Studieren mit Legasthenie und Dyskalkulie
Erfolgreich an der Uni und im Alltag
1013
2025
978-3-8385-6405-0
978-3-8252-6405-5
UTB
Susanne Volkmer
10.36198/9783838564050
Das Studium mit Legasthenie und Dyskalkulie meistern
Wie und mit welcher Unterstützung dies gelingen kann, das
zeigen Susanne Volkmer sowie vier junge Erwachsene, die trotz Beeinträchtigungen im Lesen, Schreiben oder Rechnen erfolgreich studieren. Sie erklären zunächst Symptome, Ursachen und Diagnostik einer Lese-/Rechtschreib- und Rechenstörung. Im Anschluss widmen sie sich ausführlich den typischen Herausforderungen betroffener Studierender, wie der Beantragung eines Nachteilsausgleichs und der Kommunikation mit Dozierenden. Auf die zahlreichen technischen Unterstützungsmöglichkeiten gehen sie ein und erklären deren Handhabung. Auch Themen wie Prüfungsangst und Lernstrategien werden angesprochen. Ein Kapitel über den Berufseinstieg rundet den Band ab.
Ein aufschlussreicher Ratgeber für Studierende aller Fachrichtungen sowie für Studienberatungen und betroffene
Abiturient:innen.
9783838564050/9783838564050.pdf
<?page no="0"?> Das Studium mit Legasthenie und Dyskalkulie meistern Wie und mit welcher Unterstützung dies gelingen kann, das zeigen Susanne Volkmer sowie vier junge Erwachsene, die trotz Beeinträchtigungen im Lesen, Schreiben oder Rechnen erfolgreich studieren. Sie erklären zunächst Symptome, Ursachen und Diagnostik einer Lese-/ Rechtschreib- und Rechenstörung. Im Anschluss widmen sie sich ausführlich den typischen Herausforderungen betroffener Studierender, wie der Beantragung eines Nachteilsausgleichs und der Kommunikation mit Dozierenden. Auf die zahlreichen technischen Unterstützungsmöglichkeiten gehen sie ein und erklären deren Handhabung. Auch Themen wie Prüfungsangst und Lernstrategien werden angesprochen. Ein Kapitel über den Berufseinstieg rundet den Band ab. Ein aufschlussreicher Ratgeber für Studierende aller Fachrichtungen sowie für Studienberatungen und betroffene Abiturient: innen. Schlüsselkompetenzen ISBN 978-3-8252-6405-5 Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem T itel Studieren mit Legasthenie und Dyskalkulie Volkmer Susanne Volkmer Studieren mit Legasthenie und Dyskalkulie 6405-5_Volkmer_L_6405_PRINT.indd Alle Seiten 6405-5_Volkmer_L_6405_PRINT.indd Alle Seiten 15.09.25 12: 42 15.09.25 12: 42 <?page no="1"?> utb 6405 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Psychosozial-Verlag · Gießen Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main UTB (L) Impressum_01_25.indd 1 UTB (L) Impressum_01_25.indd 1 13.01.2025 11: 25: 53 13.01.2025 11: 25: 53 <?page no="2"?> Dr. Susanne Volkmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des LMU Klinikums München. Sie war mehrere Jahre stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie e. V. (BVL). Ihre Forschungsschwerpunkte sind neurobiologische Grundlagen des Schriftspracherwerbs, Ursachen der LRS und Interventionseffekte. Svea Höroldt hat 2020 ein Medizinstudium begonnen. Zuvor hat sie, nach Legasthenie-Diagnose in der 2. Klasse, sechs Jahren Lerntheraphie und Hauptschulempfehlung nach der 4. Klasse, erfolgreich das Abitur abgelegt und eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin absolviert. Natascha Hürtgen hat ihre Legasthenie-Diagnose in der 6. Klasse erhalten. Ohne Therapie, dafür mit eigenen Strategien hat sie die Abiturprüfung bestanden und 2023 ihr BA-Studium (Germanistik und Politics and Social Studies) abgeschlossen. Carla Schramm studierte Logopädie (B. Sc.) und hat einen Masterabschluss in Sprecherziehung und Rhetorik erworben. Ihre Dyskalkulie-Diagnose wurde in der 3. Klasse gestellt, bis zur 9. Klasse hatte sie Lerntherapie. Das Abitur mit verpflichtender schriftlicher Matheprüfung hat sie mit einer spezialisierten Nachhilfe und ohne Nachteilsausgleich geschafft. Anton Tartz’ Legasthenie wurde in der 2. Klasse diagnostiziert. Etwa 4 Jahre lang erhielt er Lerntherapie und nutzte ab der 8. Klasse intensiv technische Hilfsmittel wie Vorlese- und Diktierprogramme. Das Abitur bestand er mit Zeitzuschlag und der Möglichkeit zum Diktieren. Er studiert Geschichte und Sozial- und Kulturanthropologie. <?page no="3"?> Susanne Volkmer Studieren mit Legasthenie und Dyskalkulie Erfolgreich an der Uni und im Alltag Unter Mitarbeit von Svea Höroldt, Natascha Hürtgen, Carla Schramm und Anton Tartz <?page no="4"?> Umschlagmotiv: © Gediminas Medziausis · iStockphoto Abbildungen im Innenteil: © Pavel Naumov · iStockphoto Autor: innenfotos: alle privat außer Susanne Volkmer: Traunsteiner Bilderwerkstatt Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838564050 © UVK Verlag 2025 - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter: innen oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption l gestaltung Druck: Elanders Waiblingen GmbH utb-Nr. 6405 ISBN 978-3-8252-6405-5 (Print) ISBN 978-3-8385-6405-0 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6405-5 (ePub) <?page no="5"?> Vorwort Erwachsene mit Dyskalkulie oder Legasthenie haben oft mit Beginn ihrer Schulzeit mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Nicht immer haben sie angemessene Unterstützung erhalten, sondern mussten Misserfolge erleben, sich für Erfolge mehr anstrengen als andere und manchmal vielleicht auch entmutigende Aussagen hören, wie z. B. „Studieren mit Legasthenie geht nicht“. Das vorliegende Buch möchte mit dieser falschen Annahme aufräumen und Mut machen. Denn Menschen mit Legasthenie und Dyskalkulie sind keinesfalls in ihrer Intelligenz eingeschränkt. Auch sie können ein Studium erfolgreich meistern. Um dies mit ihren Schwierigkeiten zu schaffen, ist es wichtig, dass sie Unterstützung erhalten und, was viele nicht wissen, auf diese Unterstützung haben sie ein Recht. Nach einem Überblick über Symptome, Diagnostik und Therapie von Legasthenie und Dyskalkulie widmet sich dieses Buch typischen Problemfeldern und verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten - vor dem Studium, im Studium und im Alltag bis hin zum Berufseinstieg. Themen wie Ängste oder der Umgang mit der eigenen Legasthenie oder Dyskalkulie werden ebenfalls besprochen. Damit das Buch nicht nur eine Expertinnensicht erhält, sondern auch Einblicke in den (Studien-)Alltag geben kann, habe ich vier Betroffene eingeladen, ihre Erfahrungen zu teilen. Svea Höroldt, Natascha Hürtgen, Carla Schramm und Anton Tartz sind selbst von Legasthenie bzw. Dyskalkulie betroffen und studieren trotz ihrer Schwierigkeiten. Sie sind alle bei den Jungen Aktiven (JA) des Bundesverbands Legasthenie und Dyskalkulie e. V. (BVL) <?page no="6"?> 6 Vorwort tätig. Ihre Erfahrungsberichte sind im Inhalt mit Pfeilen und ihren Vornamen kenntlich gemacht. Zusätzlich haben sie immer wieder hilfreiche Informationen geliefert, z. B. zum Nachteilsausgleich, zu technischen Hilfmitteln und zum Berufsstart. An diesen Stellen sind ihre Beiträge durch ihre Initialien am Rand markiert, z.B. mit . Mein wichtigster Tipp bereits jetzt: Ob ein Studium zu jemandem passt oder nicht, muss jeder selbst entsprechend seinen Neigungen und Stärken entscheiden. Eine Legasthenie oder Dyskalkulie sollte dabei nicht der Grund sein, sich gegen ein Studium oder gegen ein bestimmtes Fach zu entscheiden. München, September 2025 Susanne Volkmer <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................... 5 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung................................................................11 1 Im Dschungel der Begriffe ................................................. 11 2 Symptome einer Lese-/ Rechtschreibstörung ..................... 14 ► Wie ich meine Legasthenie bemerke | Svea ................... 16 ► Legasthenie unter der Oberfläche | Natascha ................ 20 Erlernen von Fremdsprachen ............................................ 22 3 Symptome einer Rechenstörung ....................................... 25 ► Alltag mit Dyskalkulie | Carla ......................................... 26 4 Häufigkeit von Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung ... 29 5 Ursachen einer Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung .. 31 ► Woher meine Dyskalkulie kommt | Carla........................ 34 ► Wer in meiner Familie noch Legasthenie hat | Natascha.. 35 6 Diagnosekriterien nach ICD-10 .......................................... 36 7 Diagnose von Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörungen .. 38 ► Meine Legasthenie-Diagnostik | Svea............................. 40 ► Ablauf einer Dyskalkulie-Diagnostik | Carla.................... 42 ► Meine erneute Legasthenie-Diagnose als Erwachsene | Natascha ....................................................................... 43 8 Förderung im Erwachsenenalter........................................ 45 9 Komorbiditäten ................................................................. 47 ► Dyskalkulie reicht mir schon | Carla ............................... 49 ► Wenn es nur das Lesen und Schreiben wäre … | Natascha . 50 <?page no="8"?> 8 Inhaltsverzeichnis 10 Die Leitlinien zur Lese-Rechtschreib-Störung und zur Rechenstörung ................................................................ 52 Die wesentlichen Elemente der Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung der Lese-/ Rechtschreib-Störung ............ 54 Die wesentlichen Elemente der Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung................................ 57 11 Mythen über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung .... 61 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung ............................................................................ 65 12 Vor dem Studium............................................................. 65 ► Studienwahl und Studienvorbereitung | Svea .............. 68 13 Studienstart und Studienalltag ........................................ 72 ► Ängste beim Studienstart | Svea.................................. 72 ► Finanzen | Carla........................................................... 73 ► Zeitmanagement mit Dyskalkulie | Carla ..................... 74 ► Zeitmanagement mit Legasthenie | Svea .................... 75 ► Kommunikation mit Dozierenden | Svea ...................... 77 ► Kommunikation mit Mitstudierenden | Svea................. 81 14 Nachteilsausgleich für Prüfungen und andere Unterstützungsmöglichkeiten................................................... 83 ► Nachteilsausgleich beantragen | Natascha .................. 88 ► Nachteilsausgleich mit kleinen Hindernissen | Svea..... 91 ► Nachteilsausgleich bei Dyskalkulie | Carla ................... 92 15 Technische Hilfsmittel ..................................................... 95 Technische Hilfsmittel bei Legasthenie............................ 95 ► Technische Hilfsmittel in der Anwendung | Anton ...... 106 Technische Hilfsmittel bei Dyskalkulie ........................... 107 <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis 9 16 Lernstrategien und Prüfungsvorbereitung...................... 109 Optimale Vorbereitung durch effizientes Lernen............ 109 ► Prokrastinieren vermeiden | Svea .............................. 111 17 Prüfungsangst ............................................................... 113 ► Vor einer Prüfung | Svea ............................................. 116 18 Stipendium, Studienabschluss und Promotion ............... 119 Stipendium ................................................................... 119 ► Wann ein Stipendium möglich ist | Svea .................... 120 Studienabschluss........................................................... 121 ► Bachelorabschluss in Germanistik | Natascha ............ 121 ► Bachelorabschluss in Logopädie und Master-Arbeit | Carla .......................................................................... 123 Promotion ...................................................................... 124 ► Vorbereitungen zur Promotion | Svea ........................ 124 III Einstieg in den Beruf .................................................127 19 Bewerbung .................................................................... 129 20 Umgang mit Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung im ersten Job ................................................................. 131 ► Legasthenie im Job ansprechen | Svea....................... 131 Das Wichtigste zum Schluss ................................................ 134 Weiterführende Links .......................................................... 136 Literaturverzeichnis............................................................. 137 Stichwortverzeichnis ........................................................... 143 <?page no="11"?> 11 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung 1 Im Dschungel der Begriffe Legasthenie, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Lese-Rechtschreib- Störung, Lernschwäche, Lernstörung oder doch Dyslexie? Rechenstörung, Rechenschwäche oder Dyskalkulie? Es gibt viele verschiedene Begriffe, die alle das gleiche oder zumindest etwas Ähnliches beschreiben: Ausgeprägte Schwierigkeiten beim Erwerb des Lesens und/ oder Schreibens bzw. des Rechnens. Im Folgenden werden diese unterschiedlichen Begriffe erklärt. Legasthenie Der Begriff der Legasthenie wird sehr häufig im Alltag und von Betroffenen selbst verwendet. Gemeint sind ausgeprägte Lese- oder Rechtschreibschwierigkeiten oder auch beides, meist im Sinne einer Diagnose. Auch die Studierenden, die in diesem Buch von ihren Erfahrungen berichten, verwenden diesen Begriff. Lese-Rechtschreib-Schwäche Dieser Begriff ist nicht ganz eindeutig. Teilweise werden weniger stark ausgeprägte Schwierigkeiten als „Schwäche“ bezeichnet, und nur, wenn alle Kriterien einer Diagnose erfüllt sind, wird von einer Störung gesprochen. Teilweise wird der Begriff verwendet, wenn Ursachen, wie eine fehlende oder falsche Beschulung, für die Schwierigkeiten verantwortlich gemacht werden. <?page no="12"?> 12 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung Manchmal wird er aber auch inhaltsgleich mit dem der Lese- Rechtschreib-Störung verwendet. Manche Menschen empfinden beispielsweie den Begriff der „Störung“ als negativ und stigmatisierend und bevorzugen von einer „Schwäche“ zu sprechen. Leseund/ oder Rechtschreibstörung Erfüllen die ausgeprägten Leseund/ oder Rechtschreibschwierigkeiten die Kriterien für eine medizinische Diagnose, wird von einer Leseund/ oder Rechtschreibstörung (LRS) gesprochen. Es ist klar vorgegeben, welche Diagnosekriterien dafür erfüllt werden müssen. In diesem Buch werden deshalb in den Informationsteilen diese Begriffe verwendet. Ein weiterer Grund für diese Entscheidung ist, dass die beiden Bereiche Lesen und Rechtschreiben im folgenden Text so benannt werden können, sodass immer klar ist, ob einer der beiden Bereiche gemeint ist oder beide gemeint sind. Lernstörung Der Begriff der „spezifischen Lernstörung“ stammt aus dem amerikanischen Klassifikationssystem DSM V , dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (5th ed.) (American Psychiatric Association, 2013). Er bezeichnet neben der Lese- und der Rechtschreibstörung auch die Rechenstörung. Die Lernstörung wird durch den Zusatz „mit Beeinträchtigung im Lesen“, „mit Beeinträchtigung im schriftsprachlichen Ausdruck“ und „mit Beeinträchtigung in Mathematik“ spezifiziert. Im vorliegenden Buch wird der Begriff „Lernstörung“ zur besseren Lesbarkeit als Überbegriff verwendet, wenn alle drei Störungsbilder gemeint sind. Teilleistungsstörung oder -schwäche Dieser Begriff soll deutlich machen, dass nur ein begrenzter Teilbereich, wie z. B. die Rechtschreibung, von einer Einschränkung <?page no="13"?> 1 Im Dschungel der Begriffe 13 betroffen ist. Diese Begrenzung ist allerdings meist nicht ganz so klar vorhanden (siehe Kapitel 2 und 5 in Teil I). Aus diesem Grund wird der Begriff Teilleistungsstörung aktuell nicht mehr verwendet. Rechenschwäche Auch dieser Begriff kann sich, wie beim Lesen und Schreiben, auf weniger ausgeprägte Schwierigkeiten als bei einer Störung beziehen. Er wird aber auch inhaltsgleich verwendet, um den Störungsbegriff zu vermeiden. Rechenstörung Analog zur Leseund/ oder Rechtschreibstörung wird für den Bereich des Rechnens die Diagnose Rechenstörung vergeben. Auch hier sind klare Kriterien vorgegeben, die erfüllt sein müssen, um die Diagnose zu vergeben. Dyskalkulie Der Begriff der Dyskalkulie ist gleichbedeutend mit dem der Rechenstörung. Im vorliegenden Buch werden diese beiden Begriffe verwendet. <?page no="14"?> Die ausgeprägten Schwierigkeiten bei einer Lesestörung umfassen meist Lesefehler, niedrige Lesegeschwindigkeit und Probleme beim Leseverständnis (Schulte-Körne, 2010). Im Erwachsenenalter ist die niedrige Lesegeschwindigkeit bei den meisten Betroffenen das Hauptmerkmal. Auch das Leseverständnis kann bei einer ausgeprägten Lesestörung sogar im Erwachsenenalter noch beeinträchtigt sein. Bei der Rechtschreibstörung bestehen die Schwierigkeiten darin, Wörter und Wortteile richtig zu schreiben. Es kann passieren, dass ein Wort immer wieder auf verschiedene Arten falsch geschrieben wird (z. B. Näzeug, Nähzeuk, Nezeug, Nezäuk ). Im Erwachsenenalter sind die Fehler meist auf die korrekte Anwendung von Rechtschreibregeln bezogen. Besonders Wörter, die anders geschrieben werden als man sie spricht, bereiten dann noch Schwierigkeiten, bspw. Wörter mit Dehnungs-h (Bahn), ie (Fliege) und Doppelkonsonanten (Terrasse) oder auch mit mehreren dieser Rechtschreibphänomenen zusammen (vielleicht). Auch die Qualität geschriebener Texte kann, unabhängig von den Fehlern darin, bei einer Rechtschreibstörung noch im Erwachsenenalter beeinträchtigt sein (Tops, Callens, van Cauwenberghe, Adriaens, & Brysbaert, 2013). Unabhängig von den konkret auftretenden Schwierigkeiten ist bei beiden Störungsbildern die jeweilige Tätigkeit, also Lesen oder Schreiben, immer mit deutlich mehr Anstrengung verbunden als für Menschen ohne Lese- oder Rechtschreibstörung. Betroffene müssen für dieselbe Tätigkeit deutlich mehr leisten. schreibstörung 14 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung 2 Symptome einer Lese-/ Recht- <?page no="15"?> Die Lesestörung und die Rechtschreibstörung können isoliert, d. h. getrennt voneinander, auftreten. Oft kommen aber auch beide Störungsbilder zusammen, also kombiniert als Lese- Rechtschreib-Störung, vor (Moll, Kunze, Neuhoff, Bruder, & Schulte-Körne, 2014). Dabei ist das Störungsbild der Leseund/ oder Rechtschreib- Störung nicht einheitlich. Zwar gibt es klare Kriterien, die erfüllt sein müssen, um eine Diagnose zu stellen, allerdings sind bei jedem Menschen die Schwierigkeiten anders ausgeprägt - nicht nur von der Stärke her, sondern auch von der Art der Schwierigkeiten. Aus diesem Grund ist es schwer, allgemeingültige Aussagen für die Lese-/ Rechtschreib-Störung zu treffen. Da Lesen und Schreiben nicht nur im Fach Deutsch wichtig sind, zeigen sich bei Menschen mit LRS meist starke Auswirkungen auch auf die Leistungen in anderen Bereichen. Textaufgaben in Mathematik können für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit einer Lesestörung eine große Hürde sein, sogar wenn sie gut in Mathe sind. Auch das Erlernen von Fremdsprachen stellt eine große Herausforderung dar (siehe Kapitel 2). Generell ist das Aneignen von neuem Wissen weitaus anstrengender, wenn der Inhalt nur mit Mühe erlesen werden kann. Studienergebnisse zeigen, dass Jugendliche mit einer LRS einen geringeren Schulabschluss erreichen und seltener studieren (Esser, Wyschkon, & Schmidt, 2000), was wiederum die gesamte Berufslaufbahn beeinflusst. Auch im Alltag kommt es oft zu Beeinträchtigungen. Mögliche Schwierigkeiten bei einer Lesestörung im Erwachsenenalter: niedrige Lesegeschwindigkeit Schwierigkeiten mit unbekannten Wörtern und Fremdwörtern 15 2 Symptome einer Lese-/ Rechtschreibstörung <?page no="16"?> Auslassen oder Ersetzen von Wörtern oder Wortteilen, Vertauschen von Wörtern im Satz oder von Buchstaben in den Wörtern Schwierigkeiten, den Inhalt des Textes zu erfassen und Schlussfolgerungen zu ziehen Mögliche Schwierigkeiten einer Rechtschreibstörung im Erwachsenenalter: hohe Fehleranzahl beim Schreiben Schwierigkeiten besonders mit Wörtern, die anders geschrieben werden, als man sie spricht hohe Fehlerzahl nicht nur beim freien Schreiben, sondern auch beim Abschreiben von Texten Beeinträchtigung der inhaltlichen Qualität von Texten Grammatik- und Interpunktionsfehler evtl. schlecht leserliche Handschrift ► Wie ich meine Legasthenie bemerke | Svea Auch als Erwachsene spüre ich meine Legasthenie. Sie ist nicht täglich präsent, aber phasenweise merke ich meine Einschränkungen sehr. Meist komme ich damit gut zurecht, aber es gibt immer wieder Zeiten, da hadere ich sehr damit, meistens dann, wenn etwas deswegen nicht so funktioniert, wie ich möchte, oder wenn ich durch die Einschränkungen an Hürden stoße. Konkret fallen mir folgende Tätigkeiten schwer: Immer noch bin ich im Lesen langsamer als andere und habe große Probleme, unbekannte Wörter, vor allem Fachbegriffe, zu lesen. Auch Namen, die schwieriger sind, machen mir große 16 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="17"?> 17 Probleme. In den Fremdsprachen, vor allem im Englischen, sind diese Schwierigkeiten deutlich ausgeprägter. Auch ermüdet mich das Lesen mit der Zeit stark. Meine Schwierigkeiten werden also immer stärker, je länger ich lese. Dies kann sich bei mir so weit steigern, dass ich nicht mehr sinnentnehmend lesen kann, also nicht mehr verstehe, was ich eigentlich lese. Zwischendurch verlese ich mich manchmal, zum Teil kommen dabei lustige Verwechslungen der Wörter heraus, manchmal aber auch sehr peinliche Situationen. Beim Schreiben sind meine Probleme für mich noch störender, vor allem, weil ich eigene Fehler kaum erkennen kann. Dadurch kann ich, anders als beim Lesen, überhaupt nicht einschätzen, ob, welche und wie viele Fehler ich mache. Dies führt dazu, dass es mich sehr unsicher macht, wenn Personen, die nichts von meiner Legasthenie wissen, unkorrigierte Texte zu lesen bekommen. Man kann es sich vielleicht so vorstellen, als würde man als blinde Person, nachdem man das erste Mal mit Stäbchen gegessen hat, eine neue Person treffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kleidung Flecken hat, ist hoch. Die Flecken zu entdecken ist mir aber unmöglich. So geht es mir beim Schreiben: Sehr wahrscheinlich habe ich Fehler gemacht, egal wie sehr ich mich angestrengt habe und auch wenn ich den Text zehnmal selbst Korrektur gelesen habe. Wie gravierend diese Fehler sind und was dies bei der anderen Person auslöst, kann ich nicht einschätzen. Denn leider ist es immer noch so, dass vor allem im deutschen Sprachraum eine schlechte Rechtschreibung sehr negativ besetzt ist und man häufig als nachlässig und nicht gewissenhaft abgestempelt wird oder sogar, am schlimmsten, als nicht intelligent wahrgenommen wird. 2 Symptome einer esee ts rei störung <?page no="18"?> Um möglichst fehlerfrei zu schreiben, nutze ich verschiedene Strategien, die ich in einer speziellen Lerntherapie als Kind und Jugendliche vermittelt bekommen haben: Ich spreche permanent innerlich mit. Schwierige Wörter erarbeite ich mir im Kopf, indem ich die Silbentrennung anwende. Auch wende ich aktiv Rechtschreibregeln an bei Wörtern, bei denen ich unsicher bin, z. B. „Wörter mit den Vorsilben vor- oder verwerden meist mit v und nicht mit f geschrieben.“ Auch lese ich Texte beim Korrekturlesen erst vorwärts und dann noch einmal rückwärts. Dabei versuche ich, Rechtschreibfehler zu finden. Durch das Rückwärtslesen kann ich mich auf die einzelnen Wörter konzentrieren, weil sie nicht im inhaltlichen Zusammenhang stehen. So gelingt es mir besser, Fehler zu erkennen, weil die Wörter aus dem Zusammenhang des Satzes gerissen werden. Auf die Kommasetzung zu achten (im Schreibfluss schaffe ich es nicht, Kommas zu setzen) und zu lange Sätze zu kürzen oder aufzuteilen, mache ich danach in einem gesonderten Durchgang, genauso wie auf Groß- und Kleinschreibung zu achten. Die Rechtschreibkorrektur nimmt einem davon bereits viel ab. Ansonsten hilft es mir auch, mir über die Sprachausgabe den geschriebenen Text vorlesen zu lassen, da alle Wörter genau so vorgelesen werden, wie sie geschrieben wurden, also mit den Rechtschreibfehlern. Dadurch ist es leichter, die Fehler zu bemerken. Neben den direkten Symptomen der Legasthenie merke ich aber auch die Folgen, vor allem die Angst davor, plötzlich 18 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="19"?