Einführung in die Theologie Martin Luthers
0317
2025
978-3-8385-6407-4
978-3-8252-6407-9
UTB
Christian Danz
10.36198/9783838564074
Das Buch bietet eine fundierte Einführung in die Theologie Martin Luthers in einer problemgeschichtlichen und systematischen Perspektive. Behandelt werden methodische Probleme der Lutherdeutung wie auch der gegenwärtige Forschungsstand sowie die Herausbildung der reformatorischen Theologie Luthers. Mit Luthers Gottesanschauung, seinem Christusbild, der aus seinem reformatorischen Grundgedanken erwachsenen Anthropologie, dem Kirchenverständnis und der Eschatologie werden grundlegende Themen seiner Theologie mit Blick auf ihren werk- und problemgeschichtlichen Kontext erörtert.
Ein Literaturverzeichnis führt in die wichtigsten Quellen, Hilfsmittel sowie die Sekundärliteratur zur Theologie Martin Luthers ein. Personen- und Sachwortregister erschließen das Buch.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-8252-6407-9 Christian Danz Einführung in die Theologie Martin Luthers 2. Auflage Das Buch bietet eine fundierte Einführung in die Theologie Martin Luthers in einer problemgeschichtlichen und systematischen Perspektive. Behandelt werden methodische Probleme der Lutherdeutung wie auch der gegenwärtige Forschungsstand sowie die Herausbildung der reformatorischen Theologie Luthers. Mit Luthers Gottesanschauung, seinem Christusbild, der aus seinem reformatorischen Grundgedanken erwachsenen Anthropologie, dem Kirchenverständnis und der Eschatologie werden grundlegende Themen seiner Theologie mit Blick auf ihren werk- und problemgeschichtlichen Kontext erörtert. Ein Literaturverzeichnis führt in die wichtigsten Quellen, Hilfsmittel sowie die Sekundärliteratur zur Theologie Martin Luthers ein. Personen- und Sachwortregister erschließen das Buch. Theologie | Religionswissenschaft Einführung in die Theologie Martin Luthers Danz Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 2. A. 2025-02-21_6407-9_Danz_M_6407_PRINT.indd Alle Seiten 2025-02-21_6407-9_Danz_M_6407_PRINT.indd Alle Seiten 21.02.25 11: 21 21.02.25 11: 21 <?page no="1"?> utb 6407 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Psychosozial-Verlag · Gießen Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> - - - - Prof. Dr. Christian Danz lehrt Systematische Theologie A.B. an der Evangelisch-Theologi‐ schen Fakultät der Universität Wien. <?page no="3"?> Christian Danz Einführung in die Theologie Martin Luthers 2., durchgesehene Auflage Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> 2., durchgesehene Auflage 2025 1. Auflage 2013 (WBG) DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838564074 © 2025 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG ‒ Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Heraus‐ geber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung Druck: Elanders Waiblingen GmbH utb-Nr. 6407 ISBN 978-3-8252-6407-9 (Print) ISBN 978-3-8385-6407-4 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6407-9 (ePub) Umschlagabbildung: Cranach / Altar Wittenberg, Stadtkirche © akg-images Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> Martin Seils (1927-2024) in memoriam <?page no="7"?> 11 13 1 15 1.1 15 1.2 19 1.3 27 1.3.1 27 1.3.2 30 2 33 2.1 33 2.2 42 2.3 50 2.3.1 52 2.3.2 63 2.3.3 77 2.4 83 2.5 86 3 95 3.1 98 3.2 106 3.3 116 Inhalt Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Probleme der Lutherdeutung . . . . . . . . . . . . . Zum Stand der Lutherforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum Lutherstudium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfsmittel und Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studium und Eintritt ins Kloster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Streit um die Datierung des reformatorischen Durchbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kritik an der überlieferten Schriftlehre . . . . . . . . . . . . . Die Kritik an der Bußlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Iustitia Dei beim frühen Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Bruch mit der Papstkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entfaltung der reformatorischen Theologie . . . . . . . . . Luthers Gottesanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gotteserkenntnis und Glaubensgerechtigkeit . . . . . . . . . . . Theologia crucis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die verborgene Verborgenheit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 4 125 4.1 129 4.2 134 5 143 5.1 144 5.2 152 5.3 157 5.4 164 6 173 6.1 176 6.2 181 6.3 188 6.3.1 194 6.3.2 195 6.4 201 7 209 7.1 210 7.2 215 219 219 219 220 220 221 225 229 231 233 235 237 Das Christusbild Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jesus Christus, mein Herr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Communicatio idiomatum - Die neue Sprache des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk . . . Gesetz und Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rechtfertigung als Definition des Menschen . . . . . . . . Libertas christiana und servum arbitrium . . . . . . . . . . . . . . Die guten Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kirchenverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sichtbare und unsichtbare Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirche als Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sakramente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abendmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geistliches und weltliches Regiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tod und jüngstes Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ende aller Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Biographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Gesamtdarstellungen der Theologie Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Einleitung / Forschungsüberblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Luthers Gottesanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Das Christusbild Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk . 10 Das Kirchenverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Die Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 238 241 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="11"?> Vorwort zur zweiten Auflage Da die Einführung in die Theologie Martin Luthers seit längerem vergriffen ist, wurde eine neue Auflage nötig. In dieser habe ich ihre Gliederung sowie Intention beibehalten. Es geht um eine elementare Einführung in zentrale theologische Themen des Reformators vor dem Hintergrund der werkgeschichtlichen Entwicklung seiner Theologie. Auf eine systematische Zusammenschau der einzelnen Elemente seiner Theologie wurde verzichtet, auch wenn mit dem sich aus seinem neuen Bußverständnis entwickelnden Glaubensbegriff sowie der theologia crucis Motive benannt werden, die sich durch Luthers Erörterung diverser theologischer Problemstellungen ziehen. Überarbeitet habe ich den gesamten Text dieser Einführung, manchen Gedankengang präzisiert sowie Ergänzungen vorgenommen und neuere Forschungsliteratur eingearbeitet, die seit der Erstauflage erschienen ist. Natürlich konnte nicht die gesamte, kaum noch zu überschauende Luther‐ literatur berücksichtigt werden. Meine erste Beschäftigung mit dem Reformator verdanke ich der Vorle‐ sung ‚Die Theologie Martin Luthers‘, die Martin Seils im Wintersemester 1989/ 90 an der Theologischen Fakultät der Universität Jena gehalten hat, sowie der von ihm angebotenen Luther-Arbeitsgemeinschaft. Während der Niederschrift dieser Einführung stand mir seine Lutherdeutung vor Augen. Martin Seils starb am 18. Juli 2024. Ihm sei die neue Auflage gewidmet. Ohne Unterstützung wäre auch dieser Band nicht zustande gekommen. MA Andreas Burri, Ing. Mag. Michael Horvath sowie Dr. Thomas Scheiwiller danke ich für Hilfen bei der Anfertigung des Manuskripts und Herrn Noah Charim (alle Wien) für die Erstellung der Register. Zu danken habe ich ebenfalls meiner Frau Uta-Marina Danz für alle ihre Hilfe sowie manchen Vorschlag zur Vereinfachung von komplexen Gedankenkonstruktionen. Herrn Stefan Selbmann vom Verlag Narr Francke Attempto Tübingen danke ich für die Aufnahme des Buches in das Verlagsprogramm sowie die bewährt sehr gute Zusammenarbeit bei seiner Herstellung. Wien, im Oktober 2024 Christian Danz <?page no="13"?> Vorwort zur ersten Auflage Die Theologie Martin Luthers stellt zweifellos für den Protestantismus einen fundamentalen Bezugspunkt dar. Deren Bedeutung erstreckt sich indes nicht allein auf die protestantische Frömmigkeit, sondern die Reformation ist eines derjenigen geschichtlichen Ereignisse mit weitreichenden kulturel‐ len Folgen. Der Band Einführung in die Theologie Martin Luthers erkundet grundlegende Themen und Fragestellungen des Reformators sowohl vor dem Hintergrund der werkgeschichtlichen Entwicklung seiner Theologie als auch in einer systematischen Perspektive. Ausgehend von Luthers neuem Verständnis des christlichen Glaubens werden die Herausbildung und Ausgestaltung seines theologischen Denkens dargestellt und zentrale Themenstellungen wie seine Gottesanschauung, sein Christusbild oder sein Verständnis des Menschen beleuchtet. Danken möchte ich an erster Stelle meiner Frau Uta-Marina Danz. Ohne ihre vielfältige Unterstützung und Hilfe wäre der vorliegende Band nicht zustande gekommen. Mein Dank gilt Herrn stud. theol. Alexander Schubach (Wien) für seine Korrekturarbeiten und die Erstellung der Register sowie der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für die Aufnahme dieses Bandes in ihr Verlagsprogramm und die äußerst konstruktive Zusammenarbeit. Wien, im Februar 2013 Christian Danz <?page no="15"?> 1 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, hrsg. v. E. Molden‐ hauer/ K.M. Michel, Frankfurt a.-M. 9 2019, 49. 2 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, 49-58. Vgl. J. Dierken, ‚Protestantisches Prinzip‘. Religionsphilosophische Implikationen einer geschichtsphi‐ losophischen Denkfigur Hegels, in: ders., Selbstbewußtsein individueller Freiheit. Religionstheoretische Erkundungen in protestantischer Perspektive, Tübingen 2005, 259-280. 3 Vgl. T. Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt a. M./ Leipzig 2009, 11-32; R. Barth, Systematische Lutherdeutung in der liberalen Theologie, in: ZNThG 16 (2009), 58-74. Hegels Re‐ formations‐ deutung Ernst Troeltsch 1 Einleitung 1.1 Methodische Probleme der Lutherdeutung In seinen zwischen 1822 und 1831 mehrfach gehaltenen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie identifizierte Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) in der Reformation Martin Luthers die „Hauptrevolution“, in der „aus der unendlichen Entzweiung […] der Geist zum Bewußtsein der Versöhnung seiner selbst kam“. 1 Die Reformation kommt hier als dasjenige weltgeschichtliche Ereignis in den Blick, mit dem das Zeitalter der Subjek‐ tivität und der Freiheit des Individuums anhebt. 2 Auch die Gestalt Luthers trägt für Hegel durch und durch die Züge der Neuzeit, welche das dunkle Mittelalter weit hinter sich lasse. Eine solche Deutung des Reformators, der er selbst Vorschub geleistet hat, findet sich freilich nicht nur bei Hegel, sie ist geradezu signifikant für den Protestantismus des 19. Jahrhunderts. 3 Den Beginn der Moderne machten protestantische Intellektuelle an der Refor‐ mation fest, so dass sie ihre eigene Gegenwart in unmittelbarer Kontinuität mit der Reformation sehen konnten. Differenzierter fällt das Urteil von Ernst Troeltsch (1865-1923) zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus. In seiner großen Studie über Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit von 1906 unterscheidet er zwischen dem Alt- und dem Neuprotestantismus und ordnet sowohl Luther als auch den Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts dem Mittelalter zu. Erst mit der Aufklärung beginne die Neuzeit und sei, entgegen allem Pathos, mit dem protestantische Theoretiker die Moderne als unmittelbare Folge der Reformation herausstellen, jedenfalls was die Reformation betrifft, eine Wirkung wider Willen gewesen. Die Stiefkinder der Reformation, die Täufer und Spiritualisten, von den Reformationskirchen in die neue Welt <?page no="16"?> 4 Vgl. E. Troeltsch, Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906-1913) (= Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8), hrsg. v. T. Rendtorff in Zusammenarbeit mit S. Pautler, Berlin/ New York 2002, 268. 5 Vgl. E. Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/ 1909/ 1922) (= Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7), hrsg. v. V. Drehsen in Zusammen‐ arbeit mit C. Albrecht, Berlin/ New York 2004, 193. 6 Vgl. K. Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 1921. 6 1932, 468-543; Kaufmann, Geschichte der Reformation. vertrieben und von dort rückwirkend auf die alte Welt, haben die Aufklärung hervorgebracht und mit ihr eine völlig neue Form des Protestantismus und seiner Theologie. 4 Der Neuprotestantismus stehe Spiritualisten wie Sebas‐ tian Franck (1499-1542/ 43) näher als Luther, welcher für Troeltsch noch völlig in die mittelalterliche Einheitskultur gehört. 5 Die Deutung und geistesgeschichtliche Einordnung Luthers ist, wie die genannten Beispiele zeigen, äußerst kontrovers und vor allem vorausset‐ zungsreich. Das betrifft zum Beispiel schon die umstrittene Frage nach dem sogenannten reformatorischen Durchbruch Luthers, also dem Zeitpunkt, an dem er zu seiner neuen Deutung des Christentums durchgedrungen ist. War er bereits 1514 evangelisch, wie die sogenannten Frühdatierer behaupten, oder ist seine grundlegende Entdeckung erst 1518 anzusetzen, so dass er noch römisch-katholisch war, als er am 31. Oktober 1517 die 95 Thesen an die Tür der Schlosskapelle in Wittenberg hämmerte? Sowohl für die Frühals auch für die Spätdatierung der reformatorischen Entdeckung gibt es gute Argumente. Ihre Plausibilität und Überzeugungskraft hängt indes davon ab, was man genauer unter ‚reformatorisch‘ versteht. Je nach dem Vorverständnis fällt dann auch die Datierung des reformatorischen Durchbruchs aus. Schon hier wird ein methodisches Problem der Deutung der Theologie Luthers deutlich, welches keineswegs nur die Frage nach dem Zeitpunkt der reformatorischen Wende betrifft. Es tangiert ebenso die geistesgeschichtliche Einordnung der Reformation im Ganzen als auch den Werdegang des Wittenberger Theologen sowie die Interpretation seiner Theologie insgesamt. 