestaltpsychologie auseinandergesetzt hat, wenngleich er dort nicht ausführlich der Form/ Grund-Unterscheidung nachgeht (siehe bspw.: Gombrich, Art and Illusion, S.-26f., 219 ff.). 547 McLuhan, Magische Kanäle, S.-30. 548 Statt auf Greenberg bezieht sich McLuhan aber, wie angeführt, auf Gombrich, der sich wiederum viel weniger als Greenberg für die medienmateriellen Wesenserkundungen der klassischen Avantgarde interessiert. 549 Clement Greenberg, Modernistische Malerei [1960], in: Georg W. Bertram u. a. (Hg.), Die Kunst und die Künste. Ein Kompendium der Gegenwart, Berlin 2021, S. 49-58, hier: S.-50. dargestellt wird (einem Gesicht etwa). Hintergrund und Figur wechseln also ständig ihre Position. So können wir zwar nicht unmittelbar sowohl Figur und Grund wahrnehmen, aber durch die Oszillation von Figur und Grund wird uns deren Zusammenspiel vor Augen geführt und damit erkennbar. Es ist nun nicht so, dass McLuhan behaupten würde, dass es diese Art der Oszillation nicht auch jenseits elektrischer Medien gibt. Er selbst führt viele Beispiele aus der Malerei an, die genau solche Effekte strategisch herstellen. Man denke nur noch einmal an das weiter vorne angeführte Beispiel des Pointelismus. Hier wird aus einzelnen Bildpunkten ein Bildre‐ ferent zusammensetzbar (bspw. ein Schiff). Der Clou an der Darstellung besteht aber nicht darin, dass, wie bei einem Rätselbild, am Ende die Lösung (‚Schiff ‘) gefunden ist, sondern darin, dass zwischen den beiden Ebenen (Farbpunkte und Referent) oszilliert werden kann. Einmal sehen wir die Farbpunkte, einmal das Schiff, dann wieder die Farbpunkte usw. Ein weiteres künstlerisches Projekt, auf das McLuhan immer wieder eingeht, ist der Kubismus. 546 Dem Kubismus weißt er sogar die Entdeckung zu „daß das Medium die Botschaft ist.“ 547 In diesem Kontext hätte sich McLuhan auf Ausführungen des Kunsttheoretikers Clement Greenberg beziehen können. 548 Dieser hat in einem vielrezipierten Text mit dem Titel M OD E R NI S TI S CH E M AL E R E I bereits 1960 die moderne Malerei, insbesondere die kubistische so charakterisiert, dass der „eigentliche Gegenstandsbereich jeder einzelnen Kunst genau das ist, was ausschließlich in dem Wesen ihres jeweiligen Mediums angelegt ist.“ 549 Denn diese stellt aus und reflektiert damit ihre materiellen Grund‐ 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 205 <?page no="206"?> 550 Ebd. 551 Ebd., S.-50f. 552 Boris Groys, Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München/ Wien 2000, S.-94. 553 Ebd., S.-93. 554 Ebd. 555 Greenberg, Modernistische Malerei, S.-50. bedingungen: „die plane Oberfläche, die Form des Bildträgers, die Eigen‐ schaften der Pigmente“. 550 All das, was in der vorhergehenden Malerei „als negative Faktoren“ behandelt wurde, um figurative, illusionistische Bilder herzustellen, wird nunmehr „offen anerkannt“. 551 Boris Groys formuliert in diesem Zusammenhang mit Blick auf McLuhan pointiert: „Greenberg schreibt also ganz entschieden dem Kubismus die Entdeckung der Medialität des Mediums zu, die explizite Thematisierung des Medialen - kurzum die Verkündigung der Botschaft des Mediums.“ 552 Wie Greenberg verallgemei‐ nert er diesen Befund für die ‚moderne Malerei‘, die er als ‚klassische Avantgarde‘ bezeichnet: „Die klassische Avantgarde, wie sie sich Anfang dieses Jahrhunderts konstituiert hat, definiert sich bekanntlich gerade durch ein reduktionistisches Verfahren: Sie will vom Text oder vom Bild alles In‐ haltliche, bewusst Intendierte, Mitteilende abziehen, um im Endergebnis die reine Form des Mediums, oder, wie McLuhan sagt, die eigene Botschaft des Mediums freizulegen.“ 553 Anschließend argumentiert Groys, dass McLuhan diese selbstreflexive „avantgardistische Grundfigur“ 554 zur Grundlage seiner Medientheorie gemacht hat, deren Kern eben im Slogan vom Medium, dass die Botschaft ist, besteht. Da McLuhan sich ja selbst explizit auf den Kubismus bezieht, ist dieser Befund sicherlich zutreffend. Nur gibt es meines Erachtens einen durchaus wichtigen Unterschied zur Deutung Groys aus dem Blickwinkel Greenbergs. McLuhan übernimmt der Prämisse der Gestalttheorie, der zufolge der Grund niemals unmittelbar zur Form werden kann. Dementsprechend versteht der den Kubismus auch nicht, wie Greenberg, so, dass er nunmehr die materi‐ ellen Grundbedingungen der Malerei direkt zur Anschauung bringt. Es ist nicht einfach die Reduktion auf „die plane Oberfläche, die Form des Bildträ‐ gers, die Eigenschaften der Pigmente“, 555 die den Kubismus auszeichnen soll, vielmehr die Oszillationsbewegung zwischen Form und Grund, die im Ku‐ bismus in all seiner Widersprüchlichkeit zur Darstellung kommt. Nicht die ‚plane Oberfläche‘ ist das interessante, sondern das Wechselspiel zwischen Fläche und Tiefe, zwischen Bildträger und Bildinhalt, (Mosaik-)Pigmenten 206 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="207"?> 556 Auch Greenberg beschäftigt sich mit solchen widerstreitenden Tendenzen im und auf dem Bild, wenngleich er zu einer anderen Einschätzung kommt als McLuhan. Mit dem Problem konfrontiert, dass ein Bild, selbst wenn es auf reine Selbstreflexion der eigenen Grundlagen angelegt ist, immer auch illusionistische Effekte in der Rezeption erzeugt (und damit eigentlich nicht mehr strikt nur die eigenen Konstitutionsbedingungen reflektiert), schreibt Greenberg: „Die Flächigkeit, welche die modernistische Malerei anstrebt, kann niemals absolut sein.“ (Ebd., S. 54) Sie muss „notwendigerweise - weiterhin die optische Illusion“ (ebd.) beibehalten. Dieses Problem löst er dann mit folgender Wendung: „Nur handelt es sich jetzt um eine strikt bildliche, strikt optische dritte Dimension.“ (Ebd., S. 55) Ob er damit das Problem wirklich löst, sei dahingestellt. Wichtiger ist hier: McLuhan wählt mit der Idee von der Oszillation zwischen Grund und Figur einen anderen Lösungsweg, wie das Medium in seinen Formen wahrnehmbar werden kann. In einem anderen Vokabular könnte zudem formuliert werden, dass McLuhan das Kunstwerk in materielle (‚der Grund‘) und semiotische Eigenschaften (‚die Formen‘) aufspaltet, die in der Rezeption permanent ver- und umbesetzt werden. Dabei handelt es sich um eine Oszillation, die zwischen zwei sich widersprechenden Modi der Bildwahrnehmung (‚illusionistischer‘, ‚transparenter‘ Inhalt und ‚opaker‘, ‚sinnlicher Materialität) hin und her pendelt. Genau dies Pendelbewegung ist es, was laut Theodor W. Adornos ästhetischer Theorie die antinomische Konstitution von Kunstwerken generell ausmacht (siehe dazu knapp, aber instruktiv: Christiane Voss, Auf dem Weg zu einer Medienphilosophie anthropomedialer Relationen, in: ZMK. Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 [2010], S. 169-184, v.a.: S. 173f.). Von dieser Überlegung ausgehend ist es nur noch ein kleiner Schritt zu dem, was lange nach McLuhan als negative Medientheorie oder auch als Medienphilosophie des Entzugs bezeichnet wird (siehe bspw. Mersch, Medientheorien, S. 219ff.). Diesem Konzept liegt die Annahme zu Grunde, dass Medien niemals direkt beobachtbar sind, sondern sich im medialen Vollzug der Übertragung oder des Wahrnehmbar-machens konstitutiv entziehen. Medien können, so eine weitere These dieser Denkbewegung, nur indirekt sichtbar gemacht werden, insbesondere durch Verfahren der Kunst, die ihre medialen Bedingungen indirekt darstellt. Oder genauer: Kunst macht den Entzug des Medialen wahrnehmbar. Und dies geschieht eben durch die Forcierung der Pendelbewegung zwischen den widersprüchlichen, nicht zu synthetisierenden oder stillzustellenden Ebenen der Bedeutungszuweisung und der Materialität. Obwohl sich Vertreter: innen dieser Art der Medienphilosophie eher auf Heidegger oder Derrida beziehen, um ihre und Gestalt. 556 Das Ziel kubistischer Malerei ist nämlich, wie McLuhan schreibt, das „Wechselspiel von Ebenen und Widersprüchen […] durch einen 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 207 <?page no="208"?> Thesen zu plausibilisieren (siehe bspw. ebd., 221 ff.), so lassen sich doch auch und bereits McLuhans Beschreibung kubistischer Malerei und überhaupt seine Funktions‐ bestimmung moderner Kunst genau in diesem Sinne verstehen. Insofern wäre McLuhan ein selten als solcher einmal aufgerufener Vorläufer der erst sehr viel später explizit ausbuchstabierten Medienphilosophie des Entzugs (darauf macht kurz aufmerksam: Voss, Auf dem Wege zu einer Medienphilosophie, S.-173). 557 McLuhan, Magische Kanäle, S.-29. 558 Ebd. Abb. 26: Delaunays Fensteroszillationen spannungsgeladenen Widerstreit der Muster, Lichter und Anordnungen“ 557 zur Darstellung zu bringen. Das lässt sich an einem Beispiel gut veranschaulichen, nämlich an Robert Delaunays S IMU LTAN E F E N S ‐ T E R (2. M OTIV , 1. T E IL ) aus dem Jahr 1912 (Abb. 26). Licht wird dort in farbigen Prismen reflektiert dar‐ gestellt. Durch ein Fenster ist die Silhouette des Eiffelturms zu erah‐ nen. Zusammengesetzt wird dieses Bild aus Farbkontrasten, ineinan‐ dergeschobenen Rechtecken und übereinander gelagertern Formen, die die illusionistische Räumlich‐ keit in flächige Konturen aufzulö‐ sen scheinen. Die Farbkontraste und Verschachtelungen führen - so könnte man im Sinne McLuhans formulieren - zu resonierenden In‐ tervallen, die die Rezeption des Bildes in Bewegung halten. Es bleibt dabei in vielen Teilen des Bildes erstens unklar, welche Farbebene und welche Formen, die jeweils anderen überlagern. Zweitens resonieren die einzelne Flächen durch Farbkontraste; drittens oszilliert die Rezeption zwischen dem Sehen eines Gegenstand in der Welt (‚Eiffelturm‘) samt räumlicher Anordnung zum Objekt (‚Blick aus dem Fenster auf den Eifelturm‘) und dem flächigen Farbauftrag. Das Bild ist darauf angelegt, dass das, was jeweils Grund ist, was Form permanent wechselt. Im Kubismus, so McLuhan, werden „alle Aspekte eines Gegenstandes gleichzeitig“ 558 zugänglich gemacht. ‚Gleichzeitig‘ wäre hier zu verstehen als 208 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="209"?> 559 Ebd., S.-30. 560 Siehe dazu ausführlicher: → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. Bei McLuhan heißt es im Original diesbezüglich: „Art as radar acts as an ‚early warning system,‘ as it were, enabling us to discover social and psychic targets in lots of time to cope with them.“ (McLuhan, Understanding Media. Second Edition, S.-20) 561 Siehe dazu auch: Sprenger, Epistemologien des Umgebens, S.-287ff. Oszillation zwischen unterschiedlichen Ebenen und kontrastierenden bzw. widerstreitenden Formen. ‚Alle Aspekte eines Gegenstandes‘, sein Hinter‐ grund wie seine Figuren, werden prozessual wahrnehmbar. So gewendet und in Anbetracht des Figur/ Grund-Schemas dürfte konkret nachvollzieh‐ bar sein, was McLuhan meint, wenn er formuliert: „Mit diesem Griff nach dem unmittelbaren, totalen Erfassen verkündete der Kubismus plötzlich, daß das Medium die Botschaft ist.“ 559 Künstler: innen sind bei McLuhan generell Expert: innen für Wahrneh‐ mung und Wahrnehmungsorganisation sowie Vorläufer: innen bzw. ‚Früh‐ warnsysteme‘ für anstehende Wahrnehmungsveränderungen. 560 Deshalb sind diese unter andere auch besonders sensibel dafür, Unbewusstes bzw. Unbemerktes, etwa den unbeobachtbaren, aber virulenten Hintergrund von Wahrnehmungen, in ihren Werken experimentell zu thematisieren und zur Geltung zu bringen. 561 Aber erst im Zeitalter der Elektrizität, deren ‚globale‘ Vernetzung, nach der Etablierung elektrischer Leuchtreklamen bzw. der televisuellen Wahrnehmung sind es wiederum technologische Errungen‐ schaften, die diese Art der Wahrnehmung flächendeckend verbreiten und in unseren Alltag implementieren. Künstlerische Darstellungen sind zwar vielleicht Vorläufer für die Erkenntnis, dass das Medium die Botschaft ist. Es sind aber erstens Vorläufer, die als Avantgardekunst einen vergleichsweise kleinen Rezipient: innenkreis erreichten. Zweitens sind sie, wie im Fall des Pointilismus oder des Kubismus, selbst bereits (frühe) Reaktionen auf die medientechnologischen Veränderungen. Jedenfalls gilt nach McLuhan: Erst im Zeitalter der elektrischen Medien kann die Erkenntnis aufkommen, dass das Medium die Botschaft ist - und zwar als Wirkung der elektrischen Medien, vor deren Hintergrund Figuren hervorgebracht werden, die den Zusammenhang von Grund und Figur wahrnehmbar machen. Metaphern der Medien I Medien als Metaphern McLuhan greift auf sehr viele unterschiedliche Konzepte zurück, aus deren jeweiligen Perspektiven er Medien näher zu fassen versucht: Medien werden 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 209 <?page no="210"?> 562 Siehe ausführlich zu den Aspekten der Metapher und zur Diskussion diverser Meta‐ pherntheorien: Eckard Rolf, Metaphertheorien. Typologie - Darstellung - Bibliogra‐ phie, Berlin/ New York 2005. als Milieus, als Umwelten oder als Form/ Grund-Relationen adressiert, ein anderes Mal als Körperausweitungen, dann wieder als Massagen oder magische Kanäle. Hieran ist auffällig, dass es immer wieder Analogien sind, die aufgerufen werden: Medien sind wie Massagen, wie magische Tricks, wie Prothesen, wie Umwelten. McLuhan verwendet zur Veranschaulichung dessen, was Medien sind, also vorrangig Metaphern. Metaphern veranschau‐ lichen und fokussieren bestimmte Eigenschaften eines Gegenstandes durch bildhafte Übertragung aus einem semantischen Feld in ein anderes. Dies geschieht auf Grundlage (angenommener) Ähnlichkeit. 562 Die Metapher Wüstenschiff für ein Kamel bspw. geht von der Ähnlichkeit bestimmter Ei‐ genschaft von (Wüsten-)Schiff und Kamel aus. Bei der Übertragung von dem einen semantischen Feld in das andere werden bestimmte Eigenschaften des Kamels fokussiert und so das Kamel (neu bzw. anders) perspektiviert, etwa als langsam schaukelnd, sanft gleitend, stetig vorantreibend, zu verwenden als Transportmittel o.ä. Durch metaphorische Übertragungen lässt sich somit ein Gegenstand nicht nur bildhaft veranschaulichen, sondern auch anders erfahren, bspw. durch Betonung bestimmter Eigenschaften eines Gegenstandes. Weiterhin kommt Metaphern die Funktion zu, fehlende Bezeichnungen zu substituieren, sei es als sogenannte tote Metaphern, die ‚tot‘ sind, weil sie anstelle einer wörtliche Bezeichnung Eingang in das Alltagsvokabular gefunden haben, bspw. das Stuhlbein, sei es zur Bezeichnung von neuen Phä‐ nomenen, die durch metaphorische Übertragung überhaupt erst anschaulich beschreibbar werden. So ist der Desktop erst einmal der englischsprachige Ausdruck für einen Schreibtisch, der in Form einer metaphorische Übertra‐ gung zur Bezeichnung der grafischen Oberfläche eines Betriebssystems in die Alltagssprache überging. Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Für McLuhan sind Medien Gegenstände, die zum einen in besonderer Weise unanschaulich sind. Denn sie sind kein materieller Gegenstand in der Welt, die unmittelbar wahrnehmbar wären, im Gegensatz etwa zu einem Kamel. Allein schon deshalb müssen sie, um anschaulich zu werden, metaphorisch bezeichnet werden. Zum anderen sind Medien neue Gegenstände insofern, als sie - zumindest nach McLuhan - bis dato noch nicht als entscheidende Phänomene erkannt worden sind, die die Welt und ihre Erkennbarkeit len‐ 210 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="211"?> 563 Zur Untersuchung der vielfältigen Metaphern für Medien und die Besonderheit der sich als ‚Dazwischen‘ konstitutiv entziehenden und gleichzeitig transformierenden Medialität der Medien, die genau deshalb einen unerschöpflichen Metaphernreigen auslöst, siehe Georg Christoph Tholen, Metaphorologie der Medien, in: ders., Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Berlin 2002, S. 19-59. Zur Rolle der Metapher in McLuhans Texten und den dort ausfindig zu machenden Zusammenhang von Medien- und Metapherntheorie: Mangold, McLuhans Tricksterrede, S.-420ff. 564 McLuhan, Magische Kanäle, S.-97. 565 Ebd., S.-101. ken und erst durch die neuen elektrischen Medien erkennbar werden. Was genau aber diese (neuen) Medien sind, bleibt erstmal diffus und unerklärt. Demzufolge können sie nur Kontur erhalten, indem auf vorhergehende Beschreibungskategorien zurückgegriffen wird, also eine metaphorische Übertragung und Umkreisung des ‚Neuen‘ stattfindet. Und genau das leistet McLuhan mit seinen Annäherungen. Er liefert behelfsmäßige Anschauun‐ gen für einen unanschaulichen Gegenstand, der - so ließe sich im Rückgriff auf McLuhans Interpretation der Medien als Figur/ Grund-Verschachtelung hinzufügen - prinzipiell unanschaulich bleiben muss, um überhaupt irgend‐ etwas zur Erscheinung bringen zu können. Zugespitzt formuliert: Im Feld der Medien gibt es nur Metaphern, weil Medien niemals vollständig auf den Begriff gebracht werden können. 563 McLuhan lässt es dabei aber nicht bewenden. Er formuliert nicht nur viele Metaphern für Medien, sondern wählt auch die Metapher als Metapher für Medien, wenn er schreibt: „Alle Medien sind mit ihrem Vermögen, Erfahrungen in neue Formen zu übertragen, wirksame Metaphern.“ 564 Und weiter: „Denn genauso wie eine Metapher Erfahrungen umformt oder überträgt, tun das auch die Medien.“ 565 Metaphern sind ja tatsächlich Um‐ formungsmittel für Erfahrungen, denn sie übertragen einen Begriff aus einem semantischen Feld in ein anderes und perspektivieren dieses andere semantische Feld somit neu bzw. anders. Damit wird eine neue Erfahrung des jeweiligen Gegenstandes möglich. McLuhan wendet diese Eigenschaft sprachlicher Metaphern auf Medien: Unterschiedliche Medien ermöglichen unterschiedliche Erfahrungen. Dass der in klassischer Philologie ausgebildete McLuhan auf die Idee kam, Medien ausgerechnet als Metaphern zu verstehen, ist naheliegend. Denn hierfür gibt es einen bekannten, ebenfalls in der Philologie ausgebildeten Vorläufer, nämlich Friedrich Nietzsche. Nietzsche hat 1873 einen für die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert wegweisenden Text geschrieben, 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 211 <?page no="212"?> 566 Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [1873], in: ders., Nachgelassene Schriften 1870-1873. Kritische Gesamtausgabe, 3. Abteilung, Band II, hrsg. von Giorgio Collt/ Mazzino Montinari, Berlin/ New York 1973, S. 367-384, hier: S.-374 (Hervorhebung von mir [SG]). 567 Siehe zur pragmatischen Wendung dieser Einsicht → 4. Lesart: Pragmatismus. der den Titel U E B E R W AH R H E IT UND L ÜG E IM AU S S E R MO R ALI S CH E N S INN E trägt. Darin übt Nietzsche dezidiert Sprachkritik. Im Kern geht es um Folgendes: Sprache repräsentiert die Welt nicht einfach richtig oder falsch. Sprache ist auch nicht einfach neutrales Mittel zum Gedankenaustausch. Vielmehr ist Sprache ein Mittel, das die Welt je unterschiedlich erscheinen lässt und unser Denken präformiert. In unterschiedlichen Sprachen denken wir unterschiedlich und haben einen unterschiedlichen Zugang zur Welt. Richtiges Denken oder adäquaten Zugang zur Welt soll es folglich nicht geben. Jede Erkenntnis ist sprachrelativ und definiert eine andere Realität. Diese Thesen finden sich wieder in der weiter vorne bereits behandelten Sapir-Whorf-These und mündeten im 20.-Jahrhundert in den lingustic turn, leitete also eine epistemologische Wende zur Sprache ein. Interessanter aber als die These selbst, ist hier, wie Nietzsche über die Sprache spricht. Ihm zufolge ist nämlich die Sprache ein „Heer von Metaphern“. 566 Damit wird behauptet: Jeglicher direkter und d. h., unmeta‐ phorischer Zugang zur Welt ist ausgeschlossen. Die Sprache ist ein ‚Heer von Metaphern‘, von dem wir aber vergessen haben, dass es ‚nur‘ Metaphern umfasst, also niemals die Sache selbst ‚richtig‘ bezeichnet. Anstelle von vermeintlich harten wissenschaftlichen Kategorien wie Wahrheit, Realität etc. plädiert Nietzsche deshalb dafür, diese Kategorien zu verabschieden. Statt strenger Wissenschaft sollen immer neue Metaphern entworfen wer‐ den, die die Welt unterschiedlich beschreiben, buchstäblich neue Bilder der Welt entwerfen, sodass wir mit und durch diese Metaphern unterschiedli‐ che Erfahrungen machen können - unabhängig von der Frage, ob diese Beschreibungen nun richtig sind oder nicht. 567 Und genau hier findet man den Anschluss an McLuhan. Bei ihm ist nicht mehr die Sprache allein ein ‚Heer von Metaphern‘, das durch Künstler: innen unterschiedlich ausgestaltet werden soll. Diese Aufgabe wird bei ihm von den Medien übernommen. Sie sind Metaphern, die unterschiedliche Erfah‐ rungen ermöglichen. Gleichzeitig ist den Menschen aber nicht bewusst, dass Medien Metaphern sind, die nicht die Sache selbst wahrnehmen lassen, sondern nur die Welt nach den jeweiligen medialen Vorgaben. Medien müssen als unterschiedliche Metaphern verstanden werden, die 212 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="213"?> 568 Postman, Wir amüsieren uns, S.-20. 569 Solch eine Kontinuitätsthese vertritt auch Gordon in seiner voluminösen Biografie über McLuhan: „From the earliest pages of the Nashe thesis [McLuhans Doktorarbeit] it is possible to detect the themes McLuhan would continue to develop to the end of his career.“ (Gordon, McLuhan, S. 104) Oder auch: „In retrospect, the coherence of his work becomes apparaent […].“ (Ebd., S.-304) Wahrnehmung, Erfahrung und Denken transformieren und prägen. Oder wie es Neil Postman, der in vielem McLuhans Thesen folgt und so auch hier, zwei Dekaden später noch klarer ausdrücken wird: Medien „gleichen […] Metaphern, die ebenso unaufdringlich wie machtvoll ihre spezifischen Realitätsdefinitionen stillschweigend durchsetzen.“ 568 Wenn man nun beide Perspektiven ineinander blendet, nämlich Medien mit unterschiedlichen Metaphern zu beschreiben, weil sie letztlich nicht auf den Begriff zu bringen sind, und das Verständnis von Medien als Metaphern, ergibt sich eine ganz ähnliche Konstellation wie bei der Form/ Grund-Verschachtelung: Medien sind so einerseits durch Metaphern an‐ schaulich zu machen (die Metaphern wären somit die Figuren). Anderseits bleiben die Medien selbst unanschaulich und verborgen (wie der Grund) und wirken von dort aus erfahrungs- und wahrnehmungstransformierend (eben wie Metaphern). Die Konsequenz daraus ist: Man kann Medien nur metaphorisch beschreiben, weil sie selbst metaphorisch wirken. Vor jeder konkreten metaphorischen Beschreibung der Medien stehen Medien, die als Metaphern, also als Transformationsinstanzen, solche Beschreibungen präfigurieren. Die Botschaft der Medien wäre dementsprechend: Medien sind Metaphern, die sich nur metaphorisch beschreiben und in ihrer Über‐ tragungskraft immer wieder neu umkreisen lassen. Grammatik: Die Lesbarkeit der Medien Wie bereits vermerkt: Die Metapher ‚Metapher‘ kommt nicht von unge‐ fähr. McLuhan war ausgebildeter Philologe. Und es wäre nun eine flache Deutung, wenn man davon ausginge, dass McLuhan zu Beginn Gedichte interpretiert und rhetorische Formen studiert und sich dann irgendwann mit etwas völlig anderem beschäftigt hat, eben mit ‚Medien‘. Plausibler ist es, von einer Kontinuität im Werk McLuhans auszugehen. 569 Um es pointiert auszudrücken: Im Herzen blieb der kanadische Medienforscher immer Philologe, wenngleich ein sehr eigentümlicher. Diese Kontinuität ist allein schon daran zu erkennen, dass McLuhan unterschiedliche Gegenstände 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 213 <?page no="214"?> 570 McLuhan, Magische Kanäle, S.-31. 571 McLuhan/ McLuhan, Laws of Media, S.-215. 572 Siehe: McLuhan, Magische Kanäle, S.-97. 573 McLuhan/ McLuhan, Laws of Media, S.-229. 574 Peters, McLuhans grammatische Theologie, S.-63f. und Themen mit Vokabeln und Konzepten aus dem philologischen Register beschreibt. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit dem antiken Trivium, das sich aus Dialektik, Rhetorik und Grammatik zusammensetzt. In den E X P L O R ATION S war er gemeinsam mit Carpenter auf der Suche nach der Grammatik der Medien, in D I E MAGI S CH E N K ANÄL E beschreibt er in diesem Sinne etwa die „Grammatik des Schießpulvers“ 570 und Medien als Metaphern. Und vor allem in dem posthum veröffentlichten Buch L AW S O F M E DIA , das, wie es im Untertitel heißt, eine „new science“ etablieren soll, geht es im abschließenden Kapitel um diese neue Wissenschaft als „Media Poetics.“ 571 Auch dort werden noch einmal, wie in D I E MAGI S CH E N K ANÄL E , Medien als Metaphern beschrieben 572 und wie bereits in den E X P L O R ATION S wird in L AW S O F M E DIA die These hochgehalten: „New Media are new languages, their grammar and syntax yet unknown.“ 573 Will man genauer sein, so lässt sich die Konsistenz der Beschreibungen nicht nur auf das philologische Vokabular beziehen, das McLuhans Texte von Anfang bis zum Ende durchzieht. Präziser müsste man eigentlich davon sprechen, dass McLuhan zeitlebens ein Grammatiker war. Unter Grammatik ist hier nicht einfach die Erforschung der Syntax zu verstehen, vielmehr ist es in antiker Tradition eine spezifische Erkenntnis- und Wissensform. Die klassischen Grammatiker verstanden Grammatik als Kunst der Interpretation im Allgemeinen, die sich über Literatur hinaus auf das Universum selbst bezog. […] Grammatiker sind Alchimisten und Enzyklopädisten, die ihren Auftrag darin sehen, alles in einem Bezug auf die grammatikalischen Formen einer zugrunde liegenden sprachlichen Ordnung zu verstehen und zu untersuchen. […] Grammatik ist der Königsweg zur Lektüre sowohl biblischer Schriften wie auch der Natur. 574 Hieran schließt McLuhan an. Als moderner Grammatiker liest er jedoch nicht mehr die Natur oder die biblischen Schriften, sondern Medien und fragt nach deren grammatikalischen Formen und der ihnen zugrunde liegenden Ordnung. ‚Modern‘ sind McLuhans Lektüren insofern, als sie nicht davon ausgehen, dass die Welt erscheinen können wird, wie sie ist. Das haben noch die alten Grammatiker gedacht, da sie davon überzeugt waren, dass 214 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="215"?> 575 Siehe hierzu auch bezogen auf McLuhans Textorganisation → 1. Lesart: Rhetorik. 576 Siehe: Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1979. 577 Diese Formulierung ist übernommen von Thomas Nagel, der damit eine objektive, ohne subjektive Beimengung verzerrte Perspektive beschreibt und diskutiert, ob und inwieweit ein solcher Blickwinkel möglich ist, siehe: Thomas Nagel, Der Blick von nirgendwo [1986], Frankfurt am Main 2012. die sprachliche und die natürliche Ordnung übereinstimmen. McLuhans Lektüren gehen eher dem nach, welche Effekte Medien haben, welche Strukturen diese Effekte haben. Es sind aber immer Effekte, die uns nicht zur reinen, unverstellten Welt zurückführen. Weil Medien Metaphern sind, führen sie uns zu unterschiedlichen Weltwahrnehmungen und Denkweisen, aber eben nicht zu einer richtigen oder wahren. Nichtsdestotrotz versucht McLuhan, eine universelle Struktur der Medien zu erkunden. Damit ist er durchaus ein Grammatiker im traditionellen Sinne: Alles wird in Bezug gesetzt zu den grammatikalischen Formen und Strukturen. Darum sieht McLuhan überall Muster. So wird auch nachvollziehbar, warum er alle mög‐ lichen Wissensgebiete durchforstet, in seine ‚grammatologischen‘ Lektüren einbezieht und sie in seine These von dem Medium, das die Botschaft sein soll, verdichtet. 575 Es geht dabei nicht mehr um das große abendländische Projekt der Lesbarkeit der Welt, wie es von Hans Blumenberg in seiner gleichnamigen Publikation rekonstruiert wird, 576 vielmehr um die Lesbarkeit der Medien, um die Lesbarkeit ihrer Strukturen und Funktionsweisen. Mit seinen Lektü‐ ren, seinem Verfahren der Mustererkennung versucht McLuhan also Medien lesbar zu machen. Jedoch muss das eine unendliche Aufgabe sein - und zwar deshalb, weil es erstens immer neue mediale Konstellationen geben kann, zweitens weil immer spezifische mediale Konstellationen untersucht werden, drittens weil die Effekte der Medien nicht abschließbar, viertens nur metaphorisch zu beschreiben sind und fünftens, weil man selbst seine Analysen von einem bestimmten medialen Milieu aus betreibt, das - und hier kommt wieder einmal McLuhans Fundamentalaxiom zum Zuge - präformiert, wie man etwas überhaupt wahrnehmen und erkennen kann. Zwar, so McLuhans Überzeugung, funktioniert das im elektrischen Zeitalter besonders gut, ja wird dort erst überhaupt möglich und erfahrbar, aber ein Außen, ein Blick von ‚nirgendwo‘ 577 ist nicht mehr möglich, sondern nur noch einer, der selbst immer schon in medialen Konstellationen und Verschachtelungen verwickelt ist. McLuhans grammatologisches Projekt ist so betrachtet durchaus auch ein hermeneutisches: Medien zu verstehen 2.3 These 3: Das Medium ist die Botschaft 215 <?page no="216"?> 578 McLuhan, Magische Kanäle, S.-30. ist eine unendliche Aufgabe und geschieht immer aus einer bestimmten Perspektive, von der aus man sich an seinen Gegenstand herantastet. Im Falle McLuhans geschieht dies insbesondere durch ‚grammatologische Mustererkennungsverfahren‘. 2.4 Everything is connected Wie es sich für einen echten Grammatiker gehört, ist bei McLuhan alles mit allem verbunden. Das gilt nicht nur für Medien, die ineinandergreifen, nicht nur für Wissenschaftsdisziplinen, aus denen er sich üppig bedient und die er, um noch einmal die Metapher von Carpenter aufzugreifen, in einer riesigen Wiederverwertungsmaschine aufbereitet. Es gilt ebenso für seine drei Hauptthesen; sie greifen ebenfalls ineinander - und zwar in folgendem Sinne: Das globale Dorf, von dem die These 2 handelt, ist für McLuhan Grundvoraussetzung, um überhaupt zur These vom Medium, das die Botschaft ist, kommen zu können: „Vor der elektrischen Geschwindigkeit und der Berücksichtigung der Gesamtwirklichkeit war es nicht klar, daß das Medium die Botschaft ist.“ 578 Hierfür ist es wiederum notwendig, dass die Körperausweitungen so weit vorangeschritten sind, dass das zentrale Nervensystem in Form der Telegrafie ausgeweitet und das Fernsehen als Ausweitung des taktilen Sinnes das harmonische Wechselspiel der Sinne flächendeckend etabliert hat (These 1). So betrachtet ist die Verschränkung von These 1 (Medien als Körperausweitungen) und These 2 (die Bildung eines globalen Dorfes) die notwendige Bedingung für These 3 (nämlich die Einsicht, dass das Medium die Botschaft ist). Von der These 3 gelangt dann McLuhan hinter die Schwelle zum globalen Dorf und interpretiert die gesamte Kulturgeschichte als Mediengeschichte. Diese Vernetzung der Thesen hat die Form einer hermeneutischen Schleife: Von einem bestimmten Bezugsrahmen aus wird rekonstruiert, wie dieser Bezugsrahmen uns zu unseren Erkenntnissen führt. Und von dort aus wird versucht, sich anderen (weiteren) Bezugsrahmen anzunähern. McLuhan macht also bei seiner Annäherung an die Medien in etwa dasselbe, wie das, was hier mit McLuhan versucht wurde. McLuhans ‚Understanding Media‘ ist somit strukturell vergleichbar mit dem Vorhaben, McLuhan zu 216 2 Lesart: Hermeneutik - McLuhan verstehen <?page no="217"?> verstehen. Wenngleich beides - und zwar prinzipiell - eine unendliche Aufgabe bleiben muss. 2.4 Everything is connected 217 <?page no="219"?> 579 Siehe: Karl R. Popper, Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, Oxford u. a. 1972. 580 Siehe dazu: Marchand, McLuhan, S.-344f.; McLuhan/ McLuhan, Laws of Media, S. viii. 581 Miller, McLuhan, S.-116. 582 Zu Ecos Kritik siehe: Umberto Eco, Vom Cogito interruptus; Derridas kritische Auslas‐ sung (die nicht einmal einen ganzen Satz umfasst, nichtsdestotrotz abfälliger kaum sein kann) siehe: Jacques Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext [1972], in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1999, S.-291-314, hier: S.-313. 583 Enzensberger, Baukasten, S. 121. Zur damaligen deutschsprachigen Rezeption siehe: Heilmann, Blick in den Rückspiegel. 584 In Briefen jedoch konnte er sich bitterlich beschweren - siehe dazu ausführlicher das Einleitungskapitel vorliegender Arbeit. 585 Zitiert nach: Postman, Vorwort, S.-8. 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören Nachdem McLuhan die Aufsatzsammlung O B J E CTIV E K NOWL E D G E579 des Wis‐ senschaftstheoretikers Karl R. Popper durchgeblättert hatte, entwarf er die erste Skizze seiner sogenannten „Laws of Media“. 580 In den Jahren zuvor war der kanadische Denker mit harten Bandagen angegangen worden. Die aller‐ meisten Wissenschaftler: innen ließen, wenn sie denn McLuhan überhaupt wahrnahmen, Anfang der 1970er Jahre kaum ein gutes Haar an ihm. McLu‐ han zu kritisieren, gehörte zum guten Ton. Jonathan Miller kommt in seiner 1971 zum ersten Mal erschienenen (und in den folgenden Jahren recht ein‐ flussreichen) Monografie zu dem Schluss, McLuhan habe „ein gigantische[s] System von Lügen“ 581 aufgebaut. Theoretiker wie Umberto Eco oder Jacques Derrida formulieren ihre Ablehnung gegenüber McLuhan nicht minder deutlich. Wirft ihm Ersterer fehlende Systematik vor, so der Zweite eine ideologisch naive Haltung. 582 In der deutschsprachigen Rezeption erging es McLuhan kaum besser. Im B AU KA S T E N ZU E IN E R T H E O R I E D E R M E DI E N kritisiert bspw. Hans-Magnus Enzensberger McLuhans „reaktionäre Heilslehre“ und spricht ihm jegliche wissenschaftliche „Satisfaktionsfähigkeit“ ab. 583 McLuhan reagierte so gut wie nie direkt argumentativ auf Kritik. 584 Seine Entgegnungen auf skeptische Reaktionen wurden nachgerade berühmt. Kritische Nachfragen pflegte er nonchalant abzuwehren: „Wenn Ihnen das nicht gefällt, erzähle ich Ihnen etwas anderes.“ 585 Solch eine Haltung ver‐ half McLuhan zwar zu einem legendären Status, wissenschaftlich gesehen machte es ihn aber wohl kaum ‚satisfaktionsfähiger‘. Zumindest im letzten Jahrzehnt seines Lebens reagierte McLuhan indirekt auf seine Kritiker: innen <?page no="220"?> 586 Karl R. Popper, Logik der Forschung [1936], Tübingen 2005, S.-17. 587 Siehe dazu: McLuhan/ McLuhan, Laws of Media, S. viii und 8. 588 Siehe dazu bspw.: ebd., S.-7. 589 Da McLuhan einen sehr weiten Medienbegriff hat, beziehen sich die Gesetze auf sehr viele Phänomene. So heißt es in L A W S O F M E D I A : Die Gesetze handeln „about any human artefact“ (ebd.). Genau genommen beanspruchen die ‚Gesetze der Medien‘ Gültigkeit auch darüber hinaus. Das ist deutlich zu erkennen, wenn im hinteren Teil des Buches Beispiele angeführt werden, auf die die Gesetze anzuwenden sind. Dort findet man und zwar, nachdem er den eingangs erwähnten Blick in Poppers Buch O B J E C TIV E K NOWL E DG E geworfen hatte. Popper buchstabiert in diesem Buch weiter aus, was er in seinem bereits 1935 zum ersten Mal veröffentlichten erkenntnistheoretischen Hauptwerk L O GIK D E R F O R S CHUN G vorgestellt hatte. Dort formuliert der Wissenschaftstheoretiker eine Minimalanforderung an eine wissenschaftliche Aussage: Sie „muß an der Erfahrung scheitern kön‐ nen.“ 586 D.h.: Eine Aussage kann nur genau dann als eine wissenschaftliche gelten, wenn sie falsifizierbar, also widerlegbar ist. Sollte eine Aussage (prinzipiell) nicht widerlegbar sein, so handelt es sich Popper zufolge nicht um eine wissenschaftliche Aussage, sondern um Meinung, Ideologie oder schlicht um Aberglaube. McLuhan war nach der Lektüre Poppers genau darauf aus: Er wollte etwas formulieren, das er - seinen Kritiker: innen zufolge - bis dato nicht fertiggebracht hatte, eben keine bloße Meinung zu äußern, keine Ideologie zu verbreiten oder keinem Aberglauben anzuhängen. Nunmehr sollten es endlich einmal valide wissenschaftliche Aussagen sein, die sich prinzipiell falsifizieren lassen - und eben so lange als wahr gelten, wie sie faktisch noch nicht falsifiziert sind. 587 Demgemäß entwarf McLuhan ‚vier Gesetze‘: 1. Gesetz: Jedes Medium erweitert bzw. verstärkt bestimmte vorhergehende Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Erkenntnistendenzen. 2. Gesetz: Jedes Medium veraltet bzw. ersetzt bestimmte vorhergehende Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Erkenntnistendenzen. 3. Gesetz: Jedes Medium belebt bestimmte (zuvor obsolet gewordene) Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Erkenntnistendenzen wieder. 4. Gesetz: Jedes Medium verkehrt (ab einem bestimmten Zeitpunkt) seine Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Kommunikationstendenzen ins Gegen‐ teil. 588 Diese Gesetze sollen auf alle Medien anwendbar sein. 589 McLuhan forderte in einem Artikel, der unter dem Titel M C L UHAN ’ S L AW S O F TH E M E DIA 1975 220 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="221"?> nicht nur „TV“ (ebd., S. 158f.) oder „Computer“ (ebd., S. 160f.), sondern auch „Crowd“ (ebd., S.-131) oder „Jungle“ (ebd., S.-192f.). 590 Marshall McLuhan, McLuhan’s Laws of Media, in: Technology and Culture 1 (1975), S.-74-78. 591 Marchand, McLuhan, S.-346. erschien, die science community explizit auf ‚seine‘ Gesetze genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Forscher: innen der Welt sollten den Versuch unternehmen, McLuhans Gesetze - im Sinne Poppers - zu falsifizieren. 590 [E]r wartete hoffnungsvoll auf Bataillone wissenschaftlich denkender Kritiker, die entweder versuchen würden, seine Festung zu stürmen, oder die im Gegenteil bereit waren anzuerkennen, daß er tatsächlich nicht der intellektuelle Kaspar war, zu dem sie ihn gemacht hatten. […] Aber leider war die einzige Reaktion ein langer unzusammenhängender Brief von einem gewissen William Henry Venable, der sich als ‚Ingenieur und praktizierender Rechtsanwalt‘ vorstellte […]. 591 Dass McLuhans Hoffnung enttäuscht wurde und dass das Desinteresse an seinen Gesetzen auch nach dem posthum veröffentlichten Buch L AW S O F M E DIA . T H E N EW S CI E N C E kaum abnahm, liegt aber wohl weniger an der tat‐ sächlichen Gültigkeit der Gesetze. Die ‚Bataillone an Wissenschaftler: innen‘ schweigen bis heute. Nicht weil sie es nicht geschafft haben, die Gesetze zu falsifizieren. Sehr viel plausibler ist dieses Desinteresse damit zu erklären, dass die Gesetze viel zu unbestimmt und ausgreifend formuliert sind, um überhaupt als falsifizierbar gelten zu können. Dass die ‚Gesetze‘ keine wissenschaftlichen Aussagen im Sinne Poppers sind, ist schnell zu zeigen. Diese vier Gesetze lassen sich relativ einfach in vier Fragen reformulieren: (1) Was hat Medium X verstärkt? (2) Was ließ Medium X veralten? (3) Welche Prozesse hat Medium X wiederbelebt? (4) In was hat sich Medium X im Laufe der Entwicklung umgekehrt? Das Problem ist: Auf diese sehr allgemeinen Fragen lassen sich immer Antworten finden und für jedes Medium lassen sich immer diese vier Tendenzen ausfindig ma‐ chen, einfach weil sie so unspezifisch sind und alles umfassen. Die ‚Gesetze‘ können so schlecht scheitern und sind deshalb auch nicht falsifizierbar. ‚The New Science‘, die durch die ‚Laws of Media‘ begründet werden soll, wäre so gesehen nicht eine neue Wissenschaft, sondern wahlweise überhaupt keine Wissenschaft (sollte man tatsächlich Poppers rigides Axiom anlegen wollen) oder aber verbunden mit einer falschen Vorstellung davon, wie geistes- und 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören 221 <?page no="222"?> 592 Dass das Falsifikationskriterium insbesondere für kulturbzw. geisteswissenschaftliche Forschung (und damit auch für den Großteil medienwissenschaftlicher Arbeiten) gilt, lässt sich nämlich mit guten Gründen bezweifeln. Überhaupt lässt sich bezweifeln, ob theoretische Grundannahmen prinzipiell falsifizierbar sind und nicht vielmehr brauch‐ bar oder unbrauchbar, plausibel oder unplausibel, als neuartig oder veraltet gelten und die theoretische Perspektive immer schon darüber entscheidet, was überhaupt wie beobachtet werden kann, was nicht, was falsifizierbar ist, was nicht. Siehe zum Falsifika‐ tionismus knapp: Hans Posner, Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2012, S. 126ff., zur Hermeneutik als genuin geisteswissenschaftlichem Zugang: ebd., S.-217ff. 593 Siehe dazu bspw. die Antworten auf die Relevanz von McLuhan ‚heute‘ in: Bexte/ Leeker (Hg.), Ein Medium namens McLuhan. Dort wird diese Relevanz größtenteils eher gering eingeschätzt. 594 Siehe dazu → 4. Lesart: Pragmatismus. kulturwissenschaftliche Forschung funktioniert und was sie leistet. 592 Für beiden Interpretationsvarianten gilt jedenfalls, dass sich McLuhan mit der Wendung zu diesen Gesetzen nicht wissenschaftlich ‚satisfaktionsfähiger‘ gemacht hat, eher im Gegenteil. Warum McLuhan kritisieren? McLuhan musste im Lauf seiner Karriere viel Kritik einstecken. Das änderte sich auch nicht nach seinem Tod. Den Thesen, Bonmots und Phrasen McLuhans begegnen bis dato viele Forscher: innen skeptisch, wenn sie denn überhaupt noch auf McLuhan eingehen. 593 Einige wichtige Kritikpunkte sollen in folgender Lesart vorgestellt und plausibel gemacht werden. Das scheint mir durchaus lohnenswert. Denn trotz der häufig geäußerten Skep‐ sis bzw. der Ignoranz gegenüber McLuhans Ideen ist es erstaunlich, wie populär McLuhans Ideen dennoch in gewissen Kreisen der Kultur- und Medienwissenschaften immer noch bzw. wieder sind. Diese Beobachtung könnte dann entweder zu einer Untersuchung der Rezeptionsgeschichte bzw. der produktiven Aneignungen von McLuhan führen 594 oder aber zu einer Versammlung zentraler kritischer Argumente, die man gegen McLu‐ hans Verlautbarungen (erneut) vorbringen sollte. Letzterer Weg soll hier eingeschlagen werden, erstens deshalb, weil McLuhans Texte aufgrund ihrer vielen Widersprüche, Inkohärenzen und unangemessenen Verallgemeinerungen wunderbar geeignet sind, generell ins kritische Lesen einzuführen. Zweitens ist aus Anlass der Wiederentde‐ ckung McLuhans als vermeintlich wegweisender Autor der digitalen Kultur des 21. Jahrhundert, wie es in einigen jüngeren Publikationen nachzulesen 222 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="223"?> 595 Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Levinson, Digital McLuhan; Heilmann, Digitalität als Taktilität; Birkle u.-a. (Hg.), McLuhan’s Global Village Today. ist, 595 geboten, noch einmal deutlich zu zeigen, wie verquer McLuhans Argumentationen eigentlich sind und der kanadische Medienforscher alles andere als ein Wegweiser für zukünftige Forschung sein kann. Moderater formuliert: Es ist wichtig, sich klar zu machen, welche Probleme zuerst zu lösen wären, um McLuhans Ideen und Thesen guten Gewissens als Grundlage für eine erkenntniserweiternde Beschäftigung mit medialen Phänomene zu wählen. Über die reine Kritik an McLuhans Positionen hinaus soll drittens der Mehrwert der kritischen Beschäftigung mit McLuhan darin bestehen, unterschiedliche Arten von Kritik vorzustellen. Zu zeigen ist, dass Kritik nicht gleich Kritik ist, sehr unterschiedliche Ziele haben kann und auch Unterschiedliches zu kritisieren erlaubt. Arten der Kritik Zwei Grundarten von Kritik möchte ich unterscheiden: zum einen objekto‐ rientierte Formen und zum anderen strukturelle. ‚Objektorientierte Kritik‘ bedeutet schlicht, einen Text, eine Argumentation, eine These oder eine Beschreibung aufgrund von offensichtlichen Ungereimtheiten, fahrlässigen Verkürzungen und sachlichen Fehlern zu kritisieren. Die Behauptung ist kaum übertrieben, dass sich solche ‚einfachen‘ Ungereimtheiten, Verkür‐ zungen und Fehler auf Objektebene in McLuhans Texten auf nahezu jeder Seite seines Werks finden. ‚Strukturelle Formen‘ der Kritik sind solche, die sich eher mit den subtilen, nicht sofort ins Auge springenden, strukturellen Problemen eines Ansatzes, eines Textes oder einer These beschäftigen, also über die Kritik einzelner Phänomenbeschreibungen hinausgehen und diese Probleme unter einem bestimmten Gesichtspunkt herausarbeiten. So ist es bspw. der Ideologiekritik daran gelegen, die strukturelle Verschleierungen und Täuschungen über tatsächliche gesellschaftliche Verhältnisse in Wer‐ bung, Film, Literatur oder (vermeintlicher) Wissenschaft aufzudecken. Eine dekonstruktive Kritik operiert hingegen primär textimmanent. Es geht dann nicht um gesellschaftliche Realitäten, die ein Text strukturell verschleiert (oder nicht), sondern primär um die Aufdeckung seiner Konstruktionsme‐ chanismen: die Art wie der Text Wahrheiten proklamiert, Gewissheiten als selbstverständlich voraussetzt und sich dabei in Widersprüche verstrickt. 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören 223 <?page no="224"?> 596 Bspw. wäre hier die kritische Perspektive der Cultural Studies zu nennen. Einzelne Vertreter der Cultural Studies haben sich dementsprechend kritisch mit McLuhan auseinandergesetzt, siehe bspw. Raymond Williams, A Structure of Insights [Rezension zu Marshall McLuhans D I E G U T E N B E R G -G A L A X I S ], in: University of Toronto Quarterly 33/ 3 (1964), S. 338-340. Für eine semiotisch inspirierte Kritik an McLuhan siehe: Eco, Vom Cogitus Interruptus. 597 Siehe als ein Beispiel unter vielen McLuhans Anspruch, die gesamte Philosophiege‐ schichte ‚neu‘ zu schreiben (siehe ausführlicher dazu → 2. Lesart: Hermeneutik, These 2). Obwohl es sehr viele, sehr elaborierte kritische Positionen in kultur- und medienwissenschaftlichen Gefilden gibt, möchte ich mich neben der Darstellung der objektorientierten Kritik in diesem Kapitel auf Ideologiekri‐ tik und die Dekonstruktion als strukturelle Kritikformen beschränken. 596 Diese Beschränkung hat mindestens zwei Gründe: Erstens sind beide sehr prominente Kritikverfahren, die bis dato in und für die Geistes- und Kul‐ turwissenschaften eine wichtige Rolle spielen (oder doch zumindest lange Zeit spielten). Zweitens sind es Verfahren, die trotz gewisser Ähnlichkeiten erheblich voneinander abweichen. So lässt sich exemplarisch nicht nur zeigen, was an McLuhan strukturell zu kritisieren ist, sondern auch wie unterschiedlich die Fragehorizonte und Ziele solcher kritischer Arbeiten aussehen können. 3.1 Objektkritik Zunächst soll es indes um objektorientierte Aspekte der Kritik gehen, also um Beschreibungen offensichtlicher Ungereimtheiten, Lücken, Fehler, prob‐ lematischen Gegenstandbestimmungen. Herausgegriffen habe ich zwölf solcher Probleme, die ich im Folgenden im Einzelnen kurz erläutern will, um einsichtig zu machen, wie facettenreich und prinzipiell bereits die Probleme sind, die in McLuhans Texten auf Objektebene auszumachen sind. (1) Das Problem sachlicher Fehler Nichts spricht gegen große Entwürfe. Das McLuhan ein Faible für große Entwürfe hatte, steht wohl außer Zweifel. 597 Details müssen aus solch einer Perspektive auch kaum interessieren. Dennoch besteht ein Unterschied da‐ rin, sich für Details nicht zu interessieren oder diese falsch wiederzugeben. 224 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="225"?> 598 McLuhan, Innere Landschaft, S.-13. 599 Auf diesen Fehler verweist: Peter Bexte, Cadillac und Gebetsmatte. McLuhans TV-Ge‐ mälde, in: Kerckhove u. a. (Hg.), McLuhan neu lesen, 323-337, hier: S. 328. Inzwischen kursiert sogar der Begriff Semmelweis-Reflex. Er bezeichnet eine reflexartige Ableh‐ nung neuer Erkenntnisse in Wissenschaft und medizinischer Praxis. Siehe dazu: Vipin K. Gupta u. a., Semmelweis Reflex: An Age-Old Prejudice, in: World Neurosurgery 136 (2020), S.-119-225. doi: 10.1016/ j.wneu.2019.12.012. 600 Der Mann heißt mit Vornamen richtigerweise Eadweard. (Dieser Fehler findet sich auch im Original: McLuhan, Understanding Media, S.-182.) 601 McLuhan, Magische Kanäle, S.-279. 602 Siehe dazu bspw. ausführlicher: Paul Hill, Eadweard Muybridge, Berlin 2001, v.a.: S. 9ff. Solche sachlichen Fehler gibt es bei McLuhan en masse. Nur drei Beispiele seien angeführt: McLuhan schreibt im Vorwort zu der Essaysammlung D I E INN E R E L AND ‐ S CHA F T : „Man entließ Louis Pasteur aus dem Arztberuf, weil er darauf bestand, daß der Arzt vor der Operation seine Hände wäscht.“ 598 Hier verwechselt McLuhan Pasteur mit dem ungarischen Arzt Ignaz Philipp Sem‐ melweis, der sich zeitlebens unermüdlich für rigide Hygienevorschriften einsetzte und eben deshalb entlassen wurde. 599 Über Pasteur ist hingegen nichts dergleichen überliefert. Zweites Beispiel: In D I E MAGI S CHE N K ANÄL E kommt McLuhan auf die Entstehung der Kinematografie zu sprechen, die bis heute als eine Ur‐ sprungserzählung des Films fungiert: Der Fotograf Eadweard Muybridge wurde von Leland Stanford 1872 engagiert, um herauszufinden, ob ein galoppierendes Pferd alle vier Füße gleichzeitig von der Erde hebt oder eben nicht. McLuhan beschreibt diese historische Episode wie folgt: „Diese Wette wurde zwischen dem Pionier der Fotografie Edward [sic! 600 ] Muybridge und dem Pferdebesitzer Leland Stanfort 1889 abgeschlossen.“ 601 So wird in McLuhans Version aus dem tatsächlichen Auftrag an Muybridge eine Wette zwischen diesem und Stanford. Diese Wette wird außerdem auf das Jahr 1889 verlegt (der Auftrag erfolgte indes bereits 1872). 602 Historische Sachverhalte werden also modifiziert bzw. falsch wiedergegeben. Ein drittes Beispiel liefert McLuhans Übersetzungskunst. Bei der Ana‐ lyse einer Volkswagen-Werbung versteigt sich der kanadische Interpret zu wilden Assoziationen über den Zusammenhang zwischen einer Auto‐ mobilmarke und den vermeintlich wolkenverhangenen Träumen einer Volksgemeinschaft, die er in der Werbung konnotiert wissen will. Als Beleg für diesen Konnex schreibt er: „By the way, ‚volk‘ is German for ‚cloud‘. The 3.1 Objektkritik 225 <?page no="226"?> 603 Marshall McLuhan, Culture is our Buisness, New York 1970, S. 32. Auf diesen Fehler macht aufmerksam: Maria Klaner, Medien und Kulturgesellschaft. Ansätze zu einer Kulturtheorie nach Marshall McLuhan, München 1989, S.-82. 604 Siehe zur Interpretation der ‚Muybridge-Stanford-Wette‘ als eine Pointierungsstrategie → 1. Lesart: Rhetorik. 605 Siehe bspw. die Ausführungen bereits in: Miller, McLuhan, S.-41f. ‚folk‘ indicates a corporate tribial dream.“ 603 Wer ‚Volk‘ als ‚Wolke‘ versteht, bei dem kann es mit der philologischen Übersetzungskompetenz nicht allzu weit her sein. Ob die angeführten Fehler McLuhans Nachlässigkeit bei der Überprü‐ fung historischer Sachverhalte und Quellen geschuldet sind, es McLuhan einfach an philologischer Akribie mangelte oder doch eher seinem Hang zur dramatischen Pointierung zugeschrieben werden sollte, ist in diesem Zusammenhang irrelevant. 604 Von Interesse ist vielmehr, dass McLuhan Sachverhalte falsch beschreibt oder doch zumindest ignoriert. Zwar wurden nur kleine Fehler angeführt, jedoch sind diese erstens exemplarisch, viele weitere wären anzuführen. 605 Zweitens liegt damit die Vermutung nicht fern, dass jemand, der so mutwillig historische und philologische Details ignoriert, ja falsch wiedergibt, eben auch ganz generell für seine großen Entwürfe passend machen könnte, was nicht passt. (2) Das Problem unscharfer Begriffe Wissenschaftstheoretisch gesehen gibt es aber noch ein weitaus größeres Problem: McLuhan ist eher lax bei der Bestimmung seiner Basisbegriffe. So gibt er kaum einmal eine präzise Definition und wenn doch, dann ist die Bestimmung meist weit angelegt. ‚Weit‘ meint in diesem Zusammenhang: Der Gegenstand wird so allgemein bestimmt, dass er jede analytische Trennschärfe wie auch jede analytische Operationalisierbarkeit verliert. Deutlich wird das, wenn man sich McLuhans Basisbegriff schlechthin zuw‐ endet, nämlich ‚Medien‘. Als Medien bestimmt McLuhan zunächst einmal all das, was als Körperausweitung des Menschen gelten kann. Schon dadurch eröffnet sich ein sehr weites Feld: Von Zahl und Schrift über Hammer, Rad zu Buchdruck, über Straße, Haus, Stadt, Geld zu Elektrizität, Fernsehen, Flugzeug und Computer. Erhebliche Schwierigkeiten gehen damit einher: Erstens sind hier extrem heterogene Phänomene, bspw. Werkzeuge, In‐ strumente, Transport- und Kommunikationsmittel, versammelt, ohne dass deutlich gemacht wird, was deren materielle, strukturelle oder funktionale 226 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="227"?> 606 Siehe zu dieser Kritik bereits: Eco, Vom Cogito interruptus. 607 Siehe dazu auch bspw.: Bernhard Vieff, Zur Inflation der Igel - Versuch über die Medien, in: Kerckhove u.-a. (Hg.), McLuhan neu lesen, S.-213-232, hier: S.-214f. 608 McLuhan, Magische Kanäle, S.-509. 609 Ebd., S.-356. 610 „Spiele sind wie Institutionen Ausweitungen des sozialen Menschen und der organis‐ ierten Gesellschaft, wie Techniken Ausweitungen des animalischen Organismus sind.“ (Ebd., S.-357; Hervorhebungen von mir [SG]) Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind, jenseits dessen, dass sie eben alle als Körperausweitungen gelten können. Zweitens wird in dieser Medienbestimmung, selbst dann, wenn man sich nur auf Kommunikationsmedien wie Film oder Fernsehen konzentriert, nicht einmal zwischen Kanal und Code unterschieden. Das ist insofern misslich, als es doch einen erheblichen Unterschied macht, ob man bspw. das Fernsehen unter dem Aspekt seiner Kanalstruktur betrachtet, in der Ort A mit beliebig vielen Orten B verbunden werden kann (also eine Sendeinstanz mit seinen Empfänger: innen) oder hinsichtlich seines Codes, also in welcher Art und Weise das Programm organisiert wird und auf den Bildschirmen erscheint. 