> 19 etwas laut vorlesen oder vor anderen aufschreiben zu müssen. Meine Sorge, peinliche Fehler zu machen, ist groß. Außerdem passiert es mir manchmal (vor allen in stressigen Situationen), dass ich mich verlese und dies Folgen hat: Dass ich z. B. zu einer anderen, aber ähnlich geschriebenen Straße fahre oder in der Eile in den falschen Zug, Bus oder die falsche Straßenbahn steige. Meist kann ich mich an den Nummern orientieren, aber das funktioniert nicht immer. So finde ich mich dann in Situationen wieder, in denen ich deutlich zu spät komme. Oft plane ich daher alle meine Fahrten akribisch. Freunde und Bekannte, mit denen ich mich an einem mir unbekanntem Ort treffe, lasse ich mir vorher die genaue Adresse oder den Startort schicken, sodass ich diese dann direkt in die Navigationsapp übernehmen kann. So vermeide ich Verwechselungen mit ähnlich klingenden Lokalen oder Straßennamen. Auch habe ich immer die Sorge, etwas Wichtiges zu überlesen, am meisten, wenn ich Verträge unterschreiben muss. Aus diesem Grund lasse ich diese immer noch von jemand anderem lesen. Weitere Probleme, die ich habe: Rechts-/ Linksschwäche Probleme mit dem Kopfrechnen Namen merken geringes Selbstwertgefühl und Angst davor, zu versagen 2 Symptome einer esee ts rei störung <?page no="20"?> ► Legasthenie unter der Oberfläche | Natascha Ich erkläre meine Legasthenie oft mit einer Mauer in meinem Kopf. Eine Mauer, die keiner sieht, gegen die ich aber immer renne, wenn ich schnell, richtig und schön etwas schreiben will oder „mal eben“ etwas lesen soll. Tatsächlich habe ich mir, bildlich gesprochen, um die Mauer eine Straße gebaut - eine Straße aus viel Übung, guten Rechtschreibkenntnissen und einem grundsätzlich schlauen Kopf. Das hilft mir, den Umweg schnell zu bewältigen, es bleibt aber ein Umweg. Von außen merkt man mir wenig an, das wird mir in der Uni rückgemeldet und auch von bisherigen Arbeitgebern. Hier bin ich tatsächlich sehr transparent und frage nach. Kurz gesagt: An meiner Leistung merkt man meine Legasthenie wenig. Allerdings habe ich einen hohen Aufwand, und manchmal fällt es dann doch auf: Mein Lateinlehrer wunderte sich, warum ich so schlecht in meinen Vokabeltests war. Ich selbst wunderte mich, als ich noch keine Diagnose hatte, warum ich in den Lesetests schlecht abschnitt trotz vielen Übens. Ich lese nicht besonders auffällig langsam, aber doch leicht unterdurchschnittlich. Wenn ich mit meinem Partner zusammen etwas lese, ist er immer schneller fertig. Wenn ich viel mit der Hand schreibe, verkrampft diese, weil es doch sehr anstrengend ist. In früheren Prüfungen habe ich gekeucht und gestöhnt, ohne es zu merken, um meiner Anstrengung Luft zu machen. Auf dem Papier war ich gerade so fertig und Fehler waren zwar einige da, hielten sich aber in Grenzen. Meine Textqualität ist sehr gut, vielleicht auch, weil ich trotz allem Sprache so spannend finde und mich viel damit auseinandersetzte. Ich spiele mit Buch- 20 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="21"?> 21 staben, was oft schöne Texte mit einigen merkwürdigen Schreibweisen ergibt. Diese fallen besonders auf, wenn ich müde bin, und ich werde schneller müde und erschöpft nach schriftlastigen Tagen. Nichtsdestotrotz studiere ich gern, studiere ich Sprache und will in der Kommunikation arbeiten - dafür muss ich effizienter arbeiten und meine Zeit gut managen. Nach viel Schreiben oder Lesen an einem Vormittag schicke ich nur noch Sprachnachrichten. Öfter als es mir bewusst ist, vermeide ich dann doch im Alltag das Lesen und kann im Nachhinein nicht sagen, wie eine Straße oder ein Geschäft hieß. Besonders in Restaurants habe ich Zeitdruck beim Lesen. Beim Buchen von Fahrkarten und Reisen tue ich mich auch schwer. Es ist mir schon oft passiert, dabei einen falschen Ort oder Ähnliches eingegeben zu haben. Daher brauche ich bei diesen Prozessen unglaublich lang und viel Kraft, um mich zu zwingen, das Ganze mehrfach und genau zu lesen. Bei allen wichtigen schriftlichen Tätitgkeiten plane ich mehr Zeit ein, damit jemand anderes nochmal drüber lesen kann. ChatGPT, Duden Mentor und weitere Hilfsmittel machen es mittlerweile etwas einfacher. Trotzdem verzichte ich ungern auf ein zweites Paar Augen. Manchmal sage ich auch „Ich habe heute keine Buchstaben mehr.“ Denn irgendwie sind Buchstaben für mich ein limitiertes Kontingent, eine knappe Ressource. Ich verstehe viel beim Lesen und schreibe gut, aber doch nur mit hoher Konzentration und immer in begrenztem Rahmen. Gleich- 2 Symptome einer esee ts rei störung <?page no="22"?> zeitig weiß ich, wie ich auch beim einmaligen Lesen von Texten Wichtiges gleich erfassen kann. Ich verstehe schnell, was gefragt ist und habe eine Vorstellung, was ich schreiben will. Dann muss ich meinen Text nur noch verfassen. Auch wenn meine Ergebnisse sehr gut sind, bin ich unter der Oberfläche viel am Kompensieren, um diese trotz meiner Legasthenie zu erreichen. Literaturtipp | Grundsätzliche Informationen zum Thema Angst vermittelt Barbara Schmidt in ihrem Buch „Angst? Frag doch einfach! “. Darin enthalten sind auch zahlreiche Übungen. Erlernen von Fremdsprachen Für viele Menschen mit einer Leseund/ oder Rechtschreibstörung ist das Erlernen einer Fremdsprache eine große Herausforderung. Zahlreiche Schwierigkeiten, die sie in der Muttersprache haben, treten auch in der Fremdsprache auf: Wörter werden falsch geschrieben oder falsch ausgesprochen, das Textverständnis kann eingeschränkt sein und evtl. bereitet das Erlernen/ Abrufen von Vokabular auch Schwierigkeiten (Gerlach, 2013). Hinzu kommt, dass Sprachen eine unterschiedliche orthographische Transparenz aufweisen (Torres & Futrell, 2025): Die Zuordnung der Buchstaben/ Buchstabenkombinationen zu den entsprechenden Lauten und umgekehrt ist nicht gleich konsistent. Im Italienischen oder auch im Spanischen beispielsweise repräsentieren die meisten Buchstaben nur einen Laut und die meisten Laute werden durch nur einen Buchstaben verschriftlicht. Im Englischen hingegen repräsentieren einige Buchstaben verschiedene Laute. Einige Vokale werden je nach Buchstaben- 22 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="23"?> 23 kombination unterschiedlich ausgesprochen, z. B. das „a“, wenn es in den Worten „bad“, „state“ oder „task“ vorkommt. Auch umgekehrt kann ein Laut im Englischen durch mehrere verschiedene Buchstabenkombinationen verschriftlicht werden (siehe z. B. Goswami, 1995), wie beispielsweise das / i: / in „believe“, „bee“, „heat“ und „evening“. Einige Buchstaben wiederum repräsentieren gar keinen Laut, z. B. das zweite „e“ in „there“ oder das „w“ in „whole“. In Sprachen mit transparenter Orthographie erreichen Kinder schon zum Ende der ersten Klasse eine hohe Lesegenauigkeit, während dies in weniger transparenten Orthographien erst später geschieht (Aro & Wimmer, 2003; Borleffs, Maassen, Lyytinen, & Zwarts, 2018; Seymour, Aro, & Erskine, 2003). Das Erlernen einer Fremdsprache mit nicht transparenter Orthographie kann für Menschen mit einer LRS eine besondere Herausforderung sein. Für sie ist es oft schwer zu erkennen, wie ein Wort ausgesprochen wird oder umgekehrt, wie ein gehörtes Wort korrekt verschriftlicht wird. Es ist wichtig zu wissen, dass eine LRS auch einen Einfluss auf das Erlernen von Fremdsprachen hat. Fällt dies betroffenen Menschen besonders schwer, hat es auch in diesem Bereich nichts mit einem Mangel an Intelligenz oder Fleiß zu tun, sondern ist „normal“. Genauso wie in der Muttersprache ist es auch in Fremdsprachen wichtig, einen guten eigenen Umgang und passende Unterstützungsmöglichkeiten (siehe Kapitel 14) zu finden. Müssen an der Uni beispielsweise englische Texte gelesen oder geschrieben werden, kann es hilfreich sein, mehr Zeit zu bekommen. Auch technische Hilfsmittel wie z. B. Übersetzungsprogramme oder Rechtschreibkorrektur (siehe Kapitel 15) können sinnvoll eingesetzt werden. Beim Erlernen einer Fremdsprache kann es helfen, neue Inhalte wie z. B. Vokabeln über 2 Symptome einer esee ts rei störung <?page no="24"?> 24 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung mehrere Sinneskanäle zu lernen (Andrä, Mathias, Schwager, Macedonia, & Von Kriegstein, 2020; Crombie, 2000; Gerlach, 2015) - ein neu zu lernendes Wort also z. B. zu lesen, zu schreiben, anzuhören und nachzusprechen und evtl. noch ein passendes Bild oder sogar die entsprechende Geste dazu anzusehen bzw. auszuführen (mehr zum Thema Lernstrategien siehe Kapitel 3). Literaturtipp | Das Buch von David Gerlach „Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) im Fremdsprachenunterricht“ informiert über Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten, Aspekte der Lehrmittelgestaltung sowie schulrechtliche Maßnahmen wie Notenschutz und Nachteilsausgleich. <?page no="25"?> 25 3 Symptome einer Rechenstörung Bei einer Rechenstörung (Dyskalkulie) ist der Erwerb von Rechenfertigkeiten eingeschränkt. Betroffen sind besonders Basiskompetenzen (z. B. Zahlen- und Mengenverständnis) und Grundrechenarten (Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division). Daneben kann auch das Lösen von Textaufgaben eingeschränkt sein. Häufig fällt schon früh auf, dass betroffene Kinder kein Verständnis für Größen und Mengen entwickeln. Grundlegende Rechenoperationen fallen schwer. Je komplexer die Anforderungen werden (größerer Zahlenraum, schriftliches Rechnen etc.), desto größer werden meist auch die Schwierigkeiten (Haberstroh & Schulte-Körne, 2019). Im Erwachsenenalter können einfache Rechenoperationen meist durchgeführt werden, allerdings ist die zum Rechnen benötigte Zeit häufig deutlich länger. Auch Probleme in der Abschätzung von Größen, Strecken und Mengen können bestehen bleiben: Ist etwas viel oder wenig? Lang oder kurz? Nah oder weit? Komplexere Anforderungen wie Textaufgaben und Rechnen im großen Zahlenraum bleiben ebenfalls oft eine Herausforderung. Im Alltag ist schnelles Abschätzen von Mengen oder Überschlagen von Beträgen im Kopf oft notwendig. Auch in vielen naturwissenschaftlichen Fächern sind grundlegende und auch höhere Rechenfertigkeiten gefragt. Auch die Symptome einer Dyskalkulie sind deshalb nicht nur auf den Schulbereich beschränkt. Mögliche Schwierigkeiten bei einer Rechenstörung im Erwachsenenalter: Schwierigkeiten beim Ausführen von Rechenoperationen langsames Rechnen <?page no="26"?> Schwierigkeiten beim Lösen von Textaufgaben Probleme beim Schätzen von Mengen und Größen ► Alltag mit Dyskalkulie | Carla Viele Menschen nehmen nicht bewusst wahr, dass die Welt voller Zahlen ist. Für mich sind sie allgegenwärtig. Besonders große Schwierigkeiten im Alltag bereiten mir Geld, die Uhrzeit, die Orientierung und Mengen abzuschätzen. Daher zahle ich am liebsten mit Karte, denn das Wechselgeld nachzuzählen, Trinkgeld abzuschätzen oder generell das Geld passend an der Kasse herauszusuchen ist für mich purer Stress. Mir wurde auch schon das falsche Wechselgeld rausgegeben und ich habe erst nicht bemerkt, dass es zu wenig ist. Als ich es dann bemerkt habe, habe ich mich aber nicht getraut, etwas zu sagen. Denn was ist, wenn ich doch falsch liege? Außerdem habe ich generell kein Gefühl für Geld. Ich kann nicht einschätzen, ob mein Geld reicht, ob ich genug Geld auf meinem Konto habe und ob Dinge teuer oder günstig sind. Ich habe permanent Angst, kein Geld mehr zu haben oder zu viel auszugeben. Bei großen Beträgen fühle ich mich schnell überfordert und würde am liebsten vor dem Thema davonlaufen und mich gar nicht damit beschäftigen. Die analoge Uhr ist für mich schwieriger zu lesen als für die meisten Menschen. In der Grundschule habe ich sehr lange gebraucht, um zu verstehen, wie die analoge Uhr funktioniert. Auch heute noch kommt es vor, dass ich manchmal denke, halb acht wäre 8: 30 Uhr. So bin ich auch schon zu spät zu einer Vorlesung gekommen, weil ich den Wecker 26 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="27"?> 27 falsch gestellt hatte. Außerdem wohne ich in Franken und in dieser Gegend werden Uhrzeiten noch komplizierter verbalisiert. „Dreiviertel sieben“ und „Viertel acht“ sind hier ganz gewöhnliche Angaben der Uhrzeit. Teilweise muss ich nochmal prüfen, was das für eine Uhrzeit ist. Reisen ist für viele aufregend und spannend. Für mich ist es zuerst einmal anstrengend und mühsam: Ich bin an Orten, die ich nicht kenne und muss mich in der Stadt, am Bahnhof oder Flughafen erstmal zurechtfinden. Man vergisst ganz schnell, dass es auch an solchen Orten nur so vor Zahlen wimmelt. Auch das Kartenlesen fällt mir schwer. Dazu kommt, dass ich Entfernungen schlecht einschätzen kann. Ich brauche für alles eine Navigationshilfe. Bin ich einen Weg mehrmals gelaufen, geht es meist auch so, aber verlassen darf ich diesen dann nicht. Ich merke mir also feste Routen von A nach B. Zum Beispiel wie ich von zuhause zur Uni oder Arbeit komme, wie ich zum nächsten Supermarkt gehe etc. Zusätzlich versuche ich, mir visuelle Ankerpunkte zu suchen, die ich als Stütze und Erinnerungshilfe für meine Orientierung nutze. Dunkelheit macht das Ganze natürlich noch schwieriger. Auch das Thema Mengen tangiert meinen Alltag, z. B. beim Backen und beim Kauf von Gegenständen für die Wohnung. Passt das da rein? Beim Backen helfe ich mir gerne mit amerikanischen Rezepten, die in Cups rechnen. Ich komme mit etwas Hilfe aber auch mit der Küchenwaage zurecht. Außerdem gibt es Mengen, die sehen für mich nach mehr oder weniger aus, als sie eigentlich sind. Eine Milchpackung z. B. ist für mich bis heute kein Liter. Für mich sieht sie aus wie 3 Symptome einer Rechenstörung <?page no="28"?> 0,5 Liter, obwohl ich weiß, dass es ein Liter Milch ist. Viele Mengenzuordnungen lerne ich also auswendig. Wenn mir jemand von seiner neuen 50-Quadratmeter-Wohnung erzählt, weiß ich, dass sie größer ist als meine Einzimmerwohnung, aber mehr auch nicht. 28 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="29"?> 29 4 Häufigkeit von Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung Zur Häufigkeit der drei Störungsbilder gibt es sehr unterschiedliche Angaben. Es wird davon ausgegangen, dass ca. 5 bis 15 % der Menschen von einer Leseund/ oder Rechtschreibstörung betroffen sind und 3 bis 5 % von einer Rechenstörung (American Psychiatric Association, 2013; Haberstroh & Schulte-Körne, 2019; Moll et al., 2014; Yang et al., 2022). Die große Spanne bei den Angaben kommt dadurch zustande, dass die Kriterien für eine Diagnose nicht in allen Studien gleich sind. Trotzdem wird deutlich, dass sehr viele Menschen von einer der drei Störungen betroffen sind. Ganz grob geschätzt kann man davon ausgehen, dass in einer Schulklasse jeweils ein Kind mit einem der drei Störungsbilder sitzt. Natürlich variiert dies je nach Schulform stark, da Kinder und Jugendliche mit Lernstörung im Durchschnitt einen geringeren Schulabschluss erreichen (Esser et al., 2000). Abbildung 1 | Häufigkeit von Lese-/ Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="30"?> 30 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung In den oben genannten Häufigkeitsangaben sind die Personen, die „nur“ starke Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen haben, ohne die Diagnosekriterien zu erfüllen, nicht eingerechnet. Das heißt, ein nicht erheblicher Teil der Bevölkerung ist durch Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwierigkeiten in seiner Bildungs- und Berufslaufbahn sowie im Alltag eingeschränkt. <?page no="31"?> 31 5 Ursachen einer Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung Es wird davon ausgegangen, dass verschiedene Ursachen gemeinsam zu einer Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung führen können. Die Genetik spielt eine wichtige Rolle: Kinder haben ein deutlich erhöhtes Risiko, eine LRS oder Dyskalkulie zu entwickeln, wenn ein Elternteil von einer Lernstörung betroffen ist. Sind beide Elternteile betroffen, steigt dieses Risiko noch einmal. Die Erblichkeit wird bei Lernstörungen auf ca. 30 bis 70 % geschätzt (Oliver, Harlaar, & Hayiou Thomas, 2004; Scerri & Schulte-Körne, 2010). Das bedeutet, dass bis zu 70 % der spezifischen Symptomatik eines Menschen auf seine genetische Ausstattung zurückzuführen sind. Es wird angenommen, dass die genetische Veranlagung zu strukturellen Abweichungen führen kann, die sich bei Menschen mit einer Lernstörung in bestimmten Regionen des Gehirns zeigen (De Smedt, Peters, & Ghesquière, 2019; Richlan, Kronbichler, & Wimmer, 2013). Auch bei der Aktivierung mancher Gehirnregionen zeigen sich Abweichungen während relevanter Aufgaben - also z. B. bei Menschen mit Lesestörung beim Lesen (Paulesu, Danelli, & Berlingeri, 2014). Die Veränderungen auf neuronaler Ebene wiederum bedingen wahrscheinlich spezifische kognitive Profile, die sich dann in bestimmten Symptomen zeigen. Zu den kognitiven Bereichen, die bei einer Lese-Rechtschreib-Störung beeinträchtigt sein können, zählt u. a. die phonologische Verarbeitung (die Verarbeitung von Sprachlauten). Schon vor dem Lesen- und Schreibenlernen fällt oft auf, dass betroffene Kinder Schwierigkeiten haben, Laute in einem Wort <?page no="32"?> 32 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung zu erkennen oder auszutauschen, Silben zu klatschen oder zu reimen. Im Erwachsenenalter finden sich diese Schwierigkeiten nur bei manchen Betroffenen. Auch die so genannten exekutiven Funktionen können sowohl bei der Lese-, der Rechtschreibals auch der Rechenstörung eingeschränkt sein. Sie sind dafür zuständig, das eigene Verhalten zu planen und zu kontrollieren, z. B. Abläufe organisieren, Aufgaben strukturieren und sich nicht ablenken lassen. Außerdem ist es möglich, dass das Arbeitsgedächtnis beeinträchtigt ist. Das Arbeitsgedächtnis wird für alle Aufgaben benötigt, die etwas komplexer sind, sodass wir Informationen „zwischenspeichern“, wieder abrufen und verarbeiten müssen. Ein einfaches Beispiel ist ein Gespräch mit einer anderen Person: Wir müssen zuhören, uns das Gesagte merken und passend darauf reagieren. Wissen | Folgende kognitiven Bereiche können betroffen sein: - Beeinträchtigung des Arbeitsgedächtnisses - Schwierigkeiten beim Planen, Organisieren oder beim Strukturieren von Aufgaben und dabei, beim Lösen einer Aufgabe ablenkende Reize zu unterdrücken - Beeinträchtigungen in der Verarbeitung von Sprachlauten (LRS) <?page no="33"?> 33 Abbildung 2 | Ursachen und Umweltfaktoren von Lernstörungen (eigene Darstellung nach Galuschka (2015), S. 35) Auch wenn Lernstörungen neurobiologisch bedingt sind, so sind die Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwierigkeiten nicht unveränderlich: Schulische und familiäre Unterstützung wirkt sich darauf aus, wie die Entwicklung der Lese-, Rechtschreib- und Rechenfähigkeiten verläuft. Außerdem haben Studien gezeigt, dass sich eine Förderung nicht nur auf die jeweiligen Fähigkeiten selbst auswirkt, sondern auch die neuronale Aktivität so verändern kann, dass sie sich mehr derjenigen von Menschen ohne Lernstörung angleicht (Aylward et al., 2003; Michels, O’Gorman, & Kucian, 2018). Somit spielen auch Umwelteinflüsse eine Rolle bei der individuellen Lese-, Rechtschreib- und Rechenentwicklung. 5 Ursachen einer Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="34"?> ► Woher meine Dyskalkulie kommt | Carla Als bei mir im Alter von neun Jahren die ersten Symptome der Dyskalkulie ans Licht kamen, und ein paar Monate später die offizielle Diagnose feststand, kam die Frage auf, warum ich Dyskalkulie habe und woher diese kam. Meine Großmutter väterlicherseits hatte, laut Erzählungen, ebenfalls bereits in der Schule Schwierigkeiten mit der Mathematik, und zwar bis zum Abitur. Doch auch danach hörten diese nicht auf. Meine Großmutter hatte große Schwierigkeiten, Mengen und Größen einzuschätzen, und auch der Umgang mit Geld war eine Herausforderung für sie. So hatte sie z. B., genau wie ich, immer Angst davor, zu wenig Geld bei sich zu haben, obwohl das objektiv nie der Fall gewesen war. Damals war der Begriff Dyskalkulie vermutlich noch nicht bekannt, eine Diagnose hatte meine Großmutter nie erhalten, aber ich bin mir relativ sicher, dass man heute bei ihr auch von einer Dyskalkulie sprechen würde. All ihre Symptome erlebe ich im Alltag ebenfalls und bin ein kleines bisschen froh, nicht die Einzige in der Familie zu sein, die solche Schwierigkeiten erlebt. 34 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="35"?> ► Wer in meiner Familie noch Legasthenie hat | Natascha Durch die Testung meines Bruders beschäftigte meine Mutter sich tiefer mit dem Thema Legasthenie, verstand die Anzeichen und die genetischen Faktoren und erkannte vieles bei mir wieder. Ich wurde daher erst mit 12 Jahren in der sechsten Klasse getestet. Das Ergebnis erklärte nachträglich vieles, wie z. B. meine schlechten Diktatnoten. Meine Mutter war bereits vor über 40 Jahren auf Legasthenie getestet worden und erhielt daraufhin sogar Förderung und Unterstützung. Da sie dadurch sehr gut mit ihren Problemen zurechtkam und sie sich auch nicht tiefer mit der Diagnose beschäftigt hatte, dachte sie bei der Einschulung von uns Kindern zunächst nicht daran. Nach meiner Testung bemerkte auch mein Vater, dass ihn ähnliche Probleme plagten, auch wenn er nie diagnostiziert wurde und sich durchschlug. Wahrscheinlich hat also auch mein Vater eine Legasthenie oder zumindest Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten. Von der genetischen Disposition her ist es also kein Wunder, dass mein Bruder und ich eine Legasthenie haben. 5 Ursachen einer Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung 35 <?page no="36"?> 36 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung 6 Diagnosekriterien nach ICD-10 Die Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung sind in der ICD-10, der aktuell gültigen Fassung der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (World Health Organization, 2019) unter den „umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ zusammengefasst. In der neuen ICD-11 sind sie als „Lernentwicklungsstörungen“ unter „neurodevelopmental disorders“ zu finden. Der Begriff der Entwicklungsstörung betont, dass die betroffene Fertigkeit gar nicht erst altersentsprechend ausgebildet wird, es also keine „normale“ Phase der Lese-, Rechtschreib- und Rechenentwicklung gibt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung mit der Kindheit oder Jugend endet. Im Gegenteil bestehen viele der Symptome auch im Erwachsenenalter fort (Schulte-Körne, Deimel, Jungermann, & Remschmidt, 2003; Shaywitz et al., 1999). Auch psychische Symptome kommen im Erwachsenenalter noch vermehrt vor (Aro, Eklund, Eloranta, Ahonen, & Rescorla, 2022; Esser et al., 2000). Hauptmerkmal der umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten ist eine „umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung“ der jeweiligen Fertigkeiten. Wichtig für die Diagnose einer Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung ist, dass die Intelligenz der Betroffenen mindestens im Durchschnittsbereich (das bedeutet ein Intelligenzquotient von mindestens 85) liegt. Ist dies nicht der Fall, wird eine allgemeine Intelligenzminderung diagnostiziert. Ein weiteres Kriterium ist, dass eine angemessene Beschulung stattgefunden hat. Kann jemand beispielsweise nicht gut rechnen, weil er nicht oder nur kurz in der Schule war, wird keine <?page no="37"?