6 Luther selbst hat seine Theologie nicht in Form eines theologischen Kompendiums oder gar einer Dogmatik vorgelegt. Seine Schriften sind fast ausschließlich Gelegenheitsschriften und verdanken sich jeweils konkreten Anlässen. In den zahllosen Debatten, in denen er zur Feder greift, verschiebt und verändert sich naturgemäß auch seine eigene Position. Schon die frühen Vorlesungen repräsentieren eine äußerst komplexe Entwicklung, 16 1 Einleitung <?page no="17"?> 7 Vgl. B. Lohse, Zur Struktur von Luthers Theologie. Kriterien einer Darstellung der Theologie Luthers, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 237-249. 8 Vgl. T. Harnack, Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlösungslehre, 2 Bde., Erlangen 1862/ 1886. 9 Vgl. E. Seeberg, Luthers Theologie. Motive und Ideen, Bd. I: Die Gottesanschauung, Göttingen 1929; Bd. II: Christus. Wirklichkeit und Urbild, Stuttgart 1939. 10 Vgl. F. Gogarten, Luthers Theologie, Tübingen 1967. 11 Vgl. P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 2 1963. systema‐ tisch-theo‐ logische Darstellun‐ gen die anschaulich macht, wie der junge Wittenberger Professor um eine eigene Position ringt. In den innerreformatorischen Streitigkeiten der 1520er und 1530er Jahre unterliegt seine Haltung gegenüber bestimmten Themen einem Wandel. Hiermit ist das methodische Folgeproblem verbunden, wie die Theologie Luthers am sinnvollsten dargestellt werden kann. Zwei Möglichkeiten werden in der Lutherforschung hauptsächlich in den Blick genommen: eine systematisch-theologische und eine historisch-genetische Darstellung der Theologie Luthers. 7 Nimmt man Gesamtdarstellungen des Werks des Reformators zur Hand, dann stellt man fest, dass systematisch-theologische Rekonstruktionen überwiegen. Bereits die erste große Deutung von Luthers Theologie aus dem 19. Jahrhundert von Theodosius Harnack (1816-1889) mit dem Titel Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlö‐ sungslehre, die 1862-1886 erschien, ist systematisch-theologisch aufgebaut. 8 Sie war ungemein folgenreich. Die Theologie Luthers wird von Harnack in Form einer Dogmatik dargestellt: die verstreuten und in unterschiedlichen Debattenkontexten stehenden Äußerungen des Wittenberger Theologen werden den entsprechenden Locis der Dogmatik zugeordnet. Im 20. Jahr‐ hundert wurde dieses Verfahren von Erich Seeberg (1888-1945), 9 Friedrich Gogarten (1887-1967) 10 und Paul Althaus (1888-1966) angewandt. 11 Althaus beispielsweise setzt in seiner Theologie Martin Luthers mit dem Problem der Gotteserkenntnis ein, also mit einem klassischen Thema der Prolegomena der Dogmatik, und geht dann zu der materialen Dogmatik über, indem er von der Gotteslehre über Anthropologie, Christologie, Ekklesiologie bis hin zur Eschatologie Luthers Aussagen einordnet und systematisiert. Bei einem systematischen Darstellungsverfahren von Luthers Theologie wird allerdings nicht nur eine gegenwärtige Anordnung des dogmatischen Stoffs auf ihn übergestülpt, sondern auch die werkgeschichtliche Entwicklung von dessen Denken ausgeblendet. Emanuel Hirsch (1888-1972) bemerkt in 1.1 Methodische Probleme der Lutherdeutung 17 <?page no="18"?> 12 Vgl. E. Seeberg, Luthers Theologie in ihren Grundzügen, Stuttgart 1940. 13 E. Hirsch, Zu Luthers Theologie (Rezension von: E. Seeberg, Grundzüge der Theologie Luthers), in: ders., Lutherstudien, Bd.-3, Waltrop 1999, 218-224, hier 218. 14 Vgl. E. Hirsch, Lutherstudien, hrsg. v. H.M. Müller, Bd.-2, Waltrop 1998; Bd.-3, Waltrop 1999; ders., Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, in: ders., Lutherstudien, Bd. 1, Waltrop 1998; ders., Luthers Gottesanschauung, Göttingen 1918. 15 Vgl. Holl, Luther. 16 Vgl. M. Brecht, Martin Luther, 3 Bde., Stuttgart 1981-1987. histo‐ risch-gene‐ tische Dar‐ stellungen einer Besprechung von Erich Seebergs 1940 erschienener Schrift Grundzüge der Theologie Luthers nicht zu Unrecht, 12 „eine Darstellung von Luthers Theologie als ein gegliedertes Ganzes“ sei eine Aufgabe, die bisher - Seeberg nicht ausgenommen - „noch keinem geglückt ist“. 13 Im Gegensatz zur systematisch-theologischen Darstellung der Theologie des Reformators ist die historisch-genetische werkgeschichtlich orientiert. Die Entwicklung des Denkens von Luther wird in den Fokus der Aufmerk‐ samkeit gerückt und auf eine systematische Zusammenschau verzichtet. Einem solchen werkgeschichtlichen Verfahren sind die Lutherstudien Karl Holls (1866-1926) und Emanuel Hirschs 14 verpflichtet. Holl führt in seinem Buch Luther von 1921 Einzelaspekte von Luthers Theologie in einer an den Quellen ausgewiesenen genetischen Perspektive vor. 15 Martin Brecht (1932- 2021) hat es in seiner großen dreibändigen Lutherbiographie unternommen, die Entwicklung des Reformators von den Anfängen bis zur Entfaltung des reformatorischen Programms in einem breiten geistesgeschichtlichen und politisch-gesellschaftlichen Rahmen nachzuzeichnen. 16 Man muss allerdings sagen, auch eine werkgeschichtliche und biographische Darstellung des Œuvres des Reformators kommt nicht ohne steuernde Kategorien aus. Die Einheit eines Werks oder einer Biographie, das zeigen zum Beispiel die Ausführungen von Brecht, liegt nicht einfach vor, sondern sie ist in einem hohen Maße eine Konstruktion, deren Einheitsprinzipien alles andere als selbstverständlich sind. Man braucht nur eine ältere römisch-katholische Lutherbiographie neben die von Brecht zu legen, um zu sehen, wie eigene Interessen sowie Überzeugungen die Anordnung und Interpretation des historischen Stoffs prägen. An den oben bereits erwähnten höchst unter‐ schiedlichen Einordnungen der Reformation durch Hegel und Troeltsch wurde das in Frage stehende Problem bereits sichtbar. Weder eine Darstellung der Theologie Luthers noch die von anderen historischen Begebenheiten und Ereignissen kann gegenwartsbezogene Interessen ausschalten. Der Versuch, das vergangene Geschehen so nach‐ 18 1 Einleitung <?page no="19"?> 17 Vgl. C. Danz/ R. Leonhardt (Hrsg.), Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, Berlin/ New York 2008; N. Slenczka/ W. Sparn (Hrsg.), Luthers Erben. Studien zur Rezeptionsgeschichte der reformatorischen Theologie Luthers, Tübingen 2005. 18 Vgl. B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995; ders., Zur Struktur von Luthers Theologie, 237-249. zuzeichnen, wie es wirklich gewesen ist, stellt eine Abstraktion dar, die verkennt, dass man sich geschichtlichen Gestalten nur aus der jeweils eige‐ nen Gegenwart zuwenden kann. Lutherdarstellungen sind gegenwärtige Konstruktionen, die an dessen Texten und an der geistes- und religionsge‐ schichtlichen Entwicklung überprüft werden müssen und selbst schon in der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Reformators stehen. 17 Um den methodischen Schwierigkeiten einer angemessenen Rekonstruk‐ tion der Theologie Luthers Rechnung zu tragen, hatte Bernhard Lohse (1928-1997) den Versuch unternommen, die werkgeschichtliche Entwick‐ lung des Denkens des Reformators mit einer systematischen Zusammen‐ schau der Hauptpunkte von dessen Theologie zu verzahnen. 18 Im ersten Teil seiner Studie geht er der Entwicklung des Wittenberger Theologen im Horizont wichtiger zeitgenössischer theologischer Traditionen, grund‐ legender Stationen seines Werdegangs sowie den Kontroversen nach, die für die Herausbildung seines theologischen Denkens relevant waren. Der systematischen Zusammenschau von Luthers Theologie ist der zweite Teil gewidmet. Er ist an dem Aufbau einer theologischen Dogmatik orientiert. Die vorliegende Einführung in die Theologie des Reformators stellt zu‐ nächst Grundzüge seines Denkens in einer werkgeschichtlichen Perspektive dar und entfaltet sodann vor diesem Hintergrund dessen zentrale Themen‐ felder. Auf eine systematische Zusammenschau von Luthers Theologie wird verzichtet, auch wenn mit dem Bußgedanken sowie der theologia crucis (Kreuzestheologie) Motive benannt werden, denen eine Schlüsselfunktion für sein theologisches Denken zukommen. 1.2 Zum Stand der Lutherforschung Interpretationen der Theologie des Reformators sowie seines Werdegangs sind immer auch ein Ausdruck der jeweiligen Zeit, in der sie geschrieben wurden. Insofern spiegeln sie ausnahmslos zeitgenössische theologische 1.2 Zum Stand der Lutherforschung 19 <?page no="20"?> 19 Vgl. O. Wolff, Die Haupttypen der neueren Lutherdeutung, Stuttgart 1938, 1-3; H. Boehmer, Luther im Lichte der neueren Forschung, Leipzig 3 1914; H. Stephan, Luther in den Wandlungen seiner Kirche. Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus, Bd.-1, Berlin 1907. 20 Vgl. J. Bauer, Luther und seine klassischen Erben. Theologische Aufsätze und For‐ schungen, Tübingen 1993; K.-H. zur Mühlen, Wirkung und Rezeption. I. Im Zeitalter der lutherischen Bekenntnisbildung und Orthodoxie, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 462-472. 21 Vgl. G. Raatz, Auf dem Weg zur kritischen Identität des Protestantismus. Johann Salomo Semlers Lutherdeutung, in: C. Danz/ R. Leonhardt (Hrsg.), Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, Berlin/ New York 2008, 5-39. 22 G.E. Lessing, Eine Parabel, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 3: Geschichte der Kunst, Theologie, Philosophie, hrsg. v. H.G. Göpfert, München 1983, 442-443, hier 442. 23 Vgl. J.C.K v. Hofmann, Schutzschriften für eine neue Weise, alte Wahrheiten zu lehren, 4. Bde., Nördlingen 1856-1859; vgl. hierzu J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd.-1: Die Voraussetzungen und das 19.-Jahrhundert, Tübingen 1997, 685-692. Anfänge der Luther‐ forschung Optionen wider. 19 Das ist auch nicht überraschend, als die Auseinander‐ setzungen mit der Gestalt des Reformators in einem hohen Maße der Selbstverständigung des Protestantismus über seine eigene Identität dienen. Auch da, wo wie bei Troeltsch der Abstand zwischen der Zeit Luthers und der eigenen Gegenwart in den Vordergrund rückt, geht es um das protestantische Selbstverständnis. In der lutherischen Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts ist der Wittenberger Reformator zwar die zentrale Bezugsgestalt, aber zu einer historischen Erforschung seines Werks kommt es freilich noch nicht. 20 Erste Ansätze hierzu bilden sich im Zeitalter der Aufklärung heraus. Der Hallenser Theologe Johann Salomo Semler (1725-1791) unterscheidet zwischen Luther sowie der altlutherischen Theologie und knüpft auf der Grundlage seiner historischen Theologie an das Schriftverständnis des Reformators an. 21 Geradezu im Sinne eines Vorreiters der Aufklärung bezieht sich Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) auf den Wittenberger. Er habe die Menschheit vom Joch der Tradition befreit, nun müsse es aber darum gehen, „uns von dem unerträglichern Joche des Buchstabens“ zu erlösen. „Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du [sc. Martin Luther] es itzt lehren würdest; wie Christus es selbst lehren würde! “ 22 Im Streit um seine Versöhnungslehre beruft sich der Erlanger Theologe Johann Christian Konrad von Hofmann (1810-1877) gegenüber seinen Widersachern ausdrücklich auf Unterschiede zwischen Luther und dem Altprotestantismus. 23 Damit wird von ihm methodisch die Differenz zwi‐ 20 1 Einleitung <?page no="21"?> 24 Vgl. A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3: Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn 4 1895. Vgl. hierzu F. Wittekind, Ritschls geschichtsphilosophische Deutung der Reformation der Kirche, in: C. Danz/ R. Leon‐ hardt (Hrsg.), Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, Berlin/ New York 2008, 201-233; U. Barth, Das gebrochene Verhältnis zur Reformation. Bemerkungen zur Luther-Deutung Albrecht Ritschls, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 125-148. 25 A. v. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3: Die Entwicklung des kirchlichen Dogmas II/ III, Darmstadt 1964, 814. Vgl. E. Troeltsch, Luther und die moderne Welt, in: ders., Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906-1913) (= Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8), hrsg. v. T. Rendtorff in Zusammenarbeit mit S. Pautler, Berlin/ New York 2002, 59-97. 26 Vgl. Holl, Luther. Vgl. hierzu J. Wallmann, Karl Holl und seine Schule, in: Tübinger Theologie im 20. Jahrhundert (= Zeitschrift für Theologie und Kirche, Beiheft 4), Tübingen 1978, 1-33; H. Assel (Hrsg.), Karl Holl. Leben - Werk - Briefe, Tübingen 2021. Karl Holl schen dem Wittenberger Reformator und seinen Nachfolgern in die Debatte eingeführt. Die Lutherdarstellung von Theodosius Harnack, welche die Versöhnungslehre in den Fokus rückt, wendet sich gegen von Hofmann. Eine Deutung der Theologie des Reformators, welche zwischen diesem und dem dogmatischen Lehrbegriff seiner Epigonen unterscheidet, arbeitet der Göttinger Theologe Albrecht Ritschl (1822-1889) in seinem Hauptwerk Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung aus. 24 Ambivalent fällt das Urteil Adolf von Harnacks (1851-1930) in seiner Dogmengeschichte aus. Zwar habe der Wittenberger Reformator ähnlich wie zuvor Augustin (354-430) die Innerlichkeit in der Religion (wieder-)entdeckt, aber zugleich das dogmatische Christentum der Alten Kirche wiederbelebt. „Derselbe Mann, der das Evangelium von Jesu Christo aus dem Kirchenthum und dem Moralismus befreit hat, hat seine Geltung in den Formen der altkatholischen Theologie verstärkt, ja diesen Formen nach Jahrhunderte langer Quiescirung erst wieder Sinn und Bedeutung für den Glauben verliehen.“ 25 Als Begründer der Lutherforschung im wissenschaftlichen Sinne darf der Berliner Kirchenhistoriker Karl Holl gelten. 1921 legte er unter dem Titel Luther eine Sammlung von Aufsätzen über die Theologie des Refor‐ mators vor, die eine breite Wirkung erzielte und nach wie vor zu den Standardwerken der Forschung gehört. 26 Die gedankliche Dichte von Holls Lutherbuch resultiert aus einer Verknüpfung von historischer Rekonstruk‐ tion und systematischem Interesse. Die Rückbesinnung auf Luther dient der Steuerung der eigenen, als krisenhaft erfahrenen Gegenwart. Holls Studien sind in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Zunächst arbeitet er die sys‐ tematische Problemstellung Luthers heraus. Im Zentrum seiner Theologie 1.2 Zum Stand der Lutherforschung 21 <?page no="22"?