606 Oder anders formuliert: Bei McLuhans Me‐ dienbegriff gibt es keinen Unterschied zwischen Informationsverarbeitung (Code) und Energiebzw. Datentransport (Kanal), obwohl es sich doch bei diesen Facetten eines Mediums um kategorial getrennte und in der Analyse zu unterscheidende Phänomene handelt. 607 Drittens ist der Medienbegriff nahezu ins Unkenntliche ausgeweitet. Denn jedes technische Artefakt ist Gegenstand McLuhan’scher Medienwis‐ senschaft, egal ob Fernseher oder Waschmaschine. Wenn man sich dann noch vor Augen führt, dass nach McLuhan auch kulturelle Praktiken, wie „Krieg“, 608 „Sport und Spiel“ 609 Medien sind und darüber hinaus ebenfalls alle Arten von Institutionen Medien sein sollen, 610 dann hat der Begriff ‚Medien‘ jegliche Trennschärfe verloren. Wenn alles ein Medium ist, heißt das auch, dass nichts Spezifisches mehr ein Medium ist. Alles ist dann irgendwie medial, alles wird in einer medialen Wolke der Indifferenz aufgelöst. So ausgeweitet ist der Begriff nicht mehr sinnvoll zu operationalisieren. (3) Das Problem metaphorischer Beschreibungen McLuhan brachte die Lektoren seiner Bücher immer wieder zur Verzweif‐ lung. In der Korrespondent zwischen dem Verlag und McLuhan im Vorfeld 3.1 Objektkritik 227 <?page no="228"?> 611 Zitiert nach Mangold/ Sprenger, Einleitung, S.-11. 612 Siehe ebd. 613 Siehe bspw. McLuhan, Magische Kanäle, S.-38. 614 Siehe bspw. ebd., S.-44ff. 615 Siehe bspw. ebd., 15ff. 616 Siehe bspw. McLuhan, Understanding Media. Second Edition, S.-18f. 617 Siehe bspw. McLuhan, Das Medium ist Massage. 618 Siehe McLuhan, Understanding Media, S.-97. 619 Siehe als Überblick zu diversen Theorieverständnissen: Christian Thiel, Theorie, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 8, Stuttgart 2 2018, S.-20-28. der Veröffentlichung von U ND E R S TANDIN G M E DIA ist nachzulesen, dass das Lektorat McLuhan drängte, doch endlich einmal ohne „metaphors“ 611 zu formulieren, was denn das Medium eigentlich ist. 612 Eine Bitte, die nachvoll‐ ziehbar erscheint, insbesondere da es - wie es ja im Titel des Buches explizit formuliert ist -, darum gehen sollte, Medien zu verstehen. McLuhan ließ sich augenscheinlich nicht darauf ein. Lieber verglich er die Wirkung des Medium mit einem verführerischen Stück Fleisch, das ein Verbrecher für den Haushund mitbringt, 613 umschreibt Medien als magischen Kanäle, als heiß oder kalt, 614 analogisiert Körperfunktionen und Sinnesorgane mit Medien, 615 behauptet, dass Medien uns wie Umwelten umschließen 616 oder wahlweise massieren. 617 Überall finden sich also Metaphern, statt Definitionen. Und selbst die Metapher wird in U ND E R S TANDIN G M E DIA zur Metapher für Medien, wenn McLuhan behauptet, Medien funktionieren für unsere Wahrnehmung der Welt wie Metaphern. 618 An solch einem uneigentlichen Sprechen voller Anspielungen, das seinen Gegenstand assoziativreich umkreist, aber nie ge‐ nauer bestimmt, ist zumindest problematisch, dass der zentrale Gegenstand notwendigerweise unscharf bleiben muss. Zur theoretische Grundlegung einer dezidiert medienwissenschaftlicher Forschung ist solch ein Vorgehen nicht gerade hilfreich. Das ist es zumindest dann nicht, wenn man von solch einer Grundlegung erwartet, dass dabei die zentralen Merkmale des Forschungsgegenstandes möglichst präzise bestimmt, universelle Merkmale und Strukturen von Medien systematisch und argumentativ nachvollziehbar herausgearbeitet werden. 619 (4) Das Problem der Zirkularität Und wenn es mal doch weniger metaphorisch zugeht bei McLuhan, dann finden sich Bestimmungen wie folgenden: „[D]er Inhalt eines Mediums 228 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="229"?> 620 McLuhan, Magische Kanäle, S.-22. 621 Ebd., S.-50. 622 Ebd., S.-23. 623 Siehe bspw. ebd., S.-21, 23, 50 624 Siehe dazu Jonas Pfister, Werkzeuge des Philosophierens, Stuttgart 2013, S. 42f. Als Terminus technicus wird der Zirkelschluss auch als Petito principii bezeichnet. Pfister fasst die Grundstruktur dieses Schluss prägnant zusammen: „Ein Petito principii ist ein Argument, das die Konklusion explizit oder implizit als Prämisse verwendet.“ (Ebd., S. 42) Die Kritik, dass McLuhans Medienbestimmung einem Zirkelschlusses anheimfällt, findet sich bspw. in: Mersch, Medientheorien, S.-118 625 Zur Bestimmung einer Tautologie siehe knapp: Pfister, Werkzeuge des Philosophierens, S.-154. [ist] immer ein anderes Medium“. 620 „[K]ein Medium [hat] Sinn oder Sein aus sich allein […], sondern nur aus der ständigen Wechselwirkung mit anderen Medien.“ 621 Oder auch: Ein Medium lässt sich bestimmen als etwas, dass die Veränderung des Maßstabs, Tempos, Schemas „menschlichen Zu‐ sammenlebens gestaltet und steuert.“ 622 Auf die Frage, wodurch das Medium denn das menschliche Zusammenleben gestaltet und steuert, erfährt man von McLuhan immer wieder in Varianten nicht viel mehr, als dass dies im Abgleich mit anderen Medien und aufgrund der jeweiligen medialen Eigenschaften geschieht. 623 Auffällig an diesen Bestimmungen ist, dass das, was es zu definieren gilt (‚Medium‘), in der Erläuterungen selbst wieder auftaucht. Das explanandum - das zu Erklärende - und das explanans - die Erklärung - sind somit zirkulär verbunden. Für die Erklärung wird das zu Erklärende herangezogen. Damit ist eben nichts erklärt, sondern eigentlich das Zu-Erklärende nur noch mal (in Varianten und mehr oder minder verklausuliert) wiederholt. Man befindet sich damit in der Situation einer zirkulären Erklärung. 624 Das wiederum lässt sich in einer Tautologie zuspitzen: 625 Auf die Frage ‚Was ist ein Medium? ‘ gibt McLuhan letztlich immer wieder die Antwort: ‚Ein Medium halt‘. Ein Medium ist also ein Medium. Das ist zwar in allen möglichen Welten wahr, hat aber dafür den Nachteil, keinerlei Informationswert über den Gegenstand, der erklärt werden soll, zu liefern. (5) Das Problem des infiniten Regresses McLuhan formuliert häufig, dass Medien nur vor dem Hintergrund anderer Medien Sinn und Sein haben, Form und Wirkung entfalten. Damit ist das Problem der Bestimmung dessen, was Medien sind, aber nur verschoben. 3.1 Objektkritik 229 <?page no="230"?> 626 Siehe zu dieser Kritik bspw. Mersch, Medientheorien, S.-118 627 Christian Thiel, regressus ad infinitum, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd.-7, Stuttgart 2018, S.-46-47, hier: S.-46. 628 Zur Bestimmung des infiniten Regresses siehe: Pfister, Werkzeuge, S.-95ff. 629 Siehe dazu knapp auch: Sprenger, Medien der Immediaten, S.-391. Denn: Auf die Frage, was ein Medium ist, wird geantwortet, dass es nur vor dem Hintergrund eines anderen Mediums zu verstehen ist. Und auch dieses Medium kann wiederum nur vor dem Hintergrund eines weiteren Mediums verstanden werden usf. bis ins Unendliche. Damit wird die Bestimmung dessen, was ein Medium ist bzw. was Medien ausmachen, immer weiter aufgeschoben. 626 Die Aussage über ein Medium wird begründet durch den Verweis auf eine weitere Aussage (über ein Medium), die wiederum begründet wird durch den Verweis auf eine weitere Aussage (über ein Medium) usf. Statt zu bestimmen, was ein Medium ist, verliert sich die Begründung im „endlose[n] Rückgang in einer unendlichen Reihe“, 627 bleibt also in einem infiniten Regress befangen. 628 (6) Das Problem der Unbeobachtbarkeit Das lässt sich auch noch einmal anders wenden: McLuhan geht davon aus, dass ein Medium den Hintergrund darstellt, vor dem sich zuallererst bestimmte Wirkungen entfalten. Da dabei, wie McLuhan nicht müde wird zu betonen, das Medium selbst unbeobachtbar bleibt, ja bleiben muss, wird die Frage virulent, wie das Medium überhaupt zu beobachten sein sollte. Ja man könnte noch skeptischer fragen: Woher kann ich überhaupt von dem Medium irgendetwas wissen, selbst, dass es unbeobachtbar ist? Eine komparatistische oder historische Wendung des Arguments hilft hier nicht wirklich weiter: Sollte es zutreffen, dass Medien nur im Verhältnis zu anderen Medien und/ oder vor deren Hintergrund beobachtbar werden können, dann ist zumindest eines der Medien immer noch unbeobachtbar. Denn eines muss ja den Hintergrund bilden für das andere Medium, das erst vor diesem Hintergrund Form gewinnen kann, also beobachtbar wird. Von dieser Form lässt sich aber nicht auf die Eigenschaften des Hintergrundme‐ diums schließen, weil ja unklar bleiben muss, in welchem Verhältnis dieses Medium genau zu dem anderen Medium steht bzw. in welcher Differenz die beiden Medien stehen. Der mediale Hintergrund entzieht sich konstitutiv nicht nur der Beobachtbarkeit, sondern ebenso der Bestimmbarkeit. 629 Das Medium wird so zu einem ominösen Ding-an-sich, das sich für immer 230 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="231"?> 630 Siehe dazu bspw.: ebd., S. 417. Ausführlicher dazu bereits → 1. Lesart: Rhetorik, Kap. „Moderate Lesart der Medienreflexion“. entzieht und aus einem unbestimmbaren und unbeobachtbaren Jenseits wirkt. Als Zwischenfazit lässt sich formulieren: Der zentrale Objektbereich, nämlich Medien, bleibt bei McLuhan wahlweise metaphorisch unscharf, dehnt sich bis zur Unkenntlichkeit aus, wird zirkulär bestimmt, zur Tauto‐ logie, unendlich verschoben oder gleich im Jenseits der Beobachtbarkeit situiert. Das scheint doch eine recht dichte Ansammlung von erheblichen ar‐ gumentationslogischen Problemen, die sich nicht so leicht beiseiteschieben lassen. Das wiegt deshalb so schwer, weil eine Wissenschaft von den Medien, die sich auf McLuhan berufen möchte, buchstäblich grundlos bleibt. Die grundlegende Kategorie bleibt unbestimmt, ja muss unbestimmbar bleiben. Medienwissenschaft wäre so nur noch schwer von Mystik zu unterscheiden. (7) Das Problem der Materialität Zwar schreibt McLuhan viel über Medientechnologien, deren Auswirkun‐ gen auf Wahrnehmung, ihre gesellschaftsverändernde Macht, aber für die konkrete Materialität dieser Medien interessiert er sich wenig bis gar nicht. Er macht keinen Unterschied zwischen elektrischen, elektronischen oder elektromagnetischen Prozessen. 630 Ob ein Telegrafenkabel aus Kupfer besteht oder aus Glasfaser, ob es sich um ein Tiefseekabel oder eine Über‐ landleitung handelt, ist ebenso irrelevant wie der Unterschied zwischen analogen Verarbeitungsprozessen von Licht (etwa im Bildröhrenfernsehen) und digitaler Transformation von Licht mittels einer binären Codierung (etwa im Computer). Wichtig ist der Hinweis auf materielle Aspekte und ihre Differenzen, weil daran zu zeigen ist, dass McLuhan Thesen formuliert, die bereits mit einem kurzen Blick auf die jeweiligen materiellen Umstände 3.1 Objektkritik 231 <?page no="232"?> 631 Solch eine Kritik lässt sich generalisieren: Wenn Medienwissenschaft sich auf McLuhan als ihren ‚Gründungsvater‘ beziehen will (siehe bspw. Hörisch, Eine Geschichte der Medien, S. 71f.; Leschke, Einführung in die Medientheorie, S. 245f.), ist sie schlecht beraten, McLuhans Blindheit für die Materialität zu folgen. Denn Medienwissenschaft sollte es doch vor allem, gemäß McLuhans eigenem Diktum vom Medium, das die Botschaft ist, darum gehen, das Medium ‚wirklich‘ ernst zu nehmen. Und was immer auch ein Medium sein mag, so ist doch ganz sicher ein entscheidender Aspekt die jeweilige materielle Erscheinungsform eines Mediums. Dafür blind zu sein (bzw. zu bleiben) würde die Legitimität eines Faches mit dem Titel Medienwissenschaft diskreditieren. Siehe zur Diskussion der Relevanz und Erforschbarkeit der Materialität in der Kulturwissenschaft bzw. der sich gerade im deutschsprachigen Raum konstitu‐ ierenden Medienwissenschaft bereits: Hans Ulrich Gumbrecht/ K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt am Main 1988. Vorschläge, die Relevanz der Materialität theoretisch noch prinzipieller zu fassen, siehe überblickshaft: Katharina Hoppe/ Thomas Lemke, Neue Materialismen zur Einführung, Hamburg 2021. 632 Zur Charakterisierung dieses Zeitalters wählt McLuhan explizit den Begriff ‚instantan‘, bspw. McLuhan, Magische Kanäle, S. 213f. Im englischsprachigen Original kommt er noch sehr viel häufiger vor (in der deutschsprachigen Übersetzung wird ‚instantan‘ meist mit ‚augenblickhaft‘ oder ‚unmittelbar‘ o.ä. übersetzt): McLuhan, Understanding Media, S. 172, 346, 349. Zum Verständnis von McLuhans Unmittelbarkeit durch Medien siehe ausführlich: Sprenger, Medien des Immediaten, S. 349ff., kritisch zu McLuhans Unmittelbarkeitsversprechen siehe: ebd., S.-469ff. 633 Siehe zu dieser Kritik an McLuhan knapp: Martina Leeker, Understanding Media heute: McLuhans techno-ökologische Renaissance, in: Heilmann/ Schröter (Hg.), Medien ver‐ stehen, S.-115-148, hier: S.-118f. der Gegenstände, über die er seine Thesen formuliert, schnell unplausibel sind, ja sich empirisch falsifizieren lassen. 631 Die Materialitätsvergessenheit McLuhans soll an zwei knapp skizzierten Beispielen illustriert werden. McLuhan geht davon aus, dass wir ‚nunmehr‘, dank elektrischer Medien wie dem Fernsehen, in einem globalen Dorf leben. Denn Informationen sind dadurch simultan und instantan, also ohne Zeitverzögerung, überall zugänglich. 632 Das Problem ist: Jede Übertragung braucht in allen möglichen Fällen Zeit, egal wie minimal dieses Übertra‐ gungszeit auch sein mag und/ oder ob die Übertragungsgeschwindigkeit unsere Wahrnehmbarkeit unterschreitet und so die Übertragung als ‚Gleich‐ zeitigkeit‘ erscheint. Instantanität kann es so prinzipiell, aufgrund der ma‐ teriellen Grundlagen unsere Welt und Medientechnologien, nicht geben. 633 Noch wichtiger ist der Unterschied, in welcher Weise die Signale von a nach b übertragen werden, ob durch Kupferkabel, mittels Glasfasern, per Funk oder Laser, von wo nach wo die Datenströme laufen, in welchem infrastruk‐ turellen Kontext, um Vernetzungen und den Eindruck von Unmittelbarkeit 232 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="233"?> 634 Siehe dazu ausführlicher: Daniel Gethmann/ Florian Sprenger, Die Enden des Kabels. Kleine Mediengeschichte der Übertragung, Berlin 2014. 635 Dirk Baecker, 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt, Leipzig 2018, S.-18. 636 Siehe McLuhan, Magische Kanäle, S. 127 oder auch - fast wortidentisch in: McLuhan, Geschlechtsorgane der Maschinen, S.-43. 637 Ralf Adelmann, Computer als Bildmedium, in: Jens Schröter (Hg.), Handbuch Medien‐ wissenschaft, Stuttgart 2014, S.-322-328, hier: S.-323. herzustellen sowie aufrechtzuerhalten. 634 Je nachdem sind Übertragungsge‐ schwindigkeit, Datendichte, Arbeitsaufwand und Störanfälligkeiten andere. Für McLuhans ‚elektrisches Zeitalter‘ gilt: „Noch nie war mehr Mittelbarkeit im scheinbar Unmittelbaren.“ 635 Nur in idealistischen Gedankenkonstrukten ist die instantane Übertragung möglich und auch nur dort, kann es sein, dass die diversen Materialitäten ‚instantaner‘ Übertragungsmedien irrelevant werden. Zweites Beispiel: McLuhan macht keinen Unterschied zwischen der Verbreitung und Verarbeitung von Signalen bei analogen Technologien, wie etwa dem Röhrenfernsehen, oder digitalen, wie bspw. beim Compu‐ ter. Beide, so sein Argument, übertragen Signale ohne Codierung durch Worte oder Zahlen. 636 McLuhan übersieht hier eine entscheidende Differenz: „Während analoge Bildmedien das Aufgenommene in andere ‚ähnliche‘ Quantitäten transferieren (also z. B. Helligkeitsschwankungen in ähnliche Stromschwankungen beim Aufzeichnungsverfahren von analogem Video [oder Fernsehkameras]), verwandelt der Computer […] die gewonnenen Daten in reine Abstraktion, in Zahlen und Algorithmen.“ 637 Es werden also im Computer keine physikalischen oder chemischen Phänomene direkt übertragen und gespeichert, sondern diese in diskrete, zumeist binär orga‐ nisierte Zahleneinheiten transformiert, die so beliebig manipulierbar und bearbeitbar werden. Auch wenn der Computer Elektrik und elektronische Schaltungen nötig hat, um zu funktionieren, operiert er nichtsdestotrotz auf Grundlage ganz anderer Speicher- und Verarbeitungs-Prinzipien als McLuhans Paradebeispiel für das Zeitalter der Elektrizität, nämlich das Röhrenfernsehen. Der Computer ist eine transformative, informationsver‐ arbeitende Maschine, kein Apparat zur elektronischen Transposition von Lichtsignalen. Den Computer einfach als Erweiterung und/ oder Verbesse‐ rung der Übertragungs- und Verarbeitungs-Prinzipien des Fernsehens zu verstehen, übersieht diese fundamentale Differenz. Wenn McLuhan dann noch einen Schritt weiter geht und dem Computer in Zukunft zutraut, Gedanken unmittelbar, ohne den Umweg einer vorhergehenden Codierung 3.1 Objektkritik 233 <?page no="234"?> 638 Siehe McLuhan, Magische Kanäle, S. 127f. Dort schreibt McLuhan: „Der nächste logische Schritt wäre dann wohl, die Sprache zu umgehen und auf das Übersetzen zugunsten eines allgemeinen kosmischen Bewusstseins zu verzichten, das dem kollek‐ tiven Bewusstsein, wie es Bergson vorschwebte, vielleicht sehr ähnlich wäre.“ (Ebd.) Und noch deutlicher heißt es in einem Interview dazu: „Wenn eine Rückkopplung der Daten durch den Computer möglich ist, warum sollte es nicht möglich sein, das Denken einen Schritt voranzutreiben, indem man das Weltbewusstsein an einen Weltcomputer anschließt? Mit Hilfe des Computers könnten wir also, statt Sprachen zu übersetzen, dazu übergehen, sie völlig zu ignorieren zugunsten eines umfassenden kosmischen Unbewussten […].“ (McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschine, S.-43f.) 639 McLuhan, Magische Kanäle, S.-127. 640 Siehe zu dieser Epocheneinteilung ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, v.a.: These 2. zugänglich zu machen, 638 dann hat er gerade das materielle Basisprinzip des Computers, nämlich die Transformation und Selektion energetischer Prozesse in nummerische, vorrangig binäre Codierungen, nicht verstanden oder zumindest mutwillig unterschlagen. Es verwundert dann auch nicht, wenn Medientechnologie - losgelöst von aller Erdenschwere - bei McLuhan schnell zum „Pfingstwunder[…]“ 639 aufsteigen kann. (8) Das Problem grobschlächtiger Kategorien Kleinteilige Analyse ist McLuhans Sache nicht. Ihm geht es um die großen historischen Linien. Dass McLuhan vor allem die generelle Struktur von Medien nachzeichnen und eine universale Medien- und Kulturgeschichte schreiben möchte, ist im Grunde ein ehrenwertes Ziel. Problematisch ist jedoch, dass sich dabei zum einen, wie bereits angeführt, einige sachliche Fehler in seinen Geschichten finden und dass zum anderen die großen Linien seiner Geschichte mit allzu groben Kategorien beschrieben werden. Letzteres sollen zwei Beispiele verdeutlichen. Das eine betrifft die epochalen Zäsuren in McLuhans Medien- und Kulturgeschichte, das andere sein Verständnis von kulturellen Phasen, Nationalität und Gruppenidentität. McLuhan gliedert die gesamte Kulturgeschichte in vier Phasen. Zuerst soll es die orale Phase gegeben haben, danach die literale. Im 15. Jahrhundert etablierte sich dann laut McLuhan die Gutenberg-Galaxis und spätestens ab dem 20. Jahrhundert veranschlagt der Medienforscher das Zeitalter der Elektrizität. 640 Das Ende der jeweiligen Phasen wird mit einem besonderen Medium markiert, dem die Macht zugesprochen wird, das vorhergehende Zeitalter zu beenden und ein neues einzuläuten. Ist es im ersten Fall die 234 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="235"?> 641 Siehe dazu ausführlicher: Leschke, Vom Eigensinn der Medienrevolutionen. 642 Präziser müsste eigentlich formuliert werden, dass es neben der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ebenfalls um die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen geht (also darum, dass zu unterschiedlichen Zeiten die gleichen Phänomene auftreten können). Siehe dazu Richard Albrechts Versuch der methodologischen und theoretischen Fundierung solch eines Konzeptes in: Richard Albrecht, The Utopian Paradigm - A Futurist Perspective, in: Communications, 16/ 3 (1991), S.-283-318. (alphabetische) Schrift, so im zweiten Fall der Buchdruck, dessen Vorherr‐ schaft wiederum von den elektrischen Medien abgelöst wird. Die Schnitte, die hierbei gesetzt werden, sind sehr radikal und zwar so radikal, dass sich die Frage stellt, ob solch eine Vorstellung historischer Entwicklung plausibel sein kann. McLuhan bedient sich zur dramatischen Gestaltung sei‐ ner Erzählung eines Revolutionsmodells: Ein Medium kommt (woher auch immer) und - Peng! - alles verändert sich schlagartig. Medien organisieren so klare Vorher/ Nachher-Differenzen. Das mag für ein einfache Erzählung zur Sinnorientierung in einer komplexen (Medien-)Welt recht attraktiv sein, ist jedoch zur angemessenen Erfassung der historisch-komplexen (Medien-)Wirklichkeit kaum befriedigend. 641 Viel einsichtiger erscheint es doch, von allmählichen Verschiebungen und komplexen Prozessen auszugehen, die an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Kontexten anders verlaufen und unter Umständen andere Folgen zeitigen. Statt klarer Schnitte ist viel eher von allmähli‐ chen, heterogenen und je spezifischen Entwicklungen auszugehen. Sozial‐ wissenschaftler: innen und Historiker: innen drücken so etwas auch gern mit der Wendung von der ‚Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‘ aus. 642 Das soll in diesem Zusammenhang nur bedeuten: An unterschiedlichen Orten passieren zur selben Zeit unterschiedliche Dinge. Schlicht deshalb ist das so, weil man es in unterschiedlichen Kontexten mit je spezifischen Konstellationen zu tun hat. So macht es doch bspw. einen erheblichen Unterschied, ob die Einführung des Buchdrucks in Städten vor sich ging, in denen protestantische Reformationsbestrebungen politisch unterstützt wurden und dementsprechend Flugblätter mit Texten (und Bildern) von Martin Luther der Bevölkerung flächendeckend zugänglich waren oder ob, im Gegensatz dazu, die katholische Kirche zur selben Zeit an einem anderen Ort den Buchdruck verwendete, um Ablassbriefe drucken zu lassen. Die Effekte des Buchdrucks dürften in beiden Kontexten sehr unterschiedliche gewesen sein oder wurden doch zumindest sehr verschieden verarbeitet und damit (und sei es auch nur für eine bestimmte Zeit) unterschiedliche Folgen 3.1 Objektkritik 235 <?page no="236"?> 643 Siehe dazu kleinteilig: Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikati‐ onstechnologien, Frankfurt am Main 1998, S.-226ff. 644 Geoffrey Winthrop-Young, Von gelobten und verfluchten Medienländern. Kanadischer Gesprächsvorschlag zu einem deutschen Theoriephänomen, in: Zeitschrift für Kultur‐ wissenschaften 2 (2008), S.-113-152, hier: S.-114. 645 Siehe als Beispiele für den ‚Russen‘: McLuhan, Magische Kanäle, S. 63 und S. 137; für den ‚Deutschen‘ bspw.: ebd., S. 455, für den ‚Kanadier‘: ders., Canada. The Borderline Case, in: David Staines (Hg.), The Canadian Imagination. Dimensions of a Literary Culture, Cambridge 1977, S.-226-248. 646 Siehe hierfür als Beispiel die These, dass Hitler nicht nur ein reines Produkt des Radios sein soll, sondern zu solch einer Macht nur in der (auch medial gegenüber bspw. Frankreich) ‚verspäteten‘ Nation kommen konnte, also im Kontext einer spezifischen nationalen Medienkonstellation - siehe bspw.: McLuhan, Magische Kanäle, S.-454f. 647 Zur historischen Genese und zu Bedeutungsverschiebungen ausführlich: Reinhart Ko‐ selleck, Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bd., Stuttgart 1992, hier: Bd.-7, S.-141-431. gezeitigt haben. 643 Genau solch eine ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ fällt in McLuhans grobschlächtiger, radikaler sowie homogenisierender Zäsurierung der Kulturgeschichte unter den Tisch. McLuhans Medienre‐ volutionen lassen so Entwicklungsprozesse nicht anders denken als in radikaler Differenz zwischen vorher und nachher. Das ist aber ein Effekt des McLuhan’schen Modellzwangs, mitnichten eine Konsequenz tatsächlicher historischer Entwicklungen. Ein weiteres Problem wiegt aber vielleicht noch schwerer. McLuhan hat nämlich trotz aller universalhistorischer Ausrichtung den Hang, wie Geoffrey Winthrop-Young treffend schreibt, „Nationen als homogene Wahr‐ nehmungsgemeinschaften zu behandeln“. 644 Demzufolge nimmt ein ‚Kana‐ dier‘ die Welt anders wahr als ein ‚Deutscher‘ und ein solcher wiederum anders als ein ‚Russe‘. 645 Aber alle ‚Kanadier‘ nehmen McLuhan zufolge zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, abhängig von der jeweils herrschenden Medienkonstellation, die Welt gleich wahr, auch alle ‚Deut‐ schen‘ und alle ‚Russen‘. 646 Dahinter steht die Idee, dass es den ‚Kanadier‘, den ‚Deutschen‘, den ‚Russen‘ mit jeweils spezifischer Mentalitätsstruktur gibt. Solch eine essentialistische Vorstellung von ‚Nation‘ (oder wahlweise ‚Rasse‘ oder ‚Ethnie‘) ist hochgradig problematisch. Erstens ist das Konzept ‚Nation‘ selbst eine historisch vergleichsweise späte Erscheinung, ein frag‐ iles Konstrukt diskursiver Differenzsetzungen. 647 Zweitens sind Nationen keine homogenen, abgeschotteten Gebilde, sondern Produkt aus einem 236 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="237"?> 648 Dieselbe Kritik ließe sich an McLuhans Vorstellung von afrikanischen indigenen Völker vorbringen. Hier werden schlicht alle afrikanische Indigenen als präzivilisatorisches Gegenmodell zu europäischen und nordamerikanischen Zivilisationen homogenisiert - siehe bspw.: McLuhan, Magische Kanäle, S.-41, 51. 649 Diese Kritik gilt auch dann, wenn man davon ausgeht, dass kein: e englischsprachige: r Muttersprachler: in ‚man‘ als ‚Mann‘ verstehen würde, sondern immer schon als ‚Mensch‘. Jedoch ist erstens ‚Mensch‘ einfach eine zu grobe Kategorie, um kultur- und medienhistorische Prozesse konkret beschreibbar zu machen. Zweitens ist diese Konstruktion selbst homogenisierend und inkludiert unter dem Signum ‚man‘ alle. Unabhängig davon, ob durch ‚man‘ als ‚Mann‘ also ein Großteil der Menschheit exkludiert wird oder aber durch ‚man‘ als ‚Menschheit‘ alle Menschen inkludiert sind: in beiden Fällen geht um Auslöschung historisch wie sozial relevanter Differenzen. Gefüge internationaler Beziehungen, transnationaler Einflüsse wie auch selbst immer schon zusammengesetzt aus extrem heterogenen Merkmalen und Akteur: innen. Eine (transhistorische) Essenz einer Nation anzunehmen, scheint aus diesem Blickwinkel unplausibel, ja sogar naiv, auf jeden Fall aber allzu grobschlächtig und unterkomplex. 648 ‚Homogene Wahrnehmungsgemeinschaften‘ postuliert McLuhan indes nicht nur für Nationen und/ oder für spezifische kulturelle Phasen. Auffällig ist ebenso, dass er bestimmte Personengruppen als pars pro toto für die gesamte Nation resp. für eine kulturelle Phase im Ganzen einsteht. Um hier nur ein sehr schlagendes Beispiel zu nennen: Im englischen Original ist der Untertitel von McLuhans Buch T H E G UT E N B E R G -G ALAX Y folgender: „The Making of Typografic Man“. Es geht also laut Untertitel um die Herstellung des typografischen Mannes. Gemeint ist jedoch: Durch die Erfindung der Druckerpresse wird eine bestimmte Art von Wahrnehmungsweise geformt. Und schnell wird bei der Lektüre des Buches klar: ‚Typografic Man‘ ist prinzipiell jeder Mensch, der in einer historischen Phase lebt, die durch die Drucktechnologie dominiert wird. ‚Typografic Man‘ ist also ein pars pro toto für alle. 649 In dieser Konstruktion zeichnen sich noch einmal sehr klar die Probleme von McLuhans Zugang zur Kulturgeschichte ab, nämlich die jeglichem historischen Sachverhalt spottenden Homogenisierungen und Universali‐ sierungen. Was ist denn neben dem ‚Typografic Man‘ mit der ‚Typografic Woman‘, dem ‚Typografic Child‘ oder auch mit kranken Menschen, alten Menschen, Menschen, die nicht mit Buchdruckerzeugnissen in Kontakt ka‐ men, die auf dem Dorf leben, statt in den städtischen Zentren, Analphabeten 3.1 Objektkritik 237 <?page no="238"?> 650 Genau solch eine Kritik formuliert John Durham Peters in einem Interview auf die Frage hin, was an McLuhan besonders problematisch findet - siehe in: Kerckhove u. a. (Hg.), McLuhan neu lesen [DVD-Zusatzmaterial]. 651 Im Gegensatz etwa zu den Beschreibungen der Historikerin Elizabeth L. Eisenstein: Sie legte ein Buch über die Effekte der Einführung des Buchdrucks vor, in dem eine Beschränkung auf bestimmte Schichten der Bevölkerung vorgenommen wird - siehe explizit zu dieser Beschränkung die Einleitung in: Elizabeth L. Eisenstein, Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa, Wien/ New York 1997. 652 Zumindest - das sei fairerweise hinzugefügt - macht sich McLuhan Gedanken über die Wirkung der Aufbewahrung von Objekten und Lebensmittel in Töpfen, wenngleich es hierbei um Töpfe aus der - längst vergangenen - Frühzeit der Menschen geht, siehe McLuhan, Magische Kanäle, S.-282f. etc.? 650 Diese Differenzen - und damit auch die möglichen Unterschiede hinsichtlich der jeweiligen Effekte und Auswirkungen der Medien auf Menschen - werden allesamt stillschweigend übergangen. Damit ist eine angemessene Beschreibung kulturgeschichtlicher Prozesse und Mentalitä‐ ten von vorneherein verbaut. 651 (9) Das Problem der Blindheit gegenüber sozialer Differenzierungen und Identitätszuschreibungen in und durch Medien Da es bei McLuhan immer nur um ‚den Menschen‘/ ‚man‘ geht oder wahl‐ weise ‚den Russen‘ oder ‚den Afrikaner‘ verkennt er ebenso die Funktion der Medien für die Produktion sozialer Differenzen und Ungleichheit. Es geht bei dieser Kritik nicht nur um die vergleichsweise triviale Tatsache, dass (wenige) Mächtige die zentralen medialen Produktionsmittel besitzen und beherrschen, dementsprechend bestimmen, was wer wie wahrnehmen kann, was wem wie zugänglich ist. Noch prinzipieller gilt: In, mit und bezo‐ gen auf Medien werden soziale Identitäten und Klassifikationen produziert - auch und gerade durch Differenzierungen von Kollektiven. Das lässt sich sehr konkret an einem Beispiel der Genderdifferenzierung zeigen, das im Zusammenhang mit einem von McLuhan vernachlässigten Medium steht. 652 In den 1950er und 1960er Jahren erfreute es sich einer ungemeinen Popula‐ rität und war so weit verbreitet, dass es in kaum einem nordamerikanischen Haushalt fehlte, nämlich die Tupperware. Genau genommen trägt diesen Namen ein US-amerikanischen Unternehmen, das sich vor allem auf die Pro‐ duktion und den Vertrieb von Küchen- und Haushaltsartikel aus Kunststoff 238 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="239"?> 653 Siehe dazu ausführlich: Alison J. Clarke, Alison J. Tupperware, The Promise of Plastic in 1950s America, Washington (D.C) 2014. 654 Siehe dazu und zum Folgenden: Brooke Erin Duffy/ Jermey Packer, Wifesaver: Tupper‐ ware and the Unfortunate Spoils of Containment, in: Sharma/ Singh (Hg.), Re-Under‐ standig Media, S.-98-118. zur Aufbewahrung und Konservierung von Lebensmitteln konzentriert. 653 Tupperware wurde im Lauf der Zeit - auch im deutschsprachigen Bereich - eine pars pro toto für diese Art von Plastikbehälter, auch wenn sie nicht selbst von der Firma stammen mögen. Die Tupperware lässt sich als Medium des Speicherns verstehen. Strikt im Sinne McLuhans hat dieses Medium einen transformativen Effekt: 654 Bspw. lässt sich Nahrung dadurch konservieren, so dass Herstellung und Verzehr zeitlich entkoppelt werden und damit neue Handlungsspielräume entstehen. Genau dieser Aspekt wird auch in der Werbung für Tupperware in den 1950er und 1960er Jahre immer wieder stark gemacht (vgl. Abb. 27a): Frauen können am Sonntag auch mal ausspannen und etwa Zeitung lesen, weil das Sonntagsessen für die Familie schon sehr viel früher zubereitet werden kann. Vorausgesetzt wird hier freilich, dass Frauen das Essen für die Familie zuhause zubereiten (und nicht irgendwer). Dieses ‚Gendern‘ der Tupperware zeigt sich besonders deutlich, wenn in der Werbung Männer Tupperware verwenden (vgl. Abb. 27b): Hier werden Männer als Ehemänner vorgeführt, die erstens die Tupperware von ihren Ehefrauen ‚ausleihen‘ (die wiederum deshalb ‚ihr‘ Essen für den Ehemann nicht konservieren können) und zwei‐ tens die Tupperware zweckentfremden (etwa um ihre Jagdutensilien trocken zu halten). Männer sind so gewendet Jäger, Frauen hingegen Sammlerinnen. Frauen konservieren Nahrung mittels Tupperware; das ist die ‚Normalform‘. Männer kennen Tupperware hingegen nur als ‚Missbrauch des Mediums‘. Hier wird sehr deutlich ein Medium gegendert - und damit eine binäre Differenz eingezogen mit weitreichenden Bedeutungszuweisungen: Frauen sind für die Angelegenheiten des privaten Haushalt zuständig; Männer für die ‚Jagd‘ außerhalb der privaten Sphäre; Frauen kochen, konservieren Lebensmittel und kümmern sich um die Männer; Männer haben Hobbies. 3.1 Objektkritik 239 <?page no="240"?> 655 Um nur auf ein Beispiel zu referieren, bei dem Klassen- und Ethniendifferenzen als mediale Effekte diskutiert werden, siehe: Armond R. Towns, Transporting Blackness: Abb. 27a-c: Das Medium Tupperware und sein Geschlecht Tupperware ist bekannt dafür, ein Vertriebssystem eingeführt zu haben, bei dem auf sogenannten Tupperwaren-Partys Frauen anderen Frauen Tupperware vorführen und verkaufen. Sehr früh wurde damit auch Wer‐ bung gemacht (vgl. Abb. 27c): Durch dieses wirtschaftliche Operation, so suggeriert die Werbung, können Frauen selbst Geld erwerben und sich dadurch bspw. ein eigenes Auto leisten. So verstanden ist damit eine Emanzipationsidee durch ökonomische Unabhängigkeit verbunden. Genau betrachtet bleibt aber diese ökonomische Handelskompetenz eng verknüpft mit dem häuslichen Milieu. Frauen können nun, so die Suggestion, auch Geld verdienen, eigene Autos kaufen, um unabhängig von a nach b zu fahren. Dennoch bleiben diese Freiräume aufs Engste mit der privaten Sphäre des Familienlebens verknüpft. Das ‚weibliche‘ Wirtschaftssystem, das sich mit dem Medium Tupperware entfalten lässt, ist - zumindest in der Werbung - nur denkbar im familiären (bzw. freundschaftlichen) Kontext, nicht außerhalb dieser Sphäre. Der entscheidende Punkt daran ist: Das Medium Tupperware wird hier genutzt, um eine Genderdifferenz einzuziehen bzw. zu stabilisieren. Dies lässt sich generalisieren: Medien haben nicht einfach nur ganz generell Effekte auf (alle) Menschen, sondern werden immer wieder dazu genutzt, Differenzen zwischen Menschen zu etablieren, sei es auf Ebene des Ge‐ schlechts, von Ethnien oder zur Markierung von Klassenunterschieden. 655 240 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="241"?> Black Materialist Media Theory, in: Sharma/ Singh (Hg.), Re-Understandig Media, S. 23- 35. Dort wird untersucht, wie durch das Mediums Schiff eine Differenz zwischen (‚weißem‘) Herrn und (‚schwarzem‘) Sklaven stabilisiert und damit ‚naturalisiert‘ wurde. Von dieser sozialen Differenzierungsarbeit mit und durch Medien, inklusive all ihrer Machtstrategien, Ungerechtigkeitsimplikationen und Normalisie‐ rungseffekte findet sich bei McLuhan wenig bis nichts. (10) Das Problem monokausaler Erklärung McLuhan hat eine klare Vorstellung von Wirkungszusammenhängen. Tritt ein neues Medium in die gesellschaftliche Sphäre ein, hat es Wirkungen auf alle Bereiche des menschlichen Lebens und auf alle Menschen gleichzeitig. Solch eine Perspektive ist monokausal, weil es genau eine Ursache gibt (Medium X), die ganz bestimmte (und in McLuhans Fall) weitreichende Wirkungen nach sich zieht. Ausgeblendet wird die Frage, woher das neue Medium kommt und warum es in der gesellschaftlichen Sphäre etabliert wird. Bei McLuhan scheint es so zu sein, dass ein Medium, wie etwa der Buchdruck, einfach vom Himmel fällt und dann alles radikal verändert. Auch wenn man davon ausgeht, dass Medientechniken Einfluss auf ge‐ sellschaftliche Prozesse haben, heißt das ja nicht, alle anderen Faktoren ausblenden zu müssen. Zu jeder Einführung eines neuen Mediums gibt es eine Vorgeschichte, Ideen, Bedürfnisse, ökonomische oder auch militärische Interessen, gesellschaftliche Koordinationsnotwendigkeiten etc., die dazu führen oder doch zumindest maßgeblich dazu beitragen, dass ein Medium tatsächlich entwickelt wird, Verbreitung findet, Akzeptanz erhält etc. Zu‐ mindest von einem Wechselspiel oder einer gegenseitigen Beeinflussung unterschiedlicher Faktoren ist hier auszugehen. Das alles blendet McLuhan 3.1 Objektkritik 241 <?page no="242"?> 656 Ein wunderbares Gegenbeispiel ist die Einführung der mechanischen Uhr in Europa. In mittelalterlichen Klöstern gab es ein drängendes Problem: Wie lässt sich gemeinsames Arbeiten und Beten zeitlich koordinieren? Es lag also ein (der Medientechnik vorgän‐ giges) Bedürfnis vor, das dann letztlich zur Erfindung bzw. zur Durchsetzung der me‐ chanischen Uhr geführt hat. Hier ist die Kausalkette also umgekehrt: Nicht das Medium bestimmt die Anwendung, sondern aufgrund eines bestimmten Bedürfnisses wird ein Medium erfunden und funktionalisiert. Siehe dazu ausführlicher: Kay Kirchmann, Ver‐ dichtung, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theorie der Interdependenzen von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeitlichen Zivilisationsprozess, Opladen 1998, S. 183ff. Zur Diskussion, ob McLuhan nicht doch das Zusammenspiel von Praxis, Interessen und Medienmaterialität berücksichtigt, siehe: 2. Lesart: Hermeneutik, These 3. 657 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, v.a.: These 1. 658 Dieses Beispiel wurde übernommen aus: Harun Maye, Was ist eine Kulturtechnik? , in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), S.-121-135, hier: S.-124. 659 Selbst wenn man davon ausgeht, dass bspw. im Darm Nahrung mittels Gärprozesse quasi erhitzt wird, so wäre der Vorgang zumindest nicht funktional analog zur Nah‐ rungszubereitung durch Erhitzung. Im einen Fall geht es um Verarbeitung der Nahrung zum Verzehr, im anderen Fall um Verarbeitung zur Ausscheidung von Nahrung(-sres‐ ten). aus, um (s)eine unterkomplexe, medientechnisch fundierte monokausale Kulturgeschichte zu schreiben. 656 (11) Das Problem der Körperausweitungsthese Da Medien für McLuhan alle Artefakte und Techniken sind, die der Mensch herstellt und die Funktionen des menschlichen Körpers bzw. menschlicher Sinne übernehmen, sind sehr viele, sehr unterschiedliche Dinge Körperaus‐ weitungen: Hammer, Rad, Brille, Telegrafie, Buch, Druckerpresse, Compu‐ ter. Bei einigen dieser Artefakte scheint die Körperausweitungsthese sofort einleuchtend: Den Hammer als Ausweitung (der Schlagkraft) des Armes zu verstehen, ist ähnlich naheliegend wie die Brille als Ausweitung (der Sehkraft) des Auges zu begreifen. Vielleicht lassen sich auch noch die Tele‐ grafie-Netze als (wenngleich vereinfachte) Ausweitungen der menschlichen Nervenbahnen deuten. 657 Schwieriger wird es jedoch bei anderen Artefak‐ ten, bspw. beim Kochtopf. 658 Der Kochtopf kann keine Körperextension sein. Es gibt kein Körper- oder Sinnesorgan, das Nahrung in einem Behältnis (zum Verzehr) erhitzt, ebenso wenig ein funktionales Äquivalent. 659 Vielmehr wird mit dem Kochtopf ein neues, fremdes Element in den menschlichen Weltzugang eingeführt, das diesen verändert. 242 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="243"?> 660 Zur Forschungsliteratur siehe bspw.: Levinson, Digital McLuhan; zur Übernahme im Feuilleton siehe bspw. Wenzel, Ausdehnung des Nervensystems. 661 McLuhan, Magische Kanäle, S.-128. 662 Siehe dazu bspw.: Theo Mulder, Das adaptive Gehirn. Über Bewegung, Bewusstsein und Verhalten, Stuttgart 2007, S. 28ff. Ob und inwieweit das menschliche Gehirn und die Computertechnologie doch ähnlich sind, auf denselben (ontologischen) Grundlagen basieren, welche Art der digitalen Vernetzung das ist oder sein könnte (Stichworte wie Machine Learning, künstlich neuronale Modelle, KI oder Quantencomputer könnten hier genannt werden), sind Fragen, die bis dato äußert kontrovers diskutiert werden, siehe als Überblick: Anne Tuschling, Digitale Ontologie, in: Christoph Ernst u. a. (Hg.), Handbuch Medientheorien im 21. Jahrhundert. Wiesbaden 2024. Online zugänglich unter: https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-38128-8_18-1. Wie auch immer man zu dieser Diskussion stehen mag, bleibt in jedem Fall die Kritik an McLuhans Gleichsetzung bestehen, da es sich bei seinem (ohnehin wenig spezifisch ausformuliertem) Vergleich Umso komplexer die Maschinen und Apparate sind, desto schwieriger wird die Zuordnung zu einer Körperausweitung. Welches Sinnesorgan bzw. welche Körperfunktion wird bspw. durch die Druckerpresse ausgeweitet? Ist es die Ausweitung des Denkens, das sich in den gedruckten Texten manifestiert? Ist es die Ausweitung des Auges, weil die Texte in Form von Druck-Erzeugnissen gelesen werden können? Oder hat es vielmehr mit einer Erweiterung der Arme zu tun, da die Druckerpresse nun mechanisch die Druckerschwärze der Lettern auf Papier druckt? Ist das zum Druck verwendete Papier womöglich die Erweiterung des Denkraumes? Ist der Buchdruck vielleicht alle diese Erweiterungen auf einmal? Bei diesem Bei‐ spiel sind die Analogien von Körper und Artefakten nicht nur äußerst vage, sondern zielen zudem in sehr unterschiedliche Richtungen, sodass die Frage nahe liegt, welchen Erkenntniswert die These von der Körperextension dann überhaupt noch haben kann. McLuhans Ausdeutungen der Körperausweitungsthese sind zumeist vage und oftmals einfach falsch. Das gilt insbesondere für ein Beispiel, das in der Forschungsliteratur und im Feuilleton bis heute immer wieder gern aufgegriffen wird, nämlich für den vernetzten Computer. 660 McLuhan gilt dieser als Ausweitung des Denkens - eine Ausweitung, die uns zu einem global operierenden „kosmischen Bewußtsein“ 661 verhelfen soll. Falsch ist diese Analogie schlicht deshalb, weil Denkprozesse - und das zeigen neurowissenschaftliche Erkenntnisse ganz deutlich - prinzipiell anders funktionieren als die Rechenoperationen eines Standardcomputers. Ein binär codierter Computer operiert seriell und mit einer starren Hierarchie, das Gehirn hingegen parallel, rekursiv und holistisch vernetzt. 662 3.1 Objektkritik 243 <?page no="244"?> um die Gleichsetzung von Gehirn und einem klassischen Computer handelt, der sequentiell unterteilt binäre Rechenoperationen vollzieht. 663 Zu einer allgemeinen Kritik an McLuhans Körperextensionsthese bspw.: Georg Chris‐ toph Tholen, Mit und nach McLuhan. Bemerkungen zur Theorie der Medien jenseits des anthropologischen und instrumentellen Diskurses, in: Kerckhove u. a. (Hg.), McLuhan neu lesen, S. 127-139, v.a.: S. 131f. und S. 134f. Zu einer anderen, sehr viel wohlwollenderen Lesart von McLuhans Körperextensionsthese siehe → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. Die Analogien zwischen Gehirn und Computer sind nicht nur schief und/ oder falsch; sie übersehen darüber hinaus etwas Entscheidendes: Sie weisen nämlich nicht nur die Ähnlichkeiten auf, die McLuhan immer wieder betont, sondern auch Differenzen, die McLuhan kaum interessieren. Ein anthropologisches Medienverständnis, das die Medien ausgehend vom menschlichen Körper versteht, kommt aus dieser Perspektive an seine Grenzen. Ob Kochtopf, Rad, Buchdruck oder Computer: Medien sind nicht einfache Ausweitungen des Körpers, sondern mit ihnen werden ebenso körperfremde Elemente in die menschliche Praxis eingeführt. Diese medi‐ alen Artefakte verändern den Menschen und seine Wahrnehmung - und zwar nicht unbedingt nach dem Schema einer sukzessiven Ausweitung menschlicher Fähigkeiten oder gar gemäß einer Vervollkommnungslogik. Medientechniken lassen sich nicht reduzieren auf Auswüchse menschlicher Organe, Funktionen und Bedürfnisse, sondern führen etwas Fremdes ein, das wiederum auch nur bedingt steuerbar ist. 663 (12) Das Problem der Heterogenität und der Widersprüchlichkeit Bei der Lektüre von McLuhans Texten kann man eine ganz ähnliche Erfahrung machen wie bei der Bibellektüre. Für jede Behauptung scheint es andernorts eine Gegenbehauptung zu geben. Oder moderater formuliert: Die behandelten Gegenstände werden aus sehr unterschiedlichen Perspek‐ tiven betrachtet; die Zugänge erscheinen so extrem heterogen und zum Teil zumindest untereinander inkompatibel. Das birgt freilich einige Schwierig‐ keiten: Was ist denn nun eigentlich das entscheidende Argument, die gültige Perspektive? Auch für Kritiker: innen ist es dadurch nicht immer leicht. Weist man auf ein unplausibles Argument hin, ist schnell ein: e Verteidiger: in zur Stelle, der oder die darauf hinweist, dass McLuhan an anderer Stelle ganz anders argumentiert, man muß das übersehen haben oder es ist in Wirklichkeit ganz anders gemeint gewesen. 244 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="245"?> 664 Es wird immer wieder darauf verwiesen, dass man McLuhans Ironie übersehen hat oder seinem Denken in Analogien Unrecht tue, wenn man Passagen auf argumentative Konsistenz überprüfen möchte - siehe zu solch einer Deutung auch → 1. Lesart: Rhetorik. Dass sich McLuhan durch solch eine Strategie unangreifbar macht und damit imun gegen jede mögliche Kritik und Diskussion, darauf verweist: Weingart, Alles, S.-225. 665 Letztgenannter Kritikpunkt lässt sich im Übrigen auch vorliegender Monografie vor‐ werfen, werden hier doch divergente Lesarten vorgestellt, ohne sie argumentativ kohärent zusammenzuführen. 666 Siehe dazu bspw. ausführlich: Alexander Wittwer, Verwirklichungen. Eine Kritik der Medientheorie, Freiburg 2001, S.-31ff. 667 McLuhan, Magische Kanäle, S.-81. Das ist indes eine Ausweichstrategie, mit der man McLuhan eigentlich nie recht zu fassen bekommt. Denn um einzelne Argumente kritisieren zu können, muss man systematischer lesen als McLuhans Texte es anbieten. McLuhans Werk muss also ‚zugerichtet‘ werden, um es kritisieren zu können. Genau das wird einem dann vorgeworfen. 664 Nichtsdestotrotz bleibt es auf das Gesamte gesehen wissenschaftstheoretisch doch höchst unbefrie‐ digend, wenn sich ein Autor ständig widerspricht bzw. seine heterogenen Perspektiven nicht zusammenführt. 665 Für diese extreme Heterogenität und Widersprüchlichkeit ließen sich zahllose benennen. 666 Jedoch möchte ich nur eines, dafür aber ein besonders eklatantes, anführen. In D I E MAGI S CH E N K ANÄL E N heißt es in einer Passage sehr deutlich: „Indem wir fortlaufend neue Techniken übernehmen, machen wir uns zu ihren Servomechanismen. […] Der Mensch wird sozusagen zum Geschlechtsteil der Maschinenwelt, wie es die Biene für die Pflanzenwelt ist, die es ihnen möglich macht, sich zu befruchten und immer neue Formen zu entfalten.“ 667 Die Medienentwicklung folgt aus dieser Perspektive einer von menschlichen Bedürfnissen und Interessen völlig unabhängigen Strukturlogik. Medien‐ techniken instrumentalisieren die Menschen, nicht umgekehrt. Der Mensch weiß von alledem nichts und wähnt sich dennoch als handlungsmächtige Kontrollinstanz über die von ihm hergestellten Maschinen. Hier kommt eine recht fatalistische Position zum Ausdruck: Die Geschichtsentwicklung ist mediendeterminiert; der Mensch bloß Handlanger der Medien; die entscheidenden Bewegkräfte sind ihm unbekannt. Anderseits gibt es in demselben Buch wiederum Passagen, die dieser Perspektive eindeutig widersprechen: Bestimmte Menschen, Künstler: innen nämlich, können relativ problemlos aus diesem mediendeterminierten Pro‐ zess aussteigen, und „das Verhältnis der Sinne zueinander berichtigen, noch 3.1 Objektkritik 245 <?page no="246"?> 668 Ebd., S.-109. 669 Ebd., S.-108. 670 McLuhan lehnt den Determinismus an einigen Stellen seines Werkes regelrecht brüsk ab - siehe dazu bspw.: McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S. 4, 306. An anderen Stellen scheint dagegen eindeutig eine mediendeterministische Position impliziert zu sein - siehe (neben der bereits zitierten Passage) bspw.: McLuhan, Magische Kanäle, S.-81. 671 Siehe dazu sehr viel ausführlicher: Gerhard Hauck, Einführung in die Ideologiekritik. Bürgerliches Bewußtsein in Klassik, Moderne und Postmoderne, Berlin 1992. ehe ein neuer Anschlag der Technik bewusste Vorgänge betäubt“. 668 Die Künstler: innen haben die Fähigkeit, Medien in ihrem Sinne zu funktionali‐ sieren. „Um einen unnötigen Schiffbruch der Gesellschaft zu verhindern, will der Künstler nun seinen elfenbeinernen Turm verlassen und den Kontrollturm der Gesellschaft übernehmen.“ 669 Hier ist der Mensch also kein ‚Servomechanismus‘ der Maschinen mehr. Mit dem Schwanken zwischen Mediendeterminismus und autonom ope‐ rierenden Künstler: innen zeigt sich McLuhan entweder als inkonsistenter Mediendeterminist oder wahlweise als inkonsistenter medienkritischer Auf‐ klärer, der Autonomie und Freiheit des Menschen postuliert. Der Wider‐ spruch zwischen Zwang und Autonomie wird jedenfalls nicht aufgelöst und McLuhan schwankt von Passage zu Passage zwischen beiden Optionen. 670 Vorausgesetzt man hängt immer noch an einer zweiwertigen Logik in aris‐ totelischer Tradition, der zufolge entweder a der Fall ist oder nicht-a, jedoch nicht beides gleichzeitig, bleibt solche ein Schwanken unbefriedigend. 3.2 Strukturelle Kritik 3.2.1 Ideologiekritische Kritik Neben den angeführten, vergleichsweise offensichtlichen Problemen in McLuhans Texten gibt es auch einige subtilere, die erst aus einer bestimm‐ ten theoretischen Position als Probleme wahrzunehmen sind. Eine dieser Perspektiven, die kurz vorgestellt werden soll, ist die ideologiekritische. 671 Ideologiekritik ist, wie der Begriff ja schon sagt, per se und vor allem ein kritisches Geschäft. Diese Feststellung mag trivial sein, hat aber einige Konsequenzen. Ideologiekritik will Gesellschaftsphänomene nicht nur beschreiben, verstehen oder erklären; sie will sie kritisch analysieren und führt dabei immer auch die Utopie einer ‚besseren‘ Gesellschaft mit 246 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="247"?> 672 Das kann eine über sich selbst aufgeklärtere Gesellschaft sein oder eine gerechtere, eine klassenlose usf. 673 Das unterscheidet die Ideologiekritik fundamental von funktionalistischen Ansätzen, allen voran von der Systemtheorie. Die Ideologiekritik will auch nicht im Sinne der Hermeneutik menschliche Handlungen und Artefakte möglichst genau verstehen - siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik. Denn sowohl die Frage nach der Funktion für die Gesellschaft als auch das reine Verstehen-Wollen führen nämlich nicht zwangsläufig zu einer kritischen Einstellung gegenüber gesellschaftlichen Prozessen, aus Sicht der Ideologiekritik sogar eher zum Gegenteil. Denn man gelangt vom Verstehen schnell zum Verzeihen. Eine funktionale Betrachtung wiederum bringt die Ausblendung moralischer Fragen mit sich. Aber was gut funktioniert, muss nicht unbedingt gerecht oder gar freiheitsfördernd sein. sich. 672 Ihr kritisches Geschäft zielt auf Gesellschaftsveränderung. 673 Der Ideologiekritik geht es aber nicht einfach um Kritik ganz generell, ebenso wenig um irgendeine Gesellschaftsveränderung. Ideologiekritiker: innen kritisieren Ideologie. ‚Ideologie‘ ist ein recht schwer zu fassender Begriff. Zumindest einige zentrale Merkmale lassen sich dennoch ausmachen: Von einer neutralen Perspektive aus ließe sich ‚Ideologie‘ als eine Bezeich‐ nung für Ideen, Vorstellungen, Werte und Normen beschreiben, die zu einem spezifischen Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft oder einem Gesellschaftssegment vorherrschend sind und das Denken und Handeln der Menschen leiten. ‚Ideologie‘ wäre so schlicht ein anderes Wort für Weltanschauung. Aus einer kritischen Perspektive jedoch ist solch eine neutrale Bestimmung unbefriedigend: Ideologie ist nicht einfach nur eine Weltanschauung, sondern sie ist eine, die die Menschen verblendet, täuscht, sie im Unklaren über die tatsächlichen Sachverhalte lässt. Ideologie fungiert so verstanden als ein Mittel zur Verschleierung gesellschaftlicher Realität, die immer auch, zumindest wenn man der marxistischen Traditionslinie der Ideologiekritik folgt, eine ungerechte Realität der Machtverhältnisse ist. Durch Ideologie werden Machtverhältnisse stabil gehalten bzw. affirmiert. Der Kapitalismus bspw. stellt aus dieser Perspektive eine zu kritisierende Ideologie dar. Von seinen Befürworter: innen wird der Kapitalismus geprie‐ sen als demokratische Grundlage der Freiheit des Einzelnen, sich selbst chancengleich verwirklichen zu können und den Wohlstand zu erhöhen. Tatsächlich aber geht es, aus Sicht der Ideologiekritik, dabei um Stabili‐ sierung kapitalistischer Macht- und Besitzverhältnisse. Kapitalismus wird immer wieder als die dem Menschen angemessene, alternativlose Ordnung der Dinge naturalisiert. Das heißt unter anderem auch: Der Kapitalismus immunisiert sich mit seiner Ideologie gegen andere Optionen und Kritik, 3.2 Strukturelle Kritik 247 <?page no="248"?> 674 Das kann absichtlich geschehen oder aber die Ideologie ist so weit gediehen, der Verblendungszusammenhang so weit fortgeschritten, dass die einzelnen Akteur: innen, die Verschleierungen als solche überhaupt nicht mehr erkennen und im Glauben an die Wahrheit der Ideologie, diese weiter verbreiten. 