> Rechenstörung diagnostiziert. Auch eine neurologische Erkrankung oder Seh- und Höreinschränkungen müssen als Ursache ausgeschlossen werden. Wissen | ICD Die ICD ist die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, also eine internationale Klassifikation der Krankheiten, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben wird. Im deutschen Gesundheitssystem werden aktuell alle Krankheiten nach der ICD-10 diagnostiziert. Der behandelnde Arzt gibt, wenn er eine Diagnose stellt, immer den entsprechenden ICD-10-Code an (z. B. F81.0 für die kombinierte Lese-Rechtschreib-Störung). Dieser wird auch zur Abrechnung an die Krankenkasse weitergeleitet. Im Januar 2022 trat die neue ICD-Fassung, die ICD-11, in Kraft. Es ist aber noch nicht klar, wann die ICD-11 in Deutschland im Gesundheitssystem eingeführt wird. Wahrscheinlich wird dies noch einige Jahre dauern. Die aktuelle Entwurfsfassung der ICD-11 kann man hier einsehen: https: / / www.bfarm.de/ DE/ Kodiersysteme/ Klassifikationen/ ICD/ ICD-11/ uebersetzung/ _node.html. 6 Diagnosekriterien nach ICD-10 37 <?page no="38"?> Die ersten Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen fallen meist in den ersten Grundschuljahren auf. Um den Schwierigkeiten auf den Grund zu gehen, müssen standardisierte Testverfahren von einer Fachkraft durchgeführt werden. Eine medizinische Diagnose nach ICD-10 wird meistens vom Kinder- und Jugendpsychiater gestellt. Auch psychologische (Kinder- und Jugend-)Psychotherapeut: innen dürfen die Diagnose stellen. Neben den betroffenen Leistungen (z. B. Rechnen) wird außerdem ein Intelligenztest durchgeführt, um eine allgemeine Intelligenzminderung auszuschließen. Außerdem müssen körperliche Ursachen (z. B. Einschränkung der Sehfähigkeit) ausgeschlossen werden. Bei Kindern ist es meist unkompliziert, jemanden zu finden, der solch eine Diagnostik durchführen kann. Es gibt ausreichend standardisierte Testverfahren, die eingesetzt werden können. Die Kosten werden in der Regel von der Krankenkasse übernommen. In der Schule reicht in den meisten Bundesländern eine Diagnostik durch den/ die Schulpsycholog: in aus, um Nachteilsausgleich und/ oder Notenschutz gewährt zu bekommen. Bei Erwachsenen stellt sich die Situation anders dar: Nur wenige Psychiater: innen und Psychotherapeut: innen kennen sich mit Lernstörungen aus und bieten überhaupt diese Leistung an. Erschwerend kommt hinzu, dass es nur wenige Testverfahren für Erwachsene gibt. Eine weitere Möglichkeit ist, die Diagnostik bei eine: r Psycholog: in mit qualifizierter Weiterbildung zur Lerntherapeut: in (z. B. Dyslexietherapeut: in) durchführen zu 38 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung 7 Diagnose von Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörungen <?page no="39"?> lassen. Lerntherapeut: innen, die Erwachsene testen, gibt es deutlich mehr als entsprechend weitergebildete Psychiater: innen und Psychotherapeut: innen. Allerdings dürfen Psycholog: innen keine medizinische Diagnose nach ICD-10 vergeben. Diese kann aber z. B. beim Nachteilsausgleich nötig sein. Die Kosten für die Diagnostik im Erwachsenenalter müssen in der Regel selbst getragen werden und sind leider nicht niedrig. Da sie stark variieren können, ist eine genaue Angabe der Kosten nicht möglich. Grob kann man von einem Betrag im eher unteren dreistelligen Bereich ausgehen. Es ist sinnvoll, vorab bei der Krankenkasse und bei der diagnostizierenden Fachkraft anzufragen, ob es doch eine Möglichkeit zur Kostenübernahme gibt. Falls eine Finanzierung über die Kasse möglich ist, ist dies allerdings normalerweise nur bei Psychiater: innen und bei Psychotherapeut: innen der Fall, nicht aber bei Psycholog: innen mit lerntherapeutischer Weiterbildung. Bei Letzteren ist die Diagnostik dafür aber manchmal nicht ganz so teuer. Für betroffene Erwachsene ist das Suchen nach einer diagnostizierenden Stelle oft eine große Herausforderung. Zwar haben viele von ihnen inzwischen Strategien gelernt, um mit ihren Schwierigkeiten umzugehen, sich in bestimmten Bereichen Unterstützung zu holen und technische Hilfsmittel anzuwenden, aber nicht alles lässt sich kompensieren, und viele Schwierigkeiten sind auch noch im Erwachsenenalter eine Belastung. Damit aber beispielsweise im Studium bei Prüfungen Unterstützungsmöglichkeiten in Form eines so genannten Nachteilsausgleichs gewährt werden, wird häufig ein aktuelles Attest verlangt. Tipp | Beratung zu geeigneten Teststellen gibt es beim Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie e. V. (BVL). Hier 7 Diagnose von Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörungen 39 <?page no="40"?> gibt es eine Beratung für Erwachsene zum Thema „Legasthenie in Ausbildung, Studium und Beruf“ mit hilfreichen Informationen und Tipps: erwachsene@bvl-legasthenie.de, 0228- 38755054, https: / / www.bvl-legasthenie.de/ service/ ansprechpartner.html#content ► Meine Legasthenie-Diagnostik | Svea Da meine letzte Diagnostik zu Schulzeiten durchgeführt worden war, wusste ich, dass ich fürs Studium eine neue Diagnostik benötige. Die Suche nach einer Fachkraft, die im Erwachsenenalter noch Legasthenie-Diagnostik durchführt, war eine Herausforderung. Meine eigene Recherche und auch ein Telefonat mit der 116117 (Vermittlung von Facharztterminen) brachten mich nicht weiter. Doch über die Jungen Aktiven im BVL bekam ich schließlich Kontakte vermittelt. Diese waren zwar nicht in meiner Nähe, aber zumindest in einer Entfernung, die ich an einem Tag entspannt mit dem Zug hin- und zurückfahren konnte. Ich vereinbarte also einen Termin und fuhr hin. Davor und danach wollte ich mir einen schönen Tag in der Stadt machen. Als ich dann mich mit der Straßenbahn zur Praxis des Psychiaters fuhr, merkte ich, dass ich immer nervöser und angespannter wurde. Ich geriet ins Schwitzen, alte Ängste aus meiner Schulzeit kamen wieder hoch. Der Termin war dann aber nicht schlimm und der Psychiater nett. Allerdings war es sowohl kognitiv als auch emotional sehr anstrengend für mich. Erst ging es in einem Gespräch darum, wie meine Schulzeit war. Alte Befunde wurden besprochen und die 40 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="41"?> Frage, wie ich es geschafft habe, trotz Legasthenie beruflich dahin zu kommen, wo ich zu dem Zeitpunkt war. So hatte ich bis dahin mein Abitur geschafft (ohne Nachteilsausgleich, obwohl dieser einem zusteht), meine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin abgeschlossen und arbeitete in diesem Beruf. Danach ging es mit der Leistungsdiagnostik weiter. Nach der Intelligenzdiagnostik folgten Lese- und Schreibtest. Manche kamen mir noch bekannt vor und sie führten mir meine eigenen Einschränkungen sehr vor Augen. Pseudowörter waren beim Lesen immer noch mein Endgegner. Beim Schreiben sahen manche Wörter falsch aus, zu ermitteln, wo der Fehler lag, erschien mir aber auf die Schnelle unmöglich. Ich hätte einzelne Rechtschreibregeln nacheinander anwenden müssen, um darüber evtl. die richtige Schreibweise zu finden. Diese Zeit hatte ich in der Diagnostiksituation aber nicht. Auch mal kurz im Internet die richtige Schreibweise zu suchen, wie ich es im Alltag sonst meistens machte, war natürlich nicht möglich. Nach einigen Test war ich dann irgendwann endlich fertig, im doppelten Sinne: mein Kopf rauchte. Der Termin endete mit einem kurzen Gespräch, der Erklärung, dass der Psychiater die Tests auswerten und mir postalisch dann das Ergebnis zuschicken würde. Tipp | Da die Krankenkasse die Kosten für eine Diagnostik ab dem 18. Geburtstag nicht mehr übernimmt, empfehle ich mit 17 Jahren noch eine zu machen. Oft wird diese dann zum Ausbildungs-/ Studienstart noch anerkannt. 7 Diagnose von Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörungen 41 <?page no="42"?> ► Ablauf einer Dyskalkulie-Diagnostik | Carla Die erste Diagnostik meiner Dyskalkulie wurde bei mir mit neun oder zehn Jahren durchgeführt. Allerdings kann ich mich an diese kaum erinnern. Um für die Statistikprüfung im Studium einen Nachteilsausgleich zu bekommen, brauchte ich im Alter von 20 Jahren dann ein aktuelles Gutachten. Doch die Suche nach einem Psychiater, der Erwachsene auf Dyskalkulie testet, stellte sich als sehr schwer heraus. Die wenigen Fachärzt: innen, die eine Dyskalkulie-Diagnostik durchführen, sind Kinder- und Jugendpsychiater: innen, die entsprechend nur Kinder und Jugendliche testen. Und ich war ja bereits erwachsen mit meinen 20 Jahren. Schließlich fand ich einen Kinder- und Jugendpsychiater in München, der mir anbot, verschiedene standardisierte Tests zu kombinieren, um eine fundierte Diagnose stellen und im Gutachten überzeugend einen Nachteilsausgleich empfehlen zu können. Die Testung bestand aus einem Intelligenztest, einem standardisierten Rechentest für die 9. Klasse (einen höheren besaß die Praxis nicht), einem Aufmerksamkeitstest und einer Abfrage zum Allgemeinwissen. Der Intelligenztest bestand leider hauptsächlich aus dem Vervollständigen von Zahlenreihen oder räumlichen Figuren, was mir natürlich aufgrund der Dyskalkulie schwerfiel. Geometrie war noch nie meine Stärke. Auch beim Aufmerksamkeitstest musste ich Zahlenreihen wiedergeben. Das macht mich bis heute etwas stutzig, dass in dem allgemeinen Test so viele Zahlen verwendet werden, obwohl man eine Person mit einer Rechenstörung vor sich sitzen hat. 42 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="43"?> Der Test zum Allgemeinwissen gelang mir gut, und ich hatte Spaß an der Beantwortung der Fragen: Es ging um die Beschreibung von Wörtern, das Finden von Gegenteilen und Synonymen sowie Faktenwissen zu verschiedenen Bereichen. An eine Frage kann ich mich noch erinnern: „Wer ist der Autor von Max und Moritz? “ ► Meine erneute Legasthenie-Diagnose als Erwachsene | Natascha Ich hatte eine Diagnostik mit 12 Jahren und sogar eine erneute Diagnostik mit 16 Jahren gemacht. Das wurde auch an meiner Universität im Bachelor anerkannt. Doch trotz der Info über den Nachteilsausgleich im Bachelor und der Empfehlung der Kontaktstelle für Behinderte wurde die Diagnose an einer anderen Hochschule für meinen Master nicht anerkannt. Die Begründung war, dass Atteste grundsätzlich aktuell sein sollen, ein Attest zu Legasthenie maximal fünf Jahre alt. Aufgrund der schwierigien Suche hatte ich keine Chance, den Nachteilsausgleich für die ersten Prüfungen zu bekommen. Nichtsdestotrotz habe ich mich, um eine erneute Diagnostik bemüht und hatte sogar das große Glück, dass bei mir die Diagnostik über die Krankenkasse abgerechnet werden konnte. Der Termin selbst hat insgesamt etwa drei Stunden gedauert. Zunächst führte ich ein Vorgespräch über meine Gründe für die Diagnostik und meine Lebenssituation. Dazu brachte ich meine alten Diagnostikergebnisse mit. Damit erübrigte sich ein weiterer Intelligenztest, es konnte der aus der Grundschulzeit weiterverwendet werden. 7 Diagnose von Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörungen 43 <?page no="44"?> Die Testung an sich bestand aus einem Lückendiktat, das meine Rechtschreibung testen sollte, und einem Lesetest. Das Lückendiktat war ein Text, der mir vorgelesen wurde und den ich mitlesen konnte. Manche Wörter darin fehlten und wurden mir nun langsam diktiert. Diese musste ich dann ausfüllen. Der Lesetest bestand aus einem relativ komplexen Text mit Lücken. Hinter den Lücken standen drei Wortvorschläge und ich musste dem Sinn entsprechend einen auswählen. Dabei wurde die Zeit gestoppt und festgehalten, wie weit ich im Text kam. Die Testung war sehr anstrengend. Beim Schreiben spürte ich, wie es in mir rattert. Ich merke als Erwachsene, wie meine Kompensationsstrategien anspringen: Ich gehe im Kopf alle Rechtschreibregeln durch, die ich kenne, aber verheddere mich dabei, da ich ja weiter dem Diktat zuhören muss. Beim Lesen merke ich, wie zäh es vonstatten geht, wenn ich gezwungen bin genau zu lesen und weiß, dass mir die Zeit im Nacken sitzt. Der Text fühlt sich an wie ein Sumpf. Ich springe in den Zeilen hin und her und muss viele Sätze doppelt lesen. Die erste Diagnose und auch noch die Bestätigung im Erwachsenenalter ist für mich eine befreiende Erklärung für das, was ich fühle und das doch niemand sieht. Außerdem macht sie es möglich, endlich fair bewertet zu werden. Es geht darum, dass meine innere Anstrengung, meine Zeitprobleme, hinter denen mein eigentliches Wissen verschwinden, und meine Rechtschreibfehler, die meine inhaltliche Note abwerten, so gut wie möglich ausgeglichen werden. 44 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="45"?> 45 8 Förderung im Erwachsenenalter Eine Förderung sollte so früh wie möglich beginnen. Es sollte nicht abgewartet werden, bis ein Kind in der Schule zahlreiche Misserfolgserlebnisse machen musste, es den Anschluss an die anderen Kinder der Klasse verliert und damit oft auch die Motivation zu lernen und die Freude an der Schule. Vielmehr ist es besser, bei ersten erkennbaren Schwierigkeiten mit einer Förderung zu beginnen. Was ist aber, wenn dies nicht geschehen ist? Wenn jemand sich auch ohne Förderung erfolgreich durch die Schule gekämpft hat, aber im Erwachsenenalter merkt, dass immer noch Schwierigkeiten da sind, an denen er/ sie gerne arbeiten würde? Oder wenn damals keine Möglichkeit zu einer Förderung gegeben war - sei es aus Mangel an Verfügbarkeit oder an Finanzierung? Auch wenn eine frühe Förderung ideal ist, ist es nie zu spät, damit zu beginnen. Ein Vorteil einer Förderung im Erwachsenenalter kann sein, dass Erwachsene oft genau wissen, wo sie die größten Schwierigkeiten haben oder sogar, was ihnen helfen könnte, damit umzugehen. Außerdem kann oft sehr klar der jeweilige Schwerpunkt der Förderung festgelegt werden, je nachdem, in welcher Lebenssituation die betroffene Person sich gerade befindet und welche Hürden dabei zu meistern sind (z. B. konkreter Studiengang). Ein Nachteil ist, dass es manchmal mit der Zeit fest verankerte, aber falsche Lernmuster gibt. Diese zu bearbeiten und zu verändern kann einige Zeit erfordern. Trotzdem können gemeinsam mit einer kompetenten Fachkraft auch im Erwachsenenalter noch Fortschritte gemacht werden, die den Alltag erleichtern. <?page no="46"?> Lerntherapie kein geschützter Beruf ist. Das bedeutet, dass jeder sich Lerntherapeut: in, LRS-Therapeut: in, Dyskalkulietherapeut: in usw. nennen und jegliche Art von Förderung anbieten darf. Die Bezeichnungen Dyslexietherapeut nach BVL ® bzw. Dyskalkulietherapeut nach BVL, oder auch integrative: r Lerntherapeut: in zertifiziert vom FiL (Fachverband integrative Lerntherapie e. V.) zeigen an, dass der/ die Therapeut: in eine Weiterbildung absolviert hat, die hohe Qualitätsstandards erfüllt und zu einer professionellen Lerntherapie befähigt. Auch LRS-Therapeuten nach Reuter-Liehr® haben eine umfangreiche und zertifizierte Weiterbildung absolviert. Tipp | Qualifizierte Lerntherapeut: innen finden: Therapeutensuche über den Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie (BVL): https: / / www.bvl-legasthenie.de/ service/ therapeutensuche.html Therapeutensuche über den Fachverband für Integrative Lerntherapie (FiL): https: / / www.lerntherapie-fil.de/ lerntherapie/ lerntherapeutinnen-suche Therapeutensuche über Lerntherapie nach Reuter-Liehr: https: / / www.lrs-therapie.de/ therapeuten-und-f %C3 %B6rderlehrerverzeichnis/ Wichtig ist es, sich jemanden zu suchen, der eine entsprechende Qualifikation hat. Das bedeutet, dass er/ sie eine zertifizierte Weiterbildung im Bereich Lerntherapie hat. Leider ist dies auf den ersten Blick schwer erkennbar, da die 4466 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="47"?> 47 9 Komorbiditäten Als Komorbidität bezeichnet man das Auftreten einer Erkrankung, die zusätzlich zu einer Grunderkrankung auftritt. Bei Lernstörungen sind Komorbiditäten sehr häufig. Viele Menschen haben also nicht nur eine LRS oder Dyskalkulie, sondern zusätzlich noch weitere Schwierigkeiten. Es wird davon ausgegangen, dass ca. 40 % der Kinder und Jugendlichen mit einer Lernstörung an einer psychischen Störung leiden (Visser et al., 2020). Am häufigsten sind Angststörungen, depressive Störungen, ADHS und Verhaltensstörungen (z. B. Störungen des Sozialverhaltens). Der Verlauf der Lernstörung von Betroffenen mit solch einer komorbiden Störung ist schlechter und Effekte von Fördermaßnahmen sind geringer als bei Betroffenen ohne komorbide Störung (Garwood et al., 2017, Grills-Taquechel et al., 2013). Auch im Jugend- und Erwachsenenalter sind psychische Begleiterscheinungen noch häufig (Aro et al., 2022; Esser et al., 2000). Bei einigen Komorbiditäten wird davon ausgegangen, dass durch die Lernstörung bedingte wiederholte Misserfolgserlebnisse zur Entstehung der psychischen Störung führen oder diese zumindest begünstigen können. Wiederholt schlechte Noten trotz hoher Anstrengung, kombiniert mit abwertenden Rückmeldungen und mangelnde Unterstützung durch Lehrende und vielleicht sogar Mobbingerfahrungen können beispielsweise zu einer ausgeprägten Prüfungsangst oder auch zu Schulangst, vielleicht sogar mit Schulverweigerung, führen. Auch depressive Störungen können auf ähnliche Weise entstehen. Die hohe Komorbidität zwischen Lernstörungen und ADHS hingegen lässt sich so nicht erklären. Eine Möglichkeit ist, dass gemeinsame neurokognitive Beeinträchtigungen beiden Störungsbildern zugrunde liegen könnten. Bei der ADHS zeigen sich <?page no="48"?> 48 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung ebenfalls Beeinträchtigungen u. a. im Arbeitsgedächtnis und in den exekutiven Funktionen (siehe Kapitel 6) (Czamara et al., 2013). Es ist wichtig, über die hohe Komorbiditätsrate bei Lernstörungen Bescheid zu wissen und erste Anzeichen von psychischen Erkrankungen ernst zu nehmen, auch dann, wenn sie noch nicht alle Diagnosekriterien erfüllen. Die psychische Gesundheit besteht nicht nur aus den beiden Polen „gesund“ und „krank“, sondern aus einem Spektrum, auf dem sich verschiedene Ausprägungen finden. Es ist davon auszugehen, dass noch deutlich mehr Menschen als durch die Komorbiditätsraten erfasst mit einer Lernstörung an einem niedrigen Selbstwert oder an psychischen Symptomen leiden, die nicht alle Kriterien für eine „Störung“ erfüllen, die aber dennoch unangenehm sind, das Leben erschweren und sich durch Unterstützung bessern können. Eine erste Anlaufstelle kann z. B. die psychologische Beratungsstelle von Universitäten sein. Auch die Telefonseelsorge bietet deutschlandweit kostenlose telefonische Beratung an (0800 111 01 11). Bei einer ausgeprägten Symptomatik jedoch ist es sinnvoll, sich an eine/ n psychologische/ n Psychotherapeut: en zu wenden. Wissen | Häufige psychische Begleiterscheinungen bei Lernstörungen: - Angststörungen/ Ängste, z. B. Versagensängste, Prüfungsangst - ADHS depressive Episoden - Verhaltensstörungen geringes Selbstwertgefühl <?page no="49"?> ► Dyskalkulie reicht mir schon | Carla Nicht nur die Zahlen und die Dyskalkulie an sich hatten einen Einfluss auf meine Schulzeit: In der 3. Klasse im Alter von neun Jahren kam zu der bisher undiagnostizierten Dyskalkulie auch noch eine beginnende Depression. Ich kann mich heute noch sehr gut daran erinnern, wie frustriert ich war. Ich habe mich so dumm gefühlt. Meine Klassenkameraden haben es ja anscheinend alle verstanden, nur ich nicht. Also fing ich an, die Probleme auf mich zu beziehen. Eine andere Erklärung für meine wiederkehrenden schlechten Noten fand ich nicht. Neben der Schule geriet ich auch immer wieder mit meinem Vater aneinander. Jede Hausaufgabe in Mathe endete mit Tränen in den Augen und Frustration. Am Ende stand ich am Anfang einer Depression. Meine Mutter brachte mich schließlich zu einer Psychotherapeutin. Natürlich habe ich es gehasst, aber rückblickend bin ich sowohl meiner Mutter als auch der Psychotherapeutin sehr dankbar. Damals wollte ich allerdings nicht über meine Probleme reden und schon gar nicht mit jemandem Fremden. Geholfen hat es mir trotzdem. Parallel dazu erhielt ich die Dyskalkulie- Diagnose. Plötzlich hatte ich eine Erklärung, warum mir vieles so schwerfiel. Meine Stimmung wurde wieder besser und es ging bergauf. Ich begriff: Nicht ich war das Problem, sondern ich bin einfach anders. 49 9 Komorbiditäten <?page no="50"?> ► Wenn es nur das Lesen und Schreiben wäre … | Natascha … wäre vieles einfacher. Doch meine Legasthenie hat mich im Leben stark geprägt, und zwar über das Texte lesen und Diktate schreiben hinaus. Bei mir kommen Depressionen dazu … Wie hängt das zusammen? Mein Gehirn funktioniert anders, ist anders verdrahtet und leider auch oft in negativen Spiralen. Zu Schulzeiten war ich extrem engagiert und interessiert. Warum ausgerechnet das Lesen, das mir so viel Spaß macht, so schwerfiel, verstand ich nicht. Mir wurde versprochen, wer viel lernt, kriegt die besten Noten. Das war bei mir nicht so. Gleichzeitig macht eine besondere Begabung/ Intelligenz mir Mathe und andere Fächer sehr leicht. Ich war gleichzeitig gelangweilt und überfordert, und auf jeden Fall bin ich in vielen Bereichen anders und war verletzlich als Jugendliche. Die bösen Sprüche habe ich mir zu eigen gemacht und wurde mein größter Kritiker. Die Testung auf Hochbegabung brachte ein paar Antworten zu meiner Langeweile, doch verdeckte sie auch die Legasthenie. Die Diagnose der Legasthenie fünf Jahre später brachte viel Erleichterung (wie in Kapitel 1.6 schon beschrieben). Aber dann musste ich so lange und so oft um die Anerkennung dieser Diagnose kämpfen, dass ich mir selbst zwischendurch nicht mehr glaubte. Das war ganz gefährlich. Mobbing und Vorwürfe, dass ich mir alles nur ausdenke, nur um mir bessere Noten zu erschleichen, machten mich sehr traurig. 50 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="51"?> Erst als Erwachsene habe ich die Chance, alles mit Hilfe von professioneller Therapie zu entwirren, zu heilen und mich selber zu mögen, wie ich bin, mit meinem einzigartigen Gehirn. Das ist ein langer Weg, aber ein guter. Mir hilft es sehr, mich selbst zu verstehen, mit allem, was mich, auch an weiteren Diagnosen, ausmacht, um mit mir selbst zu arbeiten und nicht gegen mich. 9 Komorbiditäten 51 <?page no="52"?> Eine Leitlinie ist eine systematisch erarbeitete Sammlung von Aussagen, die den aktuellen Stand der Forschung zu einem bestimmten medizinischen Thema zusammenfassen. Hauptziel davon ist eine Verbesserung der medizinischen Versorgung. Es gibt Leitlinien zu sehr vielen verschiedenen Krankheitsbildern, wie z. B. die neu herausgegebene „S1-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Internetnutzungsstörungen“, die „S3-Leitlinie akuter und chronischer Husten“, die „S3-Leitlinie Halsschmerzen“ oder auch die „S3-Leitlinie ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“ (aktuell in Überarbeitung). Sehr viele weitere Leitlinien finden sich auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF, www.awmf.org). Die AWMF koordiniert die Entwicklung medizinischer Leitlinien und gibt diese über das Leitlinienregister heraus. Klassifiziert werden sie in den vier Entwicklungsstufen von S1 bis S3, wobei S3 die höchste Qualitätsstufe der Entwicklungsmethodik ist. Sie bedeutet, dass die Leitlinie sowohl evidenzbasiert als auch konsensbasiert ist, also sowohl eine systematische Recherche der Forschungsliteratur durchgeführt als auch der Konsens von erfahrenen Expertinnen und Experten eingeholt wurde. Die Ziele von Leitlinien sind folgende: Leitlinien geben Orientierungshilfen für Behandelnde, sind aber nicht rechtlich bindend. Sie enthalten Empfehlungen, die dabei helfen sollen, Diagnostik und/ oder Behandlung schreib-Störung und zur Rechenstörung 52 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung 10 Die Leitlinien zur Lese-Rechtnach <?page no="53"?> aktuellem Wissensstand und damit bestmöglich durchzuführen. Unnötige, nicht effektive oder sogar schädliche diagnostische oder therapeutische Verfahren sollen dadurch vermieden werden. Außerdem sollen Leitlinien die Stellung von Patient: innen stärken, indem sie sie informieren. Das Wissen über leitliniengerechte Diagnostik und Therapie kann dabei helfen, auf Augenhöhe im Entscheidungsprozess mitzureden. Auch für die LRS und die Dyskalkulie gibt es jeweils eine medizinische S3-Leitlinie. 