> 27 K. Holl, Was verstand Luther unter Religion, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd.-1: Luther, Tübingen 1921. 6 1932, 1-110. 28 Vgl. M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 16, hrsg. v. J. Ficker, Leipzig 1908. 29 Vgl. H. Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance - Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910-1935), Göttingen 1994. 30 Vgl. H. Bornkamm, Luthers geistige Welt, Gütersloh 1959; ders., Luther. Gestalt und Wirkung. Gesammelte Aufsätze, Gütersloh 1975. 31 Vgl. H. Boehmer, Der junge Luther, Leipzig 1925. 4 1951. Holl-Schule stehe die Rechtfertigungslehre. Mit hoher methodischer Präzision rekon‐ struiert der Berliner Kirchenhistoriker das Werden von Luthers Verständnis der Rechtfertigung des Menschen durch Gott anhand der frühen Texte, insbesondere der frühen Vorlesungen. Dabei verknüpft Holl in seiner Deu‐ tung der Rechtfertigungslehre eine Erfahrungsdimension mit einer theozentrischen Perspektive. Der Mensch erfährt sich als der Gemeinschaft mit Gott völlig unwürdig. Dass Gott aber den Menschen anerkennt und Gemeinschaft mit ihm stiftet, sei die Erfahrung der Rechtfertigung. Der Ort des Gottesverhältnisses ist für Holl das Gewissen des Menschen. Luthers Religion sei deshalb, wie Holl der Theologie des 20. Jahrhunderts einschärfte, in ihrem Kern eine sittlich bestimmte Gewissensreligion. 27 Für seine Deutung der Theologie des Reformators kommen Holl zwei wichtige Ergebnisse der vorangegangenen Forschung zugute: Einmal die seit 1883 erscheinende kritische Gesamtausgabe der Werke Luthers. Durch die Weimarer Ausgabe erhielt die Lutherforschung eine methodischen Stan‐ dards genügende Textgrundlage. Zweitens wurden Luthers frühe Vorlesun‐ gen erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt. Seine Römerbriefvorlesung von 1515/ 16 veröffentlichte Johannes Ficker (1861-1944) im Jahre 1908. 28 Dadurch wurden der Forschung Texte zugänglich, die in den früheren Jahrhunderten unbekannt waren und die es nun erlaubten, die Entwicklung der Theologie Luthers von seinen Anfängen an zu rekonstruieren. Holl ist der erste, der die neuen Quellen auswertet und zur Deutung von dessen Theologie heranzieht. Die weitere Lutherforschung hat der Berliner Kirchenhistoriker entschei‐ dend geprägt und die Themen vorgegeben, die im 20. Jahrhundert bearbeitet wurden. In den Untersuchungen von Holl und seinen zahlreichen Schülern 29 - Emanuel Hirsch, Hanns Rückert (1901-1974), Heinrich Bornkamm (1901- 1977) 30 - trat für die Folgezeit der junge Luther in den Mittelpunkt des Interesses. 31 Zahlreiche Studien zu dessen Theologie und zur Frage des reformatorischen Durchbruchs erschienen in den 1920er und 1930er Jahren, 22 1 Einleitung <?page no="23"?> 32 Vgl. E. Vogelsang, Die Anfänge von Luthers Christologie nach der 1. Psalmenvorlesung, Berlin/ Leipzig 1929. 33 Vgl. E. Bizer, Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen 1958. 3 1966. 34 Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd. 1, 215-230; O. Bayer, Promissio. Geschichte der refor‐ matorischen Wende in Luthers Theologie, Göttingen 1971. 35 Vgl. Bizer, Fides ex auditu, 154-160. Lutherfor‐ schung nach dem Zweiten Weltkrieg so zum Beispiel die Untersuchung Die Anfänge von Luthers Christologie nach der 1. Psalmenvorlesung des Hirsch-Schülers Erich Vogelsang (1904-1944), die nach wie vor als ein Standardwerk einzustufen ist. 32 Die Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte an die Resultate von Holl und seiner Schule an, nahm jedoch auch Modifikationen an dem von ihm geprägten Lutherbild vor. In der Kritik an Holls pointierter These von der Gewissensreligion Luthers spiegelt sich allerdings auch die theologische Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wider. Hinzu kommt, dass sich die Holl-Schule durch ihre Nähe zum Nationalsozialismus diskreditiert hatte. Unter dem Einfluss der Theologie Karl Barths (1886- 1968), die nach dem Zweiten Weltkrieg zur dominierenden Universitätstheologie an den deutschsprachigen theologischen Fakultäten avancierte, und ihrer Betonung des Wortes Gottes sowie des strikten Gegensatzes von Gott und Welt verfiel Holls Verständnis der Gewissensreligion Luthers der Kritik. Von theologischem Zeitkolorit sind zahlreiche der Lutherdeutungen nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt. Am deutlichsten ist das in der Studie von Ernst Bizer (1904-1975) der Fall, die 1958 unter dem Titel Fides ex auditu erschien. 33 Bizer untersucht die theologische Entwicklung des jungen Luther von der ersten bis zur zweiten Psalmenvorlesung. Im Unterschied zu Holl setzt er den reformatorischen Durchbruch nicht schon in der ersten Psalmenvorlesung an, sondern erst 1518. Zwar spreche Luther bereits in den Dictata super Psalterium von der iustitia Dei als einer Gabe Gottes, aber diese frühe Deutung der Gerechtigkeit Gottes stehe, wie Bizer zu zeigen versucht, noch ganz im Horizont einer dem Mittelalter verbundenen Demutstheologie. Deshalb sei das Verständnis der Rechtfertigung bei dem jungen Luther noch vorreformatorisch, genauer eine Form monastischer Humilitas-Theologie. 34 Grundlegend für Bizers Interpretation von Luthers Entdeckung ist die Annahme, unter dem eigentlich Reformatorischen sei das Wort Gottes als Gnadenmittel zu verstehen. 35 Diese Deutung des Refor‐ matorischen trägt deutlich Spuren der Wort-Gottes-Theologie Karl Barths. Eine Verbindung der Theologie Luthers mit der Barths arbeitete auch der 1.2 Zum Stand der Lutherforschung 23 <?page no="24"?> 36 Vgl. W. Joest, Gesetz und Freiheit. Das Problem des tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese, Göttingen 4 1968. 37 Vgl. G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, München 1942; ders., Lutherstudien, 3 Bde., Tübingen 1971-1989. 38 Vgl. G. Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, in: ZThK 48 (1951), 172-230; ders., Luthers Auslegung des 14. (15.) Psalms in der ersten Psalmenvorlesung im Vergleich mit der exegetischen Tradition, in: Lutherstudien, Bd. 1, Tübingen 1971, 132-195. 39 Vgl. F.H.S. Denifle, Luther und Luthertum in der ersten Entwickelung quellenmäßig dargestellt, 2 Bde., Mainz 2 1904/ 1909. 40 Vgl. H. Grisar, Luther, 3 Bde., Freiburg i. Br. 1911/ 12. 41 Vgl. J. Lortz, Die Reformation als religiöses Anliegen heute, Trier 1948. Gerhard Ebeling römischkatholische Lutherfor‐ schung junge Wilfried Joest in seiner Dissertation Gesetz und Freiheit. Das Problem des tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese aus dem Jahre 1951 aus. 36 Die Lutherforschung der 1960er und 1970er Jahre hat mit Ausläufern bis heute darum gestritten, ob die reformatorische Entdeckung früh oder spät zu datieren sei. Entscheidende Impulse erhielt die Diskussion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem durch Gerhard Ebeling (1912-2001). 37 Seine Untersuchungen lassen sich in ihrer Bedeutung nur mit denen von Karl Holl vergleichen. Wie der Berliner Kirchenhistoriker verbindet der Tübinger und Züricher Theologe einen historischen Zugriff auf Luther mit einer systematischen Fragestellung. Im Unterschied zu Holl, der die Rechtfertigung und den Gewissensbegriff ins Zentrum der Theologie Luthers gerückt hatte, tritt bei Ebeling die Lehre von der Schrift in den Blickpunkt. Wegweisende Untersuchungen zur Herausbildung von Luthers Schriftverständnis und seiner Hermeneutik legte er neben systematischen Darstellungen vor allem zum Verhältnis von Gesetz und Evangelium vor. 38 Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich auch eine wissenschaftliche rö‐ misch-katholische Lutherforschung etabliert. Sie rückte von der traditionel‐ len Polemik gegenüber Luther ab, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Friedrich Heinrich Suso Denifle (1844-1905) 39 und Hartmann Grisar (1845-1932) zu finden ist, 40 und versucht, vor dem Hintergrund breiter Quellenforschung ein Lutherbild zu zeichnen, das jedoch auch in den 1960er und 1970er Jahren noch eine unverkennbar römisch-katholische Färbung trägt. Zu nennen sind insbesondere Joseph Lortz (1887-1975), 41 Erwin Iser‐ 24 1 Einleitung <?page no="25"?> 42 Vgl. E. Iserloh, Luthers Thesenanschlag. Tatsache oder Legende? , Wiesbaden 1962; ders., Luther und die Reformation, Aschaffenburg 1974; ders., Geschichte und Theologie der Reformation, Paderborn 1980. 4 1998. 43 O.H. Pesch, Hinführung zu Luther, Mainz 2004; ders., Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs, Ostfildern 1985. 44 Vgl. L. Grane, Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie, Leiden 1975; A. Vind, Latomus and Luther. The Debate: Is every Good Deed a Sin? , Göttingen 2019. 45 Vgl. T. Mannermaa, Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung, Hannover 1989. 46 Vgl. C. Helmer, How Luther became the Reformator, Louisville, Kentucky 2019. Hauptten‐ denzen der neueren Forschung loh (1915-1996) 42 und Otto Hermann Pesch (1931-2014). 43 Sie gehen allesamt davon aus, dass die spätmittelalterliche Theologie und Frömmigkeit, welche Luther bekämpft hatte, gar nicht wirklich katholisch gewesen sei. Das heißt, seine Kritik an der spätmittelalterlichen Kirche wird als berechtigt aner‐ kannt. Der Reformator sei, so die von den genannten Autoren gezogene Konsequenz, dem wirklichen und wahren Katholizismus enger verbunden, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Spaltung der Kirchen in Folge der Reformation sei mithin auf historische Kontingenzen zurückzuführen, habe aber keinen Anhalt an den theologischen Kernthemen. Hinter solchen Lutherbildern, das wird schnell deutlich, steht eine bestimmte Auffassung von Ökumene, welche die Differenzen zwischen Protestantismus und rö‐ mischem Katholizismus als überholt verstehen möchte. Nun, da die Miss‐ stände in der Katholischen Kirche beseitigt seien, stehe auch einer Vereini‐ gung beider Kirchen nichts mehr im Wege. Natürlich ist Lutherforschung keine deutsche Angelegenheit. Seit dem 20. Jahrhundert gibt es in den skandinavischen Ländern intensive Forschun‐ gen zu dem Reformator, die durchaus eigene Akzente setzen. 44 Zu nennen sind insbesondere finnische Untersuchungen, die den Gedanken der theo‐ sis (Vergöttlichung) ins Zentrum der Theologie Luthers rücken. 45 In der Gegenwart ist, wie bei vielen anderen Themen auch, die Lutherforschung international geworden. 46 Die neuere Forschung zu Luther ist dadurch ausgezeichnet, dass sie das Werk des Reformators stärker in seinen geistes-, mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Horizont rückt und vor ihm versteht. Sechs Haupt- 1.2 Zum Stand der Lutherforschung 25 <?page no="26"?> 47 Vgl. V. Leppin, Lutherforschung am Beginn des 21.-Jahrhunderts, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 19-34; ders., Luther-Literatur seit 1983, Teil I, in: ThR 65 (2000), 350-377; Teil II, in: ThR 65 (2000), 431-454; Teil III, in: ThR 68 (2003), 313-340. 48 Vgl. M. Beyer/ G. Wartenberg (Hrsg.), Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anläßlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997. FS Helmar Junghans, Leipzig 1996; H. Junghans, Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985; I. Dingel/ A. Kohnle (Hrsg.), Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformer Europas, Leipzig 2011. 49 Vgl. M. Wriedt, Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johannes von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991. 50 Vgl. I. Dingel (Hrsg.), Nikolaus von Amsdorf (1483-1565). Zwischen Reformation und Politik, Leipzig 2008. 51 Vgl. I. Dingel (Hrsg.), Justus Jonas (1493-1555) und seine Bedeutung für die Wittenber‐ ger Reformation, Leipzig 2009. 52 Vgl. S. Michel/ C. Speer (Hrsg.), Georg Rörer (1492-1557). Der Chronist der Wittenberger Reformation, Leipzig 2012. 53 Vgl. I. Dingel/ G. Wartenberg (Hrsg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. Beiträge zur 500. Wiederkehr des Gründungsjahres der Leucorea, Leipzig 2002; dies. (Hrsg.), Georg Major (1502-1574). Ein Theologe der Wittenberger Reformation, Leipzig 2005. 54 Vgl. C. Helmer (Hrsg.), The Medieval Luther, Tübingen 2020; B. Hamm, Der frühe tendenzen der gegenwärtigen Debatte zeichnen sich ab. 47 Zunächst wird Luther wesentlich stärker, als es früher der Fall war, in den Gesamtkontext der Wittenberger Universität gerückt. Themen wie Luther und Philipp Melanchthon (1497-1560), 48 Johann von Staupitz (1468-1524), 49 Nikolas von Amsdorf (1483-1565), 50 Justus Jonas (1493-1555) 51 oder Georg Rörer (1492-1557) 52 treten in den Blickpunkt der Forschung. Sodann hat sich die Forschung in den letzten Jahren intensiv dem späten Luther zugewandt. In der Lutherforschung im Anschluss an Holl wurden primär der junge Luther und sein Werdegang hin zum reformatorischen Durchbruch untersucht. Auch heute noch hat das Spätwerk Luthers keine so große Aufmerksamkeit erfahren. Dabei geht es vor allem um Fragen des Übergangs von der Theologie des späten Luther zur Theologie des alten Luthertums, also um Fragen, die mit der Konfessionalisierung in einem Zusammenhang stehen und höchst kontrovers diskutiert werden. 53 Drittens fragt die gegenwärtige Forschung nach den geistigen Wurzeln des jungen Luther. Während Deu‐ tungen in den Bahnen der Theologien Albrecht Ritschls und Karl Barths die Frage nach dem Einfluss der spätmittelalterlichen Mystik auf das Werk des Reformators weitgehend marginalisiert hatten, ist diesem Hintergrund in den letzten Jahren stärker nachgegangen worden. 54 Eine vierte Tendenz 26 1 Einleitung <?page no="27"?> Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010; T. Bell, Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, Mainz 1993. 55 Vgl. G. Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964. 56 Vgl. B. Lohse, Luther und das Augsburger Bekenntnis, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 138-157. 57 Vgl. C. Peters, Luther und Müntzer, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 139-142; A. Kohnle, Luther und die Bauern, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Hand‐ buch, Tübingen 2005, 134-139. 58 Vgl. H.-M. Kirn, Luther und die Juden, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 217-224. 59 Vgl. S. Raeder, Luther und die Türken, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 224-231. Weimarer Ausgabe der gegenwärtigen Lutherforschung liegt in der Auseinandersetzung mit der Gesamtdeutung Luthers durch Ebeling. Ebeling hatte in einer Vielzahl von Einzelveröffentlichungen ein aus den Quellen erarbeitetes Lutherbild von eindrucksvoller Geschlossenheit vorgelegt. 