675 Siehe dazu die TETRAPAK-Werbung: „Rohstoffe“/ „Hase Bob“, online zugänglich unter: URL: http: / / www.youtube.com/ watch? v=3jrxuctMYLY [30.11.20]. Genau hier findet man eine ideologische Verschleierung. Eine solche unterscheidet sich von der Lüge. Tatsächlich ist Holz mit knapp über einem Drittel der Hauptbestandteil von Tetrapak, jedoch werden durch das bewusste Verschweigen der anderen Ingredienzien eben die ökologischen Probleme der Verpackung verschleiert. 676 Für weitere Beispiele solch einer Aufklärungsarbeit siehe → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Medienökologie des Entzugs und Verschleierns“. soll er doch der wahren Natur des Menschen entsprechen und quasi von selbst Wohlstand und Freiheit der Gesellschaft vermehren. Genau hier treten Ideologiekritiker: innen auf den Plan: Sie wollen die Verschleierungs- und Harmonisierungsstrategien aufdecken, die den Kapitalismus als einzig gangbaren Weg vorstellig machen. Ideologie zeichnet sich somit erstens dadurch aus, dass sie die wahren gesellschaftlichen Verhältnisse verschleiert. 674 Zweitens sind ideologische Verlautbarungen darum bemüht, eine bestimmte Einstellung zur Welt als die einzig angemessene, selbstverständliche, quasi natürliche erscheinen zu las‐ sen, obwohl diese doch kontingent und durchsetzt von Machtinteressen ist. Drittens werden gesellschaftliche Entwicklungen, Machtverhältnisse und Lebensumstände aus einer ideologischen Perspektive radikal komplexitäts‐ reduziert, homogenisierend und stereotyp dargestellt, Widersprüchlichkei‐ ten indes weitestgehend ausgeblendet. Viertens führt Ideologie immer ein Versprechen auf Harmonie, auf die Lösung aller Widersprüche menschlicher Existenz mit sich. Genau diese problematischen Konstruktionen will die Ideologiekritik aufdecken. Ideologiekritik lässt sich an allem Möglichen üben, bspw. an Firmen, die in ihren Werbungen zeigen, wie umweltverträglich das Verpackungsmaterial Tetrapak ist, da es „überwiegend aus einem nachwachsenden Rohstoff, nämlich Holz“ 675 besteht. 676 ‚Vergessen‘ wurde dabei aber zu erwähnen, dass Tetrapak daneben aus einem Drittel Plastik und einem Drittel Alufolie besteht, was Tetrapak zu einem der umweltschädlichsten Materialien über‐ haupt macht. Kritisch beleuchten lassen sich so auch politische Parteien, die Personen anstellen, um ihren Wikipedia-Eintrag zu ‚betreuen‘ oder auf Daily Soaps, die immer nur Herz-Schmerz-Angelegenheiten problematisieren und Harmonieversprechen liefern, die jeglicher gesellschaftlichen Realität 248 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="249"?> 677 Siehe dazu ausführlicher (wenngleich moderater interpretiert): → 2. Lesart: Herme‐ neutik, These 3. Hohn sprechen. Bestimmte Sprachjargons sind unter ideologiekritischer Perspektive ebenso zu betrachten wie wissenschaftliche Ansätze. Und damit komme ich wieder auf McLuhan zurück. Das Problem der Verschleierung McLuhan konzentriert sich in seinen Schriften vor allem auf medientechni‐ sche Aspekte. ‚Das Medium ist die Botschaft‘ heißt in diesem Sinne: Egal, welcher Inhalt transportiert wird, egal wo, egal wann und egal, welche Interessen jeweils mit dem Gebrauch des Mediums einhergehen, entschei‐ dend für das Verständnis von gesellschaftlichen Zusammenhängen sind ausschließlich oder doch primär die jeweiligen medientechnischen Konstel‐ lationen. 677 Ob ein Fernsehsender eine investigative Dokumentation über die Verhörmethoden in Abu Ghuraib sendet oder eine Coca-Cola-Zero-Wer‐ bung, spielt aus dieser Sicht keine Rolle. Entscheidend für die Wirkung des Fernsehens ist, dass er sich gesellschaftlich flächendeckend durchgesetzt hat und als Programmmedium audiovisuell Informationen aus aller Welt simultan in die Wohnzimmer sendet. Ebenso wenig ist aus dieser Perspektive wichtig, wem eine Sendeanstalt gehört, ob sie öffentlich-rechtlich organi‐ siert ist oder privat, ob sie als Aktiengesellschaft operiert oder aufgrund von Spenden existiert, ob ihre Träger eher rechtskonservativ sind, liberale oder sozialistische Ideen in die Welt setzen… Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen. Bei McLuhan spielt das alles keine Rolle. Entscheidend ist einzig und allein die Medientechnik. Damit blendet der Medienforscher die kulturellen Kontexte und ökonomischen Verhältnisse weitestgehend aus. Diese Ausblendung ist zunächst ein wissenschaftliches Defizit, welches es McLuhan schwer macht, eine angemessene Medien- und Kulturgeschichte zu schreiben. Wie sollte man denn auf mediale Phänomene, ihre Entwick‐ lung und ihre Wirkungen eingehen können, ohne auch den jeweiligen Kontext und die jeweiligen Interessen zu berücksichtigen? Die Medientech‐ nik allein macht, entgegen McLuhans Behauptung, mit den Menschen noch überhaupt nichts. Es bedarf Personen, Institutionen, Strukturen, Praktiken und Interessen, mit denen die Medientechniken überhaupt erst zu Agenten gesellschaftlicher Prozesse und Entwicklungen werden können. 3.2 Strukturelle Kritik 249 <?page no="250"?> 678 Horkheimer/ Adorno, Kulturindustrie, S.-145. McLuhans einseitiger Blick hat noch andere Implikationen, zeigt sich der Medientheoretiker doch als Technikfetischist. Medientechnologie wird als Zaubermacht, die alle andere Faktoren dominiert, regelrecht verehrt. Dabei spielt es keine Rolle, ob McLuhan nun neue Technologien tatsächlich emphatisch feiert oder aber ein Schreckensgespenst des durch Medien willenlos gemachten Menschen heraufbeschwört. In beiden Varianten spielt die Medientechnik die Rolle des mythischen Weltenlenkers, unter dessen Zügeln alle anderen gesellschaftlichen Phänomene kuschen. Das bedeutet erstens: Gegen Medientechnologie kann man sich nicht wehren. Zweitens ist sie für alles verantwortlich. Ergo sind drittens alle anderen Kräfte und Akteur: innen nicht verantwortlich für die gesellschaftlichen Prozesse. Damit wird viertens implizit den gesellschaftlichen Machtverhältnissen zugestimmt, ja diese zementiert. Denn: Wenn die jeweils vorherrschende Medientechnologie unsere Lage bestimmt, welchen Sinn hätte es dann gegen monopolistische Medienkonzerne vorzugehen, gegen Studiengebühren zu protestieren, die Privatisierung der Deutschen Bahn oder die Machenschaf‐ ten der Aktienmärkte? McLuhans permanentes Insistieren auf die Macht der Medientechnik verschleiert die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse und verschiebt die Verantwortlichkeit weg von menschlichen Akteur: innen und Institutionen und löst sie in medientechnologische Strukturnotwendig‐ keiten auf. Solch eine Position verkennt, was Theodor W. Adorno und Max Hork‐ heimer in ihrer D IAL E KTIK D E R A U F KLÄR UN G bereits in den 1940er Jahren klar zum Ausdruck brachten: „Verschwiegen wird dabei, daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist.“ 678 Medientechnik - und das gilt wohl vor allem für unsere heutige Gesellschaft - ist unentrinnbar in ökonomische Strukturen eingebunden, in der ihre Möglichkeiten nach wirt‐ schaftlichem Kalkül ausgelotet werden. Dagegen von einer Eigendynamik der (Medien-)Technologien auszugehen, ist naiv, zynisch oder eine kalku‐ lierte Fehlinterpretation. Auf jeden Fall verschleiert solch ein Blickwinkel die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und zementiert den Status quo. 250 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="251"?> 679 Ausführlicher dazu → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. 680 Ebd. (Hervorhebung von mir [SG]). 681 Siehe hierzu v.a.: Horkheimer/ Adorno, Kulturindustrie. 682 So die Forderung in: Enzensberger, Baukasten. 683 Siehe hierzu sehr deutlich bspw.: McLuhan, Magische Kanäle, S.-18. 684 McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S.-38. Das Problem der Affirmation Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich etwas, das man heute mit Begriffen wie ‚Informationsgesellschaft‘, ‚Netzwerkgesellschaft‘ oder auch ‚Mediengesellschaft’ zu fassen versucht. 679 Gemeinsam ist diesen Beschrei‐ bungsphrasen, dass die Medientechnologie zur Interpretation gegenwärti‐ ger Gesellschaften als wichtig erachtet wird. Bereits in den 1940er Jahren machten Adorno und Horkheimer auf diesen Prozess aufmerksam, indem sie nachzeichneten, wie sich allmählich aus den Massenmedien, wie Zeitun‐ gen, Film, Radio und Fernsehen, ein ökonomisch fundiertes „System“ 680 der Kulturindustrie ausbildete, das seither massiv auf die Bedürfnisse der Menschen einwirkt. Die Unterhaltungsindustrie stieg zu einem der maßge‐ blichen Wirtschaftsfaktoren auf und mit der Entwicklung der Satelliten- und Computertechnologie seit den 1960er Jahren wurde der Grundstein gelegt für die heute alle sozialen und individuellen Sphären durchdringende digitale Netzwerkkultur. Solche Übergangsphasen gehen nicht ohne Irritationen, Hoffnungen und Befürchtungen vonstatten. Ideologiekritische Positionen der damali‐ gen Zeit beschrieben die medientechnischen Entwicklungen entweder als Prozess einer von ökonomischen Interessen geleiteten Manipulation und Entmündigung der Menschen, die man als solche entlarven muss, bevor der Verblendungszusammenhang keine Kritik mehr zulässt. 681 Oder aber es wurde dazu aufgefordert, sich die neuen technischen Möglichkeiten zum Aufbau einer sozialeren, gerechteren Welt endlich aktiv anzueignen (und d. h., dem Monopol der Mächtigen zu entreißen). 682 McLuhan hingegen ging einen anderen Weg. Keine anstrengende ‚Aneignung‘ wird gefordert und auch die Manipulations- und Entmündigungsangst wird abgedimmt. Zumindest in den Texten der 1960er Jahren, allen voran in den M AGI S CHE N K ANÄL E N , feiert McLuhan hauptsächlich die (damals) noch neuen Medien: Fernsehen und Computer werden ein globales Dorf schaffen, in dem die gesamte Menschheit in Harmonie leben wird, 683 inklusive dem Versprechen auf „Vielfalt“, „Einzigartigkeit“ und „weniger Konformität“. 684 Zudem ist, 3.2 Strukturelle Kritik 251 <?page no="252"?> 685 Siehe dazu vor allem das letzte Kapitel in D I E M A G I S C H E N K A N Ä L E : „Automation“ (McLuhan, Magische Kanäle, S. 520ff., insb.: S. 540). Siehe dazu kritisch: Jens Schröter, Von Heiß/ Kalt zu Analog/ Digital. Die Automation als Grenze von McLuhans Medien‐ anthropologie, in: Kerckhove u.-a. (Hg.), McLuhan neu lesen, S.-304-320. 686 Weingart, Alles, S.-225. 687 Siehe dazu ausführlicher → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „McLuhan und die Massen‐ medien“. so McLuhan optimistisch, durch die flächendeckende Automation die Not‐ wendigkeit körperlicher Arbeit obsolet geworden. Die Menschen werden aus den von ihnen entfremdeten Verhältnissen befreit sein und sich vor allem künstlerisch-kreativen Tätigkeiten widmen können. 685 Blind für soziale und ökonomische Faktoren geschichtlicher Veränderun‐ gen versteht diese Perspektive technologische Entwicklungen nicht nur als unausweichliches Schicksal, sondern stellt diese überdies als attraktive Pro‐ zesse vor. Das ist durch und durch affirmativ. Jegliches Hinterfragen von ge‐ sellschaftlichen und medientechnologischen Vorgängen wird hier zuguns‐ ten einer bedingungslosen Bejahung der Technik obsolet. Wahrscheinlich liegt genau darin die Attraktivität solch einer Position, wie Brigitte Weingart vermutet, eben „das vermeintlich Unausweichliche nicht nur erträglich, sondern auch wünschenswert zu machen“. 686 Es dürfte dementsprechend kaum ein Zufall sein, dass McLuhan mit solch einer Position in den 1960er Jahren äußerst populär wurde - und zwar weniger in wissenschaftlichen und intellektuellen Kreisen als vielmehr in den Massenmedien selbst, hatten doch Fernsehen, Radio und Magazine wie der P LAY B O Y mit McLuhan ihren charismatischen Apologeten gefunden. 687 Das Problem einer maskulinen Medientheorie Man könnte so eine geartete Kritik noch einmal anders wenden. Denn McLuhan ist genau besehen nicht nur affirmativ gegenüber medientechno‐ logischen Entwicklungen. Sein Medienverständnis kann darüber hinaus als direkter Ausfluss und Agent eines dezidiert maskulinen Machtwillens gelesen werden. Sarah Sharma, ehemalige Direktorin des McLuhan Center for Culture and Technology an der Universität Toronto, formuliert in einem Interview diesbezüglich mit Blick auf die Medientheorien von Friedrich Kittler und McLuhan deutlich: „Für mich sind Kittler und McLuhan […] The‐ oretiker von Geschlecht, sie sind auch Theoretiker von race - nur nicht in der Art und Weise, wie wir uns das wünschen würden. Aber ihre Texte enthalten 252 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="253"?> 688 Sharma u.-a., McLuhan unter Palmen, S.-126. 689 Zum sehr viel komplexeren Verhältnis von Friedrich Kittlers Medientheorie zu Gender siehe: Ulrike Bergermann, Kittler und Gender: Zum Asyndeton, in: Michaela Ott/ Walter Seitter, Friedrich Kittler: Technik oder Kunst? Wetzlar 2002, S. 83-90. Zu Kittler siehe ausführlicher → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Medientheorie (1)“. 690 Siehe dazu und zum Folgenden: Duffy/ Jermey Packer, Wifesaver, v.a.: S.-110ff. 691 Siehe zu Töpfen bspw.: McLuhan, Magische Kanäle, S.-282f. Vorstellungen von white supremacy, vermittelt durch eine Vorstellung der Funktion von Technologie, in der all unsere Medien nicht einfach nur Erweiterungen des Menschen sind, sondern technologische Manifestationen der maskulinen Vorstellung von Dienstbarkeit und Nützlichkeit.“ 688 Zur Plausibilisierung solch einer kritischen Einstellung lässt sich - zumin‐ dest, was McLuhan betrifft 689 - erstens darauf verweisen, dass Medien nach McLuhan immer Erweiterung des Menschen sind. Trotz aller Relativierun‐ gen, Rückkehrfantasien und sedierende Wirkungen auf den Menschen ist McLuhans Perspektive damit von Beginn an eine, die Macht- und Zugriffser‐ weiterung zur Grundlage hat. Zweitens ist sehr deutlich, dass sich McLuhan vor allem mit einer Art von Medien beschäftigt, nämlich mit Medien des Übertragens, genauer solchen der Raumüberwindung, möglichst ohne Zeit‐ verlust. 690 McLuhans Faszinationsgeschichte der Medien beschäftigt sich pri‐ mär mit Telegrafenkabeln, Hörfunk und (Satelliten-)Fernsehen, aber kaum mit Medien des Speicherns - und wenn doch (mit die Schrift etwa oder auch dem Topf 691 ), dann aus der Perspektive ihrer Antiquiertheit und ihres Über‐ wunden-seins. Um es zu pointieren: Das Fernsehen ist das exemplarische Medium für McLuhan, nicht die Tupperware, Textilien oder Töpfe. Es geht also letztlich primär um die Machbarkeit von Erweiterungen, um möglichst flächendeckende Erreichbarkeit und Beschleunigung bis zur Instantanität. Andere Medienfunktionen, etwa das Speichern, Sammeln oder Verarbeiten, sind dagegen unterbelichtet. McLuhans Mediengeschichtsschreibung folgt damit einer Art Frontier-Mythos für maskuline Westernhelden, in dem immer neue Regionen und Welten über den Menschen hinaus erkundet und erobert werden. Dies ist ideengeschichtlich eine Phantasie ‚weißer Männer‘. Denn es geht um maskuline Medien- und Machterweiterung. Andere medi‐ ale Funktionen und Optionen sind von vorneherein abgeschattet. So geartete Mediengeschichten und Medientheorien haben somit einen blinden Fleck, der aus bestimmten, historisch gewachsenen Race- und Gender-Praktiken und -Vorstellungen hervorgeht. Nicht das Medium ist die Botschaft, sondern vielmehr die Gender- und Race-Botschaften präfigurieren die Vorstellungen 3.2 Strukturelle Kritik 253 <?page no="254"?> 692 Sharma u. a., McLuhan unter Palmen, S. 126. Siehe zu den Facetten solch einer feministischen Re-Lektüre von McLuhan den Sammelband: Sharma/ Singh (Hg.), Re-Un‐ derstandig Media. 693 Siehe für ein medienhistoriografisches Beispiel: Nicola Glaubitz u. a., Eine Theorie der Medienumbrüche 1900/ 2000, Siegen 2011. über das, was Medien sind, sein sollen und darüber, wer sich primär dieser Medien bedient bzw. bedienen kann. Deshalb formuliert die beretis zitierte Medienwissenschaftlerin Sharma, zu Recht: „Das ist eine sehr geschlechtsspezifische Vorstellung von Medien und deshalb könnte ihre Arbeit [die von Kittler und McLuhan] tatsächlich Dreh- und Angelpunkt für eine feministische Medienwissenschaft und auch für antirassistische Medienkritik sein.“ 692 Das Problem der Heilsgeschichte McLuhans Medien- und Kulturgeschichte - und das passt wunderbar zur Feier der neuen Medien - ist unverkennbar heilsgeschichtlich angelegt. In der christlichen Heilsgeschichte gibt es den Sündenfall, damit eine Vertrei‐ bung aus dem Paradies, letztlich aber wieder eine Rückkehr ins Paradies. Die narrative Logik der christlichen Heilsgeschichte ist vergleichsweise primitiv und kann sich kaum mit inzwischen in der Geschichts- und Medienwissenschaft diskutierten Entwicklungskonzepten messen, 693 eher ist sie der Narration eines einfachen Westerns vergleichbar: Eine kleine Stadt in der Prärie lebt glücklich, bis ein Ganove auftaucht und alle in Angst und Schrecken versetzt. Der Sheriff muss ihn zur Strecke bringen. Danach leben alle wieder glücklich, ja noch glücklicher als zu Beginn, weil die Abwehr der äußeren Bedrohung das Gemeinschaftsgefühl zu stärken wusste. Solch eine Narration besteht aus drei Phasen, wobei die dritte strukturell die Wiederkunft der ersten bedeutet. Auch in McLuhans Mediengeschichte findet man diesen Zirkel wieder. So leben die Menschen in der oralen Kultur vergleichsweise harmonisch, zumindest in permanenter Wechselwirkung zusammen in kleinen Dörfern. Dann werden durch Einführung der Schrift und potenziert durch den Buchdruck die Menschen voneinander entfremdet. Und erst wieder mit den elektrischen Medien kann diese Entfremdung allmählich wieder aufgehoben werden. Nunmehr sind die Menschen wieder in einer Dorfgemeinschaft verbunden, die nun aber dank dem Telegraphen, dem Radio, dem Fernsehen global vernetzt ist. Es liegt nahe, im globalen Dorf die strukturelle Wieder‐ 254 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="255"?> 694 Siehe zu einer anderen Deutung von McLuhans ‚Heilsgeschichte‘ → 2. Lesart: Herme‐ neutik, These 3. Siehe zu einer ausführlichen Kritik dieser ‚Heilsgeschichte‘: Wittwer, Verwirklichungen, S.-61ff. 695 McLuhan, Magische Kanäle, S.-18. 696 Zur Kritik dieser dem Diesseits zugewandten Heilsgeschichte vor dem Hintergrund des teleologischen Geschichtsverständnisses Georg Wilhelm Friedrich Hegels siehe: Dieter Mersch, Kritik des Medienteleologismus. McLuhan, Flusser und Hegel, in: Kerckhove u.-a. (Hg.), McLuhan neu lesen, S.-196-209: ders., Medientheorien, S.-125ff. 697 McLuhan, Magische Kanäle, S.-16. 698 McLuhan verstand sich selbst indes nicht als Agent Roms. Er führte diese Wendung an, um pointiert zu charakterisieren, wie ihn ein Kritiker (fälschlicherweise aus Sicht McLuhans) charakterisiert - siehe: McLuhan Letters, S.-435. kunft eines (lokalen) Dorfes zu erkennen, nur eben auf weltumspannender Ebene. Hier findet man also die Verlaufsform der Heilsgeschichte wieder. 694 Wie die christliche Heilsgeschichte ist McLuhans Geschichte teleologisch ausgerichtet, denn auch ihr wohnt eine Erlösungsfantasie inne. Das letzte Stadium der Menschheitsgeschichte, das Zeitalter der Elektrizität, scheint bei McLuhan der Menschheitsgeschichte von Anfang an als Verheißung und Zielpunkt eingeschrieben zu sein. Bewegen wir uns doch danach im elektrischen Zeitalter auf einen Punkt „schließliche[r] Harmonie aller Kreaturen“ 695 zu. Insofern wäre McLuhans Mediengeschichte eine kaum verdeckte, diesseitig gewendete christliche Heilsgeschichte. 696 Die kaum überschaubaren und oftmals als bedrohlich empfundenen technologischen, ökonomischen wie sozialen Entwicklungen werden damit zwar nicht ana‐ lytisch erfassbar. Dafür wird aber für Sinn und Orientierung gesorgt - und zwar in Form der abendländischen Meistererzählung schlechthin, eben der Heilsgeschichte. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, dass die Verbindung zur gesellschaftlichen Realität vollständig gekappt wird, ist groß. Anstelle ihrer treten kompensatorische Erlösungsfantasien, die eher das verschlei‐ ern, was sie zu erklären behaupten, nämlich die konfliktösen Dynamiken gesellschaftlicher Macht- und Entwicklungsprozesse. McLuhan nennt diese Einstellung selbst passenderweise „mythisch“, 697 liefert er doch anstelle kritischer Analysen eine sagenhafte Geister- und Göttererzählung. Das wäre an und für sich nicht allzu verwerflich. Jedoch ist daran problematisch, dass diese mythische Heilsgeschichte beansprucht, gesellschaftliche Realität zu beschreiben, obwohl sie doch nur ein Hirnge‐ spinst ist, ein Hirngespinst, das McLuhan nicht nur zum ‚Agenten Roms‘ werden lässt, wie er selbst einmal schrieb, 698 sondern sehr viel mehr noch zu einem Agenten des Kapitals. 3.2 Strukturelle Kritik 255 <?page no="256"?> 699 In dieser Weise äußert sich zumindest Jacques Derrida, der ‚Ahnherr‘ der Dekonstruk‐ tion, in einem Interview: „Bevor [die Dekonstruktion] zu einem Diskurs, zu einer organisierten Praxis wird, die einer Philosophie, einer Theorie, einer Methode ähnelt, die sie nicht ist und die diese instabilen Stabilitäten oder diese Destabilisierungen behandelt, die sie zu ihrem Hauptthema erklärt, ist die ‚Dekonstruktion‘ zunächst diese Destabilisierung, die sozusagen ‚in den Dingen selbst‘ stattfindet […].“ ( Jacques Derrida, Limited Inc. [1988], Wien 2001, S.-187) 700 Um die Differenz noch etwas genauer zu fassen: Ideologiekritiker behaupten, dass sich eine bestimmte Ideologie in Texten zeigen kann, diese aber erst von außen, etwa mit Blick auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse kritisiert werden kann. De‐ konstruktivist: innen behaupten stattdessen, dass sich der Text selbst kritisiert und dafür keine externen Kriterien nötig sind. Damit ist auch eine fundamentale erkenntnisthe‐ oretische Differenz benannt: Gibt es in der Ideologiekritik noch einen Standpunkt, von dem auch gesellschaftliche Realität, Bedürfnisse, Bedeutungszuschreibungen objektiv beschrieben werden können, so wird von der Dekonstruktion bestritten, dass ein solch objektiver Blickwinkel einzunehmen sein könnte. Stattdessen gibt es nur unendliche viele, relative und unkontrollierbare Bedeutungs- und Sinnzuweisungen. Dementspre‐ chend ist es auch konsequent, wenn die Dekonstruktion strikt auf textimmanente Phänomene achtet, also darauf, wie ein Text behauptet, Wahrheit zu verkünden (etwa auch ein ideologiekritischer), jedoch aber inkohärent oder gar widersprüchlich argumentieren muss. 3.2.2 Dekonstruktivistische Kritik Die Dekonstruktion ist nicht zuvorderst eine Theorie, ein Ansatz oder gar eine Methode. Sie ist vielmehr eine Destabilisierungstendenz, die sich in jeder Artikulation immer schon ereignet. 699 Das zumindest ist eine zentrale Prämisse der Dekonstruktion. Dekonstruktivist: innen behaupten also, dass nicht sie etwas in den Text hineinlesen, ihn von einer externen Position aus ad absurdum führen oder kritisieren wollen. Vielmehr behaupten sie: Während der Text Sinn, Bedeutung und Wahrheitsanspruch formulieren und aufrechterhalten will, unterminiert und durchkreuzt er gleichzeitig immer schon seinen eigenen Anspruch auf Sinn, Wahrheit und Bedeutungs‐ konstitution. Diese Gleichzeitigkeit von Konstruktion und Destruktion, die bei jedem Text am Werke sein soll, gilt es ‚nur‘ deutlich nachzuzeich‐ nen, um die konstitutive Offenheit jeder Sinnsetzung, die Möglichkeiten unterschiedlicher Interpretationen und also die Destabilität jedes Textes offensichtlich zu machen. Genau das wäre dann die Herangehensweise der Dekonstruktion, die im Gegensatz zur Kritik der Ideologiekritik keine externen Kriterien heranzieht, wie etwa die tatsächliche gesellschaftliche Realität, um ihr kritisches Geschäft zu betreiben. 700 Dekonstruktion ist eine 256 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="257"?> 701 Genaugenommen ist diese Lektürepraxis auch eine des Schreibens. Denn: Wenn die Dekonstruktivist: innen davon ausgehen, dass jeder Text seine eigenen Sinn- und Bedeutungszuweisungen unterminiert, dann muss dies auch in die Textproduktion der Dekonstruktivist: innen eingehen. Denn für deren Texte gilt diese Prämisse ja dann ebenso. D.h., dass Dekonstruktivist: innen Texte produzieren müssen, die ihre Konstru‐ iertheit ausstellen, die sich nach Möglichkeit einem eindeutigen Sinn verweigern und selbst immer schon mehrere (Interpretations-)Möglichkeiten anbieten. Das dürfte auch der maßgebliche Grund sein, warum Texte von ‚waschechten‘ Dekonstruktivist: innen so kryptisch, metaphorisch und voller Abschweifungen sind. Diese Schreibpraxis soll hier aber vermieden werden, weil es die kritische Argumentation verkomplizieren würde. Damit hat man es dementsprechend nicht mit ‚echten‘ dekonstruktivistischen Textpassagen zu tun. Die Lektüre McLuhans hier ist also dekonstruktivistisch, jedoch nicht die Schreibpraxis. 702 Das ist Derridas großes Thema von Anfang an, siehe dazu bspw. die Textsammlung: Jacques Derrida, Die différance. Ausgewählte Texte, Stuttgart 2004. 703 Mike Sandbothe, Pragmatische Medienphilosophie. Zur Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des Internet, Weilerswist 2001, S.-101. Lektürepraxis, die zeigen will, dass jeder Text sich selbst problematisch wird und seine eigenen Behauptungen notwendigerweise unterminieren muss. 701 Das Problem vermeintlicher Unmittelbarkeit Die Texte werden sich unter anderem deshalb selbst problematisch, weil sie, folgt man Jacques Derridas dekonstruktiven Lektüren, von der Idee einer Selbstpräsenz des Sinns im Sprechen beseelt sind und dort den Ausgangspunkt allen Sinns, aller Ordnung und Wahrheit setzen. 702 Diesem Postulat von der Selbstpräsenz des Sinns im Sprechen, das mit der Idee einer überzeitlichen Wahrheit einhergeht, spürt Derrida in seinen dekonstrukti‐ ven Lektüren vornehmlich klassisch philosophischer Texte des Abendlandes nach. Derrida will dabei zeigen, in welche Aporien sich die Texte mit solch einem Postulat verwickeln. Obwohl nicht gerade zu den klassischen philo‐ sophischen Texten gehörend, verwickelt sich McLuhan in ganz ähnliche Probleme und Widersprüche, wie zu zeigen sein wird. Zuvor sollte noch geklärt werden, warum die Annahme eines unmittelba‐ ren Sinns im Vernehmen der Stimme problematisch ist. Folgt man Derrida, so wird in der abendländischen Philosophie spätestens seit Platon, die Stimme als ein besonderes Phänomen beschrieben. Das Sprechen stellt aus dieser Perspektive nicht einfach nur einen kommunikativen Akt dar, sondern ein Sich-selbst-Vernehmen, das zu einer „Hypostatisierung einer innerlichen und unmittelbaren Präsenz des Sinns“ 703 führt. Das hat unter anderem 3.2 Strukturelle Kritik 257 <?page no="258"?> 704 Siehe dazu ausführlich: Jacques Derrida, Grammatologie [1967], Frankfurt am Main 1983. 705 Genau damit ist denn auch eine Grundoperation der Dekonstruktion in actu zu finden: Derrida macht eine Dichotomie aus (Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit); dann zeigt er, wie in vielen Texten diese Dichotomie normativ aufgeladen wurde (Mündlichkeit gut; Schriftlichkeit defizitär); daraufhin invertiert er die Bewertung der Dichotomie, um zu zeigen, wie Schriftlichkeit der Mündlichkeit vorausgeht, ja diese überhaupt erst möglich macht. 706 Derrida, Grammatologie, S.-29. 707 Siehe dazu: Jacques Derrida, Die différance [1972], in: ders., Die différance, S. 110-149. die Konsequenz, die geschriebene Sprache abzuwerten, als minderwertiges Supplement des reinen Sinns im Sprechen zu verstehen. Schrift stellt die Schwundstufe des gesprochenen Wortes dar und kann niemals Sinn so gut vermitteln wie das unmittelbare Gespräch bzw. niemals so präsent sein, wie eine stimmliche Artikulation. Das kann man so bereits seit der Antike in philosophischen Texten nachlesen, so bspw. in Platons P HAID R O S . Es findet sich aber auch sehr viel später etwa bei Jean-Jacques Rousseau oder in der Phänomenologie Edmund Husserls. 704 Jedoch: Die Vorrangstellung der Mündlichkeit zu behaupten, beruht auf einer unhaltbaren Prämisse, die den Wahrheitsanspruch der Texte von Pla‐ ton, Rousseau oder auch Husserl unterminiert. Denn nach Derrida ist dieses unmittelbare Vernehmen des Sinns in der Stimme und der unvermittelte dialogische Austausch Fiktion. Es kann nämlich keine unmittelbare Präsenz des Sinns geben. Selbst der gesprochenen Sprache liegt eine Art ‚Schrift‘ zugrunde, so das Argument. 705 In der Vorrede seiner G R AMMATO L O GI E schreibt Derrida dementsprechend programmatisch: „Wir werden zu zeigen versu‐ chen, daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge.“ 706 Wie aber sollte man es verstehen, dass Schrift dem Mündlichen voraus‐ geht, wo es doch recht evident ist, dass die Schrift kulturgeschichtlich sehr viel später nachweisbar ist als das gesprochene Wort? Zur Beantwortung dieser Frage ist es wichtig, Derridas Schriftbegriff näher zu betrachten. Schrift ist in seinen Texten nicht einfach etwas, das Worte aufzeichnet. Sie ist vielmehr eine universelle semiotische Verweisungsstruktur, die Derrida auch différance nennt. 707 Jedes Zeichen hat aus dieser Perspektive seinen Sinn nur durch die Differenz zu anderen Zeichen, niemals aber an und für sich. Das Zeichen ‚Baum‘ bezeichnet so je unterschiedliche Vorstellungen, je nachdem, welchen Wortschatz eine Person hat, ob diese es ‚nur‘ in Diffe‐ renz zu dem Zeichen ‚Haus‘ setzen kann oder mit dem Zeichen ‚Strauch‘ einen Teilaspekt das Zeichen ‚Baum‘ spezifiziert etc. Dieses differenzielle 258 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="259"?> 708 Siehe dazu ausführlicher auch: Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen [1967], in: ders., Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main, S.-422-442. 709 Siehe dazu bspw.: McLuhan, Gutenberg-Galaxis, S. 27. Zu einer Differenzierung zwi‐ schen mündlicher Artikulation und oraler Kultur siehe → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. Zeichensystem kann bei verschiedenen Personen unterschiedlich sein und sich zeitlich verändern. Der Clou dieser Überlegung ist, dass legitimerweise kein Kriterium anzugeben ist, wann nun endlich der wahre Sinn eines Zeichens gefunden sein könnte. Denn die Sinnzuweisungsmöglichkeiten und das differentielle Zeichensystem sind per se unendlich offen, lassen sich nicht abschließen, geschweige denn kontrollieren. Nie kommt man zu einem letzten Zeichen, das alle anderen erklärt, nie kommt man zu einer letzten Regel, die nicht wiederum selbst dem Spiel des differenziellen Zeichensystems unterliegt. 708 Der Sinn verschiebt sich unendlich oder andersherum ausgedrückt: ist unendlich aufgeschoben. Jede Fixierung auf einen eindeutigen Sinn oder eine eindeutige Bedeutung eines Zeichens ist nicht zu begründen, buch‐ stäblich eine unendliche, also unbewältigbare Aufgabe. Akzeptiert man den differenziellen Zeichencharakter jeglicher Bedeutungszuweisung, so gerät man zu sich selbst in Widerspruch, wenn man die Fixierbarkeit eines eindeutigen Sinnes postuliert. Das gilt denn auch für mündliche Aussagen. Selbst bei diesen kann der Sinn niemals ganz und gar präsent sein. Stattdessen ist er unendlich aufgeschoben, führt immer eine Distanz und unendlich viele mögliche Bedeutungszuweisungen mit sich. Das gilt für jeden mündlichen Austausch und so eben auch für McLuhans orale Kultur. Laut McLuhan besteht dort auf Grundlage oraler Kommunikation nicht nur eine unmittelbare Integration des Einzelnen in die Gemeinschaft, sondern im kommunikativen Austausch ist immer auch der Sinn der Artikulationen unmittelbar präsent. 709 Orale Kultur ist aus McLuhans Sicht also doppelt sinnstiftend: Einzelne Personen sind sich in ihren Artikulationen sinnhaft präsent und im stimmlichen Kollektiv bilden sie eine unauflösliche Sinnpräsenz. Aus der Perspektive Derridas muss das eine Fiktion sein. Jegliche Kommunikation hat zur Grundlage ein differenzielles Zeichensystem, das eindeutige Bedeutungsfi‐ xierung verunmöglicht, den letztendlichen Sinn immer aufschiebt. So kann McLuhans Behauptung von der Unmittelbarkeit des Sinns in mündlichen 3.2 Strukturelle Kritik 259 <?page no="260"?> 710 McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S.-44. 711 Siehe dazu McLuhan sehr deutlich: McLuhan, Magische Kanäle, S.-127f. 712 Jacques Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, S.-313 (Hervorhebung von mir [SG]). 713 Sprenger, Medien des Immediaten. Verlautbarungen nicht zutreffen. Diese Aussage muss in einen Widerspruch zur generellen Struktur von Kommunikationsprozessen führen. Noch deutlicher wird das, wenn man sich McLuhans Geschichtsschrei‐ bung zuwendet. Seit der Einführung der alphabetischen Schrift wird nach McLuhan die doppelte Sinnstiftung der oralen Kultur sukzessive untermi‐ niert. Die Menschen entfremdeten sich voneinander; unmittelbare Sinn‐ stiftung wurde ersetzt durch indirekte Kommunikation via Schrift. Diese soll jedoch niemals die Bedeutungsfülle oraler Kommunikation erreichen können. Mit Einführung der Schrift beginnt für McLuhan die Verfallsge‐ schichte des unmittelbaren Sinns. Aufgehoben wurde dieser Verfall jedoch mit dem Einzug der elektrischen Medien. Diese ermöglichte wieder einen direkten kommunikativen Zugang der Menschen zueinander. Die orale Kultur kehrt wieder, diesmal medientechnisch fundiert und flächendeckend vernetzt in einem globalen Dorf. Genau genommen wird sogar dort der unmittelbare Sinn noch unmittelbarer zugänglich. Zumindest spekuliert McLuhan darüber: „Mit Hilfe des Computers könnten wir also, statt Spra‐ chen zu übersetzen, dazu übergehen, sie völlig zu ignorieren zugunsten eines umfassenden kosmischen Unbewussten […]“ 710 Unmittelbarer scheint es nicht mehr zu gehen. Die Entfremdungen der Schriftkultur sollen so jedenfalls aufgehoben, unmittelbares Verstehen wieder bzw. auf globaler Ebene überhaupt erst möglich sein. Medien- und Kulturgeschichte wird unter diesem Blickwinkel eine Rückkehrgeschichte: Man kehrt zurück zur unvermittelten Kommunikation, zur direkten Verständigung der Bewusst‐ seine und zur Präsenz des Sinns. 711 Derrida schreibt diesbezüglich kritisch: „Wir wohnen nicht einem Ende der Schrift bei, das der ideologischen Darstellung McLuhans zufolge eine Transparenz oder eine Unmittelbarkeit der gesellschaftlichen Beziehungen wiederherstellen soll [….].“ 712 McLuhans Geschichtsschreibung läuft so verstanden letztlich auf das widersprüchliche Ansinnen hinaus, die Entfremdung durch Medientechniken mit und in Medientechniken überwinden zu wollen. Der unmittelbare Sinn soll durch mediale Vermittlung wieder hergestellt werden. Medien wären so, wie Florian Sprenger es nennt, „Medien des Immediaten“, 713 also Mittler von 260 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="261"?> 714 Siehe für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit McLuhans Rückkehrgeschichte → 2. Lesart: Hermeneutik, These 2. Dort wird, entgegen der hier vorgebrachten Kritik dafür argumentiert, die orale Kultur gerade nicht als harmonischen Ausgangssituation des Menschen zu verstehen, sondern als erste Irritation und Störung der Sinne und dementsprechend des Sinns. 715 Weingart, Alles, S.-225. 716 McLuhan, Magische Kanäle, S.-97. 717 In diese Richtung argumentiert bspw. Mike Sandbothe im Anschluss an Derrida - siehe: Pragmatische Medienphilosophie, v.a.: S.-103ff. Unmittelbarkeit - einer Unmittelbarkeit, die gerade durch den Einsatz von Medien verloren gegangen sein soll. 714 Doppelt problematisch ist McLuhans Vorstellung eines unmittelbaren Sinns also erstens, weil jegliche Artikulation, angefangen von der münd‐ lichen Artikulation, die unmittelbare Sinngebung verfehlt, ja, konstitutiv verfehlen muss. Zweitens können uns folglich auch keine medientechni‐ schen Entwicklungen zu einem unmittelbaren Sinn zurückführen. Solch eine Position hat eine vergebliche Zielrichtung, gründet sie doch in dem Paradox, nämlich „die Erlösung von Medien durch […] Medien“ 715 zu erwar‐ ten. Medien sind als Medien immer schon und konstitutiv Vermittler, ver‐ schieben, transformieren und formatieren das Vermittelte. Dies entspricht McLuhans eigener Prämisse, wenn er schreibt, dass Medien „als Übersetzer“ zu verstehen sind, die „Erfahrung in neue Formen […] übertragen […].“ 716 Dies muss dann aber auch - entgegen McLuhans eigener Einschätzung - für Medientechnologien vermeintlich instantaner Übertragung gelten. Denn: Unmittelbarkeit ist so gewendet in und mit Medien nicht zu haben, ja selbst zuallererst ein medial vermitteltes Phantasma. Viel plausibler scheint mit Blick auf die Medienentwicklung - mit und gleichzeitig gegen McLuhan - von einem Pluralisierungsprozess auszugehen, der uns zu einer immer größeren Verstreuung, Verschiebung und Transformationen von Sinnsetzungen in einer immer komplexer vernetzten Welt führt. 717 Das Problem der Dichotomien Der Dekonstruktion geht es, wie bereits formuliert, darum aufzuzeigen, wie ein Text konstruiert ist. Welchen Ordnungsprinzipien folgt er? Mit welchen Mitteln versucht er, glaubwürdig zu wirken? Wie versucht er, die Rezipient: innen davon zu überzeugen, dass er etwas Wichtiges, Sinnvolles, Plausibles, Wahres zu sagen hat? Zentraler Aspekt der dekonstruktiven 3.2 Strukturelle Kritik 261 <?page no="262"?> 718 Siehe dazu ausführlich: Sprenger, Medien des Immediaten, v.a.: S.-410ff. Lektürepraxis ist die Aufdeckung der vielen Texten zugrunde liegenden rigiden dichotomischen Ordnungsmuster. Denn sie sind mehr oder weni‐ ger auffällig durch einfache Oppositionen strukturiert (wahr/ falsch; gut/ schlecht; männlich/ weiblich; gesund/ krank; anwesend/ abwesend usf.). Al‐ les, was sich jenseits solcher Oppositionen befindet, nicht der damit ein‐ gezogenen strikten Aufteilung folgt, wird zumeist ausgespart oder doch marginalisiert. Die Texte sind einer zweiwertigen Logik, einem Denken in strikter Gegenüberstellung verpflichtet, also einem dichotomischen Den‐ ken. Die Formulierungen sind aber nicht einfach nur durch Oppositionen strukturiert, darüber hinaus bilden diese Begriffspaare in den allermeisten Fällen eine Asymmetrie aus, die normativ aufgeladen wird. D.h.: Ein Begriff des Oppositionspaares soll höherwertig sein als der andere. Damit wird der eine Begriff des Dichotomie aufgewertet, der andere ist dann das ‚Andere’, die Abweichung, das Supplement, dementsprechend minderwertiger. Bspw. wird in der abendländischen Ideengeschichte die Frau lange Zeit nicht nur in Opposition zum Mann gedacht, sondern vor allem vom Mann ausgehend, als das Andere, die Abweichung, vom Normzustand Mann‐ sein. Das Mannsein erhält nichtsdestotrotz seine herausragende Stellung gerade erst durch die Gegenüberstellung zum vermeintlich untergeordneten Frausein. Mannsein benötigt so gesehen das Abgeleitete, das Supplement konstitutiv, um sich selbst als Normalzustand, als Ursprung zu setzen. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Gegenüberstellung von Präsenz und Absenz. So wird, wie der obigen Diskussion zu entnehmen ist, bei McLuhan die Präsenz, das Unmittelbare als das Höherwertige gesetzt und Absenz als das Minderwertige verstanden. Eine solche Gegenüberstellung formuliert McLuhan obwohl erstens, folgt man Derridas Argumentation, vollkommene Präsenz des Sinnverstehens eine Illusion bleiben muss. Zweitens bleibt die Idee von Präsenz auch und gerade bei McLuhan an Absenz gebunden, wird die Präsenz bei ihm doch vor dem Hintergrund einer elektrischen Vernetzung von Entferntem und demensprechend die paradoxe Figur einer vermittelte Unmittelbarkeit imaginiert. 718 Damit wäre das vermeintlich Abgeleitete, trotz und gegen die explizit formuliert Absicht, die im Text artikuliert wird, das eigentlich Ursprüngliche. Hiermit hat man ein nahezu idealtypisches Beispiel, wie sich ein Text, indem und während er etwas be‐ hauptet, gleichzeitig sein Gegenteil mitführt und sich so selbst unterminiert. 262 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="263"?> 719 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 2. 720 Siehe bspw.: McLuhan, Magische Kanäle, S.-15, 538ff. 721 Siehe dazu ausführlich → 1. Lesart: Rhetorik. 722 Siehe dazu ausführlicher: Marchand, McLuhan, S.-314ff. 723 Siehe zu all diesen Gegenüberstellungen ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 2, These 3. Interessant ist bei McLuhan: Er selbst lehnt dichotomische Argumenta‐ tion und zweiwertige Logik strikt ab. Oder genauer noch: Sie werden einer bestimmten mediengeschichtlichen Phase zugeordnet, die inzwischen überwunden sein soll. Diese Art des Denkens bringt McLuhan nämlich in Zusammenhang mit der mediengeschichtlichen Einführung der Schrift und dann vor allem mit der Etablierung des Buchdrucks 719 . Insbesondere in der Gutenberg-Galaxis, also in der kulturgeschichtlichen Phase, die durch die Verbreitung von Informationen via Druckerpresse geprägt ist, sind McLu‐ han zufolge spezifische Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Erkennt‐ nisformen ausgebildet worden, die mit Abstraktion und Homogenisierung verbunden sind. Dabei hat sich dieser Perspektive zufolge flächendeckend das Denken in Dichotomien bzw. die zweiwertige Logik als absolutes Maß der Wahrheit ausgebildet, nach dem sich alles und alle zu richten haben. Jetzt aber, im Zeitalter der Elektrizität, ist diese Art von Denken obsolet geworden. An die Stelle von logisch kohärenten Erklärungen und klaren Aussagen ist ein vielfältiges Erkunden getreten; die Dinge werden aus unterschiedlichen, auch teilweise inkompatiblen Blickwinkeln betrachtet - assoziativ, sprunghaft, fragmentarisch, collagierend, nicht-dichotomisch. Die Maxime gilt: Kreativität statt Logik. 720 McLuhan hält sich selbst in seiner grundlegenden Zugriffsweise aber nicht an seine Maxime. Zwar schreibt er ohne Zweifel fragmentarisch, col‐ lagierend, sprunghaft und assoziativ. 721 Jedoch ist seine Zugriffsweise strikt dichotomisch - und zwar nahezu hinsichtlich aller Phänomene, mit denen er sich beschäftigt. So teilt er bspw. Theoretiker: innen gern ein in Menschen, die ihre rechte Gehirnhälfte aktivieren und diejenigen, die ‚nur‘ ihre linke Hirnhemisphäre nutzen. 722 Es gibt kalte und heiße Medien, jedoch keine Mischformen. Visuelle Wahrnehmung wird übergangslos gegen taktile auf‐ geboten. Es gibt die Logik der Druckerpresse und es gibt die Auflösung dieser Logik durch das Fernsehen, nichts dazwischen. Dementsprechend gibt es die schroffe dichotomische Gegenüberstellung der Gutenberg-Galaxis und des Zeitalters der Elektrizität. Das Medium wird hart gegen seinen Inhalt gestellt. Die Liste ließe sich fortsetzen. 723 3.2 Strukturelle Kritik 263 <?page no="264"?> 724 Diese Kritik begleitet McLuhan im Übrigen bereits seit den 1960er Jahren, verhinderte aber nicht McLuhans (anhaltende) Popularität in den Medien- und Kulturwissenschaf‐ ten. Siehe hierzu auch: Weingart, Alles, S.-220f. Der entscheidende Punkt ist: Obwohl McLuhan seine Texte fragmenta‐ risch gestaltet, im textuellen Verlauf zumeist auf argumentative Kohärenz verzichtet, bleibt er dennoch - und entgegen seiner eigenen Bekundung - ei‐ ner rigiden dichotomischen Ordnung verpflichtet, die erstens Begriffspaare weiterhin gegeneinanderstellt und die zweitens einen der Begriffe als höher‐ wertig einstuft. Kalte Medien sind besser als heiße, weil sie die Fantasie der Rezipient: innen fördern, im Gegensatz zu heißen Medien; rechtssphärisch zu denken ist ganzheitlicher, kreativer und natürlicher als linkssphärisches, analytisch eingeschränktes, auf zweiwertiger Logik basierendes Denken; das Medium ist entscheidend, der Inhalt irrelevant; das Fernsehen verbindet, die Druckerpresse entfremdet etc. McLuhan will explizit dichotomisches Denken verabschieden, verbleibt aber nahezu obsessiv in dichotomischen Denk- und Argumentationsgleisen. McLuhans Texte unterwandern sich so permanent selbst. In ihnen wird etwas behauptet (die Auflösung von binärem Denken) und das Gegenteil getan (nämlich in binären Schemata gedacht). Das Problem des performativen Selbstwiderspruchs McLuhan kritisiert dichotomisches Denken, argumentiert aber gleichzeitig dichotomisch - damit ist man schon auf halbem Wege zum sogenannten performativen Selbstwiderspruch. 724 Ein performativer Selbstwiderspruch ist nicht einfach ein Widerspruch in einer Argumentationskette. Es geht nicht darum, dass ich bspw. an einer Stelle sage ‚McLuhan ist toll‘ und an einer anderen ‚McLuhan ist das allerletzte‘ - und mir somit augenscheinlich selbst widerspreche. Es ist ebenfalls mehr als Kritik zu üben an dem bereits weiter oben ausgeführten Widerspruch, dass McLuhan Kritik an dichotomi‐ schem Denken übt, aber anderseits selbst einer dichotomischen Ordnung verpflichtet bleibt. Bei einem performativen Selbstwiderspruch wird etwas geäußert, das, wenn es wahr sein sollte, sich direkt, im Vollzug der Äußerung selbst ad absurdum führt. Das Paradebeispiel hierfür ist das sogenannte Kreter-Paradox, das da lautet: ‚Ein Kreter sagt: ‚Alle Kreter lügen‘.‘ Sollte die Aussage wahr sein, so muss der Kreter lügen, denn er ist ja selbst ein Kreter, also muss die Aussage falsch sein. Der Kreter begeht hier einen 264 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="265"?> 725 Vgl. dazu Pfister, Werkzeuge, S. 98. Pfister erläutert den Handlungsaspekt des perfor‐ mativen Selbstwiderspruch anhand eines Diktums von Descartes, nämlich an ‚Ich denke, also bin ich.‘ Wollte man diese Aussage widerlegen, scheint es zwangsläufig, dass ich mich in einen performativen Selbstwiderspruch verstricke: „Wenn ich denke, dass ich nicht existiere, so denke ich etwas, was im Widerspruch zu dem steht, was ich unterstellen muss. Dies ist kein logischer Widerspruch, denn der Gedanke ‚Ich existiere nicht‘ ist nicht in sich widersprüchlich. Vielmehr steht er im Widerspruch zu einer anderen Aussage, nämlich der Aussage ‚Ich existiere‘, und die Wahrheit dieser Aussage muss ich unterstellen, wenn ich denke ‚Ich existiere nicht‘. Man nennt dies auch einen ‚performativen Widerspruch‘, einen Widerspruch in der Handlung.“ (Ebd.; Hervorhebung von mir [SG]) 726 Zu einer alternativen Deutung dieses Slogans siehe → 2. Lesart: Hermeneutik, These 3. performativen Selbstwiderspruch: Indem er etwas als wahr behauptet, zeigt es sich als falsch. Oder genauer: Indem der Kreter einen Wahrheitsanspruch für seine Aussage erhebt, unterminiert er diesen Wahrheitsanspruch, weil er die prinzipielle Gültigkeit des Wahrheitsanspruches mit seiner Aussage selbst ad absurdum führt. Die Aussage ‚Alle Kreter lügen‘ ist nicht in sich selbst widersprüchlich; sie wird es erst mit der Aussage eines Kreters, also durch einen spezifischen Sprechakt. 725 Das lässt sich auch auf andere Aussagen übertragen. Behauptet man etwa, alles sei Lüge, dann hat man dasselbe Problem. Denn: Wenn dem so wäre, müsste das ja auch auf diese Aussage zutreffen. Also müsste die Behauptung, dass alles Lüge sei, selbst eine Lüge sein. Der Satz, dass alles eine Lüge sei, könnte folglich nicht wahr sein. Ähnliches gilt für Aussagen wie: „Es gibt keine Wahrheit“, „Alles ist relativ“, „Alles ist Schein“ oder auch McLuhans Slogan „Das Medium ist die Botschaft.“ Letzteres ist vielleicht nicht sofort einsichtig, darum werde ich darauf etwas näher eingehen. McLuhan behauptet mit dem Satz ‚Das Medium ist die Botschaft‘: Nicht die Inhalte, die vermeintlichen Botschaften, die durch Medien übermittelt werden, sind ausschlaggebend für die Wirkungen, die bei den Empfänger: in‐ nen ausgelöst werden. Dafür ist das jeweils verwendete Medium sehr viel entscheidender. 726 Der Inhalt, die Absicht, die dem Vermittelten zugrunde liegen mag, ist letztlich irrelevant. Darum sollte man auch nicht mehr die Absichten der Sendenden untersuchen, sich nicht mit Medieninhaltsanaly‐ sen aufhalten, sondern die Form des Mediums untersuchen. Das Problem an dieser Aussage ist nun zunächst einmal schlicht: Sollte die Aussage zutreffen, dass der Inhalt des Mediums keinerlei Relevanz hat, dann müsste das eben auch auf McLuhans Slogan selbst zutreffen. Denn auch der Satz 3.2 Strukturelle Kritik 265 <?page no="266"?> 727 Friedrich Kittler, Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S.-5. „Das Medium ist die Botschaft“ ist ja der Inhalt eines Mediums. Und wenn der Inhalt eines Mediums irrelevant ist, dann muss folglich auch McLuhans Slogan irrelevant sein. Sollte der Satz also wahr sein, dann gerät er zu sich selbst in Widerspruch, behauptet er doch, dass Inhalte irrelevant sind. Aber um das zu verstehen, darf der Inhalt nicht irrelevant sein, sonst könnte ich niemals etwas darüber erfahren. Die Aussage unterminiert sich selbst. Das lässt sich noch grundsätzlicher wenden: Wenn es zutreffen sollte, dass Medien Effekte jenseits der Inhalte und Intentionen erzielen, bleibt die Frage, wie wir davon wissen, wie wir das verstehen können sollten. Friedrich Kittler formuliert das Problem sehr präzise: „Medien zu verstehen, bleibt - trotz Understanding Media im Buchtitel McLuhans - eine Unmöglichkeit, weil gerade umgekehrt die jeweils herrschenden Nachrichtentechniken alles Verstehen fernsteuern.“ 727 Jedoch löst Kittler das Problem ebenfalls nicht. Vielmehr nimmt in seiner Formulierung ein grundsätzliches Problem jeder Medientheorie in Tradition von McLuhan noch klarer Kontur an. Denn, wenn es so wäre, dass ‚die jeweils herrschenden Nachrichtentechniken‘ alles Verstehen fernsteuern, also das Medium die Botschaft ist, um es mit McLuhan zu formulieren, dann könnten wir nicht nur nicht Medien verstehen. Darüber hinaus wäre ja auch die These selbst, eben dass die ‚jeweils herrschenden Nachrichtentechniken alles Verstehen fernsteuern‘, selbst ferngesteuert durch die vorherrschende Nachrichtentechnik, also Effekt der Medien. Es bleibt dabei Kittlers (und McLuhans) Geheimnis, wie wir davon wissen können sollen, da unser Wissen doch von den Medien ferngesteuert wird. Über die Medien ließe sich so nicht einmal sagen, dass sie uns fernsteuern, denn die Medien machen es uns ja unmöglich, dass wir das tatsächlich wissen können. Auch in Kittlers Fassung haben wir es mit einem performativen Selbstwiderspruch zu tun: Wenn Medien uns fernsteuern, dann steuern sie auch fern, ob wir das verstehen können oder nicht. Der Wahrheitsanspruch, der mit der Aussage ‚Die jeweils herrschenden Nachrichtentechniken (fern-)steuern unser Verstehen‘ kann somit nicht aufrecht gehalten werden. Es gibt keinen Standpunkt mehr, von dem aus solch ein Wahrheitsanspruch formuliert werden könnte. Damit haben sich McLuhan und Kittler in eine erkenntnistheoretische Sackgasse manövriert. 266 3 Lesart: Kritik - McLuhan zerstören <?page no="267"?> 728 Die Dekonstruktion wählt hier im Übrigen einen eleganteren Ausweg. Derrida ist sich sehr wohl bewusst, dass auch die Dekonstruktion nicht um das Problem des performativen Selbstwiderspruchs herumkommt. Der Ausweg wird jedoch nicht in purer Ignoranz gesucht, sondern in die dekonstruktive Arbeit mit aufgenommen, als eine unendliche und gleichsam unmögliche Aufgabe: „Diese destruktiven Diskurse […] sind aber allesamt in einer Art von Zirkel gefangen. Dieser Zirkel ist einzigartig; er beschreibt die Form des Verhältnisses zwischen der Geschichte der Metaphysik und ihrer Dekonstruktion: es ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern will. Wir verfügen über keine Sprache […], die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre. Wir können keinen einzigen destruktiven Satz bilden, der nicht schon der Form, der Logik, den implizierten Erfordernissen dessen sich gefügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte.“ ( Jacques Derrida, Struktur, Zeichen und das Spiel, S. 424) Genau deshalb ist die Dekonstruktion eben keine bloße Destruktion und ebenso wenig bloße Konstruktion, sondern eine Lektüre- und Schreibpraxis, die der permanenten dekonstruktiven Bewegung, die sich am Text vollzieht, nachgeht und dennoch zu keiner endgültigen Wahrheit dahinter kommen kann. Das Ende der Kritik Anstelle von Absichten, Medieninhalten und überzeitlichen Wahrheiten werden bei McLuhan die Medientechnologien gesetzt. Diese sollen die Menschen (fern-)steuern und den Weltenverlauf hinter unserem Rücken strukturieren. Doch untergräbt solch ein Deutungsmuster sich selbst und führt in eine erkenntnistheoretisch Aporie. Wenngleich das nach dekonst‐ ruktivistischer Prämisse bei jeder Ordnungsfiktion so sein muss, dürfte das kaum ein Trost sein für McLuhan und die Medientheorie, die in seiner Tradition steht. 728 Zwar kokettiert McLuhan immer wieder mit der Auflösung der Formen traditioneller Wissenschaft. Bei genauerer Betrach‐ tung aber zeigt sich, dass McLuhans Texte nicht nur kaum traditionellen wissenschaftstheoretischen Minimalanforderungen nach argumentativer Konsistenz, Folgerichtigkeit und Systematik gerecht werden, nicht nur keinerlei gesellschaftskritischen Impetus bereithalten, sondern auch noch - trotz avantgardistischem Gestus und Feier des wilden Denkens - letztlich an antiquierten und unterkomplexen Ordnungs- und Strukturmustern festhal‐ ten. Dies alles zusammengenommen macht es schwierig, McLuhans Thesen und Argumente nicht skeptisch zu begegnen und recht naheliegend, sie mit guten Gründen abzulehnen. 