1 Es kann für Betroffene hilfreich sein, diese zu kennen. So kann man bspw. einschätzen, ob eine Therapie nach den aktuellen Empfehlungen durchgeführt wird oder ob Verfahren verwendet werden, für die es keinen Wirksamkeitsbeleg gibt. Tipp | Die Leitlinie „Diagnostik und Behandlung bei der Leseund/ oder Rechtschreibstörung“ findet sich z. B. im AWMF-Leitlinienregister: https: / / www.bvl-legasthenie.de/ images/ static/ pdfs/ Leitlinien/ LF_Leitlinie.pdf Die Leitlinie „Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung“ findet sich z. B. im AWMF-Leitlinienregister: https: / / register. awmf.org/ de/ leitlinien/ detail/ 028-046 Wichtig zu wissen | Eine Leitlinie muss alle fünf Jahre aktualisiert werden, um neue Studien in den darin wiedergegebenen Wissensstand aufzunehmen. Bei den Leitlinien zu LRS und Dyskalkulie ist diese Zeit seit ihrer Veröffentlichung bereits 1 Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V., 2018; Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V., 2015 10 Die Leitlinien 53 <?page no="54"?> verstrichen, weshalb sie sich aktuell in Überarbeitung befinden. Es wird allerdings nicht davon ausgegangen, dass die bisherigen Empfehlungen sich ganz grundlegend ändern werden, weshalb es nach wie vor hilfreich ist, auf sie zurückzugreifen. Sobald die Leitlinien aktualisiert sind, wird die jeweils neue Version auf der Homepage der AWMF verfügbar sein. Die wesentlichen Elemente der Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung der Lese-/ Rechtschreib-Störung Zielgruppe Die Leitlinie soll Berufsgruppen, „die an der Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Leseund/ oder Rechtschreibstörungen beteiligt sind, als Entscheidungsgrundlage für eine adäquate Versorgung dienen. Außerdem kann sie von Angehörigen sowie den betroffenen Kindern und Jugendlichen selbst als Informationsgrundlage verwendet werden.“ (Leitlinie, S. 19) Die aktuell verfügbare, noch nicht überarbeitete LRS-Leitlinie hat also lediglich Kinder und Jugendliche im Fokus. Trotz dieser Einschränkung werden im Folgenden die wichtigsten Empfehlungen vorgestellt, da weder der diagnostische Prozess noch die Förderung bei Erwachsenen grundlegend anders sind. In der Überarbeitung wird das Altersspektrum auf das Erwachsenenalter erweitert. Versorgungsbereich „Die Leitlinie soll in allen Bereichen der Diagnostik und Förderung eingesetzt werden, das heißt im schulischen und au- 54 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="55"?> ßerschulischen Bereich, im klinisch-therapeutischen ambulanten, stationären und teilstationären Rahmen einer medizinischen, psychotherapeutischen, (neuro-)psychologischen, sprachtherapeutischen und pädagogischen Behandlung und Förderung.“ (Leitlinie, S. 18) Im Folgenden werden einige Empfehlungen zur Diagnostik und Förderung aus der Leitlinie gekürzt wiedergegeben. Empfehlungen zur Diagnostik Zur Messung der Leseund/ oder Rechtschreibleistungen soll eines der auf S. 29 der Leitlinie empfohlenen Testverfahren verwendet werden. Bei der Diagnostik der Leseund/ oder Rechtschreibstörung sollte eine diagnostische Überprüfung, ob andere psychische Störungen vorliegen, durchgeführt werden (vgl. Leitlinie, S. 63). Außerdem soll überprüft werden, ob zusätzlich eine Rechenstörung vorliegt (vgl. Leitlinie, S. 64). Empfehlungen zur Förderung „Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Leseund/ oder Rechtschreibstörung soll an den Symptomen der Leseund/ oder Rechtschreibstörung ansetzen.“ (Leitlinie, S. 34) Diese Empfehlung bedeutet, dass genau die Bereiche trainiert werden sollen, in denen Schwierigkeiten vorliegen. Auch wenn dies logisch erscheint, ist es in der Praxis leider keinesfalls immer der Fall. Lesetrainings, die zur Verbesserung der Lese- und Rechtschreibleistungen eingesetzt werden, sollen Übungen zur Buchstabe-Laut- und Laut-Buchstabe-Zuordnung, zum Gliedern einzelner Wörter in ihre Laute, Morpheme (Wortbausteine), Silben, 10 Die Leitlinien 55 <?page no="56"?> 56 Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung sowie zum Verbinden von Lauten zu einem Wort enthalten, sofern die Kinder und Jugendlichen Schwierigkeiten in diesem Bereich haben. Ergänzend sollen systematische Übungen zu Sätzen und Texten durchgeführt werden (vgl. Leitlinie, S. 36). „Rechtschreibtrainings, die zur Verbesserung der Leseund/ oder Rechtschreibleistung eingesetzt werden, sollen Instruktionen zum Aufbau orthographischen Regelwissens enthalten.“ (Leitlinie, S. 42) Die Rechtschreibtrainings sollen also vor allem das Wissen über die Rechtschreibregeln vermitteln. „Die Förderung […] soll von Behandelnden durchgeführt werden, die über eine ausgeprägte Expertise im Bereich der Schriftsprachentwicklung und ihrer Förderung sowie im Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit umschriebenen Entwicklungsstörungen verfügen.“ (Leitlinie, S. 59) Nicht zur Förderung empfohlen werden aufgrund mangelnder Belege für ihre Wirksamkeit: Interventionen zur auditiven, visuellen oder audiovisuellen Wahrnehmung und Verarbeitung Interventionen zur neuropsychologischen Hemisphärenstimulation Aufmerksamkeitstrainings (Ausnahme: Bei Aufmerksamkeitsproblemen können diese eingesetzt werden.) medikamentöse Behandlung durch Piracetam Irlen-Linsen oder vergleichbare Farbfolien, genauso wenig wie Prismen-Brillen alternativmedizinische Methoden (Homöopathie, Akupressur, Osteopathie und Kinesiologie) Nahrungsergänzungsmittel <?page no="57"?> motorische Übungen zur Beseitigung eines persistierenden asymmetrisch tonischen Nackenreflexes (ATNR) bei Kindern und Jugendlichen mit Leseund/ oder Rechtschreibstörung und persistierendem ATNR visuelle Biofeedbacks monokulare Okklusion (vgl. Leitlinie, S. 43‒54) Außerdem enthält die Leitlinie Aussagen zur Unterstützung des Lesens durch Veränderung des Schriftbildes: „Kinder und Jugendliche mit Lesestörung können durch das Lesen von Texten mit vergrößerter Schrift und breiteren Buchstaben-, Wort- und Zeilenabständen eine Verbesserung der Leseleistungen erzielen. Für Kinder und Jugendliche mit Lesestörung sollen entsprechende Lesematerialien ausgewählt werden.“ (Leitlinie, S. 51) Die wesentlichen Elemente der Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung Zielgruppe „Die Leitlinie soll Fachkräften, die mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen arbeiten, […] sowie Lehrkräften und weiteren Berufsgruppen, die an der Prävention, Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung beteiligt sind, als Entscheidungsfindung für eine adäquate Versorgung dienen. Außerdem kann sie von Angehörigen sowie den betroffenen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen selbst als Informationsgrundlage verwendet werden.“ (Leitlinie, S. 8 f.) 10 Die Leitlinien 57 <?page no="58"?> 58 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung Versorgungsbereich „Die Leitlinie soll in allen Bereichen der Prävention, Diagnostik und Förderung im Kinder-, Jugendlichen- und Erwachsenenalter eingesetzt werden. Dies umfasst sämtliche Bereiche des Bildungssystems (Elementar-, Primär-, Sekundär-, Tertiär- und Quartärbereich) […].“ (Leitlinie, S. 8) Hochschulen stellen den Tertiärbereich des Bildungssystems dar, womit sich die Leitlinie also auch ausdrücklich auf das Studium bezieht. Empfehlungen zur Diagnostik „Die Diagnostik einer Rechenstörung soll beinhalten: psychometrische Tests zur Erfassung der Mathematikleistung (Basiskompetenzen, Grundrechenarten, Textaufgaben, Leistung im Bereich des visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses und Leistung im Bereich der Exekutiven Funktionen (Inhibition), die klinische Untersuchung einschließlich der körperlichen/ neurologischen, sensorischen und intellektuellen Funktionen, des biographischen Entwicklungsverlaufs, der Familien- und der Schulsituation, die Auswirkungen der Leistungsdefizite auf die psychische und soziale Entwicklung, die gesellschaftliche Teilhabe.“ (Leitlinie, S. 20) „Bei der Diagnostik einer Rechenstörung soll ein diagnostisches Screening auf das Vorhandensein komorbider Störungen stattfinden.“ (Leitlinie, S. 38) <?page no="59"?> 10 Die Leitlinien 59 Empfehlungen zur Förderung „Die Behandlung einer Rechenstörung soll an den in der Diagnostik erkannten Problemschwerpunkten im mathematischen Bereich ansetzen“, also symptomspezifisch sein (Leitlinie, S. 29). Komorbiditäten sollen ergänzend berücksichtigt werden. Liegt bspw. neben der Rechenstörung eine Depression vor, kann evtl. vor oder während der Förderung eine Psychotherapie notwendig sein. „Die Behandlung einer Rechenstörung soll von Fachkräften durchgeführt werden, die über eine pädagogisch-therapeutische Ausbildung im Bereich der Rechenentwicklung und ihrer Störung nach den Standards der einschlägigen Fachverbände verfügen.“ (Leitlinie, S. 30; siehe dazu auch Kapitel 8) Wenn möglich sollen störungsspezifische, standardisierte Förderprogramme berücksichtigt werden; dabei sollen solche bevorzugt werden, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt ist (siehe Leitlinie S. 34 für eine Liste dieser Verfahren). (Leitlinie, S. 30) Erwähnt wird in der Leitlinie, dass sich Diagnostik und Förderung nicht grundlegend zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen unterscheiden und die Empfehlungen deshalb für alle Altersgruppen angewendet werden können. Allerdings wird die Schwierigkeit fehlender Diagnostikverfahren für den Erwachsenenbereich benannt. Dieser Schwierigkeit sollte begegnet werden, indem der/ die Diagnostiker: in auf Basis der in Anamnese und Exploration gewonnen Informationen ein Verfahren anwendet, dass einerseits den Kriterien der Leitlinie gerecht wird und andererseits die Mathematikkompetenz der betroffenen Person differenziert erfasst und diese damit weder <?page no="60"?> 60 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung übernoch unterfordert. Die empfohlenen Förderprogramme sind zwar inhaltlich oft noch passend, eignen sich aber von der Gestaltung her nicht, da sie sich an eine junge Altersgruppe richten. <?page no="61"?> 61 11 Mythen über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung Über alle drei Störungsbilder, besonders aber über die Legasthenie, gibt es sehr viele Vorurteile, Vorstellungen und vermeintliches Wissen, das nicht stimmt. Im Folgenden wird über einige dieser Mythen aufgeklärt. Menschen mit LRS oder Dyskalkulie haben in mindestens einem anderen Bereich eine besondere Begabung. − Menschen mit LRS oder Dyskalkulie können sehr begabt in vielen Bereichen sein, aber nicht mehr, als wenn sie keine Lernstörung hätten. Bekannte Menschen mit LRS, wie z. B. Einstein, waren nicht wegen, sondern trotz ihrer LRS erfolgreich. Allerdings entwickeln Menschen mit einer Lernstörung häufig sehr gut funktionierende Kompensationsstrategien und kreative Wege und Mittel, um trotz ihrer Schwierigkeiten erfolgreich zu sein. Auch lernen sie häufig, sich durchzubeißen und nicht aufzugeben. Dies kann sie durchaus positiv von Menschen ohne diese Schwierigkeiten abheben. − Außerdem ist es für Menschen mit einer Lernstörung besonders wichtig, Bereichen, die Freude bereiten und in denen sie sich kompetent fühlen und die das Selbstwertgefühl stärken, genug Raum zu geben. Dies hilft dabei, die häufig durch die LRS erlebten Misserfolge besser verarbeiten zu können und sich klar darüber zu sein, dass sie nur diesem einen Bereich betreffen und nicht die Person als Ganzes. Wer viele Rechtschreibfehler macht, muss sich nur mehr anstrengen und mehr üben. − Durch Rechtschreibförderung kann eine gewisse Verbesserung erreicht werden (siehe Kapitel 8). Die Förderung sollte <?page no="62"?> allerdings genau an den bestehenden Schwierigkeiten ansetzen und nicht einfach den Deutsch-Schulstoff üben. Jedoch wird auch eine gute Förderung nicht dazu führen, dass Texte fehlerfrei geschrieben werden. Auch das Rechtschreiben wird immer mit mehr Anstrengung verbunden bleiben, egal wieviel „geübt“ wird. Wer Dyskalkulie hat, muss einfach nur mehr üben. − Wie auch bei der LRS hilft bei Dyskalkulie Üben allein nicht. Es kann sogar dazu führen, dass betroffene Kinder noch mehr an sich zweifeln, da sie trotz vielen Übens nicht besser werden. Auch bei der Dyskalkulie ist eine qualitativ hochwertige Förderung angezeigt. Wer beim Abschreiben von Texten Fehler macht, hat keine Rechtschreibstörung, sondern konzentriert sich nur nicht genug. − Dieser Mythos beruht auf der Vorstellung, dass nur Fehler gemacht werden, wenn Wörter frei aus dem Gedächtnis geschrieben werden müssen. Abschreiben hingegen verlangt ja „nur“ das Kopieren eines Wortes, das man vor sich hat. Der Irrtum hierbei liegt darin, dass Menschen ohne Rechtschreibstörung, wenn sie einen Text abschreiben, dies nicht Buchstabe für Buchstabe tun. Vielmehr wird Satz(teil) für Satz(teil) gelesen, im Arbeitsgedächtnis gespeichert und niedergeschrieben. Die meisten Wörter werden dabei aus dem so genannten orthographischen Gedächtnis abgerufen. Da dies bei Menschen mit Legasthenie nicht fehlerfrei möglich ist, kopieren sie die Wörter Buchstabe für Buchstabe, was mit 62 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="63"?> 11 Mythen über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung 63 deutlich mehr Zeitaufwand und Fehlermöglichkeiten verbunden ist. LRS und Dyskalkulie verschwinden mit der Zeit. Betroffene Kinder brauchen nur mehr Zeit, bis auch sie richtig lesen, schreiben oder rechnen können. − Diese falsche Annahme ist problematisch, da sie dazu führt, dass wertvolle Zeit zur Förderung verloren geht. Ohne Förderung bleiben aber die niedrigen Leistungen über lange Zeit stabil und betroffene Kinder, Jugendliche und auch noch Erwachsene müssen viele Misserfolgserlebnisse machen, die sich negativ auf ihren Selbstwert auswirken. Menschen mit LRS oder Dyskalkulie sind dumm. − Ganz im Gegensatz zu diesem Mythos ist es so, dass eine LRS- oder Dyskalkulie-Diagnose nur vergeben werden darf, wenn die Intelligenz sich nicht im unterdurchschnittlichen Bereich befindet. Die Lernstörung hat nichts mit der Allgemeinbegabung eines Menschen zu tun. LRS und Dyskalkulie gibt es nicht. − Bei beiden Störungsbildern lassen sich neurobiologische Unterschiede finden. Der Annahme, dass dies nicht so sei, liegt häufig der Wunsch zugrunde, dass Menschen mit Lernstörung nicht diskriminiert, sondern als „anders begabt“ wahrgenommen werden. In einer idealen Welt, in der jeder Mensch entsprechend seinen Begabungen gefördert würde und trotz großer Schwierigkeiten in einem Bereich sein volles Potenzial ausschöpfen könnte, wäre die Bezeichnung für die Schwierigkeiten egal. Tatsache ist aber, dass die Diagnose Voraussetzung ist, um die notwendige Unterstützung zu erhalten. <?page no="64"?> Teil I in a nutshell Die Leseund/ oder Rechtschreibstörung und die Dyskalkulie betreffen nicht nur die Lese-/ Rechtschreibbzw. die Rechenleistungen. Viele betroffene Menschen haben auch im Alltag mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Außerdem sind psychische Begleiterscheinungen wie z. B. Ängste, Depressionen, aber auch ADHS häufig. Beide Störungsbilder haben nichts mit geringer Intelligenz zu tun. Es gibt eine neurobiologische Veranlagung, aber Umweltfaktoren (z. B. Förderung) können sich positiv auf die Symptomatik auswirken. Die Dyskalkulie betrifft ca. 3 bis 5 % der Menschen, die Leseund/ oder Rechtschreibstörung ca. 10 bis 15 %. Eine Diagnose kann auch eine Erleichterung sein, da dadurch die eigenen Schwierigkeiten besser verstanden werden. Die Kosten für eine Diagnostik im Erwachsenenalter müssen in der Regel selbst getragen werden. Der aktuelle Wissensstand zu Diagnostik und Förderung wird in medizinischen Leitlinien zusammengefasst. Die S3-Leitlinien zur Leseund/ oder Rechtschreibstörung und zur Rechenstörung richten sich auch an Betroffene und können kostenlos heruntergeladen werden. Die durch die Lernstörung bestehenden Schwierigkeiten sind kein Ausschlusskriterium für ein Studium. Für Betroffene wird dieses allerdings immer mit mehr Anstrengung verbunden sein als für Studierende ohne LRS/ Dyskalkulie. 64 I Wissenswertes über Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung <?page no="65"?> 65 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung 12 Vor dem Studium Nach der Schulzeit stehen für junge Erwachsene viele Entscheidungen an: Welches Studium soll es werden? Welcher Studienort passt gut? Der Beginn des Studiums ist eine aufregende Zeit. Für Menschen, die wissen, dass sie in bestimmten Bereichen mehr Schwierigkeiten haben als andere und die wissen, dass sie sich mehr anstrengen müssen für bestimmte Leistungen, können sich zur positiven Aufregung auch noch Sorgen und sogar Ängste gesellen. Hier hilft es, sich vorher schon auf bestimmte Situationen vorzubereiten, Informationen einzuholen und eventuell Dinge zu erledigen, die bereits vor Studienbeginn erledigt werden können. Dafür gibt es an Hochschulen verschiedene Beratungsstellen, an die man sich wenden kann. Auch wenn der Studienort noch nicht feststeht, kann es hilfreich sein, die Beratungsstellen der in Frage kommenden Hochschulen zu kontaktieren. So können Unterstützungsmöglichkeiten für Studierende mit Lernstörung erfragt werden. Folgende Beratungsmöglichkeiten gibt es: Behindertenbeauftragte Staatliche Hochschulen sind verpflichtet, eine: n Beauftragten für Studierende mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen zu berufen. Da LRS und Dyskalkulie als Behinderung zäh- <?page no="66"?> 66 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche len 2 , sind diese Beauftragten in diesen Fällen zuständig. Ihre Aufgaben sind folgende: „zu Voraussetzungen und Formen des Nachteilsausgleichs bei der Hochschulzulassung, im Studium und bei Prüfungen beraten bei Bedarf bei der Studienorganisation unterstützen und zwischen Studierenden, Lehrenden und der Verwaltung vermitteln Auskunft über bauliche Bedingungen sowie die barrierefreie Ausstattung ihrer Hochschule geben (bei ausreichender Ressourcenausstattung) spezifische Angebote zur Unterstützung beeinträchtigter Studierender entwickeln darauf hinwirken, dass Barrieren in der Hochschule abgebaut und angemessene Vorkehrungen zum Nachteilsausgleich entwickelt werden die Mitglieder der Hochschule für die Belange von Studierenden mit Behinderungen sensibilisieren.“ (Deutsches Studierendenwerk, 2025) Tipp | Die genauen gesetzlichen Regelungen der einzelnen Bundesländer finden sich hier: https: / / www.studierendenwerke.de/ themen/ studieren-mit-behinderung/ recht-politikund-daten/ behindertenbeauftragte-hochschulrechtliche-regelungen-der-bundeslaender 2 siehe Urteil des Bundesverfassungsgerichts von November 2023: https: / / www.bundesverfassungsgericht.de/ SharedDocs/ Entscheidungen/ DE/ 2023/ 11/ rs20231122_1bvr257715.html? nn=148438 <?page no="67"?> 12 Vor dem Studium 67 Gleichstellungsbeauftragte Gleichstellungsbeauftragte haben die Aufgabe, möglichen bestehenden Nachteilen in allen Bereichen der Hochschule entgegenzuwirken. Fokus ist dabei häufig die Chancengleichheit von Frauen und Männern. Aber auch für Diskriminierung aufgrund kultureller Zugehörigkeit sind Gleichstellungsbeauftragte zuständig. Und natürlich gilt die gleichberechtigte Teilhabe an Hochschulbildung auch für Menschen mit Behinderung. Bei Problemen, z. B. bei der Gewährung eines Nachteilsausgleichs, kann man sich deshalb auch an diese Stelle wenden. Studienberatung Fast an jeder Hochschule gibt es eine Studienberatung, die für Fragen zum Studium zur Verfügung steht. Das können Fragen zu einem bestimmten Studiengang sein oder aber auch zur Hochschule allgemein. Kann die Studienberatung eine Frage nicht beantworten, kann sie an die passende Stelle weiterverweisen. Es können sich sowohl Studieninteressierte als auch Studierende an die Studienberatung wenden. Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) Die unabhängige Beratungsstelle des Studierendenwerks berät auch Studierende mit Lernstörung zu verschiedenen Themen wie Studienwahl, Studienalltag oder auch gesetzliche Grundlagen. Weitere Informationen finden sich auf der Internetseite: https: / / www.studierendenwerke.de/ themen/ studieren-mit-behinderung. Außerdem gibt es ein Handbuch zu Studium und Behinderung heraus, das hilfreiche Informationen enthält und das <?page no="68"?> 68 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche man sich kostenfrei herunterladen kann: https: / / www.studierendenwerke.de/ fileadmin/ api/ files/ 37_handbuch_studium_und_behinderung_7_auflage.pdf. Außerhalb der Hochschulen ist der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. (BVL) auch zum Thema Studium eine gute Anlaufstelle: https: / / www.bvl-legasthenie.de/ service/ ansprechpartner.html#content. Dort gibt es auch noch die Jungen Aktiven (JA). Sie sind eine Gruppe junger Erwachsener mit LRS oder Dyskalkulie. Sie unterstützen und beraten sich gegenseitig mit ihren Erfahrungen. ► Studienwahl und Studienvorbereitung | Svea Vor dem Studium hatte ich viele Ängste: Würde ich das Studium schaffen? Und wie würde ich es schaffen? Ich hatte viele Jahre lang gehört: „Du willst mit deiner Legasthenie studieren? Bist du dir da sicher? Such dir doch lieber etwas anderes, Leichteres, warum suchst du dir so etwas Schwieriges aus, dann quälst du dich nicht mit dem Studium herum … .“ Doch bei meinen Überlegungen, was man mit Legasthenie beruflich machen kann, habe ich mich an Menschen mit Legasthenie orientiert. Da ich zu der Zeit nur zwei Personen mit Legasthenie kannte, kam ich durch meine Tante auf Medizin. Das ist bei Legasthenie sicherlich kein naheliegender Studiengang, aber mich hat es interessiert. Und meine Familie glaubte auch an mich. Während der Wartezeit auf einen Studienplatz hatte ich die Jungen Aktiven im BVL (JA) kennengelernt. Durch sie bekam ich eine Vorstellung davon, was mir zusteht und wohin ich mich wenden kann. Bereits bei meinen Überlegungen, <?page no="69"?> 12 Vor dem Studium 69 an welcher Universität ich studieren möchte, habe ich mich mit einer E-Mail, die alle Fragen enthielt, an die Behindertenbeauftragten der jeweiligen Unis gewandt. So konnte ich in Erfahrung bringen, wie die Voraussetzungen aktuell jeweils aussahen. Ich war überrascht, wie unterschiedlich die Universitäten in ihren Unterstützungsangeboten waren. Als die Universität feststand, an der ich studieren würde, habe ich die Zeit zwischen Einschreibung und Studienbeginn genutzt, um für mich notwendige und hilfreiche Unterstützungsmöglichkeiten zu klären. Da es zu der Zeit an dieser Uni noch keine Behindertenbeauftragte gab, habe ich mich an die Kontaktperson für Erstsemester gewandt und ihr alle Fragen und Anliegen per E-Mail geschickt. (Das war 2020 während des Corona-Lockdowns - andernfalls kann man sicherlich auch direkt hingehen.) Von ihr bekam ich direkt die Antworten für mein Anliegen bzw. die zuständigen Personen genannt. Auf diese Weise hatte ich bereits vor der ersten Woche meines Studiums viel erledigt: Der Nachteilsausgleich war fertig vorbereitet, ich hatte mich darum gekümmert, wie ich Bücher über die eigentliche Frist weiter verlängern kann, wusste, wer Gleichstellungsbeauftragte war, falls es Probleme geben sollte und vieles mehr. Mich beruhigte es, diese Dinge vorbereitet zu haben, und es half mir dabei, positiv und erfolgreich ins Studium starten zu können. Bereits in der ersten Woche im Semester beantragte ich dann den vorbereiteten Nachteilsausgleich, der auch zeitnah gewährt wurde. In den ersten drei Semestern musste ich diesen allerdings in jedem Semester neu stellen, weil er immer nur für ein Semester genehmigt wurde. Danach <?page no="70"?> 70 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche wurde dies umgestellt und ich konnte den Antrag für den Rest meines Studiums stellen. Die Wohnungssuche machte mir Angst. Ich wusste, dass der Wohnraum in der Stadt knapp war und es deutlich mehr Bewerber: innen als gute Wohnungen gab. Zum Glück fand ich eine Facebook-Gruppe, in der immer wieder neue Wohnungsangebote reinkamen. Da hieß es dann schnell sein und den Leuten zeitnah antworten. Der Text sollte möglichst fehlerfrei sein, ich wollte nicht schon einen ersten schlechten Eindruck hinterlassen. Also habe ich einen Text vorgeschrieben und Korrekturlesen lassen. Mit diesem habe ich dann immer auf die Wohnungsangebote reagiert. Zum Glück hat es schon mit der ersten Besichtigung geklappt. Die Besichtigung zu vereinbaren und mit der Mieterin vorher zu schreiben, hat mich allerdings sehr gestresst und ich habe, wenn es möglich war, immer nochmal Korrekturlesen lassen. Zur Wohnungsbesichtigung hieß es dann einmal quer durch Deutschland zu reisen, was schwierig war, da ich zwischen meinen Diensten nur einen Tag frei hatte. Es musste also alles funktionieren und ich hatte kaum zeitlichen Puffer, dazu kam, dass teilweise Schienenersatzverkehr war. Vor der Reise hatte ich deshalb Sorge, ob ich es schaffen würde bei allen Umstiegen die richtigen Anschlusszüge zu finden und beim richtigen Halt auszusteigen. Doch es funktionierte alles und ich bekam am Ende die Wohnung - u. a., weil ich diejenige war, die am weitesten anreisen musste. Mit der Entscheidung für eine bestimmte Universität stand plötzlich viel Neues an, um das ich mich kümmern musste: Mietvertrag, Strom, Internet, … Alles waren Seiten mit <?page no="71"?