55 In sein Lutherbild lassen sich jedoch zahlreiche von der neueren Forschung herausgearbeitete As‐ pekte, wie die Bedeutung der Mystik, nur sehr schwer eintragen. Fünftens fragt man nach der Rolle Luthers für die Bekenntnisbildung innerhalb der evangelischen Kirchen. 56 Und schließlich hat sich die Forschung sechstens wesentlich stärker als bisher Luthers Stellung zu von ihm abweichenden Positionen zugewandt. Untersucht wird nicht nur sein Verhältnis zu Thomas Müntzer und dem Bauernkrieg, 57 sondern auch seine höchst problemati‐ schen Aussagen zum Judentum 58 und zum Islam. 59 1.3 Literatur zum Lutherstudium 1.3.1 Quellen Die Weimarer Ausgabe (WA) bildet die Textgrundlage für alle wissenschaftli‐ che Beschäftigung mit dem Werk des Reformators. Sie ist in vier Abteilungen untergliedert: die erste Abteilung enthält die Schriften Luthers, von denen 73 Bände erschienen sind. In der zweiten Abteilung, von der 6 Bände vorliegen, werden die Tischreden Luthers überliefert. Seine Bibelübersetzungen finden sich in der Abteilung drei: Deutsche Bibel. Sie umfasst 12 Bände. Der umfangreiche Briefwechsel des Reformators ist in der Abteilung vier ediert. Es liegen 18 Bände vor. 1.3 Literatur zum Lutherstudium 27 <?page no="28"?> 60 Vgl. M. Beyer, Lutherausgaben, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 2-8; J. Schilling, Art.: Lutherausgaben, in: TRE, Bd. 21, Berlin/ New York 1991, 594-599. Bonner Ausgabe D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff. Schriften, Bd.-1-73, Weimar 1883-2009. (= WA) Tischreden, Bd.-1-6, Weimar 1912-1921 (= WA. TR) Deutsche Bibel, Bd.-1-12, Weimar 1906 ff. (= WA. DB) Briefwechsel, Bd.-1-18, Weimar 1930 ff. (= WA. B) Die Weimarer Ausgabe trat an die Stelle von älteren Ausgaben der Werke des Reformators. 60 Eine erste Edition mit deutschen Lutherschriften erschien bereits 1539 und die erste Ausgabe mit den lateinischen Schriften 1545. Die für das 19. Jahrhundert maßgebliche Edition der Werke des Reformators ist die Erlanger Ausgabe. Sie wurde zwischen 1826 und 1857 veröffentlicht. Eine zweite Auflage wurde 1862 in Angriff genommen, aber 1885 abgebrochen, da inzwischen die ersten Bände der Weimarer Ausgabe vorlagen. Die Editionsprinzipien, welche den ab 1883 publizierten ersten Bänden der Weimarer Ausgabe zugrunde lagen, sind inzwischen überholt, so dass einige frühe Texte wie die erste Psalmenvorlesung neu ediert werden muss‐ ten. Diese Neueditionen erscheinen seit 1981 in dem Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers (AWA). Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers. Texte und Untersuchungen, hrsg. im Auftrag der Kommission zur Herausgabe der Werke Martin Luthers, Köln 1981 ff. (= AWA) Wissenschaftlichen Maßstäben genügt die von Otto Clemen (1871-1946) seit 1912 herausgegebene Studienausgabe der Werke Luthers. Sie erschien zunächst in vier Bänden, wurde dann um weitere vier Bände erweitert und mehrfach aufgelegt. Diese sogenannte Bonner Ausgabe (BoA) bietet in chronologischer Reihenfolge grundlegende Texte des Reformators. Martin Luther, Werke in Auswahl, 8 Bde., hrsg. v. O. Clemen, Bonn 1912 ff. ND Berlin 1955 ff. (= BoA) 28 1 Einleitung <?page no="29"?> Studien‐ ausgaben Einen historisch-kritischen Textbestand, der den überarbeiteten Editions‐ prinzipien der Weimarer Ausgabe entspricht, bietet die sechsbändige Studi‐ enausgabe (StA) von Hans-Ulrich Delius (geb. 1930). Die Werke Luthers stellt die Ausgabe in einer chronologischen Reihenfolge dar. Martin Luther, Studienausgabe, 6 Bde., hrsg. v. H.-U. Delius, Berlin 1980- 1999. (= StA) Als Lesehilfe für das Studium der lateinischen Schriften Luthers dient die dreibändige Lateinisch-deutsche Studienausgabe (Lat.-dt. StA). Die von Wil‐ fried Härle (geb. 1941), Johannes Schilling (geb. 1951), Günther Wartenberg (1943-2007) unter Mitarbeit von Michael Beyer (geb. 1952) veranstaltete Ausgabe ist thematisch ausgerichtet und präsentiert wichtige lateinische Texte Luthers in deutscher Übersetzung. Der in der Ausgabe wiedergege‐ bene lateinische Text der Schriften Luthers entspricht allerdings nicht den historisch-kritischen Standards, wie er für die Weimarer Ausgabe oder die Studienausgabe konstitutiv ist. Martin Luther, Lateinisch-deutsche Studienausgabe, 3 Bde., hrsg. v. W. Härle/ J. Schilling/ G. Wartenberg, Leipzig 2006-2009. (= Lat.-dt. StA) Die Deutsch-deutsche Studienausgabe (Dt.-dt. StA) der Schriften Luthers bildet das Seitenstück zur Lateinisch-deutschen Studienausgabe. Sie bringt grundlegende mittelhochdeutsche Texte des Reformators zusammen mit ei‐ ner modernisierten deutschen Fassung. Ihre drei Bände sind thematisch un‐ tergliedert und ordnen in den Bänden die Schriften Luthers chronologisch. Herausgegeben ist die Ausgabe von Johannes Schilling in Zusammenarbeit mit Albrecht Beutel (geb. 1957), Dietrich Korsch (geb. 1949), Notger Slenczka (geb. 1960) und Hellmut Zschoch (geb. 1957). Martin Luther, Deutsch-deutsche Studienausgabe, 3 Bde., hrsg. v. J. Schilling mit A. Beutel/ D. Korsch/ N. Slenczka/ H. Zschoch, Leipzig 2012- 2016. (= Dt.-dt. StA) 1.3 Literatur zum Lutherstudium 29 <?page no="30"?> Hilfsmittel Eine Übersetzung grundlegender Texte Luthers, angefangen von den frühen Vorlesungen bis hin zum Spätwerk bringt die nach 1945 begonnene und von Kurt Aland (1915-1994) herausgegebene Ausgabe Luther Deutsch (LD). Die zehnbändige Leseausgabe wurde mehrfach aufgelegt und ist seit 2002 als CD-Rom erhältlich. Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, 10 Bde., hrsg. v. K. Aland, Göttingen 4 1991. (= LD) Eine kommentierte Auswahl von zentralen Texten des Reformators liegt in der von Hans Heinrich Borcherdt (1887-1964) besorgten sogenannten Münchner Ausgabe (MA) vor. Von ihr erschienen zunächst sechs Bände und sieben Ergänzungsbände (MAE), die mehrfach nachgedruckt worden sind. Martin Luther, Ausgewählte Werke, 6 Bde., hrsg. v. H.H. Borcherdt, München 2 1938. (= MA) Martin Luther, Ausgewählte Werke. Ergänzungsreihe, 7 Bde., hrsg. v. H.H. Borcherdt, München 2 1934ff. (= MAE) Die von Karin Bornkamm (1928-2016) und Gerhard Ebeling herausgege‐ benen sechs Bände mit Ausgewählten Schriften (AS) Luthers sind eine geeignete Leseausgabe, um sich mit den mittelhochdeutschen Schriften des Reformators vertraut zu machen. Wissenschaftlichen Ansprüchen genügt diese thematisch angelegte Ausgabe nicht. Martin Luther, Ausgewählte Schriften, 6 Bde., hrsg. v. K. Bornkamm/ G. Ebeling, Frankfurt a.-M. 1982. (= AS) 1.3.2 Hilfsmittel und Sekundärliteratur Unentbehrliche Hilfsmittel, um sich mit der kaum noch zu überschauenden Literatur zu Martin Luther sowie dem Diskussionsstand vertraut zu machen, stellen das von Albrecht Beutel herausgegebene Luther Handbuch sowie das Hilfsbuch zum Lutherstudium von Kurt Aland dar. Das thematisch angeordnete Luther Handbuch bietet eine einführende und grundlegende 30 1 Einleitung <?page no="31"?> Einführun‐ gen Gesamt‐ darstellun‐ gen Orientierung über den geistesgeschichtlichen Hintergrund des Denkens von Luther, Kontroversen, theologische Themenfelder sowie Literatur und die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte seiner Theologie. Das Hilfsbuch ermöglicht eine Orientierung bei der Erschließung der Schriften Luthers. Über Grundbegriffe der Theologie des Reformators informiert der Band Martin Luthers theologische Grundbegriffe. Von „Abendmahl“ bis „Zweifel“ von Reinhold Rieger (geb. 1956). Eine fortlaufende Bibliographie mit in‐ ternationaler Forschungsliteratur zu Luther ist in dem 1926 begründeten Lutherjahrbuch (LuJ) zugänglich. Neben einer systematischen Erfassung der Sekundärliteratur bietet das Lutherjahrbuch Spezialbeiträge zu diversen Forschungsthemen. K. Aland, Hilfsbuch zum Lutherstudium, Witten 4 1996. A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005. Lutherjahrbuch. Organ der internationalen Lutherforschung, hrsg. im Auftrag der Luther-Gesellschaft, Göttingen 1926 ff. (= LuJ) R. Rieger, Martin Luthers theologische Grundbegriffe. Von „Abendmahl“ bis „Zweifel“, Tübingen 2017. Werkgeschichtliche Einführungen in das Leben des Reformators ermögli‐ chen eine erste Zuordnung von Texten und zentralen Begriffen in den zeitgenössischen Debatten. Zugleich erschließen sie bestimmte Grundthe‐ men von dessen Theologie im biographischen Kontext. Wichtige neuere Einführungen in das Denken Luthers stammen von Albrecht Beutel, Dietrich Korsch und Volker Leppin (geb. 1966), grundlegende ältere von Reinhard Schwarz (1929-2022) und Gerhard Ebeling. A. Beutel, Martin Luther. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Leipzig 2 2006. G. Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964. D. Korsch, Martin Luther. Eine Einführung, Tübingen 2 2007. V. Leppin, Martin Luther, Darmstadt 2006. R. Schwarz, Luther, Göttingen 3 2004. Gesamtdarstellungen der Theologie Martin Luthers zeigen eine systema‐ tische Zusammenschau seines Denkens. Wichtige neuere liegen vor aus 1.3 Literatur zum Lutherstudium 31 <?page no="32"?> der Feder von Bernhard Lohse und Hans-Martin Barth (geb. 1939). Wäh‐ rend Lohse das Denken des Reformators zugleich werkegeschichtlich und systematisch darstellt, orientiert sich Barth an Hauptthemen von dessen Theologie. Einen guten Überblick über Grundthemen der Theologie des Wittenbergers bietet nach wie vor die Arbeit von Paul Althaus. P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 2 1963. H.-M. Barth, Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009. B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995. 32 1 Einleitung <?page no="33"?> 61 Vgl. V. Leppin, Martin Luther, Darmstadt 2006, 15-24; A. Beutel, Martin Luther. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Leipzig 2 2006, 26-33; Brecht, Martin Luther, Bd.-1, 13-32. Luthers Familie 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung Die Entwicklung von Luthers Denken in seiner Frühzeit stand bislang im Fokus der Forschung. Im 20. Jahrhundert wurden lange Kontroversen dar‐ über geführt, wann der Reformator zu seiner neuen Deutung des christlichen Glaubens gelangt sei: zu Beginn seiner Wittenberger akademischen Lehrtä‐ tigkeit um 1512 oder erst gegen Ende des zweiten Jahrzehnts des 16. Jahr‐ hunderts. Luther selbst nannte sein neues Verständnis der Gerechtigkeit Gottes - der iustitia Dei - als den entscheidenden Wendepunkt. Was versteht er unter iustitia Dei, und wie unterscheidet sie sich von dem mittelalterlichen Gebrauch des Begriffs? Die in der Debatte vorgebrachten Argumente für oder wider eine Frühbeziehungsweise Spätdatierung der reformatorischen Entdeckung werden im Folgenden vorgestellt. Zunächst ist jedoch Luthers Werdegang vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Frömmigkeit und Theologie bis zur Übernahme seiner Wittenberger Professur 1513 zu skizzieren. 2.1 Studium und Eintritt ins Kloster Luther wurde am 10. November 1483 in Eisleben geboren und am folgenden Tag auf den Namen des Tagesheiligen, Martin, getauft. Sozial gesehen entstammt er einem Aufsteigermilieu, das im 15. Jahrhundert durch die beginnende Industrialisierung möglich war. 61 Sein Vater Hans Luder (1449- 1530) ist Nachkomme einer Bauernfamilie, war allerdings aufgrund des thü‐ ringischen Erbrechts als ältester Sohn vom väterlichen Erbe ausgeschlossen. Aus diesem Grund zog die Familie Luder nach Mansfeld, wo es der Vater im örtlichen Kupferbergbau zu einer ansehnlichen Stellung brachte und sich im Bürgertum etablieren konnte. Die Mutter Luthers, Margarete, geborene Lindemann (1459-1531), kam aus bürgerlichen Verhältnissen in Eisenach. Die Änderung des Familiennamens Luder in Luther geht auf den Reformator zurück, und sie steht im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Bußpraxis <?page no="34"?> 62 Vgl. WA 1, 108-113. 63 Vgl. E.H. Erikson, Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Frankfurt a.-M. 1975. 6. unveränderte Auflage Eschborn 2005. 64 Vgl. C. Burger, Art.: Devotio moderna, in: RGG 4 , Bd.-2, Tübingen 1999, 776. Schulbil‐ dung im Spätmittelalter. In Anlehnung an das griechische Wort eleutherios, der Freie, hat er 1517 seinen Namen in ‚Luther‘ umgeformt. 62 Martin Luthers Familie ist, so kann man sagen, aus dem Bauernstand in das Bürgertum auf‐ gestiegen. Dieser Umstand prägte seinen weiteren Lebensweg. Die Zeugnisse über das Leben in Luthers Elternhaus sind spärlich. Ver‐ mutlich war die Erziehung streng: von den Kindern wurde strikter Gehor‐ sam erwartet. Das entspricht dem üblichen Erziehungsrahmen im späten Mittelalter. Erik H. Erikson (1902-1994) hat versucht, die religiöse und theologische Entwicklung Luthers und seines Gottesbildes tiefenpsycholo‐ gisch aus einem Vaterkonflikt zu erklären. 63 Allerdings sind die Quellen für solch eine weitreichende Deutung nicht aussagekräftig genug. Auch die Religiosität in seinem Elternhaus scheint sich in den normalen Bahnen des spätmittelalterlichen kirchlichen Lebens bewegt zu haben. Besondere Auffälligkeiten sind in den Zeugnissen nicht überliefert. Um sich im Bürgertum zu etablieren, wurde der junge Martin von seinem Vater dafür auserkoren, die Schule zu besuchen. Die Schulausbildung, welche der Vorbereitung auf das Studium an der Universität diente, musste sich die Familie hart erarbeiten. Luther war sich dessen zeitlebens bewusst. Er besuchte zunächst von 1490 bis 1497 die Mansfelder Stadtschule, von 1497 bis 1498 die Schule in Magdeburg und von 1498 bis 1501 die Schule in Eisenach. Mit dem Übergang in die Magdeburger Schule verließ er mit 14 Jahren das Elternhaus und wohnte in einer Art Schülerwohnheim. Es wurde von den ‚Brüdern vom gemeinsamen Leben‘ getragen, einer aus den Niederlanden kommenden und der devotio moderna nahestehenden Frömmigkeitsbewegung. 64 In Eisenach wurde Luther von Verwandten der Mutter aufgenommen. Die ersten 18 Jahre von Luthers Leben verliefen durchweg ohne Beson‐ derheiten. Seine Familie förderte ihn, um sich im aufstrebenden Bürgertum zu behaupten. Voraussetzung hierfür ist Bildung. Neben den klassischen Trivialfächern, Grammatik, Rhetorik und Logik, wurde er in Musik, klassi‐ scher Literatur und Latein unterwiesen. Hinzu kommt die Bekanntschaft mit unterschiedlichen Strömungen spätmittelalterlicher Religiosität. 