3.2 Strukturelle Kritik 267 <?page no="269"?> 729 Siehe bspw. Martin Suhr, Praxis, in: Peter Prechtl/ Franz-Peter Burkard (Hg.), Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen, Stuttgart/ Weimar 3 2008 S. 480-481. Dort heißt es u.a.: „Das Ziel des Mensch[en] hier ist es, in einer bestimmten Weise zu leben oder zu handeln, bestimmte Dinge zu machen, nicht dagegen zu verstehen, außer insoweit dieses Verstehen ein Mittel zum Handeln oder Hervorbringen ist.“ (Ebd., S. 480; Hervorhebung von mir [SG]) 730 Zu unterscheiden sind: Pragmatik in einem alltagssprachlichen Sinne, Pragmatik als philosophisches Projekt sowie der Pragmatismus und seine Unterformen. Ich werde mich bei meiner Darstellung auf eine der Unterformen des Pragmatismus beschränken, nämlich auf denjenigen Richard Rortys, den dieser in Tradition von John Dewey und Williams James entwickelt hat. Der zeichentheoretisch, analytisch und formallogisch ausgerichtete Pragmatismus eines Charles S. Peirces oder Georg Herbert Meads wird hingegen keine Berücksichtigung finden. 731 Lothar Bredella, Neo-Pragmatismus, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Lite‐ ratur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe, Stuttgart/ Weimar 3 2004, S.-470 -471, hier: S.-470. 732 Siehe dazu → 2. Lesart: Hermeneutik. 733 Siehe dazu → 3. Lesart: Kritik. 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen Eine pragmatische Haltung einzunehmen, bedeutet zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger, als einen klugen Umgang mit praktischen Situa‐ tionen und Problemen zu pflegen. Pragmatiker: innen fordern demgemäß Vorstellungen aller Art im Hinblick auf ihre möglichen praktischen Wirkun‐ gen zu beurteilen - und damit eben nicht primär im Hinblick auf Wahrheit oder ob etwas richtig verstanden wurde. 729 Ein Zweig philosophischer Prag‐ matismus kritisiert überhaupt die Ausrichtung am Wahrheitsbegriff und dem Streben nach Gewissheit als erkenntnis- und handlungsanleitendem Impuls. 730 Bspw. plädiert Richard Rorty dafür, „den Begriff [der Wahrheit] überhaupt aufzugeben und durch den des ‚Nutzens‘ zu ersetzen: ‚wahr‘ ist, was unseren Zielen nützt“; es kommt Rorty zufolge nicht darauf an, dass wir entdecken, „wie die Dinge wirklich sind, sondern daß wir eine bessere Welt erfinden.“ 731 ‚Nicht darauf achten, wie Dinge wirklich sind, statt dessen eine bessere Welt zu erfinden‘ soll in diesem Kontext bedeuten: Es wird kein Wert darauf gelegt, wie McLuhan richtig zu interpretieren ist 732 bzw. ob er von anderen Autor: innen richtig interpretiert wurde oder ob seine Beschreibungen die Dinge richtig darstellen oder nicht. 733 Stattdessen geht es darum nachzuvollziehen, wie seine Texte, Argumente und Aphorismen nutzbar gemacht wurden bzw. nutzbar zu machen sind, um interessante <?page no="270"?> 734 Siehe zu diesem Impetus der Veränderung bspw.: Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1992, S.-14ff. 735 Siehe bspw.: Marchand, McLuhan S.-248f. Perspektiven auf Medien, Kultur oder gleich die gesamte Welt zu (er-)finden. ‚Interessant‘ sind solche Perspektiven aus einer pragmatischen Sicht genau dann, wenn sie uns nicht nur helfen, Medien, Kultur und die Welt besser zu verstehen, sondern sie zu verändern oder doch zumindest einen klügeren Umgang mit ihnen zu ermöglichen. 734 ‚What if he is right? ‘ Als Ausgangspunkt meiner pragmatischen Sondierungen McLuhans dient ein Artikel von Tom Wolfe. Wolfe veröffentlichte im November 1965 ein längeres Porträt im New York-Magazin unter dem Titel W HAT I F H E I S R IGHT ? . Unter anderem vergleicht Wolfe dort McLuhan mit Isaac Newton, Charles Darwin, Sigmund Freud und Albert Einstein. McLuhan wird also ins Verhältnis zu einigen der einflussreichsten Forschern überhaupt gesetzt. Wolfes Artikel machte Karriere. In Rückblicken auf McLuhans Wirken wird er bis heute gern zitiert. 735 Zu Recht, war er doch maßgeblich daran beteiligt, McLuhan einer größeren Leserschaft bekannt zu machen. Darüber hinaus ist er wunderbar als Ausgangspunkt geeignet, um die unterschiedlichen Rezeptionsweisen und Nutzbarmachungen McLuhans nachzuzeichnen. Denn: Der Artikel ist erstens Katalysator wie Zeugnis des Hype, der vor allem in den 1960er Jahren um McLuhan in den Massenmedien ver‐ anstaltet wurde. McLuhan ist dort in unterschiedlicher Weise ‚nutzbar‘ gemacht worden. Vor allem für und im Fernsehen zeigte er sich dabei in einer Weise, die stilbildend werden sollte für kommende ‚Pop- und Medienphilosoph: innen‘. Zweitens ist der Artikel von einem Reporter mit schriftstellerischen Ambitionen verfasst. Damit ist der Adressatenkreis benannt, der von McLuhan, zumindest für eine gewisse Zeit, am meisten fas‐ ziniert gewesen sein dürfte, nämlich Künstler: innen. McLuhans Thesen und Spekulationen wurden, wie zu zeigen sein wird, im künstlerischen Milieu vor allem für avantgardistische, auf Weltveränderung abzielende Projekte nutzbar gemacht. Drittens wird McLuhan in Wolfes Porträt, wie das obige Zitat zeigt, in die Ahnenreihe einiger Höhenkammforscher gestellt. Jedoch wählt Wolfe für diese Genealogie nicht die Form eines Behauptungssatzes. Vielmehr ziert, nach einem langen Gedankenstrich, in dem McLuhan mit 270 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="271"?> 736 Oszilliert doch die Rezeption zwischen höchster Bewunderung (vor allem für seine vermeintlich visionären, ja geradezu prophetischen Thesen) und massiver Kritik, ja regelrechter Verachtung - siehe dazu ausführlicher das Eingangskapitel → Wege zu McLuhan. Newton, Freud und anderen revolutionären Wissenschaftlern verglichen wird, das Ende des Satzes ein Fragezeichen: „[…] - what if he is right? ”. So markiert der Satz einerseits eine Verunsicherung - eine Verunsicherung, die sich tatsächlich durch die Rezeptionsgeschichte McLuhans ziehen wird. 736 Anderseits - und hier entscheidender - lässt sich die Frage auch als eine nach der Potenzialität McLuhan’scher Zugriffsweise lesen: ‚What if he is right? ‘ wäre dann nicht die Frage danach, ob McLuhan nun tatsächlich recht hat oder nicht, sondern vielmehr: Welche Konsequenzen hätte es, wenn wir uns McLuhans Perspektive zu eigen machen, uns auf einige seiner seltsamen Ideen, sein Vokabular, seine Metaphern einlassen, diese vielleicht sogar weiterspinnen? So verstanden geht es dann nicht mehr darum, ob McLuhan wahre Sätze formuliert über den Gegenstand x oder y, ob er Beweise oder Gründe hat für seine Aussagen etc., sondern ob er eine nützliche, interessante, fruchtbar zu machende (Neu-)Perspektivierung vermittelt oder doch zumindest eine solche anstoßen kann, so wie eben Darwin, Freud oder Einstein vor ihm. Anhand einiger Beispiele möchte ich solchen Nutzbarmachungen McLu‐ hans in den drei benannten Bereichen nachgehen, die in Wolfes Text virulent sind. Zunächst soll die massenmediale Berichterstattung über McLuhan kurz beleuchtet werden (Kap. 4.1), bevor dann die Aufnahme von McLuhans Ideen im künstlerischen Kontext thematisiert wird (Kap. 4.2). Anschließend verfolge ich vergleichsweise ausführlich diverse Nutzbarmachungsoptionen von McLuhans Thesen im und für den wissenschaftlichen Diskurs (Kap. 4.3). Am Ende soll dann noch kurz nach dem Nutzen McLuhans für das Leben überhaupt gefragt werden (Kap. 4.4), ganz im Sinne der pragmatischen Fragerichtung: Liefert McLuhan Hinweise und Möglichkeiten, um mit praktischen Situationen und Problemen klug umzugehen? 4.1 McLuhan und die Massenmedien McLuhan wollte wirken, keine Frage, auch über die engen akademischen Zirkel hinaus und nicht nur mittels Texten und Vorträgen auf Fachkongres‐ sen. Dafür fand er schnell Kooperationspartner: innen. Man lud McLuhan 4.1 McLuhan und die Massenmedien 271 <?page no="272"?> 737 Siehe dazu ausführlicher → Wege zu McLuhan. 738 Siehe dazu auch: Weingart, Alles, v.a.: S. 222. Einige Kostproben sind online zugänglich - siehe bspw. das CBS-Medienarchiv: URL: http: / / archives.cbc.ca/ arts_entertainment/ me dia/ topics/ 342/ [11.11.10]. 739 Als „Pop-Philosoph“ wird McLuhan bereits 1967 vom S P I E G E L tituliert (hier: Anonymus, Übertriebene Generation, in: Der Spiegel, (41) 1967, S. 154-170, hier: S. 168). ‚Medien‐ affin‘ meint hier: Den Anforderungen der Massenmedien auf knappe, kurze, pointierte und unterhaltende Formulierungen entsprechend. häufig als Gastredner außerhalb des akademischen Elfenbeinturmes ein. In Wirtschaftskreisen war man von McLuhan augenscheinlich so angetan, dass man ihn häufig bat, vor Unternehmensverbänden oder vor Manager: innen von Firmen wie IBM zu sprechen. Ab Mitte der 1960er Jahren war er zudem Dauergast in Fernsehtalkshows und im Radio, gab etliche Interviews für sehr unterschiedliche Zeitschriften und Zeitungen. Von der N EW Y O R K T IM E S bis zum P LAY B O Y reichte die Palette der Interessenten. 737 Die Marshall-McLuhan-Show Für die damaligen Verhältnisse war dieses Interesse an einem Forscher, zudem noch einem aus der philologischen Abteilung, recht ungewöhnlich. Warum es aber im Falle McLuhans dennoch bestand, lässt sich wohl nicht zuletzt mit dessen rhetorischen Begabungen erklären. Mit seiner sonoren Stimme konnte McLuhan alle möglichen Phänomene knapp erklären und in Zusammenhang bringen. Von prähistorischen Riten über mittelalterliche Lesepraktiken bis zu LSD, von Miniröcken über Magengeschwüre zur tele‐ visuellen Bildabtastung wurde alles Mögliche in Zusammenhang gebracht und prognostisch gewendet. 738 McLuhan kann so als Vorreiter medienaffiner Pop-Philosoph: innen verstanden werden, wie sie heute durch die televisu‐ ellen Kanäle, überregionale Zeitungen und deren Internetdienste geistern. 739 Der Typus medienaffiner Pop-Philosoph zeichnet sich seit McLuhan durch mindestens drei Eigenschaften aus: Erstens spricht ein solcher über popu‐ lärkulturelle und (massen-)mediale Phänomene. Er macht dies zweitens gern in einem populären Medium, allen voran dem Fernsehen. Drittens wählt er dafür einen bestimmten Sprachstil, der dem populärkulturellen Zeitgeist zu entsprechen scheint: cool, ironisierend, überraschend, pointiert, provokativ, polemisch, assoziativ, prognostisch. McLuhan bot augenscheinlich ein attraktives, weil erfolgreiches Rollen‐ modell für Intellektuelle in den Massenmedien. Anführen möchte ich nur 272 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="273"?> 740 Siehe zum Beispiel die Aktualisierung von McLuhans Körperextensionsthese für das Internet: Norbert Bolz, Vernetzte Menschheit. Kommunikation von Hirn zu Hirn, in: Spiegel online 10.05.2009, online zugänglich unter: http: / / www.spiegel.de/ wissen‐ schaft/ mensch/ 0,1518,614991,00.html [11.11.23]. 741 Bereits kurz nach der Veröffentlichung dieses Buches erschienen Sammelbände zu dieser Debatte: Arno Widmann u. a. (Hg.), Sarrazin - Eine deutsche Debatte, München 2010; Patrik Schwarz (Hg.), Die Sarrazin Debatte. Eine Provokation - alle Antworten, Hamburg 2010. 742 Siehe Anne Will (5.9.10), online zugänglich unter: http: / / www.youtube.com/ watch? v= EllJHgm3es [11.12.20]. zwei Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum, die sich einige Jahre lang erfolgreich dieses Rollenmodells bedienten. Zum einen handelt es sich dabei um den Medienwissenschaftler und Soziologen Norbert Bolz und zum anderen um den Philosophen Peter Sloterdijk. Bolz war an der Millenniumschwelle ähnlich präsent im deutschen Fernsehen wie McLuhan in den 1960ern im nordamerikanischen. Nicht nur, dass er manche Thesen McLuhans teilweise bis in den Wortlaut hinein aufgreift und für die Gegen‐ wart bzw. die nahe Zukunft der Mediengesellschaft wiederholt. 740 Darüber hinaus hat Bolz, ähnlich wie McLuhan, nahezu zu allem etwas zu sagen, ähnlich pointiert und provokativ. So ist Bolz nicht von ungefähr als Experte für vielerlei Themen wie neue Medien, Bildung, Familie, Steuerpolitik in der ZDF-Sendung Nachtstudio Dauergast gewesen. In vielen anderen Talkshows meldete er sich ebenfalls immer wieder zu den gerade in der Öffentlichkeit jeweils virulenten Themen zu Wort. Bspw. äußerte er sich auch in der Diskussion um die strittigen Thesen über vermeintlich nicht integrierbare Muslime und die Sorge um Parallelgesellschaften, die in dem 2010 veröffentlichten Buch des ehemaligen Bundesbank-Vorsitzenden Thilo Sarrazin mit dem Titel D E UT S CHLAND S CHA F F T S ICH AB formuliert wurden. Sar‐ razin war für seine Äußerungen nahezu in allen überregionalen Zeitungen und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen heftig für seine Thesen kritisiert worden. 741 Dagegen bricht Bolz in der politischen Talksendung A NN E W ILL eine Lanze für den gescholtenen Sarrazin. 742 Er lässt sich dabei nicht auf eine Diskussion ein, ob Sarrazin nun tatsächlich, wie häufig behauptet, rassistisch ist oder nicht, ja es geht ihm überhaupt nicht um einzelne Argumente, sondern vor allem um die Reaktionen, die auf das Buch von Sarrazin folgten. Zunächst beginnt Bolz sein Statement mit einer überraschenden Wendung. Das Wort ‚Parallelgesellschaft‘ wurde in dieser Diskussion zumeist auf das Problem von muslimischen Immigrant: innen bezogen. Bolz folgt dem 4.1 McLuhan und die Massenmedien 273 <?page no="274"?> 743 Zu verfolgen ist Bolz’ Kommunikationsstil seit 2012 auch auf T W I T T E R (inzwischen X), siehe: https: / / x.com/ NorbertBolz [16.06.24], dort inhaltlich rechtskonservativ radi‐ kalisiert und in immer populistischerem Gewand (siehe dazu: Jörg Scheller/ Wolfgang Ullrich, Im Stahlgezwitscher [14.03.18], in: Pop-Zeitschrift, Online zugänglich unter: h ttps: / / pop-zeitschrift.de/ 2018/ 03/ 14/ social-media-maerzvon-joerg-scheller-und-wolfga ng-ullrich14-03-2018/ [15.06.2024]). Auf dieser sozialen Plattform veröffentlicht Bolz meist kurze, polemische, mehr oder minder provokative Aussagen, die sich mit Vorliebe gegen vermeintlich „woke[.], ökosozialistische[.] Kämpfer“ (Post vom 14.06.24) richten. Täglich wird auf dieser Plattform von Bolz, wie er es selbst lange Jahre auf seinem Account als Motto formulierte, „die Wahrheit in einem Satz“ zusammengefasst. Unter diesen ‚Wahrheiten‘ findet sich auch u. a. ein Post vom 13. Juni 2024, in dem Bolz noch einmal auf Sarazins Buchtitel eingeht und diesen polemisch verschärft: „Deutschland schafft sich nicht ab, sondern kolonisiert sich selbst.“ Entscheidend ist hier: Die Form der polemischen Zuspitzung bei Bolz ist lange vor der Einrichtung seines T W I T T E R -Accounts ausfindig zu machen. Wunderbar formuliert diesen Umstand Wolfgang Hornuff, wenn er schreibt: „Bolz begann zu twittern, als es Twitter überhaupt noch nicht gab.“ (Daniel Hornuff, Denken designen. Zur Inszenierung der Theorie, Paderborn 2014, S. 57) Hier ist nicht das Medium, T W I T T E R / X, die eigentliche Botschaft, sondern ein bestimmter, transmedial ausfindig zu machender Kommunikationsstil, der sich auf McLuhan zurückführen lässt. nicht. Er sagt: „Es gibt sehr viele Parallelgesellschaften in Deutschland, [Pause] beispielsweise die Politiker. Die meisten Politiker leben meines Erachtens auch in einer Parallelgesellschaft. [Applaus aus dem Publikum; Bolz lächelt verschmitzt].“ Im selben Statement nimmt Bolz ein Argument auf, das häufig in der Diskussion um die Thesen Sarrazins vorgebracht wurde, nämlich, dass kaum jemand jemals mehr Meinungsfreiheit genossen hat als Sarrazin. Bolz dreht es um, indem er behauptet: „Das ist lächerlich, zur Meinungsfreiheit gehört fundamental der Respekt vor Andersdenkenden und ich sehe nirgendwo auch nur den Ansatz eines Respektes vor dem, was andere, die nicht politisch korrekt sind, sagen und veröffentlichen.“ Damit hält Bolz einer Gesellschaft, die auf ihr Grundrecht auf Meinungsfreiheit stolz ist, vor, genau dieses Grundrecht zu missachten. Wenn man so will, ist das ein früher Beitrag zur Diskussion um Cancel Culture, bevor dieser Begriff überhaupt populär wurde. Im weiteren Verlauf wird Bolz dann zunehmend prognostisch. Bolz spricht davon, dass sich immer mehr Menschen gegen diese Art auferlegter politischer Korrektheit wehren werden. Dabei fallen Wendungen wie „Ich kann Ihnen voraussagen“, „Ich bin fest davon überzeugt, dass das eine Art Geschichtszeichen ist, dieses Buch…“ und Ähnliches. Hier ist nicht so sehr von Interesse, ob man Bolz inhaltlich zustimmen sollte oder nicht. 743 Vielmehr wird daran augenscheinlich, was seine Art zu kommunizieren 274 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="275"?> 744 Siehe: Peter Sloterdijk, Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frankfurt am Main 1987. 745 Siehe: Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Eine Antwort zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt am Main 1999. 746 Siehe: Peter Sloterdijk, Sphärologie (Bd. I: Mikrosphärologie: Blasen; Bd. II: Makrosphä‐ rologie: Globen; Bd. III: Plurale Sphärologie: Schäume), Frankfurt am Main 2004. 747 Siehe zum Plan für eine Marshall McLuhan Show: Marchand, McLuhan, S.-285. 748 Siehe zur Themenvielfalt der Sendung: https: / / petersloterdijk.net/ das-philosophische -quartett/ [11.12.23]. ausmacht: kurze pointierte Thesen, die sich von der vorherrschenden Meinung absetzen oder - genauer noch - dieser diametral entgegenstehen, gewitzt wie pointiert provozieren und wie bei McLuhans Fernsehauftritten ins Prognostische gewendet werden. Sloterdijks Fernsehauftritte wiederum sind mit McLuhans vor allem aufgrund ihrer kulturhistorischen und ideengeschichtlichen Assoziationen vergleichbar, die derzeitige gesellschaftliche Probleme aus sehr ungewöhn‐ lichen Perspektiven zu reflektieren erlauben. Wie McLuhan bedient sich Sloterdijk dabei gern eines metapherngesättigten und damit extrem konno‐ tationsreichen Vokabulars. So spricht (und schreibt) der Philosoph häufig von einer „kopernikanische[n] Mobilmachung“, 744 wenn es um den Beginn der Neuzeit geht. Provokativ imaginiert er mit Bezugnahme auf Martin Hei‐ degger „Regeln für den Menschenpark“ bei Fragen nach Veränderbarkeit des menschlichen Erbgutes. 745 Oder er entwirft eine „Sphärologie“, in der er die ontogenetische wie phylogenetische Entwicklung des Menschen beschreibt, indem er ihnen unterschiedliche Formen zuweist, die maßgeblich für den jeweiligen Weltzugang sein sollen: „Blasen“, „Globen“ und „Schäume“. 746 Sloterdijk ist im Übrigen eine Institutionalisierung der Methode McLu‐ hans gelungen, die McLuhan selbst verwehrt blieb. Während die M A R S HALL M C L UHAN S HOW - eine Art Late-Night-Talkshow, in der McLuhan Gäste aus Kunstkreisen, Wissenschaft und Wirtschaft empfangen und in lockerer Atmosphäre mit diesen die wichtigen Dinge der Zeit besprechen wollte -, nicht über das Konzeptionsstadium hinauskam, 747 moderierte Sloterdijk knapp zehn Jahre die Talkshow D A S P HIL O S O P HI S CH E Q UA R T E TT , in der genau das praktiziert wurde. 748 Auch wenn McLuhan niemals seine eigene Fern‐ sehshow erhielt, lässt sich wohl dennoch behaupten: Mit McLuhan erschien zum ersten Mal ein medienaffiner Pop-Philosoph im Fernsehen, dessen Auftreten sich deutlich von dem unterschied, wie Akademiker: innen vorher in den Medien auftraten. Kein tunlichst auf Korrektheit bedachter, vor Fach‐ 4.1 McLuhan und die Massenmedien 275 <?page no="276"?> 749 Siehe dazu knapp: Gordon, Marshall McLuhan, S. 218; Sprenger, Epistemologien des Umgebens, S. 288f. McLuhan selbst soll nicht besonders angetan gewesen sein von der Sendung. In einem Brief bezeichnet er die Sendung als „‚grotesque trash‘“ (Brief an Max Nanny, 8. April 1971, zitiert nach: Gordon, Marshall McLuhan, S.-218). termini strotzender Redner, mitsamt zurückhaltenden Schlussfolgerungen und vor allem einer gehörigen Verachtung für populärkulturelle Phänomene wie dem Medium, in dem er auftritt, war im Fernsehen zu sehen. Stattdessen trat ein verschmitzter und gleichzeitig provokativer Universitätsgelehrter vor die Kamera, voller Visionen, Anekdoten, vollmundiger Thesen und Vorschläge für die Zukunft. Dieses Modell hatte augenscheinlich Zukunfts‐ potenzial. Kubistisches Fernsehexperiment mit McLuhan Nicht nur lässt sich der Typus Pop-Philosoph: in genealogisch auf McLuhan zurückführen und nicht nur war der Medienforscher ein gern gesehener Interviewgast im Fernsehen, darüber hinaus stand McLuhan zumindest in einem Fall im Zentrum eines sehr besonderen televisuellen Beitrags. In der US-amerikanischen Fernsehzeitschrift TV T ODAY wurde für Sonntag, den 19. März 1967, unter dem Stichpunkt „Experiment in TV“ eine Sendung mit dem Titel T HI S I S M A R S HALL M C L UHAN : T H E M E DIUM I S TH E M A S S AG E angekündigt und beworben (vgl. Abb. 28). Zwischen 16 und 17 Uhr konnten die Zuschauer: innen von NBC auf ihren Fernsehbildschirmen verfolgen, wie Marshall McLuhan einmal mehr seine Thesen zum Fernsehen im Fernsehen verbreitete. Das Besondere war diesmal aber, dass die Thesen McLuhans in diesem ‚Experiment in TV‘ durch diverse audiovisuelle Strategien perfor‐ mativ umgesetzt wurden. 749 276 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="277"?> 750 In der N E W Y O R K T I M E S war einen Tag nach der Ausstrahlung über die Sendung unter dem kundigen Titel TV: E X P E R I M E N T M C L U H A N I Z E S M A R S H A L L M C L U H A N zu lesen: „By recourse to fast cutting and editing of TV and movie clips, pop art, animated visuals, newspaper headlines and other image orthicon [eine spezifische Bildaufnahmeröhre] happening, the program furnished an environment in which Mr. McLuhan was able to flourish.“ Dort wurde die Sendung auch pointiert und ironisierend als „television’s first 50-minute commercial“ bezeichnet (Anonymus, TV: Experiment McLuhanizes Marshall McLuhan, in: New York Times, 20.03.1967, S. 63, zitiert nach: https: / / mcluhan-studies. artsci.utoronto.ca/ v1_iss5/ 1_5art8.htm [15.06.24]) 751 McLuhan, Magische Kanäle, S. 84f. Eine analoge Strategie verfolgt die Text-Bild-Col‐ lage, die im selben Jahr unter dem Titel T H E M E D I U M I S T H E M A S S A G E von McLuhan gemeinsam mit Quentin Fiore veröffentlicht wurde (siehe zur genaueren Untersuchung dieser Bild-Text-Collage → 1. Lesart: Rhetorik, Kap. „Bild-Text-Collagen“ oder auch → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Kunst als Medienökologie der Gegenumwelten“. Abb. 28: McLuhan Day on NBC Einerseits kamen schnelle, frag‐ mentierende Schnitte zum Einsatz, diverser Bilder- und Medienformen - von Zeitungs-, Film- und Fern‐ sehausschnitten bis zur Pop-Art - wurden wild durcheinandergeblendet und psychodelische Ver‐ fremdungen mittels elektronischer Licht- und Farbelementen einge‐ setzt. 750 Eine audiovisuelle Über‐ wältigungscollage war damit kre‐ iert, die - konsequent dem Credo McLuhans folgend - durch „Hybri‐ disierung von Medien […] eine be‐ sonders günstige Gelegenheit“ bie‐ tet, „strukturelle Komponenten und Eigenschaften“ der Medien durch Störung und Verfremdung gängiger Darstellungs- und Re‐ zeptionsweisen „zu erkennen“. 751 4.1 McLuhan und die Massenmedien 277 <?page no="278"?> 752 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1, These 3. Abb. 29a-f: Ein kubistisches Fernsehspiel Spiel von Form und Grund Anderseits - und das scheint mir in diesem Zusammenhang noch bemer‐ kenswerter - wird in der Sendung permanent mit der Relation von Hinter- und Vordergrund gespielt. Im Zentrum steht nämlich immer wieder Mar‐ shall McLuhan als Talking Head vor unterschiedlichen Hintergründen. Oder genauer: McLuhan wird sehr unterschiedlich in Relation zum Hintergrund gesetzt (vgl. Abb. 29a-f). Dieser Hintergrund ist erstens im Zusammen‐ hang mit McLuhan These zur Mosaikstruktur des Fernsehens interessant. Zweitens wird hier McLuhans gestalttheoretisch inspirierte These vom Medium, das den unbeobachtbaren Hintergrund bildet, vor dem Formen zur Erscheinung gebracht werden, relevant. 752 Zunächst zur Mosaikstruktur des Fernsehens: Laut McLuhan ist der Fern‐ sehbildschirm aus fluktuierenden Punktflächen aufgebaut, die im Rezept‐ ionsakt aktiv zusammengesetzt werden müssen. Dieser prinzipiellen Aspekt des Fernsehbildes wird in der Sendung T HI S I S M A R S HALL M C L UHAN immer wieder deutlich hervorgehoben, indem die Hintergründe häufig in großflä‐ chigen punktförmigen Grafik-Anordnungen in Erscheinung treten (vgl. Abb. 29a-c). Das Verhältnis von Hintergrund und Form wird anschaulich durch das Spiel mit diversen, permanent veränderten Relationen zwischen McLuhan als Talking Head und seinen wechselnden Hintergründen. In 278 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="279"?> 753 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: These 3. 754 Heissenbüttel [sic! ], Totale Vermittlung, S. 2. Siehe dazu bereits → Wege zu McLuhan. manchen Einstellungen ist die Differenz zwischen Vorder- und Hintergrund sehr deutlich gezogen (vgl. Abb. 29a, d), dann wieder wird sie verschattet (vgl. Abb. 29b, e) oder nahezu zur Ununterscheidbarkeit eingeebnet (vgl. Abb. 29c). Ein andere Mal nimmt der Talking Head die gesamte Bildfläche ein und wird so zum Hintergrund vor dem diverse Lichteffekte Form gewinnen (vgl. Abb. 29 f). Ganz ähnlich wie es McLuhan selbst an kubistischen Gemälden demonstriert, werden hier diverse Elemente in ein dynamisches Wechselspiel gesetzt, so dass diese Elemente des Hintergrundes und der Formen oszillieren. Nach McLuhans Verständnis ist das Medium als Hinter‐ grund nicht wahrnehmbar, nur die Formen, die vor diesem Hintergrund erscheinen, sind beobachtbar. 753 Wahrnehmbar wird das Medium etwa in der kubistischen Kunst aber indirekt durch die Inszenierung von Formen, Flächen und Elementen, die so relationiert werden, dass eine Oszillation zwischen Vorder- und Hintergrund entsteht. Damit wird nach McLuhan ein Bewusstsein geschaffen für die Relevanz des formengebenden Hintergrunds eines Mediums. Folgt man dieser Interpretation McLuhans, dann wird in T HI S I S M C L UHAN : T H E M E DIUM I S TH E M A S S AG E versucht, genau diese kubis‐ tische Darstellungs- und Erkenntnisform mit Mitteln des Fernsehens umzu‐ setzen. Das Medium Fernsehen als formgebender Hintergrund wird in den Formen des Fernsehens selbst im dynamisch-oszillierenden Wechselspiel von Vorder- und Hintergrundelementen erfahr- und erkennbar. McLuhans Thesen zur Funktionsweise von Medien und speziell des Fernsehens werden so performativ in einer Fernsehsendung umgesetzt. McLuhan und der anti-amerikanische Impuls 1968 sprach der Schriftsteller Helmut Heißenbüttel in einem Radio-Feature über McLuhan bereits von einem „Zeitalter des McLuhanismus“. 754 Doch der Begriff ‚McLuhanismus‘ verrät eine gewisse skeptische Distanz des Rezensenten zum Phänomen - und zwar nicht nur hinsichtlich McLuhans Auftritten im Fernsehen, sondern besonders zu seinen textuellen Produkten. Während die Rezeption in Nordamerikas Zeitschriften und Zeitungen zu dieser Zeit noch vornehmlich positiv oder doch zumindest interessiert aus‐ 4.1 McLuhan und die Massenmedien 279 <?page no="280"?> 755 Das lässt sich u. a. an der weiter oben angeführten Sendung zeigen. Auch in T H I S I S M C L U H A N : T H E M E D I U M I S T H E M A S S A G E kamen durchaus auch Stimmen zu Wort, die McLuhans Thesen skeptisch gegenüberstehen, aber doch ist diese Skepsis verbunden mit einer Faszination für McLuhans Thesen und Habitus. 756 Siehe dazu ausführlicher: Heilmann, Blick in den Rückspiegel. 757 Jean Améry, Hitler und der Spucknapf. Jean Améry über Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, in: Der Spiegel, (22) 1968, S.-178-180., hier: S.-180. 758 Ebd., S.-178 (Hervorhebung von mir [SG]). 759 Anonymus, McLuhan: Globales Dorf, in: Der Spiegel (21), 1967, S. 118-120, hier: S. 120. fiel, 755 war sie in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an zumindest skeptisch, wenn nicht ablehnend. 756 Einige Artikel aus D E R S P I E G E L zeigen unmissverständlich: McLuhans Thesen und Argumente werden dort als krud, widersprüchlich oder wahlweise banal abgetan. So heißt es etwa in einer Rezension zur ersten deutschen Übersetzung von U ND E R S TANDIN G M E DIA abschließend: „Die Fragen, die McLuhan aufwirft, sind keine Schein‐ fragen. Die Antworten aber, die er gibt, sind von desolater Nichtigkeit: Scheinantworten, die von einem Scheindenken produziert wurden.“ 757 Interessant an dieser Rezension ist nicht nur, dass McLuhan für seine Argumentation, genauer eigentlich: die fehlende Argumentation, kritisiert wird. Noch wichtiger ist mir hier die Differenz, die eingezogen wird zwi‐ schen deutscher resp. europäischer Rezeption und nordamerikanischer: „Drüben wurde McLuhan mit Freud und Einstein verglichen.“ 758 ‚Drüben‘, in Nordamerika, allen voran den USA, heißt das implizit auch, sind die Leute bereits so verblendet, dass sie Antworten nicht mehr von ‚Scheinant‐ worten‘ unterscheiden können, im Gegensatz zu den Rezensent: innen und Leser: innen ‚hier‘ (in Europa bzw. der BRD). Dieser Rezension liegt eine kritische Haltung gegenüber dem ‚American Way of Life‘ zugrunde. Noch deutlicher wird solch eine Einstellung in einem Artikel über McLuhan, der ein Jahr früher im S P I E G E L erschienen war: „Daß McLuhans Schlüsse und Kurzschlüsse den US-Bürger begeistern, erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß sie sein liebstes Hobby bestätigen und mit philosophischen Würden ausstatten: das Fernsehen.“ 759 In diesen Zeilen manifestiert sich eine gene‐ relle Kritik populärkultureller Phänomene, deren Ursprungsort vorrangig in der amerikanischen Unterhaltungsindustrie gefunden wird, über die nun eben auch amerikanische Intellektuelle affirmativ schreiben. Dies war ein durchaus gängiger anti-amerikanischer Impuls unter deutschsprachigen Intellektuellen, der sich im Zuge der Rezeption ideologiekritischer und (neo-)marxistischer Positionen in den späten 1960ern und frühen 1970ern 280 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="281"?> 760 Siehe zur Ideologiekritik ausführlicher → 3. Lesart: Kritik. 761 Siehe zu dieser Art der Konstruktion von ‚Amerikanizität‘ auch: Weingart, Alles, S. 219. 762 Als Hinweis darauf siehe die Studie: Everette E. Dennis, Post-Mortem on McLuhan. A Public Figure’s Emergence and Decline as Seen in Popular Magazines [1974], in: Genosko (Hg.), Marshall McLuhan (Volume I), S. 177-189. Siehe dazu (und zur deutschsprachigen Verabschiedung McLuhans) auch: Weingart, Alles, S.-218f. 763 Stille, Marshall McLuhan Is Back. 764 Siehe bspw.: Wenzel, Ausdehnung des Nervensystems oder auch: Bolz, Vernetzte Menschheit. 765 Zur näheren Erklärung dieser Wahl siehe: Wolf, The Wisdom. durchgesetzt hatte. 760 McLuhans Thesen werden hier als eine Art intellek‐ tuelles Äquivalent zu Disney World nutzbar gemacht. Denn McLuhan wird im deutschen Feuilleton als pars pro toto instrumentalisiert für den Verfall der (nord-)amerikanischen Kultur und Intelligenz und damit die Differenz zwischen alter und neuer Welt auch und gerade für das intellektuelle Terrain markiert. 761 McLuhan als Schutzheiliger des Internet-Zeitalters Obwohl McLuhan weiterhin Bücher veröffentlichte, Vorträge hielt und im Fernsehen auftrat, wurde seine Popularität immer geringer und Mitte der 1970er verschwand er fast gänzlich aus der öffentlichen Wahrnehmung. 762 In den 1990er Jahren erlebte er jedoch eine fulminante Renaissance. McLuhan wurde retrospektiv zum Visionär globaler Vernetzung erkoren, der seiner Zeit weit voraus gewesen sein soll. An der Millenniumschwelle ist bspw. in der N EW Y O R K T IM E S zu lesen: „Marshall McLuhan Is Back From the Dustbin of History; With the Internet, His Ideas Again Seem Ahead of Their Time“. 763 Ganz ähnlich ist McLuhan auch im deutschsprachigen Feuilleton seit den 1990ern wieder virulent, diesmal aber nicht als affirmativer Denker, sondern als Visionär des Internets. 764 Bereits 1993 hatte ihn das Computermagazin W I R E D im Editorial der ersten Ausgabe gar zu ihrem „patron saint“, also zu ihrem Schutzheiligen erkoren. 765 McLuhan, the Holy Fool In W I R E D findet sich überdies unter dem Titel C HANN E LIN G M C L UHAN ein fiktives Interview, das McLuhan „after his death, as electronic culture’s 4.1 McLuhan und die Massenmedien 281 <?page no="282"?> 766 Wolf, The Wisdom. Siehe auch das fiktive Interview mit Marshall McLuhan in derselben Ausgabe: Gary Wolf, Channeling McLuhan. The Interview with the magazine’s patron saint, in: Wired, 4.01 ( Jan. 1996), auch online zugänglich unter: http: / / www.wired.com / wired/ archive/ 4.01/ channeling.html [12.12.23]. 767 Im Einleitungstext zum Interview wird geschildert, dass dieses Interview per Email geführt worden sein soll - und zwar, so vermutet der Interviewer, passend zum digita‐ len Zeitalter mit einem algorithmisch programmierten Bot, siehe: Wolf, Channeling McLuhan. Abb. 30: McLuhans Geist spricht noch einmal aus dem Reich der Toten zu uns immortal saint“ 766 mit der Zeitung geführt haben soll, um darin die neusten technologischen und gesellschaftlichen Prozesse zu kommentieren. Hieran sind mindestens vier As‐ pekte interessant. Erstens wird die Vorstellung von McLuhan als Visionär unseres Zeitalters auf die Spitze getrieben. Das Orakel spricht aus dem Reich der Toten noch einmal zu uns. 767 Auf der Rückseite dieser Magazinausgabe blickt uns passend dazu McLuhan grau verschleiert als Geist an, zu dem noch einmal ins Jenseits ein ‚magischer (Kommunikations-)Ka‐ nal‘ aufgebaut wurde (vgl. Abb. 30). Zweitens macht er das eben in Form eines Interviews (und nicht, indem er uns einen Text zukom‐ men lässt), also genau in der Form, in der McLuhan in den 1960er in den Zeitungen, im Radio wie im Fernsehen am häufigsten ausfindig zu machen war. Drittens wird diese Positionierung McLuhans als Visionär ins Ironische gewendet. Nicht nur, dass das Interview, die Form des authentischen Ausdrucks schlechthin, fiktiv bleibt. Weiterhin wird McLuhan in derselben Ausgabe von W I R E D als „Holy Fool“ tituliert, also als jemand, der Visionen und Einsichten hat und weiterleitet, ohne selbst genau zu verstehen, was er da überhaupt von sich gibt. Er ist Werkzeug höherer Mächte, nicht Herr seiner (vielen) Gedanken - und dabei ziemlich fröhlich unbedarft. In diesem Sinne platziert W I R E D McLuhan, viertens, als Schutzheiligen des Magazins: als einen Spinner, der 282 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="283"?> 768 Siehe zu McLuhans Beschreibung der Rolle der Künstler: innen ausführlicher → 1. Lesart: Rhetorik, → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1 und 3. assoziativ und fröhlich spielerisch visionäre Ideen kundtut. So verstanden geht es dann nicht einfach nur darum, dass oder ob McLuhan tatsächlich ein Visionär war, den man sich als Vorbild nimmt. Sehr viel mehr geht es darum, in welcher Weise er als Vorbild in Szene gesetzt ist: WIRED-Texte, so wird nahegelegt, sind genauso wie die McLuhans - spielerisch, versponnen, irrational, ungewöhnlich, innovativ, ein Werkzeug historischer Mächte und dabei extrem selbstironisch. McLuhan steht hier und wird nutzbar gemacht für eine bestimmte Haltung, eine Weltsicht, weniger für konkrete Formulierungen und Thesen über Medien. 4.2 McLuhan und die Avantgarde McLuhan hatte es Künstler: innen früh angetan. Primär Künstlerbewegun‐ gen der 1960er Jahren, die inzwischen in der Kunstgeschichte unter dem Begriff der Neoavantgarde versammelt sind, waren fasziniert von McLuhans Ideen. Nicht zuletzt wird ihnen McLuhans wertschätzende Beschreibung (avantgardistischer) Künstler: innen gefallen haben und die Rolle, die er diesen zuweist. 768 Brigitte Weingart beschreibt diese Rezeption mit Blick auf die deutschen Verhältnisse der 60er Jahre sehr plastisch: Während die ‚kritische Intelligenz‘ sich alarmiert zeigt durch diese neueste Welle, die aus den USA überschwappte, und Ideologiekritik reklamiert, gilt zumindest für diejenigen Teile der Kunst- und Literaturszene, die PopArt und Medienkunst nahe standen, was Tom Wolfe für die amerikanische Situation formulierte: ‚The artists […] they are all for McLuhan.‘ […] Ein Aufsatz [McLuhans] über die Zukunft der Sexualität im elektronischen Zeitalter wird nicht nur gemeinsam mit Texten anderer Vertreter der ‚Neuen amerikanischen Szene‘ in der Kult-An‐ thologie ACID abgedruckt, sondern vorab auch in Konkret, und eine Reihe von Autor/ -innen, die - wie Rolf Brinkmann oder Elfriede Jelinek - in der Situation ‚um 68‘ high/ low- und Mediengrenzen überschreitende Experimente machen, sind bekennende Fans. Kein Wunder: Denn Künstler und Literaten - und vor allem solche, die auf das Ende des Gutenberg-Zeitalters mit multimedialen Produktionen und ‚Bastardisierungen‘ reagierten - schmeichelten McLuhan nicht nur als Avantgardisten in Nachfolge von Joyce, Mallarmé, Pound etc., 4.2 McLuhan und die Avantgarde 283 <?page no="284"?> 769 Weingart, Alles, S.-219f. 770 Siehe dazu ausführlicher: Andreas Broeckmann, Maschine - PAIK - Medium. Einige Resonanzen zwischen Nam June Paik und Marshall McLuhan, in: Kerckhove u. a. (Hg.), McLuhan neu lesen, S. 338-344. Paik hat sich auch in Texten mit McLuhan auseinandergesetzt. Bspw. gleicht er McLuhans Ideen mit Norbert Wieners Kybernetik ab - siehe: Nam June Paik, Norbert Wiener and Marshall McLuhan, New York 1967; siehe dazu auch: Dieter Daniels, Touching television: Participation Media with Marshall McLuhan, John Cage and Nam June Paik, in: Chaeyoung Lee/ Seongeun Kim (Hg.), TV Commune, deintertrans-, Seoul 2011, S.-169-180. 771 Siehe bspw.: M A G N E T TV (1965). 772 Siehe bspw.: McLuhan, Magische Kanäle, S.-471ff. 773 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. sondern auch als dem einzig wirksamen Frühwarnsystem im Hinblick auf mediale Umbruchsituationen […]. 769 Künstler: innen waren diesseits und jenseits des Pazifiks tatsächlich äußerst angetan von McLuhans Ideen. Gerade seine Beschäftigung mit der Gegen‐ wartskultur als einer durch technische Medien geprägten und von multime‐ dialen Wahrnehmungsanordnungen durchdrungenen wurde aufgegriffen und nutzbar gemacht in den Werken und Aktionen der Neoavantgarde. Das soll an zwei Beispielen kurz skizziert werden. Nam June Paiks Fernseh-Installationen Ein aufsehenerregendes Beispiel für eine sehr direkte Anverwandlung McLuhans findet sich in Arbeiten des Künstlers Nam June Paik. 770 Einige Zeit experimentierte dieser mit neuen Darstellungsmöglichkeiten des Fern‐ sehbildes. So störte er bspw. das Fernsehbild durch Magnete, die an das Gehäuse des Fernsehapparats angebracht wurden und schuf damit dynami‐ sche Fernsehbildskulpturen. 771 Fasziniert war Paik von der Idee McLuhans, dass das Fernsehbild eine ganz andere Rezeptionsweise ermöglichen sollte. Laut McLuhan steht das Fernsehbild im fundamentalen Gegensatz zum kinematografischen Filmbild, weil es elektronische Signale sendet und durch Zeilenabtastung, statt durch Reihung von Einzelaufnahmen, ein Bild kreiert. 772 Dieses Bild wirkt aufgrund seiner elektronischen Abtastung und Ausstrahlung auf den Rezpienten: innen taktil ein. 773 Das taktile Moment ist durch den Einsatz eines Magneten bei Paik weitergeführt, wird hierbei doch das Fernsehbild buchstäblich ergriffen und im Sinne McLuhans ‚massiert‘. Da die elektromagnetischen Fernsehsignale durch magnetische Einwirkung eine permanente Manipulation und Deformation erfahren, wird McLuhans 284 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="285"?> 774 Zu einer ausführlichen Deutung dieser These siehe → 2. Lesart: Hermeneutik, These 3. 775 Diese Sätze, die McLuhan in der Sendung T H I S I S M A R S H A L L M C L U H A N : T H E M E D I U M I S T H E M A S S A G E formulierte, sind zitiert nach: Daniels, Touching television, S.-167. 776 Paik selbst beschreibt diesen Vorgang anschaulich: „There was an important program about Marshall Mcluhan [sic! ], made by NBC in 1967 […] I videotaped the program while it was on the air. I put various electromagnets on the set and turned Mcluhan [sic! ] right and left. What I wound up with was a Mcluhan [sic! ] videotape loop that can be played with around and around.“ (Zitiert nach: ebd.) 777 McLuhan, Magische Kanäle, S.-109. Axiom vom Medium, das die Botschaft ist, höchst anschaulich: 774 Indem die gesendeten Signale eine Deformation erfahren, wird vom Inhalt, der vermeintlich direkten Botschaft, buchstäblich abgelenkt hin auf die techni‐ schen Bedingungen und neuen Bildgebungsmöglichkeiten des Fernsehens. Die Bezugnahme auf McLuhan baute Paik selbst in eine seiner Fernseh‐ installationen ein. Für M C L UHAN C AG E D nahm Paik mit einer Videokamera die Sendung T HI S I S M A R S HALL M C L UHAN während der Ausstrahlung auf NBC direkt von seinem Fernsehbildschirm auf (vgl. Abb. 31a-b). Danach wurde eine Sequenz aus dieser Sendung als Loop installiert, die McLuhan als Talking Head zeigt, der immer wieder denselben Sätze wiederholt: „Movies tend to be the content of TV, and books and novels used to be the content of movies. So every time a new medium arrives, the old medium is the content. And it is highly observable - the real ‚massaging‘ done by the new medium - it is ignored.“ 775 Die Besucher: innen der Paik-Ausstellung E L E C T R ONIC A R T II in New York konnten im Jahr 1968 durch eine Magnetspule Bild und Ton je nach Belieben manipulieren, dehnen, zusammenziehen, stören. 776 Hier zeigt sich Paik als sehr gelehriger Schüler McLuhans: Nicht nur, dass er noch einmal, nun am Beispiel von Fernsehbildern, die McLuhan zeigen, die eigentliche Botschaft des Mediums in einer Installation sichtbar macht, die - wie im Loop immer wieder durch McLuhans zu vernehmen ist - normalerweise ‚ignored‘ wird. Zudem gilt: Paik wird in dieser Installation vorstellig als Künstler par excellence im Sinne McLuhans. Denn Paik zeigt damit eine Möglichkeit, mit einem neuen Medium umzugehen, wie es McLuhan von Künstler: innen fordert, „noch ehe ein neuer Anschlag der Technik bewusste Vorgänge betäubt“. 777 Paik geh sogar noch einen Schritt über McLuhan hinaus, da die Zuschauer: innen in das mediale Geschehen aktiv eingreifen und steuern können. Wir werden nicht mehr nur durch Medien ‚massiert‘, sondern wir können selbst Medien ‚massieren‘ - eine 4.2 McLuhan und die Avantgarde 285 <?page no="286"?> 778 Diese Wendung zur Feedbackschleife scheint kein Zufall zu sein. Denn Paik interes‐ sierte sich nicht nur für McLuhans Thesen, sondern war auch sehr angetan von Ideen der Kybernetik, die er insbesondere mittels Norbert Wieners Schriften rezipierte. Über den Zusammenhang von McLuhan und Wiener veröffentlichte Paik auch selbst Texte, siehe: Paik, Norbert Wiener and Marshall McLuhan. Ausführlicher zu einigen Ideen der Kybernetik siehe → 2. Lesart: Hermeneutik, These 3 779 Siehe dazu genauer → 2. Lesart: Hermeneutik und die Kritik einer solchen Vorstellung in → 3. Lesart: Kritik. 780 Fred Turner, Marshall McLuhan, Stewart Brand und die kybernetische Gegenkultur, in: Kerckhove u. a. (Hg.), McLuhan neu lesen, S. 105-116, hier: S. 114; siehe dazu Art kybernetische Feedbackschleife zwischen Mensch und Maschine ist so installiert. 778 Abb. 31a-b: Morphing McLuhan Techno-tribale Avantgarde Andere Künstler: innen und Intellektuelle der 1960er Jahren waren begeistert von der Idee des Zusammenwirkens unterschiedlicher Medien, egal ob alt oder neu, ebenso von der Idee einer tribalen Organisation, einer Wieder‐ kehr früher Vergemeinschaftungsformen, die McLuhan in seinen Schriften thematisierte und mitunter enthusiastisch feierte. 779 So entstanden Veran‐ staltungen, die erstens um ein Zusammenspiel unterschiedlicher Künste und technischer Medien bemüht waren. Damit sollten zweitens einzelne Sinne in ein Wechselverhältnis gesetzt werden. Drittens lag dem Ganzen die Idee zugrunde, vor Ort ein tribales Gemeinschaftsgefühl herzustellen. So entwi‐ ckelten sich mit direktem Bezug auf McLuhan regelrechte multimediale Happenings einer „techno-tribalen Avantgarde“. 780 McLuhans Biograf Philip Marchand beschreibt ein so geartetes Happening sehr anschaulich: 286 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="287"?> kritisch: Martina Leeker, Understanding Media heute: McLuhans techn-ökologische Renaissance, in: Heilmann/ Schröter (Hg.), Medien verstehen, S.-115-148. 781 Marchand, McLuhan, S.-245f. 782 Wenngleich er danach sofort verschwunden sein soll, denn, so schreibt sein Biograf Marchand: „[S]olche Dinge interessierten ihn einfach nicht.“ (Ebd., 246) 783 Ebd. 784 Siehe dazu: ebd. 785 Siehe bspw.: McLuhan, Magische Kanäle, S.-16. Rogatnick [ein Architekturprofessor an der University of British Columbia] und einige seiner Kollegen beschlossen, McLuhans Theorien unter dem Titel ‚Das Medium ist Massage‘ theatralisch in Szene zu setzen und konzipierten eine multimediale Installation. Dann trieben sie etwa 30 Diaprojektoren auf, die sie überall im Gebäude verteilten […]. Sobald Besucher das Labyrinth aus riesigen Kunststoffsegeln durchwanderten, gerieten sie in ein Sperrfeuer aus bunt zusammengewürfelten fotografischen Motiven und abstrakten Mustern, die auf dem Boden, Wände, Plastiksegel und manchmal auch auf sie selbst projiziert wurden. […] Der komplette menschliche Sinnesapparat wurde bei diesem Event angesprochen: Um den Geruchssinn anzuregen versprühte man Parfüm […] und auf einem Podium hämmerte ein Mann auf einen Holzklotz ein, um das Publikum aufzuschrecken. In Form einer ‚plastischen Wand‘ galt die Hauptattraktion der Taktilität. Diese lebendige Skulptur bestand aus einem riesigen Stück Stoff, das auf einen Rahmen aufgezogen war. Dagegen preßten sich Tänzer, deren windende Körper die Zuschauer durch den Stoff hindurch ertasten konnten. 781 Die Eröffnungsansprache zu diesem Happening hielt McLuhan höchst‐ selbst. 782 Das Ereignis soll, laut Marchand, gewirkt haben „wie ein Signal und löste eine regelrechte McLuhan-Hysterie aus, für deren Verbreitung in erster Linie Künstler sorgten.“ 783 Ein solcher Künstler war Gerald Emanuel Stearn, ein Pionier der ‚techno-tribalen Avantgarde‘. 784 Ging es bei der oben beschriebenen multi‐ medialen Installation vorrangig um ein Wahrnehmungsexperiment, so wird in Stearns Aktionen noch sehr viel stärker auf die mystische Gemeinschafts‐ bildung abgehoben, wie sie bspw. in McLuhans Buch D I E MAG I S CH E N K ANÄL E als Zielvorstellung der Menschheits- und Medienentwicklung deutlich zum Ausdruck gebracht wird. 785 Eine solche Aktion, an der Stearn als Kopf der Künstlergruppe USCO federführend beteiligt war, sei kurz angeführt: 1965 schließlich hatte diese Performance sich in ein Programm namens We r All One verwandelt, in dem usco Dia- und Filmprojektionen einsetzte und darüber 4.2 McLuhan und die Avantgarde 287 <?page no="288"?> 786 Turner, McLuhan, S.-111. 787 Zur Aktualisierung dieser Ideen in der sogenannten Psytrance-Bewegung siehe: Lee‐ ker, Understanding Media heute, S. 136ff. Leeker schreibt diesbezüglich: „Es geht um Psytrance […], die sich als Tanz-, Musik- und Lebenskultur geriert. Partys und Festivals, Musik und Visuals, Kleidung und Diskurs der digital natives haben über die Goa-Subkultur in den 1960er Jahren das Erbe der psychedelischen counterculture angetreten.“ (Ebd., S.-136) 788 Stearn schreibt Ende der 1960er Jahre sogar: „ By now a kind of McLuhan avantgarde has formed, becoming in the process a self-contained subculture.“ (Gerald Emanuel Stearn, Introduction, in: ders. (Hg.), McLuhan: Hot & Cool. A Primer for the Understan‐ ding of & a Critical Symposium with a Rebutal by McLuhan, New York 1967, S. xiii-xvi, hier: S. xiv) 789 Wiederabgedruckt in: McLuhan, Medium is Massage, S.-156f. hinaus Oszilloskope und Stroboskope sowie Live-Tänzer und Tänzerinnen, um eine Kakofonie der Sinne herzustellen. Am Ende der Performance erlosch das Licht und zehn Minuten lang hörten die Zuschauer nichts als vielfache ‚Ohms‘ aus den Lautsprechern. […] In der letzten Phase der Performance sollte das Publikum jene mystische Einheit erfahren, die angeblich auch die Mitglieder von usco miteinander verband. 786 Daran ist zu erkennen: Es ging um Einwirkung der Kunst auf das Leben via multimedialer Happenings, ja um dessen Transformation. Diese psychede‐ lische Neoavantgarde wollte - mit Ideen McLuhans - die Welt und das Bewusstsein der Rezipient: innen verändern. 787 68er-Bewegung Diese Art der Avantgarde hatte also ebenfalls ihre psychedelischen Einheits‐ fantasien, ähnlich wie etwa auch die Hippie-Bewegung. Damit war sie auch Teil subkultureller Bewegungen, die von gesellschaftlichen Verände‐ rungen träumten und in der sogenannten 68er-Bewegung kulminierten. 788 In dieser Jugendbewegung wurden McLuhans Ideen über die engen Zir‐ kel neoavantgardistischer Zirkel hinaus aufgegriffen. Seine Vorstellungen neuer Vergemeinschaftung und Solidarität im Zeitalter der Elektrizität, die die Entfremdungen der abstrakten Schriftkultur hinter sich lassen kann, fand hier ebenfalls begeisterte Abnehmer: innen. McLuhans Aphorismen wurden gegen tradierte Vorstellungen von Bildung und kapitalistischen Wertvorstellungen ins Feld geführt. Ein Cartoon aus T H E N EW Y O R K E R von 1966 bringt das auf den Punkt (vgl. Abb. 32). 789 288 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="289"?> Abb. 32: Endlich Teil einer (globalen) Jugendbewegung sein! Wir verfolgen dort einer Art Inversion des Vater-Sohn-Verhältnisses. Der Vater, als Repräsentant der traditionellen Schriftkultur, ausgestattet mit dem Signum Buch, wird von seinem Sohn, ausgestattet mit dem Signum elekt‐ rische Gitarre (oder Bass), über die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse aufgeklärt, von denen der Vater sichtlich irritiert ist. Der Sohn ist - dem Hip‐ pie-Diktum entsprechend - nicht aggressiv, sondern erklärt seinem etwas begriffsstutzigen Vater sehr freundlich die Ideen von ‚Professor McLuhan‘, die zumindest aus Sicht des Sohnes die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse angemessen beschreiben. Während der Vater sich hinter seinem Buch zu verstecken scheint (also in der Pose verharrt, in der man denkt und eben nicht handelt), sind die Gesten des Sohnes auf seinen Vater ausgerichtet. Er handelt also, aber nicht irrational, sondern wohlüberlegt. Der Vater muss belehrt werden, da er trotz seines ganzen Bücherwissens keine Ahnung von zeitgenössischen gesellschaftlichen und medialen Prozessen hat. Der Vater ist ein Abkömmling der antiquierten Gutenberg-Galaxis, der Sohn hingegen 4.2 McLuhan und die Avantgarde 289 <?page no="290"?> 790 Martina Leeker, Camouflagen des Computers. McLuhan und die Neo-Avantgarden der 1960er Jahre, in: Kerckhove u.-a. (Hg.), McLuhan neu lesen, S.-345-375, hier: S.-366. 791 Claus Pias, Schmoo, S.-146f. (Hervorhebung von mir [SG]). der Vertreter des globalen Dorfes. Diese Differenz, die McLuhan eingeführt hat, wird in diesem Kontext zu einer Differenz zwischen Generationen. Computeravantgarde Die Ideen McLuhans wurden nicht nur in den künstlerischen Avantgarden bzw. in diversen hippieesken und popkulturellen Spielarten der 68er-Be‐ wegung genutzt, sondern drangen ebenso ein in dezidiert technologische Kontexte: Auch bei den Computertechnikern halten McLuhan und die psychedelische NeoAvantgarde Einzug. In der Nachfolge der militärischen Forschungslabors der 1940er/ 1950er Jahre entwickelt sich in den 1960/ 70er Jahren eine zivile Computerforschung, in der es zu Überschneidungen zwischen der Countercul‐ ture-Bewegung und Computertechnikern in den staatlichen Labors kam. 790 McLuhan lieferte technisch versierten Personen Ideen, Metaphern und Szenarien, mit deren Hilfe sie das, was sie am Computer taten, anders und vor allem gesellschaftsrelevant und politisch beschreiben konnten, ohne dass McLuhan selbst viel Ahnung von Computern hatte. Er selbst schrieb sehr viel mehr über das Fernsehen als Leitmedium des neuen Zeitalters; der Computer kommt in seinen Schriften sehr selten vor. Nichtsdestotrotz wurden McLuhans Ideen in ingenieurtechnischen Kreisen relevant, die sich mit dem Computer intensiv beschäftigten: […] Ende der 1960er Jahre wird der Computer von der […] Hackergeneration nicht mehr als […] riesiger Kalkulator begriffen, sondern als Medium. Dabei ist die Lektüre der Schriften McLuhans entscheidend […]. Eine Theorie, die die technischen Details weiträumig umfährt, lieferte die Konzepte für technische Virtuosen, die bislang die Theorie weiträumig umfahren hatten. Das Experimen‐ tieren mit Medienfunktionen wird plötzlich als ‚Medientheorie‘ artikulierbar, weil McLuhans medientheoretische Diagnose des Computerzeitalters von Leuten gelesen wird, die technisches Verständnis für das Potential des Computers hatten, und nun plötzlich merkten, dass sie es mit einem Medium zu tun haben. 791 290 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="291"?> 792 Turner, Marshall McLuhan, S.