> Text, die mich überforderten und bei mir die Angst auslösten, Dinge zu unterschreiben, die nicht das waren, was ich wollte, weil ich etwas überlesen hatte. Zum Glück hatte ich die Unterstützung meiner Familie, die sich die Verträge mit durchlas. Auch heute schicke ich alle Verträge noch jemandem aus der Familie zum Lesen. Tipp | Verträge müssen nicht sofort unterschrieben werden. Nimm dir Zeit, sie zu lesen und gib sie jemandem ohne Leseschwierigkeiten zum Prüfen. Literaturtipp | Holger Walther und Sandra Stankjawitschjute haben mit „Abi, was nun? Das richtige Studium finden“ einen hilfreichen Ratgeber zur Studienwahl geschrieben. Sie gehen u. a. ausführliche auf die Selbstanalyse und auf verschiedene Einflussfaktoren ein. 12 Vor dem Studium 71 <?page no="72"?> Ein Studium mit einer LRS oder Dyskalkulie ist eine Herausforderung - allerdings eine Herausforderung, die gemeistert werden kann. Im Folgenden werden verschiedene Bereiche vorgestellt, die für Menschen mit LRS und Dyskalkulie besonders schwierig sein können sowie Lösungen für diese Schwierigkeiten. ► Ängste beim Studienstart | Svea Nachdem ich mich für die Uni und den Studienplatz entschieden hatte und das Semester schließlich begann, waren Überforderung und Angst die zentralen Gefühle. Es gab plötzlich so viel Neues, so viel Schriftverkehr, den ich vorher so nie hatte. Als die Lehrveranstaltungen durch die Corona- Pandemie nur noch online stattfanden, wurde es noch mehr: Die Semestergruppe und die Kleingruppe, in die ich auf WhatsApp eingeteilt war, wichtige E-Mails mit Dingen, die es von Seiten der Uni zu beachten gab … Dies nahm dann in den ersten Semesterwochen nochmal deutlich zu - und damit auch die Angst, etwas zu überlesen, etwas Wichtiges nicht mitzubekommen und im Zweifel vielleicht eine Frist zu verpassen. Die Online-Lehre, auf die wegen der Pandemie umgestellt wurde, stellte mich vor neue Herausforderungen. In all meinen Überlegungen zu Strategien, Hilfen und Unterstützungsmöglichkeiten war ich immer von einem Präsenzstudium ausgegangen. Davon, dass ich kurz beim Nachbarn schauen konnte, wenn ich etwas nicht schnell genug notiert bekommen hatte. Dies fiel jetzt erstmal weg. 72 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung 13 Studienstart und Studienalltag <?page no="73"?> 13 Studienstart und Studienalltag 73 Doch als ich begann, meine Kommilitonen kennenzulernen, stellte ich schnell fest, dass der Studienstart für alle eine Umstellung war. Ich war nicht die Einzige, die sich Sorgen machte, ob sie das Studium schaffen würde. Die Umstellung auf Online-Lehre war nicht nur für mich eine Herausforderung, sondern für alle. Auch Freunde von mir, die bereits studierten, bestätigen mir, dass sie diese Ängste hatten und ich damit nicht allein war. Das zu spüren und sich über die Ängste auszutauschen, half mir sehr. Außerdem konnte ich, da ich mit meiner Legasthenie offen umgegangen bin, die Sorge, etwas Wichtiges zu übersehen, in der Kleingruppe ansprechen und wir haben dann begonnen, uns gegenseitig an wichtige Fristen zu erinnern. Die Ängste waren damit nicht weg, aber wurden immer weniger. Noch besser wurde es, als ich die ersten Prüfungen bestanden hatte. Eine Lernstörung wirkt sich nicht nur auf den Bildungsbereich aus, auch im Studienalltag zeigt sie sich oft. Lesen und Schreiben gehören zum Alltag dazu. Auch Zahlen sind allgegenwärtig und das Abschätzen von Mengen ist oft notwendig, auch wenn Nichtbetroffene all dies gar nicht bemerken. Wie kommen Studierende mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung mit ihren Schwierigkeiten gut durch den Alltag? Welche Strategien haben sich für sie als hilfreich erwiesen? Dazu die folgenden drei Erfahrungsberichte. ► Finanzen | Carla Reicht mein Geld für den Einkauf? Komme ich mit dem Geld über den Monat? Ist das teuer oder günstig? Fragen, die mich als von Dyskalkulie-Betroffene häufig beschäftigen, für die ich mittlerweile aber einige Strategien entwickelt habe. <?page no="74"?> 74 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche Beim „Bargeldproblem“ hilft mir das Bezahlen mit Karte. So muss ich mir um das Zählen des Geldes und Rückgeldes keine Sorgen machen. Zudem vermeide ich, zu wenig Geld für den Einkauf dabei zu haben. Um einen Überblick über mein monatliches Budget zu behalten, nutze ich eine modifizierte Variante des Budgetings. Denn zusätzlich zu Einkäufen muss ich Verträge und weitere Fixkosten beachten, z. B. den Rundfunkbeitrag, der nur pro Quartal berechnet wird. Das bedeutet für mich noch mehr Schwierigkeiten im Überblick über meine Finanzen. Ich habe mir also einen DIN-A6-Hefter mit durchsichtigen Umschlägen zugelegt. Jeder Umschlag steht für eine Kategorie, z. B. Einkaufen, Auto, Tanzen, Organisatorisches (Rundfunkgebühr) usw. Mein monatliches Budget teile ich dann auf die einzelnen Umschläge auf. Je nachdem, wie hoch die jeweiligen Ausgaben der letzten Monate waren, oder wie viel ich in Zukunft dafür ausgeben möchte. Um das Ganze für mich zu visualisieren, habe ich mir kostenlos bei der Bundesbank Spielgeld bestellt. Dieses ordne ich den einzelnen Umschlägen zu. Wird nun z. B. ein Fixbetrag von meinem Konto abgebucht oder war ich einkaufen, nehme ich das Spielgeld aus der entsprechenden Tasche der entsprechenden Kategorie. So behalte ich für mich immer einen Überblick über die Finanzen und das Thema Geld wird für mich etwas konkreter und im wahrsten Sinne des Wortes fassbar. ► Zeitmanagement mit Dyskalkulie | Carla Uhrzeit und Dyskalkulie sind definitiv keine Freunde. Zumindest für mich persönlich ist die Uhr einer der Bereiche, in denen ich mich am meisten beeinträchtigt fühle. <?page no="75"?> 13 Studienstart und Studienalltag 75 Mir hilft die digitale Uhrzeitangabe und auch das offene Gespräch mit meinem Umfeld. Ich frage nach und spreche offen an, dass mir bestimmte Angaben der Uhrzeit Schwierigkeiten bereiten und ich mir wünsche, die Uhrzeit lieber in digitaler Weise angezeigt zu sehen. Außerdem fällt mir Zeitmanagement schwer: Ich bin regelmäßig damit überfordert, einzuschätzen, wie lange eine Aufgabe dauert oder wie lange ich für eine bestimmte Strecke brauche. Daher habe ich es mir angewöhnt, die Zeit sehr großzügig einzuteilen, sodass ich auf alle Fälle pünktlich bin. Andere verwenden Musik und erstellen Routinen, um eine Struktur zu schaffen und zu wissen, wann sie das Haus verlassen müssen, z. B. eine Playlist, die genau so lange dauert, bis man das Haus verlassen muss. Ich habe mir eine Playlist erstellt, die 45 Minuten dauert, damit ich pünktlich das Haus verlasse, um den Bus zu erreichen. Das schafft Struktur und gibt mir Sicherheit, weil ich weiß, wann ich das Haus verlassen muss und ich dabei nicht auf die Uhr angewiesen bin. ► Zeitmanagement mit Legasthenie | Svea Als das Studium begann, musste ich erstmal ausprobieren, wie ich alles unter einen Hut bekommen konnte. Schnell merkte ich, wie wichtig für mich ein funktionierendes Zeitmanagement ist. Um das zu finden, habe ich Unterschiedliches ausprobiert. Mittlerweile habe ich seit einigen Jahren eine Methode, die es mir ermöglicht hat, Studium, Lernen, Haushalt, Ehrenamt und <?page no="76"?> 76 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche Nebenjob zeitlich und kräftemäßig zu schaffen. Dafür nutze ich einen elektronischen Kalender. In diesen füge ich alle Universitätsveranstaltungen ein, bzw. lasse sie direkt von der Webseite übertragen. Da ich gerne mal die Zeit vergesse und mich zu spät mich auf den Weg mache, stelle ich mir entsprechende Wegzeiten ein und plane, an welchen Tagen ich zwischen Veranstaltungen nach Hause fahre oder in der Uni lerne. Außerdem füge ich alle privaten Termine wie Arzttermine und alle Termine sowie Arbeitszeiten immer in den Kalender ein. Jeden Sonntag setzte ich mich dann hin und nutze Time blocking, um Pausen, Lernzeiten, Zeiten zum Vor- und Nachbereiten von Veranstaltungen, Sport, Treffen mit Freunden und auch Einkaufen und Putzen hinzuzufügen. Mittlerweile habe ich ein gutes Gespür dafür, wie lange ich für bestimmte Aktivitäten benötige. Am Anfang des Studiums hatte ich davon noch keine Ahnung und ich habe einige Zeit benötigt, um Zeiten zur Vor- und Nachbereitung realistisch einplanen zu können. Das ist am Anfang in Ordnung. Geholfen hat mir das Bewusstsein, dass es an der Uni nie möglich ist, alles zu wissen. Vielmehr ist es wichtig, mit einem Blick auf alle Inhalte im Semester bzw. der kommenden Semesterwoche, die Lernzeit zielführend einzuteilen. Die Einteilung ist abhängig davon, ob Inhalte Grundlagen sind, die nötig sind, um Weiteres überhaupt zu verstehen, ob sie prüfungsrelevant sind oder „nur“ zusätzliches Wissen. Um dies sinnvoll einschätzen zu können, ist der Austausch mit Kommiliton: innen und vor allem Studierenden höherer Fachsemester im eigenen Studiengang hilfreich. Tipp | Jeder lernt anders und benötigt unterschiedlich lange. Meistens benötige ich aufgrund der Legasthenie beim Lesen und Schreiben länger und ermüde dabei schneller. Deswegen <?page no="77"?> 13 Studienstart und Studienalltag 77 plane ich mir etwas mehr Zeit ein als andere und beginne vor der Prüfungsphase etwas früher mit dem Wiederholen. Da ich vor allem bei schwierigen Texten schneller ermüde, ist es außerdem wichtig, ausreichend Pausen (vor allem regelmäßige kurze Pausen) einzuplanen. Literaturtipp | „Alles wird erledigt“ versprechen Juergen Wolff und Christoph Falkenroth in ihrem gleichnamigen Buch, das Zeitmanagementmethoden für Studium und Beruf vorstellt. Dabei legen sie besonders Wert darauf, Aufgaben richtig auszuwählen, das Tagespensum realistisch einzuschätzen und Prokrastination zu vermeiden. So wird nicht nur alles geschafft, sondern es bleibt auch noch Zeit übrig. Neu an der Uni und endlich die Möglichkeit, ins neue Leben zu starten. Neue Leute kennen zu lernen, Freunde zu finden und vielleicht auch eine neue Beziehung einzugehen. Doch wie sollten Betroffene mit ihren Einschränkungen umgehen - direkt erzählen, und wenn ja, wem? Kommilitonen, Dozierenden …? ► Kommunikation mit Dozierenden | Svea Vorneweg ist mir wichtig zu sagen, dass es nicht den einen richtigen Umgang an der Universität mit dem Thema Legasthenie und/ oder Dyskalkulie gibt. Jeder muss ihn selbst für sich finden. Aber die Erfahrungen und Tipps anderer können helfen, einen eigenen Weg zu finden. Ich gehe offen mit dem Thema um und schreibe Dozierenden zum Teil bereits vorab in E-Mails, dass ich Legasthenie habe. Damit habe ich insgesamt gute Erfahrungen gemacht: So kann ich mir z. B. Texte, die in Seminaren gelesen werden müssen, vorher zu Hause vorlesen lassen und <?page no="78"?> 78 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche muss sie nicht unter Zeitdruck, weil alle anderen deutlich schneller sind, vor Ort lesen. Folien, die ich vorher bekomme, kann ich mir bereits durchlesen und mir neue Fachbegriffe in Ruhe erarbeiten. Das ermöglicht es mir, mich in Vorlesungen und Seminaren auf das, was der/ die Dozierende erklärt, zu konzentrieren. Doch leider gibt es neben sehr engagierten Dozierenden auch die, die E-Mails zu dem Thema komplett ignorieren oder aus Zeitgründen nicht antworten. In solchen Fällen hilft manchmal ein persönliches Gespräch, denn die wenigsten Dozierenden haben eine Vorstellung davon, was eine Legasthenie oder Dyskalkulie im Erwachsenenalter bedeutet und welche Schwierigkeiten bei ihren Studierenden individuell bestehen. Doch ich will nicht verschweigen, dass es leider immer noch Personen gibt, die andere aufgrund der Legasthenie und Dyskalkulie diskriminieren. So wurde mir, als ich durch meinen Nachteilsausgleich mehr Zeit hatte, um eine wissenschaftliche Arbeit fertig zu stellen, von der Betreuerin gesagt, dass ich dann noch zusätzliche Datenanalysen in dieser Zeit machen könnte. Ich schaffte es zum Glück, ihr in diesem Moment zu sagen, dass die zusätzliche Zeit dafür nicht vorgesehen ist, mehr zu machen, sondern rein fürs Schreiben und Korrekturlesen, was sie hingenommen hat. Für den Fall, dass es Schwierigkeiten gibt, gibt es an der Universität Gleichstellungsbeauftragte oder auch die Unterstützung durch Behindertenbeauftragte. Ich habe den Vorfall im Nachgang mit einer Beauftragten besprochen und sie hat intern nochmal über die Funktion von Nachteilsausgleichen aufgeklärt. <?page no="79"?> 13 Studienstart und Studienalltag 79 Bei Veranstaltungen, die online oder teilweise online stattfinden, frage ich vorab oder persönlich nach, ob die Veranstaltung aufgezeichnet werden kann. Teilweise möchten Dozierende keine Aufzeichnung von ihrer Veranstaltung machen. Dann schreibe ich im Nachgang eine E-Mail und erkläre, warum dies für mich aufgrund der Legasthenie wichtig und hilfreich ist. Teilweise bekam ich daraufhin sehr liebe Mails von Dozierenden zurück, die angeboten haben, dass ich bei Rückfragen gerne schreiben oder anrufen kann und sie mich dann persönlich unterstützen. Auch wenn z. B. aus Datenschutzgründen eine Aufzeichnung nicht möglich ist, ist so ein Unterstützungsangebot sehr hilfreich. Ebenso habe ich an der Fakultät angefragt, ob ich Aufzeichnungen von Veranstaltungen, die im letzten Semester gemacht wurden, zur Vorbereitung haben könnte. Dadurch kann ich mich dann in der Veranstaltung deutlich besser konzentrieren, weil das anstrengende Lesen der Folien und das Mitschreiben neben dem Zuhören und Mitdenken bei dem, was die dozierende Person sagt, entfällt. Wann der richtige Zeitpunkt ist, die Legasthenie oder Dyskalkulie anzusprechen, entscheidest du. Je nachdem, was für dich am angenehmsten und sinnvollsten ist, kannst du es vorab per E-Mail, in einem persönlichen Gespräch am Ende der Veranstaltung oder zu einem gesonderten Termin machen. Anbei einige Formulierungen und Textbausteine, die für eine E-Mail an Dozierende verwendet werden können (in eckigen Klammern stehen Texte, die jeweils angepasst werden müssen): E-Mail, um Power-Point-Folien vorab zu erhalten: Sehr geehrte Frau …, / Sehr geehrter Herr …, <?page no="80"?> 80 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche ich bin im [zweiten] Semester und besuche bei Ihnen die Veranstaltung [xy]. Ich melde mich bei Ihnen, um Ihnen mitzuteilen, dass ich Legasthenie habe und deswegen unter anderem Probleme damit habe, Power-Point-Präsentationen zügig zu lesen und gleichzeitig mitzuschreiben und Ihnen inhaltlich zu folgen. Daher meine Frage: Wäre es möglich, dass Sie mir die Präsentationen bereits vor der Veranstaltung per E-Mail schicken oder auf [Moodle] hochladen? So könnte ich mir die Folien bereits vorabschauen, was für mich sehr hilfreich wäre und mir eine erfolgreiche Teilnahme an Ihren Veranstaltungen ermöglichen würde. Alternativvorschlag für E-Mail-Anfrage bzgl. Power-Point- Folien: Sehr geehrte Frau …, / Sehr geehrter Herr …, ich bin im [zweiten] Semester und besuche bei Ihnen die Veranstaltung [xy]. Ich melde mich bei Ihnen, da ich Legasthenie habe und daher gelegentlich Probleme habe, in kurzer Zeit viel Text zu lesen. Da Sie die Präsentationen zu Ihren Veranstaltungen immer hochladen, bin ich bisher gut zurechtgekommen. Doch letzte Woche im Seminar gelang es mir nicht, die Aufgabenstellung zu lesen, mir in der Literatur die entsprechenden Texte durchzulesen und mich an der Gruppenarbeit zu beteiligen. Auch sind die Texte über [padlet] (einer Software, die wie eine digitale Pinnwand funktioniert) nicht barrierefrei und lassen sich nicht einfach durch Programme vorlesen. Daher meine Frage: Wäre es möglich, dass Sie die Präsentationen vor Veranstaltungsbeginn hochladen und mir umfangreiche, textlastige Aufgabenstellungen vorher per E-Mail zukommen lassen? So könnte ich mich bereits vorab einlesen, was für das Seminar sehr hilfreich wäre. <?page no="81"?> 13 Studienstart und Studienalltag 81 Ein weiterer möglicher Textbaustein für Korrespondenz mit Dozierenden: Außerdem wäre für mich relevant zu wissen, wie viel des Kurses aus Literaturarbeit besteht. Ich lese sehr gerne, jedoch brauche ich dafür mehr Zeit und bin nicht in der Lage, spontan unbekannte, komplizierte Texte vorzulesen. Abschlussformulierung für alle E-Mails: Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Bei Rückfragen können Sie sich gerne bei mir melden. Mit freundlichen Grüßen ► Kommunikation mit Mitstudierenden | Svea Vor allem, wenn man in der Schulzeit aufgrund der Legasthenie oder Dyskalkulie Mobbing-Erfahrungen gemacht hat, kann es herausfordernd sein, sich einen guten Umgang mit dem Thema an der Uni zu überlegen. Doch wichtig ist, sich klarzumachen, dass sich diese Erfahrungen nicht wiederholen müssen. Außerdem kann ein offener Umgang auch eine Form des Selbstschutzes sein. So machen sich die Personen nicht unwissend über Fehler, die dir vielleicht beim Rechnen, Lesen oder Schreiben passieren, lustig. Vor allem in Chatgruppen finde ich es gut, wenn bekannt ist, dass ich ein Mensch mit Legasthenie bin, da ich dann deutlich entspannter Nachrichten schreiben kann. Meist müssen andere Personen aber darüber aufgeklärt werden, was eine Legasthenie bzw. Dyskalkulie ist und wie einen diese im Alltag/ Studium beeinträchtigen kann. Im Studienalltag kann ich durch meinen offenen Umgang mit der Legasthenie auch Kommiliton: innen entspannt nach Mitschriften fragen, wenn ich in einer Vorlesung mal nicht <?page no="82"?> 82 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche mitgekommen bin oder mir Schreibweisen von Fachbegriffen noch nicht geläufig sind. Wenn ich unsicher bin, ob ich alles richtig mitbekomme oder um keine Informationen zu übersehen/ überlesen, hilft mir der Kontakt auch weiter. Außerdem helfen mir Lerngruppen sehr, um gemeinsam für Prüfungen zu lernen und Inhalte zu wiederholen. Hier hat jede: r Themen, in denen er/ sie besser oder schlechter ist. So kann man sich Themen nochmal erklären lassen oder anderen erklären und alle profitieren davon. Was für mich im Medizinstudium außerdem hilfreich ist und was ich im Laufe des Studiums gefunden habe, ist der Austausch bei Nemo , einem Netzwerk für Medizinstudierende mit Behinderung von der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e. V. Dort kann ich mich gezielt mit anderen aus dem gleichen Studienfach deutschlandweit austauschen. Mögliche Formulierungen, um das Thema im Freundeskreis oder in einer neuen Gruppe anzusprechen: „Vielleicht ist euch/ dir aufgefallen, dass ich selten / nicht in den Gruppenchat schreibe. Das kommt daher, dass ich ein Mensch mit Legasthenie bin, was sich bei mir im Alltag folgendermaßen äußert: …“ „Mir hilft es, wenn …“ <?page no="83"?> 83 14 Nachteilsausgleich für Prüfungen und andere Unterstützungsmöglichkeiten Ein Nachteilsausgleich stellt eine Anpassung der Prüfungsbedingungen dar. Wie schon durch den Namen deutlich wird, soll dadurch ein bestehender Nachteil ausgeglichen werden. Die vom Nachteil betroffenen Menschen sollen in die Lage versetzt werden, ihr volles Leistungsvermögen zu zeigen. Die fachlichen Anforderungen der Prüfung dürfen dadurch nicht verändert werden. So ist es zum Beispiel nicht möglich, eine Prüfung zu kürzen, da dann fachlich nicht mehr die gleichen Anforderungen für alle gegeben wären. Stattdessen kann aber mehr Zeit zur Beantwortung der Fragen gegeben werden, wenn durch eine Lesestörung die Lesegeschwindigkeit reduziert ist. Welche Formen des Nachteilsausgleichs sinnvoll sind, hängt also von den individuellen Schwierigkeiten ab. Es ist sinnvoll, die im individuellen Fall hilfreichen Arten des Nachteilsausgleichs bei der Beantragung mit anzugeben. Dies kann in der fachärztlichen (oder psychologischen) Bescheinigung sein oder auch im Antrag selbst. Am besten ist es, so früh wie möglich zu erfragen, was die Voraussetzungen an der jeweiligen Hochschule sind. Durch einen Nachteilsausgleich soll Chancengleichheit hergestellt werden. Das Recht auf Chancengleichheit ist im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert (Art. 3 Abs. 3) und besagt unter anderem: „[…] Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ 3 Da LRS und Dyskalkulie als 3 https: / / www.gesetze-im-internet.de/ gg/ art_3.html, letzter Zugriff: 20.5.2025. <?page no="84"?> Zeitverlängerung für Prüfungen: am besten prozentual beantragen (z. B. 10, 25 oder 50 %) Fristverlängerung für Hausarbeiten/ Abschlussarbeiten: Abgabetermin z. B. um vier Wochen verschieben flexible Pausen (hilfreich, da Konzentrationsleistung meist höher ist als bei anderen) separater, ruhigerer Raum, z. B. zusätzlich zur Zeitverlängerung, wenn die anderen aufstehen und gehen schriftliche Prüfungen durch mündliche ersetzen Textformatierungen: größere Schrift, größere Buchstaben-, Wort- und Zeilenabstände, evtl. größeres Format Vorlesen der Aufgabenstellung durch andere Person oder Nutzen einer Vorlesesoftware evtl. angepasste Aufgabenstellung (z. B. kurze Sätze, klare Struktur) Textmarker mit in Prüfung nehmen, um wichtigste Wörter zu markieren (z. B. bei Multiple-Choice-Fragen) Folgende Möglichkeiten gibt es für einen Nachteilsausgleich bei Rechtschreibstörung: Zeitverlängerung für Prüfungen: am besten prozentual beantragen (z. B. 10, 25 oder 50 %) 4 https: / / www.bundesverfassungsgericht.de/ SharedDocs/ Entscheidungen/ DE/ 2023/ 11/ rs20231122_1bvr257715.html? nn=148438 84 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung Behinderung zählen 4 , hat jeder davon betroffene Mensch einen Anspruch auf Nachteilsausgleich. Dies ist wichtig zu wissen, denn sollte ein Antrag auf Nachteilsausgleich abgelehnt werden, kann Widerspruch gegen diese Entscheidung eingelegt werden. Folgende Möglichkeiten gibt es für einen Nachteilsausgleich bei einer Lesestörung: <?page no="85"?> 14 Nachteilsausgleich für Prüfungen 85 Fristverlängerung für Hausarbeiten/ Abschlussarbeiten: Abgabetermin z. B. um vier Wochen verschieben flexible Pausen (hilfreich, da Konzentrationsleistung meist höher ist als bei anderen) separater, ruhigerer Raum, z. B. zusätzlich zur Zeitverlängerung, wenn die anderen aufstehen und gehen schriftliche Prüfungen durch mündliche ersetzen Nichtbewertung der Rechtschreibung Benutzung eines Computers (mit Rechtschreibprogramm, ohne Internetzugang) Benutzung eines Diktiergeräts oder Hilfe durch Schreibassistenz (Antworten diktieren) Nutzung des Dudens Multiple-Choice-Fragen Folgende Möglichkeiten gibt es für einen Nachteilsausgleich bei einer Rechenstörung: Zeitverlängerung für Prüfungen: am besten prozentual beantragen (z. B. 10, 25 oder 50 %) Fristverlängerung für Hausarbeiten/ Abschlussarbeiten je nach Studienfach und bestehenden Schwierigkeiten flexible Pausen (hilfreich, da Konzentrationsleistung meist höher ist als bei anderen) separater, ruhigerer Raum, z. B. zusätzlich zur Zeitverlängerung, wenn die anderen aufstehen und gehen Nutzen eines Taschenrechners Nutzen einer Formelsammlung, Multiplikationstabelle Erlaubnis, Zwischenergebnisse zu notieren <?page no="86"?