34 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="35"?> 65 Vgl. Leppin, Martin Luther, 24-27; Beutel, Martin Luther, 33-37; Brecht, Martin Luther, Bd.-1, 33-58. 66 Vgl. K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986, 426-459. Nominalis‐ mus Thomas von Aquin 1501 hatte er das Lateinschulniveau und damit die Voraussetzung für das Universitätsstudium erreicht und ging an die Universität Erfurt, die 1392 gegründet wurde und um 1500 als eine bedeutende Stätte des Nominalismus und des aufblühenden Humanismus galt. 65 Der Nominalismus oder die via moderna ist eine wichtige Richtung spätmittelalterlicher Theologie und Phi‐ losophie und geht auf Johannes Duns Scotus (um 1270-1308) und Wilhelm von Ockham (1285-1349) zurück. Beide versuchen, eine neue Antwort auf die Frage zu geben, ob Allgemeinbegriffen, zum Beispiel ‚Mensch‘, Realität zukommt. 66 Theologen und Philosophen wie Thomas von Aquin (um 1225- 1274), die der via antiqua zugehörten, behaupteten im Anschluss an Platons (427-347 v. Chr.) Ideenlehre die Realität der Allgemeinbegriffe oder Univer‐ salien. Für die via moderna hingegen existiert nur das Einzelne, allgemeine Begriffe sind bloße Nomen. Im Unterschied zum Thomismus wird im No‐ minalismus auch das Verhältnis von Vernunft und Glaube neu bestimmt. Das schlägt sich insbesondere in der Fassung des Gottesgedankens nieder, und zwar mit weitreichenden Folgen für die Gnadenlehre. Thomas von Aquin hatte vor dem Hintergrund seiner Aristoteles-Rezeption eine Synthese von Vernunft und Glaube vorgelegt und den Intellekt als zentrale Bestimmung Gottes verstanden. Wenn Gott handelt, dann ist er in seinem Wirken an eine Ordnung gebunden, nämlich die Ideen beziehungsweise Gedanken Gottes, die ewig und unveränderlich sind. Im späten Mittelalter wurde die von Tho‐ mas ausgearbeitete Synthese fraglich. Sein Gottesbegriff schien die Allmacht Gottes zu gefährden. Wenn Gott nur nach einer in seinem Wesen begrün‐ deten Ordnung handeln kann, dann, so der Einwand, sei seine Allmacht beschränkt. Bereits wenige Jahre nach dem Tod von Thomas wurden 1277 von dem Pariser Bischof Stephan Tempier (gest. 1279) 219 theologische und philosophische Sätze verurteilt, welche die göttliche Allmacht einschränk‐ ten. Darunter war auch die von Thomas in der Summa theologiae ausge‐ sprochene These von der Einzigkeit dieser Welt. Im Unterschied zu Thomas von Aquin stellt der Nominalismus den Willen in das Zentrum der Bestimmung Gottes. Gott ist wesentlich Wille. Damit ist die Behauptung verknüpft, dass er in seinem Handeln an keine ihm bereits vorgegebene Ordnung gebunden ist. Auch für den Nominalismus handelt 2.1 Studium und Eintritt ins Kloster 35 <?page no="36"?> 67 Vgl. K. Bannach, Die Lehre von der doppelten Macht Gottes bei Wilhelm von Ockham. Problemgeschichtliche Voraussetzungen und Bedeutung, Wiesbaden 1975. 68 Vgl. W.-D. Hauschild, Art.: Gnade IV. Dogmengeschichtlich. Alte Kirche bis Reformati‐ onszeit, in: TRE, Bd. 13, Berlin/ New York 1984, 476-495, hier 489; W. Dettloff, Die Lehre von der acceptatio divina bei Johannes Duns Scotus mit besonderer Berücksichtigung der Rechtfertigungslehre, Werl 1954; ders., Die Entwicklung der Akzeptations- und Verdienstlehre von Duns Scotus bis Luther mit besonderer Berücksichtigung der Franziskanertheologie, Münster 1963; V. Leppin, Geglaubte Wahrheit. Das Theologie‐ verständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995. potentia Dei abso‐ luta et ordi‐ nata mittelalter‐ liche Gna‐ denlehre Akzeptati‐ onstheorie Gott nach einer Ordnung, aber sie ist von ihm selbst gesetzt und kann folg‐ lich von ihm jederzeit wieder geändert werden. In diesem Sinne unterschei‐ den sowohl Duns Scotus als auch Wilhelm von Ockham zwischen einer potentia Dei absoluta und einer potentia Dei ordinata. 67 Mit jener Unterschei‐ dung soll zum Ausdruck gebracht werden, dass Gott nach einer von ihm selbst gesetzten Ordnung handelt (ordinata), diese jedoch in seiner Macht steht (absoluta). Die Unterscheidung betont also die Freiheit Gottes in sei‐ nem Handeln. Durch den spätmittelalterlichen Nominalismus wird das Gott-Welt-Ver‐ hältnis neu justiert, so dass von einer gegebenen Ordnung nicht mehr um‐ standslos auf Gott und seine Gesinnung zurückgeschlossen werden kann. Er erscheint dadurch freilich als ein Willkürgott. Denn jetzt kann gesagt werden: was Gott hervorbringt, ist allein aus dem Grund gut, weil es von ihm hervorgebracht wurde. Die Freiheit Gottes und die Kontingenz der Welt werden ins Absolute gesteigert. Durch die Unterstreichung der Freiheit Got‐ tes wird auch die einmal gesetzte Heilsordnung mit ihrem Zentrum in der Offenbarung in Jesus Christus ungewiss. Gott kann jede von ihm gesetzte Heilsordnung jederzeit durch eine andere ersetzen. Das hat Konsequenzen für die Ausgestaltung der Gnadenlehre. Von Duns Scotus wird sie zur Ak‐ zeptationstheorie (acceptatio divina) ausgebaut. 68 Der Mensch, der der Gnade teilhaftig werden will, kann und muss für die spätmittelalterliche Theologie und Frömmigkeit einen Beitrag hierzu leisten. Er disponiert sich selbst für das Heil, da er die Kraft zum facere quod in se est (zu tun, was in ihm ist) hat. Zwar kann der Mensch nicht das Vollverdienst, das meritum de condigno, erreichen, aber soviel in ihm liegt, soll er anstreben. Ein meritum de congruo (Verdienst nach Billigkeit) darf ihm nicht abgesprochen werden. Für die ockhamistische Gnadenlehre kann der Mensch aus eigener Kraft Gott über alles lieben, und auch eine wahre Reue (contritio) im Unterschied zur attritio 36 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="37"?> 69 Vgl. B. Hamm, Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers - ein Beitrag zur Bußgeschichte, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientie‐ rung, Tübingen 2010, 1-24, hier 14. Studium in Erfurt (Zerknirschung, Furchtreue) sei ihm möglich. 69 Gemäß der potentia ordinata müsste der Mensch damit den Lohn der Seligkeit verdienen. Aber Gott ist nicht an den von ihm faktisch gesetzten Heilsweg gebunden. Auch derjenige, der sich nicht ausreichend für den Empfang der Gnade disponiert hat, wie Paulus, als er die Christen verfolgte, kann von Gott bekehrt werden. Gott lässt sich von niemandem zwingen, die Leistung der höchsten Liebe zu ihm auch als ein vollgültiges Verdienst anzuerkennen. Er kann es so halten und das meritum de congruo akzeptieren (acceptatio) und es damit zwar nicht seinem Inhalt, wohl aber seiner Geltung nach verändern, das heißt, zum meritum de condigno machen. Es bleibt jedoch seinem freien Ermessen vor‐ behalten, ob er die Leistungen eines Menschen akzeptiert oder nicht. Durch die spätmittelalterliche Akzeptationslehre und ihre Voraussetzungen in der Freiheit und absoluten Allmacht Gottes kommt eine große Unsicherheit in die Gnadenlehre hinein. Das Heil des Menschen wird ungewiss. Als Luther 1501 an der Erfurter Universität mit dem philosophischen Grundstudium an der Artistenfakultät begann, lernte er den spätmittel‐ alterlichen Nominalismus durch seine beiden Lehrer Jodokus Trutfetter (ca. 1460-1519) und Bartholomäus Arnoldi von Usingen (1462-1532) in einer gemäßigten, durch Gabriel Biel (gegen 1410-1495) vermittelten Form kennen. Für die weitere Entwicklung Luthers ist dieser nominalistische Hintergrund prägend geblieben. So steht die Kritik an der Leistung der Ver‐ nunft, die sich bei ihm durchgehend findet, durchaus in Kontinuität mit dem Nominalismus von Duns Scotus und Ockham. Freilich setzt der Reformator vor diesem Hintergrund völlig neue Akzente, die den spätmittelalterlichen Nominalismus hinter sich lassen. Das philosophische Grundstudium an der Artistenfakultät war im mit‐ telalterlichen Wissenschaftsbetrieb die Voraussetzung für das Studium der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin. Die sieben freien Künste, die septem artes liberales, bildeten die theoretische Grundlage des Studiums an den übrigen Fakultäten. Sie umfassten Grammatik, Logik, Rhetorik, Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie. Nach vier Jahren hatte Luther 1505 das philosophische Grundstudium mit dem Magister Artium als Zweitbester seines Jahrgangs abgeschlossen. Mit dem Erwerb des wis‐ 2.1 Studium und Eintritt ins Kloster 37 <?page no="38"?> 70 Vgl. Leppin, Martin Luther, 28. 71 WA. TR 4, 440, Nr.-4707. 72 Vgl. A. Dörfler-Dierken, Die Verehrung der Heiligen Anna in Spät-Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1992; dies., Luther und die heilige Anna. Zum Gelübde von Stotternheim, in: LuJ 64 (1997), 19-46. 73 Vgl. Leppin, Martin Luther, 31. 74 Vgl. Korsch, Martin Luther. Eine Einführung, Tübingen 2 2007, 25-27. Gewitter bei Stot‐ ternheim mittelalter‐ liche Sakra‐ mentsfröm‐ migkeit senschaftlichen Rüstzeugs konnte das Hauptstudium beginnen. Nach dem Wunsch seines Vaters sollte es Jurisprudenz sein. Im Frühjahr 1505 begann Luther mit dem Studium der Jurisprudenz, und zugleich lehrte er, entsprechend den Gepflogenheiten des damaligen Lehr‐ betriebs, an der Artistenfakultät. In der zweiten Semesterhälfte unterbrach er sein Studium und reiste ins heimische Mansfeld. Der genaue Grund dieser ungewöhnlichen Studienunterbrechung ist nicht mehr erkennbar. Vermutet wird, dass der Vater ihn nach Mansfeld beordert habe, um ihm den Plan einer reichen Heirat zu unterbreiten. 70 Wie auch immer, bekannt ist nur, dass Luther auf der Rückreise von Mansfeld am 2. Juli 1505 bei Stotternheim in ein Gewitter geriet. Ein in seiner Nähe einschlagender Blitz versetzte ihn in Todesangst, und er suchte Hilfe bei einer Heiligen: „Hilff du, S. Anna, ich wil ein monch werden! “ 71 Bereits 15 Tage später, am 17. Juli 1505 geht Luther ins Kloster. Im 21. Jahrhundert mag dieser Schritt befremdlich erscheinen. In ihm spielen spätmittelalterliche Frömmigkeit und individuelle Entwicklung Lu‐ thers ineinander. Der erste Bericht über das Stotternheimer Gewitter mit der Nennung der Heiligen Anna, einer gerade erst in Mode gekommenen Heiligen, stammt aus dem Jahre 1539, also 34 Jahre nach der Begebenheit bei Stotternheim. 72 Das gilt auch für andere autobiographische Rückblicke auf seine frühe Zeit als Mönch und seine eigene Entwicklung. Sie sind deutlich von dem Interesse geprägt, eine kontinuierliche Entwicklung vom Mönch zum Reformator zu gestalten. Konstruktion und historischer Ablauf greifen ununterscheidbar ineinander. 73 Selbstverständlich markiert der Eintritt ins Kloster einen Bruch in der Entwicklung des jungen Luther, freilich einen solchen, der vor dem Hintergrund der damaligen Frömmigkeit verständlich ist. Das Leben des Menschen im späten Mittelalter war von Religion durch‐ drungen. Sie und ihre soziale Institution, die Kirche, prägten und strukturier‐ ten das Leben eines Menschen von seinem Anfang bis zu seinem Ende. Das ist die Funktion der kirchlichen Sakramente. 74 Einige der sieben Sakramente 38 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="39"?> 75 Vgl. Korsch, Martin Luther, 26. Buße, Tod und letztes Gericht beziehen sich direkt auf die entscheidenden Phasen im menschlichen Leben. Das Sakrament der Taufe steht am Anfang des Lebens, die Firmung am Übergang zum Erwachsenenalter, das Sakrament der Eheschließung an ei‐ nem weiteren wichtigen Wendepunkt und schließlich die Krankensalbung am Ende des Lebens. Diese vier Sakramente versehen prägnante Stationen des Lebens mit einer religiösen Deutung und können nur einmal empfangen werden, anders als die drei weiteren Sakramente der Buße, der Eucharistie und der Priesterweihe. Buße und Eucharistie haben ihren Fokus in den Ver‐ werfungen des Lebens und müssen daher wiederholt angeeignet werden können. Mit dem Sakrament der Taufe ist zwar grundsätzlich einem jeden Menschen das Heil eröffnet, aber auf jedem Lebensweg kommt es zu Ab‐ weichungen vom Heil, die eine erneute Heilszuwendung nötig machen. Das geschieht in der Buße, durch die Verfehlungen in der Lebensführung ver‐ geben werden. Durch sie wird der Mensch für die Eucharistie vorbereitet, welche ihm das von Christus erworbene Heil vermittelt. 75 Das Sakrament der Priesterweihe schließlich schafft gewissermaßen die Voraussetzung für den regelgerechten Gebrauch der Sakramente. Es begründet den geistlichen Stand und entspricht dem Ehesakrament, welches dem weltlichen Stand zu‐ geordnet ist. Eine besondere Rolle nimmt in dem sakramentalen System der mittelal‐ terlichen Kirche die Buße ein, in der die Verfehlungen des Menschen zum Thema werden. In ihr geht es um eine sittlich-ethische Selbstprüfung des Menschen und mithin um die Frage, ob der Mensch mit seinem Leben vor Gott bestehen könne. Kann der Mensch nicht bestehen, so muss er fürchten, der ewigen Seligkeit verlustig zu werden. Diese Zuspitzung der religiösen Lebensdeutung steht im Hintergrund von Luthers Gelübde, angesichts des drohenden eigenen Todes Mönch zu werden. Es ist freilich nicht der Tod als solcher, der Luther zu einem Bruch mit seiner bisherigen Existenz führte. Für den mittelalterlichen Menschen stellt der Tod nichts Außergewöhnliches dar, wohl aber der plötzliche Tod, der einen Menschen im Hinblick auf sein ewiges Schicksal unvorbereitet trifft. Mit seiner Erfahrung ist die drohende Alternative von ewiger Seligkeit oder Verdammnis verbunden. Sie lässt aber auch Luthers Entschluss, Mönch zu werden, im spätmittelalterlichen religiösen Kontext verständlich erscheinen. Denn was liegt angesichts der über einem schwebenden Ungewissheit, ob man selbst würdig ist, vor Gott in seinem Gericht bestehen zu können, näher, als ein Leben in dem Stand zu 2.1 Studium und Eintritt ins Kloster 39 <?page no="40"?> 76 Vgl. R. Schwarz, Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, Berlin 1968, 197; Korsch, Martin Luther, 27. 77 Korsch, Martin Luther, 28. 78 Vgl. Leppin, Martin Luther, 34-52; Beutel, Martin Luther, 37-44; Brecht, Martin Luther, Bd.-1, 59-110. 79 Vgl. WA 22, 305 f.; WA 37, 611; WA 38, 143. Kloster und Studium der Theolo‐ gie führen, der stellvertretend für die große Masse den strengen Willen Gottes lebt. 76 So sehr sich Luthers Schritt in den religiösen Welthorizont der Zeit ein‐ fügt, so stellt er dennoch einen Einschnitt in sein bisheriges Leben sowie die Karrierepläne des Vaters für seinen Sohn dar. Inwieweit diese individuelle Konfliktlage in den Schritt des Sohnes von der weltlichen zur klösterlichen Existenz hineinspielt, lässt sich aufgrund der Quellen nicht mehr genauer rekonstruieren. Gleichwohl kann man sagen, dass Luthers Gang ins Kloster als Versuch verstanden werden kann, „durch einen Bruch in der bisherigen Kontinuität des Lebens - und um den Preis eines längeren Zerwürfnisses mit dem Vater - eine höhere Konstanz, nämlich die Beständigkeit des Lebens vor Gott, zu gewinnen“. 