-114f. 793 Johannes Paßmann, Medientheorien der Plattform, in: Christoph Ernst u. a. (Hg.), Handbuch Medientheorien im 21. Jahrhundert. Wiesbaden 2024, S. 2. Online zugänglich unter: DOI https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-38128-8_49-1. Paßmann bezieht sich dabei nicht auf McLuhan, sondern entfaltet zum einen generell ein praxeologisches bzw. pragmatisches Theorieverständnis. Anderseits zeigt er am Beispiel sozialer Plattformen, wie dabei theoretische Beobachtungen über Plattformen überführt werden in (praxisanleitende) Selbstbeschreibungen der Plattformbetreiber: innen und von dort wieder in die theoretische Diskurse über Plattformen einwandern. Damit ist am Gegenstand sozialer Medien gezeigt, wie die klare Unterscheidung zwischen Praxis und Theorie Vom Nutzen McLuhans für die Neoavantgarde In den 1960er Jahren war McLuhan also einer der Intellektuellen, auf die man Bezug nahm, wollte man Avantgarde sein und die Welt verändern, sei es mit künstlerischen, politischen oder technologischen Mitteln und Aktionen oder präziser noch: in Verbindung dieser Sphären. McLuhan lieferte hierfür augenscheinlich Begriffe, Metaphern und Phrasen, kurz ein Vokabular, in dem solche Tendenzen und Bestrebungen pointiert formulierbar wie reflektierbar wurden und das es erlaubte, auch widerstrebende Tendenzen zu integrieren. Bspw. wird dadurch möglich, technologische Entwicklungen und tribale Gemeinschaft nicht - wie davor üblich - als Gegensatz zu denken. Kybernetik und Hippies finden hier zusammen. Genauso werden elektronische Medien nicht mehr nur als Manipulationsinstrument in den Blick genommen, sondern als Mittel solidarischer Vergemeinschaftung und/ oder aktiver Partizipation. Selbst Konsum und Kritik werden zusammenge‐ bracht: „McLuhan bot eine Vision an, nach der junge Menschen Rock ’n’ Roll, Fernsehen und die damit assoziierten Vergnügungen des Konsums sogar dann nicht aufgeben mussten, wenn sie die Erwachsenengesellschaft ablehnten, die diese Formen hervorgebracht hatte.“ 792 Pragmatik und Praxeologie mit McLuhan Interessant erscheint an den Übernahmen von McLuhans Ideen für diverse Praktiken bzw. Selbstbeschreibungen diverser Praktiken, dass sich dabei die Rolle der Theorie verschiebt. Es gibt nicht mehr auf der seinen Seite die Gegenstände, etwas die künstlerische Praxis oder die Programmierung und Benutzung von Computern, und auf der anderen Seite die Theorie, die diese Gegenstände erklärt. Nunmehr ist vielmehr Theorie - ganz im Sinne des Pragmatismus oder auch der Praxeologie - als „‚Wirkmacht der Praxis‘“ 793 4.2 McLuhan und die Avantgarde 291 <?page no="292"?> uneindeutig wird bzw. Theorie als Teil der Praxis begriffen werden muss. Der von Paßmann beschrieben Zusammenhang von Theorie und Praxis scheint mir, jenseits der sozialen Medien, zur Beschreibung des praktischen Gebrauchts McLuhans wie auch zu McLuhans Selbstverständnis sehr gut zu passen. 794 Ebd., S. 8. Auch und gerade die Wechselwirkung ist gut an McLuhans Selbstverständnis als Forscher zu veranschaulichen, wenn er bspw. das, was er als Forscher tut, selbst als Strategie beschreibt, die er aus den Künsten übernommen hat, und dabei die Bezeichnung Theorie, für das, was er schreibt, brüsk ablehnt: „My canvasses are surrealist, and to call them ‚theories‘ is to miss my satirical intent altogether.“ (McLuhan, Letters, S.-448) 795 McLuhan, Mechanische Braut, S.-8. 796 Siehe dazu bereits → Wege zu McLuhan oder ausführlicher: Martina Leeker/ Kerstin Schmidt, Einleitung. McLuhan neu lesen. Zur Aktualität des kanadischen Medientheo‐ retikers, in: Kerckhove u.-a. (Hg.), McLuhan neu lesen, S.-19-48, v.a.: S.-21ff. zu verstehen, also als etwas, das Praxis anleitet und Teil der Praxis selbst wird. Theorien, die sich auf Praktiken beziehen und Praktiken, die Theorien implementieren, stehen somit „nicht in einem methodisch zu vermeidenden Konflikt […], sondern in einem produktiven Verhältnis wechselseitiger Hervorbringung.“ 794 In und mit den Aneignungen von McLuhans ‚Theorien‘ in der Praxis wird dieser Zusammenhang konkret anschaulich. Das passt wiederum sehr gut zu McLuhans eigenem Verständnis von Theorie als einer spezifischen Form von Begriffsarbeit: „Begriffe sind Provisorien, um Wirklichkeit zu begreifen; ihr Wert bemisst sich nach dem Zugriff, den sie ermöglichen.“ 795 Ganz buchstäblich lässt sich das als pragmatisches Maxime verstehen: (Theoretisches) Begreifen soll zu (praktischem) Zugreifen führen. Oder noch pointierter formuliert: Begreifen ist Teil des Zugreifens. 4.3 McLuhan und die Forschung Auch in der Forschung waren und sind McLuhans Ideen präsent und werden unterschiedlich genutzt. Im Folgenden werde ich aber keinen umfas‐ senden Überblick über die weitläufige wie wechselhafte wissenschaftliche Rezeptionsgeschichte der Ideen McLuhans geben. 796 Stattdessen möchte ich anhand einiger Beispiele aus der Rezeptionsgeschichte zeigen, wie an McLuhans Ideen in unterschiedlichen Feldern angeschlossen wurde bzw. wie seine Ideen noch für das Begreifen der gegenwärtigen medialen Lage anschlussfähig gemacht werden kann. Dabei wird es nicht darum gehen, ob McLuhans Ideen jeweils richtig oder angemessen gelesen werden (was immer das genau bedeuten sollte). Vielmehr: Gerade die Lesarten, die 292 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="293"?> McLuhan augenscheinlich modifizieren, für ihre spezifischen Zwecke in Beschlag nehmen und/ oder auf andere Gegenstände anwenden, sind von besonderem Interesse, zeigt sich doch gerade dort, wie produktiv und vielfältig anschlussfähig McLuhans Ideen sind. Zunächst werde ich einige Forschungsansätze vorstellen, die sich mit McLuhans Thesen zu elektrischen Medien wie Radio und Fernsehen befasst haben. Anschließend möchte ich zeigen, wie und warum McLuhan retro‐ spektiv als ‚Gründungsvater‘ für die (deutschsprachige) Medientheorie ab den 1980er Jahre inthronisiert werden konnte. In diesem Zusammenhang lässt sich zudem verdeutlichen, dass es durchaus gute Gründe gibt, McLuhan ebenso, wenn schon nicht als ‚Gründungsvater‘, so doch zumindest als wichtiger Vorläufer für eine neuere Strömung medienwissenschaftlicher Forschung gelten kann, nämlich für die Medienökologie. Danach folgen Darlegungen zu Ansätzen, die McLuhan vor dem Hintergrund digitaler Medien (neu) lesen lassen (vgl. Abb. 33). Forschung im Anschluss an McLuhan Theorien zu audiovisuellen Medien Forschung zur sekundären Oralität Kritik des Fernsehens Medientheorie als Paradigma Medienmaterialismus Medienökologie Theorien zur Digitalität Remediation Computer als Körperexernalisierung Pragmatismus des Internets Digitale Taktilität Abb. 33: McLuhan nutzen: Forschung mit McLuhan Das Zeitalter elektrischer Medien Das Hauptaugenmerk von McLuhans Kultur- und Mediengeschichte gilt einer Epochenschwelle: So ist der Übergang von der sogenannten Guten‐ berg-Galaxis, in der das Buch das Leitmedium gesellschaftlicher und psycho‐ sozialer Prozesse gewesen sein soll, ins Zeitalter der Elektrizität, das durch Medien wie dem Radio und mehr noch durch das Fernsehen bestimmt ist, 4.3 McLuhan und die Forschung 293 <?page no="294"?> 797 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 2. 798 Siehe zu dieser Gegenüberstellung bei McLuhan ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneu‐ tik, These 2. 799 Sybille Krämer, Mündlichkeit/ Schriftlichkeit, S.-192. 800 Walter Ong, Oralität und Literalität, Die Technologisierung des Wortes [1984], Opladen 1987, S.-10; siehe auch: ebd., S.-136. die mit Abstand dramatischste Zäsur in McLuhans Geschichtsschreibung. 797 Diese Art der Gegenüberstellung wurde in sehr unterschiedlicher Weise für einige Autor: innen in Nachfolge McLuhans wichtig, ja, für ihren Blick auf die Kultur- und Mediengeschichte konstitutiv. Und das ist nicht nur der Fall bei glühenden Verehrer: innen McLuhans, sondern mitunter auch bei einigen seiner Kritiker: innen. Sekundäre Oralität (Walter Ong) Der Jesuit und Altphilologe Walter Ong, der noch bei McLuhan studiert hat, gehört sicherlich eher der ersten Sorte von Rezipient: innen an. In Nachfolge McLuhans setzt er eine harte Differenz zwischen mündlichem und schrift‐ lichem Sprachgebrauch. Das gesprochene Wort wird als eine Artikulations‐ form verstanden, mit der zumeist konkrete Situationen benannt werden, weniger abstrakte Ideen oder Reflexionen emotionaler Befindlichkeiten ihren Ausdruck finden. Der Schrift hingegen werden - analog zu McLuhan - Attribute zugeordnet wie Steigerung des Abstraktionsvermögens, Formal‐ isierungsprozesse, reflexive Distanzierung sowohl von äußeren wie inneren Geschehnissen. 798 Geschichtlich gewendet wird diese Differenz „zu einer Epochenschwelle zwischen traditionellen und modernen Gesellschaften.“ 799 Die zweite Epochenschwelle wird von Ong, ebenfalls in Nachfolge von McLuhan, mit dem Zeitalter der Elektrizität gesetzt. Genauer noch wird sie von Ong ein wenig verschoben: Es geht ihm nicht so sehr um die elektrisch fundierte Vernetzung der Menschen ganz allgemein, sondern vorrangig um die Rückkehr der gesprochenen Sprache in und durch die elektronischen Medien. Augenscheinlich hat er dabei das Radio als zentrales Verbreitungsmedium im Sinn. Ong selbst nennt diese Phase - um die Rückkehr der Stimme deutlicher zu markieren als McLuhan - „sekundäre […] Oralität“ 800 . In dieser Phase sollen Merkmale des gesprochenen Wortes zurückkehren. Mit dieser Konstruktion der Medien- und Kulturgeschichte, in der die Phase primärer Oralität von einer der literalen abgelöst wird, die dann wie‐ 294 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="295"?> 801 Ebd., S.-172. 802 Siehe dazu sehr deutlich: ebd., S.-135ff. 803 Unverkennbar trägt ein so geartetes Konzept heilsgeschichtliche Züge - siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart, These 2 oder auch → 3. Lesart: Kritik. 804 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 3. 805 Postman, Wir amüsieren uns, S.-20. der in eine Phase sekundärer Oralität mündet, verfolgt Ong eine Strategie, die sich auch in McLuhans Medien- und Kulturgeschichte prominent finden lässt: Es geht um die Aufwertung nicht-literaler Medien und Kulturen. Bei Ong handelt es sich noch stärker als bei McLuhan um die Aufwertung münd‐ licher Kommunikation. Die wertende Beschreibung von oralen Kulturen als primitiv und defizitär, die laut Ong in der vorhergehenden ethnologischen Forschung ausfindig zu machen gewesen sein soll, wird nämlich, unter an‐ derem mit Bezug auf McLuhan, „durch eine positivere Anschauung früherer Bewußtseinsformen ersetzt“. 801 Somit ist die ‚Wiederkehr der Stimme‘ in den elektrischen Medien sehr positiv zu besetzen. Genauer noch werden in der sekundären Oralität Merkmale oraler Kulturen mit denen schriftlicher Kulturen synthetisiert, womit die sekundäre Oralität zur positivsten aller bisherigen Kulturwelten wird. 802 Aus einer Rückkehrgeschichte wird eine dialektische Bewegung der Kulturgeschichte hin zu einer immer umfassen‐ deren Entfaltung kognitiver, emotionaler und kommunikativer Potenziale des Menschen. Ong macht also McLuhan produktiv für eine Vervollkomm‐ nungsgeschichte des Menschen entlang der Leitlinie des gesprochenen Wortes. 803 Kritik des Fernsehens (Neil Postman) Neil Postman greift McLuhans Vergleich von Medien und Metaphern auf. 804 Er formuliert ganz analog zu McLuhan: Medien „gleichen […] Metaphern, die ebenso unaufdringlich wie machtvoll ihre spezifischen Realitätsdefi‐ nitionen stillschweigend durchsetzen.“ 805 Einerseits ermöglicht also eine Metapher eine neue Sichtweise, einen neuen Zugang zur Welt; anderseits definiert die Metapher nach Postmans Überzeugung überhaupt erst, was Realität ist bzw. sein kann und was nicht; damit ist sie restriktiv. Medien ermöglichen so verstanden neue Erfahrungen und Betrachtungsweisen; gleichzeitig beschränken sie aber auch die Erfahrungsmöglichkeiten und Wahrnehmungsweisen. 4.3 McLuhan und die Forschung 295 <?page no="296"?> 806 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 2. 807 Postman, Wir amüsieren uns, S.-69 (Hervorhebungen von mir [SG]). Weiterhin übernimmt Postman McLuhans mediengeschichtliches Pha‐ senmodell. Vor allem bei der Zäsur zwischen der Gutenberg-Galaxis und dem Zeitalter der Elektrizität hält er McLuhan die Treue. Auch bei Postman ist der Übergang von der Gutenberg-Galaxis in das Zeitalter der Elektrizität die für unsere Gegenwart prägende Zäsur. Ebenso wie McLuhan markiert Postman die Gegenüberstellung der Zeitalter mit den beiden Leitmedien Buchdruck und Fernsehen. 806 Die Effekte des Buchdrucks werden von Postman wie folgt beschrieben: Im 18. und 19. Jahrhundert brachte der Buchdruck eine Definition von Intelligenz hervor, die dem objektiven, rationalen Gebrauch des Verstandes Vorrang gab und gleichzeitig Formen eines öffentlichen Diskurses mit ernsthaftem, logisch geordnetem Inhalt förderte. Es ist kein Zufall, daß die Aufklärung, das Zeitalter der Vernunft, auch das Aufblühen einer von Buchdruck geprägten Kultur erlebte, zunächst in Europa, dann in Amerika. Die Ausbreitung des Buchdrucks entfachte die Hoffnung, die Welt und ihre mannigfaltigen Geheimnisse seien zumindest verstehbar, voraussagbar, beherrschbar. In diesem 18. Jahrhundert beginnt die Naturwissenschaft - hervorragendes Beispiel für die analytische Verarbeitung von Wissen - damit, ein neues Bild der Welt zu entwerfen. In diesem 18. Jahr‐ hundert wird demonstriert, daß der Kapitalismus ein rationales, liberales System des Wirtschaftslebens ist; der religiöse Aberglaube gerät unter heftigen Angriff, das Gottesgnadentum der Könige wird als Vorurteil entlarvt, es setzt sich die Idee eines kontinuierlichen Fortschritts durch, und die Notwendigkeit der Verbreitung von Lesen und Schreiben durch allgemeine Schulbildung wird offenkundig. 807 Diese Passage könnte so auch bei McLuhan zu finden sein, beschreibt dieser doch ganz ähnlich die historischen Effekte des Buchdrucks. Jedoch - und das ist ein entscheidender Unterschied zu Postman - würde McLuhan mit Sicherheit nicht vergessen, diese Effekte zu kritisieren, als Entfremdungs‐ entwicklung zu brandmarken und den Buchdruck als zentralen Faktor einer kulturellen Verfallsgeschichte zu präsentierten. Hierin folgt Postman McLuhan nicht. In einem seiner populärsten Bücher, W I R AMÜS I E R E N UN S ZU T OD E , beschreibt er sehr deutlich die Zielsetzung, die er mit diesem Buch (und letztlich mit all seinen Arbeiten) verfolgt: 296 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="297"?> 808 Ebd., S.-42f. 809 Ebd., S.-123f. Ich mache keinen Hehl aus meiner Ansicht, daß die vierhundertjährige Vorherr‐ schaft des Buchdrucks weit mehr Nutzen gebracht als Schaden angerichtet hat. Die modernen Ideen vom Gebrauch des Verstandes sind überwiegend durch das gedruckte Wort geprägt worden, ebenso unsere Vorstellungen über Erziehung, Wissen, Wahrheit und Information. Ich werde nachzuweisen versuchen, daß in dem Augenblick, da der Buchdruck an die Peripherie unserer Kultur gedrängt wird und das Fernsehen seinen Platz einnimmt, die Ernsthaftigkeit, die Klarheit und vor allem der Wert des öffentlichen Diskurses in Verfall geraten. 808 Die Mediengeschichte wird hier eindeutig als eine Verfallsgeschichte kon‐ turiert, die zu dem Zeitpunkt beginnt, als der Buchdruck nicht mehr das kulturelle Leitmedium darstellt. Postmans Perspektive ist der McLuhans an dieser Stelle genau entgegengesetzt: Durch das Fernsehen gibt es eben keine neue globale Vergemeinschaftung, keine neue Harmonie der Sinne, wie sie McLuhan beschwört, sondern schlicht Fragmentarisierung und Auflösung jeglicher Ordnung. Sobald das Fernsehen das Leitmedium gewor‐ den ist, etabliert sich etwas, was Postman als ‚Und-jetzt-Weltanschauung‘ beschreibt: Der Ausdruck ‚Und jetzt…‘-Weltanschauung umfaßt das Eingeständnis, dass die von den blitzschnellen elektronischen Medien entworfene Welt keine Ordnung und keine Bedeutung hat und nicht ernst genommen werden muß. […] [D]as Fernsehen hat diese Weltanschauung genährt und zu einer pervertierten Reife gebracht. Denn im Fernsehen haben wir es ungefähr alle halbe Stunde mit einem separaten Ereignis zu tun, das seinem Inhalt seinem Kontext und seiner Gefühlslage nach mit dem Vorangegangenen und dem Folgenden nichts gemein hat. 809 Nach Postman amüsieren wir uns mit dem Fernsehen regelrecht zu Tode. Statt eine globale Gemeinschaft zu etablieren, werden Welt und Mitmen‐ schen, insofern sie uns nicht unterhalten, bedeutungslos, argumentative Bezugnahmen immer bedeutungsloser. McLuhans Hauptaxiom von der zentralen Bedeutung der Medien als Mittel zur Präfiguration des Welt- und Erkenntniszugangs wird also einerseits adaptiert. Ebenso werden McLuhans kultur- und medienhistorische Zäsuren aufgenommen, anderseits jedoch hinsichtlich der Bewertung umgepolt. Denn wir werden laut Postman 4.3 McLuhan und die Forschung 297 <?page no="298"?> 810 Postman geht in anderen Texten darüber hinaus, primär Medienkritik zu üben. In einigen dieser Texten schlägt er vor, McLuhans Ansatz zu einer allgemeinen Medien‐ ökologie weiterzuentwickeln, siehe bspw. Neil Postman, The Humanism of Media Ecology, in: Proceedings of the Media Ecology Association 1 (2000), S. 10-16; ders., Das Technopol. Die Macht der Technologie und die Entmündigung der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1992, v.a.: S. 26). Darauf werde ich weiter unten noch mal zurück‐ kommen, siehe → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Holistische Medienökologie“. Zeug: innen, wie im und durch das Fernsehen rationale Argumentationsfä‐ higkeit verabschiedet wird und wir zunehmend zu zerstreuten, vereinzelten und passiven couch potatoes degenerieren. 810 Ist bei McLuhan das Fernsehen noch das Medium, das die Fragmentierung der Sinne wieder in produktive Harmonie überführt, so ist bei Postman das Fernsehen für das Gegenteil verantwortlich. Um es noch einmal zu wiederholen: Hier geht es nicht darum, ob Postman oder Ong McLuhan richtig lesen bzw. ob ihre Variationen die Sachlage unter Umständen klarer beschreiben. Vielmehr ist wichtig, wie McLuhans Ideen bei diesen Autoren produktiv gemacht wird, um eine eigene Position zu entwickeln. Dieses Produktiv-Machen kann so weit gehen, wie bei Postman zu verfolgen, dass das Resultat McLuhans Einschätzung der Dinge auf den Kopf stellt. Medientheorie (1): Die Geburt der Medienwissenschaft aus dem Geiste McLuhans Produktiv gemacht wurde McLuhan ebenfalls in der deutschsprachigen Forschungslandschaft - insbesondere in der sich konstituierenden Medien‐ wissenschaft. Dort spielte er eine wichtige Rolle als Gewährsmann für einen spezifischen Blick auf Kultur und Gesellschaft. Ja, in einigen Einführungs‐ bändchen zur Medientheorie figuriert er inzwischen als Gründungsfigur oder auch des Diskursbegründers medienwissenschaftlicher Forschung. So heißt es etwa in Rainer Leschkes E IN FÜH R UN G IN DI E M E DI E NTH E O R I E : Mit McLuhans These, dass die Medien selbst die Botschaft bildeten, und mit dem dadurch evozierten Übergang des Erkenntnisinteresses auf die Form von Medien ist […] von McLuhan erst das Terrain für eine eigenständige Medienwissenschaft geschaffen worden. […] Die[se] Umstellung auf die Form der Medien geht dabei von der Annahme aus, dass das Wesentliche des Mediums in seiner Form und nicht in den von ihm distribuierten Inhalten liegt und dass die Form der Medien nicht abgeleitet ist, sondern dass es sich um eine autonome Qualität handelt, 298 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="299"?> 811 Leschke, Einführung in die Medientheorie, S.-245f. (Hervorhebung von mir [SG]). 812 Siehe dazu: Geoffrey Winthrop-Young, Friedrich Kittler zur Einführung, Hamburg 2005, S.-80ff. 813 Friedrich Kittler, Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S.-23f. 814 Zur Kritik an McLuhans unzureichender Beschäftigung mit der Materialität der Medien siehe ausführlicher → 3. Lesart: Kritik, Kap. „(7) Das Problem der Materialität“. die sich nicht über irgendwelche Motive aufschlüsseln lässt, sondern die einer eigenständigen Theorie bedarf. 811 Als eine frühe, exemplarische wie wirkmächtige Indienstnahme McLuhans als Diskursbegründer einer spezifischen Medienwissenschaft sei nur auf den ehemaligen Germanisten Friedrich Kittler verwiesen, dessen material‐ istische Medienarchäologie selbst inzwischen wiederum international als Inbegriff einer German Media Theory gilt. 812 In einer Vorlesung Kittlers heißt es zur Vorreiterrolle McLuhans ähnlich deutlich und mit derselben Begrün‐ dung wie in Leschkes Einführungsband: Ohne die „berühmte […] Formel“ von dem Medium, das die Botschaft ist, hätte sich die Medienwissenschaft „nicht als solche“ entwickeln können. 813 Indes gibt Kittler dieser Formel eine etwas andere Richtung als McLuhan selbst: Die Materialität der Medien setzt die Operationsweisen des Speicherns, Übertragens und Verarbeitens von Daten unter ihre je spezifischen Bedingungen und präformiert somit jegliche Wahrnehmung, Kommunikation und Erkenntnis, völlig unabhän‐ gig von den jeweils transportierten Inhalten. Diese Bedingungen gilt es laut Kittler - und hier geht er weit über McLuhan hinaus - mittels infor‐ mationstheoretischen Beschreibungen der jeweiligen Operationsweisen der Medientechnologien und ihrer materiellen Bedingungen zu eruieren. 814 Mit diesem Schritt ist zum einen eine Differenz zu traditionellen Geis‐ teswissenschaften gesetzt, die sich zumindest aus Kittlers Perspektive bis dato nicht um diese Art Materialität gekümmert haben. Stattdessen hat man sich dort vorrangig mit Sinnverstehen sprachlicher Artikulationsfor‐ men beschäftigt. Zum anderen ergibt sich daraus: Die Medienwissenschaft beansprucht ihren eigenen Gegenstandsbereich, nämlich die Materialität medialer Prozesse zu untersuchen. Aber nicht nur einen eigenen Gegenstand findet die Medienwissenschaft damit. Nimmt man nämlich die These, dass das Medium die Botschaft ist, in dieser Lesart ernst, dann ist die medi‐ entechnische Operationsweise eben auch der entscheidende Faktor aller Kommunikations-, Erkenntnis- und Wahrnehmungsprozesse und somit auch der entscheidende, nämlich ursächliche Faktor aller kultureller und 4.3 McLuhan und die Forschung 299 <?page no="300"?> 815 Friedrich Kittler (Hg.), Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Pro‐ gramme des Poststrukturalismus, Paderborn 1980. 816 Kittler, Optische Medien, S.-23. 817 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. geistiger Prozesse. Wenn dem so ist, dann kann eine Medienwissenschaft, die auf Grundlage einer solchen Prämisse operiert, nur eine Wissenschaft sein, der größte Relevanz zukommt. Damit ist McLuhans Formel, von dem Medium, das die Botschaft ist, zur Grundlage für ein Projekt geworden, das nicht weniger als die „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ 815 fordert, um es mit Kittlers eigenen Worten zu formulieren. Denn McLuhans These wird in Kittlers medienmaterialistischen Reformulierung zur Grundlage eines fundamenta‐ len Paradigmenwechsels. Medienwissenschaft wird so nicht nur zu einer Disziplin mit einem eigenen Gegenstand, sondern überdies die Disziplin, die andere Geisteswissenschaften methodisch wie theoretisch reformiert. Zu situieren ist Medienwissenschaft somit als Institution, die die Geistes‐ wissenschaften über die neue medientechnische Lage informiert und neu ausrichtet. Jedoch setzt Kittler seine Medienwissenschaft in zwei zentralen Punk‐ ten in harschen Gegensatz zu McLuhans Position. Erstens ist sein Blick auf die Medien- und Kulturgeschichte ein anderer. Wo McLuhan das Aufkommen eines heilsgeschichtlich aufgeladenen oder doch zumindest ein alle Menschen verbindendes globales Dorfs sehen wollte, steht bei Kittler die digitale, zunehmend sich autonomisierende Organisationsform des Computers im Zentrum. Hier verwechselt der bereits in den 1930er Jahren zum Katholizismus konvertierte Medienforscher schlicht, wie Kittler pointiert formuliert, den „Heiligen Geist und Turings Maschine“. 816 Zweitens verabschiedet Kittler damit McLuhans Bezugnahme auf den Menschen als maßgebliche Instanz und Vorbild der Medienentwicklung. Medien sind laut Kittler keine Körperausweitungen, wovon McLuhan noch überzeugt war. 817 Vielmehr muss man die Autonomie medientechnischer Entwicklungen und Prozesse beschreiben lernen, die quasi hinter unserem Rücken und ohne uns ablaufen. Mit der Entwicklung des Computers verbindet Kittler konsequenterweise das Ende des (aktiv an der technischen Entwicklung beteiligten) Menschen. „Mehr und mehr Datenströme vormals noch aus Büchern und später aus Platten oder Filmen verschwinden in den schwarzen Löchern und 300 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="301"?> 818 Kittler, Grammophon, S.-3f. 819 Sybille Krämer, Friedrich Kittler - Kulturtechniken der Zeitachsenmanipulation, in: Alice Lagaay/ David Lauer (Hg.), Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt/ New York 2004, S.-201-224, hier: S.-223. Kästen, die als künstliche Intelligenzen von uns Abschied nehmen […].“ 818 Kittlers Mediengeschichte ist so gesehen eine sukzessive Entkopplung von der menschlichen Lebenswelt oder - dramatischer ausgedrückt - eine „Verschwindensgeschichte des Menschen“. 819 Die Vorstellung einer vollstän‐ digen Auslagerung von Körperfunktionen zur Regulation einer globalen Vergemeinschaftung, wie sie noch McLuhan mit dem Computer verband, ist dem diametral entgegengesetzt. Bei Kittler findet dementsprechend eine gravierende Umpolung der Ideen McLuhans statt. So geht Kittler zwar von McLuhans Slogan, ‚Das Medium ist die Botschaft‘ aus. Er schreibt ihn aber erstens in ein informationsthe‐ oretisches und medienmaterialistisches Vokabular um. Zweitens wird die These von der zentralen Rolle der Medientechniken für Kommunikation und Denken radikalisiert. Drittens ist damit ein Anspruch der Medienwis‐ senschaft auf ‚Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften‘ formuliert und so eben auch der Anspruch auf einen radikalen Paradig‐ menwechsel innerhalb geisteswissenschaftlicher Forschung. Viertens wird McLuhans Blick auf Medien auf die Computertechnik hin verlängert bzw. die Mediengeschichte so perspektiviert, dass sie auf den digitalen Rechner zuläuft, wo sich die vollständige Autonomisierung der Maschine und also die Verabschiedung vom Menschen zeigen wird. Diese Reinterpretation McLuhans ist deutlich in Formen der Überbietung und Radikalisierung geschrieben und mit apokalyptischen Zügen versehen. Rückblickend lässt sich diese Strategie wissenschaftshistorisch als durch‐ aus angemessen interpretieren, ging es doch vor allem im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (zumindest im deutschsprachigen Forschungsmilieu) überhaupt erst einmal darum, einen dezidiert medientheoretischen Blick‐ winkel in die Geisteswissenschaften einzuführen. Denn der Ausweis von Relevanz und Legitimität einer eigenständigen Wissenschaft ist nun mal vor allem durch Differenzbildung zu tradierten Disziplinen und Forschungs‐ richtungen zu erreichen. Dass gerade McLuhan als Ausgangspunkt der Überbietungen und Radikalisierungen gewählt wurde, ist so verwunder‐ lich wiederum nicht, sind doch gerade McLuhans Schriften nicht nur ein riesiger Steinbruch, aus dem man sich zur Ausgestaltung aller möglichen 4.3 McLuhan und die Forschung 301 <?page no="302"?> 820 Siehe: McLuhan, Letters, S.-429. 821 Hörisch, Eine Geschichte der Medien, S.-18. 822 McLuhan, Understanding Media. Second Edition, S.-17. 823 ‚Environment‘ als ‚Umwelt‘ zu übersetzen, ist durchaus problematisch. Schon die gängigen automatischen Übersetzungsmaschinen sind sich hier nicht einig. DeepL schlägt als erste Übersetzungsoption „Umwelt“ vor, der Google-Übersetzer hingegen „Umfeld“ (Abfrage: 28.09.24). Die Medienwissenschaftlerin Petra Löffler präferiert als Übersetzung „Umgebung“ (Löffler, Narzissmus als Narkose, S. 93). Florian Sprenger verzichtet gleich auf eine Übersetzung und wählt stattdessen das englischsprachige Original. Dementsprechend heißt sein Buch über ‚Umwelt‘-Theorien im Untertitel: „Zur Geschichte, Ökologie und Biopolitik künstlicher environments“ (Sprenger, Epis‐ temologien des Umgebenden). Diese Vorbehalte gegen ‚Umwelt‘ als Übersetzung für ‚environment’ haben durchaus gute Gründe. ‚Umwelt‘ wird im Alltagsgebrauch gängiger Weise mit ‚natürlichen‘ Phänomenen assoziiert, die durch menschliche Hand‐ lungen und Operationen ‚verschmutzt‘ werden. Bei McLuhan und überhaupt bei der Diskussion um environments geht es aber vielmehr um ‚künstliche‘ Umwelten oder genauer, um Phänomene, die künstliche und natürliche Elemente zusammendenken wollen bzw. hybridisieren. ‚Umwelt‘ wird zudem häufig im Singular gebraucht zur Bezeichnung natürlicher ökologischer Prozesse der Erde. Das passt zu dem, was McLuhan unter ‚environments‘ versteht, nicht besonders gut. Denn bei ihm gibt es, wie noch zu zeigen sein wird, ‚environments‘ nur im Plural und im Verhältnis zueinander. In der Systemtheorie Luhmann’scher Provenienz wiederum ist Umwelt schlicht alles, was nicht Bestandteil eines Systems ist: „Quelle eines unspezifischen (sinnlosen) ‚Rauschens‘, wobei die „Determination des Systems durch seine Umwelt entfällt“ medientheoretischer Thesen bedienen kann. Allerorten finden sich überdies Überbietungsgesten, Radikalisierungen und Zuspitzungen. Bestes Beispiel hierfür ist McLuhans für die Konstitution der Medientheorie herangezoge‐ nes Aperçu vom Medium, das die Botschaft ist. McLuhan selbst behauptet zudem recht forsch, dass die gesamte Philosophiegeschichte der letzten 2500 Jahre blind für diesen Sachverhalt gewesen ist. 820 Inhalt und Form scheinen sich hier aufs Beste zu entsprechen, um den Anspruch einer Medientheorie als einer „diensthabenden Fundamentaldisziplin“ 821 erheben zu können. Medientheorie (2): Die Geburt der Medienökologie aus dem Geiste McLuhans In der zweiten Auflage von U ND E R S TANDIN G M E DIA erklärt McLuhan nach etlichen Nachfragen einmal mehr knapp, was er unter Medien eigentlich verstanden haben will. Dort ist zu lesen: „The section on ‚the medium is the message‘ can, perhaps, be clarified by pointing out that any technology gradually creates a totally new human environment.“ 822 Medien sind dem‐ nach Umwelten oder genauer bilden (neue) Umwelten. 823 Sie fungieren dann 302 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="303"?> (Niklas Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1, Frankfurt am Main 1999, S. 65, 67). Das macht den Begriff ‚Umwelt‘ recht weit und leer. Trotz all dem möchte ich an ‚Umwelt‘ als Übersetzung von ‚environment’ festhalten. Erstens ist es eine gängige Übersetzung (siehe das angeführte Ergebnis von DeepL). Zweitens scheint es mir besser als ‚Umgebung‘ zu passen, weil es zumindest bei McLuhan um Phänomene geht, die nicht einfach Umgebung oder Umgebendes bedeuten, konnotieren diese Begriffe doch eine Nähe und Unmittelbarkeit der relevanten Phänomene, die nicht gegeben sein muss. Die Umwelt eines Autos kann bei McLuhan durchaus ein Satellit im All sein, der Hundertausende von Kilometern entfernt ist und das Auto nicht unmittelbar, nicht direkt wahrnehmbar ‚umgibt‘. Drittens wird der konstitutive Aspekt bei Umwelt klarer als bei Umgebendem oder Umgebung. Eine Umwelt umgibt nicht einfach eine Welt, sondern konstituiert sie; ohne Umwelt keine Welt. Dies ist für McLuhans Verständnis von ‚environment’ sehr wichtig. Viertens ist bei Umwelt, im Gegensatz etwa zum umgangssprachlichen und sozialwissenschaftlichen Gebrauch des Wortes ‚Milieu‘, die Zentrierung auf bestimmte Organismen in der Umwelt relevant, die darüber hinaus fünftens in einer reziproken Beziehung zur Umwelt gedacht werden und diese dementsprechend wiederum beeinflussen können. Sechstens ist die Umgebunge der Organismen nicht gleichzusetzen mit ihrer Umwelt. Nach Jakob von Uexküll können unterschiedliche Tierarten dieselbe Umgebung haben, aber nicht dieselbe Umwelt, denn sie nehmen ihre Umwelt unterschiedlich war, funktionalisieren Gegebenheiten je spezifisch und ‚konstruieren‘ damit je eigene Umwelten (vgl. bspw. Jakob von Uexküll, Theoretische Biologie [1928], Frankfurt am Main 1973, S. 339f.). Diesen konstruktiven Charakter von Umwelten wie auch die aktive Rolle der Organismen in dieser Umwelt passen gut zu einigen Charakterisierungen des ‚environments’ durch McLuhan. Siebtens diskutiert McLuhan, wie noch näher auszuführen sein wird, Stra‐ tegien gegen herrschende Umweltbedingungen, die er ‚counter-environments‘ nennt. Diese als ‚Gegenumwelten‘ zu übersetzten, scheint mir um einiges eleganter als mit ‚Gegen-Umgebungen‘. Wahrscheinlich müsste die Entscheidung für die Übersetzung von ‚environment’ als ‚Umwelt‘ ausführlicher begründet werden. Dies wird hier aber nicht geschehen. Stattdessen setze ich für das Folgende ‚pragmatisch‘ fest: ‚environment’ wird als ‚Umwelt‘ übersetzt. Siehe hingegen für eine beeindruckend differenzierte Diskussion der Begriffe Environment, Umwelt und Milieu: Sprenger, Epistemologien des Umgebens, S.-97ff. 824 McLuhan, Understanding Media. Second Edition, S.-17. nicht als Mittler, die Informationen von a nach b transportieren; sie sind nicht zwischen uns situiert, sondern um uns. Diese Umwelten, so McLuhan weiter, „are not passive wrappings but active processes“. 824 Sie sind also nicht wie neutrale Behälter beschaffen, in denen wir mal besser oder schlechter agieren, wahrnehmen und kommunizieren können, vielmehr transformieren mediale Umwelten unsere bisherige Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Denkfähigkeit. Solche Umwelten entstehen nicht aus dem Nichts. Sie wirken auf zuvor bereits existierende Umwelten ein. Umwelten transformie‐ ren so gewendet Umwelten. Die Idee des Eindringens von Medien in zuvor bestehende Umwelten, um neue Umwelten auszubilden, lässt sich in einer 4.3 McLuhan und die Forschung 303 <?page no="304"?> 825 Florian Sprenger, Medientheorie technischer Umwelten, in: Christoph Ernst u. a. (Hg.), Handbuch Medientheorien im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2024. Online zugänglich unter: https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-38128-8_37-1, S.-2. 826 Ebd. erneuten Wendung weiterführen zum Gedanken, dass Medien umweltlich werden. Damit soll gemeint sein, dass Medien nicht nur Umwelten bilden oder transformieren; sie haben ebenso die „Kapazität“ mobil zu werden und „sich an ihre Umgebungen zu adaptieren“. 825 Und in der Tat scheint doch die Annahme plausibel, dass Medien histo‐ risch gesehen immer mobiler werden, in Umwelten auswandern, sich diesen anpassen, um sie so zu transformieren. Diese Idee wurde in der Medien‐ wissenschaft zunächst zur Beschreibung neuerer medientechnologischer Entwicklungen relevant. So schreibt der Medienwissenschaftler Florian Sprenger diesbezüglich anschaulich: Unter Namen wie Internet der Dinge, ubiquitous computing, Smart Home, Smart City oder Smartphone, aber auch in Form von autonomen Technologien wie Robotern, Drohnen und selbstfahrenden Autos lösen sich digitale Technologien von ihrer Bindung an bestimmte Orte und machen Umgebungen zu Medien ihrer Operationen. Die Räume, die solche Technologien durchdringen, die sie mit ihren Sensoren registrieren und aus denen sie Daten sammeln - seien es Wohnzimmer, Küchen, Büros, Supermärkte, öffentliche Plätze, Straßenkreuzun‐ gen oder Fabrikhallen -, werden durch Kopplungen von Sensoren, Algorithmen und Lokalisierungsverfahren als technische Umgebungen, d. h. als gestaltbare, artifizielle Räume der Information berechnet, synthetisiert, kontrolliert und moduliert. Diese Umgebungstechnologien kennzeichnet mithin das, was Orit Halpern, Robert Mitchell und Bernard Geoghegan ‚environmentally extended smartness‘ […] genannt haben. 826 Das Umweltlich-werden der Medien ist aber in der Medienwissenschaft nicht nur interessant geworden zur Beschreibung ‚smarter‘ Medien. Zur Kennzeichnung medialer Operationsweisen generell findet das Um‐ welt-werden der Medien inzwischen Anwendung - und bezeichnet damit eine Neuakzentuierung medienwissenschaftlicher Forschung: Nicht mehr einzelne technische Objekte stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit (der Fernsehapparat etwa), sondern das Netzwerk diverser und heterogener technischer Elemente, Prozesse, Operationen und Institutionen, die uns um‐ 304 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="305"?> 827 Christiane Voss, Anthropomedialität. Zur Einführung, in: Andreas Ziemann (Hg.), Grundlagentexte der Medienkultur. Ein Reader, Wiesbaden 2019, S.-39-44, hier: S.-32. 828 Siehe: Postman, Technopol, v.a.: S.-26; ders., Media Ecology, v.a.: S.-11. 829 Siehe bspw. als Überblick: Petra Löffler/ Florian Sprenger, Medienökologien. Einleitung in den Schwerpunkt, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 14 (2016), S.-10-18. 830 Siehe ganz ähnlich bereits: ebd., S.-10f. geben und die selbst nur noch „als mediale[s] Umweltgefüge“ 827 angemessen verstanden werden können. Darauf werde ich noch genauer eingehen. Festzuhalten bleibt zunächst: In McLuhans Neubeschreibung dessen, was Medien sind, stecken mehr oder minder implizit mindestens drei Thesen, die für medienwissenschaftliche Zugriffe relevant, variantenreich expliziert und weitergeführt wurden, nämlich: 1. Medien sind bzw. bilden Umwelten. 2. Medien transformieren Umwelten. 3. Medien werden umweltlich. Der Überbegriff, unter den die Explikationen und Weitführungen dieser Thesen gestellt werden sollen, ist Medienökologie. Diesen Begriff hat Neil Postman unter Rekurs auf McLuhan eingeführt 828 und er wurde mit und ohne Referenz auf McLuhan oder Postman in den letzten Jahren in der Medienwissenschaft wichtig. 829 ‚Ökologie‘ bezeichnet hier erst einmal einen aus der Biologie stammenden Forschungsstrang, der das Verhältnis von Organismen zu ihrer Umwelt untersucht. ‚Medienökologie‘ wäre analog dazu die Erforschung der Beziehung von Akteuren (‚Organismen‘) und Medien (‚Umwelt‘) sowie die Untersuchung der Relation von Medien als Umwelten zu vorhergehenden oder anderen Umwelten. Von dieser basalen Bestimmung ausgehend lassen sich mindestens drei Gegenstandsfelder und Ebenen der Medienökologie unterscheiden: 830 (1) Ökologie der Medien als Konfiguration Hierbei geht es darum, wie Medien zueinander im Verhältnis stehen, welche Netzwerke, welche Differenzen sie ausbilden und wie das Verhältnis zu den Umwelten zu verstehen sein könnte, die sie durchdringen. Damit sind Fra‐ gen nach der generellen Bestimmung des Medialen, die Organisationsweise und Verteilung der Medien, ihre Transformationskraft gestellt, also danach, wie Medien Wissen, Wahrnehmung, Kommunikation, Technologien und Organismen konfigurieren, also ins Verhältnis zueinander setzen. 4.3 McLuhan und die Forschung 305 <?page no="306"?> 831 Genau genommen wurde Sputnik bereits am 4. Oktober ins All befördert. Präzise Datierungen und Referenzen gehören indes ohnehin nicht zu den Stärken McLuhans, siehe ausführlicher → 3. Lesart: Kritik, Kap. „(1) Das Problem sachlicher Fehler“. 832 Marshall McLuhan, At the moment of Sputnik, S. 48. Siehe dazu auch: Löffler/ Sprenger, Medienökologien, S.-11f. (2) Medien der Ökologie als Praxis Im Unterschied dazu lässt sich sehr viel konkreter Fragen, wie Medien in je spezifischen Situationen Einfluss auf Umwelten haben, etwa in Form von Umweltverschmutzung aufgrund von hohem Energieverbrauch durch Datennetzwerken, aber auch als ‚ökologische‘ Medien, die besonders ressourcensensibel operieren oder den Energieverbrauch überhaupt erst messbar machen. Hierher gehören auch Fragen danach, wie spezifische Infrastrukturen, etwa Schifffahrtsrouten oder die Stromversorgung durch Elektrizitätswerke Umwelten verändern. (3) Medien der Ökologie als Ästhetik Relevant ist auf dieser Ebene, wie Medien Umwelt wahrnehmbar machen, also repräsentieren - sei es, dass die Erde vom All aus fotografiert oder die Rodung des Regenwaldes im time leap-Verfahren anschaulich gemacht werden, seien es Diagramme, die den Energieverbrauch diverser Länder visualisieren oder auch Kunst, die über (mediale) Umwelten reflektiert. McLuhan, so wird zu zeigen sein, hat zu allen drei Bereichen der Medien‐ ökologie etwas Relevantes zu sagen und - was es einigermaßen kompliziert macht - verschränkt sie häufig dicht ineinander. Was damit gemeint ist, lässt sich anhand der Eingangssätze eines 1974 von McLuhan veröffentlichen Textes erläutern. Dort schreibt McLuhan: Perhaps the largest conceivable revolution in information occurred on October 17, 1957, when Sputnik created a new environment for the planet. 831 For the first time the natural world was completely enclosed in a manmade container. At the moment that the earth went inside this new artifact, Nature ended and Ecology was born. ‚Ecological‘ thinking became inevitable as soon as the planet moved up into the status of a work of art. 832 McLuhan setzt damit den ersten künstlichen Satelliten im Erdorbit als Inbegriff einer globalen kommunikativen Vernetzung. Auch wenn Sputnik selbst, ausgestattet mit einem kleinen Peilsender, nur ein paar Tage Signale funkte, aber noch nicht empfangen und weiterleiten konnte, gilt dieses 306 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="307"?> 833 Siehe dazu bspw.: Frank Hartmann, Sputnik und die Globalisierung des Weltbildes, in: Igor J. Polianski/ Matthias Schwarz (Hg.), Die Spur des Sputniks. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter, Frankfurt am Main 2009, S.-160-177. 834 Siehe dazu ausführlicher: Sven Grampp (Hg.), Cold Moon Rising. Die Berichterstattung über die erste bemannte Mondlandung als Globalgeschichte in Zeiten des Kalten Krieges, Wiesbaden 2021. 835 Siehe dazu ausführlich: Robert Poole, Earthrise. How Man First Saw the Earth, New Haven/ London 2008. 836 McLuhan, At the moment of Sputnik, S.-48. erste künstliche Objekt im Erdorbit doch als Ausgangspunkt einer Satelli‐ tentechnologie, die es in den 1960er Jahren möglich machte, elektronische Signale nahezu in Echtzeit zu senden und prinzipiell überall auf der Erde zugänglich zu machen. 833 Am eindrücklichsten für die Leistungsfähigkeit der neuen Satellitentechnologie dürfte wohl die Live-Berichterstattung über die erste bemannte Mondlandung sein, die 1969 nahezu in allen Ländern im Fernsehen übertragen wurde und eindrückliche Bilder von Mond und Erde übertrug. 834 Die globale kommunikative Vernetzungskompetenz der neuen Satellitentechnologie wird von McLuhan als eine mediale Leistung beschrieben, die eine neue Umwelt für den ‚ganzen Planten‘ ausgebildet hat. ‚Sputnik‘ ist damit erstens ein Beispiel für die Ökologie der Medien, transformiert doch die Satellitentechnologie vorhergehende mediale Kons‐ tellationen und bildet damit eine neue Umwelt für uns aus. Zweitens ist ‚Sputnik‘ ein Medium der Ökologie, weil nunmehr auf Basis der Satelliten‐ technologie die ‚Natur‘ global beobachtet werden kann. Das gilt erst einmal auf ästhetischer Ebene. Die Fernsehbilder und Fotografien, die die Erde vom Weltall her zeigen, machen den Planeten auf neuartige Weise wahrnehmbar. Man denke in diesem Kontext nur an die berühmte Darstellungen der Erde vom Mond aus gesehen, die während der Apollo-Missionen aufgenommen und zu Ikonen insbesondere für Umweltschutzbewegungen der 1970er Jahre wurden, weil damit die ‚fragile‘, über alle Länder- und Kontinentengrenzen hinweg gemeinsam zu schützende globale Welt anschaulich gemacht wer‐ den konnte. 835 Die Erde wird so in einem ganz konkreten Sinne, wie McLu‐ han schreibt, eine „work of art“, 836 also zum Kunstwerk. Drittens ist durch die Satellitentechnologie nicht nur realisierbar, die Erde global zu betrachten. Um dies möglich zu machen, mussten Medien umweltlich geworden sein. Buchstäblich umgeben seit den 1960er Jahren Satelliten die gesamte Erde. Damit ist bei McLuhan der Gedanke verbunden, dass praktische Maßnah‐ men zur Regulierung der Vorgänge auf der Erde einzuleiten sind. Deshalb 4.3 McLuhan und die Forschung 307 <?page no="308"?> 837 Siehe zu den Implikationen des Begriffs und zu diversen Bestimmung eines Zeitalters des Anthropozäns: Eva Horn/ Hannes Bergthaller, Anthropozän zur Einführung, Ham‐ burg 2019 oder auch Bruno Latour, Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime [2015], Berlin 2023, S.-193ff. schreibt McLuhan vom ‚Ende der Natur‘ und dem Beginn der Ökologie. Gemeint ist damit, dass nunmehr die Natur auf Grundlage technischer Artefakte fundamental verändert wird. Natur bildet nunmehr nicht einfach mehr den Hintergrund menschlichen Handelns. Sie wird stattdessen durch menschliche Eingriffe mittels Medientechnologien fundamental verändert, kann und muss nunmehr - verstanden als planetarisches Ökosystem - durch Medien der Ökologie reguliert werden. Dies ist ein Gedanke, der - wenngleich weniger optimistisch als bei McLuhan - im Zeitalter des Anthropozän wohl nicht allzu abwegig erscheinen dürfte. 837 Pointiert formu‐ liert: Die Satellitentechnologie bildet eine neue (technische) Umwelt, in der Medientechnologien umweltlich werden, um (zuvor ‚natürliche‘) Umwelten beobachtbar und veränderbar zu machen. Ökologie der Medien und Medien der Ökologie greifen in McLuhans Sputnik-Beschreibung also ineinander. McLuhans Medienökologien Noch wichtiger als der Nachweis, dass McLuhan bereits medienökologisch denkt, ist mir, dass sich ausgehend von Beobachtungen des Medienthe‐ oretikers viele sehr unterschiedliche, mitunter widerstrebende Facetten des medienökologische Diskurses nachzeichnen lassen. Zeigen möchte ich ausgehend von einigen Stichworten, wie McLuhans Ideen zur Medienöko‐ logie sehr unterschiedlich ausbuchstabiert, adaptiert, transformiert und so produktiv gemacht wurden bzw. zu machen sind für eine medienwissen‐ schaftliche Beschäftigung mit Medienökologie (vgl. Abb. 34). 308 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="309"?> 838 Siehe dazu knapp: Katja Rothe, Medienökologie - Zu einer Ethik des Mediengebrauchs, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 14 (2016), S. 46-57, v. a. S. 48f.; etwas ausführli‐ cher in: Sprenger, Epistemologien des Umgebens, S. 290ff. oder sehr kritisch in: Matthew Fuller, Media Ecologies. Materialist Energies in Art und Technoculture, Cambridge (Mass.)/ London 2005, S.-3f. M Ökologie der Medien (Konfiguration) Medien der Ökologie (Ästhetik, Praxis) holistisch infrastrukturierend unwahrnehmbar konternd relativ relational ästhetisierend Abb. 34: Merkmale der Medienökologie McLuhans Holistische Medienökologie Neil Postman kommt wohl die Ehre zu, McLuhans Medienverständnis als erster als einen medienökologischen Ansatz benannt zu haben. 838 Die Idee McLuhans, nämlich dass das Medium die eigentliche Botschaft ist und neue Medien dementsprechend unsere Wahrnehmung, Kommunikation und Erkenntnisfähigkeit im Laufe der Medienentwicklung immer wieder neu und signifikant anders ausrichten, beschreibt Postman explizit als einen ökologischen Vorgang: Technologischer Wandel ist weder additiv noch subtraktiv. Er ist ökologisch. Ich benutze des Wort ‚ökologisch‘ in dem gleichen Sinne wie die Umweltforscher. Eine einzige bedeutsame Veränderung zieht eine vollständige Veränderung nach sich. Wenn man aus einem bestimmten Lebensraum die Raupen entfernt, dann hat man nachher nicht diesen Lebensraum, abzüglich der Raupen: man hat einen anderen Lebensraum, in dem sich die Überlebensbedingungen neu formiert haben; das gleiche gilt, wenn man die Raupen in eine neue Umgebung bringt, 4.3 McLuhan und die Forschung 309 <?page no="310"?> 839 Postman, Technopol, S.-26 (Hervorhebung von mir [SG]). 840 Siehe → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Kritik des Fernsehens (Neil Postman)“. 841 Postman schreibt im Kontext seiner Diskussion des Einflusses von Medientechnologien auf Kultur und Menschen in Appellform: „[W]e need to keep our planetary household in order.“ (Postman, Media Ecology, S.-11; Hervorhebung von mir [SG]) in der es bisher keine gab. Genauso funktioniert auch die Medienökologie. Eine neue Technologie fügt nichts hinzu und zieht nichts ab. Sie verändert vielmehr alles. 839 Medien sind hier ganz im Sinne McLuhans Mittel, die in die Umwelt eindringen und dabei alle Komponenten dieser Umwelten verändern - dementsprechend eine neue Umwelt ausbilden. Nach dieser Vorstellung hängen alle Elemente mit allen anderen (einer Umwelt) zusammen. Dringt ein neues signifikantes Element (‚Medium‘) ein, verändert sich alles andere - auch und das ist Postman wiederum im Anschluss an McLuhan besonders wichtig: unsere Wahrnehmungsfähigkeit, Wertvorstellungen und emotio‐ nale Befindlichkeit. Dies ist ein holistischer Ansatz, weil eben alles mit allem zusammenhängt und das gesamte Gefüge durch die Einführung eines neuen Elements neu ausgerichtet wird. Wie bereits weiter vorne angeführt, 840 buchstabiert Postman die Idee, dass ein neues Medium unabhängig vom transportierten Inhalt erhebliche, mitunter desaströse Folgen auf unser Denkvermögen, unsere Gefühle und Willensbildungsprozesse hat, am Beispiel des Fernsehens medienskeptisch aus. In der medienökologischen Wendung dieser Idee macht sich Postman zudem Gedanken darüber, dass diverse Medien, die je unterschiedlich auf die Elemente ihrer Umwelten Einfluss haben (können), untereinander konkurrieren, ja hier formuliert Postman sogar martialischer, dass Medien im Krieg miteinander stehen. Aufgrund dieser Konstellation geht es dann konsequenterweise um die konfliktuöse Ausgestaltung von Umwelten, die jeweils unterschiedlich auf Wahrnehmungsfähigkeit, Wertvorstellungen und emotionale Befindlichkeit wirken. Dieser Kriegszustand, wie Postman en passant vermerkt, hat sich inzwi‐ schen als diffuses Gemengelage auf planetarischer Ebene ausgebreitet, das alles und jeden affiziert. 841 Hier wird der Holismus Postmans, den er für die Einführung einzelne signifikanter Medientechnologien postuliert, zu einem globalen Holismus widerstreitender Medientechnologien und ihrer diverser Affizierungsmöglichkeiten. Das wiederum erinnert sehr an McLuhans globales Dorf. Nach dieser Vorstellung leben wir ja inzwischen 310 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="311"?> 842 Siehe → 2. Lesart: Hermeneutik, These 3. 843 McLuhan/ Fiore/ Angel, Krieg und Frieden im Globalen Dorf. 844 Siehe bspw. McLuhan, Magische Kanäle, S. 147; Postman, Humanism of Media Ecology, S.-11. 845 Siehe bspw.: McLuhan, Magische Kanäle, S.-155f.; Postman, Media Ecology, S.-10f. (‚spätestens seit Sputnik‘) aufgrund elektronischer Vernetzung in einem globalen Dorf, in dem alles und alle mit allem und allen zusammenhängen, alles und alle auf alles und alle simultan reagieren. 842 Und auch wenn es in McLuhans globalem Dorf nicht primär um Medienkriege geht, sondern um die Dominanz elektrischer Medien, die ineinandergreifen, so herrscht doch dort zumindest ebenfalls Wiederstreit oder sogar „Krieg“, 843 weil diese auf unterschiedliche kulturelle Konstellationen treffen. Und definitiv sind diese kulturellen Konstellationen herausgefordert, weil nunmehr eben holistisch verknüpft auf Ebene des Globalen durch die elektrische Medientechnologie. In dieser Situation ist es für Postman wie für McLuhan wichtig, dass ‚wir‘ erstens verstehen, wie die Medien jeweils auf uns und unsere Umwelt wir‐ ken, zweitens eine richtige Dosierung oder Mischung der Medien finden, die eine angemessene Balance für unsere kognitiven und emotionalen Wohlbe‐ finden herstellen. 844 Angenommen wird dabei freilich, dass der Mensch zum einen weiß, wie die Medien (auf die Umwelt und aufeinander) wirken, zum anderen, dass der Mensch die Kompetenz hat, Medien nach seinen Vorgaben zu steuern. Das Ziel ist bei beiden Autoren dabei klar benannt: Harmonie und Wohlbefinden soll durch die umsichtige Steuerung der Medien (wieder) hergestellt werden. Medien werden so verstanden zu Medien der Ökologie, die durch den Menschen gesteuert werden können und müssen, um ein Gleichgewichtszustand in einem komplexen, dynamischen und holistischen (Medien-)System auf globale Ebene zu etablieren und aufrechtzuerhalten. 845 Die ‚Natur‘ ist somit zum Ökosystem geworden, das durch Medientech‐ nologien gesteuert werden kann. McLuhan und Postman können so als Vorläufer oder doch Ideengeber für ein Environmental engineering gelten. Dieses Environmental engineering folgt der Prämisse, dass so eine Gestaltung 4.3 McLuhan und die Forschung 311 <?page no="312"?> 846 Siehe dazu: Sprenger, Epistemologien des Umgebens, S. 13f., 55 ff. McLuhan greift in diesem Kontext gern auf die technizistische Metapher der Erde als Raumschiff zurück, die er von dem Architekten und Kulturtheoretiker Richard Buckmister Fuller übernommen hat (bspw. in: McLuhan, At the Moment of Sputnik, S. 50, 57). Fuller hat seine Idee, wie die Erde nunmehr unter technischen Bedingungen wie ein Raumschiff zu steuern sein könnte und sollte, sehr klar in einem Text mit dem sprechenden Titel B E D I E N U N G S A N L E I T U N G F Ü R D A S R A U M S C H I F F E R D E festgehalten (siehe: Richard Buckminster Fuller, Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde [1969], in: ders., Be‐ dienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften, Amsterdam/ Dresden 1988, S. 10-121). Zur Kritik dieser Metapher (und seiner holistischen Implikationen) siehe: Latour, Kampf um Gaia, S. 169f., zum Raumschiff Erde siehe auch: Sprenger, Epistemologien des Umgebens, S.