> [1] Informieren Genaue Antworten, wichtige Einblicke und Empfehlungen erfährt man am besten, wenn man sich an die Behindertenbeauftragten wendet. Sie sind eine Schnittstelle zwischen Studierenden und der Uni bzw. dem Prüfungsamt. Alternativ kann die Studienberatung helfen oder einen zumindest zur richtigen Adresse schicken. [2] Den Antrag stellen Der Antrag auf Nachteilsausgleich sollte so früh wie möglich vor der Prüfung gestellt werden, also am besten bei Beginn des Studiums oder bei der Anmeldung zur Prüfung. Meistens braucht er keine besondere Form, es genügt ein informelles Schreiben. An manchen Unis gibt es auch extra ein Formular. Dafür ist es sinnvoll, zu überlegen: Was hilft mir? Wo habe ich die größten Schwierigkeiten? Wie kann man diese am besten ausgleichen? Mit jedem Hilfsmittel, auch mehr Zeit, muss man üben, umzugehen. Wenn möglich, kann man die Erfahrungen aus der Schule nutzen: Bringt mir der Nachteilsausgleich, den ich damals hatte, etwas? Dann formulieren, welche Formen des Nachteilsausgleichs man benötigt, in welchem Umfang und wie lange (für das ganze Studium und beim Abschluss). [3] Begründung des Antrags Im Antrag ist zu begründen, warum man den Nachteilsausgleich braucht: Damit ist zum einen der Nachweis der Legasthenie/ Dyskalkulie gemeint und die Erklärung, dass es eine Behinderung ist. Eventuell hilft bei der Beurteilung 86 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung Folgendes ist bei der Beantragung eines Nachteilsausgleichs ratsam: <?page no="87"?> 14 Nachteilsausgleich für Prüfungen 87 auch das Beschreiben der individuellen Einschränkungen. Als Nachweis wird das Attest eingereicht. Man kann zusätzlich eine Kopie einer Bescheinigung des Grades der Behinderung, vorher genehmigte Nachteilsausgleiche, eine Empfehlung des Behindertenbeauftragten oder des Diagnostikers und Ähnliches beilegen. In den Studiengängen, in denen Staatsexamen geschrieben werden, also zum Beispiel in Jura, Lehramt oder Medizin, gibt es eine Besonderheit: Man stellt den Nachteilsausgleich dafür nicht mehr bei seiner eigenen Universität, sondern separat beim zuständigen Prüfungsamt. Dafür muss man für jedes Staatsexamen einen eigenen Antrag stellen, denn der Antrag, der von der Universität vorher für Prüfungen an der Universität genehmigt wurde, zählt für die Staatsexamen nicht mehr. Der genehmigte Nachteilsausgleich an der Universität kann aber Grundlage sein für den Antrag auf Nachteilsausgleich für das Staatsexamen. Sollte man keinen Nachteilsausgleichantrag während des Studiums gestellt haben, dann aber plötzlich fürs Staatsexamen, kann dies zu zusätzlichen Nachfragen führen. Der Nachteilsausgleich kann meist als formloser Antrag mit ärztlichem Zeugnis erfolgen, wobei die Fristen je nach Bundesland und Studiengang unterschiedlich sind. In Berlin ist es beim Medizinstudium aktuell so, dass der Antrag spätestens mit dem Antrag auf Zulassung zur Prüfung gestellt werden muss (https: / / www.aekb.de/ fileadmin/ migration/ pdf/ 12_Nachteilsausgleich-Merkblatt-und-Antrag. pdf). Beim Jura-Staatsexamen ist er „aus organisatorischen Gründen nicht mit dem Antrag auf Zulassung zur Prüfung, sondern mög- <?page no="88"?> 88 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung lichst spätestens drei Wochen vor Beginn der schrift-lichen Prüfung einzureichen“ (https: / / www.berlin.de/ sen/ justiz/ juristenausbildung/ juristische-pruefungen/ artikel.264005. php). Deswegen ist es wichtig, sich nach den aktuellen Regelungen im eigenen Bundesland und dann auch nochmal speziell für das jeweilige Studienfach zu erkundigen. Es bedarf einer eigenen aktuellen Prüfung der jeweiligen Fristen. Auch wer das ärztliche Zeugnis ausstellen darf, unterscheidet sich bei dem Antrag. Zum Teil ist dies nur von Amtsärzten erlaubt. Hilfreich ist es deswegen, sich frühzeitig vor dem Staatsexamen über die geltenden Regelungen zu informieren und ggf. die für einen zuständige Person zu kontaktieren. Am besten lässt man sich zudem mündliche Aussagen nochmal schriftlich von der Person bestätigen, damit man diese bei Problemen im weiteren Verlauf nachweisen kann. ► Nachteilsausgleich beantragen | Natascha Es ist leider nicht immer leicht, im Studium einen Nachteilsausgleich mit LRS oder Dyskalkulie zu beantragen und gewährt zu bekommen. Daher empfehle ich, auf der Webseite der Hochschule zu Nachteilsausgleich und den jeweiligen Regelungen zu recherchieren. Das wird nämlich an jeder Universität/ Hochschule anders gehandhabt und es werden andere Nachweise verlangt: Manche Unis verlangen ganz aktuelle Atteste, andere nicht, einige wollen eine Diagnose nach ICD-10, andere nicht. Daher kann es sein, dass die jeweiligen Regelungen an der Uni bereits die Wahl des Studienortes beeinflussen. <?page no="89"?> 14 Nachteilsausgleich für Prüfungen 89 Ich habe bereits vor Studienbeginn infrage kommende Hochschulen (am besten die Behindertenbeauftragten) angeschrieben oder angerufen und gefragt: Welche Erfahrungen haben Sie bereits mit Studierenden mit Legasthenie oder allgemein mit der Gewährung von Nachteilsausgleich? Welche Nachweise muss ich bei Ihnen erbringen? Wie aktuell müssen diese sein? Wer muss diese ausgestellt haben? Was muss drinstehen, um einen Nachteilsausgleich zugesprochen zu bekommen? Welche Art von Nachteilsausgleich können Sie für mich als Mensch mit Legasthenie bereitstellen? In diesem Kontext auch wichtig: Gibt es viele handschriftlich zu erbringende Prüfungen? Sich auch unter Studierenden umzuhören und nach Erfahrungen zu fragen, ist ebenso sinnvoll. In meinem Fall war es so, dass ich Hilfe bei der Antragstellung bekam und immer eine Ansprechpartnerin hatte. Die Dozierenden wussten, dass es Nachteilsausgleiche gibt und arrangierten mit mir problemlos die Umsetzung. Ich bekam 25 % mehr Zeit bei Klausuren und vier Wochen mehr Zeit bei Hausarbeiten und bei meiner Bachelor-Arbeit. Bei der Fachhochschule, an der ich anschließend den Master machte, musste ich dann allerdings doch noch das Attest aus der 6. Klasse erneuern. Dadurch bekam ich im 1. Semester keinen Nachteilsausgleich, weil die Wartezeiten auf einen Diagnostiktermin so lang waren. Letztendlich wurden mir für die gesamte Zeit meines Studiums für Klausuren (nicht für sonstige Abgaben) eine Zeitverlängerung von 25 % anerkennt und eine Nichtbewertung der Rechtschreibung. <?page no="90"?> Bei den Prüfungen und Leistungsnachweisen haben mir vor allem folgende Maßnahmen geholfen: Benutzung eines Computers (mit Rechtschreibprogramm, ohne Internetzugang): Das schnellere Tippen und einfachere Korrigieren halfen mir sehr, gut durch die Prüfungen zu kommen. Zeitverlängerung und Fristverlängerung Pausen, in denen ich die Unterlagen abgegeben habe und kurz rausgegangen bin, um die große Konzentrationsanstrengung wieder runterzufahren und einmal durchzuschnaufen. Ein eigener, ruhiger Raum, um konzentriert weiterzuarbeiten, während die anderen aufstehen und gehen. Vor der Prüfung: Wenn man den Bescheid vom Prüfungsamt hat, dass der Nachteilsausgleich gewährt wird, sollte man dies den Prüfer: innen jedes Fachs rechtzeitig mitteilen und besprechen, wie man ihn umsetzt. Für ein besseres Verständnis kann man den Prüfer: innen selbst die bestehenden Schwierigkeiten erklären. Zur Umsetzung des Nachteilsausgleichs, z. B. eine Zeitverlängerung, ist es aber nicht notwendig, ihnen den Grund (Legasthenie/ Dyskalkulie) zu nennen. Ich selbst habe mit den Prüfer: innen nur geklärt, ob ich die zusätzliche Zeit vor oder nach der Prüfung zugeschrieben bekomme, ob der entsprechende Raum so lange frei ist oder ich einen anderen Raum nutzen kann, entweder für die gesamte oder nur für die zusätzliche Prüfungszeit. Während der Prüfung: Ich fand es immer hilfreich, den Bescheid dabei zu haben, falls eine Aufsicht doch nicht Bescheid weiß. Auch habe ich meine Sitznachbarn über die Zeitverlängerung informiert, damit die sich nicht wundern 90 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung <?page no="91"?> 14 Nachteilsausgleich für Prüfungen 91 und mich nicht stören, wenn ich länger sitzen bleibe. Außerdem habe ich mich in einem Seminarraum möglichst weit weg von der Tür gesetzt, damit nicht alle schwatzend an mir vorbeigehen, wenn ich noch weiterarbeite. In einem Hörsaal habe ich einen Platz in der Mitte einer Reihe gewählt, damit die anderen zu beiden Seiten raus können und ich nicht jedes Mal aufstehen muss, um jemanden vorbeizulassen. ► Nachteilsausgleich mit kleinen Hindernissen | Svea Nach mehreren Semestern, in denen ich immer den Antrag auf Nachteilsausgleich ohne Änderungen bewilligt bekommen hatte, wurde er mir, als ich ihn wieder, und dieses Mal für das gesamte restliche Studium, stellen wollte, teilweise nicht genehmigt. Als ich das Schreiben sah, war ich im ersten Moment erschrocken. Wie konnte es sein, dass dieser jetzt im 3. Semester nicht mehr in vollem Umfang genehmigt wurde? Wieso wurde der Umfang meines Nachteilsausgleichs plötzlich gekürzt? Das Schreiben hatte keine Begründung für die Genehmigung bzw. Kürzung angegeben und ich war im ersten Moment ratlos. Über die Jungen Aktiven kannte ich zum Glück jemanden, der mir weiterhelfen konnte, und nach einem gemeinsamen Telefonat wusste ich, wie ich weiter vorgehen konnte. Ich habe einen Widerspruch geschrieben und darin um eine Begründung für die Nichtgenehmigung der beantragten Teile vom Nachteilsausgleich gebeten. Denn ohne diese Begründung konnte auch ich meinen Widerspruch nicht begründen. Das Schreiben schickte ich dann per E-Mail (was <?page no="92"?> nicht der Form entsprach) und postalisch meinem Prüfungsbereich zu. Daraufhin kam es zu einem Telefonat zwischen mir und einer Mitarbeiterin vom Prüfungsbereich. Sie erklärte mir, dass alles Nichtgenehmigte dadurch zustande kam, dass es für die aktuellen Prüfungen nicht relevant war. Nachdem ich ihr erklärt hatte, dass dies in meinem Nachteilsausgleich aber enthalten war, da sich dieser auf alle möglichen Prüfungsformate in der Prüfungsverordnung der Universität bezog und sich die Prüfungsformate in den nächsten Jahren meines Studiums dahingehend ändern konnten, war das Verständnis plötzlich groß. Sie sicherte mir zu, dass alles aus meinem Nachteilsausgleich genehmigt werde. Nachdem ich dies schriftlich vorliegen hatte, zog ich meinen Widerspruch zurück. Tipp | Es kann hilfreich sein, eine Rechtsschutzversicherung abzuschließen, die mit abdeckt, wenn es aufgrund der Legasthenie/ Dyskalkulie zu einer rechtlichen Auseinandersetzung kommt, zum Beispiel beim Nachteilsausgleich. Wichtig ist, vorher zu prüfen, ob die gewählte Versicherung diesen Fall mit abdeckt, wie hoch die Selbstbeteiligung ist und welche Kosten diese in diesem Fall nicht mit abdeckt. ► Nachteilsausgleich bei Dyskalkulie | Carla Im Logopädie-Studium gibt es kaum Prüfungen, in denen Zahlen relevant sind. Aber im 4. Semester hatte ich eine Prüfung, in der es mit der Dyskalkulie schwierig wurde: die Statistikklausur. Zu meiner Überraschung bekam ich für diese Prüfung einen Nachteilsausgleich, im Gegensatz zu meiner Schulzeit. Ich benötigte ein aktuelles Attest und eine 92 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung <?page no="93"?> 14 Nachteilsausgleich für Prüfungen 93 Empfehlung für die Umsetzung des Nachteilsausgleichs des diagnostizierenden Psychiaters. Am Ende bekam ich 30 % mehr Zeit. Dass ich einen Nachteilsausgleich bekam, war für mich absolut unbeschreiblich. Tipp | Hilfreiche Webseiten zum Nachteilsausgleich Studierendenwerk Nachteilsausgleich: https: / / www.studierendenwerke.de/ themen/ studieren-mit-behinderung/ studium-und-pruefungen/ nachteilsausgleiche-1 Studierendenwerk Beratungssuche: https: / / www.studierendenwerke.de/ themen/ studieren-mit-behinderung/ beratungstudierender-mit-behinderungen/ beratungssuche Broschüre zum Nachteilsausgleich der Universität Würzburg: https: / / www.uni-wuerzburg.de/ fileadmin/ 9912-inklusion/ 2024/ UNIWUE_KIS-Broschuere-NTA-241121-Web_UA.pdf Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB): Nachteilsausgleich in der Ausbildung, Handbuch für die Ausbildungs- und Prüfungspraxis: https: / / www.bibb.de/ dienst/ publikationen/ de/ 7407 Für den normalen Studienbetrieb außerhalb von Prüfungssituationen kann es sehr hilfreich und entlastend sein, Unterstützung zu erhalten. Dafür braucht es keinen speziellen Antrag, sondern „nur“ Hilfsbereitschaft auf Seiten der Dozierenden. Oft sind es ganz einfache Dinge, die den Studienalltag mit Legasthenie oder Dyskalkulie deutlich erleichtern. Im Folgenden werden einige Möglichkeiten genannt. Einige davon sind auch im Rahmen von Prüfungssituationen möglich. Die meisten der Möglichkeiten sind bei Lese- oder Rechtschreibstörung sinnvoll, da hier generell die Arbeit mit Texten beeinträchtigt ist. Jede: r <?page no="94"?> selbst kann auch hier natürlich am besten beurteilen, was für sie/ ihn hilfreich ist. Hier einige Vorschläge: Verwenden eines Diktiergeräts zum Aufnehmen von Lehrveranstaltungen PowerPoint-Folien vorab durch Dozierende zur Verfügung stellen Verwenden von technischen Hilfsmitteln lange Texte vorab durch Dozierende zur Verfügung stellen, wenn diese in der Lehrveranstaltung gelesen werden sollen Textformatierungen: größere Schrift, größere Buchstaben-, Wort- und Zeilenabstände, evtl. größeres Format zusätzliche Pausen individuelle/ zusätzliche Erklärungen Nutzung eines Laptops, auch wenn sonst nicht vorgesehen Im Gespräch mit den Dozierenden kann besprochen werden, was für einen selbst sinnvoll wäre und was davon möglich ist. Natürlich ist es auch möglich, sich per E-Mail an die Lehrpersonen zu wenden. 94 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung <?page no="95"?> 95 15 Technische Hilfsmittel Unterstützung kann, wie in den beiden vorhergehenden Kapiteln beschrieben, in Form eines Nachteilsausgleichs in prüfungsrelevanten Situationen sowie in Form von anderen Hilfestellungen außerhalb von Prüfungen gewährt werden. Außerdem gibt es inzwischen verschiedene technische Hilfsmittel, um bestehende Schwierigkeiten abzumildern. Technische Hilfsmittel bei Legasthenie Für alle Studierenden ist ein Semester mit viel Stress und Zeitaufwand verbunden. Seminartexte müssen gelesen, Vorträge vorbereitet, Übungen abgegeben und häufig Hausarbeiten angefertigt werden. Für Menschen mit Legasthenie ist dieser Stress noch deutlich größer und es ist noch schwieriger für sie, die Anforderungen in der vorgegebenen Zeit zu erfüllen. Selbst wenn es als Nachteilsausgleich eine Verlängerung einer Frist gibt, ist diese oft nur bis zu einem bestimmten Punkt hilfreich. So kann einem eine Zeitverlängerung zwar einige Wochen an längerer Bearbeitungszeit geben, allerdings kollidiert die Abgabe dann oft wieder mit anderen Aufgaben. Teils ist eine Zeitverlängerung auch nicht das optimale Mittel als Nachteilsausgleich oder nicht möglich. Ein Text, der zum nächsten Seminar gelesen werden soll, um darüber zu diskutieren, kann z. B. nicht erst zwei Wochen später fertiggelesen werden. Hier können technische Hilfsmittel einen entscheidenden Ausgleich und Hilfe bringen: Texte können durch Vorlesesoftware schnell zugänglich gemacht werden. Durch eine Diktiersoftware können eigene Texte fehlerfrei verschriftlicht werden, und Getipptes kann mit Rechtschreibkorrekturprogrammen korrigiert werden. Auch neue Entwicklungen wie Sprachmodelle (z. B. ChatGPT) <?page no="96"?> Die große Anzahl an Texten im Studium erfordert richtige Orthographie und Interpunktion, was durch eine Rechtschreibkorrektur weitgehend hergestellt werden kann. Bei Legasthenie besteht jedoch häufig das Problem, dass die Wörter derartig falsch geschrieben sind, dass die Rechtschreibkorrektur sie nicht gut erkennt. Auch werden häufig orthographisch, aber nicht inhaltlich treffende Wörter vorgeschlagen. Was hier hilft, sind kontextbasierte Korrekturprogramme, die den gesamten Kontext des Satzes anschauen und daraus eine Korrektur vorschlagen. Dafür reichen meist nicht die in Textverarbeitungsprogrammen integrierten Programme aus. Empfehlenswert sind hier u. a. folgende Programme: Grammarly, LanguageTool und Duden Mentor , welche sich auch in Programme wie Word integrieren lassen. Alle drei funktionieren als Add-ons im Browser, können somit in Webmail-Programmen sowie auf den allermeisten Webseiten mit Eingabefeldern verwendet werden. Zunehmend können auch Sprachmodelle die Korrektur übernehmen. Programme wie ChatGPT können Texte auf eine sehr 96 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung können das Studium für Menschen mit Legasthenie stark erleichtern. Doch auch mit den im Folgenden aufgeführten Hilfsmitteln gilt: Menschen mit Legasthenie benötigen trotzdem Berücksichtigung, denn auch mit den Hilfsmitteln sind ihre Texte nicht fehlerfrei. Die richtige Verwendung sowie die Umstellung des Lernprozesses auf „Lernen durch Hören“ erfordert außerdem viel Zeit und Übung. Rechtschreibkorrektur <?page no="97"?> präzise und schnelle Weise korrigieren. Dafür muss dem Programm lediglich gesagt werden, dass eine Rechtschreibkorrektur gewünscht ist. Sprachmodelle sind darauf optimiert, Texte nach den Regeln der jweiligen Sprache zu verfassen. Der Inhalt mag häufig noch mangelhaft sein, orthographisch ist er jedoch richtig. Somit sind sie der optimale Assistent für Menschen mit Legasthenie. Wenn nur nach einer Rechtschreibkorrektur gefragt wird, bleibt der Text auch der eigene und prüfungsrechtlich spricht nichts dagegen. Der korrigierte Text sollte jedoch zur Sicherheit noch einmal kurz gegengelesen werden, ob dieser wirklich noch ganz dem eigenen entspricht, oder ob Wörter geändert oder ergänzt wurden. Hilfsmittelstrategien für fremdsprachige Texte Legasthenie zeigt sich meist noch ausgeprägter in einer Fremdsprache. Dies kann schnell dazu führen, dass Rechtschreibkorrekturprogramme aufgrund der massiven Fehlerquote an ihre Grenzen stoßen. Es kann deshalb sinnvoll sein, mit einer Übersetzungsstrategie zu arbeiten. Dabei wird zunächst überlegt, was in der Fremdsprache gesagt werden soll. Dann wird dies im Kopf ins Deutsche übersetzt. Anschließend wird der deutsche Text in ein kontextbasiertes Übersetzungsprogramm eingegeben und dann zurück in die Fremdsprache übersetzt. Dies klingt recht aufwendig, allerdings lässt sich dies mit einem guten Workflow zügig mit nur geringem Zeitaufwand umsetzen. Von den Programmen her empfiehlt sich DeepL , da bei diesem Programm anschließend Alternativen für einzelne Wörter oder Satzteile vorgeschlagen werden. So kann der nun übersetzte Satz der ursprünglichen Idee, was in der Fremdsprache gesagt werden sollte, angeglichen werden. Der Vorteil eines 15 Technische Hilfsmittel 97 <?page no="98"?> 98 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung kontextbasierten Übersetzungsprogramms ist, dass trotz Fehlern in der Rechtschreibung eine korrekte Übersetzung erstellt wird. Ein Tool, das vielen Menschen mit Legasthenie im Englischen hilft, ist LanguageTool . Es funktioniert ähnlich wie der Duden Mentor , ist jedoch für die englische Sprache optimiert und dabei sehr leistungsstark. Hier werden ebenfalls Grammatikvorschläge gegeben, und es wird darauf geachtet, wenn Sätze unverständlich sind. Eine sehr hilfreiche Strategie für die Rechtschreibkorrektur ist es, sich die geschriebenen Texte mit einem Vorleseprogramm anzuhören. Dabei lassen sich viele Fehler erkennen. Welche Programme es dafür gibt, wird im folgenden Abschnitt beschrieben. Vorlesesoftware Mit Vorleseprogrammen (TTS) lassen sich Texte, die maschinenlesbar sind, vorlesen. Inzwischen gibt es immer mehr auch kostenlose Alternativen. Gerade die Vorleseprogramme, die bereits in mobilen Geräten integriert sind, sei es auf Tablets oder Smartphones, können hier einen entscheidenden Beitrag leisten. Diese lassen sich recht einfach aktivieren. Bei mobilen Android-Geräten findet sich die Funktion in den Einstellungen unter Bedienungshilfen. Hier wählt man „Vorlesen“ aus und aktiviert dann die Schaltflächte „Vorlesen“. Falls die Option „Vorlesen“ nicht vorhanden ist, empfiehlt es sich, die aktuelle Version der Android-Tools zur Barrierefreiheit aus dem Google Play Store herunterzuladen und es dann noch einmal zu versuchen. Zur Aktivierung muss nun mit zwei Fingern nach oben gewischt werden. Alternativ kann häufig auch „Text markieren“ und dann an der Stelle, an der auch „Kopieren“ und <?page no="99"?> „Ausschneiden“ steht, auf „Vorlesen“ gedrückt werden. Dann wird der Text vorgelesen und zusätzlich unten in größerer Schrift eingeblendet. Bei IOS-Geräten findet sich die Funktion auf ähnlichem Wege: In den Einstellungen, auf Bedienungshilfen gehen und dort gesprochene Inhalte auswählen. Die Schaltfläche „Auswahl sprechen“ aktivieren. Auch für den Laptop und den Standrechner gibt es eine Vielzahl an Programmen, die das Vorlesen ermöglichen. Einige Programme funktionieren als Erweiterung für den Browser und können Webinhalte sowie geöffnete PDFs vorlesen. Andere Programme können sämtliche Texte, die markierbar sind, vorlesen. Bei Mac-OS gibt es schon eine Vorlesesoftware. Diese lässt sich in den Systemeinstellungen aktivieren. Dort wählt man Bedienungshilfen sowie Gesprochene Inhalte aus. Anschließend nur noch „Auswahl sprechen“ aktivieren. Die Standardtastenkombination ist „Wahl-esc“. Sie lässt sich in den Einstellungen unter „Gesprochene Inhalte“ auch auf eine andere festlegen. Wenn nun ein Textausschnitt ausgewählt ist, wird dieser vorgelesen. Wenn nichts ausgewählt ist, wird der Inhalt des ausgewählten Fensters vorgelesen. 15 Technische Hilfsmittel 99 <?page no="100"?> Zusammenfassung | Vorlesefunktion aktivieren: Android-Geräte 1. Einstellungen öffnen. 2. Bedienungshilfen auswählen. 3. „Vorlesen“ auswählen. 4. Schaltfläche „Vorlesen“ aktivieren. IOS-Geräte 1. Einstellungen öffnen. 2. Bedienungshilfen auswählen. 3. „Gesprochene Inhalte“ auswählen. 4. Schaltfläche „Auswahl sprechen“ aktivieren. Mac-OS 1. Systemeinstellungen öffnen. 2. Bedienungshilfen auswählen. 3. „Gesprochene Inhalte“ auswählen. 4. Option „Auswahl sprechen“ aktivieren. Es gibt auch Plug-Ins für den Browser, mit denen Inhalte vorgelesen werden können. Mit diesen können auch PDFs vorgelesen werden, welche über den Browser geöffnet werden. Ein zuverlässiges Plug-In ist zum Beispiel Read Aloud: A Text to Speech Voice Reader . Dieses benötigt jedoch eine Internetverbindung. Auch gibt es ein Vorleseprogramm, das in Microsoft Edge integriert ist. Bei all diesen Programmen lässt sich die Geschwindigkeit selbst steuern. So kann langsam begonnen werden und mit zunehmender Übung kann die Geschwindigkeit erhöht werden. Des Öfteren werden im Kontext von Vorlesesoftware für Menschen mit Legasthenie auch Lesestifte vorgeschlagen. Diese sind jedoch nicht zu empfehlen, weder im universitären Kontext 100 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung <?page no="101"?> noch im Bereich der Sekundarschule. Bei längeren Texten nämlich sind Lesestifte sehr umständlich zu bedienen, da der Text zeilenweise markiert werden muss. Auch muss der richtige Zeilenabstand vorhanden sein und der Farbkontrast darf nicht zu stark sein. Eine bessere Lösung ist es, ein mobiles Endgerät zu verwenden, sei es ein Tablet oder ein Handy, und eine Texterkennungs-App darauf zu nutzen. Anschließend kann die betriebssysteminterne Vorlesesoftware verwendet werden. Diese Geräte lassen sich in der Regel auch prüfungssicher abriegeln. Texterkennung (OCR) Mit Texterkennung ( Optical Character Recognition , OCR) können analoge Texte wie Buchseiten oder Handouts in ein digitales Format umgewandelt werden. Das ermöglicht nicht nur das Durchsuchen der Texte, sondern auch das anschließende Verwenden von Vorlesesoftware. Neben kommerziellen Projekten, die diese Transformation ermöglichen, gibt es zunehmend auch kostenfreie Programme, die auf der freien Software Tesseract basieren. Zwei kostenfreie und zuverlässige Apps für Texterkennung sind Textfee und Microsoft Lanc. Diese haben den Vorteil, dass man sowohl direkt Fotos eines Textes machen kann, um ihn zu digitalisieren, als auch bestehende PDFs und Bilder, die nicht maschinenlesbar sind, in die App laden kann. Inzwischen gibt es auch in vielen Handykameras eine integrierte Software, durch die Text aus Bildern kopiert werden kann. Beispielsweise ermöglicht die Google 15 Technische Hilfsmittel 101 <?page no="102"?