77 Luther trat am 17. Juli 1505 in das Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt ein. 78 Warum er dieses Kloster wählte, kann nur noch vermutet werden. In jedem Fall gehörten die Augustiner-Eremiten zu den rigoroseren Orden. Das Leben im Kloster war streng geregelt: Strukturiert durch Stun‐ dengebete verbanden sich Leben und religiöse Reflexion. Seinen eigenen, späteren Selbstzeugnissen zufolge nahm Luther seine monastische Existenz sehr ernst. 79 Im Kloster hat er allerdings sowohl als Mönch als auch in wissenschaftlicher Hinsicht Karriere gemacht. 1506 legte er sein Mönchs‐ gelübde ab. Von der Klosterleitung wurde die intellektuelle Begabung des jungen Mönchs erkannt, und man bestimmte ihn dazu, Priester zu werden und Theologie zu studieren. Am 3. April 1507 wurde er im Erfurter Dom zum Priester geweiht, und am 2. Mai 1507 fand die Primiz, die erste Messe statt. Für das Priesteramt war ein Theologiestudium nicht erforderlich. Erst im Anschluss an die Weihe zum Priester begann Luther mit dem Studium der Theologie in seinem Orden. Seine theologischen Lehrer waren Johannes Natin (gest. 1529), Leonard Heutleb und Georg Lyser. Zur Fortsetzung seiner Studien wurde Luther 1508 von seinem Orden an die Universität Wittenberg geschickt. Am 9. März 1509 erlangte er in Wittenberg den untersten akademischen Grad, den eines Baccalaureus 40 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="41"?> 80 Vgl. WA 9, 29-93. 81 WA 9, 46 = BoA 5, 7. 82 Vgl. Leppin, Martin Luther, 72-89; B. Hamm, Art.: Staupitz, Johann(es) von, in: TRE, Bd. 32, Berlin/ New York 2001, 119-127; ders., Johann von Staupitz (ca. 1468-1524) - spätmittelalterlicher Reformer und ‚Vater‘ der Reformation, in: Archiv für Reformati‐ onsgeschichte 92 (2001), 6-42; M. Wriedt, Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johannes von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991. Professor in Wittenberg biblicus. Mit ihm verband sich für ihn die Aufgabe, die biblischen Bücher auszulegen. Im Herbst des Jahres 1509 begann Luther nun wieder in Erfurt mit der Ausbildung zum Baccalaureus sententiarum. Dieser Grad der akademischen Ausbildung umfasste eine Kommentierung der Sentenzen des Petrus Lom‐ bardus (ca. 1095-1160), des einflussreichsten dogmatischen Lehrbuchs im Mittelalter. Jeder Studierende der Theologie hatte das Werk des Lombarden während seines Studiums kommentierend in einem Zeitraum von zwei Jahren auszulegen. Luther tat es im Studienjahr 1509/ 10. Seine Randbe‐ merkungen, mit denen er sich auf die Vorlesung vorbereitete, sind noch erhalten. 80 Der junge Luther kann hier bereits auf die zentrale Rolle der Heiligen Schrift für die Theologie hinweisen: „Auch wenn viele berühmte Gelehrte so denken, so haben sie dennoch für sich keine Schrift, sondern allein menschliche Vernunftüberlegungen. Ich aber habe für diese Meinung einen Schriftbeleg, dass die Seele das Abbild Gottes sei. Daher sage ich mit dem Apostel: ‚Wenn ein Engel vom Himmel‘, das heißt, ein Gelehrter in der Kirche, ‚anderes gelehrt hat, sei er verworfen‘.“ 81 Allerdings wird man solche Aussagen auch nicht überbewerten können. Sie stehen vollständig im Kontext der zeitgenössischen spätmittelalterlichen Theologie. Luther ist hier noch von der Übereinstimmung von Schrift und Kirchenlehre überzeugt. Am 18./ 19. Oktober 1512 wurde Luther in Wittenberg unter dem Vorsitz von Andreas Bodenstein aus Karlstadt (1486-1541) zum Doktor der Theo‐ logie promoviert und erhielt den höchsten akademischen Titel. Noch im selben Jahr ist er Nachfolger seines Ordensoberen Johannes von Staupitz auf dessen Wittenberger Professur für Theologie geworden. Staupitz spielte, wie von der Forschung seit einigen Jahren betont wird, für den Werdegang des jungen Luther eine entscheidende Rolle. 82 Als Beichtvater Luthers wies er den mit Anfechtungen ringenden jungen Mönch auf ein Verständnis Christi als barmherzigen Retter hin. Dass Luther sein vormaliges Bild von dem 2.1 Studium und Eintritt ins Kloster 41 <?page no="42"?> 83 Vgl. WA 1, 525-527. 84 Vgl. V. Leppin, Mystik, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 57-61. 85 Vgl. Dingel/ Wartenberg (Hrsg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602; Leppin, Martin Luther, 62-66; Brecht, Martin Luther, Bd.-1, 111-125. strengen, unnachgiebigen Richter Christus überwinden konnte, ein daraus resultierendes neues Bußverständnis gewann 83 sowie die Bekanntschaft mit der Mystik machte, 84 verdankt er vor allem seinem Wittenberger Beichtva‐ ter. Die Wittenberger Universität wurde erst im Jahre 1502 gegründet und ist eine ganz persönliche Schöpfung von Friedrich dem Weisen (1463-1525). 85 Der Gründung diente die Tübinger Universität als Muster, und Staupitz war neben Georg Spalatin (1484-1545), dem kursächsischen Hofkaplan und Prinzenerzieher, einer der Hauptberater des sächsischen Kurfürsten. Zwei Wittenberger Bettelorden waren jeweils mit der Wahrnehmung einer theologischen Professur betraut. Staupitz hatte für die Augustiner-Eremiten eine der theologischen Professuren inne, und er, der Luthers Begabung frühzeitig erkannte, baute ihn als seinen Nachfolger auf. 1513 nahm Luther seine Vorlesungstätigkeit auf, und sie galt einem Thema, das ihm durch seine monastische Prägung überaus vertraut war: dem Psalter. Luther hatte somit zwar nicht, wie es sein Vater wollte, als Jurist Karriere gemacht, wohl aber als Mönch und als Wissenschaftler. 2.2 Der Streit um die Datierung des reformatorischen Durchbruchs Die Forschung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war infolge neuer Quellen mehrheitlich zu der Auffassung gelangt, dass Luther bereits in seiner ersten Psalmenvorlesung von 1513 bis 1515 ein Verständnis der Gerechtigkeit Gottes gewonnen hatte, welches sich von der überlieferten Lehrtradition grundlegend unterschied. Einer Frühdatierung der reforma‐ torischen Erkenntnis hatte Ernst Bizer in seinem Buch Fides ex auditu von 1958 energisch widersprochen. Er war der Meinung, Luther sei erst 1518 oder gar 1519 zu seiner neuen Einsicht gekommen. Die Debatte darüber, ob Luther bereits in den Dictata super Psalterium oder erst nach 1518 seine grundlegende Entdeckung gemacht habe, hat die Lutherforschung seit den 1960er Jahren bis in unsere Gegenwart in Atem gehalten. Sie hängt freilich in einem starken Maße davon ab, was man genau unter 42 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="43"?> 86 Vgl. B. Lohse (Hrsg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968; ders. (Hrsg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart 1988; Leppin, Martin Luther, 106-117. 87 Vgl. WA 54, 179-187. 88 Vgl. WA 44, 716. 89 Vgl. WA. TR 3, 228, Nr. 3232b. Vgl. O. Scheel (Hrsg.), Dokumente zu Luthers Entwick‐ lung, Tübingen 2 1929. 90 Vgl. WA 1, 525-527. Quellen‐ texte großes Selbstzeug‐ nis der reformatorischen Erkenntnis versteht. Im Folgenden werden die in der Diskussion vorgebrachten Argumente sowie die Hauptpositionen kurz vorgestellt. 86 Bei einer genaueren Betrachtung der Kontroverse zeigt sich allerdings, dass sie der komplexen Entwicklung des Reformators zwischen 1510 und 1520 nicht gerecht wird. Luther hat an verschiedenen Stellen seines Werks im Rückblick auf seine biographische Entwicklung sowie auf seine reformatorische Entdeckung Bezug genommen: (1.) in der Vorrede zum ersten Band seiner lateinischen Schriften von 1545, 87 (2.) in der späten Genesisvorlesung 88 und (3.) in zahlreichen späteren Tischgesprächen. 89 Hinzu kommt (4.) als ein bedeu‐ tender früher Beleg sein Widmungsschreiben an Johannes von Staupitz zu den Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute vom 30. Mai 1518. 90 Das wichtigste Dokument stellt ohne Frage seine Vorrede von 1545 dar, das große Selbstzeugnis, und es steht denn auch aus naheliegenden Gründen im Zentrum der Debatten über die Früh- oder Spätdatierung der sogenannten reformatorischen Wende. Luther berichtet in ihr über seinen eigenen Werdegang. „Inzwischen war ich in diesem Jahr [1518] wieder zum Psalter zurückgekehrt, um ihn erneut auszulegen - in der Hoffnung, geübter zu sein, nachdem ich die Briefe des Paulus an die Römer, die Galater und den, der an die Hebräer [geschrieben] ist, in Vorlesungen behandelt hatte. Gewiss war ich damals von einem brennenden Verlangen gepackt worden, Paulus im Römerbrief zu verstehen. Aber nicht Kaltherzigkeit hatte dem bis dahin im Wege gestanden, sondern eine einzige Wortverbindung in Röm 1: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart.‘ [Röm 1,17] Ich hasste nämlich diese Wortverbindung ‚Gerechtigkeit Gottes‘, die ich nach der üblichen Verwendung bei allen Lehrern gelehrt war philosophisch zu verstehen als die (wie sie sie bezeichnen) formale beziehungsweise aktive Gerechtigkeit, auf Grund derer Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft. 2.2 Der Streit um die Datierung des reformatorischen Durchbruchs 43 <?page no="44"?> 91 Lat.-dt. StA 2, 505. 507 = WA 54, 185f. frühe Vorle‐ sungen Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch lebte, mich vor Gott als Sünder mit ganz unruhigem Gewissen fühlte und nicht darauf vertraun konnte, durch mein Genugtun versöhnt zu sein, liebte Gott nicht, ja, ich hasste vielmehr den gerechten und die Sünder strafenden Gott und empörte mich im Stillen gegen Gott, wenn nicht mit Lästerung, so doch mit ungeheurem Murren und sagte: Als ob es nicht genug sei, dass die elenden und durch die Ursünde auf ewig verlorenen Sünder durch jede Art von Unheil niedergedrückt sind durch das Gesetz der Zehn Gebote, vielmehr Gott nun auch durch das Evangelium noch Schmerz zum Schmerz hinzufügt und uns mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn zusetzt! So wütete ich mit wildem und verwirrtem Gewissen. Dennoch klopfte ich ungestüm an dieser Stelle bei Paulus [Röm 1,17] an, verschmachtend vor Durst herauszubekommen, was der Heilige Paulus wolle. Bis ich, durch Gottes Erbarmen, Tage und Nächte darüber nachsinnend meine Aufmerksamkeit auf die Verbindung der Wörter richtete, nämlich: ‚Die Gerech‐ tigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben.‘ Da begann ich, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als diejenige, durch die der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich durch den Glauben, und dass dies der Sinn sei: Durch das Evangelium werde die Gerechtigkeit Gottes offenbart, und zwar die passive, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus Glauben.‘ Hier fühlte ich mich völlig neugeboren und durch geöffnete Tore in das Paradies eingetreten zu sein. Da zeigte sich mir sogleich ein anderes Gesicht der ganzen Schrift. Ich ging danach durch die ganze Schrift nach dem Gedächtnis und sammelte auch in anderen Wortverbindungen eine Entsprechung, etwa Werk Gottes, das heißt, was Gott in uns wirkt, Kraft Gottes, mit der er uns kräftig macht, Weisheit Gottes, mit der er uns weise macht, Stärke Gottes, Heil Gottes, Herrlichkeit Gottes.“ 91 Soweit Luthers großes Selbstzeugnis über seine reformatorische Entde‐ ckung. An dem im zeitlichen Abstand von 26 Jahren geschriebenen Bericht fallen zwei Dinge auf. Zunächst: Seine alles entscheidende Erkenntnis habe er sich kurz vor dem Beginn der zweiten Psalmenvorlesung errungen, und zwar nachdem er über den Römerbrief sowie den Galater- und Hebräerbrief des Apostels Paulus gelesen habe. Im Herbst 1512 übernahm Luther von seinem Förderer Staupitz dessen Wittenberger Professur und las im Sommer 1513 seine erste Vorlesung über die Psalmen, Dictata super Psalterium. Diese 44 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="45"?> 92 Vgl. BoA 5, 40. Vgl. auch Leppin, Martin Luther, 67f. 93 Vgl. WA 3; WA 4; WA 55 (1-2). 94 Vgl. WA 56. 95 Vgl. WA 57 (2), 5-49. 53-108. 96 Vgl. WA 57 (3), 5-91. 97-238. 97 Vgl. WA 2. Gerechtig‐ keit Gottes endete wahrscheinlich im Frühjahr oder Herbst 1515. Das genaue Datum ist in der Forschung strittig. 92 Entweder im Frühjahr oder im Herbst 1515 be‐ gann Luther mit seiner Vorlesung über den Römerbrief des Apostels Pau‐ lus, die mit dem Sommersemester 1516, wahrscheinlich im September en‐ dete. Vom 27. Oktober 1516 bis zum 13. März 1517 las er über den Galaterbrief des Apostels Paulus und von Ostern 1517 bis Ostern 1518, wahrscheinlich vom 21. April 1517 bis 26. März 1518, traktierte Luther den Hebräerbrief, den er ebenfalls für paulinisch hielt. Im Herbst 1518 wendete er sich dann mit den Operationes in Psalmos erneut dem Psalter zu. Seine zweite Psalmen‐ vorlesung hat Luther situationsbedingt mehrfach unterbrechen müssen und bei Psalm 22 schließlich ganz abgebrochen, da er zum Reichstag nach Worms musste. Erst auf der Wartburg hat er die Auslegung von Psalm 22 beenden können. Der weitere Vorlesungstext ist dann bis 1521 in Einzellieferungen im Druck erschienen. Vorlesungen Luthers: 1513-1515 Dictata super Psalterium 93 1515-1516 Römerbriefvorlesung 94 1516-1517 Galaterbriefvorlesung 95 1517-1518 Hebräerbriefvorlesung 96 1518-1521 Operationes in Psalmos 97 Hält man sich diesen chronologischen Rahmen vor Augen, dann scheint Luther in seinem Selbstzeugnis sagen zu wollen, dass er seine reformatori‐ sche Entdeckung im Jahre 1518 gemacht habe. Worin sie bestand, ist der zweite hier zu nennende Aspekt: nämlich in einem neuen Verständnis der Gerechtigkeit Gottes. Auch hierüber erklärt sich Luther in dem vorliegenden Text. Aufgrund seiner theologischen Aus‐ bildung, so schildert er es, war er gewohnt, die iustitia Dei im Sinne der formalen oder aktiven Gerechtigkeit zu verstehen. Dieses Verständnis der Gerechtigkeit Gottes habe ihn dazu geführt, dass er das Wort hasste und im 2.2 Der Streit um die Datierung des reformatorischen Durchbruchs 45 <?page no="46"?> 98 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg. v. G. Bien, Hamburg 4 1985, 100-129. 99 Vgl. Korsch, Martin Luther, 51. iustitia ac‐ tiva iustitia pas‐ siva Gewissen verzweifelte. Was ist mit dieser formalen Gerechtigkeit, der ius‐ titia activa, gemeint? Die Konzeption einer formalen Gerechtigkeit geht auf Aristoteles (384-322 v. Chr.) zurück und meint eine distributive oder aus‐ teilende Gerechtigkeit: Jeder hat einen Anspruch auf einen richtigen Aus‐ gleich an dem Gesamtbestandteil der Güter. 