-415ff., zur Kritik am Holismus: ebd., S.-115ff. 847 Siehe Postman, Technopol, S. 194ff. Siehe dazu auch knapp: Rothe, Medienökologie, S.-48f. 848 McLuhan, Magische Kanäle, S.-53. nötig und möglich ist. 846 Ihre Hauptaufgabe ist, die (Um-)Gestaltung der Erde durch den Menschen technisch-praktisch umzusetzen. Postman selbst stellt dafür ein allgemeines (schulisches) Bildungspro‐ gramm vor, das den Menschen für die Steuerung der (medien-)ökologischen Vorgänge sensibilisieren und auf individueller Ebene handlungsfähig ma‐ chen soll, kurioserweise weniger durch das Lernen ingenieurwissenschaftli‐ cher Kompetenzen, sondern eher durch die Aneignung klassischer Literatur und die Stärkung des Geschichtsunterrichts. 847 McLuhan delegiert die Auf‐ gabe der Herstellung von Harmonie und Homöostase im Unterschied dazu wieder an die Medientechnologien zurück, zumindest spekuliert er für die nahe Zukunft in diese Richtung, wenn er schreibt: Wir kommen sicher noch so in den vorstellbaren Bereich einer Welt, die soweit automatisch gesteuert wird, daß wir sagen können: ‚Sechs Stunden weniger Radioprogramm nächste Woche in Indonesien, oder es kommt zu einem starken Nachlassen des Interesses an Literatur.‘ Oder: ‚Wir können nächste Woche weitere zwanzig Stunden Fernsehprogramm in Südafrika senden, um das durch den Rundfunk letzte Woche aufgeheizte Stammesklima abzukühlen.‘ Ganze Kulturen könnten so programmiert werden, um ihr emotionales Klima zu stabilisieren, wie wir ja auch bereits etwas darüber wissen, wie ein Gleichgewicht in der Weltwirtschaft aufrechterhalten werden kann. 848 Und noch weiter geht er mit folgender Spekulation: Wenn eine Rückkopplung der Daten durch den Computer möglich ist, warum sollte es nicht möglich sein, das Denken einen Schritt weiter voranzutreiben, 312 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="313"?> 849 McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen, S.-43. 850 Gabrielle Schabacher führt (unter anderem) auf McLuhan direkt die Erforschung der Infrastruktur zurück: „Medientheoretiker wie Marshall McLuhan, aber etwa auch Paul Virilio und später Friedrich Kittler greifen eine […] ‚infrastrukturelle‘ Lesart von medialen Verhältnissen auf, auch wenn sie den Begriff ‚Infrastruktur‘ nicht explizit verwenden.“ (Gabriele Schabacher, Infrastruktur-Arbeit. Kulturtechniken und Zeitlichkeit der Erhaltung, Berlin 2022, S. 8). Ausführlicher auf McLuhan als Vorreiter der Infrastrukturforschung geht die Autorin ein in: Gabrielle Schabacher, Transport und Transformation bei McLuhan, in: Heilmann/ Schröter (Hg.), Medien verstehen, S. 59-84. indem man das Weltbewußtsein an einen Weltcomputer anschließt? […] Der Computer trägt also in sich das Versprechen […] für dauerhafte Harmonie und dauerhaften Frieden sorgen könnte. 849 McLuhans Medien der Ökologie sind also letztlich autonome, global ope‐ rierende, in kybernetische Rückkopplungsschleifen vernetzte Medientech‐ nologien. Die Handlungsmacht ist bei McLuhan von den Menschen zu den Maschinen gewandert, während Postman bemüht ist, die Handlungs‐ fähigkeit den Menschen in unserer globalen medienökologischen Lage zurückzugeben. Wichtiger als diese Differenz ist aber hier erstens, dass Postman McLu‐ hans Axiom vom Medium, das die Botschaft ist, explizit als medienökologi‐ sches Projekt markiert, dieses Projekt zweitens, einem ganzheitlich-dyna‐ mischen Grundverständnis folgt, drittens global skaliert wird und viertens einem homöostatischen Ideal verpflichtet ist, das es herzustellen und auf‐ rechtzuerhalten gilt. Die Ökologie der Medien, im Sinne einer wirkmächti‐ gen Konfiguration der Medien, und die Medien der Ökologie, die praktisch eingesetzt werden sollen, um ein harmonisches grundiertes Wechselspiel der Elemente herzustellen, greifen so auch und gerade in Postmans Fortset‐ zung McLuhan’scher Gedanken unter dem Signum des Holismus ineinander. Medienökologie als Wissenschaft von den Infrastrukturen Neben diesen sehr großen und weitreichenden (Kontroll-)Fantasien über eine globale, holistische Medienökologie gibt es andere Anschlüsse an McLuhan, die sehr viel konkreter, kleinteiliger, weniger normativ-lösungs‐ orientiert sind - und letztlich für die medienwissenschaftliche Forschung, zumindest im deutschsprachigen Bereich, weit wichtiger wurden. Es handelt sich dabei um Ansätze, die sich mit Infrastrukturen von Medien beschäftigen oder genauer: mit Infrastrukturen als Medien. 850 4.3 McLuhan und die Forschung 313 <?page no="314"?> 851 Schabacher, Infrastruktur-Arbeit, S.-8. 852 Siehe ausführlich dazu → 2. Lesart: Hermeneutik, These 2. 853 Siehe zur Idee der Transformation durch Transport bspw.: „Jede Form von Transport befördert nicht nur, sondern überträgt und verändert den Absender, den Empfänger und die Botschaft.“ (McLuhan, Magische Kanäle, S. 142) Zu diesem Zusammenhang siehe ausführlicher: Mangold, McLuhans Tricksterrede, S.-420ff. Bei Untersuchungen von Infrastrukturen wird, wie Gabrielle Schabacher formuliert, „eine Auffassung von Medien, die von Endgeräten mit Benutzer‐ schnittstellen ausgeht, gewissermaßen um einen infrastrukturellen ‚Rück‐ raum‘ erweitert, der Produktion, Rezeption und Distribution als miteinan‐ der verflochtene Felder verstehbar macht. Auf diese Weise lassen sich z. B. Zusammenhänge zwischen Smartphonenutzung und Rohstoffbzw. Energieverfügbarkeit herstellen, was die Bereitstellung von Solarenergie zum Betrieb von Serverfarmen betrifft, aber auch lokale Praktiken der Stromgewinnung auf mobil-improvisierter Basis in ländlichen Gegenden ohne Netzanschluss.“ 851 Damit geht eine Verschiebung des Forschungsgegenstandes einher. Nicht mehr die einzelnen technischen Medienartefakte, insbesondere deren Schnittstellen mit den Menschen (der Monitor, der Fernsehbildschirm, die Schrift in einem gedruckten Buch) stehen im Fokus, sondern das Zusam‐ menspiel und die Wechselwirkung medialer Elemente, Institutionen und Praktiken, die eben im ‚Rückraum‘ stattfinden oder anders formuliert: in der meist nicht unmittelbar wahrgenommenen bzw. wahrnehmbaren medientechnologischen Umwelt. Medien sind dann nicht mehr so sehr als Mittler zwischen Sendenden und Empfangenen interessant, sondern als dasjenige, was diese umgibt, also als Umwelt. Dementsprechend sind bei der Erforschung der Infrastruktur auch andere Aspekte, Gegenstände, Prozesse und Praktiken der Herstellung, Stabilisierung und Veränderung interessant als bei der Untersuchung bspw. der Ästhetik von Fernsehbildern. Auch wenn sich McLuhan viel mit der Ästhetik von Fernsehbildern beschäftigt hat, 852 kann er nichtsdestotrotz als Vorläufer solch eines Per‐ spektivwechsel gelten, weil er erstens früh Elemente und Aspekte des Transports, etwa die Straße, als Medien beschreibt. In und durch Infrastruk‐ turen wird ja analog dazu immer etwas räumlich und/ oder zeitlich transpor‐ tiert, weitergeleitet, in Zirkulation gebracht, verarbeitet (Fahrzeuge, Daten, Strom, Wasser, Müll). Medien sind diese Infrastrukturen im Sinne McLu‐ hans zweitens genau deshalb, weil sie das, was sie transportieren, unter je spezifische Bedingungen setzen und damit transformieren. 853 So setzt 314 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="315"?> 854 Zu einem ganz ähnlich gelagerten und doch ein wenig anders gedeuteten Beispiel von Bruno Latour siehe: Schabacher, Transport und Transformation, S.-69f. 855 McLuhan, Speed of light, S. 241f. (Hervorhebung von mir [SG]). Siehe auch einen Brief von McLuhan aus dem Jahr 1971, in dem er schreibt, dass die Wendung vom Medium, das die Botschaft ist, die „corporate effects of the medium as an environment of service and disservice“ (McLuhans, Letters, S. 446) meint. Siehe ebenfalls: Marshall McLuhan, Religion and Youth: Second Conversation with Pierre Babin [1977], in: ders., Medium and Light, S.-94 -104, insb.: S.-100. 856 In anderen, vor allem früheren Texten ist diese strikte Aufteilung noch nicht zu finden. Dort ist sowohl das Auto ein zentrales Medium der Veränderung wie auch die Straße bzw. Autobahnen. Siehe bspw. zur Straße als Medium: McLuhan, Magische Kanäle, S. 141ff., zum Medium Auto: ebd., S. 332ff. Dort findet sich sogar eine Formulierung, die Fahrt mit einem Hochgeschwindigkeitszug nicht nur eine bestimmte Infrastruktur voraus (Schienen, Fahrpläne, Stromkabel, Geschwindigkeits‐ kontrolle, Signalsystem), sondern diese transformiert die Landschaft. Zum einen geschieht dies materiell durch die Eingriffe in die Landschaft, um überhaupt ein Schienennetz herstellen zu können. Zum anderen wird die Wahrnehmbarkeit der Landschaft verändert. Die Landschaft ‚fliegt‘ nun‐ mehr im Hochgeschwindigkeitszug rasch an den Passgieren vorbei und ist damit phänomenologisch eine andere als die, die man wahrnimmt, wenn sie zu Fuß oder mit dem Fahrrad durchquert wird. 854 Drittens macht McLuhan nach der Wende Mitte der 1960er Jahre, als er beginnt Medien als Umwelten zu charakterisieren, insbesondere in einigen Texten, Vorträgen, Interviews und Briefen der 1970er Jahre am Bespiel des Autos ungewöhnlich deutlich, was er gerade nicht unter einem Medium verstanden wissen will und was stattdessen das Medium sein soll. So formuliert er in einem 1974 gehaltenen Vortrag sehr klar: When I say the medium is the message, I’m saying that the motor car is not a medium. The medium is the highway, the factories, and the oil companies. […] The car does not operate as the medium, but rather as one of the major effects of the medium. So ‚the medium is the message‘ is not a simple remark […]. It really means a hidden environment of services created by an innovation, and the hidden environment of services is the thing that changes people. It is the environment that changes people, not the technology. 855 Also gerade nicht das technische Objekt Automobil ist das Medium, sondern das, was das Automobil (und uns darin) umgibt, seine Fahrtüchtigkeit ermöglicht und aufrechterhält, nämlich Autobahnen, die Fertigungsanlagen der Automobilindustrie, Erdölunternehmen mit ihren Raffinerien. 856 Heute 4.3 McLuhan und die Forschung 315 <?page no="316"?> in der McLuhan die Umgestaltung der Straßen strikt kausal auf die Einführung des Mediums Auto zurückführt (siehe ebd., S. 338). Zur Wechselwirkung des Mediums Auto und dem Medium Straße siehe bspw. McLuhan, Report, S. 15. Zu einer etwas anderen Deutung des angeführten Zitats siehe → 2. Lesart: Hermeneutik, 3. These. könnte man im Sinne McLuhans bspw. auch ein GPS-Koordinationssystem zur Steuerung von Automobilen und Ampelanalgen via Satelliten den Elementen solch einer Infrastrukturierung hinzufügen (vgl. Abb. 35). Abb. 35: (Media-)Life is a Highway: Infrastruktur des Automobils Besonders klar wird die Verbindung solch eines ‚hidden environment‘ zum Konzept von Infrastrukturen in der angeführten Passage mittels des Zu‐ satzes ‚service‘. Die Umwelt besteht aus Medientechnologien, die durch ihre Funktion als Dienstleistungen näher charakterisiert werden. Genau in solchen Dienstleitungen liegt ja zuvorderst die Funktion von Infrastruk‐ turen: Sie sollen eine bestimmte Form des Autoverkehrs über Zeit und Raum hinweg garantieren, Zugverbindungen sichern, möglichst ungestörte Smartphone-Nutzung ermöglichen und aufrechterhalten. Die jeweiligen Formen solcher Infrastrukturierungen, die spezifischen funktionalen Verknüpfungen unterschiedlicher Elemente und die arbeitsin‐ tensive Aufrechterhaltung dieser Verbindungen gilt es aus Perspektive der Forschung zur Infrastruktur nachzuzeichnen. Das, mit McLuhan formuliert, ‚hidden environment‘ soll so wahrnehmbar gemacht werden und damit das, was die eigentliche Botschaft des Mediums ausmacht. 316 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="317"?> 857 McLuhan, Medium ist Massage, S.-84. 858 Siehe: Marshall McLuhan, Counter-Blast, London 1970, S.-22 859 McLuhan, Medium ist Massage, S.-68. 860 Ebd., S.-86 Medienökologie des Entzugs und Verschleierns McLuhans Formulierung ‚hidden environment‘ bedeutet nicht, dass es ver‐ borgene Umwelten gibt und solche, die nicht verborgen sind. Nach McLuhan ist prinzipiell jede Umwelt verborgen, zumindest für diejenigen, die von ihr umgeben werden. ‚Hidden environment‘ ist somit ein Pleonasmus. An anderer Stelle formuliert McLuhan demensprechend knapper und klarer axiomatisch: „Umwelten sind unsichtbar.“ 857 Auf die Frage, wie stark oder unerbittlich und wodurch Umwelten unsichtbar bzw. verborgen sind, ver‐ bleiben müssen und was genau daran, antwortet McLuhan in diversen Zu‐ sammenhängen recht Unterschiedliches. Einmal behauptet er, die Umwelt sei subliminal, 858 also konstitutiv jenseits menschlicher Wahrnehmbarkeit. An anderer Stelle ist zu lesen, die Umwelt entzieht sich „oberflächliche[r] Wahrnehmung“, 859 könnte also bei genauerer, intensiverer Wahrnehmung durchaus sichtbar werden. Wieder in einem anderen Kontext formuliert McLuhan, dass sich die jeweilige Umwelt nicht primär in den offensichtli‐ chen, direkt sichtbaren Effekten manifestiert (die Geschwindigkeit eines Autos etwa), sondern indirekter, vermittelter und/ oder anderswo ihre ent‐ scheidenden Kräfte formiert (etwa in der Autofertigung oder der Ölindust‐ rie), die nicht ohne Weiteres und schon gar nicht direkt zu beobachten sind, während man sich in einem Auto auf der Autobahn befindet. An anderer Stelle heißt es, dass das Neue einer neuen Umwelt eine strategische Verber‐ gung erfährt, indem ihr „die Formen des Alten“ 860 regelrecht aufgezwungen werden. Umwelten sind also im ersten Fall gar nicht, im zweiten Fall schwer, im dritten Fall indirekt beobachtbar; im letzten Fall wiederum geht es darum, dass ihre Operationslogik aktiv verborgen wird. Ebenso bleibt unklar, welche Art von Umwelt jeweils verborgen bleibt oder gemacht wird. Handelt es sich um die konkreten materiellen Bedingungen vor Ort, weit ausgreifende me‐ dientechnologischen Konfigurationen, die institutionellen Voraussetzungen oder die konventionalisierten Arbeitsprozesse zur Aufrechterhaltung einer Infrastruktur? Mit der Unschärfe, was es genau bedeuten soll, dass und welche Art von Umwelten unsichtbar sind, eröffnen sich jedenfalls unterschiedliche Deutungs- und Nutzbarkeitsoptionen der Medienökologie McLuhans. Eine 4.3 McLuhan und die Forschung 317 <?page no="318"?> 861 Schabacher verortet genau hier denn auch den Beginn der Forschung zur Infrastruktur im engeren Sinne. Die Erforschung der Infrastruktur wurde, folgt man der Medienwis‐ senschaftlerin, lange marginal behandelt und nicht unter dem Stichwort ‚Infrastruktur‘ diskutiert. „Dies ändert sich vor dem Hintergrund der Digitalisierung, so dass der Zusammenhang von Medien und Infrastrukturen zu Beginn des 21. Jahrhunderts medientheoretisch wie gesellschaftlich expliziter formuliert wird, was sich etwa in der Rede von Plattformen, Netzwerken und Ökologien bestätigt.“ (Schabacher, Infrastruk‐ tur-Arbeit, S. 8) McLuhans Vorstellung von einem Zeitalter der Elektrizität, in dem wir von Elektrizität wie von einer Haut umgeben sein sollen (siehe McLuhan, Magische Kanäle, S. 83), die sich nicht direkt sichtbar über den ganzen Erdball erstreckt und uns vernetzt, scheint für diese Umbesetzung von der einzelnen Medientechnologie zur Infrastruktur genealogisch tatsächlich ein äußert passender Kandidat zu sein. 862 Siehe dazu anschaulich, mit vielen recht niederschmetternden oder doch zumindest erstaunlichen Zahlen und Fakten ausgestattet: Kate Crawford, Atlas of AI. Power, Po‐ litics, and the Planetary Costs of Artifical Intelligence, New Haven/ London 2021, S. 23ff. Fairerweise muss hinzugefügt werden, dass Google inzwischen Wirkungsanalysen zu ihren Rechenzentren veröffentlicht und zudem das recht ambitionierte Ziel verfolgt, bis 2030 ‚alle Netze‘ ausschließlich mit erneuerbaren Energien zu betreiben (siehe: https: / / www.google.com/ intl/ de/ about/ datacenters/ [12.09.24]. Wiederum kritisch zu solchen Ambitionen und (kalkuliert selektiven) Veröffentlichungen: Crawford, Atlas of AI, S.-41f. der Optionen wurde bereits mit dem Verweis auf die Untersuchung und dem Nachzeichnen von Infrastrukturen vorgestellt, die indirekt beobachtbar sind, indem die Aufmerksamkeit anderswohin als auf die Monitore, Lein‐ wände oder Buchseiten als Schnittstelle zwischen Medienartefakten und Menschen gelenkt wird. Solch ein Ansatz scheint vor dem Hintergrund der sogenannten Digitalisierung und damit der Durchdringung nahezu aller gesellschaftlicher Bereiche durch computergesteuerte Medientechnologien besonders naheliegend und attraktiv. 861 Das ist vor allem deshalb so, weil die digitalen Daten bspw. via Wi-Fi unsichtbar, wie von Geisterhand, nahezu immateriell den Raum durchqueren und uns miteinander durch die großen sozialen Plattformen ohne größeren Aufwand oder unmittelbar exorbitanten Kosten nahezu überallhin zu verbinden scheinen. Der immense Einsatz von Energie und materiellen Ressourcen, 862 Dienstleistungen, Dis‐ tributionstechnologien, algorithmisch gesteuerten Selektionsmechanismen zur Aufrechterhaltung und Organisation dieses omnipräsent anmutenden und äußerst mobilen ‚Netzes‘ sind während der Nutzung eines schmalen Smartphones noch sehr viel weniger direkt beobachtbar, opaker, komplexer, scheinbar immaterieller und vollziehen sich definitiv noch weiter unterhalb unserer Beobachtungsschwelle und Zugriffmöglichkeiten als im Fall von Hochgeschwindigkeitszügen, Autobahnen oder auch den infrastrukturellen 318 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="319"?> 863 Folgt man Matthew Fuller und Andrew Goeffey, sind im Zusammenhang digitaler Da‐ tenoperationen die sogenannten „‚gray media‘“ (Matthew Fuller und Andrew Goeffey, Evil Media, Cambridge [Mass.]/ London 2012, S.-1) besonders interessant. Sie stammen aus der „world of work, adminstration, affecting the habits of goverment, buisness, and culture, yet rarely recognized or explored at media in their own right“ (ebd.). Zu denken ist hierbei etwa an „database, group-work software, project-planning methods, media forms, and technologies that are operative far from the more visible churn of messages about consumers, empowerment, or the questionable wisdom of the information economy“ (ebd.). ‚Grau‘ sind diese Medien, weil sie erstens unscheinbar sind, vermeintlich banal, zweitens im Hintergrund operieren und drittens erst in ihrer Vernetzung und ‚verwaschenden‘ Vermischung Effekte erzielen. ‚Graue Medien‘ bilden im Sinne McLuhans ein ‚hidden environment‘ und als solches eine „media ecology“ (ebd., S. 3), wie Fuller und Goeffey schreiben. Diese Medienökologie soll mit großer Prägekraft und negativen Folgen für ihre Nutzer: innen ausgestattet sein, werden doch dadurch „opaque zones of nonknowledge“ (ebd., 3) erzeugt oder gleich ein „Optimize[d] Stupidity Flow“ (ebd., S. 166). Bei der Grundlegung ihres Konzeptes grauer, böser Medien vergessen Fuller und Goeffry nicht auf McLuhan gleich zu Beginn als wichtige Referenz hinzuweisen (vgl. ebd., S. 1). Zu Fullers und Goeffeys Konzept im Kontext der Medienökologie vgl. auch knapp: Rothe, Medienökologie, S.-52, 56. 864 Siehe dazu: Jennifer Holt/ Patrick Vonderau, ‚Where the Internet Lives‘. Data Centers as Cloud Infrastructure, in: Lisa Parks/ Nicole Starosielski (Hg.), Signal Traffic: Critical Studies of Media Infrastructures, Champaign 2015, S.-71-93, v.a.: S.-72ff. Faktoren, die die Ausstrahlung einer Fernsehsendung auf einem Katho‐ denstrahlröhrenbildschirm ermöglichten und steuerten. 863 Diese Verständnis unsichtbarer Umwelten lässt sich mit der von McLuhan ebenfalls benannten strategischen Verbergung infrastruktureller Bedingun‐ gen und Konsequenzen wunderbar verbinden. Werbungen von Behörden oder Unternehmen, die Infrastrukturen aufbauen und zur Verfügung stellen (etwa die Deutsche Bahn, die Post, Technologieunternehmen wie Google) oder auch die architektonische Gestaltung bspw. von Rechenzentren offerie‐ ren dafür interessante Beispiele. Sie verbergen nämlich meist nicht einfach ihre Infrastrukturen, sondern machen diese in einer Weise sichtbar, die andere Aspekte strategisch abschatten. Einige solcher Fälle sollen deshalb kurz angeführt werden. Das erste Beispiel stammt aus einer Werbekampagne, die Google 2012 unter der Überschrift „Transparency“ lancierte, und mit Appellen wie „come inside“ oder „see where the Internet lives“ bewarb. 864 Wir bekommen dort das Innere eines in Douglas County Georgia situierten Rechenzentrums zu sehen (vgl. Abb. 36a). Es handelt es sich um einen hell erleuchteten Raum, den bunte Röhren durchziehen, durch die Wasser zur Kühlung der Rechenanlage geleitet wird. Rechts im Vordergrund ist ein Fahrrad platziert, 4.3 McLuhan und die Forschung 319 <?page no="320"?> 865 Siehe dazu: https: / / www.cnet.com/ pictures/ googles-new-campus-gbike/ #google_vign ette [25.08.24]. 866 Holt/ Patrick Vonderau, Where the Internet Lives, S.-74. 867 McLuhan, Medium ist Massage, S.-84. das sogenannte G-bike. 865 Dieses einfach gehaltene Vehikel wurde extra konzipiert für Google-Rechenanalagen - ebenfalls sehr bunt gestaltet in den Logo-Farben der Firma, rot, grün und blau -, um damit in dem weiten Rechenzentrum schnell von a nach b zu gelangen. Abb. 36a-c: „Where the Internet lives“: Diverse Google-Werbekampagnen Farben und Röhren wirken pittoresk, ja, wie ein Abenteuerspielplatz für Kinder. Die versprochene ‚Transparenz‘ des ‚Internets‘ wird hier gerade nicht eingelöst, auch wenn es im Rechenzentrum in Douglas County so aussehen mag, sondern eher verschattet. Jennifer Holt und Patrik Vonderau schreiben zu Recht bezüglich dieser Google-Werbekampagne: „Google’s […] images gesture toward the notion of transparency, all while working to conceal or obscure less picturesque dimensions of cloud infrastructure. We learn nothing, in Google’s case, about its mechanical, electronic, or technical infrastructure design, energy use, or network infrastructure; in fact, Google is notoriously secretive about the technical details of its servers and network capabilities in the interest of security as well as competitive strategy.“ 866 Aus McLuhans Blickwinkel lässt sich formulieren: Die eigentliche mediale Umwelt (‚Infrastruktur‘) wird verborgen - und zwar unter Rückgriff auf „Formen des Alten“. 867 McLuhan meint damit, dass neue Umwelten immer wieder repräsentiert werden in Formen, die alten bzw. antiquierten media‐ len Umwelten entstammen. Veranschaulicht wird das in D A S M E DIUM I S T DI E M A S S AG E . Dort sind auf einer Doppelseite Bauten, die antike Formen aufweisen, abgebildet. Der untere Teil des Bildes ist abgeschnitten und beschriftet mit „UM“ (vgl. Abb. 37a). Beim Weiterblättern findet sich die Abbildung noch einmal; diesmal auch der untere Teil des Fotos mitsamt 320 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="321"?> 868 Ebd. 869 Siehe: McLuhan, Magische Kanäle, S.-275ff. der Beschriftung „WELT“ (vgl. Abb. 37b). Dabei offenbart sich, dass die vermeintlich antiken Gebäude Teile der 1801 in Betrieb genommenen Fairmont Wasserwerke in Pennsylvania sind. Darunter ist zu lesen: „Wir zwingen den Inhalt des Neuen die Formen des Alten auf.“ 868 Demonstriert wird an diesem Text-Bild-Arrangement McLuhans These, dass das, was das Neue einer neuen Umwelt ist (etwa die Infrastruktur eines Wasserwerkes), durch alte Formen repräsentiert wird (etwa durch die Ausstaffierung eines Wasserwerkes mittels antiker Architektur), die genau das, was das Neue der neuen Umwelt auszeichnet, abblenden. Die gegenwärtige mediale ‚WELT‘ wird durch eine antiquierte Form ‚UM‘hüllt. Abb. 37a-b: ‚Neuer Wein in alten Schläuchen‘: Die antike Tarnung eines Wasserkraftwerkes Dieser Umhüllungs-Gedanke lässt sich leicht auf die Fotografie des Goo‐ gle-Rechenzentrums beziehen. Auch wenn es dort nicht um antike Archi‐ tekturformen gehen mag, so sind doch zum einen durch die bunten Röhren eine ‚kindliche‘ Umwelt konnotiert. Zum anderen wird durch die Platzierung eines Fahrrades ein altes, mechanisches Medium im Sinne McLuhans 869 als Inhalt einer neuen medialen Umwelt verwendet - und eben so das Neue abgeschattet. Solche Abschattungsstrategien sind auch in anderen Werbekampanien von zu Google finden, bspw. in einer Kampagne aus dem Jahr 2019. In einer Reihe von Werbeplakaten wird hier die Google Cloud beworben. In einem Fall ist die Grafik der Stadt Helsinki zu sehen (vgl. Abb. 36b), mit einigen 4.3 McLuhan und die Forschung 321 <?page no="322"?> 870 Über Google-Rechenzentren: https: / / www.google.com/ about/ datacenters/ [21.08.24] 871 https: / / www.google.com/ intl/ de/ about/ datacenters/ gallery/ #eemshaven-wind-turbine s [25.08.24]. 872 Siehe dazu: Holt/ Vonderau, Where the Internet Lives, S.-76. 873 McLuhan, Understanding Media. Second Edition, S.-18. Wahrzeichen dieser Stadt ausstaffiert sowie mit Menschen auf Kajaks. Bunte Fahrräder dürfen ebenfalls nicht fehlen (rechts hinten neben dem Rathaus). Wolken sind auszumachen, inklusiver solcher, die gerade durch einen Krahn installiert werden. Diese Szenerie wirkt ähnlich wie beim ersten Beispiel kindlich-naiv. Natürliche Wolken und die technisch-installierten Clouds werden visuell auf derselben Ebene dargestellt. Die Szenerie ist mit ‚alten‘ Medien wie Fahrrädern und Kajaks ausstaffiert. Auch hier gilt im Sinne McLuhans: Neue Umwelten werden mit alten Formen dargestellt und insofern ihre tatsächliche Funktionsweise abgeblendet. Das letzte Beispiel, das ich in diesem Zusammenhang anführen möchte, findet sich auf der Google-Website über ‚unsere‘ Rechenzentren (vgl. Abb. 36c). 870 Dort ist unter anderem ein Bild zum Download eingestellt, das folgendermaßen beschrieben wird: „Windturbinen drehen sich in der Nähe unseres niederländischen Rechenzentrums in Eemshaven.“ 871 Auf diesem Bild sind keine Fahrräder oder Kajaks zu finden. Dafür ist indes auffällig, wie stark das Rechenzentrum in die natürliche Umwelt einfügt wirkt. Ja, die Infrastruktur des Rechenzentrums wird regelrecht als Teil der natürlichen Umwelt getarnt - insofern buchstäblich naturalisiert. 872 Auch für dieses Beispiel sind McLuhans Beschreibungen zum Verhältnis von alten Formen und neuen Umwelten instruktiv. So schreibt McLuhan etwa: „When machine production was new, it gradually created an environ‐ ment whose content was the old environment a of agrarian life […]. This older environment was elevated of an art form by the new mechanical environment.“ 873 Das lässt sich nahezu unmittelbar auf die Fotografie des Google-Rechenzentrums beziehen: Nicht nur wird hier das Rechenzentrum in einer natürlichen Umwelt getarnt. Darüber hinaus ließe sich argumentie‐ ren, dass die Wertschätzung der ‚Natur‘ überhaupt erst aufkommt, wenn neue Medientechnologien diese transformieren. Zugespitzt formuliert: Die digitale Infrastruktur bringt die Wertschätzung natürlicher Umwelt hervor oder treibt zumindest ihre Wertschätzung weiter mittels eines nostalgischen Blicks zurück auf die vermeintlich unberührte Natur. Im zweiten Schritt wird dann die digitale Infrastruktur selbst als Teil dieser vermeintlich unberührten Natur vorgestellt oder sogar mit der Suggestion ausgestattet, 322 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="323"?> 874 Ebd., S.-19 875 Ebd. Siehe auch: Marshall McLuhan, The Relation of Environment to Anti-Environ‐ ment, in: Floyd W. Matson (Hg.), The Human Dialogue: Perspectives on Communica‐ tion, New York 1968, S.-39-47. 876 Siehe dazu und zur Tradition, auf die sich dabei McLuhan bezieht, ausführlicher: Kenneth R. Allan, Marshall McLuhan and the Counterenvironment: ‚The Medium Is the Massage‘, in: Art Journal 73 (2014), S.-22-45, v.a.: S.-23ff. 877 Siehe ausführlicher dazu → 2. Lesart: Hermeneutik, These 3. eine Rückkehr dorthin zu erlauben (etwa mittels der Verwendung natürli‐ cher Energie wie Wind durch Windkraftanlagen und die architektonische Einbettung in diese Natur). Kunst als Medienökologie der Gegenumwelten Konfrontiert mit dem Problem, dass Umwelten nicht wahrnehmbar sind bzw. ihre zentralen Eigenschaften strategisch abgeblendet werden, rekur‐ riert McLuhan immer wieder auf die Kunst. Diese, so die optimistische These McLuhans, hat die Möglichkeit und Funktion, Umwelten doch wahr‐ nehmbar zu machen. Kunst soll so das schiere Gegenteil von Werbung sein, nicht abschatten, sondern aufdecken, wahrnehmbar machen, was sonst ausgeblendet ist. Um dies zu erreichen, kreiert Kunst, insbesondere moderne Kunst, etwas, was McLuhan seit 1964 „counter-environments“ 874 oder auch „anti-environments“ 875 nennt, also Konter-, Anti- oder Gegenum‐ welten. 876 Wie genau diese künstlerischen Gegenumwelten beschaffen sein müssen, damit sie Umwelten wahrnehmbar machen und was genau daran wahrnehmbar gemacht wird, dafür lassen sich im Anschluss an McLuhan mindestens sechs unterschiedliche künstlerische Strategien unterscheiden, die in der Folge jeweils an Beispielen veranschaulicht werden: (1) Gegenumwelten, die ihre eigene materielle Umwelten wahrnehmbar machen Anknüpfend an das Form/ Grund-Konzept der Gestalttheorie behauptet McLuhan, dass das Medium, wie der Grund, nicht wahrnehmbar ist, nur die Formen sind es, die wiederum den Blick auf das Medium/ den Grund verstellen. 877 Dies verbindet der Medientheoretiker mit der Vorstellung, dass Medien Umwelten sind, die als solche wie der Grund, der Formen wahrnehmbar macht, aber selbst abgeschattet bleibt, nicht wahrnehmbar sind. Kunst, so McLuhan weiter, macht aber diesen Grund und damit auch die 4.3 McLuhan und die Forschung 323 <?page no="324"?> 878 Siehe → 2. Lesart: Hermeneutik, These 3. 879 Noch Peter Sloterdijk wird in seiner Sphärologie die Operationsweise moderner Kunst genau in diesem Vokabular fassen (ohne dabei jedoch eigens auf McLuhan einzugehen). So schreibt er etwa: „Wie jeder Terrorismus greift auch der ästhetische den unmarkierten Hintergrund an, vor dem sich Kunstwerke artikulieren und bringt ihn auf die Vorder‐ bühne als eigenwertiges Phänomen zur Erscheinung“ (Sloterdijk, Sphärologie. Bd. III, S. 164; Hervorhebungen von mir [SG]). Oder auch: „[V]ielmehr wird [im modernen Kunstwerk] der Hintergrund als solcher mit Sorgfalt ausgeführt und so als Figur des Figurentragenden explizit gemacht.“ (Ebd., S.-166; Hervorhebung von mir [SG]) 880 Im Fall von D A S M E D I U M I S T D I E M A S S A G E ist das bspw. Quentin Fiore, im Fall von C O U N T E R -B L A S T Harley Parker. eigene Umwelt wahrnehmbar - und zwar durch die Umkehrung der Form/ Grund-Relation oder genauer: durch ein irritierendes In-Bewegung-setzen dieser Relation. Wie das genau funktioniert, wurde ausführlicher anhand von Beispielen des Kubismus und des Pointilismus an anderer Stelle ge‐ zeigt. 878 Jedenfalls geht es dabei darum, das Wechselspiel zwischen Fläche und Tiefe, zwischen Bildträger und Bildinhalt, (Mosaik-)Pigmenten und Gestalt und damit zwischen Form und Grund in Szene zu setzen, um so indirekt wahrnehmbar zu machen, was die Materialität des Mediums bzw. die materielle Umwelt eines Kunstwerkes ist und ausmacht. Einfacher formuliert: Moderne Kunst zeichnet sich durch Reflexion der eigenen materiellen Bedingungen aus. Genau deshalb ist es der Ort, der seine Rezpient: innen durch die Verfremdung und Auflösung der Inhalte und Motive eines Kunstwerkes auf die Umwelt des Kunstwerkes (die Farbe, die Formen, die Leinwand) aufmerksam macht. Das Kunstwerk wird so in seinen Formen zu seiner eigenen Gegenumwelt, um Wahrnehmungsschemata zu unterwandern, zu stören und demensprechend auf die (eigene) materielle Umwelt zu verweisen. 879 McLuhan versuchte sich in einigen seinen Veröffentlichungen selbst an solchen Figur-Grund-Inversions-Operationen (oder zumindest ließ er die jeweils zuständige Grafiker das versuchen 880 ). In D A S M E DIUM I S T DI E M A S S AG E ist bspw. eine (fast) leere Seite abgebildet (vgl. Abb. 38a). In kleiner Schrift ist am oberen Rand zu lesen: „Umwelten sind unsichtbar.“ Es wird hier also auf die materielle Bedingung, den Grund, die Umwelt von Büchern verwiesen, nämlich die Existenz von Papierseiten, auf denen überhaupt erst Buchstaben gedruckt werden können. Deutlich wird aber erst durch die kleinen Lettern am oberen Rand („Umwelten sind unsichtbar“), dass es sich dabei um eine Darstellung der materiellen Bedingungen gedruckter Worte handeln soll (und nicht etwa einfach um einen Fehler). Die leere 324 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="325"?> Seite erhält ihre Signifikanz als Umwelt also zum einen erst durch die Form und Semantik der Schrift. Zum anderen wird die Doppelseite vom Grund sofort zur Form, wenn ich meine Wahrnehmung ihr zuwende. Der Grund, das ist eine Kernthese der Gestalttheorie, kann niemals direkt wahrnehmbar gemacht werden, genauso wenig die mediale Umwelt, die zur Form wird (innerhalb einer weiteren Umwelt), wenn ich mich darauf konzentriere. In solch einem Fall gibt es den Ausweg einer Störung bzw. eine irritierende Oszillationsbewegung zwischen Form und Grund, Inhalt und Umwelt in Szene zu setzen, um die Umwelt indirekt wahrnehmbar zu machen. Und genau dies passiert hier. Erwartungen werden unterwandert, Wahrnehmungskonventionen verfremdet. Eine Buchseite ist normalerweise voller Buchstaben, was hier gerade nicht der Fall ist, und gleichzeitig werden Buchstaben eingesetzt, um auf diesen Umstand hinzuweisen. Abb. 38a-b: Um- und Gegenwelten in McLuhans Büchern Ein ähnliches Beispiel findet sich in McLuhans Veröffentlichung C O UN ‐ T E R -B LA S T aus dem Jahr 1970. Hier ist die Schrift nicht klein am oberen Rand der Doppelseite zu finden, sondern genau umgekehrt groß über die gesamte Doppelseite geschrieben. „THE HIDDEN ENVIROMENT“ ist dort zu lesen (vgl. Abb. 38b). Wir sehen das hidden environment als solches nur aufgrund der Bezeichnung ‚HIDDEN ENVIROMENT‘. Einmal mehr wird die materielle Bedingung von gedruckten Texten - durch seine Formen - vermittelt und so indirekt sichtbar gemacht. Und auch hier gilt: Das Buch wird in seinen Formen zur eigenen Gegenumwelt, um die Umwelt der gedruckten Worte indirekt wahrnehmbar zu machen. 4.3 McLuhan und die Forschung 325 <?page no="326"?> 881 Siehe zum Zusammenhang von McLuhans Gegenumwelten und künstlerischer Insti‐ tutionskritik: Allan, Marshall McLuhan, S.-23, 34ff. 882 Zumindest wenn man den Ausführungen von Kenneth R. Allan dazu folgen will. Er schreibt: „[…] Conceptual art ‚differs from earlier forms of art in the sense that it does not interpret, nor change, nor add a new object to the environment, but only isolates and draws attention to existing phenomena‘.“ (Ebd., S.-34) 883 Allan schreibt demgemäß: „For the public, slide sheets were an invisible com-ponent of art-world environmental information, one with which the public was not invited to engage. The graphically strong design of this unusual Art in America cover directed public attention to a fragment of the extensive but largely hidden apparatus that supports the art world’s functioning and its presentation of art. In doing so, the cover project operated as an art-world counterenvironment.“ (Ebd.) Auch hier besteht freilich das Paradox, dass in den Formen des Kunstwerkes der Grund sichtbar wird, der dann selbst wieder Form vor einem (anderen, nicht wahrzunehmenden) Grund sein muss. (2) Gegenumwelten, die ihre institutionelle Umwelt wahrnehmbar machen In den 1960er Jahren, in denen McLuhan das Konzept der Gegenumwelten ausbuchstabierte, etablierte sich eine Kunstrichtung, die als Conceptual Art bekannt wurde. 881 Insbesondere die institutionellen Bedingungen (‚der Grund‘) von Kunstwerken wird dabei in den Kunstwerken selbst (‚den Formen‘) Gegenstand und so wahrnehmbar. 882 Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet die Gestaltung eines Magazincovers für A R T IN A M E R ICA (vgl. Abb. 39a). Für die Ausgabe Mai/ Juni 1969 würde ein ganz besonderes Arrangement gewählt: in Plastik verpackte Dias von Fotografien des Künst‐ lerkollektivs N.E. Thing Co. Es war zu dieser Zeit gängige Praxis, dass solche Reproduktionen von Kunstwerken an Kurator: innen, Galerist: innen oder Magazine verschickt wurden, um diesen Kunstwerke zur Ausstellung oder zum Abdruck in Magazinen anzubieten. Für die Öffentlichkeit war diese Praxis der Kunstwelt weitestgehend unbekannt und unbemerkt; diese bekam (wenn überhaupt) nur die Kunstwerke selbst präsentiert. Durch das In-Szene-setzen und das Arrangement der Dias auf dem Cover des Kunstmagazins wird nunmehr diese Hintergrunddistributions- und -kom‐ munikationspraxis institutioneller Akteure des Systems Kunst öffentlich präsentiert. Das Kunstwerk wird zur Gegenumwelt durch das Auf- und Ausgreifen auf eine normalerweise für die Öffentlichkeit nicht wahrnehm‐ bare institutionelle Umwelt des Kunstwerkes im Kunstwerk selbst . 883 326 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="327"?> 884 Siehe: Allan Kaprow, Assemblage, Environments & Happenings, New York 1966; Richard Schechner, Extensions in Time and Space. An Interview with Allan Kaprow, in: The Drama Review 12 (1968), S. 153-159. Siehe historisch kontextualisierend: Sprenger, Epistemologien des Umgebens, S.-288f. 885 Bspw. in: Schechner, Extensions, S. 156f. Kaprow taucht auch in dem Film T H I S I S M A R ‐ S H A L L M C L U H A N auf, um einige von McLuhans Ideen zu erklären und einzuschätzen. Siehe → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „McLuhan und die Massenmedien“. Abb. 39a-b: Ausweitungen der Kunstwerke in ihre Umwelten (3) Gegenumwelten, die sich in Umwelten ausdehnen In den 1950er und 1960er Jahren werden viele Kunstprojekte lanciert, die sich explizit als environments ausweisen. Als ein maßgeblicher Vertreter dieser environmental art lässt sich auf Allan Kaprow verweisen, der im Verlauf seiner Karriere den Begriff ‚Environment‘ für einige seiner Werke verwendete, zudem in Texten und Interviews reflektierte. 884 Interessant in diesem Zusammenhang ist nicht so sehr, dass sich Kaprow (wie viele andere Künstler: innen auch) Ende der 1960er Jahre explizit auf Ideen McLuhans bezog. 885 Spannender ist, was Kaprow in und mit seiner environmental art tat. Denn mit dem Nachvollzug dieser künstlerischen Praxis lässt sich eine weitere Variante und Konkretisierung aufzeigen, was Gegenumwelten im Sinne McLuhans sein könnten. Kaprow erweitert mit seiner environmental art das Bild in den Raum. Es geht darum, die Ausstellungsräume nicht mehr 4.3 McLuhan und die Forschung 327 <?page no="328"?> 886 Siehe dazu Kaprow selbst: Allan Kaprow, 7 Installations, Mailand/ Neapel 1991, S. 113f. Dort verweist Kaprow auch darauf, dass Y A R D immer wieder neu (je nach den vorzufindenden Umgebungen) installiert wurde: „Since 1961, the work […] has been remade seven or eight times in Europe and America; and on each occasion it was changed, more or less greatly, to fit the particular spaces and contexts.“ (Ebd., S.-113) 887 Siehe → 2. Lesart: Hermeneutik, These 3. nur als Behälter zu benutzen, in denen Kunstwerke aufgestellt oder aufhängt werden, sondern die Räume selbst zu Bestandteilen des Kunstwerkes zu machen. Eines von Kaprows bekanntesten Installationen ist Y A R D aus dem Jahr 1961 (vgl. Abb. 39b). 886 Im Hinterhof der Martha Jackson Gallery wurden dabei Autoreifen und einige Metallgegenstände verteilt. Die Besucher: innen mussten den Hinterhof auf und durch diese Autoreifen wie in einem Hin‐ dernispark durchqueren. Erstens wird dadurch die Umwelt der Kunstwerke in den Hinterhof einer Galerie ausgeweitet. Zweitens ist so die räumliche Umwelt des Kunstwerkes selbst integraler Bestandteil des Kunstwerkes. Das Publikum steht dem Kunstwerk nicht mehr gegenüber, sondern wird von diesem umgeben. Oder präziser formuliert: Das, was Kunstwerk ist und das, was seine Umwelt, wird unscharf, verunklart, weil sich das Kunstwerk in ‚andere Räume‘ und über das Publikum hinweg ausbreitet. Dies lässt sich auch als Befragung der medialen Beschaffenheit und Situiertheit von Kunstwerken im Sinne McLuhans deuten: Was ist Form und was Grund, was Umwelt und was Objekt? Damit ist die oben angeführte permanente Oszillation, die im Kubismus bildintern verhandelt wird, 887 aufgegriffen und in den Raum ausgeweitet. Durch diese irritierende Ausweitung in die Umwelt fungiert das Kunstwerk als Gegenumwelt, in der sich die Besucher: innen selbst befinden. Demensprechend ist ihre Rezeption von Kunstwerken und deren Umwelt in und durch die Installation verfremdet, irritiert, verschoben. Während man sich durch und auf Autoreifen einen Weg durch das Kunstwerk zu bahnen versucht, wird die Grenze dessen, was Werk und was seine Umwelt ist, buchstäblich elastisch. (4) Gegenumwelten, die in Umwelten intervenieren Weder um Ausweitung noch primär um Reflexion der eigenen medialen Bedingungen geht es in der vierten Deutungsvariante dessen, wie Kunst‐ werke als Gegenumwelten operieren. Hierbei wird ein Kunstwerk (eine Skulptur etwa) in eine vorhandene Umwelt (eine Straßenschlucht bspw.) ge‐ 328 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="329"?> 888 Siehe dazu: Allan, Marshall McLuhan, S.-44. 889 Richard Serra, from The Yale Lecture [1990], in: Charles Harrison/ Paul Wood (Hg.), Art in Theory 1900-2000. An Anthology of Changing Ideas, Oxford/ Malden (Mass.) 1999, S.-1124-1127, hier: S.-1125ff. (Hervorhebung von mir [SG]). stellt. Das Kunstwerk soll in Spannung bzw. Widerspruch zur vorhandenen Umweltgegebenheiten gebracht werden, um so diese durch Verfremdung wahrnehmbar zu machen. Ein berühmter Künstler, der solch eine Strategie programmatisch verfolgte und auch explizit als Erstellung von Gegenum‐ welten bezeichnete, ist Richard Serra. 888 In seinen Y AL E L E CTU R E S formuliert Serra (auch und gerade in Abgrenzung zu Verfahren medialer Selbstreflexion moderner Kunstwerke und mit Ver‐ weis auf die Spezifik der Umwelt, zu der sich das Kunstwerk in Widerspruch bringen soll): Site-specific works deal with the environmental components of given places. […] Unlike Modernist works that give the illusion of being autonomous from their surroundings, and which function critically only in relation of their own medium, site-specific works emphasize the comparison between two separate languages that can therefore use the language of one to criticize the language of the other. […] I am not interested in art as affirmation or in art as manifestation of complicity. I think that if sculpture has any potential at all, it has the potential to work in contradiction to the places and spaces where it is created. I am interested in work where the artist is a maker of ‚anti-environment‘. 889 Ein Beispiel für dieses Verfahren ist eine Skulptur, die 1981 unter dem Titel T ILT E D A R C auf dem Foley Federal Plaza in Manhattan aufgestellt wurde (vgl. Abb. 40). 4.3 McLuhan und die Forschung 329 <?page no="330"?> 890 Siehe dazu: Phillip Barcio, Why Was Serra’s Tilted Arc So Controversial? [31.05.19], in: IDEELART. the online gallerist for contemporary art, Online zugänglich unter: htt ps: / / www.ideelart.com/ magazine/ why-was-richard-serra-s-tilted-arc-so-controversial [08.09.24]. Abb. 40: Dunkle Gegenumwelt in Manhattan der 1980er Jahre Der ‚gekippte Bogen‘ ist mitten auf dem Platz zwischen zwei Häusern angebracht worden und teilte diesen, bis er 1989 aufgrund eines richterli‐ chen Urteils wieder abgebaut wurde. 890 Um die Plaza zu überqueren, musste man jedenfalls knapp eine Dekade lang um die Skulptur herumlaufen. Sie ist immerhin 37 Meter lang und knapp vier Meter hoch, versperrt somit den direkten Zugang von einem Haus zum nächsten. Zudem steht der Bogen durch seine geschwungene Form zur Architektur vor Ort, die durch klare vertikale und horizontale Linien ausgezeichnet ist, im Widerspruch. Dasselbe lässt sich von der Farbgebung behaupten: Herrschen an den Häuserfassaden und dem Platz selbst helle Farben vor, so ist der Bogen in dunklem Metall gehalten. Die Skulptur ist an diesem Ort als störender Fremdkörper in Szene gesetzt, eben als anti-environment im Sinne Serras und McLuhans. Sie stellt ein Verfremdungsobjekt zur gegeben Umwelt dar und soll genau deshalb diese wahrnehmbar machen. 330 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="331"?> 891 Siehe dazu: https: / / www.evan-roth.com/ ~/ shows/ landscape-with-a-ruin/ #hemisphere =east&strand=17 [letzte Aktualisierung: 02. 09.24; aufgerufen: 08.09.24]. (5) Gegenumwelten, die Umwelten versammeln Eine weitere Variante findet sich in künstlerischen Strategien, die nicht vor Ort intervenieren, sondern in der Kunstgalerie verbleiben und dort Aspekte, Vorgänge und Materialtäten räumlich weit ausgreifender medi‐ entechnologischer Infrastrukturen versammeln, die ansonsten unsichtbar bleiben müssten oder zumindest bis dato kaum wahrgenommen wurden. Ein wunderbares Beispiel dafür liefert Evan Roths Arbeit L AND S CAP E WITH A R UIN , die 2017 u. a. im Mona Bismarck American Center in Paris ausgestellt wurde. 891 Die Installation zeigt insgesamt 47 Videos, auf unterschiedlich großen Bildschirmen im Hochformat (vgl. Abb. 41). Abb. 41: Die Enden der (Untersee-)Kabel im Ausstellungsraum Roth besuchte zur Erstellung dieser Arbeit auf unterschiedlichen Konti‐ nenten Küstenregionen, an denen unterseeische Internetkabel aus dem Wasser ragen. Die Orte dieses Übergangs nahm der Künstler mit einer Infrarotkamera auf und lud die Aufnahmen auf einem Sever des jeweiligen 4.3 McLuhan und die Forschung 331 <?page no="332"?> 892 Siehe Peter Weibel (Hg.), Olafur Eliasson: Surroundings surrounded. Essays on space and science, Graz/ Karlsruhe 2001. Landes, in dem die Küstenorte situiert sind, hoch. Von dort wurden dann die Bilder ‚live‘ auf den Bildschirmen in den Ausstellungsraum gestreamt. Dabei werden Orte sichtbar und erfahrbar gemacht, die sonst - etwa in Werbungen für Infrastrukturen - eher nicht vorkommen und abgeschattet bleiben. Gegenumwelt ist dieses Kunstwerk insofern, als diverse Orte der infrastruk‐ turellen Umwelt des Internets im Kunstwerk gleichzeitig zur Erscheinung gebracht werden - während auf diese infrastrukturelle Voraussetzungen selbst zurückgegriffen wird. (6) Gegenumwelten, die Umwelten umgeben und ersetzen Eine letzte Variante findet sich in künstlerischen Projekten, die Umwelten nicht etwa versammeln, durchkreuzen, erweitern oder selbstreflexiv wen‐ den, sondern umgeben und gleichzeitig ersetzen. Olafur Eliasson bspw. konzipierte in mehreren Arbeiten etwas, was für eine gemeinsam mit dem Künstler konzipierte Ausstellung im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie als sehr passender Titel für solche Gegenumwelten fungierte, nämlich S U R R O UNDIN G S S U R R O UND E D , also in etwa ‚Umgebungen umgeben‘. 892 Was damit gemeint sein könnte, lässt sich an einer Arbeit aus dem Jahr 1997 mit dem Titel Y O U R W INDL E S S A R R AN G E ME NT verdeutlichen (vgl. Abb. 42a). Abb. 42a-b: Windspiele als umgebene Umgebungen Hier wurden in einem länglichen, leicht gebogenen Museumsgang 16 Ven‐ tilatoren installiert, die starken Wind erzeugten, wenn die Besucher: innen den Gang betraten. Eliasson selbst schreibt dazu: „The emulation of outside 332 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="333"?> 893 Olafur Eliasson, Your windless arrangement, 1997, Online zugänglich unter: https: / / ol afureliasson.net/ artwork/ your-windless-arrangement-1997/ [19.09.24]. 894 Siehe zu einer ähnlichen Deutung (ohne Referenz auf McLuhan): Sloterdijk, Sphären, 3. Bd., S. 336. Dort schreibt Sloterdijk: „Die natürlichen Umwelten, die der Künstler [Eliasson] zeigt, sind durchwegs bereits umgebende Umgebungen, das heißt von Wissenschaft und Technik gedeutete und wiederholte Naturphänomene.“ (Ebd.) 895 McLuhan, Understanding Media. Second Edition, S.-19. wind conditions within the museum introduces a different perception of the interior space.“ 893 Das Ziel dieser Installation soll also sein, die äußeren Windverhältnisse nachzuahmen, um so eine andere Wahrnehmung des Innenraumes zu ermöglichen. Genauer formuliert: Durch die elektrisch erzeugten Winde wird der Museumsgang umgeben - und zwar durch den Nachbau eines Elements der äußeren, ‚natürlichen‘ Umwelt (‚Wind‘). Damit wird aber nicht nur, wie der Künstler schreibt, der Innenraum anders wahrnehmbar, sondern ebenso die äußere, ‚natürliche‘ Umwelt. Denn hier wird der natürliche Wind nicht einfach simuliert, sondern die Nachahmung ist als technische Anordnung deutlich ausgestellt. Durch diese Form der Substitution findet eine Deutung wie Verfremdung der natürlichen Umwelt im Museumsinneren statt. Eine sehr spezielle Gegenumwelt ist damit her‐ gestellt, sind doch nunmehr zwei Umwelten (sowohl der Museumsraum selbst als auch die klimatische Umweltbedingungen des Außenraum) wahr‐ nehmbar gemacht. 894 Diese Deutung wird durch die Wahrnehmungsanordnung des Museums‐ ganges unterstützt, die Innen und Außen, Umgebendes und Umgebenes verschachtelt. In einer Skizze für die Installation wird sehr deutlich, wie wichtig Eliasson der Blick nach draußen in den Garten mit Bäumen war (vgl. Abb. 42b). Während die Besucher: innen also vom Wind im Museumsgang umgeben sind, ist an dem Ort, von dem wiederum das Museum umgeben ist, der Wind durch die Bewegung der Bäume, wenn überhaupt, nur noch zu sehen. Oder einfacher formuliert: Die Umwelt ist jetzt spürbar nach innen umgezogen und technisch ersetzt. Medienwissenschaftlich zumindest dürfte interessanter noch ein weiterer Gedanke McLuhan sein. Er schreibt: „Today technologies and their conse‐ quent environments succeed each other so rapidly that one environment makes us aware of the next. Technologies begin to perform the function of art in making us aware of the psychic and social consequences of techno‐ logy.“ 895 Inzwischen - so das Argument - folgen neue Medientechnologien so schnell aufeinander, etablieren nebeneinander und in Konkurrenz zuei‐ 4.3 McLuhan und die Forschung 333 <?page no="334"?> nander unterschiedliche Umwelten, so dass eine Umwelt als Gegenumwelt für die jeweils andere(n) fungieren kann, ja, laut McLuhan, an uns appelliert wird, genau solch eine Perspektive einzunehmen. So verstanden wandert die aufdeckende Arbeit der Kunst als Gegenumwelt aus in die sich permanent verändernden medientechnologischen Konstellationen selbst: Unablässig werden neue Umwelten geschaffen, die füreinander als Gegenumwelten fungieren und somit in ihren Differenzen und ihrem Widerstreit miteinan‐ der wahrnehmbar und eben so ihre jeweiligen Operationsweisen bewusst gemacht werden. Wir sind damit unaufhörlich eingetaucht in ein Geflecht aus Umwelten und Gegenumwelten. Beobachtungsrelative Medienökologie Das hat u. a. die Konsequenz, dass die medialen Umwelten nur aus Position einer anderen medialen Umwelt beobachtet werden können. Damit ist das, was an einer Umwelt wahrnehmbar ist, erstens nur in Abstand und Differenz zu dieser Umwelt wahrnehmbar. Zweitens muss diese Position selbst wieder innerhalb einer (anderen) Umwelt situiert sein, die als Gegenumwelt zu ersteren fungiert. So ist drittens die Beobachtbarkeit einer Umwelt relational verstanden und viertens strikt beobachtungsrelativ. Je nach Position, ob in der einen oder anderen Umwelt, kann so etwas anderes an einer dritten Umwelt wahrnehmbar werden, die wiederum als Gegenumwelt zu den anderen Umwelten fungieren kann usw. Nimmt man die Idee ernst, dass jede Umwelt die Beobachtbarkeit der Welt (und damit eben auch andere Umwelten) selbst wieder präformiert, so ist McLuhans Position als eine strikt beobachtungsrelative zu verstehen: Ein: e Beobachter: in ‚konstruiert‘ aufgrund der eigenen umweltlichen Präforma‐ tionen andere Umwelten, macht diese überhaupt erst wahrnehmbar, aber eben nur unter den Vorgaben der eigenen Umwelt. McLuhans Medienöko‐ logie wäre so verstanden eine Unternehmung, die einen Blick von außen oder von ‚nirgendwo‘ auf mediale Umwelten aufgibt und auf die jeweils beobachtungsrelative Situiertheit innerhalb von medialen Umwelten pocht, um von dort aus jeweils relative Aussagen über (andere) mediale Umwelten zu formulieren. Das ist doch ein ziemlich erstaunlicher Befund, wenn man bedenkt, dass McLuhan immer wieder unterstellt und vorgeworfen wurde, wahlweise eine 334 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="335"?