> 102 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung Lens das Scannen eines beliebigen Textes mit dem Handy. Anschließend ist es möglich, sich mit der zuvor erwähnten integrierten Vorlesefunktion im Betriebssystem den Text vorlesen zu lassen. Bei Apple lassen sich über die Notizen Texte digitalisieren. Auch für den Computer gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten, Dokumente maschinenlesbar zu machen. Einige PDF-Reader und Scan-Programme können automatisch Text erkennen, wie z. B. Adobe Acrobat oder auch gscan2pdf . Außerdem ist es möglich, dass man die PDFs in Google Drive hochlädt und dann auf „In Docs öffnen“ klickt. Sinnvoll ist es jedoch, bei den Dozierenden grundsätzlich um das Bereitstellen eines maschinenlesbaren Textes zu bitten, denn auch die Texterkennungsprogramme sind nicht unfehlbar. Gerade Recyclingpapier, ein geringer Kontrast in der Farbe, schiefes Scannen/ Kopieren und künstlerische Schriftarten können zu Problemen führen. Auch ist es eine überflüssige weitere Hürde, deren Überwindung wieder Zeit in Anspruch nimmt. Tipp | Auch viele Universitätsbibliotheken bieten einen Digitalisierungsdienst an. Wissen | Maschinenlesbare Texte Heutzutage ist der Ursprung eines ausgedruckten Dokumentes meist ein maschinenlesbarer Text. Ein wichtiges Erkennungsmerkmal ist, dass der Text digital markier- und kopierbar ist. Dies ist in der Regel der Fall, wenn Dokumente in ihrem Bearbeitungsformat sind (wie z. B. in .odt oder .docx) oder in einem exportierten PDF-Format. <?page no="103"?> Diktiersoftware Die Diktiersoftware ( Speech to Text , STT) ist ein gutes Programm, um Texte schnell und problemlos zu verfassen und um so die Konzentration auf das Wesentliche legen zu können. Allerdings ist sie wohl das Hilfsmittel, das am meisten Übung benötigt: Es ist eine Sache, gut reden zu können, und eine ganz andere, einen Text für die Schriftform zu diktieren. Doch wenn man das einmal beherrscht und Texte einfach herausdiktieren kann, nimmt einem dieses Hilfsmittel einen großen Teil der Last ab. Denn es ist nicht nur weniger anstrengend, damit Texte zu produzieren, sondern es minimiert auch massiv die Rechtschreibfehlerquote. Allerdings sollte bei jedem diktierten Text noch einmal der Text angehört oder gelesen werden, denn vereinzelt kann es passieren, dass andere Wörter eingesetzt werden oder unbewusste „Ähms“ und „Öhs“ im Text landen. Dies geschieht häufig, weil das Programm versucht, diese Laute in andere Wörter umzuinterpretieren. Einige Programme benötigen außerdem separate Ansagen für einen Punkt und für ein Komma, andere hingegen erkennen dies automatisch. Was helfen kann, ist dann die Verwendung von Sprachmodellen (wie ChatGPT ), welche diese kleinen Fehler und fehlende Interpunktion korrigieren können, während gleichzeitig die Eigenständigkeit des Textes beibehalten wird. Auf Mobilgeräten wie Tablets oder Handys sowie in neueren Mac-OS-Versionen gibt es, integriert in die Tastatur, eine Möglichkeit, direkt zu diktieren. Dies funktioniert ohne Internet- Verbindung, ist jedoch fehleranfällig. Wenn längere Texte diktiert werden sollen, ist es meist sinnvoll, die Diktierfunktion von den Textbearbeitungsprogrammen am Computer zu verwenden 15 Technische Hilfsmittel 103 <?page no="104"?> 104 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung (in Google Docs und in Word sind derartige Funktionen integriert). Sie benötigt jedoch in den allermeisten Fällen eine Internetverbindung. Neben diesen integrierten Funktionen gibt es am Computer auch Programme, die offline funktionieren. Allerdings sind diese in den meisten Fällen äußerst kostenintensiv und teilweise auch erheblich schlechter. ChatGPT und andere Sprachmodelle Bereits mehrfach sind Sprachmodelle wie ChatGPT als Hilfsmittel erwähnt worden. Diese neuere Entwicklung kann den Arbeitsprozess von Menschen mit Legasthenie immens erleichtern. Wie bereits im Abschnitt zur Rechtschreibkorrektur erwähnt, können Sprachmodelle optimal helfen, Texte zu korrigieren. Sprachmodelle sind zumeist ein Spiegel der gesellschaftlichen Normen beim Schreiben und somit auch der aktuellen Rechtschreibregeln. Solange die Aufgabe für das Programm nur auf die Korrektur beschränkt wird und sichergestellt wird, dass sich am Text selbst nichts ändert, ist dies auch für Prüfungsleistungen wie Hausarbeiten kein Problem, da der Text der eigene bleibt. Außerdem können Sprachmodelle genutzt werden, um schlecht eingescannte Dokumente zu verbessern. So ist es möglich, Wörter, die die Texterkennung nicht richtig oder gar nicht erkannt hat, vom Programm rekonstruieren zu lassen und somit einen verständlicheren Text zum Vorlesen vom Gerät zu erhalten. Weitere Entwicklungen Eine weitere Entwicklung im Bereich der technischen Hilfsmittel ist die zunehmende Integration von Vorlesesoftware in verschiedene Programme. So gibt es bereits auch in Google Lens eine <?page no="105"?> Vorlesefunktion, mit der Texte maschinenlesbar gemacht werden können. Bei dieser ist jedoch zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Buches die Geschwindigkeit noch nicht manuell steuerbar. Stattdessen kann aber auch die vom Betriebssystem integrierte Vorlesesoftware genutzt werden. Wie diese gesteuert werden kann, ist im bereits beschriebenen Abschnitt „Vorlesesoftware“ nachzulesen. Aus der Forschung | Schriftart, Buchstaben- und Zeilenabstand: Serifenlose Schriften (z. B. Arial) erleichtern Menschen mit Lesestörung das Lesen (Rello & Baeza-Yates, 2016). Eine größere Schrift kann ebenso hilfreich sein (O'Brien, Mansfield, & Legge, 2005). Spezielle Dyslexie-Schriften sind nicht sinnvoll (Duranovic, Senka, & Babic-Gavric, 2018; Galliussi, Perondi, Chia, Gerbino, & Bernardis, 2020; Kuster, van Weerdenburg, Gompel, & Bosman, 2018). Vergrößerter Wort-, Buchstaben- und Zeilenabstand erleichtert das Lesen (Duranovic et al., 2018; Zorzi et al., 2012). Wird der Buchstabenabstand allerdings zu groß und wird der Wortabstand dabei nicht vergrößert, fällt das Lesen eher schwerer (Galliussi et al., 2020). Gut strukturierte Texte (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V., 2015) helfen ebenso. Weitere Tipps zur Gestaltung von Texten (auf Englisch) hier: https: / / cdn.bdadyslexia.org.uk/ uploads/ documents/ Advice/ styleguide/ BDA-Style-Guide-2023.pdf? v=1680514568 15 Technische Hilfsmittel 105 <?page no="106"?> 106 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung Weniger sinnvolle Hilfsmittel Die Einführung spezieller Schriftarten für Menschen mit Legasthenie hat viel Aufmerksamkeit erregt, aber wissenschaftliche Studien zeigen, dass sie nicht die versprochenen Vorteile bieten. Serifenlose Schriften und angemessene Abstände zwischen Buchstaben und Zeilen können jedoch helfen. Auch der Duden wird oft als Hilfsmittel empfohlen. Er ist jedoch für viele Menschen mit Legasthenie nicht praktisch, da sie Schwierigkeiten haben können, nach Wörtern zu suchen, deren Schreibweise sie nicht wissen. Außerdem brauchen sie oft sehr lange, um ein Wort zu finden. Analoge Wörterbücher sind daher oft nicht die beste Wahl für Legastheniker. Manchmal werden sie allerdings als einzige Option angeboten. In diesem Fall ist es ratsam, das Gespräch zu suchen und bessere Alternativen vorzuschlagen und bei Unverständnis evtl. Kontakt zur Behindertenbeauftragten aufzunehmen. ► Technische Hilfsmittel in der Anwendung | Anton Da ich bereits geübt im Umgang mit technischen Hilfsmitteln war, konnte ich sehr genau sagen, welche Angebote mir helfen. Dies habe ich mit meinen Dozierenden besprochen und so wurden mir die Texte vor dem Seminar digital zur Verfügung gestellt und ich konnte sie mir am Laptop vorlesen lassen. Notizen dazu habe ich mir diktiert. Auf dem Weg zur Uni habe ich mir diese dann von meinem Handy oder sogar den ganzen Seminartext noch einmal angehört. Wenn während des Seminars Zusatztexte auf Papier ausgeteilt wurden, habe ich mir Kopfhörer aufgesetzt und eine OCR-App verwendet, um die Texte zu digitalisieren. So <?page no="107"?> hatte ich nach wenigen Sekunden einen maschinenlesbaren Text, den ich mir in erhöhter Geschwindigkeit einmal habe vorlesen lassen. Manchmal auch noch ein zweites Mal. Wenn ich vor den anderen fertig war, habe ich schon einmal über den Text nachgedacht, um mich dann in der folgenden Diskussion einzubringen. Texte, die ich zuhause lesen möchte, sind meist digital vorhanden, und ich lasse sie mir direkt vorlesen. Einzelne Werke jedoch sind nur analog verfügbar. Das ist jedoch kein Problem, da viele Universitätsbibliotheken einen Digitalisierungsdienst anbieten; und kurze Texte kann ich mir, wie im Seminar, selbst digitalisieren. Von Büchern, die ich mir in anderen Bibliotheken bestellt habe, scanne ich die relevanten Seiten ein und lasse eine OCR darüberlaufen. Für meine Hausarbeit diktiere ich meinen Text abschnittweise. Manchmal tippe ich auch Teile. Danach lasse ich mir den Text vorlesen und korrigiere ihn. Anschließend gebe ich den Text noch einmal einem Sprachmodell zur Rechtschreibkorrektur. Damit ist der Abschnitt fertig. Technische Hilfsmittel bei Dyskalkulie Der Markt für technische Hilfsmittel für Menschen mit Dyskalkulie ist bei weitem noch nicht so weit entwickelt wie der für Legasthenie. Trotzdem gibt es einige Hilfsmittel, die eine große Unterstützung sein können. 15 Technische Hilfsmittel 107 <?page no="108"?> 108 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung Eine sehr hilfreiche App ist der Alles-In-Einem Taschenrechner. Diese hat eine Vielzahl von häufigen Rechnungen wie Trinkgeld, Rabatt, Anteilsrechnung oder Durchschnittsberechnung bereits so aufgearbeitet, dass die Werte wie zum Beispiel die Höhe der Rechnung lediglich eingetragen werden müssen. Es gibt auch die eine oder andere App, z. B. Finanzguru, die das monatliche Budget berechnet, indem Verträge und regelmäßige Einkommen automatisch erkannt werden und nur das Geld angezeigt wird, welches für die variablen Kosten in diesem Monat zur Verfügung steht. Des Weiteren ist in viele „intelligente Kameras“ wie Google Lens ein automatischer Aufgabenlöser integriert. Wenn diese Funktion aktiviert ist, hält man die Kamera lediglich über die Aufgabe und die Operation wird vom Gerät erkannt und die Aufgabe gelöst. Auch kann ChatGPT verwendet werden, um Menschen mit Dyskalkulie zu unterstützen. Hier können Aufgaben eingegeben, nach Rechenwegen gefragt und Textaufgaben umgewandelt werden. Zusätzlich können Zeitpläne für ein besseres Zeitmanagement erstellt werden. Für die Orientierung gibt es in manchen Navigationsapps die Möglichkeit, diese mit der Handykamera zu verknüpfen. So wird einem die Navigation nicht mehr auf einer virtuellen Karte angezeigt, sondern man sieht die Navigationspfeile auf dem Weg vor einem selbst. Dies erleichtert den Umgang mit virtuellen Karten. <?page no="109"?> 109 16 Lernstrategien und Prüfungsvorbereitung Die meisten Studierenden versuchen, sich effizient auf Prüfungen vorzubereiten, sich ihre Zeit auch in stressigen Phasen des Studiums einzuteilen und so möglichst gut durchs Studium zu kommen - bezogen auf die Noten, aber natürlich auch auf ausreichend Freizeit. Dazu werden oft bestimmte Strategien genutzt, sowohl bewusst als auch unbewusst. Für Studierende mit Lernstörung sind solche Strategien besonders wichtig. Optimale Vorbereitung durch effizientes Lernen Die Annahme, dass eine Einteilung in verschiedene Lerntypen (z. B. visuell, auditiv oder haptisch) sinnvoll ist, ist inzwischen mehrfach widerlegt worden. Auch wenn sich das Konzept nach wie vor hartnäckig hält, bringt es keinen Vorteil, nach einem Lerntyp, dem man sich zugehörig fühlt, zu lernen (Husmann & O'Loughlin, 2019; Pashler, McDaniel, Rohrer, & Bjork, 2008; Yfanti & Doukakis, 2021). Was hingegen sinnvoll ist, ist das multisensorische Lernen, also das Lernen über verschiedene Sinneskanäle. Dieser Effekt scheint unabhängig vom zu lernenden Inhalt zu sein, also genauso für Fremdsprachen zu gelten wie für naturwissenschaftliche Inhalte. Das Gehirn merkt sich neue Inhalte besser, wenn es beispielsweise ein Wort nicht nur sieht, sondern auch hört und ein passendes Bild oder eine Geste dazu sieht (Andrä et al., 2020; Rueckert, Church, Avila, & Trejo, 2017; von Kriegstein et al., 2008). Ein Grund dafür ist wahrscheinlich, dass es auf diese Weise leichter Verknüpfungen zu schon vorhandenem Wissen herstellen und das neue Wissen besser integrieren kann. <?page no="110"?> Die Lerninhalte mit einer Emotion verknüpfen, dann bleiben sie besser im Gedächtnis. Das eignet sich besonders für trockenes Faktenwissen, je nach Fach und Thema heißt es dann kreativ zu werden und sich für einen persönlich passende Verknüpfungen zu überlegen. Lernzettel mit Abbildungen ausdrucken und z. B. neben den Spiegel hängen, dann beim Zähneputzen immer bewusst damit beschäftigen. Unterschiedliche Formen der Darstellung nutzen, z. B. Mindmaps, Schaubilder, Stichpunkte, um sich Inhalte besser einprägen zu können. Sich Inhalte aufsprechen und immer wieder anhören. Je nachdem, wie das Studium organisiert ist und wie die eigenen finanziellen Möglichkeiten sind, kann man das Studium evtl. etwas „strecken“, indem man zwischendurch Freisemester macht. Durch die zusätzliche Zeit kann man vielleicht besser mit den Anforderungen und Herausforderungen umgehen, die ein Studium mit Legasthenie und/ oder Dyskalkulie mit sich bringt; beim Bezug von Bafög sind dies anerkannte Begründungen, sodass man diese Leistung länger bekommt. Hinweise für die Prüfungsvorbereitung: Die Anmeldefrist für Prüfungen im Blick behalten. Auch die Abmeldefrist ist wichtig, falls du die Prüfung doch noch nicht antreten möchtest. Denn Prüfungen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben kann Entlastung bringen. Die Inhalte und den Umfang möglichst genau herausfinden. Neben Dozierenden ist es sinnvoll, Studierende höherer Semester zu fragen. 110 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung <?page no="111"?> 111 Sich klarmachen: Im Studium ist es meist nicht möglich, alles zu lernen und zu können, deswegen den Fokus auf die prüfungsrelevanten Inhalte legen. Altklausuren nutzen, wenn sie angeboten werden - entweder offiziell von der Uni oder inoffiziell aus höheren Semestern. Probeprüfungen nutzen, um ein Gefühl für das Prüfungsformat zu bekommen. In den meisten Fächern sind die Prüfungen ganz anders als noch zu Schulzeiten. ► Prokrastinieren vermeiden | Svea Vor allem wenn ich sehr überfordert war und Angst vor der Komplexität und Menge des Stoffes hatte, habe ich begonnen zu prokrastinieren. Ich habe das Lernen also immer weiter aufgeschoben und lauter andere Dinge gefunden, die ich vorher noch erledigen musste. Doch leider hat dieser Umgang damit nur zu noch mehr Problemen geführt. Ich habe weder etwas für die Prüfung/ Uni geschafft, noch wurde die Angst und Überforderung weniger. Im Gegenteil, sie wurden noch schlimmer, weil Lernzeiten unproduktiv verwendet wurden und mir diese Zeit dann fehlte. Wenn ich mal wieder durch die Menge an Lernstoff überfordert war und deshalb es nicht schaffte, das Lernen anzugehen, hat mir Folgendes geholfen: Ich habe mir erstmal nur einen kleinen Themenbereich vorgenommen oder erstmal nur 30 Minuten Lernzeit eingeplant. Nach und nach habe ich diese Themenbzw. Zeit-Slots vergrößert. Hinweis | Einige Universitäten bieten extra Veranstaltungen an zu Themenbereichen wie wissenschaftlich Lesen oder Schreiben, Lernstrategien und andere wichtige Themen für 16 Lernstrategien und Prüfungsvorbereitung <?page no="112"?> das Studium. Häufig sind solche Kurse kostenfrei. Es lohnt sich also zu prüfen, was die eigene Universität anbieten und ob für einen selbst hilfreiche mit dabei sind. 112 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung <?page no="113"?> 113 17 Prüfungsangst Zu Beginn wurde beschrieben, dass Angststörungen eine häufige Komorbidität von Lernstörungen sind. Ängste, die nicht alle Kriterien für die Diagnose einer Angststörung erfüllen, treten noch öfter auf. Oft betreffen diese Ängste Prüfungssituationen. Macht jemand mehrmals die Erfahrung, dass er eine geforderte Leistung aufgrund seiner Legasthenie oder Dyskalkulie nicht erbringen kann, ist es ganz normal, dass ähnliche Situationen irgendwann Angst, oder zumindest starke negative Gefühle, auslösen. Folgende Tipps können bei Prüfungsangst in der Vorbereitungszeit helfen: Grundbedürfnisse befriedigen ist ein Muss: ausreichend schlafen, essen, Pausen einplanen, bewegen, … Sich seine Zeit möglichst realistisch einplanen. Dabei lassen sich gut Vorlagen von anderen Prüfungsphasen nutzen. Akzeptieren, dass man nicht alles wissen kann: Dies hat zwar nichts mit der eigenen Legasthenie/ Dyskalkulie zu tun, erleichtert einem aber den Umgang mit der Stoffmenge. Austausch mit anderen Kommiliton: innen: Alle haben mehr oder weniger starke Anspannung oder Angst vor Prüfungen. Du bist mit diesen Gefühlen nicht alleine, sie sind völlig normal, auch wenn sie nicht jeder zugeben wird. Vielen hilft es, Lerngruppen bzw. Lernpartnerschaften zu bilden, denn gemeinsam kann man sich gut unterstützen, <?page no="114"?> der Lerngruppe fällt unter Umständen auf, wenn man etwas falsch gelesen hat, mündliche oder praktische Prüfungen kann man simulieren und so sicherer in die eigentliche Prüfung gehen. Tipp | Damit das Lernen in Lerngruppen/ Lernpartnerschaften effizient ist, hilft es, Themen zum Lernen vorher festzulegen und ggf. jemanden zu bestimmen, der in der Lerngruppe beim aktuellen Termin auf die Zeit achtet. Kurz vor der Prüfung und während der Prüfung können wiederum folgende Tipps helfen: Wenn möglich, am Tag vor der Prüfung nichts mehr lernen. Wenn man das nicht schafft, zumindest kein neues Thema beginnen, sondern nur nochmal Dinge wiederholen. Versuchen, am Abend vor der Prüfung rechtzeitig ins Bett zu gehen und eine gute Schlafhygiene zu beachten: Keine koffeinhaltigen Getränke vor dem Schlafengehen, zwei Stunden vorher möglichst keine Bildschirmarbeit und keine Aufregung, insgesamt einen regelmäßigen Schlafrhythmus, ruhige Schlafumgebung, Bewegung tagsüber, geregelter Tagesablauf etc. Ruhe bewahren, Techniken nutzen, um die eigene Anspannung zu senken, z. B. durch Sport, spazieren gehen, ein Bad nehmen, … Für den Prüfungstag: genau vorbereiten (Wann muss ich los? , Was will ich anziehen? , Was muss/ darf ich mitnehmen? ), alles rauslegen oder bereits packen ‒ das mindert den Stress am Prüfungstag. Atemübungen gegen die Angst: Diese sollte man bereits rechtzeitig vorher und nicht erst in der Stressphase regelmäßig einüben und ausprobieren, welche einem am besten helfen. 114 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung <?page no="115"?> In der Prüfung selbst: Versuchen Ruhe zu bewahren und nicht in Panik zu geraten. Auch hier können Atemübungen helfen oder zwischendurch einen Schluck kalte Flüssigkeit trinken. Ruhe durch langsames Atmen Bei Angst und Stress wird unser Körper automatisch aktiviert: Unsere Atemfrequenz steigt, unser Puls wird schneller, unser Blutdruck steigt. Diese körperliche Aktivierung wiederum meldet unserem Gehirn zurück, dass Gefahr besteht und verstärkt Angst und Stress (Homma & Masaoka, 2008). Bei unseren Vorfahren war diese Reaktion wichtig, z. B. wenn ein Säbelzahntiger vor ihnen stand. Auch heute (zum Glück weitaus seltener) ist diese Reaktion immer noch sinnvoll, wenn wir tatsächlich in Gefahr sind. Bei einer Prüfung hilft es uns allerdings nicht, wenn wir vor lauter Angst nicht mehr klar denken können. Denn genau das passiert, wenn unser Gehirn in den Notfallmodus schaltet, in dem bestimmte Bereiche „heruntergefahren“ werden, um möglichst schnell und automatisch auf eine Gefahr zu reagieren. Den starken Zusammenhang zwischen unseren Körperfunktionen und unserem Gehirn können wir aber auch umgekehrt nutzen: Atmen wir bewusst langsam und tief, geht die Stressreaktion zurück. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass langsames, tiefes Atmen Stress und auch Angst reduzieren können - sowohl die wahrgenommenen Emotionen als auch physiologische Parameter (Morgan, Lengacher, & Seo, 2024; Shao, Man, & Lee, 2024; Sheikh et al., 2024; Zaccaro et al., 2018). Kurze Atemübung für Zwischendurch: die 4-7-8-Übung 1. Lege am Anfang eine Hand auf deinen Bauch. Atmest du richtig in den Bauch, spürst du, wie deine Bauchdecke sich beim Atmen bewegt. 2. Konzentriere dich auf deinen Atem. 115 17 Prüfungsangst <?page no="116"?> 3. Atme vier Sekunden lang über die Nase tief in den Bauch ein. 4. Halte die Luft für sieben Sekunden. 5. Atme langsam, für acht Sekunden, über den Mund aus. 6. Wiederhole dieses Atemmuster für mindestens vier Atemzüge. Wenn dir das Luft anhalten schwerfällt, kannst du auch folgende Übung ausprobieren: Paced Breathing 1. Lege am Anfang eine Hand auf deinen Bauch. Atmest du richtig in den Bauch, spürst du, wie deine Bauchdecke sich beim Atmen bewegt. 2. Konzentriere dich auf deinen Atem. 3. Atme vier Sekunden lang über die Nase tief in den Bauch ein. 4. Atme langsam, für sechs Sekunden, über den Mund aus. 5. Wiederhole dieses Atemmuster idealerweise für einige Minuten. Weitere Atemübungen gibt es inzwischen auch auf den Web- Seiten verschiedener Krankenkassen, z. B. bei der AOK, der Barmer oder auch bei der Techniker Krankenkasse zum Download. ► Vor einer Prüfung | Svea Schon Wochen bevor die Prüfungsphase beginnt, kommt meine Angst. Die Angst, nicht gut genug zu sein, zu versagen und nicht genug gelernt zu haben. Diese trieb mich dann an, mehr zu lernen, doch egal, wie viel ich lernte, das Gefühl ging nicht weg, denn anders als in der Schule konnte ich in der Uni niemals den ganzen Stoff auswendig lernen. Das war aber in der Schule immer meine Strategie gewesen. Denn nur mit möglichst vielen Punkten war es schaffbar, dass meine Noten trotz Abzug für meine schlechte Rechtschreibung gut ausfielen. 116 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung <?page no="117"?> 117 Doch dadurch, dass ich in der Uni jede freie Minute lernte, machte ich meine Situation nur schlechter. Ich konnte mich gar nicht so lange konzentrieren und war einfach nur erschöpft und müde. Mit der Zeit machte ich die Erfahrung, dass eine ausgewogene Mischung zwischen Lernen und Erholung wichtig ist. Außerdem merke ich meine Legasthenie besonders in stressigen Prüfungsphasen. Wenn ich erschöpft und weniger konzentriert bin, gelingt es mir deutlich schlechter, in der Lerntherapie erworbene Strategien anzuwenden. In solchen Situationen helfen mir technische Hilfsmittel wie Vorlese- und Diktierprogramme sehr. Außerdem versuche ich, mir Inhalte durch Videos, Podcasts oder Aufnahmen, die ich vorher schon angefertigt habe, zu lernen und zu wiederholen. Um regelmäßige Pausen einzuhalten, stelle ich mir auch während des Lernens den Wecker. Gleichzeitig versuche ich, nicht zu streng mit mir selbst zu sein. An manchen Tagen kann es besser sein, eine längere Pause zu machen oder ganz mit dem Lernen aufzuhören, um sich wieder zu erholen. Dabei hilft auch zu akzeptieren, dass ich aufgrund meiner Legasthenie meist länger brauche, um das gleiche Pensum an Lernstoff zu bewältigen, also z. B. im Alltag bereits früher in der Bibliothek bin oder länger bleibe. Tipp | Sollte es einem im Studium psychisch schlecht gehen, einen die Prüfungsangst am Weiterkommen im Studium hindern oder Leidensdruck auslösen, kann es hilfreich sein, sich an die psychosoziale Beratungsstelle der eigenen Universität zu wenden. Sollte dies nicht ausreichen oder so eine Stelle nicht vorhanden sein, kann man sich auch ärztliche oder psychotherapeutische Unterstützung suchen. 17 Prüfungsangst <?page no="118"?> Literaturtipp | Holger Walther erklärt in seinem Buch „Ohne Prüfungsangst studieren“, wie eine optimale Vorbereitung auf eine Prüfung aussieht und gibt wertvolle Tipps, u. a. Entspannungsübungen. 118 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung <?page no="119"?> 119 18 Stipendium, Studienabschluss und Promotion Stipendium Es gibt viele unterschiedliche Stipendien, die finanzielle und/ oder ideelle Unterstützung bieten, wobei die finanzielle Unterstützung nicht zurückgezahlt werden muss. Die Stipendien werden von unterschiedlichen Verbänden, Hochschulen, Vereinen, Stiftungen und Unternehmen vergeben und dienen dazu, besonders talentierte und engagierte Personen im Studium oder Forschung zu fördern. Dabei wird unterschieden zwischen leistungsabhängiger Förderung und nichtleistungsabhängiger Förderung (Achtung: Diese kann auf den BAföG-Satz angerechnet werden). Die finanzielle Unterstützung kann für Studiengebühren, Lebenshaltungskosten oder auch Studienmaterialien verwendet werden. Die verschiedenen Stipendien haben alle ihre eigenen Auswahlkriterien. Aus diesem Grund lohnt sich die Suche, ob es ein passendes für einen selbst gibt bzw. welches am besten zu einem passt. Dann muss die Bewerbung und ggf. das Auswahlverfahren vorbereitet werden und im Anschluss heißt es: Daumendrücken. Bei der Suche nach einem passenden Stipendium können folgenden Tipps helfen: Auf der Universitätswebseite nachschauen, ob uni-interne Stipendien angeboten werden. Es gibt z. B. beim Stipendium von der Zeppelin Universität den Hinweis, dass Legastheniker: innen und Dyskalkulierer: innen bei der Bewerbung entsprechend berücksichtigt werden. <?page no="120"?