98 Wer nur immer tut, was von ihm gefordert ist, erhält entsprechend dem Guten, was er bewirkt hat, einen gerechten Ausgleich. Wendet man dieses Gerechtigkeitsmodell auf das Gott-Mensch-Verhältnis an, wie es die mittelalterliche Theologie getan hat, dann zeigt sich sofort ein Problem: Auch wenn der Mensch das Gute tut, wozu er gefordert ist, so fängt er doch aufgrund der Erbsünde immer beim Bösen an. 99 Wenn aber Gott allwissend und gerecht ist, dann kann er diesen Umstand nicht über‐ sehen. Durch das Handeln des Menschen kann es also zu einem Ausgleich zwischen ihm und Gott nicht kommen. Es sei denn, Gott verzichtet auf seine Gerechtigkeit. Aber auch wenn man das konzedieren wollte, es steht im Widerspruch zum Gottesbegriff, so kann der Mensch doch nie sicher sein, ob Gott in seinem Fall auf seine Gerechtigkeitsforderung verzichtet. Er muss folglich immer damit rechnen, dass Gott den Sünder entsprechend seiner Gerechtigkeit richtet. Wird die iustitia Dei nach dem Modell der aktiven Gerechtigkeit verstanden, dann kann der Mensch nicht wissen, ob er wirklich genug getan hat, um im Gericht bestehen zu können. Denn die leiseste böse Regung im Herzen würde der iustitia activa zufolge bedeuten, dass der Mensch zwar äußerlich etwas Gutes getan hat, aber seine innere Gesinnung nicht gut war. Und da Gott in das Herz des Menschen blickt, kann ihm die böse Gesinnung nicht entgehen. Eine Gewissheit über das eigene Heil stellt sich so nicht ein. Luthers reformatorische Erkenntnis besteht seinem Selbstzeugnis zufolge in einem neuen Verständnis der iustitia Dei: sie ist nicht nach dem Modell ei‐ nes Ausgleichs zwischen Gott und Mensch durch das Handeln des Menschen zu verstehen, sondern als Geschenk Gottes. Gott gibt dem Menschen seine Gerechtigkeit, ohne etwas von ihm zu fordern. Die Gerechtigkeit Gottes versteht Luther also nicht als eine göttliche Eigenschaft, sondern er bezieht sie auf den Glauben. Mit dem neuen Verständnis der iustitia Dei ändert sich gegenüber der mittelalterlichen Theologie die Stellung und der Sinn des 46 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="47"?> 100 Vgl. B. Hamm, Warum wurde für Luther der Glaube zum Zentralbegriff des christlichen Lebens? , in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübin‐ gen 2010, 65-89. 101 Vgl. WA 18, 768 f. Vgl. hierzu E. Hirsch, Initium theologiae Lutheri, in: ders., Lutherstu‐ dien, Bd.-2, Waltrop 1998, 9-35, hier 15f. 102 BoA 5, 105 = WA 3, 174. 103 LD 1, 44; vgl. WA 56, 171-173. 104 Hirsch, Initium theologiae Lutheri, 28. 105 Vgl. K. Holl, Der Neubau der Sittlichkeit, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchen‐ geschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 1921. 6 1932, 155-287; Hirsch, Initium theologiae iustitia Dei in den frü‐ hen Vorle‐ sungen Glaubensbegriffs. 100 Er wird zu einem religiösen Grundbegriff. In seinem späten Rückblick bezeichnet Luther sein neu errungenes Verständnis der Gerechtigkeit Gottes im Unterschied zur aktiven Gerechtigkeit mit einem Terminus, der in seinen Texten allerdings erst 1525 auftaucht, als iustitia passiva (passive Gerechtigkeit). 101 Geht man nun allerdings von der Deutung des reformatorischen Durch‐ bruchs durch den alten Luther aus und versucht, ihn an den Quellen aus dem zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts zu überprüfen, dann stößt man aller von ihm vorgenommenen chronologischen Zuordnungen ungeachtet auf große Schwierigkeiten. Zunächst findet sich das von ihm in dem großen Selbstzeugnis angeführte Verständnis der iustitia Dei als einer schenkenden Gerechtigkeit bereits in der ersten Psalmenvorlesung. Ab der Auslegung von Psalm 32 begegnet man ersten Anklängen eines Verständnisses der iustitia Dei in dem Sinn, wie es Luther 1545 ausgeführt hat. Zu Röm 1,17 notiert er in den Dictata super Psalterium: „Item ‚Iustitia dei revelatur in eo &c.‘ Sensus est: Nullus hominum scivit, quod ira dei esset super omnes et quod omnes essent in peccatis coram eo, sed per Euangelium suum ipse de coelo revela‐ vit et quomodo ab ista ira salvi fieremus, et per quam iustitiam liberaremur, scili‐ cet per Christum.“ 102 „Ebenso Röm. 1,17 ‚Darin wird offen‐ bart die Gerechtigkeit usw.‘. Das bedeu‐ tet: Kein Mensch hat gewußt, daß der Zorn Gottes auf allen lag und daß alle vor ihm in Sünden waren, aber durch sein Evangelium hat er das selbst vom Himmel offenbart und (auch) wie wir von diesem Zorn gerettet würden und durch welche Gerechtigkeit wir befreit würden, nämlich durch Christus.“ 103 An solchen Stellen, die, wie Emanuel Hirsch schreibt, den „erste[n] schüch‐ terne[n] Versuch“ darstellen, „die persönlich errungene Auslegung von Röm 1,17 andern lehrend mitzuteilen“, 104 haben die Behauptungen einer zeitlich sehr früh anzusetzenden reformatorischen Entdeckung ihren Anhalt. 105 2.2 Der Streit um die Datierung des reformatorischen Durchbruchs 47 <?page no="48"?> Lutheri, 9-35; H. Bornkamm, Luthers Bericht über seine Entdeckung der iustitia dei, in: ARG 37 (1940), 117-128. 106 Vgl. Holl, Der Neubau der Sittlichkeit, 193-197; B. Hamm, Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 25-64; R. Seeberg, Die Lehre Luthers (= Lehrbuch der Dogmengeschichte Bd. IV/ 1), Leipzig 3 1917, 68f. 107 Vgl. Bizer, Fides ex auditu. 108 Bizer, Fides ex auditu, 7; vgl. auch 154-160. 109 Vgl. Bizer, Fides ex auditu, 21 f. 40 u. ö.; vgl. auch Brecht, Martin Luther, Bd. 1, 215-230; Bayer, Promissio. Ernst Bizers Kritik an der Frühda‐ tierung Luther wäre dann bereits im Herbst des Jahres 1514 zu einem neuen Verständnis der iustitia Dei gelangt. Karl Holl, der als erster ausgiebig die frühen Vorlesungen Luthers ausgewertet hat, war gar der Meinung, der Reformator sei zu seinem neuen Verständnis der iustitia Dei im Sinne einer geschenkten Gerechtigkeit schon vor der ersten Psalmenvorlesung gelangt, nämlich zwischen Sommer 1511 und Frühjahr 1513. 106 Der Frühdatierung hat Bizer widersprochen. 107 Er belegt seine These der Spätdatierung nicht nur durch Stellen aus dem Werk Luthers nach 1514, in denen die iustitia Dei nicht als Gabe Gottes verstanden wird, Bizer hat auch den Inhalt der reformatorischen Erkenntnis anders bestimmt, als es bis dahin geschehen war. Für ihn geht es bei Luthers grundlegender Einsicht - im Gegensatz zu dessen eigener Selbstdeutung - nicht um ein neues Verständnis von Röm 1,17, sondern um das Wort Gottes als Heilsmittel. Das „‚Erlebnis‘ [ist] auf das Frühjahr oder den Sommer 1518 anzusetzen“, und die Entdeckung besteht darin, „daß Luther das Wort als das Gnadenmittel entdeckt hat“. 108 Luthers Gebrauch von iustitia Dei vor 1518, also auch da, wo er von der Gerechtigkeit Gottes als einer Gabe spricht, stehe noch ganz im Banne einer monastischen Humilitasfrömmigkeit, welche als vorreformatorisch einzustufen sei. 109 Die Diskussion um Früh- oder Spätdatierung hat zu keinem Konsens in der Forschung geführt. Sie konnte es aus mehreren Gründen auch nicht. In der Debatte wurde der Durchbruch als ein einmaliger Akt im Sinne eines pietistischen Bekehrungserlebnisses verstanden. Dadurch wird jedoch nicht nur ein äußerst voraussetzungsreiches Verstehensmodell an Luthers Werdegang herangetragen, nämlich das pietistische Modell der echten Konversion, von der man genau angeben kann, wann und wo sie stattgefunden hat, sondern auch die Komplexität von Luthers theologischer Entwicklung wird auf eine Fragestellung und einen Zeitpunkt reduziert. 48 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="49"?> 110 Vgl. Leppin, Martin Luther, 109 f.; Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, 106f. 111 Vgl. H.A. Oberman, „Iustitia Christi“ und „Iustitia Dei“. Luther und die scholastische Lehre von der Rechtfertigung, in: B. Lohse (Hrsg.), Der Durchbruch der reformatori‐ schen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968, 413-444. 112 Lat.-dt. StA 2, 18 = WA 1, 525. 113 Lat.-dt. StA 2, 19. Widmungs‐ schreiben an Staupitz Sodann muss man sagen, dass Luthers großes Selbstzeugnis gar nicht die Absicht hat, einen bestimmten Zeitpunkt zu benennen. Hierfür sprechen bestimmte grammatikalische Probleme in dem Text, 110 aber vor allem dessen Intention. Er soll in die lateinischen Werke des Reformators einführen. An Luthers Darstellung seines Werdegangs in dem Rückblick von 1545 fällt auf, dass er seine eigene Entwicklung in einem bestimmten Interesse konstruiert und unter Aufnahme von Traditionen stilisiert. Es gab nicht nur im Mittelalter eine sogenannte Turmerlebnis-Tradition, 111 sondern mit Paulus und Augustin in der Christenheit eine lange Tradition von geprägten Konversionsmustern. Luther bedient sich im großen Selbstzeugnis solcher Traditionen, um seinen Werdegang zum Reformator mit erst sehr viel später gewonnenen Kategorien zu deuten. Das zeitlich am nächsten an die von Luther in seinem späten Selbstzeugnis berichteten Ereignisse heranreichende Dokument ist sein Widmungsschrei‐ ben an Staupitz vom Frühjahr 1518. Hier formuliert er mit ähnlichen Worten und Wendungen wie 1545 seine neue Entdeckung. „Haesit hoc verbum tuum in me, sicut sagitta potentis acuta, coepique deinceps cum scripturis, poenitentiam docentibus, conferre, Et ecce iucundis‐ simum ludum, verba undique mihi col‐ ludebant, planeque huic sententiae arri‐ debant et assultabant, ita, ut cum prius non fuerit ferme in scriptura tota, ama‐ rius mihi verbum, quam poenitentia (li‐ cet sedulo etiam coram deo, simularem, et fictum coactumque amorem expri‐ mere conarer) Nunc nihil dulcius aut gratius mihi sonet, quam poenitentia.“ 112 „Dieses dein Wort haftete in mir wie der scharfe Pfeil eines Starken, und ich fing danach an, es mit den Schriften derer zu vergleichen, die die Buße lehren. Und siehe - ein überaus erfreuliches Spiel! Von allen Seiten spielten die Worte mit mir zusammen, schlossen sich dieser Meinung an und traten ihr bei, derart, dass, wo zuvor in der ganzen Schrift kaum ein bittereres Wort als Buße für mich gewesen war (obwohl ich mich vorsätzlich auch vor Gott anders stellte und eine erdichtete und erzwungene Liebe zum Ausdruck zu bringen suchte), für mich jetzt nichts süßer und ange‐ nehmer klingt als Buße.“ 113 2.2 Der Streit um die Datierung des reformatorischen Durchbruchs 49 <?page no="50"?> 114 Vgl. Hamm, Naher Zorn und nahe Gnade, 26-31; Leppin, Martin Luther, 107-117. 115 Vgl. WA 1, 233-238. 116 Vgl. WA 1, 353-374. Vgl. Leppin, Martin Luther, 126-135; J.E. Vercruysse, Gesetz und Liebe. Die Struktur der „Heidelberger Disputation“ Luthers (1518), in: LuJ 48 (1981), 7-53; K.-H. zur Mühlen, Luthers Kritik am scholastischen Aristotelismus in der 25. These der „Heidelberger Disputation“ von 1518, in: LuJ 48 (1981), 54-79. kirchenge‐ schichtli‐ cher Rah‐ men Mit der neuen Entdeckung ist an dieser Stelle allerdings nicht die iustitia Dei gemeint, sondern die Buße. Der Reformator fasst in dem Widmungsschrei‐ ben an seinen Beichtvater wesentliche Aspekte seines Neuverständnisses des Bußsakraments zusammen, welches er sich seit der ersten Psalmenvorle‐ sung erarbeitet hatte. Insofern unterstreicht gerade dieses frühe Zeugnis die Komplexität von Luthers theologischer Entwicklung und die Facettenbreite, in der sie sich begrifflichen Ausdruck verschafft. 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen Luthers Entwicklung zum Reformator lässt sich weder auf einen zeitlich fixierbaren Durchbruch noch auf eine bestimmte Aussageintention bezie‐ hungsweise eine theologisch maßgebliche Formulierung reduzieren. Sein Denken formiert sich vielmehr in den zeitgenössischen Debattenkontexten von Kloster und Universität in Erfurt und Wittenberg in einem mehrere Jahre umfassenden Prozess. 114 Wichtige Grundlinien und Themen von Lu‐ thers theologischer Entwicklung sind nun in den Blick zu nehmen: zunächst die Herausbildung seines Schriftverständnisses, sodann seine Kritik an dem spätmittelalterlichen Bußsakrament und schließlich sein Verständnis der iustitia Dei sowie deren konstitutive Aufbauelemente. Der ‚äußere Durchbruch‘ der Reformation, also die Versendung der 95 Thesen Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum 115 am 31. Oktober 1517 an den Erzbischof Albrecht von Brandenburg (1490-1545), fällt in die Zeit der Hebräerbriefvorlesung. Im Anschluss an diese Vorlesung, die am 26. März 1518 endete, reiste Luther nach Heidelberg, wo er am 25. oder 26. April 1518 vor dem Ordenskapitel der Augustiner-Eremiten 40 Thesen verteidigte, die sich vehement gegen die scholastische Theologie wendeten. 116 Seine Ab- 50 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="51"?> 117 Vgl. T. Kaufmann, Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen, Tübingen 2019. 118 Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd.-1, 198-215. 119 Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd.-1, 232-237. 120 Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd. 1, 237-255; B. Lohse, Cajetan und Luther. Zur Begegnung von Thomismus und Reformation, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 44-63. 121 Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd.-1, 255-263. 122 Vgl. WA 59, 427-605. Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd. 1, 285-332; Leppin, Martin Luther, 144-151; Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, 134-143; A. Schubert, Libertas Disputandi. Luther Leipziger Disputation lassthesen fanden - bedingt durch den Buchdruck auf der einen 117 und eine ablasskritische Zeitstimmung auf der anderen Seite - eine rasche Verbrei‐ tung. Bereits Ende 1517 lagen Drucke in Leipzig, Nürnberg und Basel vor. Im Januar 1518 verteidigte Johannes Tetzel (1460-1519) auf der Versammlung der sächsischen Dominikanerprovinz in Frankfurt an der Oder 95 bezie‐ hungsweise 106 Thesen, die von seinem Ordensbruder Konrad Wimpina (1460-1531) verfasst wurden. Der Tenor der Gegenthesen von Wimpina und Tetzel zielte darauf, Luther als Ketzer bloßzustellen. 118 Der Ablassstreit, der sich an einem marginalen theologischen Thema entzündete, brachte eine Lawine ins Rollen, die Luther wohl selbst überrascht hat. Im Frühsommer des Jahres 1518 leitete die römische Kurie Voruntersuchungen gegen ihn ein. 119 Allerdings spielte die politische Lage für den Wittenberger, da sein Kurfürst Friedrich III., der zu den wichtigsten Kurfürsten im Deutschen Reich gehörte, seine schützende Hand über ihn hielt. Friedrich der Weise erwirkte, dass Luther in Deutschland verhört wurde und nicht, wie die Kurie wollte, in Rom. Im Oktober 1518 kam es nach Beendigung des Reichstags in Augsburg zum Verhör Luthers durch Kardinal Thomas Cajetan (1469- 1534). 