> 896 Siehe ausführlicher dazu → 3. Lesart: Kritik. Auch Postmans Ausbuchstabierung von McLuhans Medienökologie als holistische Unternehmung wurde häufig in diesem Sinne kritisiert, siehe bspw. Fuller, Media Ecologies, S. 3f. Dass sich in der Tat bei McLuhan holistische, auf Totalität abzielende Ideen zur Medienökologie finden, wurde ja weiter oben bereits vermerkt. Daneben finden sich aber eben auch ganz andere Passagen, die bspw., wie hier, relativistische Position stark machen. Deshalb wurde eingangs formuliert, dass sich bei McLuhan unterschiedliche Facetten medienökologischer Ideen finden. Diese gehen aber in sehr in unterschiedliche Richtung, die nicht alle kompatibel untereinander, ja zum Teil widersprüchlich zueinander sind. 897 Siehe dazu auch: Sprenger, Epistemologien des Umgebens, S.-282. 898 Siehe dazu ausführlich → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. 899 Siehe dazu: Engell, Schaltbild, S.-141f. 900 Siehe zur Geschichte und Neuausrichtung der Medienanthropologie aus medienphilo‐ sophischer Sicht: Christiane Voss, Anthropomediale Perspektiven (2019), in: Lorenz Engell/ Christiane Voss, Die Relevanz der Irrelevanz. Aufsätze zur Medienphilosophie 2010-2021, München 2021, S. 81-102; dies., Auf dem Weg zu einer Medienphilosophie; dies., Anthropomedialität. essentialistische, mediendeterministische und/ oder eine auf totalisierende Einheitsfantasie zielende Position zu vertreten. 896 Medienökologie als relationale Medienanthropologie Nach McLuhan erzeugt jedes Medium seine eigene Umwelt und ist von Umwelten anderer Medien umgeben, erhält seine spezifischen Effekte, Wirkungen, Wahrnehmbarkeit erst aufgrund der jeweils ausgebildeten Relationen zu anderen Umwelten. 897 McLuhans mediale Umwelten sind also zutiefst relational gedacht. Dies gilt nicht nur für das externe Verhältnis von Umwelten zu Umwelten, sondern ebenso für das interne Verhältnis einer Umwelt zu ihren Organismen, insbesondere zu menschlichen Existenzwei‐ sen. McLuhan konzipiert dieses Verhältnis von Anfang an als ein prozess‐ uales mit seiner Extensionsthese, die zunächst einem Dreischritt folgt: Der Mensch weitet seine Sinnesorgane in Medien aus (1. Schritt); diese bilden Umwelten (2. Schritt) und als Umwelten wirken sie auf Menschen zurück (3. Schritt). 898 Der Außenverlagerung der Menschen in Medien folgt also eine Innenverlagerung der Medien in die Menschen. 899 Dies hat vier Konsequenzen, die für die Konzeption einer Medienanthropologie, also die Reflexion über das Verhältnis von Mensch und Medien, wichtig geworden sind. 900 4.3 McLuhan und die Forschung 335 <?page no="336"?> 901 Ebd., S.-34. 902 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, 3. These. 903 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, 1. These und → 4. Lesart: Pragmatismus, Kap. „Abtasten als digitale Operation“. 904 Siehe dazu: Voss, Anthropomediale Perspektiven S.-84. Erstens wird dadurch das Selbstverständnis des Menschen ausgerichtet, ja, zuallererst erst hervorgebracht. Durch Medien wird „der Mensch an sich selbst vermittelt“ 901 D.h. erst durch die mediale Vermittlung hat der Mensch überhaupt eine Vorstellung von sich selbst. Die Ausweitung des Menschen in der Druckerpresse Gutenbergs und damit die Etablierung und Verbreitung gedruckter Texte brachte laut McLuhan die Vorstellung hervor, dass der Mensch ein Individuum ist, das sich von anderen Individuen strikt unterscheidet. Die elektrischen Medien wiederum etablieren die Idee, dass der Mensch immer mit allen anderen Menschen vernetzt ist und mit diesen in unablässiger Wechselwirkung steht, so dass die Idee des Menschen als vereinzeltem Individuum wieder obsolet wird. 902 Zweitens: Genau besehen wird der Mensch nach McLuhans Verständnis zu einem solchen erst durch den Einsatz von Medien. Der Gebrauch der gesprochenen Sprache konstituiert einen Menschen, der ein harmonisches Verhältnis der Sinne untereinander etabliert, die es ihm möglich macht, ein bewusstes und reflexives Verhältnis zur Welt auszubilden. Da wir angesichts des Fernsehens selbst zum Bildschirm werden und die Signale des Fernseh‐ ens direkt ins Gehirn gelangen, wird das kognitive System des Menschen in spezifischer Weise stimuliert und letztlich transformiert. 903 Da Menschen von Anfang an Medien verwenden, nach außen verlagern und gleichzeitig von diesen affiziert und durchdrungen sind, gibt es so verstanden also nicht einerseits die Medien und anderseits die Menschen. Stattdessen sind Menschen immer schon von Medien umgeben und durchdrungen von ihnen. Die Differenz zwischen natürlichem Menschsein und technischer Welt ist somit von vorneherein obsolet und in einen relationalen, dynamischen Prozess überführt. 904 Drittens wird darum das Verhältnis von Umwelt und Organismus gerade nicht so konzipiert, dass die Umwelt einfach monokausal auf den Organis‐ mus einwirkt bzw., wenn ein Medium einmal ausgelagert ist, dieses unerbitt‐ lich auf die Organismen zurückwirkt. Stattdessen kommt dem Organismus eine aktive Rolle zu. Er lagert aktiv Medien aus, die Umwelten für den Organismus bilden, der wiederum in der Folge weitere Medien auslagert, die auf vorhergehende Umwelten zurückwirken bzw. diese umgestalten usw. 336 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="337"?> 905 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 2; kritisch gewendet in → 3. Lesart: Kritik. 906 Siehe dazu auch: Pauliks, Meme Marketing, S.-98ff. 907 McLuhan zitiert nach: W. Terrence Gordon, Critical Reception of Understanding Media, in: Marshall McLuhan, Understanding Media. Critical Edition, S.-545-558, hier: S.-548. 908 Christiane Voss beschreibt dies wie folgt: „[D]ie Besonderheit dieses Ansatzes besteht [darin], die Relationierbarkeit gegenüber der Spaltung der Relata - in Medien plus Menschen - als vorausgehend zu fassen.“ (Voss, Anthropomediale Perspektiven, S. 82; zweite Hervorhebung von mir [SG]) Demensprechend haben wir es bei dieser Art der Medienanthropologie mit einer Ökologie der Medien zu tun. Denn es geht ja um eine (Neu-)Bestimmung dessen, wie Medien in Relationen und Differenzen zu anderem zu denken sind, ohne vorhergehende essentialistisch konzipierte, ja nicht einmal klar zu bestimmende Entitäten voraussetzen zu müssen. Obwohl McLuhan den Fokus meist auf den Einfluss der medialen Umwelt auf die Menschen thematisiert und stark macht, 905 gibt es auch Formulierun‐ gen, die solch ein Wechselspiel explizit thematisieren. 906 In einer Erwiderung auf die Kritik, dass seine These vom Medium, das die Botschaft sein soll, letztlich eine deterministische Position impliziert, antwortet McLuhan etwa wie folgt: We make sense by gradually focusing and exploring the various media that sur‐ round us. But in making sense, we also make new service/ disservice environments which in turn become new media. If the meaning is the process of interplay between us and a technology, the effect or message results from the projection of this interplay between us and the media. To say, therefore, that ‚the medium is the message‘ is to coalesce these stages a bit. 907 Während wir also im Gebrauch die Optionen medialer Umwelten erkunden, entwickeln wir auch immer neu mediale Umwelten. Wir verändern aktiv mediale Umwelten. Viertens - und das ist die konsequente Radikalisierung dieser Idee: Medien und Menschen bringen sich gegenseitig immer wieder neu und anders hervor, genauer: Medien und Menschen sind Effekte bestimmter Relationierungen, nicht zuvor gegebene Relata. 908 Dafür muss die Idee der Relationierung von Umwelt und Organismus nur etwas kleinteiliger skaliert werden, als das bei McLuhan meist geschieht. Nicht nur weiten Organismen sich immer wieder in neuen Medien aus. Nach dieser Vorstellung modifizie‐ ren sie im Verlauf des Umgangs mit medialen Umwelten eben auch letztere. In einem Brief aus dem Jahr 1971 heißt es demgemäß bei McLuhan: „The meaning of the pencil, or the chair I use is the interplay between me and 4.3 McLuhan und die Forschung 337 <?page no="338"?> 909 McLuhan, Letters, S. S. 427 (Hervorhebung von mir [SG]). Siehe dazu: Pauliks, Meme Marketing, S.-99f. 910 Siehe dazu: Voss, Auf dem Weg zu einer Medienphilosophie, S.-173ff. 911 Engell, Schaltbild, S.-143. 912 Ebd., S.-132. these things. […] [T]he message of these things is the sum of the changes that result from their social use. Thus, I have added two features to ‚the medium is the message‘, namely the content and the meaning.“ 909 Explizit geht es hier um den sozialen Gebrauch der Medien im Wechselspiel mit den medialen Bedingungen und deren Präformationen. Das Medium ist die Botschaft, aber ebenso und gelichzeitig gilt: Die Botschaften bzw. die Botschafter: innen richtet das Medium aus. Das lässt sich auch als Operationskette, in der menschliche und nicht-menschliche Akteure verschränkt sind, beschreiben. 910 Um ein sehr einfaches Beispiel dafür zu wählen: Jemand drückt den Anschaltknopf des Fernsehens; daraufhin schaltet sich das Fernsehen ein; bunte Bilder sind auf dem Bildschirm zu sehen, die denjenigen vor dem Bildschirm affizieren (oder auch nicht). Die Bilder werden semiotisch dekodiert, weiter betrachtet, um- oder abgeschaltet. Im ersten Fall wird sich dem flow der Bilder überlassen, im zweiten Fall andere Reize und Dekodierungsoptionen gesucht und im dritten wendet man sich vom Fernsehen ab. Im ersten Fall gilt: Das Fernsehen „versetzt […] den Menschen vor dem Bildschirm von einem immerhin agentiellen, die Operation ausführenden Zustand in einen affizierten, von der Operation berührten Zustand“. 911 Das kann dann, wie in im zweiten und dritten Fall umgekehrt werden: Der Mensch wird wieder zum Handelnden. Entscheidend daran ist zum einen, dass im Lauf der Operationskette die aktiven und passiven, die agentiellen und affizierten Pole zwischen Medien und Menschen wechseln und sie sich so wechselseitig bedingen und neu ausrichten. In dieser Wendung ist es nicht so, dass die Medien ihren Gebrauch determinieren, sondern Medienpraxis und mediale Umwelt sich wechselseitig (immer wieder neu) ausrichten. Zum anderen kann mit Rekurs auf McLuhan formuliert werden, dass „Me‐ dien und Menschen […] im Verhältnis wechselseitiger Hervorbringung“ 912 stehen. Es gibt nicht Medien und Menschen, mediale Umwelten und Or‐ ganismen, sondern immer nur dynamische Prozesse der Hervorbringung, Stabilisierung, Transformation von medialen Umwelten und Menschen während und durch Operationsketten. Das bedeutet letztlich, dass es den Menschen und die Medien gar nicht gibt, zumindest nicht als essentialisti‐ 338 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="339"?> 913 Voss, Anthropomediale Perspektiven, S. 914 Voss, Medienphilosophie, S.-12. 915 Ebd. 916 Engell, Schaltbild, S.-132. 917 Voss, Anthropomediale Perspektiven, S.-84. 918 McLuhan, At the Moment of Sputnik, S.-48. sche, voneinander klar abzugrenzende Entitäten, die sich dann im nächsten Schritt ins Verhältnis setzen lassen, sondern immer nur „relationale[…] und hybride[…] Konzeptualisierungen menschlicher Existenzweisen“ und medialer Umwelten - eben „im Plural“. 913 Es gibt dann die couch potato, die Fernsehverweigerin, den Zapper usf., aber nicht den Menschen, der Fernsehen sieht. Es gibt auch nicht das Fernsehen, sondern nur spezifische medientechnologische televisuelle Ausformungen und Umwelten, die sich je nach Gebrauch wandeln. Diese Variante der Medienanthropologie lässt, wie Christiane Voss schreibt, die „Einseitigkeiten anthropozentrischer Denktraditionen“ 914 hin‐ ter sich, die mehr oder minder von einer klaren Entität Mensch ausging. Stattdessen „wird der Menschenbegriff als eine heuristische Abkürzung für regional ausdifferenzierbare und einander teilweise sogar unähnlicher Exis‐ tenzformen verwendet und nicht mehr als eine Kategorie zur Beschreibung einer einheitlichen-substanziellen Entität.“ 915 Solch eine Medienanthropolo‐ gie kann ausgehend von McLuhans Körperextensionsthese konzipiert wer‐ den. Zumindest hat dafür der Medienphilosoph Lorenz Engell argumentiert. Dieser pointiert das Verhältnis von Medien und Menschen dementsprechend im Zuge seiner Rekonstruktion von McLuhans Medienanthropologie wie folgt: „Medien und Menschen stehen im Verhältnis wechselseitiger Hervor‐ bringung einerseits, Indienstnahme anderseits, sie wären (Doppel-)Agen‐ ten“ 916 - (Doppel-)Agenten, die permanent „[a]nthropomediale“ 917 Environ‐ ments aus- und umbilden Ästhetisierende Medien der Ökologie „‚Ecological‘ thinking became inevitable as soon as the planet moved up into the status of a work of art.“ 918 - Wenn man diesen Satz McLuhans buchstäblich ernst nimmt, dann heißt das, dass der Planet, samt die ihn durchdringenden wie gestaltenden Technologien, buchstäblich als Kunst‐ werk wahrnehmbar wird oder zumindest wahrnehmbar gemacht werden könnte. Kunstwerke, darauf wurde bereits hingewiesen, haben laut McLu‐ 4.3 McLuhan und die Forschung 339 <?page no="340"?> 919 Sloterdijk, Sphären, Bd. 3, S. 79. Sloterdijk macht an dieser Stelle die Differenz zwischen phänomenaler Wahrnehmung und medientechnologisch ‚aufgerüstetem‘ Zugriff mit dementsprechenden Sichtbarkeitsverschiebungen stark. „[D]em technisch Entborgenen und Veröffentlichten [kann] nur noch eine abgeleitete Phänomenalität, eine hybride Öffentlichkeit und eine gebrochene Zugehörigkeit zur Wahrnehmung zukommen […].“ (Ebd., S. 79f.) Das ist deshalb hier angemerkt, weil all die weiter vorne angeführten Beispiele für künstlerische Gegenumwelten letztlich auf direkte Wahrnehmbarkeit und Erfahrung materieller Gegenstände vor dem ‚Bild‘ zielen (Kabel, Autoreifen, Stahlbögen, Abbildungen von in Plastik verpackte Dias, Papier). Dies scheint mir im Fall der Sichtbarmachung ‚instrumenteller Netzwerke‘ eben nicht der Fall zu sein. Dort gibt es vorhergehende komplexe, abstrakte Operationen des ‚Messens, Rechnens und Operierens‘ vor der Sichtbarmachung im Bild, die dementsprechend die Darstellung im Bild prägen. 920 Siehe: Viola Kiel (Visualisierung: Paul Blickle/ Julius Tröger), Die Nervenbahnen der Welt sind in Gefahr [29.02.24], in: Zeit Online, Online zugänglich unter: https: / / www. zeit.de/ wissen/ 2024-08/ unterseekabel-sicherheit-klimawandel-sabotage-datenverkehr [09.09.24]. han die Funktion als Gegenumwelten durch Verfremdung Eigenschaften von Umwelten wahrnehmbar zu machen. Etwas ganz Ähnliches ließe sich für die Darstellung von Infrastrukturen behaupten, die, was sonst nicht wahrnehmbar ist, thematisieren, explizieren und somit wahrnehmbar machen. Die Verfremdung besteht in letztgenanntem Fall in der Wahl bestimmter Medien (etwa sogenannter operativer Bilder wie Diagramme), die - über den Umweg des Datensammelns, „Messens, Rechnens und Ope‐ rierens“ 919 - wahrnehmbar machen, was ansonsten unbeobachtet bleiben müsste (etwa in der unmittelbare Wahrnehmung der eigenen Lebenswelt oder mittels dokumentarischer Fotografien). Ein Beispiel dafür lässt sich in einem populärwissenschaftlichen Artikel, der auf Z E IT O NLIN E am 29. August 2024 veröffentlicht wurde, finden. 920 Zentraler Bestandteil des Beitrags ist eine interaktive Karte, in die Meereskabel im globalen Maßstab eingezeich‐ net sind (vgl. Abb. 43a-c). 340 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="341"?> 921 Ebd., o.S. Abb. 43a-c: Nervenbahnen der Welt sichtbar machen Unter dem suggestiven, an McLuhans Körperextensionsthese erinnernden Titel D I E N E R V E N BAHN E N D E R W E LT S IND IN G E F AH R wird beschrieben und veranschaulicht, dass, wo und wie „knapp 99 % des weltweiten Datenver‐ kehrs [….] über Glasfaserkabel auf dem Meeresgrund“ verlaufen. 921 In der interaktiven Karte ist etwas wahrnehmbar gemacht, das erstens ohne vorhergehende Berechnungen, Messungen und Datenabgleich nicht zu zeigen wäre und das zweitens kaum bekannt sein dürfte (man denkt bei dem Datenverkehr wohl eher an Satelliten, Überlandkabel, Sendemasten, Wi-Fi). Im Sinne McLuhans wird damit eine Gegenumwelt kreiert, die ansonsten abgeschattete Phänomene durch Recherche, Datensammlungen und rechnerischen Operationen in einem Diagramm wahrnehmbar macht. Auch wenn es sich dabei nicht um ein Kunstwerk im engeren Sinne handelt, so ließe sich doch behaupten, dass wir es aufgrund der Visualisierung mit einer ästhetischen Darstellung zu tun haben oder doch mit etwas, das ästhetische Komponenten aufweist. Der griechische Wortstamm von Ästhetik, aísthēsi, bedeutet so viel wie Wahrnehmung und Empfindung. Von diesem Verständnis ausgehend lassen sich ästhetischen Darstellungsformen die Funktion zusprechen, Wahrnehmung zu sensibilisieren, zu affizieren, 4.3 McLuhan und die Forschung 341 <?page no="342"?> 922 Siehe: Latour, Kampf um Gaia, S.-249. 923 Auch wenn Latour nicht selbst auf McLuhan eingeht, ließe sich doch mit einigem Recht behaupten, dass seine Akteur-Netzwerk-Theorie ein ganz ähnliches Projekt verfolgt wie McLuhan. Denn es geht Latour primär darum aufzudecken, welche Netzwerke Akteure jeglicher Art konstituieren und verbinden. In McLuhans Vokabular formuliert: Es geht darum, den Zusammenhang von Grund und Form zu erkunden oder genauer: zu fragen und darzulegen, was den jeweiligen Formen zugrunde liegt. Auch Latour unter‐ sucht letztlich ausgehend von Artefakten deren mediale Umwelten und Infrastrukturen. In diesem Sinne schreibt Felix Stalder: „[M]uch of Latour's work can be read as an exploration of ground […]. And he came, if we disregard the differences in vocabulary, to surprisingly similar results [as McLuhan]. In Latour's vocabulary, the environment is the networks and the content is the fact, or artifact that we are investigating. […] Latour spent a great deal of time detailing the sociological and philosophical ramifications of the shift from the pure to the hybrid […], or in McLuhan's terms, from the figure to the ground.“ (Felix Stalder, From Figure/ Ground to Actor-Networks: McLuhan and Latour [27.10.1998], Online zugänglich unter: https: / / www.nettime.org/ Lists-Archives/ nettim e-l-9810/ msg00146.html [10.09.24]) 924 Siehe dazu: Poole, Earthrise. 925 Latour, Kampf um Gaia, S.-245. 926 Ebd., S.-249 927 Ebd., S.-243. betroffen zu machen. 922 Und genau in diesem Sinne lässt sich diese interak‐ tive Karte verstehen. Zumindest ist das dann der Fall, wenn man Bruno Latour folgen will, der, ohne auf McLuhan einzugehen, 923 die ästhetische Funktion von Darstel‐ lungen der Erde im Zeitalter des Anthropozäns und damit im Zeitalter der technischen Durchdringung und Transformation der Erde, diskutiert. Es geht laut Latour in diesem Zustand genau nicht darum, die Erde als vereinheitlichte globale Welt darzustellen, wie es etwa ikonisch im sogenannten Earthrise-Foto geschehen ist, auf dem die Erde vom Mond aus gesehen wahrnehmbar wird. 924 Im Gegenteil sollten laut Latour in der „postnatürlichen Periode“ 925 ästhetische Darstellungsformen gewählt werden, die die „Fähigkeit, ‚wahrzunehmen‘ und ‚betroffen‘ zu sein, anders gesagt […], sich selbst zu sensibilisieren“ 926 steigern. Dies wird laut Latour insbesondere möglich gemacht durch die Darstellung „instrumentelle[r] Netzwerke […], mit denen man alle Wirkungsmächte die Folgen von Hand‐ lungen aufzeigen“ 927 kann. Solche instrumentelle Netzwerke kommen etwa durch interaktive Karten zur Darstellung, die die ‚Nervenbahnen der Welt‘ auf dem Meeresgrund nachzeichnen. So wird, mit McLuhan formuliert, der Planet zu einem Kunstwerk - ein Kunstwerk, das für planetarischen medientechnologischen Vernetzungen und Infrastrukturen sensibilisiert. 342 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="343"?> 928 Ebd. 929 Siehe dazu knapp: James Bridle, Ways of Beeing. Animals, Plants, Machines: The Search for a Planetary Intelligence, Dublin 2023, S.-300f. 930 Zitiert nach: https: / / www.icarus.mpg.de/ 16575/ ueber-icarus [04.09.24]. 931 Siehe: https: / / www.icarus.mpg.de/ 4331/ animal-tracker-app [04.09.24]. Neben solchen ästhetischen Darstellungen instrumenteller Netzwerke lassen sich in einer letzten Wendung instrumentelle Netzwerke selbst als Medien der Ökologie verstehen, die uns für planetarische Prozesse ästhe‐ tisch sensibilisieren sollen. Wiederum Latour schreibt in diesem Sinne: Im Anthropozän leben heißt: der Ausdruck ‚Sensibilität‘ ist auf alle […] anwend‐ bar, die imstande sind, ihre Sensoren etwas weiter auszufahren und anderen das Gespür dafür zu vermitteln, daß die Konsequenzen ihres Handelns auf sich selbst zurückfallen und sie heimsuchen werden. Wenn das Wörterbuch als ‚sensibel‘ definiert, ‚was rasch leichte Veränderungen, Signale und Einflüsse ausmacht und darauf reagiert‘, dann ist das Adjektiv auf […] Anthropos [also das gegenwärtige Zeitalter des Anthropozäns] beziehbar - allerdings nur, wenn es ausreichend mit Rezeptoren versehen ist, um die Rückwirkungen zu spüren. 928 Ein Beispiel für solch eine Ausweitung der ‚Sensoren‘ und ‚Rezeptoren‘ im und für das Zeitalter des Anthropozäns bietet das Projekt ICARUS, das vom Max Planck Institut initiiert wurde und u. a. mit der European Space Acency National Geographic und Akademie für Zoo- und Wildschutz E. V. kooperiert. 929 Auf der eigens für dieses Projekt erstellten Homepage ist zu lesen: Mit Icarus wollen Forschende mehr über das Leben der Tiere auf der Erde herausfinden: auf welchen Routen sie wandern und unter welchen Bedingunge n sie leben. Diese Erkenntnisse dienen der Verhaltensforschung, dem Artensch utz und der Erforschung der Ausbreitungswege von Infektionskrankheiten bis hin zur Vorhersage von ökologischen Veränderungen und Naturkatastrophen. Die Forscher rüsten dabei unterschiedliche Tierarten mit Minisendern aus, die ihre Messdaten an eine Empfangsstation im All schicken. Diese übermittelt sie an eine Bodenstation, von dort gelangen sie an die jeweiligen Forscherteams. Die Resultate werden in der für jedermann frei zugänglichen Datenbank Movebank veröffentlicht. 930 Zudem gibt es eine frei zugängliche App, A NIMAL T R AC K E R , die die Daten für Nutzer: inne auch jenseits von Forschungsteams anschaulich visualisiert und nachvollziehbar macht (vgl. Abb. 44). 931 4.3 McLuhan und die Forschung 343 <?page no="344"?> 932 Icarus initiative: Wildlife Observation from Space. Online zugänglich unter: https: / / w ww.youtube.com/ watch? v=e_KNyhQMjOY [09.09.24]. 933 Latour, Kampf um Gaia, S.-243. 934 McLuhan, At the Moment of Sputnik, S.-48. 935 McLuhan schreibt demgemäß: „Art as radar acts as an ‚early warning system,‘ as it were, enabling us to discover social and psychic targets in lots of time to cope with Abb. 44: ‚Internet of Animals‘ auf der App Dieses ‚Internet of Animals‘ verwendet, wie es in einem Werbevideo zum Projekt heißt, Tiere „as intelligence environmental sensors“, 932 die mittels technischer Ver‐ schaltungen unsere Wahrnehmungsmög‐ lichkeiten erweitern. Demensprechend sensibilisiert diese Anordnung für diverse regionale wie überregionale Phänomene, deren jeweiligen Umweltbedingungen und Transformationen im planetarischen Maß‐ stab. Im Sinne Latours haben wir es hier mit einem hochkomplizierten instrumen‐ tellen Netzwerk aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren zu tun, die „Wirkungsmächte und Folgen von Hand‐ lungen aufzeigen“ 933 kann. Im Sinne McLu‐ hans handelt es sich dabei in einem dreifa‐ chen Sinne um ein planetarisches Kunstwerk für das Zeitalter der Medien‐ ökologie. Erstens ist hier ganz konkret eine Verbindung von Medientechnologie und Natur in einem planetarischen, ja transglo‐ balen Netzwerk vollzogen und ineinander‐ gefügt. Planetarische Prozesse sind durch‐ zogen von artifiziellen Operationen: „the planet moved up into the status of a work of art“. 934 Zweitens ist ICARUS ein Projekt, das zur ästhetischen Sensibili‐ sierung, Affizierung und Betroffen-machen für Wirkkräfte sowie zur Aus‐ weitungen der Wahrnehmbarkeit auf planetarischer Ebene dienen soll. Drit‐ tens bildet nach McLuhan Kunst ein Frühwarnsystem aus, ein hochgradig empfindlich eingestelltes Radarsystem für soziale und psychologische Ef‐ fekte, die medientechnologische Eingriffe verursachen. 935 Vielleicht ließe 344 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="345"?> them.“ (McLuhan, Understanding Media. Second Edition, S. 20) Siehe dazu bereits → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1, These 2. 936 Hinsichtlich der Sensibilisierung der Menschen für die natürliche Welt um ihn formu‐ liert Bridle mit Blick auf die Ausstattung natürlicher Entitäten wie Tiere oder Pflanzen mit technologischen Sensoren enthusiastisch: „I confess, I’m suprised that one answer to the question ‚how do we stop separating us from the natural world‘ turns out to be sticking tiny digital sensors on anything.“ ( James Bridle, Ways of Beeing, S.-307) 937 Dass diese Gegenumwelten wiederum selbst Umwelten sind, deren Grundlagen un‐ wahrnehmbar bleiben müssen, ist nach McLuhans beobachtungsrelativem Relationis‐ mus nur konsequent und bewahrt davor, dem Einsatz instrumenteller Netzwerke zuzuschreiben, nun endlich das wahrnehmbar zu machen, was die ‚Erde‘ tatsächlich ist. Überhaupt wird auch bei diesem Projekt einiges abgeschattet. So erfährt man bspw. auf der Homepage nichts über die Energiekosten des Projektes. Zumindest scheinen die Initiatoren: innen durchaus Sinn für Ironie zu haben, ist doch der Namensgeber der Projektes, Ikarus, laut antikem Mythos kläglich gescheitert bei seinen Flugversuchen. Als er in seiner Hybris mit den von seinem Vater Dädalus hergestellten Flügeln der Sonne zu nah kam während einer seiner Flugversuche, ist er tödlich abgestürzt. 938 Bspw. sind McLuhans Ausführungen zu einer holistischen Medienökologie und der zu einer beobachtungsrelativen Konzeption von Umwelten im Plural inkompatibel. sich im Zeitalter des Anthropozäns, nachdem der Planet ein ‚Kunstwerk‘ geworden ist, und konkret mit Blick auf Projekte wie ICARUS darüber hi‐ naus formulieren: Medientechnologien werden zu Frühwarnsystemen durch Bildung von Netzwerken mit sensiblen und sensibilisierenden Radar‐ elementen und Sensoren. 936 Technik erfüllt so nunmehr, zumindest auch, die Funktion, die traditionellerweise Kunst erfüllt hat. Medien wären damit ganz konkret nicht mehr nur unwahrnehmbare Umwelten, sondern strategisch eingesetzte Gegenumwelten zur Wahrnehmung planetarischer Umwel‐ ten. 937 ‚Tausend Medienökologien‘ Auch wenn die Ausführungen zu McLuhans medienökologischen Ideen gewiss nicht in einen kohärenten Argumentationszusammenhang oder ein systematisches Forschungsprogramm zu bringen sind und einige Facet‐ ten regelrecht in Widerspruch zueinanderstehen, 938 so ist m. E. dennoch erstaunlich, wie viele Facetten der gegenwärtigen Diskussionen um das, was Medienökologie ist, tut oder sein sollte, bereits bei McLuhan zu finden sind oder zumindest ausgehend von ihm entwickelt werden können. 4.3 McLuhan und die Forschung 345 <?page no="346"?> 939 Solche Aktualisierungen finden sich bspw. bei: Levinson, Digital McLuhan; Robert K. Logan, Understanding New Media. Extending Marshall McLuhan, New York u. a. 2010. 940 McLuhan, Magische Kanäle, S.-22. 941 Jay D. Bolter/ Richard Grusin, Remediation. Understanding New Media. London/ Mas‐ sachusetts 5 2002, S.-45. McLuhan im digitalen Zeitalter Viele Forscher: innen und Denker: innen verstehen McLuhan weniger als Vorboten einer planetarischen Medienökologie, denn als Vordenker eines digitalen Computerzeitalters. Über das allgemeine Axiom vom Medium, das die eigentliche Botschaft ist, hinaus und jenseits des Buchdrucks, des Radios und des Fernsehens, soll McLuhan etwas Wichtiges über unsere digitalisierte Gegenwartskultur zu sagen haben. McLuhan liefert aus dieser Sicht Werkzeuge, die er selbst vielleicht nur auf technisch analoge Medien wie Radio und Fernsehen beziehen konnte, die sich aber bestens eignen, um sie auf die digitale Gegenwart anzuwenden oder von dort aus zur Neujustierung der Kultur- und Mediengeschichtsschreibung zu verwenden sind. 939 Vier solcher Neujustierungen sollen im Folgenden skizziert werden (vgl. noch einmal Abb. 33), um zu zeigen, wie unterschiedlich McLuhan für die Beschreibung des digitalen Zeitalters nutzbar gemacht werden kann. (1) Remediation (Jay D. Bolter/ Richard Grusin) Beim Ansatz von Jay D. Boter und Richard Grusin, der sogenannten Reme‐ diation, wird bspw. auf eine These McLuhans zurückgegriffen, um diese zur Beschreibung der medialen Lage im Zeitalter der Digitalität fruchtbar zu machen. In D I E MAGI S CH E N K ANÄL E schreibt McLuhan: „Der Inhalt eines Medium [ist] immer ein anderes Medium. Der Inhalt der Schrift ist Sprache, genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks ist und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen.“ 940 Bolter und Grusin geben dieser These in ihrem Buch R E M E DIATIO N eine spezifische Deutung: „We call the representation of one medium in another remediation and we will argue that remediation is the defining characteristic of the new digital media.“ 941 Daran sind zwei Aspekte wichtig: Erstens verstehen Bolter und Grusin die Aussage, dass der Inhalt eines Mediums immer ein anderes ist, als einen Prozess der Remediation. Zweitens soll dieser Vorgang insbesondere die digitalen Medien auszeichnen, ja das definierende Merkmal dieser Medien 346 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="347"?> 942 Siehe dazu: ebd., S.-15f. 943 Ebd., S.-65. überhaupt sein. Doch was genau ist Remediation und warum soll dieser Prozess vor allem die digitalen Medien charakterisieren? Mit Remediation meinen Bolter und Grusin zunächst einmal eine spezi‐ fische Bezugnahme eines Mediums auf ein anderes. Es geht dabei aber nicht um konkrete inhaltliche Repräsentation. Wenn bspw. in einem Film ein Buch gezeigt und/ oder dieses zum Thema gemacht wird, ist das noch keine Remediation. Vielmehr sind mit Remediation universale und formale Bezug‐ nahmen eines Mediums auf ein anderes gemeint. Unterscheiden lassen sich drei Arten von Bezugnahmen: eine nachahmende, eine rivalisierende und eine revidierende, die zumeist gemeinsam und sich gegenseitig überlagernd auftreten. 942 An einem einfachen Beispiel erläutert: Der Computer kann die Textseiten einer wissenschaftlichen Arbeit, die einem gedruckten Buch entstammen, nachahmen (linearer Verlauf des Textes, mehr oder minder konsistenter Argumentationsverlauf, Fußnotenapparat etc.). Er kann sich dabei als Rivale des gedruckten Buches herausstellen, der dieselbe Funktion besser erfüllt (bspw. lässt sich der digitale Text besser transportieren, was die Zugänglichkeit des Textes erheblich erleichtert). Außerdem sind nun‐ mehr mit einem Textverarbeitungsprogramm Hyperlinks zu setzen, mittels derer die lineare Struktur des Textes zugunsten anderer Verbindungsmög‐ lichkeiten durchbrochen wird. Das wäre ein die Lese- und Schreibpraxis revidierender Aspekt. Diese Remediation lässt sich in allen medialen Konstellationen ausfindig machen, ja sie ist für jedes Medium konstitutiv. Egal ob die Fotografie die zentralperspektivische Zeichnung ‚remediert‘ oder der Film das Theaterset‐ ting oder das Fernsehen das Radio - in allen medialen Prozessen ist ein Prozess der Remediation auszumachen. So definieren Bolter und Grusin folgerichtig verallgemeinernd: „a medium is which remediates“. 943 Zum alles entscheidenden Merkmal wird die Remediation aber erst mit dem Aufkom‐ men der digitalen Medien. Das soll genau deshalb der Fall sein, weil diese die Art und Weise, wie wir Realität wahrnehmen, fundamental verändern. In und mit diesen neuen Medien werden nämlich alle vorhergehenden Medien auf Grundlage digitaler Codierung simulierbar und können vernetzt werden. Der Computer ist im beruflichen Alltag zunehmend unerlässlich, wird aber auch für private Kommunikationsprozesse verwendet, um einen Text zu schreiben, E-Mails zu verschicken oder die Facebook-Seite zu pflegen. Der 4.3 McLuhan und die Forschung 347 <?page no="348"?> 944 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, 2. These oder auch: → 3. Lesart: Kritik, Kap. „(11) Das Problem der Körperausweitungsthese“. 945 Siehe bspw.: Vilém Flusser, Die Schrift. Hat schreiben Zukunft? , Frankfurt am Main 1992, S.-29. 946 Zu einer ausführlicheren und instruktiven Einführung in die Medientheorie de Kerck‐ hoves siehe: Simone Mahrenholz, Derrick de Kerckhove - Medien als Psychotech‐ nologien, in: Alice Lagaay/ David Lauer (Hg.), Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt/ New York 2004, S.-69-95. 947 Derrick de Kerckhove, Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer, München 1995, S.-195. digitale Flachbildfernseher steht bereit für die Rezeption der großen Sport‐ events; der Laptop, das Mobiltelefon oder der iPod für die Information und Kommunikation unterwegs etc. Remediation wird so zum omnipräsenten Operationsmodus, der alle Lebensbereiche durchdringt, vernetzt und damit verändert. Mit ihrem Konzept der Remediation spezifizieren Bolter und Grusin erstens McLuhans Axiom, dass der Inhalt eines Mediums immer ein anderes Medium ist. Zweitens bringen sie es buchstäblich up to date. Wo es McLu‐ han noch um Telegrafen, Buchdruck, Schrift und elektrisches Licht ging, verhandeln Bolter und Grusin die neuen digitalen Medien. Aus McLuhans Projekt des Understanding Media machen sie das Projekt U ND E R S TANDIN G N EW M E DIA , wie sie es wiederum mit deutlichem Verweis auf McLuhans Publikation im Untertitel ihres gemeinsam verfassten Buchs formulieren. (2) Computer als Körperexernalisierung (Derrick de Kerckhove) Dass der Computer Denkprozesse genau abbilden kann und dementspre‐ chend als technische Ausweitung des menschlichen Gehirns zu verstehen ist, diese These findet sich bereits bei McLuhan (wie so vieles) zumindest angedacht. 944 Wiederzufinden und tatsächlich ausbuchstabiert wird diese These dann bspw. bei Vilém Flusser 945 und - wohl am prominentesten und mit engem Bezug auf McLuhan - bei dessen Schüler und Nachfolger am Forschungsinstitut an der Universität in Toronto, Derrick de Kerckhove. Auf die Ausführungen von de Kerckhove möchte ich mich hier konzentrieren. 946 Er schreibt ganz im Geiste der Körperausweitungsthese McLuhans: „Er [der Computer] veräußert und mechanisiert unsere wichtigsten kognitiven Strukturen.“ 947 Diese Körperausweitung mechanisiert aber laut de Kerck‐ hove nicht nur kognitive Prozesse, sondern strukturiert und moduliert diese 348 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="349"?> 948 Ebd. 949 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 2. 950 Friedrich Kittler, Nachwort, in: Kerckhove, Vom Alphabet zum Computer, S. 199-200, hier: S.-199. 951 Siehe dazu bspw.: McLuhan, Probleme der Kommunikation. 952 Kerckhove, Vom Alphabet zum Computer, S.-163. 953 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, S.-92ff. umgekehrt ebenso, bspw. durch Einübung von Reaktionsabläufen beim Spielen von Computerspielen. 948 Bei McLuhan selbst tritt der Computer vor allem in Form einer Art allumfassender Überwachungsinstanz auf: Der Computer kann die Befind‐ lichkeit unterschiedlicher Kulturen ‚berechnen‘ und reguliert so die Auf‐ rechterhaltung der Sinnesharmonie bzw. der emotionalen Stabilität der Menschen. 949 An dieser Stelle geht de Kerckhove sehr viel weiter und stellt die Medientheorie, wie Friedrich Kittler anmerkt, mit dem Aufkommen des Computers generell dezidiert auf „neurophysiologische Grundlagen um“. 950 Medien haben demzufolge nicht nur Einfluss auf kommunikative Prozesse oder Wahrnehmungsweisen, sondern modulieren ganz konkret die Neurophysiognomie. Um diese These zu untermauern, greift de Kerckhove auf ein weiteres Konzept McLuhans zurück. McLuhan unterscheidet die Operationsweisen der linken und der rechten Gehirnhemisphären. Die erste ist vorrangig für analytische und logische Vorgänge zuständig, letztere für synthetisierende und intuitive Prozesse. Nach McLuhans Auffassung - und de Kerckhove folgt ihm hier - stimuliert die alphabetische Schrift vor allem die linke Ge‐ hirnhemisphäre, während die elektrischen Medien wie Radio und Fernsehen vor allem die rechte ansprechen. 951 Dementsprechend können wir Kulturen, in denen vor allem gelesen wird, von denen, wo man vor allem Fernsehen schaut, klar unterscheiden: Es bilden sich je unterschiedliche Denk- und Gefühlswelten aus. De Kerckhove geht hier weiter als McLuhan: Mit dem Computer haben wir nämlich nun aus seiner Sicht zum allerersten Mal in der Kulturge‐ schichte ein Medium, das beide Prinzipien synthetisieren kann. Der Com‐ puter ist die „endgültige Versöhnung zwischen der Herrschaft der Schrift und der der Elektrizität.“ 952 Die Versöhnungsmöglichkeit, die McLuhan selbst vor allem auf das Fernsehen projiziert hatte, 953 wird also von de Kerckhove auf den Computer übertragen, sieht er doch im Gegensatz zu McLuhan die Gefahr des Fernsehens darin, dass die rechten Gehirnhemisphäre überbetont 4.3 McLuhan und die Forschung 349 <?page no="350"?> 954 Siehe bspw. sehr deutlich: Kerckhove, Vom Alphabet zum Computer, S.-137f. 955 Ebd. 956 Ebd., S.-163. 957 Kittler, Nachwort, S.-200. 958 Siehe dazu bereits: Miller, McLuhan, S.-24ff. 959 Siehe ausführlicher dazu: → 2. Lesart: Hermeneutik, These 3, Kap. „Heiße und kalte Medien“. 960 Zur kritischen Diskussion dieser Unterscheidung siehe: Schröter, Von Heiß/ Kalt zu Analog/ Digital. 961 McLuhan, Magische Kanäle, S.-30. wird. Die Folge ist: Wir werden unserer Fähigkeit sowohl zur Kritik als auch zur Ausbildung von Individualität beraubt. 954 So ergibt sich bei dem Schüler McLuhans in der kulturgeschichtlichen Bewegung vom „Alphabet zum Computer“, 955 wie der Untertitel eines seiner bekanntesten Bücher heißt, eine dialektisch-synthetische Mediengeschichte: Das Alphabet modulierte das Gehirn in Richtung Abstraktion und Rationalität, die elektronischen Medien brachten dann im Gegenzug die Intuition und die Fähigkeit zur Zusammenhänge herzustellen zurück. Mit dem Aufkommen der digitalen Codierung des Computers besteht nun die Chance, beides in eine „endgültige […] Versöhnung“ 956 zu bringen. Zum einen gelingt es de Kerckhove damit, „McLuhans Medientheorie, deren aktuelles Paradigma ja Fernsehen hieß, in die Gegenwart und das heißt, bis zum Universalmedium Computer fortzuschreiben.“ 957 Zum an‐ deren aktualisiert McLuhans Schüler ein Konzept, das in der Rezeption McLuhans zuvor kaum eine Rolle spielte und wenn, dann zumeist kritisch beurteilt wurde. 958 (3) Pragmatische Verwendung des Internets (Mike Sandbothe) McLuhans Unterscheidung von heißen und kalten Medien wird unter ande‐ rem von Mike Sandbothe aufgegriffen und pragmatisch gewendet. 959 Diese Aktualisierung möchte ich vor allem deshalb näher darstellen, weil hieran zu zeigen ist, wie die Gegenüberstellung von heißen und kalten Medien trotz vieler Schelte, die McLuhan dafür einstecken musste, 960 fruchtbar gemacht werden kann. McLuhan unterscheidet kalte und heiße Medien wie folgt: Heiße Medien stimulieren einen Sinn, sind detailreich und verlangen nur ein „geringes Maß an persönlicher Beteiligung“. 961 Dagegen regen kalte Medien mehrere Sinne an, sind dabei detailarm und verlangen dementsprechend ein hohes 350 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="351"?> 962 Dass diese Gegenüberstellung bereits bei McLuhan sehr viel dynamischer gedacht ist als Sandbothe interpretiert, siehe dazu → 2. Lesart: Hermeneutik, These 3, Kap. „Heiße und kalte Medien“. 963 Mike Sandbothe, Pragmatische Medienphilosophie, S. 158 (Hervorhebung von mir [SG]). Maß an persönlicher Beteiligung. D.h.: Die Rezipient: innen müssen das Wahrgenommene selbst vervollständigen, um es zu verstehen. So ist etwa die Schrift im Sinne McLuhans ein heißes Medium, weil sie nur einen Sinn stimuliert (das Sehen) und detailreich ist (diskrete, klar voneinander zu unterscheidende Zeichen). Zudem ist kaum eine Ergänzung nötig, um zu verstehen, was bezeichnet werden soll, wenn man die Folge B A U M liest (vorausgesetzt freilich, man hat die deutsche Sprache gelernt). Ein kaltes Medium hingegen ist im Sinne McLuhans bspw. ein Cartoonfilm. Dieser spricht mehrere Sinne an (Sehen und Hören), ist detailarm und verlangt so nach aktiver Beteiligung der Rezipient: innen. Bspw. sind nur abstrakte Strichmännchen zu erkennen, die imaginativ mit spezifischen Eigenschaften ‚vervollständigt‘ werden müssen. Jedoch dürfte bereits an diesem einfachen Beispiel klar werden, dass die Unterscheidung von kalten und heißen Medien durchaus problema‐ tisch ist. Denn: Nicht jeder Cartoonfilm ist per se detailarm. Es kommt eher darauf an, welcher Zeichenstil verwendet wird. Genau aus diesem Grund wendet Sandbothe die Unterscheidung McLuhans in pragmatischer Weise, was zunächst einmal heißt, er lockert die statisch erscheinende, essentialistisch fundierte Gegenüberstellung von Medien. 962 Er schreibt: „‚Kühl‘ und ‚heiß‘ bezeichnen vielmehr Mediennutzungsstile, die sich […] innerhalb unterschiedlicher technischer und kultureller Konstellationen auf je spezifische Weise realisieren.“ 963 Der Cartoonfilm, die Schrift oder auch das Fernsehen sind dann nicht an und für sich heiß oder kalt, sondern je nachdem, in welcher Weise sie genutzt werden bzw. welche Nutzungspraxis sich historisch etabliert hat, habitualisiert wurde und in welchem Verhältnis das jeweilige Medium zu anderen Medien steht. Ein Medium ist nicht von sich aus kühl oder heiß, sondern immer in Relation zu einem anderen Medium. Eine explizit pragmatische Wendung erfährt dieser Aspekt, wenn man sich klarmacht, daß die Relation zwischen zwei oder mehreren Medien erst von einer Gemeinschaft der Mediennutzer hergestellt wird. Die Nutzerinnen und Nutzer konstruieren durch sozial habitualisierte Weisen des Mediengebrauchs das, was ein Medium (in Relation zu einem anderen Medium) 4.3 McLuhan und die Forschung 351 <?page no="352"?> 964 Ebd., S.-162f. 965 Ebd. S.-167. 966 MUD ist die Abkürzung für Multi User Dungeon. Es handelt sich dabei um ein (zumeist textbasiertes) Rollenspiel, das von mehreren Spieler: innen simultan an miteinander vernetzten Computern gespielt wird. 967 Sandbothe, Pragmatische Medienphilosophie, S.-178f. jeweils ist. Medien sind aus dieser gebrauchsorientierten Sicht […] als soziale Konstruktionen zu verstehen. 964 Jedoch gibt es auch aus Sandbothes Sicht unterschiedliche technische und materielle Eigenschaften von Medien, die aufgrund dieser Charakteristika bestimmte Nutzungsweisen zumindest nahelegen. In diesem Zusammen‐ hang interessiert sich Sandbothe vor allem für das Internet. Dieses ist für ihn von besonderer Bedeutung, weil „es bereits auf der technischen Ebene transmedial verfaßt“ 965 ist. D.h.: Auf Grundlage der technischen Struktur kann das Internet erstens unterschiedliche mediale Eigenschaften vorher‐ gehender Medien annehmen bzw. simulieren (man kann dort schreiben, einen Film sehen, sich Cartoons anschauen, spielen, telefonieren etc.). Genau mit dieser Eigenschaft ist es zweitens auch besonders geeignet zur Aus‐ bildung unterschiedlicher Nutzungsstile. So macht Sandbothe folgerichtig heißere und kältere Nutzungsoptionen und -praktiken im Internet aus. Am Beispiel heißer und kalter Nutzungsoptionen kollektiv und simultan gespielter Computerspiele, sogenannter MUD’s, verdeutlicht er dies. 966 Der eine Rezeptionstypus gibt sich den im MUD gebotenen Simulationen und sinnlichen Effekten einfach passiv hin. Diese Rezeptionsweise steht in Tradition einer heißen Rezeption des Fernsehens. Ein so gearteter ‚User‘ versucht nicht, die Welt der medialen Simulakren auf die nichtmediale Realität hin zu durchbrechen, sondern sein Ziel ist es, Teil der Welt der Simulakren zu werden. Er nutzt das MUD als eine Möglichkeit, um mit Hilfe des Internet in die simulatorische Logik des Fernsehens als Akteur einzusteigen, das heißt, wie ein Schauspieler im simulierten Raum des Mediums zu agieren bzw. Aktion zu simulieren. Tatsächlich sind es häufig die imaginären Welten von Fernsehsen‐ dungen, von denen die Räume, Rollen und Handlungskontexte von MUDs geprägt sind. So ist beispielsweise das Szenario von Star Trek eines der beliebtesten MUD-Motive. 967 Wie vor ihm McLuhan beurteilt Sandbothe solch eine heiße Rezeption negativ. Diese Rezipient: innen sind passiv, lassen sich berieseln und flüchten 352 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="353"?> 968 Ebd., S.-179. 969 Ebd., S.-190. 970 Ebd., S.-192. vor der Realität. Die couch potato lässt grüßen. Sehr viel interessanter findet Sandbothe den kühlen Rezeptionstypus, der sich bei diesen Spielen ebenfalls ausmachen lässt: Ein anderer MUD-Nutzungsstil ergibt sich, wenn das MUD aus der Perspektive der Fernsehsozialisation erfahren wird, für die das Fernsehen nicht als in sich geschlossene Simulationsmaschine, sondern als mediale Kontaktstelle zur realen Welt fungiert. […] Das Augenmerk dieses kühlen Nutzertyps liegt nicht auf der Teilhabe an der Simulation, sondern auf der Funktionalisierung der virtuellen Gemeinschaft zur Bildung von realen Gemeinschaften. 968 Dieser kühle Nutzungsstil, der vor allem kühl zu nennen ist, weil er eine aktive Teilnahme erfordert, präferiert Sandbothe nicht nur. Er gibt ihm zudem eine pragmatische Wendung: Das MUD - oder allgemeiner: das Internet soll aus dieser Sicht als Instrument für „Kooperation und Durchfüh‐ rung gemeinsamer sozialer Handlungen eingesetzt“ 969 werden. Das Internet eignet sich besonders gut dafür, nicht nur, weil es transmedial angelegt ist, sondern weil dabei - im Gegensatz zu den traditionellen Massenmedien - ein synchroner Austausch möglich ist: Handlungen können unmittelbare Reaktionen bei den Rezipient: innen auslösen, die wiederum an den Senden‐ den übermittelt werden können, dessen Handlungen wiederum auf diese Reaktionen reagieren usw. Das Internet ist aus dieser pragmatischen Sicht Sandbothes eine Art Trai‐ ningslager für gemeinsames soziales Handeln und damit ebenfalls dienlich für die praktische Einübung einer bestimmten philosophischen Position, die besagt: Kommunikation stellt Realität zuallererst her, verändert sie und hat also Konsequenzen für die und in der Realität. „Das Besondere liegt darin, daß durch das Web die pragmatische Dimension unseres Zeichengebrauchs durch die unmittelbare Antwort […] explizit und bewußtgemacht wird.“ 970 Das ist eine der fundamentalen Grundlagen pragmatischer Philosophie: Es wird nicht danach gefragt, ob Zeichen Realität abbilden, sondern wie sie nutzbar gemacht werden können, um (soziale) Realität herzustellen. Da das Internet, laut Sandbothe, besonders geeignet ist, dies zu veranschaulichen und vor allem ein nützliches Werkzeug darstellt, kooperative Praktiken konkret umzusetzen, sollte auch der kühle Rezeptionsmodus, der mit dem 4.3 McLuhan und die Forschung 353 <?page no="354"?> 971 Ebd., S.-167. 972 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. 973 Siebe McLuhan, Magische Kanäle, S.-472. 974 Mit HDTV sind die Bilder sogar mitunter ‚zu scharf ‘ und zeigen ‚unerbittlich‘ alle möglichen Details (etwa von Gesichtsunreinheiten), so dass Unschärfefilter für die Ausstrahlung verwendet oder Bildbereiche automatisch mit Hautton-Elementen über‐ lagert werden. Siehe bspw.: Catherin Elsworth, Are they ready for a high-definition close-up? [03.12.2005], in: The Telegraph, Online zugänglich unter: https: / / www.te legraph.co.uk/ news/ worldnews/ northamerica/ usa/ 1504650/ Are-they-ready-for-a-high -definition-close-up.html [12.09.24]. Auch diese Instrumente zur Unschärfeherstellung lassen sich ausgehend von McLuhans Perspektive auf Taktilität näher betrachten. Doch Internet möglich ist, auf allen möglichen Ebenen unterstützt werden (sei es mittels didaktischer, rechtlicher, philosophischer oder eben auch medien‐ technischer Praktiken). Hier wird also McLuhans Gegenüberstellung heißer und kalter Medien einer „pragmatischen Reinterpretation“ 971 unterzogen, um sie für einen ‚klugen‘ Umgang mit dem Internet nutzbar zu machen. (4) Digitale Taktilität Laut McLuhan ist das Fernsehbild eine Ausweitung des taktilen Sinns. Die technische Besonderheit des Televisuellen besteht darin, ein Mosaikbild aus elektrisch erzeugten Lichtpunkten bereitzustellen, die in der Rezeption aktiv zusammengesetzt werden müssen. Initiiert wird so ein harmonisches Wech‐ selspiel der Sinne und der Imagination. Dieser Vorgang ist mit McLuhan als taktile Stimulation der Sinne zu charakterisieren. 972 Auch jenseits des analogen Fernsehens ist solch eine Perspektive adaptierbar, insbesondere zur Beschreibung für digitale Phänomene im Kontext gegenwärtiger Com‐ putertechnologie. (Mosaik-)Ästhetik armer Bilder Das gilt zuvorderst auf ästhetischer Ebene. Nach McLuhan ist ein ‚echtes‘ Fernsehbild nur eines, das eine schlechte Auflösung hat, weil nur dadurch das Wechselspiel der Sinne und der Imagination aktiviert wird. ‚Besseres Fernsehen‘, also Fernsehen mit scharfer Auflösung, ist kein Fernsehen. 973 Da wohl nur noch die allerwenigstens Fernsehapparate im digitalen Zeit‐ alter von High Definition Television (HDTV) und Plasmafernsehen eine schlechte Auflösung bieten, 974 lässt sich die Frage stellen: Finden sich solche (Fernseh-)Bilder heute noch, im Zeitalter digitaler Medien, und wenn ja, 354 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="355"?> soll hier der Einfachheit halber und zugunsten anschaulicher, klarer Differenzen diese Option nicht weiter verfolgt werden. 975 Auch bei Handydisplays finden sich solche Probleme immer noch, siehe bspw. dazu anschaulich: Mark Rejhon, Why Do Some OLEDs Have Motion Blur? [28.12.18], Online zugänglich unter: https: / / blurbusters.com/ faq/ oled-motion-blur/ [15.09.24]. wo? Positive Antworten darauf gibt es durchaus: Sie finden sie einerseits punktuell beim hochauflösenden Fernsehen, gibt es doch auf dessen Bild‐ schirmen trotz aller Hochauflösung Phänomene das sogenannte display motion blur. Damit sind Bildanomalien und -störungen bezeichnet, die Unschärfen erzeugen, etwa durch langsame Pixelreaktionszeit, als Effekt der Verfolgung sich schnell bewegender Objekte oder auch hervorgerufen durch die Anpassungsnotwendigkeit an diverse Bildschirmformate. 975 Anderseits - und entscheidender - lassen sich viele im ‚Netz‘ zirkulierende Bildfor‐ men und -formate ausfindig machen, die unscharf oder gekörnt auf den Bildschirmen in Erscheinung treten. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die häufig schlechte Auflösung komprimierter, rekombinierter oder neuformatierter Memes oder GIFs (vgl. Abb. 45a-b). Abb. 45a-b: ‚Arme Bilder‘ im Netz Hito Steyerl nennt solch visuelle Formen arme Bilder. Diese beschreibt sie wie folgt: The poor image is a copy in motion. Its quality is bad, its resolution substandard. As it accelerates, it deteriorates. It is a ghost of an image, a preview, a thumbnail, an errant idea, an itinerant image distributed for free, squeezed through slow digital connections, compressed, reproduced, ripped, remixed, as well as copied and pasted into other channels of distribution. […] Poor images are the contem‐ 4.3 McLuhan und die Forschung 355 <?page no="356"?> 976 Hito Steyerl, In Defense of the Poor Image, in: dies., The Wretched of the Screen, Berlin 2012, S.-31-45, hier: S.-32. 977 Hierzu ließen sich ebenso all die ästhetischen Strategien anführen, die trotz und entgegen allen technischen Entwicklungen zur immer besseren Auflösung von Bildern zuhauf im ‚Netz‘ zu finden sind. Damit soll mit Bilder voller Störungen, schlechter Auflösung aufgrund diverser Scanprozesse, amateurhaften Comiczeichnungen mit wenigen Strichen, ein bestimmter Stil kreiert, der auf Ausweis von Authentizität und/ oder Subversion abzielt. Siehe dazu bereits: Nick Douglas, It’s Supposed to Look Like Shit: The Internet Ugly Aesthetic, in: Journal of Visual Culture 13/ 3 (2014), S. 314-339. 978 Siehe etwa: Benjamin Beil, Die Sehnsucht nach dem Pixelklumpen. Retro-Gaming und das populärkulturelle Gedächtnis des Computerspiels, in: Marcus S. Kleiner/ Thomas Wilke (Hg.), Performativität und Medialität populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken. Wiesbaden 2012, S. 319−335; knapp auch: Dominik Schrey, Analoge Nostal‐ gie in der digitalen Medienkultur, Berlin 2017, S.-28f. Abb. 46: Digital generierte Nostalgie-Mosaik‐ bilder porary Wretched of the Screen, the debris of audiovisual production, the trash that washes up on the digital economies‘ shores. 976 Im Sinne McLuhans könnte man all diese ‚gequetschten, kompri‐ mierten, gerippten, vermischten Copy-and-Paste-Bilder‘ dem Typus der taktilen Bilder zuordnen, da sie durch die Unschärfen und/ oder ihre gekörnte Pixelstruktur als Er‐ ben oder Wiederkunft der Fernseh‐ bilder in schlechter Auflösung zu verstehen sind. 977 Ähnliches ließe sich für diverse Bilder behaupten, die mit Raster- oder Vektorgrafiken erstellt sind. Deren körnige Pixe‐ lästhetik erinnern an Frühformen von Computergrafiken, insbeson‐ dere generiert für Videospiele - eine Pixelästhetik, die inzwischen häufig als solche nostalgisch verklärend ausgestellt wird (vgl. Abb. 46). 