> Über Stipendiensuchmaschinen wie z. B. mystipendium. de, stiftungssuche.de, stipendiumplus.de kann man spezielle Stipendien finden. Gleichzeitig ist es sinnvoll, für sich prüfen, welche Stipendien für einen passen könnten. Kommt z. B. ein Stipendium der Begabtenförderungswerke in Frage oder ein Aufstiegs- Stipendium für Berufserfahrene? Oder ein Deutschland- Stipendium, ein parteinahes oder kirchliches? Es gibt sehr viele verschiedene Stipendien, sodass das Nachdenken über sich selbst und die eigenen Merkmale, Tätigkeiten und Besonderheiten hilfreich sein kann. Die benötigten Unterlagen für eine Bewerbung auf ein Stipendium können sehr unterschiedlich sein. Je nachdem, wo man sich bewirbt, werden verschiedene Nachweise verlangt. Manchmal benötigt man z. B. jemanden, der/ die einen für das Stipendium vorschlägt oder es wird ein Empfehlungsschreiben verlangt. Hier es ist dann wichtig, sich rechtzeitig um eine in Frage kommende Person zu kümmern. Und natürlich gilt auch hier: Besser eine andere Person die Bewerbung Korrektur lesen lassen. ► Wann ein Stipendium möglich ist | Svea „Dafür bin ich aber doch nicht gut genug“ war lange mein erster Gedanke, wenn ich darüber nachdachte, ob ich ein Stipendium erhalten könnte. Doch mittlerweile studiere ich bereits im 4. Jahr mit Stipendium. Die erste Bewerbung habe ich noch mit der inneren Einstellung abgeschickt, dass ich es zumindest mal probieren kann, und überhaupt nicht damit gerechnet, dass es funktionieren würde. 120 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung <?page no="121"?> Ausschlaggebend für meine Suche nach einem Stipendium waren finanzielle Schwierigkeiten im Studium, da der BAföG- Satz allein nicht zum Leben/ Studieren reicht. Ich hätte mehr arbeiten gehen können, aber dann hätte ich mein Ehrenamt bei den Jungen Aktiven im BVL aufgeben müssen und das wollte ich ungern machen. Für mich ist das Stipendium eine Anerkennung dafür, was ich trotz meiner Einschränkungen leiste, und auch für mein ehrenamtliches Engagement. Studienabschluss Studieren ist die eine Sache. Eine andere Sache ist es, ein Studium auch tatsächlich abzuschließen. Auch Studierende ohne Lernstörung brechen mitunter ein Studium ab. Gründe dafür gibt es vielfältige, seien es mangelndes Interesse, Überforderung, persönliche Umstände. Schafft man es, ein Studium erfolgreich zu Ende zu führen und einen Studienabschluss zu erwerben, ist dies für alle ein großer Erfolg. Für Studierende mit Lernstörung, für die ein Studium eine zusätzliche Anstrengung bedeutet, stellt der Studienabschluss wahrscheinlich einen noch größeren Erfolg dar und sie können zurecht stolz auf sich sein. ► Bachelorabschluss in Germanistik | Natascha Auch wenn manche Lehrkräfte und andere Personen es nicht für möglich hielten: Man kann mit Legasthenie studieren, sogar Germanistik. Denn, man höre und staune, ich habe 2023 mit Legasthenie einen Bachelor in Germanistik abgeschlossen! 18 Stipendium, Studienabschluss und Promotion 121 <?page no="122"?> Das Schreiben der Arbeit und die Abschlusszeit waren besonders fordernd, aber auch spannend. Ich durfte ausführlich über ein völlig frei gewähltes Thema forschen und schreiben und hatte eine gute Betreuung. Zunächst war ich beruhigt, da ich auch für die Bachelor- Arbeit vier Wochen mehr Zeit bekommen hatte. Allerdings stand noch eine letzte Hausarbeit an, die ich parallel mit meiner Bachelor-Arbeit zu schreiben hatte und nur zwei Monate vorher abgeben sollte. In dieser Phase half es mir sehr, eine gute Betreuung zu meinem Thema und ausführliche Informationen zum Ablauf des Studienabschlusses zu haben. Mein Professor nahm sich viel Zeit, mir bei der Themensuche beizustehen. Außerdem interessierte er sich für meine besondere Situaton: Bei unseren Treffen sah er den Sticker der Selbsthilfegruppe Junge Aktive im BVL mit dem Spruch „JA ich habe Legasthenie“ auf meinem Laptop. Er sprach mich darauf an und fragte mich etwas, das mich fast zu Tränen rührte: „Worauf soll ich beim Korrigieren achten, was Ihre Legasthenie angeht? “ Mir wurde früher oft meine Legasthenie abgesprochen, deshalb hatte ich nichts Zuvorkommendes erwartet. Ich meinte, dass bis auf die spätere Abgabe da nicht viel zu merken sein würde. Vielleicht, dass trotz Korrektur noch ein paar Fehler drin sein würden und etwas mehr Bandwurmsätze. Als ich beim Schreiben war, war ich sehr froh, dass ich mich selbst gut kannte. Ich wusste, dass ich ein tägliches Limit habe, wieviel ich recherchieren und schreiben kann und 122 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung <?page no="123"?> dass dieses Limit auszureizen nur dazu führt, dass ich am nächsten Tag weniger schaffe. Die Zeit zum Schreiben habe ich mir gründlich eingeteilt und mit meinen Korrekturpersonen abgesprochen. So hatte ich für jeden Tag Häppchen, die nur so groß waren wie nötig und möglich. Dennoch war es unfassbar anstrengend, auch wenn es mir sehr viel Spaß gemacht hat. Tipp | Lasst für euch nach der Abgabe der Arbeit eine Feier planen, denn ihr habt wirklich einen großen Meilenstein erreicht! Ich bin sowohl nach dem Abitur als auch nach der Abgabe der Bachelor-Arbeit so erschöpft gewesen, dass es mir kaum möglich war, Freude und Stolz zu empfinden. Das umfassende Erschöpfungsgefühl schluckte alle anderen Gefühle. ► Bachelorabschluss in Logopädie und Master-Arbeit | Carla Im März 2023 schloss ich mein Bachelorstudium Logopädie ab. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich kaum Berührungspunkte mit der Dyskalkulie im Zusammenhang mit dem Studium. Doch jetzt ging es um wissenschaftliche Studien mit jeder Menge Zahlen und Statistik. Ich stellte mich dieser Herausforderung und beschloss: „Ich werde das schaffen! “ Und das tat ich auch. Mit der Hilfe von Freunden und Büchern kämpfte ich mich Schritt für Schritt durch sämtliche Studien. In der Master-Arbeit werde ich nun selbst statistische Daten erheben und auswerten. Noch vor einigen Jahren wäre das undenkbar für mich gewesen. Aber auch das werde ich mit der Hilfe meines Betreuers und meines Umfeldes meistern. 18 Stipendium, Studienabschluss und Promotion 123 <?page no="124"?> Einen Nachteilsausgleich habe ich dafür nicht beantragt. Ich schreibe meine Master-Arbeit wie alle anderen Kommiliton: innen. Promotion Bereits ein Studium mit einer Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung ist eine große Herausforderung. Daher streben nur wenige Menschen mit einer Lernstörung eine Promotion an. Diese ist mit noch mehr selbstständigem wissenschaftlichen Arbeiten, Lesen, Schreiben und auch Rechnen (Statistik) verbunden. Doch auch hier gilt: Es ist keineswegs unmöglich. Auch mit einer Lernstörung kann man forschend tätig sein und eine Karriere in der Wissenschaft anstreben. Wissenschaftliches Schreiben beispielsweise erfordert zwar Übung, es gibt aber sehr klare Regeln, an denen man sich „entlanghangeln“ kann. ► Vorbereitungen zur Promotion | Svea Der Dr. med ist zwar ein Sonderfall der Promotion, dennoch möchte ich hier von meinen Vorbereitungen und Überlegungen zur Promotion erzählen. Mir war schon länger klar, dass ich gerne neben dem Studium promovieren wollte. Bereits vor dem 4. Semester besuchte ich deshalb den Pflichtkurs zur Qualifikation dafür, den wir an unserer Universität absolvieren müssen. Denn Medizinstudierende können bereits nach dem ersten Staatsexamen mit der Promotion beginnen und diese dann parallel zum Studium anfertigen und nach dem Studium dann final einreichen und verteidigen. 124 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung <?page no="125"?> 125 Aufgrund der Covid-19-Panedemie fand der verpflichtende Kurs online statt. Nachdem ich diesen absolviert hatte und auch unsere Promotionsordnung mehrfach gelesen hatte, ging es darum zu überlegen, in welchem Bereich und bei wem ich promovieren möchte. Da im 6. Semester ein Wissenschaftspraktikum ansteht, bietet es sich an, dieses als Grundlage für eine nachfolgende Promotion zu nehmen. Ich hatte unter anderem Interesse an der Psychiatrie und so schrieb ich proaktiv den Professor (der mir aus der Lehre bereits bekannt war) an, ob er Kapazitäten hätte, damit ich das Wissenschaftspraktikum und die nachfolgende Promotion bei ihm als Doktorvater machen könnte. Seine Reaktion war sehr positiv und nachdem er meine Bewerbungsunterlagen gesichtet hatte, lud er mich zum Gespräch ein. Das Gespräch war sehr positiv. Ich hatte angegeben, dass ich ehrenamtlich Sprecherin der Jungen Aktiven im BVL war, und im Gespräch kamen wir deshalb auf meine Legasthenie zu sprechen. Der Professor fragte sehr interessiert nach, welche Strategien und Hilfsmittel ich nutzte bzw. vorhatte auch für die Promotion zu nutzen. Das Wissenschaftspraktikum machte ich dann bei ihm in der Abteilung. Da ich aber leider nicht mit der Betreuerin zurechtkam, entschied ich mich am Ende, nicht dort zu promovieren. Dennoch konnte ich in der Zeit bereits einiges für das wissenschaftliche Arbeiten lernen, Strategien anpassen und neue entwickeln. So fiel mir das Arbeiten mit englischsprachlichen Fachtexten am Anfang sehr schwer. Es half mir, diese mit einem Übersetzungsprogramm, z. B. deepL, zu übersetzen und die Texte dann erstmal auf Deutsch zu lesen. Erst danach kümmerte ich mich um die englische Version. So konnte ich die Inhalte deutlich besser verstehen. Gleichzeitig half mir das zweite Lesen auf Englisch, 18 Stipendium, Studienabschluss und Promotion <?page no="126"?> mein wissenschaftliches Englisch zu verbessern. Außerdem merkte ich schnell, dass mich das wissenschaftliche Arbeiten begeisterte, aber dass es auch deutlich anstrengender war als der Unialltag. Ich war schneller erschöpft und bekam teilweise Kopfschmerzen, weil mich das Lesen und wissenschaftliche Schreiben so anstrengte. Mir halfen dann mehr Pausen und ein deutlich stärkerer Einsatz von technischen Hilfsmitteln wie Vorlese- und Diktierprogramme. Teil II in a nutshell Schon vor dem Studium ist es hilfreich, sich vorzubereiten und relevante Informationen einzuholen, z. B. an den Beratungsstellen der Universitäten. Auch zum Thema Nachteilsausgleich sollte man sich frühzeitig informieren. Meist ist die Behindertenbeauftragte die richtige Beratungsperson. Hier erfährt man die genauen Regelungen der eigenen Universität zum Umgang mit LRS/ Dyskalkulie. Es ist sinnvoll zu überlegen, welche Arten des Nachteilsausgleichs für einen selbst hilfreich und sinnvoll wären. Auch außerhalb von Prüfungssituationen gibt es Unterstützungsmöglichkeiten, die den Studienalltag deutlich erleichtern können. Hierfür muss kein formeller Antrag gestellt, sondern mit den Dozierenden besprochen werden, was möglich ist. Technische Hilfsmittel wie z. B. Rechtschreibkorrektur, Vorlesesoftware, Texterkennung und Diktiersoftware können eine große Erleichterung im Studienalltag mit LRS darstellen. Auch Sprachmodelle wie ChatGPT können, wenn sie richtig eingesetzt werden, bei LRS und Dyskalkulie sinnvoll sein. 126 II Studieren mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung <?page no="127"?> 127 Für Studierende mit Dyskalkulie gibt es insgesamt weniger technische Hilfsmittel. Apps oder automatische Aufgabenlöser, die in intelligenten Kameras oftmals integriert sind, können verwendet werden, um alltägliche Rechensituationen zu erleichtern. Im Studium selbst sind technische Hilfsmittel für Dyskalkulie nur in manchen Studiengängen sinnvoll einsetzbar. Die Formatierung eines Textes hat einen Einfluss darauf, wie gut er von Menschen mit Lesestörung gelesen werden kann. Serifenlose, nicht zu kleine Schriften und ein etwas vergrößerter Wort- und Zeilenabstand können das Lesen erleichtern. Spezielle Dyslexie-Schriften sind nicht sinnvoll. Bei der Prüfungsvorbereitung ist eine gute Selbstorganisation hilfreich: Termine gut im Blick behalten, Prüfungsinhalt und -umfang so konkret wie möglich herausfinden und sich mit Alt- und Probeklausuren vorbereiten. Das Lernen selbst ist effektiver, wenn es multisensorisch erfolgt - ein neuer Inhalt also z. B. sowohl gelesen, gehört als auch ein passendes Bild dazu betrachtet wird. Regelmäßige Pausen sollten dabei nicht vergessen werden. Vielen Studierenden hilft das Lernen in Lerngruppen, um sich gemeinsam Inhalte zu erarbeiten und sich gegenseitig zu motivieren. Auch viele in den Alltag eingebaute Wiederholungen, z. B. in Form von Post-its, können sinnvoll sein. Stellt sich trotz guter Vorbereitung starke Aufregung oder sogar Angst vor der Prüfung ein, können Atemübungen helfen. Sie können Stress und Angst erwiesenermaßen reduzieren. Von verschiedenen Hochschulen, Vereinen, Stiftungen und Unternehmen werden Stipendien vergeben. Sie sollen besonders talentierte und engagierte Personen fördern. Es kann sich lohnen zu prüfen, ob es für einen selbst in Frage kommt, sich für ein Stipendium zu bewerben. Teil II in a nutshell <?page no="129"?> 129 III Einstieg in den Beruf Für viele ist der Einstieg in den ersten richtigen Job eine aufregende Situation und mit vielen Unsicherheiten verbunden. Für Personen mit Legasthenie und/ oder Dyskalkulie kommt dann noch ein zusätzliches Thema hinzu, das vielleicht Unsicherheiten aufwirft. Jede Person muss damit ihren ganz individuellen Umgang finden. Dieser kann sich auch im Laufe der Zeit immer wieder ändern. Deswegen kommen im Nachfolgenden einige hilfreiche Tipps für die unterschiedlichen Schritte - von der Bewerbung bis zur ersten Zeit in der neuen Arbeit. Wichtig zu wissen: Leider gibt es immer noch Stigmatisierung in der Gesellschaft, was Legasthenie und Dyskalkulie betrifft. Diese ist je nach Branche unterschiedlich ausgeprägt. Jede: r kann mit einem offenen Umgang etwas zur Aufklärung beitragen, aber niemand muss diese Rolle übernehmen. Auch kann man vorher nie wissen, wie eine andere Person mit dem Thema umgeht. Es ist deswegen immer eine Abwägungssache, ob und wann man es ansprechen möchte. 19 Bewerbung Auch bei einer Legasthenie und/ oder Dyskalkulie ist eine fehlerfreie Bewerbung notwendig. Daher ist es am besten, die Bewerbung von mehreren Personen Korrektur lesen zu lassen. Sollte es keine geeigneten Personen in deinem Umfeld geben, kannst du dich auch an Stellen werden, die dich bei deiner Bewerbung unterstützen, zum Beispiel das Berufsinformationszentrum (BiZ) der Bundesagentur für Arbeit. <?page no="130"?> Tipp | Du darfst entscheiden, ob du deine Legasthenie und Dyskalkulie bei der Bewerbung angibst oder nicht. Auch der Zeitpunkt und in welcher Form bleiben dir überlassen. Du bist also nicht dazu verpflichtet diese überhaupt anzugeben. Du hast die freie Wahl und kannst es auch verschweigen. Für die unterschiedlichen Vorgehensweisen gibt es Vor- und Nachteile, sodass es am besten ist, wenn jede Person individuell entscheidet, wie sie vorgehen möchte. Wenn deine Bewerbung Eindruck hinterlassen hat, wirst du, je nach Branche, zu einem Vorstellungsgespräch oder auch zu einem Einstellungstest eingeladen. Da die Vorgehensweise hier je nach Unternehmen unterschiedlich ist, können hier keine genauen Vorgehensweisen empfohlen werden. Es ist auf jeden Fall sinnvoll, vor dem Termin möglichst genau herauszufinden, was von einem erwartet wird. Dann kannst du auch besser abschätzen, ob es besser ist, vorher oder erst beim oder nach dem Termin anzugeben, dass du Legasthenie und/ oder Dyskalkulie hast. So vermeidest du auch aufgrund von Fehlern, die im Einstellungstest passieren, auszuscheiden. Tipp | Wenn du das Thema Legasthenie/ Dyskalkulie im Vorstellungsgespräch ansprechen möchtest, dann lege dir am besten vorher mögliche Formulierungen zurecht, damit du dabei nicht ins Straucheln gerätst. Auch Antworten auf mögliche weitere Fragen kannst du dir überlegen, z. B. Fragen nach den eigenen Strategien oder nach benötigter Ausstattung. 130 III Einstieg in den Beruf <?page no="131"?> 131 20 Umgang mit Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung im ersten Job Hat es mit einer Bewerbung geklappt und ist man im ersten Job, so stellen sich auch hier weitere Fragen. Zuallererst die nach dem Umgang mit der Thematik. Wie offen möchte man im Job, mit Kolleg: innen und anderen Personen damit umgehen? Und wenn man davon erzählen möchte, wann und wie möchte man es ansprechen? Es ist auf jeden Fall gut, sich darüber im Vorfeld schon Gedanken zu machen, damit es später nicht zu unangenehmen Situationen kommt. Besonders wenn man sich entschieden hat, nichts von der Legasthenie/ Dyskalkulie zu erzählen, ist es sinnvoll, sich zu überlegen, wie man reagiert, wenn man auf Fehler, Schwierigkeiten, Auffälligkeiten angesprochen wird. Natürlich besteht auch noch die Möglichkeit, im Laufe der Zeit das Team oder einzelne Kolleg: innen, denen man vertraut, davon erzählen. ► Legasthenie im Job ansprechen | Svea Bei meinen letzten Bewerbungen habe ich mein Engagement bei den Jungen Aktiven im BVL als Ehrenamt mit angegeben, sodass ein Hinweis auf meine Legasthenie in der Bewerbung gegeben war. Auch findet man mittlerweile Interviews mit mir, in denen ich offen über meine Legasthenie spreche. Je nachdem, mit wem ich das Bewerbungsgespräch geführt habe, habe ich es im Gespräch dann noch selbst angesprochen. Ich habe es davon abhängig gemacht, ob nur Personen <?page no="132"?> aus der Personalabteilung anwesend waren oder ob ich das Gespräch mit direkten Vorgesetzten geführt habe. Bei direkten Vorgesetzten habe ich es angesprochen, sonst nicht. Bei den ersten Gesprächen war ich sehr aufgeregt. Eine Stelle hat super gepasst und alles war perfekt, aber ich war sehr unsicher, wie meine Vorgesetzte reagieren würde. Doch entgegen meinen Befürchtungen ging sie damit sehr gelassen um, und auch später vom Team wurde es super aufgenommen. Wer sich für das Ansprechen im Bewerbungsgespräch entscheidet, dem empfehle ich, es eher gegen Mitte/ Ende des Gespräches zu tun. Folgende Sätze können dafür hilfreich sein: „Vielleicht ist Ihnen / fällt Ihnen beim Assessmenttest eine schlechtere Rechtschreibung bei mir auf. Das hängt mit meiner Legasthenie zusammen. Vor allem, wenn ich unter Zeitdruck schreibe, kann ich Strategien aus der Lerntherapie nicht wie sonst im Alltag einsetzen.“ „In den Bewerbungsunterlagen habe ich bereits angegeben, dass ich mich als Mitglied der Jungen Aktiven im BVL engagiere. Das mache ich, weil ich selbst eine Legasthenie habe. Zu der ausgeschriebenen Stelle habe ich ein paar Fragen, um zu eruieren, wie ich Hilfsmittel / Strategien am besten nutzen kann.“ Außerdem bietet sich an, sich vor dem Gespräch Gedanken zu machen, wie sich das Thema am besten ansprechen lässt, was Schwierigkeiten bereiten könnte und welche positiven Eigenschaften man durch die Legasthenie entwickelt hat, die wichtig und hilfreich für die Stelle sind. 132 III Einstieg in den Beruf <?page no="133"?> Teil III in a nutshell Auch bei Menschen mit Lese-, Rechtschreib- oder auch Rechenstörung sollte eine Bewerbung fehlerfrei sein. Man kann selbst entscheiden, ob man in der Bewerbung seine Lernstörung angibt oder nicht. Genauso liegt die Entscheidung, wie offen man im Job damit umgeht, bei einem selbst. Ein offener Umgang kann, vor allem wenn man sich im Job wohl fühlt, angenehm sein und dabei helfen, unangenehme Situationen zu vermeiden. Teil III in a nutshell 133 <?page no="134"?> 134 Das Wichtigste zum Schluss Was ich gerne früher gewusst hätte Svea | Dass der Nachteilsausgleich nicht nach der 10. Klasse endet, sondern dieser auch für das Abitur und danach sowohl in der Ausbildung als auch im Studium gestellt werden kann - und dass man einen Anspruch darauf hat. Dass ich mit meinen Problemen durch die Legasthenie im Erwachsenenalter nicht alleine bin und es anderen sehr ähnlich geht. Anton | An der Universität bietet der Nachteilsausgleich viel mehr Flexibilität als in der Schule. Neben zusätzlicher Zeit, insbesondere für Hausarbeiten - was oft mehrere Wochen bedeuten kann - sind auch technische Hilfsmittel in Prüfungen häufig möglich. Zudem können alternative Prüfungsformen (wie mündliche statt schriftliche Prüfungen) in Absprache mit den Dozierenden vereinbart werden. Carla | Dass ich nicht allein bin. Erst mit Anfang 20 habe ich andere Betroffene kennengelernt. Und dass ich irgendwann über manche Schwierigkeiten lachen kann. Natascha | Ich hätte gerne meine Legasthenie-Diagnose früher gehabt, um mich früher aus dem Zweifel zu befreien, ob ich mir diese Einschränkung nur einbilde. Was mir am meisten geholfen hat Svea | Mir hat geholfen, mich nicht begrenzen zu lassen in meiner Studiums- und Berufswahl, nur weil mir gesagt wurde, dass ich es mit meiner Legasthenie nicht schaffen kann. Stattdessen habe ich weiter meinen Traum verfolgt und, wenn nötig, um Hilfe und Unterstützung gefragt. Das <?page no="135"?> 135 Selbstbewusstsein und Wissen dafür habe ich vor allen durch die Jungen Aktiven im BVL bekommen. Also: Offen mit dem Thema umgehen und für meine Rechte einstehen! Anton | Selbstbewusst zu sein und offen zu sagen: „Ja, ich habe Legasthenie“. Das hat mir geholfen, um mich gegenüber Prüfungsausschüssen und Dozierenden durchzusetzen und Unterstützer zu finden. Carla | Am meisten hat mir meine Familie und mein enger Freundeskreis geholfen, indem sie mich immer unterstützt und an mich geglaubt haben. Außerdem auch der Austausch mit anderen Betroffenen: festzustellen, dass man viele Alltagsschwierigkeiten teilt und gemeinsam an Lösungen arbeiten kann. Natascha | Mir hat der Austausch mit anderen Betroffenen am meisten geholfen. Ich habe mich gesehen und verstanden gefühlt. Dadurch wusste ich, welche Möglichkeiten ich habe, welche Wege es gibt und dass ich in Ordnung bin, so wie ich bin. Das Wichtigste zum Schluss <?page no="136"?> 136 Weiterführende Links Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. | https: / / www.bvl-legasthenie.de/ BVL-Ratgeber Legasthenie und Dyskalkulie im Erwachsenenalter | https: / / www.bvl-legasthenie.de/ shop-bvl/ shop-ratgeber/ produkt/ bvl-ratgeber-7-legasthenie-dyskalkulie-erwachsenenalter.html Deutsches Studierendenwerk | https: / / www.studierendenwerke.de/ themen/ studieren-mit-behinderung British Dyslexia Association | https: / / www.bdadyslexia.org.uk <?page no="137"?> 137 Literaturverzeichnis Alle Links waren am 16.6.2025 aktiv. Andrä, C., Mathias, B., Schwager, A., Macedonia, M., & von Kriegstein, K. (2020). Learning foreign language vocabulary with gestures and pictures enhances vocabulary memory for several months post-learning in eight-year-old school children. Educational Psychology Review, 32 (3), 815-850. Aro, M., & Wimmer, H. (2003). Learning to read: English in comparison to six more regular orthographies. Applied psycholinguistics, 24 (4), 621-635. Aro, T., Eklund, K., Eloranta, A.-K., Ahonen, T., & Rescorla, L. (2022). 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Sie erklären zunächst Symptome, Ursachen und Diagnostik einer Lese-/ Rechtschreib- und Rechenstörung. Im Anschluss widmen sie sich ausführlich den typischen Herausforderungen betroffener Studierender, wie der Beantragung eines Nachteilsausgleichs und der Kommunikation mit Dozierenden. Auf die zahlreichen technischen Unterstützungsmöglichkeiten gehen sie ein und erklären deren Handhabung. Auch Themen wie Prüfungsangst und Lernstrategien werden angesprochen. Ein Kapitel über den Berufseinstieg rundet den Band ab. Ein aufschlussreicher Ratgeber für Studierende aller Fachrichtungen sowie für Studienberatungen und betroffene Abiturient: innen. Schlüsselkompetenzen ISBN 978-3-8252-6405-5 Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem T itel Studieren mit Legasthenie und Dyskalkulie Volkmer Susanne Volkmer Studieren mit Legasthenie und Dyskalkulie 6405-5_Volkmer_L_6405_PRINT.indd Alle Seiten 6405-5_Volkmer_L_6405_PRINT.indd Alle Seiten 15.09.25 12: 42 15.09.25 12: 42