978 Eines der erfolgreichsten Computerspiele der letzten Jahre, M IN E - C R A F T , nimmt die Mosaikstruktur, die nach McLuhan das Fernsehbild aus‐ zeichnen soll, besonders ernst. In der frei begehbaren Welt dieses Sand‐ box-Spiels erbauen Spieler: innen aus zumeist würfelförmigen Elementen Landschaften und Gebäude. Die Grafikoberfläche von M IN E C R AF T hat sich seit der Erstversion von 2014 kaum verändert. Sie besteht aus aneinan‐ 356 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="357"?> 979 Michael St. Clair, Videogames in the White Cube, in: Nates Garrelts (Hg.), Understan‐ ding Minecraft. Essays on Play, Community and Possibilities, Jefferson 2014, S. 160 -174, hier: S. 165. Clair diskutiert die Ästhetik von M I N E C R A F T in diesem Text vor dem Hintergrund klassisch avantgardistischer Kunstbewegungen, bspw. dem Kubismus (siehe: ebd., S.-164ff.). dergefügten, diskreten Quader-Elemente in „low-performance graphics“ 979 (vgl. Abb. 47a). Auch dies lässt sich durch McLuhans televisuelle Linse betrachten: Die Grafikoberfläche hat eine Mosaikstruktur. Es handelt sich dementsprechend um taktile Bildformationen, die die Sinne und die Imagi‐ nation im digitalen Zeitalter in ein harmonisches Wechselspiel bringen - während man selbst, mittels händischer Eingabe taktile Manipulationen der Grafikoberfläche vornimmt, um neue Welten zu bauen (vgl. Abb. 47b). Abb. 47a-b: Playing Minecraft Mosaics Virtueller Kubismus auf dem Display Anne Friedberg zeichnet in ihrem Buch T H E V I R TUAL W INDOW . F R OM A L B E R TI T O M IC R O S O F T nach, wie im Laufe der Medien(bilder)geschichte die Dominanz der zentralperspektivischen Darstellung ausgehend von der Renaissance etabliert wurde und bis in die Moderne hinein dominant war. Nach Experimenten mit Split Screens in Film und Fernsehen wurde diese Vorherrschaft indes unterwandert und letztlich in der Anordnung virtueller Fenster auf dem Computerdisplay aufgehoben: „The computer ‚window‘ shifts its metaphoric hold from the singular frame of perspective to the multiplicity of windows within windows, frames within frames, 4.3 McLuhan und die Forschung 357 <?page no="358"?> 980 Anne Friedberg, The Virtual Window. From Alberti to Microsoft, Cambridge 2006, S. 1f. Im direkten Anschluss daran heißt es deutlich: „Perspective may have met its end on the computer desktop.“ (Ebd., S.-2) 981 Ebd., S.-3. 982 Ebd. 983 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. 984 Friedberg geht ebenfalls kurz auf McLuhans These von der Auflösung der Zentralper‐ spektive durch Bild(schirm)medien ein, wenn sie schreibt : „[McLuhan] targets the shift from a fixed perspectival vantage to a multiple viewpoint, which could equally describe the use of multiple-screen projection […].“ (Friedberg, Virtual Window, S.-210) Abb. 48: Kubistische Landschaft auf einem digitalen Bildschirm screens within screens.“ 980 Weiter schreibt Friedberg: „[O]nly in the last two decades-markedly with the advent of digital imaging technologies and new technologies of display-did the media ‚window‘ began to include multiple perspectives within a single frame.“ 981 Zwar gibt es laut der Autorin im digitalen Zeitalter immer noch viele Bildgestaltungen, die einen perspekti‐ vischen Raum etablieren (etwa digitale Simulation von 3d-Perspektiven), nichtsdestotrotz hat der „vernacular ‚space‘ of the computer screen […] more in common with the surface of cubism - frontality, suppression of depth, overlapping layers - than with the extended depth of Renaissance perspective.“ 982 Entscheidend daran sind zwei As‐ pekte. Erstens finden sich auf dem Computerdisplay viele ‚Fenster‘, die geöffnet sind oder zumindest geöffnet werden könnten, die sich überlappen und somit eben nicht mehr den Eindruck eines übergreif‐ enden zentralperspektivischen Tie‐ fenraums vermitteln (vgl. Abb. 48). Zweitens vergleicht Friedberg diese Anordnung mit kubistischen Bildanordnungen. Bereits McLuhan hat immer wieder anhand kubistischer Gemälde beschrieben, wie dabei ein Wechselspiel zwischen Grund und Form in Szene gesetzt wird. 983 Damit ist laut McLuhan eine taktile Rezeption solcher Bilder nahegelegt, weil die einzelnen Elemente sich überlagern, in Widerspruch zueinander geraten und unentscheidbar bleibt, was den Vorder-, was den Hintergrund bildet. So soll das Wechselspiel der Sinne in besonderer Weise aktiviert werden. 984 Aus dieser Perspektive sind nicht nur ‚arme‘ Bilder taktil, sondern ebenso gängige Anordnungsmodus auf 358 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="359"?> 985 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. 986 Das ist ganz im Sinne McLuhans gedacht. Denn dieser macht sich nicht nur Gedanken über die taktile Mosaikstruktur der Fernsehapparate, sondern auch über die Abtastun‐ gen des Bildschirms durch elektrische Lichtimpulse bei der Ausstrahlung sowie der Abtastung der Dinge bereits bei der Aufnahme. Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. 987 Genau besehen trifft dies auf das Fernsehen nicht ganz zu. Immer schon gab es eine Taste, die zum Ein- und Ausschalten betätigt werden musste. Mit der Einführung der Fernbedienung für das Fernsehen wird das Tastendrücken zudem während der Tätigkeit des Fernsehens wichtig, siehe dazu: Engell, Schaltbild, S. 219ff. Überhaupt ließe sich auf die vielfältigen Einsatzoptionen und omnipräsenten Verwendungen der Taste spätestens seit der Erfindung des Telegrafen verweisen. Sie alle stehen - durch die Notwendigkeit, eine Taste drücken zu müssen - in Zusammenhang mit haptischen Tätigkeiten und also mit taktilen Phänomenen. Siehe dazu bspw.: Heilmann, Digitalität als Taktilität, S. 132ff.; ausführlicher: Matthias Bickenbach, Knopfdruck und Auswahl. Zur taktilen Bildung technischer Medien, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 117 (2000), S.-9-32. 988 Siehe: McLuhan, Medium ist Massage. Computerbildschirmen. Dieser lässt sich im Sinne McLuhans als kubistische ‚Bildlandschaft‘ lesen, die taktile Wahrnehmungen stimuliert. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang auch an Handydisplays, die allein schon durch die Gruppierung unterschiedlicher Apps virtuelle Fenster anbieten. Diese überlappen sich gemeinhin zwar nicht, können aber (parallel) geöffnet und bearbeitet werden. McLuhans Taktilität und Tasten auf dem Display Geht es in den genannten Fällen um das Taktile als einer Art Meta-Sinn, der das Wechselspiel der Sinne durch eine bestimmte visuelle Konfiguration auf den Bildschirmen auslöst, 985 so sollen im Folgenden Überlegungen zur Taktilität in einem sehr viel materielleren Sinne vorgestellt werden. 986 Fernsehbildschirme, über die McLuhan schrieb, wurden gemeinhin noch nicht mit den Fingern berührt. Dies trifft auf den Umgang mit heutigen Displays ganz sicher nicht mehr zu. 987 Insbesondere für das Handy gilt: Der Touchscreen ist die Normalform. Ständig drücken, wischen, scrollen wir. In die vermeintlich immateriellen digitalen Datenströme kehrt somit das Haptische zumindest als Steuerungs- und Operationselement zurück. Matthias Bickenbach beschreibt dies mit Bezug auf McLuhans Aussage, dass Medien uns massieren, 988 sehr schön mit einer Inversionsfigur: „Unsere Geräte werden ständig gestreichelt, hätte McLuhan schreiben können in 4.3 McLuhan und die Forschung 359 <?page no="360"?> 989 Bickenbach, Knopfdruck und Auswahl, S.-12. 990 Siehe dazu bspw. (mit vielen Referenzen auf Forschungsliteratur zu diesem Phänomen): Rebekka Ladewig/ Henning Schmidgen, Symmetries of Touch: Reconsidering Tactility in the Age of Ubiquitous Computing, in: Body & Society 28 (2022), S.-3-23, hier: S.-14. 991 Zum Konzept der Affordanz siehe ausführlicher: Charlotte Knorr, Soziale Affordanzen der Thematisierung auf Medienplattformen. Vom Kennen über das Können zum Wollen bei der Setzung und Gestaltung von Themen, Wiesbaden 2022, S.-69ff. 992 Shirin Weigelt schreibt ganz in diesem Sinne: „Die visuelle Anzeige - ein farblich abgehobenes Eingabefenster oder ein fett gedruckter Link - wird dank Grafikdesign haptisch. Sie verweist dadurch auf die Reaktivität des digitalen agencements [- und damit] auf taktile Interaktion. Hier darf geklickt werden, da musst du drüberwischen, jetzt Taste drücken.“ (Shirin Weigelt, Tasten. Taktilität als Paradigma des Digitalen, in: Rainer Mühlhoff u. a. [Hg.], Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft, Bielefeld 2019, S.-111-128, hier: S.-117) Umkehrung seines eigenen Satzes.“ 989 Die Medien ‚massieren‘ also nicht mehr nur unsere Sinne, sondern wir ‚massieren‘ die Medien nunmehr ebenfalls ständig und überall. Es ließe sich mit einer weiteren Schlaufe versehen formulieren: Indem wir die Medien ‚massieren‘, ‚massieren‘ wir uns durch die Berührung der Medien selbst. Denn eine Besonderheit des sinnlichen Berührens besteht ja darin, dass das Berühren von etwas immer auch gleichzeitig und unvermeidlich bedeutet, berührt zu werden. 990 Solch eine taktile Tätigkeit wird vom medialen Interfacedesign unter‐ stützt, ja, scheint eine zentrale Affordanz digitalen Medien darzustellen: 991 Sie fordern uns ständig dazu auf, sie in einer bestimmten Weise zu gebrau‐ chen, genauer: zu berühren. In vielfachen Formen und mithilfe diverser Symbole appelliert das Interface an uns: ‚Drücke mich! ‘ ‚Wische mich! ‘ ‚Scrolle mich! ‘ ‚Like mich! ‘ ‚Vernetze mich! ‘ (vgl. Abb. 49). 992 360 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="361"?> Abb. 49: Affordanz auf dem TikTok-Interface im Kontext der Wednesday Dance Chal‐ lenge: ‚Folge mir, drücke mich, like mich, antworte mir und tanz mit mir! ‘ Bilder werden durch Klicken, Drücken, Wi‐ schen, Scrollen ganz buchstäblich taktil, er‐ scheinen sie doch erst aufgrund dieser taktilen Operationen. Genauer noch: Ein Wechselspiel wird etabliert aus dem Maschinen-Appell, Bil‐ der zu berühren, und durch Berührung der User: innen, wodurch neue/ andere Bilder aufge‐ rufen, hergestellt, verbunden werden, die wie‐ derum an uns appellieren, sie zu berühren usf. Wie lässt sich diese Wechselspiel im Sinne McLuhans weiter ausdeuten? Mindestens drei Optionen scheinen mir naheliegend und sollen im Folgenden kurz skizziert werden. 1. Option: Wisch-Mosaike Es ließe sich argumentieren, dass McLuhans Mosaikbilder des Fernsehens nicht nur in die ‚armen Bilder‘ ausgewandert sind, die in digita‐ len Netzwerken zirkulieren. Mit Blick auf die Fingertätigkeiten des Wischens oder Scrollens auf den Displays lässt sich darüber hinaus for‐ mulieren: Bilder werden wie Mosaike ins Ver‐ hältnis zueinander gesetzt. Eine Art vertikal wi‐ schende Montage entsteht zwischen den Bildern durch Wischen und Drücken. Die Bilder sind zwar erst einmal distinkte Einheiten, werden aber durch die Rezeptionstä‐ tigkeit aktiv so ins Verhältnis zueinander gesetzt, dass genau der Effekt ent‐ steht, den McLuhan mit Blick auf die Mosaikbilder des Fernsehens be‐ schreibt: Aufgrund taktil-haptischer Gesten wird nunmehr die Wahrnehmungsmodalität des (Meta-)Taktilen, das aktivierende Wechsel‐ spiel zwischen unterschiedlichen Sinne und der Imagination, erzeugt und immer wieder neu hergestellt. Kurz: Affektiv werden wir berührt aufgrund haptischer Berührungen und umgekehrt. 4.3 McLuhan und die Forschung 361 <?page no="362"?> 993 Siehe dazu ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. 994 Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 4 2020. 995 Ebd., S.-282. 996 Ebd., S.-284. 997 Ebd., S.-288. 998 Ebd., S.-289. 999 Ebd., S.-312. 1000 Ebd. 2. Option: Taktile Resonanz und Weltbeziehung Mit McLuhan lässt sich das, was bei den Mosaikbildern des Fernsehen erzeugt wird, auch als resonierendes Intervallgeschehen beschreiben. 993 Das Bild entsteht dort aus wechselnden, ‚flimmernden‘ Bildpunkten, damit in Intervallen, die miteinander in Wechselbeziehung stehen, also resonieren, womit ein Wechselspiel der Sinne während des Rezeptionsaktes ausgelöst wird. Für den Fall haptischer Digitalmedien ließe sich diese resonierende Konstellation neu justieren: Durch die Berührung des Displays wird eine maschinelle Reaktion initiiert (etwa das Erscheinen eines neuen Bildes). Das Display wiederum appelliert durch unterschiedliche Grafikelemente an seine Nutzer: innen, es zu berühren. Damit sind einerseits resonierende In‐ tervalle zwischen den einzelnen Bilder erzeugt, wie weiter oben beschrieben, und anderseits zwischen Display und Nuzter: innen, denn diese beeinflussen (‚berühren‘) sich im zeitlichen Verlauf wechselseitig. Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt in seiner voluminösen Monogra‐ fie R E S O NANZ eine, wie es im Untertitel heißt, S OZIO L O GI E D E R W E LTB E ZI E ‐ HUN G . 994 Laut Rosa liegt Resonanz genau dann vor, wenn zwei Körper „auf die Schwingungsimpulse des jeweils anderen“ reagieren oder „‚antworten‘“ und zwar in einer Weise, dass „die Schwingungen eines Körpers die Eigen‐ frequenz des anderen anregt.“ 995 „Resonanzbildung“ wird im Zuge dessen ebenfalls in taktilem Vokabular beschrieben, nämlich als „wechselseitiges ‚Berühren und Berührtwerden‘“. 996 Weiter formuliert Rosa: „Resonanz ist […] ein Beziehungsmodus“, 997 der potenziell transformativ auf unsere Wahrneh‐ mung und unseren Zugang zur Welt wirken kann. Man erfährt dabei, so der Soziologie emphatisch, die Welt bzw. „ein Weltsegment als responsiv“, unter anderem mittels „ästhetischer Erfahrungen“. 998 Diese Resonanzbeziehungen sollen laut Rosa indes für unsere „Bild‐ schirmbeziehungen“ 999 gerade nicht gelten. Diese Beziehungsform, so kon‐ statiert der Soziologe apodiktisch, birgt „per se ein Entfremdungspoten‐ tial“. 1000 Auf die Gefahr hin allzu technologieenthusiastisch zu klingen, 362 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="363"?> 1001 Zumindest lässt Rosa solch eine Option ebenfalls zu, wenngleich er skeptisch gegenüber solch einer Realisierung bleibt: „Es scheint mit sehr unwahrscheinlich, dass auf diese Weise [also durch haptische Betätigungen von Smartphones] eine transformative Welt‐ beziehung entstehen kann, wenngleich es keinen Grund gibt [! ], dies auszuschließen.“ (Ebd., S.-497) 1002 Heilmann, Digitalität als Taktilität, S.-24. 1003 McLuhan, Magische Kanäle, S.-179 1004 Ebd., S.-177. 1005 Ebd., S.-169. könnte mit McLuhan dagegen argumentiert werden, dass die beschriebene taktile Resonanzbeziehung zwischen Nutzer: in und Display solch eine Weltbeziehung, wie sie Rosa skizziert, gerade nicht negiert, sondern immer wieder neu initiiert und auf Dauer stellt. Ob das nun als Kompensation bzw. Abschattung ‚echter‘ Resonanzbeziehungen mit der Welt bzw. anderen zu deuten ist, als besonders perfide Strategie des digitalen Kapitalismus, uns an Plattformen zu binden oder aber als technologisch Einschreibung, Verfesti‐ gung und Ausweitung solcher Weltbeziehungen, sei einmal dahingestellt. Wichtiger erscheint mir, dass die resonierende Verschaltung von Medien‐ technologie und Menschen hier mit McLuhan nicht per se als Entfremdung von der Welt oder gar deren Negation verstanden werden muss, sondern als eine spezifische Form ihrer technologischen Ausgestaltung. 1001 3. Option: Vom Zählen mit Fingern zur technischen Digitalisierung und zurück Von McLuhan ausgehend lässt sich eine sehr besondere Mediengeschichte der Taktilität erzählen, die über Jahrtausende reicht und in die die technische Digitalisierung der letzten Dekaden zu integrieren ist. Diese Geschichte reicht von der Tätigkeit der Finger bis zum ‚Universalmedium‘ Computer - und zur Tätigkeit der Finger zurück. „Das Digitale ist“ damit, wie der Medienwissenschaftler Till Heilmann schreibt, „eine technische Teilmenge der technisch-ästhetischen Obermenge Taktilität.“ 1002 „Hände“ bilden nach McLuhan „schon lange vor der Technik des Al‐ phabets“ den Ausgangspunkt des Zählens - und dementsprechend der Zahlen. 1003 Das Abtasten der Finger führt zu einem „Zahlenbegriff “, 1004 der eine Ausweitung des taktilen Sinns darstellt. 1005 Durch diese Art des händischen Zählens werden „Ausschnitte aus der Welt in ein Verhältnis 4.3 McLuhan und die Forschung 363 <?page no="364"?> 1006 Weigelt, Tasten, S.-114. 1007 McLuhan führt für diese Form des Wechselspiels der Sinne und des Geistes ein recht sexistisches Beispiel an: „Nehmen wir 36 - 24 - 36 (Zoll). Zahlen können kaum noch sinnlicher den Tastsinn ansprechen, als wenn sie als magische Formel der weiblichen Figur gemurmelt werden, während die haptische Hand durch die Luft streicht.“ (McLuhan, Magische Kanäle, S.-172) 1008 Siehe: ebd., S. 170. Siehe dazu auch: Heilmann, Digitalität als Taktilität, S. 127. Zur Tradition dieser Taktilität siehe ausführlicher → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. 1009 McLuhan verwendet in diesem Zusammenhang die Zahl „als Beispiel für das Vermögen eines Mediums, sich in ein anderes zu verwandeln.“ (McLuhan, Magische Kanäle, S. 182) Siehe dazu und zum Folgenden: Heilmann, Digitalität als Taktilität, S.-129f. 1010 McLuhan, Magische Kanäle, S.-177. 1011 Ebd., S.-184. 1012 Siehe: ebd., S.-183f. 1013 Siehe dazu ausführlich → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. zueinander und zum menschlichen Körper sowie [zum] Geist“ 1006 gesetzt. 1007 Diese geschieht aufgrund der Gliederhaftigkeit der Finger in Form diskreter Einheiten, die eben deshalb zum Zählen und zur Zahl führen. Die Welt wird über den Weg der Finger zur Zahl begriffen. Die Zahl hat somit einerseits ihren Ausgangspunkt ganz konkret in der taktilen Wahrnehmung einer haptischen Tätigkeit. Anderseits wird in dieser Form des Zählens, durch den Abstand der einzelnen Zahlenelementen, die Verbindung von Visuellem (man sieht die Finger), Auditivem (man zählt laut) und Taktilem (man streicht über die Finger, berührt die abgezählten Dinge) und der damit einhergehenden Stimulation geistiger Operationen ein harmonisches Wechselspiel der Sinne hergestellt. Dies beschreibt McLuhan in Nachfolge antiker und mittelalterlicher Philosophie als die Etablierung eines sensus communis - eines übergeordneten Sinnes, der den Sinnen Sinn verleiht, was McLuhan dieser Tradition folgend als taktilen (Über-)Sinn versteht. 1008 Im Lauf der Mediengeschichte, mit der Etablierung der Schrift und insbe‐ sondere mit der Einführung des Buchdruckes, hat das Medium Zahl seine taktilen Komponenten laut McLuhan eingebüßt, 1009 wurde in den Bannkreis „visueller Abstraktion“ 1010 und die Operationslogik „unbegrenzte[r], aber stetige[r] und gleichförmige[r]“ 1011 Wiederholbarkeit hineingezogen. Folge‐ richtig hat sich in der Renaissance die Infinitesimalrechnung und die Zent‐ ralperspektive, deren Fluchtpunktlinien sich im Unendlichen schneiden, ausgebildet. 1012 Damit wurde der visuelle Sinn flächendeckend dominant und dementsprechend das Wechselspiel der Sinne massiv gestört. Durch die elektrischen Medien, allen voran mit dem Fernsehen, 1013 kehrt dann ein 364 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="365"?> 1014 Siehe dazu: Heilmann, Digitalität als Taktilität, S.-130. 1015 McLuhan, Magische Kanäle, S.-173. 1016 Heilmann, Digitalität als Taktilität, S.-129. 1017 Siehe zur Diskussion dieser Gegenüberstellung ausführlich: Jens Schröter (Hg.), Ana‐ log/ Digital - Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unter‐ scheidung, Bielefeld 2004. 1018 Siehe dazu bereits: Heilmann, Digitalität als Taktilität, S.-128. 1019 Vilém Flusser beschreibt eine ganz ähnliche Geschichte mit Rückgriff auf die Wort‐ herkunft des Digitalen vom lateinischen digitus, was Finger bedeutet (siehe dazu knapp: Weigelt, Tasten, S. 14). Zu dieser Wortherkunft und dem Bezug zur digitalen Computertechnologie siehe auch instruktiv: Heilmann, Digitalität als Taktilität, S. 128. Weltzugang zurück, der das harmonische Wechselspiel der Sinne wieder zu etablieren vermag. Der Computer fördert, folgt man McLuhan weiter, die Ausbildung eines taktilen Weltverhältnisses in einer sehr spezifischen Weise. Einerseits ge‐ schieht dies durch die Rückkehr des einfachen Zählens, genauer durch primitives Unterscheiden. 1014 Digitale Computertechnologie besteht in ein‐ fachen elektronischen Schaltzuständen, die - zumindest in der Form, die sich etabliert hat - binär codiert technisch operativ wurden. „‚Ja‘ und ‚Nein‘“ 1015 -Zustände regeln die gegenwärtige digitale Computertechnologie. Damit wird wieder Anschluss an die primitivste aller Unterscheidungen hergestellt und somit an die Grundlage des einfachen Zählens mit Fingern. Anderseits und wichtiger noch: Digitalcomputer fungieren „als multi‐ mediale Geräte […], welche die Basismedien Text, Bild und Ton durch zahlenhafte Codierung integrieren“. 1016 Sie können mittels Bild-, Text und -Tonausgaben unterschiedliche Sinne stimulieren und so das Wechselspiel der Sinne ihrer Nutzer: innen koordinieren. Dementsprechend ist auch und gerade der digitale Computer ein taktiles Medium. Da der taktile Weltzugang indes bereits mit den elektronischen Medien, wie dem Fernsehen, zurückgekehrt ist, stellt in dieser Mediengeschichte McLuhans die technische Digitalität nicht eine harte Zäsur zu vorhergeh‐ enden ‚anlogen‘ Medien dar, wie es oft beschrieben wurde und wird. 1017 Stattdessen ist die technische Digitalität in eine Geschichte der Taktilität ein‐ gebettet. 1018 Diese findet im Abzählen mit den Fingern ihren Ausgangspunkt, wird dann insbesondere mit dem Buchdruck zur Verlustgeschichte, die mit der Etablierung der elektronischen Medien zur Rückkehrgeschichte des Taktilen mutiert und durch Etablierung der digitalen Computertechnologie eine multisensorische Ausweitung wie Koordination erfährt. 1019 4.3 McLuhan und die Forschung 365 <?page no="366"?> 1020 Siehe dazu auch: Weigelt, Tasten. Dort heißt es bereits im Untertitel: „Taktilität als Paradigma des Digitalen“ (ebd.; Hervorhebung von mir [SG]). 1021 McLuhan, Magische Kanäle, S.-473. 1022 Überhaupt finden, folgt man McLuhan, im Zusammenhang mit dem Fernsehen unter‐ schiedliche Abtastungen statt: Wir werden durch die Lichtimpulse abgetastet, der Bildschirm wird permanent mit elektrischen Lichtpunkten abgetastet, die Objekte mit der Fernsehkamera und nicht zuletzt werden wir durch das elektrische Netz, das die ganzen Abtastungen durch Fernsehbildschirm- und -kameras verbindet, ins Verhältnis zueinander gesetzt. Siehe ausführlicher dazu → 2. Lesart: Hermeneutik, These 1. Der Kreis dieser Mediengeschichte scheint sich nunmehr wieder zu schließen. Denn es ist inzwischen üblich, digitale Interfaces mit den Fingern zu bedienen. Die Taktilität der Finger kommt so mit der (meta-)taktilen Operationslogik der Computertechnologie in Kontakt. Dies geschieht durch eine technisch-ästhetische Oberfläche, die, wie dargestellt, nicht nur alle möglichen sinnlichen Ausgaben (Bilder, Texte, Töne) realisieren kann. Mehr noch gilt vor dem Hintergrund McLuhans wahrnehmungstheoretischer Überlegungen: Dort finden sich ‚arme Bilder‘, Pixelästhetik, Mosaikbilder. Und vor allem durch die Fingertätigkeit des Wischen und Scrollen wird eine taktile Wahrnehmung hervorgebracht oder doch zumindest nahegelegt. Technologie (digital-binäre Codierung), Ästhetik (Bildformen auf dem Inter‐ face bzw. Multimedialität) und Praxis (Fingertätigkeiten auf dem Interface) greifen damit unter dem Signum des Taktilen ineinander. Wir leben so gesehen nicht einfach in einem digitalen Zeitalter, sondern vielmehr noch in einem taktilen. 1020 Abtasten als digitale Operation Noch eine weiter Beobachtung McLuhans lässt sich für die Beschreibung der digital-taktilen Gegenwart fruchtbar machen. Er schreibt: „Beim Fern‐ sehen ist der Zuschauer Bildschirm. Er wird mit Lichtimpulsen beschossen […].“ 1021 So gewendet schauen nicht nur wir Fernsehen, sondern wir werden regelrecht vom Fernsehen abgetastet. 1022 366 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="367"?> 1023 Siehe dazu bereits knapp: Henning Schmidgen, Surface Media: McLuhan, the Bauhaus and the Tactile Values of TV, in: Body & Society 28 (2022), S. 121-153, hier: S. 147; Rebekka Ladewig/ Henning Schmidgen, Symmetries of Touch, S.-14f. 1024 Siehe zur Gesichtserkennung einführend (ohne Referenz auf McLuhan): Roland Meyer, Gesichtserkennung. Vernetzte Bilder, körperlose Masken, Berlin 2021. 1025 Auch hierzu hat McLuhan eine Formulierung, die er in Zusammenhang mit dem Taktilen zu bringen weiß: „Die statistische Zusammenstellung und Anhäufung von Zahlen ergeben die moderne Höhlenmalerei oder Fingermalereien der Statistiken.“ (McLuhan, Magische Kanäle, S.-172) Abb. 50: Tastende Gesichtserkennung: Wir sind zum Bildschirm geworden Dieser Gedanke zum televisuellen Abtasten lässt sich mit einer ganz leichten Verschiebung auf digitale Phänomene übertragen. 1023 Am of‐ fenkundigsten ist das wohl bei der digitalen Gesichtserkennung (vgl. Abb. 50) - nicht zuletzt durch und vor dem Handy. Von digitalen Sen‐ soren werden wir gescannt - und damit im Sinne McLuhans vom Bildschirm selbst zum Bildschirm gemacht. Unserem Erscheinungs‐ bild werden Daten entnommen; diese algorithmisch verarbeitet und mit anderen Daten, die an anderer Stelle und von anderen Personen erfasst wurden, zur Typisierung und Identifikation abgeglichen. 1024 Ein anderes Beispiel für diese taktilen Erfassungen sind Fitness Apps, die uns permanent abtasten, Herzfrequenz, Atemrhythmus, Schrittzahl, Puls etc. messen und uns auf den Displays meist diagrammatisch, in Kurven und Zahlen aufbereitet, diese Daten zurückspiegeln. 1025 Rebekka Ladewig und Henning Schmidgen beschreiben diese und ähnliche Phänomene des digitalen Abtastens anschaulich und können im Zuge dessen mit einigem Recht behaupten, dass wir in einem (neuen) Zeitalter des Kontaktes leben: We have long become accustomed to pressure sensors in car seats, motion detectors, automatic doors in dark stairways, body scanners in airports, courts and other public institutions. At the same time, however, we enter into a society of mobile and portable media devices that are networked with computers and 4.3 McLuhan und die Forschung 367 <?page no="368"?> 1026 Rebekka Ladewig/ Henning Schmidgen, Symmetries of Touch, S.-4. 1027 Zur Operationslogik und zu diversen Konzeptualisierungen von Sensormedien und ihrem Umweltlich-werden: Sebastian Scholz, Sensormedien-Milieus und Techniköko‐ logien der Wahrnehmung. Navigieren in/ mit ‚more-than-human‘ Infrastrukturen, in: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften 22/ 1 (2022), S. 199-218 oder aus praxeologischer Perspektive: Tristan Thielmann, Sensormedien. Eine medien- und praxistheoretische Annäherung, in: Collaborative Research Center 1187 Media of Cooperation (Hg.), Working Paper Series 9 (2019), Online zugänglich unter: http: / / dx. doi.org/ 10.25819/ ubsi/ 31 [30.09.24]. 1028 McLuhan, Understanding Media. Second Edition, S.-18. sensors: from smartphones and activity trackers to watches, glasses and shoes. The often-quoted ‚Age of Context‘ […] currently manifests itself also, and perhaps above all, as an ‚Age of Contact‘. Digital, mobile and networked media devices are supposed to help us find our way around, facilitate consumption, improve our health and much more; but in order for them to do so, they have to turn on us and take hold of our bodies. 1026 Einmal mehr kann McLuhan mit seinen knappen Aussagen zu den Bild‐ schirmen, die wir selbst vor den Fernsehbildschirmen werden, als ‚Prophet‘ gelesen werden. Dieses Prophetentum lässt sich eingedenk dessen, was McLuhan einerseits über Taktilität und anderseits über den Computer notiert hat, noch ein wenig weitertreiben. Erstens wird nämlich durch die digitalen, mit Sensoren ausgestatteten Medien taktil auf uns zugegriffen. Nicht nur wir kehren in dieser Konstellation mit der Etablierung der elektrischer Medien in ein Zeitalter der Taktiltiät zurück. Ebenso nehmen nunmehr spezielle nicht-menschliche Akteure, die digitale Technologien, (uns und die Welt) primär taktil wahr. Zweitens werden die mittels Sensoren erhobenen Daten rechnerisch, also zählend, verarbeitet. 1027 Dies geschieht häufig, bspw. bei der Gesichtser‐ kennung, in einer besonderen Weise, nämlich durch Wahrscheinlichkeits‐ rechnungen und Mustererkennung. McLuhan selbst schreibt, dass „in the electronic age, data classification yields to pattern recognition“, also zur Musterkennung, „the key phrase at IBM.“ 1028 Da es im Zustand digitaler Vernetzung, Informationszirkulation und permanenter Scanvorgänge zu viele Daten gibt, die zudem zu fragmentarisch sind, wird, so das Argu‐ ment, eben auf Mustererkennung umgestellt. Zählen wird damit wieder rückgebunden an Zustände der Welt und/ oder Personen. Dies vollzieht sich durch Abgleich mit anderen maschinenlesbar gemachten Welt- und Personenzuständen, modelliert und korreliert mittels Wahrscheinlichkeiten, 368 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="369"?> 1029 Es ließe sich etwas zugespitzt formulieren: statt Infinitesimalrechnung (abstrakte Funktions- und Annäherungsberechnung im unendlichen Raum) steht nunmehr die Wahrscheinlichkeitsrechnung (im Sinn einer mathematisch-experimentellen Analyse von empirischem Material mit unsicherem Ausgang) im Zentrum des Interesses. Der Soziologe Armin Nassehi geht in seinem Buch M U S T E R . T H E O R I E D E R D I G I T A L E N G E S E L L ‐ S C H A F T u. a. solchen digitalen statistisch basierten Mustererkennungstechnologien nach und reiht diese in eine Entwicklung der modernen Gesellschaft ein, in der es, laut dem Soziologen, in immer mehr Bereichen darum geht, unsichtbare Muster wahrnehmbar und (wiederum primär mittels digitaler Technologien) operationalisierbar zu machen (siehe: Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019). 1030 McLuhan, Understanding Media. Second Edition, S.-18. 1031 Ebd. um Muster erkennbar und operationalisierbar zu machen. 1029 Im Zustand der Überkomplexität dient Mustererkennung zur Komplexitätsreduktion unter Rückgriff auf mögliche, wahrscheinliche Welt- und Personenzustände. Wäre es allzu kühn auch diese Wendung des Zählens als Rückkehr der Taktilität der Zahl in Form digitaler Mustererkennung zu verstehen oder zumindest als eine neue Form maschineller Taktilität? Jedenfalls beansprucht McLuhan selbst für seinen Zugriff auf die Medi‐ enwelt genau dieses Verfahren. Er schreibt in direktem Anschluss an die Passage zur Mustererkennung des Computers bei IBM : „In order to cope with data at electric speed in typical situations of ‚information overload‘, men resort to the study of configurations“ 1030 - und damit auf Musterer‐ kennung. So gesehen nimmt McLuhan die Idee, dass er zum Bildschirm des Computers geworden sein könnte, sehr ernst, wenn er sich für seine Erkundungen der Medien und möglicher Zukünfte der Menschheit des computertechnologischen Verfahrens der „pattern recognition“ 1031 bedienen will. 4.4 McLuhan und das Leben McLuhans Ausführungen wurden, das sollten die vorhergehenden Passagen zeigen, sehr unterschiedlich interpretiert, genutzt bzw. lassen sich immer wieder neu und anders produktiv machen. Diese Vielzahl an heterogenen Deutungen, die McLuhans Werk ausgelöst hat, lässt sich zumindest zu einem großen Teil auch auf die Darstellungsform zurückführen, die McLuhan gewählt hat. Ihm selbst ging es nicht primär oder zumindest nicht nur darum, eine bestimmte These zu vertreten oder gar eine Großtheorie zu entwickeln. Sehr viel eher lässt sich McLuhans Schaffen verstehen (und nutzbar machen) 4.4 McLuhan und das Leben 369 <?page no="370"?> 1032 Siehe dazu auch → 1. Lesart: Rhetorik. 1033 Marchand, McLuhan, S.-284, 306. als Praxis zur Entwicklung von Ideen oder auch allgemeiner formuliert: Es geht um eine Art Anleitung zum Auffinden und zur Neujustierung von Problemlösungsstrategien bzw. um die Herstellung ungewohnter Perspek‐ tiven auf einen Gegenstand. 1032 Folgende Anekdote bringt das auf den Punkt: Im Juli 1968 gab McLuhan auf Initiative eines Unternehmers namens Eugene Schwarz, der in den 1950er Jahren sein Geld damit verdiente, Bücher über Selbsthilfe und Finanzfragen per Postversand zu verkaufen, die erste Ausgabe des McLuhan DEW-Line Newsletter heraus. Schwarz hatte mit diesem Newsletter weitreichende Ziele. Damit konnte er McLuhan die Unternehmung schnell schmackhaft machen, der, wie so viele Intellektuelle aus dem universitären Elfenbeinturm, den Traum träumte, endlich doch einmal Einfluss auf die Geschicke der Welt zu nehmen, anstatt diese immer nur zu beschreiben. Der McLuhan-Biograf Philip Marchand veranschaulicht den Kontext dieses Newsletters und die Ziele, die Schwarz damit verfolgte, anschaulich: Der Newsletter wurde zu einem Preis von 50 Dollar pro Jahr angeboten. Mehr als 4000 Abonnenten hatten sich gefunden. Schwarz hielt diese Zahl für ‚relativ gering‘. Er versicherte McLuhan, daß das nur Anlaufschwierigkeiten seien und die Zahlen bald in die Höhe schnellen würden. Die Leser waren vor allem Top‐ manager aus den Werbeabteilungen großer Firmen wie ibm. Schwarz kümmerte sich persönlich darum, daß auch das Weiße Haus beliefert wurde (Empfänger war ein obskurer Berater von Nixon namens Fred Panzer). […] Die erste Ausgabe im Juli 1968 bestand aus mehreren Blättern im din A4-Format mit Vinylcover und Spiralbindung […]. Weitere Ausgaben erschienen […] mit Plakaten, Schallplatten und Dias von Werbeanzeigen (zusammen mit einer Broschüre, in der die Anzeigen analysiert wurden). 1033 1970 wurde das Projekt zwar wieder eingestellt (wohl mangels Abonnent: in‐ nen). Zumindest enthielt die letzte Ausgabe des Jahres 1969, gegen einen geringen Aufpreis von fünf Dollar, noch ein spezielles Feature, das hier von Interesse ist. Es handelt sich um ein Kartenspiel mit dem Titel E A R L Y W A R NIN G S Y S T EM (vgl. Abb. 51). 370 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="371"?> 1034 Ebd., S.-307 1035 Zitiert nach: ebd. 1036 McLuhan, Letters, S. 393. In diesem Brief beschreibt McLuhan eine eigene Anwendung auf ein Problem mit Zwillingskindern. Diese wird als Auftakt verwendet, um Landers (die eigentlich Esther Pauline Lederer hieß, aber unter dem Pseudonym Ann Landers für die C H I C A G O S U N seit 1941 eine Kolumne über Kinderpflege und -erziehung schrieb) für einen Beitrag auf einer Tagung anzufragen, der sich mit diesem Problem weiter beschäftigen sollte (siehe ebd., S. 394). Zu einer recht ambitionierten, wenngleich nicht sehr systematischen Diskussion der Funktion dieses Kartenspiels siehe: Peter Zhang/ Eric McLuhan, The Dew Line Card Deck as a Metagame, in: ETC. A Review of General Semantics 72 (2015), S. 241-247. Cait McKinney macht demgegenüber auf die sexistischen Implikationen dieses Kartenspiels aufmerksam: „[M]any of the actual aphorisms on the cards (‚The stripper puts the audience on by taking them off,‘ ‚Thanks for the mammories,‘ or ‚A Japanese wife never speaks irritably to her husband - she merely rearranges the flowers‘) read more like jokes about gender, race, and sex work uttered behind a Boys Club’s closed doors by those with enough power to approach decision making as a card game […]. Women appear but only as objects holding up a theory and function.“ (Cait McKinney, Computers Made of Papers, Genders Made of Cards, in: Sharma/ Singh [Hg.], Re-Understanding Media, S.-142-162, hier: S.-142f.) Abb. 51: Ein Kartenspiel als Frühwarnsystem Die einzelnen Karten sind versehen „mit einem Sinnspruch auf jeder Karte - ähnlich der Botschaft in ei‐ nem chinesischen Glückskeks.“ 1034 Auf der Pik 5 ist etwa zu lesen: „Propaganda ist Kultur in Ak‐ tion.“ 1035 Auf der Karo 5 steht noch etwas kryptischer: „SILENCE IS all the sounds of the ENVIRONMENT at once.“ McLuhan selbst beschreibt den Sinn dieser Karten in einem Brief wie folgt: „[I]f a single card is picked by the Chairmen, the requ‐ est is: ‚Relate this aphorism to your top hang-up.‘“ 1036 Der Aphorismus einer zufällig gezogenen Karte soll also auf ein aktuelles Problem an‐ gewendet werden. Dies geschieht im vollen Vertrauen darauf, dass gerade dadurch Lösungen zustande kommen können, weil derjenige, der das Problem hat, nicht ohne 4.4 McLuhan und das Leben 371 <?page no="372"?> 1037 Dementsprechend schrieb McLuhan auch in demselben Brief: „unexpected by the narrator“ (McLuhan, Letters, S.-394). 1038 „What is needed is a great collection of anecdotes, minus any point of view whatever.“ (Ebd.) Hilfe selbst darauf gekommen wäre, an die aber auch der oder die Verfas‐ ser: in des Aphorismus nicht gedacht haben mag. 1037 Der Sinnspruch soll festgefahrene Standpunkte durchbrechen helfen: 1038 Kreativität durch ein irritierendes Zufallsprinzip, wenn man so will. Die Zahl der möglichen Problemlösungsstrategien lässt sich beliebig vergrößern, bspw. dadurch, dass man nicht nur eine Karte auf sein Problem anwendet, sondern mehrere Karten zieht; diese wiederum aufeinander bezieht und dann auf das Problem anwendet oder eine Karte aufgreift, auf das Problem anwendet und dann wieder eine Karte zieht, um ein in dieser Problemlösung vielleicht wieder auftauchendes Problem lösen zu können usf. Die einzelnen Sinnsprüche dieses Kartenspiels sind jedoch nicht irgend‐ welche Sinnsprüche. Sie sollen durch rhetorische Mittel wie Wortspiele, Übertreibungen, Paradoxien - und damit also durch Irritation und Mehrdeu‐ tigkeit den Denkprozess der Rezipient: innen in Gang setzen. McLuhan er‐ weist sich auf dem Gebiet der Aphoristik auch außerhalb dieses Kartenspiels als regelrechter Meister des pointierten Slogans. Wenn man von McLuhan irgendetwas kennt, dann den einen oder anderen von ihm geprägten Slogan. Besonders angetan haben es ihm (und vielen seiner Rezipient: innen) Para‐ doxien, wie bspw. ‚Das Medium ist die Botschaft‘. Des Öfteren werden solche Paradoxien in Metaphern gekleidet, McLuhans ‚globales Dorf ‘ wäre dafür so ein Beispiel. Eine besonders schöne Wortschmuckverdichtung findet sich in McLuhans Slogan vom Ende der Gutenberg-Galaxis. Dort kreuzen sich eine Metapher (‚Galaxis‘ steht bildlich für eine gesellschaftliche Konstellation) und eine Synekdoche (der Erfinder ‚Gutenberg‘ steht für seine Erfindung, die Druckerpresse) und zusätzlich wird das Ganze noch angereichert mit einer Alliteration (‚Gutenberg-Galaxis’). Diese Slogans sind an sich schon sehr mehrdeutig und harren eindeutiger Sinnzuweisungen. Man stelle sich vor, welche Konnotationsgewalt ausbricht, wenn man sie aufeinander bezieht und darüber hinaus auch noch auf Probleme der (Medien-)Welt. Wichtig ist mir hieran vor allem das Relationierungsprinzip: Zufälliges Material bzw. unkontrollierte Kombinatorik sollen ungewohnte Vernet‐ zungsprozesse auslösen, damit eingeschränkte Perspektiven überwunden werden, neue Problemlösungen zu finden sind oder doch zumindest neue, 372 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="373"?> 1039 Comte de Lautréamont, Die Gesänge des Maldoror [1869], München 1976, VI, 3. kreative Sichtweisen sich eröffnen. Das ist, wenn man so will, eine Art erweitertes Glückskeks-Prinzip. Oder, wenn man es ehrwürdiger haben möchte: Dieses Prinzip ist einer surrealistischen Methode nicht unähnlich. Dieser zufolge zeigt sich das Schöne bzw. das traumhaft Wahre in Kons‐ tellationen, die sich erst jenseits des logischen Funktionszusammenhangs ergeben, etwa in einer „zufällige[n] Begegnung eines Regenschirmes mit einer Nähmaschine auf dem Seziertisch“, 1039 wie es in einer berühmten For‐ mulierungen Lautréamonts heißt. Man kann auch an die frühromantischen ATHENÄUMS-Fragmente Friedrich Schlegels denken. Diese Fragmente sind in sich schon so enigmatisch und korrespondieren überdies untereinander in semantisch nicht letztendlich fixierbarer Weise, wodurch immer wieder neue Interpretationen provoziert werden. Ob nun McLuhans Methode eher als ein Glückskeks-Prinzip beschrieben wird oder doch in die Tradition der ATHENÄUMS-Fragmente zu setzen ist: es geht um Öffnung, Erweiterung und Vernetzung von Sinnhorizonten. Hiermit findet man den Kern des Denk- und Schreibprinzips McLu‐ han‘scher Provenienz: Mit seinen Einfällen, seinen permanenten Verbin‐ dungen unterschiedlicher Ideen aus unterschiedlichen Gebieten, seinem sprunghaften Experimentieren stellt McLuhan nicht nur mehr oder minder plausible Thesen auf, sondern versucht, permanent neue Aspekte ausfindig zu machen. Durch Mischung und Neujustierung will er etwas Neues und un‐ ter Umständen Interessantes erfahren. Und genau diese Herangehensweise stellt McLuhan in seinen Texten auch aus. Vielleicht sind demgemäß nicht die Ergebnisse das Interessante an McLuhans Texten oder wie man seine heterogenen, unterschiedlich zu deutenden Thesen weitergedacht hat oder weiterdenken könnte. Vielmehr ist es die Art und Weise, auf das Leben, die Welt, Gott und die Medien zu blicken, die McLuhan vor allem interessant macht. Diese Perspektive ist eine durch und durch pragmatische, zumindest wenn man den Beschreibungen Richard Rortys folgt. Nach Rorty zeichnet sich eine pragmatische Philosophie durch Folgendes aus: Diese Art der Philosophie arbeitet nicht schrittweise, analysiert nicht ein Konzept nach dem anderen, prüft nicht eine These nach der anderen. Sie arbeitet vielmehr holistisch und pragmatisch. Sie sagt zum Beispiel: ‚Versuchen wir, uns dies auf folgende Weise zu denken‘ - oder, genauer: ‚Versuchen wir, die offensichtlich 4.4 McLuhan und das Leben 373 <?page no="374"?> 1040 Rorty, Kontingenz, S.-30f. 1041 Zitiert nach: Postman, Vorwort, S.-8. 1042 Rorty, Kontingenz, S.-16f. 1043 Ebd., S. 127. (Rorty wählt mit Absicht die weibliche Form, um diesen Typus von dem männlich konnotierten Gewissheitssucher abzugrenzen.) 1044 Ebd., S.-14. fruchtlosen traditionellen Fragen durch folgende neue und möglicherweise inte‐ ressantere Fragen zu ersetzen.‘ 1040 So ließe sich denn auch eines der legendären Bonmots McLuhans neu ver‐ stehen. Auf Kritik reagiert McLuhan häufig mit dem Satz: „Wenn Ihnen das nicht gefällt, erzähle ich Ihnen etwas anderes.“ 1041 Aus einer pragmatischen Sicht der Dinge ist dies jedoch kein Ausdruck der Kapitulation oder der Flucht vor ernsthafter Diskussion, wie es so häufig gedeutet wurde, sondern Ausdruck einer pragmatischen Wendung, ja einer pragmatischen Philoso‐ phie. Denn aus dieser Sicht geht es nicht um kohärente Argumentation oder Kritik, sondern um die Herstellung neuer Perspektiven oder, mit Richard Rorty formuliert, um neue Erzählungen, die sich gegen systematische Theorien sträuben - und zwar aus guten Gründen: Eine solche Wendung [von der Theorie zur Erzählung] wäre das Zeichen dafür, daß wir den Versuch aufgegeben haben, alle Seiten unseres Lebens in einer einzigen Version zusammenzusehen, sie mit einem einzigen Vokabular zu be‐ schreiben. Sie würde darauf hinauslaufen, daß wir akzeptieren […], daß wir keine Möglichkeit haben, uns außerhalb der diversen Vokabulare in unserem Gebrauch zu stellen und ein Metavokabular zu finden, das irgendwie alle möglichen Vokabulare, alle möglichen Weisen des Denkens und Urteilens umfasst. […] Mehr noch: sie würde die Verwirklichung von Utopien und die Vorstellung noch fernerer Utopien als einen unendlichen Prozess auffassen […], nicht als Konvergieren gegen eine schon existierende Wahrheit. 1042 McLuhan wehrt sich gegen solch ein abschließendes Vokabular und entwirft permanent neue Erzählungen, Erzählstränge, Erzählperspektiven. Dement‐ sprechend entspricht er auch Rortys Vorstellung einer pragmatischen „libe‐ ralen Ironikerin“. 1043 Einer solchen ist bewusst, dass alle (also auch ihre) Überzeugungen historisch und kontingent sind, dementsprechend relativ. 1044 McLuhans Methode besteht darin, die Konsequenz zu ziehen daraus, dass es nicht mehr darauf ankommt, eine konsistente Position einzunehmen, sondern eine experimentell-ironische. Vor allem macht er dies, indem er 374 4 Lesart: Pragmatismus - McLuhan nutzen <?page no="375"?> 1045 Siehe dazu ausführlicher → 1. Lesart: Rhetorik und → 2. Lesart: Hermeneutik. 1046 Rorty, Kontingenz, S.-35. permanent Vokabulare mischt und aufeinander bezieht, aus der Medizin, der Philosophie, den Ingenieurwissenschaften, der Popkultur, der Theologie. 1045 Laut Rorty entstehen große Innovationen wie folgt: „[E]s ist typisch für revolutionäre Leistungen in den Künsten, den Wissenschaften, im morali‐ schen oder politischen Denken, daß sie zustande kommen, wenn jemand Interferenzen zwischen zwei oder mehreren unserer Vokabulare erkennt und dann dazu übergeht, ein neues Vokabular zu erfinden, das beide erset‐ zen kann.“ 1046 Bezüglich McLuhan müsste man präzisieren: Innovationen entstehen aus Interferenzen, aus denen Überraschendes hervorgeht oder Neues angestoßen wird. Denn: Bei McLuhan geht es vielleicht weniger um die revolutionären Leistungen einzelner Thesen, eines Denkmodells oder eines spezifischen Vokabulars (und sei es auch noch so neu). Vielmehr haben wir es in McLuhans Veröffentlichungen, in seinen Briefen und Interviews mit einer multiperspektivischen, zutiefst (selbst-)ironischen Zugriffsweise auf Gott und die (Medien-)Welt zu tun. So verstanden hätten McLuhans Schriften keine wirklich wichtige inhaltliche Botschaft. Die eigentliche Botschaft läge dann erstens in der Art und Weise, wie man alles Mögliche nützlich machen kann und zweitens in der Absage an den Willen, alles richtig verstehen zu wollen. 4.4 McLuhan und das Leben 375 <?page no="377"?> Literatur Abramson, Albert: Electronic Motion Pictures. A History of the Television Camera [1955], New York 1974. Adelmann, Ralf: Computer als Bildmedium, in: Jens Schröter (Hg.): Handbuch Medienwissenschaft, Stuttgart 2014, S.-322-328. Albrecht, Richard: The Utopian Paradigm - A Futurist Perspective, in: Communica‐ tions 16/ 3 (1991), S.-283-318. 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Entnommen aus: Schmidgen, Horn, Abb. 26, o.S. Abb. 18: Abb. entnommen aus: Dürer, Underweysung der messung mit dem zirckel, o.S. Abb. 19: Abb. entnommen aus: Mißfeld, Perspektive [2], o.S. Abb. 24: Abb. entnommen aus: Rubin, Visuell wahrgenommene Figuren, o.S. Abb. 26: Robert Delaunay S I M U L T A N E F E N S T E R (2. M O T I V , 1. T E I L ) (1912). Entnommen aus: https: / / www.kunst-fuer-alle.de/ deutsch/ kunst/ kuenstler/ kunstdruck/ robert -delaunay/ 254/ 1/ 561747/ simultane-fenster/ index.htm [01.10.24]. Abb. 27a: Tuperwaren-Werbung aus US-amerikanischen Magazin 1960er Jahre. Ent‐ nommen aus: https: / / www.pinterest.com/ pin/ 250723904228112247/ [01.10.24]. <?page no="398"?> Abb. 27b: Tuperwaren-Werbung aus US-amerikanischen Magazin 1969. Entnommen aus: Duffy/ Packer, Wifesaver, S.-101. Abb. 27c: Tuperwaren-Werbung aus US-amerikanischen Magazin 1960er Jahre. 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Abb. 36a: Abb. entnommen aus: https: / / twistedsifter.com/ 2012/ 10/ photo-tour-of-go ogles-data-centers/ google_vignette [01.10.24]. Abb. 36b: Abb. entnommen aus: https: / / hattienewman.co.uk/ work/ google/ [01.10.24]. Abb. 36c: Abb. entnommen aus: https: / / www.google.com/ intl/ de/ about/ datacenters / gallery/ eemshaven-wind-turbines [25.08.24]. Abb. 37a-b: Abb. entnommen aus: McLuhan, Medium ist Massage, S. 82-83, 86-87. Abb. 38a: Abb. entnommen aus: McLuhan, Medium ist Massage, S.-84-85. Abb. 38b: Abb. entnommen aus: McLuhan, Counterblast, o.S. Abb. 39a: Cover von A R T I N A M E R I C A , Mai/ Juni 1969. Entnommen aus: Allan, Marshall McLuhan, S.-35. Abb. 39b: Allan Kaprows: Y A R D (1961). Entnommen aus: https: / / farticulate.wordpre ss.com/ 2010/ 12/ 17/ 17-december-2010-allan-kaprow-yard-19612009-selected-exh ibition-reinvention-interview/ [01.10.24]. Abb. 40: Richard Sierra: T I L T E D A R C (1981). 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Entnommen aus: https: / / makeagif.com/ gif/ 8 0s-synthwave-screensaver-background-10h-4k-FkRdX6 [01.10.24]. Abb. 47a: MINECRAFT-Logo. Entnommen aus: https: / / mcpedl.download/ minecraft -apk/ [01.10.24]. Abb. 47b: Foto vom Tabletbildschirm des Verf. [30.08.24]. Abb. 48: Screenshot vom Handy des Verf. [23.07.2023]. Abb. 50: Face Recognition GIFs. Screenshot. Entnommen aus: https: / / giphy.com/ ex plore/ face-recognition [01.10.24]. Abb. 51: E A R L Y W A R N I N G S Y S T E M , beigefügt dem DEW-Line Newsletter 1969. Ent‐ nommen aus: https: / / austinkleon.com/ 2020/ 12/ 04/ art-is-an-early-warning-syste m/ [01.10.24]. Abbildungsbelege 399 <?page no="401"?> Register 68er-Bewegung-288, 290 Abtasten, digital-366 Adorno, Theodor W.-55, 98, 250 Affirmation-251 Affordanz-360 Alphabet-156ff. Amputation-104f. Amputationen-111 Anthropozän-308, 343, 345 Appellstruktur-38f. Aquin, Thomas v.-23, 76, 78f., 108, 134, 153 Aristoteles-96, 108, 188 Avantgarde-72f., 283, 286f., 290f. Bauhaus-44, 123, 125f., 128f., 134 Begriff, unscharf-227 Betäubung-128, 131, 133, 155, 160, 246, 285 Bilder, arm-355, 366 Bolz, Norbert-273f., 281 Carpenter, Edmund-10, 37, 47, 91, 133, 137, 175, 177ff., 189, 214, 216 Carpenter-McLuhan-Hypothese-178, 180 Dali, Salvador-129f. Dekonstruktion-256, 258, 267 Delaunay, Robert-208 Derrida, Jacques-31, 219, 256f., 259 Dichotomien-261, 263 Digitalität-346 Dorf, global-134, 138, 146, 174 Dürer, Albrecht-161f. Eco, Umberto-16, 73, 219 Environmental Art-327 Episteme der Analogie-75, 77 Explorations-10, 19, 91, 137, 178f., 182, 189, 214 Faktur-124ff., 130 Fernsehen-139 Fernsehen, global-138 Fernsehen, taktil-112 Figur/ Grund-196, 200, 202 Form/ Grund-213, 278, 323 Foucault, Michel-75, 77, 85 Freud, Sigmund-13, 97, 102, 270f., 280 Friedrich, Kittler-301 Gadamer, Hans-Georg-86, 88, 101 Gegenumwelt-323, 326ff., 331 Gender-239f., 253, 371 Gesetze der Medien-189 Google-320f. Gordon, W. Terrence-19 Gott-32, 76, 79ff., 97, 108, 110, 164, 296, 373, 375 Grammatik-77, 79, 81, 213ff. Greenberg, Clement-205f. Grusin, Richard-346f. Gutenberg-Galaxis-158f., 161 Havelock, Eric A.-157, 168, 173 Heidegger, Martin-31, 203 <?page no="402"?> Heilsgeschichte-163ff., 254f. Heiße Medien-192 Hermeneutischer Zirkel-84, 86, 88, 203 Holismus-65, 243, 373 Holy Fool-281f. Homöostasie-107 Horkheimer, Max-55, 98, 250 Ideologiekritik-246f. Infrastruktur-313, 316, 318 Innis, Harold A.-11, 23, 83, 169ff., 173, 182f., 192, 390 Intervall-114, 116, 118, 126f., 130, 139, 204, 208, 362 Iser, Wolfgang-39, 46 Joyce, James-23, 45, 71f., 79, 83, 283 Kalte Medien-192 Kapp-102 Kapp, Ernst-100-104, 132, 136 Kerckhove, Derrick de-348f., 392 Kittler, Friedrich-120, 195, 252f., 266, 299f., 349 Konstruktivismus-334 Körperausweitung-57, 93, 96, 99, 108f., 112, 136, 143, 227, 242, 244, 341, 348 Kubismus 72, 121f., 205f., 208, 276, 278f., 324, 328, 357f. Kybernetik 142, 144f., 174, 180, 286, 291, 313 Latour, Bruno-342 Leavis, F. R.-131 Lewis, Wyndham-92, 136, 174 Magische Kanäle-182ff. Manuskriptkultur-156ff. Marchand, Philip-144, 286, 370 Medienanthropologie, relational-335, 339 Mediendifferenz-180, 182 Medienkritik-295 Medienökologie-302, 305, 308, 317, 323, 334, 339, 345 Medientheorie, maskulin-252 Medienwissenschaft-298f., 301 Metapher-209, 212, 214 Meta-Sinn, taktil-109, 359, 364 Methode-177 Milieu-194ff. Miller, Jonathan-15f., 24, 75, 219, 226, 350 Minecraft-356f. Moholy-Nagy-124ff., 130 Monokausalität-241 Mosaik-26, 115ff., 119ff., 130, 206, 324, 354, 361 Mumford, Lewis-96, 134 Muybridge, Eadweard-41f., 225f. New Criticism-23, 131, 134, 177f. Nietzsche, Friedrich-179, 211f. Noosphäre-146f., 149 Ong, Walter-294, 298 Oralität-153, 155, 294 Paik, Nam June-284 Performativer Selbstwiderspruch-264, 266 Peters, John Durham 75, 77, 83, 214, 238 Pixelästhetik-356, 366 Playboy-9, 37, 135, 252, 272 Pointelismus-117, 128, 205 Pop-Art-7, 59, 61f., 79, 81, 277 402 Register <?page no="403"?> Popkultur-8f., 54, 56f., 61 Popper, Karl R.-219ff. Pop-Philosophie-270, 272, 275 Postman, Neil 179, 213, 295ff., 305, 309f. Pragmatik-269, 291, 350 Remediation-346f. Resonanz, taktil-362 Richards, I. A.-131 Rorty, Richard-269f., 373f., 391 Rubin, Edgar-197f. Sandbothe, Mike-257, 261, 350, 352f. Sapir, Edward-178, 212 Schutzheiliger-281 Selye, Hans-105, 108, 153 Serra, Richard-329f. Sloterdijk, Peter-273, 275, 324 Stearn, Gerald E.-31, 287 Steyerl, Hito-355 Stress-105f., 134, 153 Taktilität, digital-354, 359, 365 Technikanthropologie-95, 98 Technikhermeneutik-100 Teilhard de Chardin, Pierre-147f., 174 Tetrapak-248 Tiefenhermeneutik-101f. Toronto School of Communication-166f., 182 Tupperware-240 Umwelt-188, 302, 305, 310 Unmittelbarkeit-257, 259, 261 Verschleierung-249f. Weltbeziehung-362 Whorf, Benjamin L.-178, 212 Wiederverwertung-91f., 133f. Wiener, Norbert-144f., 174 Wired-18, 23, 83, 281f. Wolfe, Tom-12, 270f., 283 Register 403 <?page no="404"?> ISBN 978-3-8252-6376-8 Das Medium ist die Botschaft! Kaum ein Medien- und Kulturforscher ist so verworren und provokativ wie Marshall McLuhan. Dennoch sind seine Ideen aus dem Kanon der Medien- und Kulturwissenschaft nicht wegzudenken. Sven Grampp betrachtet McLuhan aus verschiedenen Perspektiven. Gezeigt wird, welchen Traditionslinien seine Ideen folgen, wie unterschiedlich McLuhan interpretiert werden kann und was er uns noch heute zu sagen hat. Kurzum: Ein unverzichtbares Buch für Studierende der Medien-, Kommunikationssowie der Kultur- und Sozialwissenschaften. Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Endlich Medien verstehen!