120 Cajetan sollte nicht mit dem widerspenstigen Wittenberger Mönch disputieren, sondern ihn zum Widerruf bewegen. Der beharrte jedoch darauf, er könne nur dann widerrufen, wenn er aus der Schrift widerlegt werde. Auch weitere Versuche der Kurie, Luther zum Einlenken zu bewegen, etwa die Mission von Karl von Miltitz (1490-1529), blieben erfolglos. 121 In Leipzig kam es vom 4. bis 14. Juli 1519 zur Konfrontation mit dem Ingolstädter Theologen Johannes Eck (1486-1543). Die Leipziger Disputa‐ tion führte zu einer weiteren Eskalation des Streits, da nun die Stellung des Papstes in den Fokus der Auseinandersetzung um Luther rückte. 122 Mit der 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 51 <?page no="52"?> und die Leipziger Disputation als akademisches Streitgespräch, in: ZThK 105 (2008), 411-442. 123 Beutel, Martin Luther, 81. 124 Vgl. WA 7, 94-151. 125 Lat.-dt. StA 1, 79. 81 = WA 7, 97. Wahl Karls V. (1500-1558) zum deutschen Kaiser im Jahre 1519 musste die Kurie schließlich keine Rücksicht mehr auf Friedrich den Weisen nehmen, so dass der Prozess gegen Luther nun wieder Schwung aufnahm. Allerdings war es bereits zu spät, um die Reformation einzudämmen. Am 15. Juni 1520 erreichte den Wittenberger Augustiner-Eremiten die Bannandrohungsbulle, die im Oktober rechtskräftig wurde. Luther verbrannte sie am 10. Dezember 1520 vor dem Elstertor zu Wittenberg zusammen mit den „gottlose[n] Bü‐ cher[n] des päpstlichen Rechts“. 123 Am 3. Januar 1521 schließlich wurden er und seine Anhänger mit der päpstlichen Bulle Decret Romanum Pontificem definitiv exkommuniziert. 2.3.1 Die Kritik an der überlieferten Schriftlehre Im Zentrum der Theologie Martin Luthers steht die Heilige Schrift. Prägnant formuliert er deren systematische Bedeutung 1520 in seiner Assertio omnium articulorum: 124 „Man muss nämlich hier mit der Schrift als Richter ein Urteil fällen, was [aber] nicht geschehen kann, wenn wir nicht der Schrift in allen Dingen, die den Vätern beigelegt werden, den ersten Rang einräumen. Das heißt, dass sie durch sich selbst ganz gewiss ist, ganz leicht zugänglich, ganz verständlich, ihr eigener Ausleger [sui ipsius interpres] alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend“. 125 Das Wort Gottes ist die einzige Norm und Grundlage theologischer Aussa‐ gen. Die alles beherrschende Stellung der Heiligen Schrift für die Theologie ist freilich erst das Resultat sowohl von Luthers theologischer Entwicklung als auch - damit verbunden - seiner Auseinandersetzung mit der römischen Kurie. Je mehr sich der Konflikt mit Rom zuspitzte, umso mehr unterstreicht er die alleinige Prinzipienfunktion der Bibel für Theologie und Kirche. Schrift und mittelalterliche Kirche treten für den Reformator nach 1517/ 18 auseinander. Die Bibel wird nun der Kirche und ihrem Lehramt vor- und übergeordnet. Freilich ist auch die mittelalterliche Theologie an der Schrift orientiert: Theologie ist sowohl für die Scholastik als auch für Luther Auslegung vorge‐ 52 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="53"?> 126 Vgl. U. Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, in: NZSTh 34 (1992), 269-291, hier 276. 127 BoA 5, 7 = WA 9, 46. 128 BoA 5, 46-48 = WA 3, 12 f. Vgl. Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 276; Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, 219-226. 129 Vgl. E. v. Dobschütz, Vom vierfachen Schriftsinn. Die Geschichte einer Theorie, in: Harnack-Ehrung. Beiträge zur Kirchengeschichte ihrem Lehrer Adolf von Harnack zu seinem siebzigsten Geburtstag (7. Mai 1921) dargebracht von einer Reihe seiner Schüler, Leipzig 1921, 1-13. Lehre vom vierfachen Schriftsinn Kommen‐ tierungs‐ verfahren gebener autoritativer Lehrgrundlagen. 126 Bereits der junge Luther hatte sich in seinen Erfurter Vorlesungen über die Sentenzen des Lombarden auf eine Vorrangstellung der scriptura vor den „humanas rationes“ 127 berufen. Als er im Sommer 1513 seine Vorlesung über die Psalmen beginnt, orientiert er sich noch ganz an der mittelalterlichen Auslegungstradition. Im Folgenden ist Luthers Aufnahme und Umformung der Lehre vom vierfachen Schrift‐ sinn und die Herausbildung seines eigenen Schriftverständnisses sowie das damit zusammenhängende Reformprogramm des Theologiestudiums darzustellen. 2.3.1.1 Die Umbildung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn in Luthers frühen Vorlesungen Luther eröffnete 1513 seine Vorlesung über den Psalter mit einer förmlichen „PRAEFATIO IHESU CHRISTI“, in der er seinen Studenten das Schema des vierfachen Schriftsinnes erörterte. 128 Im Anschluss an Johannes Cassia‐ nus (gest. um 430) unterschied die mittelalterliche Auslegungstradition zwischen einem Literalsinn (wörtliche Bedeutung), einem allegorischen (dogmatischer Sinn, der sich auf die Glaubenden bezieht), einem tropologi‐ schen (moralischer Sinn) und einem anagogischen Sinn (eschatologische Dimension) des Bibeltextes. 129 „Littera gesta docet, quid credas alle‐ goria. Moralis quid agas, quod tendas anagogia.“ „Der Buchstabe lehrt, was geschehen ist; die Allegorie, was zu glauben ist; der moralische Schriftsinn, was zu tun ist; der anagogische, was zu hoffen ist.“ Während seiner ersten Psalmenvorlesung war Luther nicht nur das über‐ lieferte hermeneutische Verfahren der Interpretation des biblischen Textes selbstverständlich, sondern auch das der Kommentierung. In sein eigenes 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 53 <?page no="54"?> 130 Vgl. Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, 222; ders., Luthers Auslegung des 14. (15.) Psalms in der ersten Psalmenvorlesung im Vergleich mit der exegetischen Tradition, 132-195. 131 Vgl. Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 276; Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, 177. 132 Vgl. WA 3, 464-486. Vgl. B. Lohse, Luthers Auslegung von Psalm 71 (72), Vers 1 und 2 in der ersten Psalmenvorlesung, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 31-43. christologi‐ sche Deu‐ tung der Psalmen Exemplar des Psalterdrucks, der als Wolfenbütteler Psalter erhalten ist, hat er handgeschriebene Interlinearglossen und Marginalglossen zwischen die Zeilen des Bibeltextes beziehungsweise an dessen Rand gesetzt und sie dann den Studenten in der Vorlesung diktiert. Neben den längeren oder kürzeren Glossen verwendet er Scholien, also längere Kommentarstücke zu einem oder mehreren Versen beziehungsweise Teilversen. Auch die Scholien von Luthers erster Vorlesung sind als Dresdner Scholien-Handschrift überliefert. Erst in der zweiten Psalmenvorlesung hat er das Interpretationsverfahren mit Interlinear-, Marginalglosse und Scholien aufgegeben und durch eine fortlaufende Kommentierung des Textes ersetzt. Bei der Exegese der Psalmen verwendet Luther die neuesten wissen‐ schaftlichen Hilfsmittel seiner Zeit: das Lehrbuch und Lexikon der he‐ bräischen Sprache von Johannes Reuchlin (1455-1522) mit dem Titel De rudimentis Hebraicis, sodann das Psalterium quincuplex des französischen Humanisten Jacobus Faber Stapulensis (1450/ 1455-1536). In der Römerbrief‐ vorlesung legt er ab der Auslegung des 9. Kapitels das von Erasmus von Rotterdam (1466/ 1469-1536) im Frühjahr 1516 in Basel edierte griechische Neue Testament - Novum Instrumentum omne - zugrunde. Mit der mittelalterlichen Lehr- und Frömmigkeitstradition versteht der junge Professor die Psalmen christologisch. Sie sind schon dem wörtlichen Textsinn nach als Gebete Christi aufzufassen. 130 Der Wittenberger Theologe verstärkt allerdings in den Dictata super Psalterium die christologische Di‐ mension des Psalters. Dadurch kommt es im Verlauf der Vorlesung zu einer Veränderung des traditionellen Auslegungsschemas vom vierfachen Schrift‐ sinn: Luther ordnet den tropologischen Schriftsinn dem allegorischen und dem anagogischen Sinn über. 131 Ein besonders eindringliches Beispiel hierfür ist seine Auslegung von Psalm 71 (72). 132 Luther unterscheidet iustitia und iudicum (Gericht) sowohl im Hinblick auf den Menschen als auch auf Gott. Beide sind entgegengesetzt. Dem allegorischen Schriftsinn nach, der jedoch 54 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="55"?> 133 LD 1, 91 f. = WA 3, 465. 134 Vgl. WA 3, 463. 135 Vgl. K. Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegekunst, in: ders., Gesam‐ melte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 6 1932, 544-582; Hirsch, Initium theologiae Lutheri, 33f. 136 Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegekunst, 547. Vgl. Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, 202. Verhältnis von tropo‐ logischem und wörtli‐ chem Schriftsinn prophetisch im Wortsinn zu verstehen sei, bezieht sich das Gericht Gottes auf die Scheidung der Guten und der Bösen. Tropologicum hingegen meine iudicium Dei das Gericht, in dem er „alles verdammt und verdammen läßt“. Das sei, wie der Wittenberger Theologe fortfährt, „im eigentlichen Sinne die Demut oder Erniedrigung. Denn nicht, wer sich demütigt dünkt, ist gerecht, sondern wer sich in seinen Augen verabscheuenswürdig und verdammens‐ wert vorkommt [und seine Sünden verdammt, straft usw.] der ist gerecht“. 133 Luther versteht das Wort als den Sohn Gottes 134 und schaut es mit dem Glaubenden zusammen. Dadurch verschiebt sich die Textaussage im tropo‐ logischen Sinn von dem moralischen Gehalt zu ihrer Heilsbedeutung. Die weitere Entwicklung von Luthers Theologie resultiert vor allem aus dem Verhältnis des so verstandenen tropologischen zu dem wörtlichen Sinn der Schrift. 135 Der buchstäbliche Sinn des Psalters hat es mit Christus zu tun und der tropologische mit dem Evangelium. „Der eine schilderte das Leiden und die Herrlichkeit Christi, seine Ängste, seine Gottverlassenheit und seine Triumphe; der andere zeigte, was dies für den Menschen bedeutet, wie er es auf sich anwenden und in sich nacherleben soll.“ 136 Luther verknüpft schon hier den wörtlichen Sinn der Schrift mit ihrem Verstehen durch den glaubenden Menschen. Die Schrift, so könnte man pointiert zusammenfas‐ sen, hat man erst dann verstanden, wenn man den gekreuzigten Christus und in ihm sich selbst erkannt hat. Zur Schriftinterpretation gehört die sub‐ jektive Erfahrungsdimension konstitutiv hinzu. Seinen wohl prägnantesten Ausdruck hat dieser Zusammenhang in der Auslegung des Magnifikats von 1521 gefunden. In der Vorrede schreibt Luther: „DIeszen heiligen lobgesang ordenlich zuuorstehen / ist zu merckenn / das die hochgelobte iunckfraw Maria ausz eygner erfaru(n)g redet / darynnen sie durch den heyligen geist ist erleucht vnnd geleret worde(n). Den(n) es mag niemant got noch gottes wort recht vorstehe(n) / er habs denn on mittel von de(m) heyligen geyst. Niema(n)t kansz aber von dem heiligen(n) geist habe(n) / er erfaresz 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 55 <?page no="56"?> 137 StA 1, 317 = WA 7, 546. 138 Vgl. WA 3, 46. 139 Vgl. WA 57 (2), 95f. 140 Vgl. WA 6, 509. 141 Vgl. WA 5, 644f. Bibel als Grundlage der Theolo‐ gie vorsuchs vnd empfinds denn / vnnd yn der selben erfarung / leret d(er) heylig geyst / alsz ynn seiner eygenen schule“. 137 Die Unterscheidung und Verknüpfung von äußerem Wort der Schrift und innerer Erfahrung hat Luther aufgenommen und systematisch ausgestaltet in seiner späteren Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift (vgl. unten 2.3.1.2). Bei der Auslegung der Psalmen führt ihn die von ihm in der ersten Psalmenvorlesung vorgenommene Verzahnung von tropologischem Sinn und Literalsinn zur Auflösung des überkommenen mittelalterlichen Verfahrens der Schriftinterpretation. Als er nach Beendigung der Dictata super Psalterium die Vorlesung für den Druck überarbeitet, schreibt er in der neuen Fassung von Psalm 4, dass alle vier Schriftsinne in einen einzigen einmüden. 138 Ein Jahr später in der Galaterbriefvorlesung erklärt Luther dann den sensus historicus zum Grundsinn der Schrift. 139 Seit 1518, im Zusammenhang mit der schärfer werdenden Auseinander‐ setzung mit der römischen Kurie, wird Luthers Verständnis der Schrift immer ausgeprägter. Es wächst in ihm nicht nur die Überzeugung von der Eindeutigkeit und Klarheit der Bibel, sie rückt auch immer stärker in eine grundlegende Prinzipienfunktion für Theologie und Kirche ein. Maß‐ gebliche Autorität in geistlichen Dingen sind weder Papst noch Konzilien oder kirchliche Lehrtradition oder gar menschliche Vernunft, sondern ist allein die Schrift. Der Text der Bibel ist jedoch grammatisch auszulegen. Die philologisch-grammatisch zu erhebende Bedeutung der Schriftworte wird zum Maßstab und Kriterium der Auslegung. 140 Gegenüber dem römischen Lehramt macht der Reformator am Ende des zweiten Jahrzehnts des 16. Jahr‐ hunderts mit wachsender Schärfe deutlich, dass die Schrift als Grundlage und Richtschnur jeglicher theologischer Lehrbildung zu gelten habe. Zur endgültigen Ausscheidung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn kommt es in der zweiten Psalmenvorlesung. In der Exegese von Psalm 21 (22),19: „Sie teilen meine Kleider unter sich auf und werfen das Los um mein Gewand“ vergleicht Luther die mittelalterliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn mit den Kriegsknechten, welche nach der Kreuzigung Christi dessen Gewand zerstückelten. 141 „Die Ironie dieser Interpretation besteht 56 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="57"?> 142 Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 277. 143 Vgl. J. Wolff, Luthers Arbeit an christologischen Metaphern, in: J. Frey/ J. Rohls/ R. Zimmermann (Hrsg.), Metaphorik und Christologie, Berlin/ New York 2003, 179-198, hier 198. 144 Vgl. WA 9, 46. Vgl. hierzu Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegekunst, 544-582; Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, 172-230; ders., Luthers Auslegung des 14. (15.) Psalms in der ersten Psalmenvorlesung im Vergleich mit der exegetischen Tradition, 132-195. 145 Vgl. Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 269-291; B. Rothen, Die Klarheit der Schrift. Martin Luther: Die wiederentdeckten Grundlagen, Göttingen 1990; F. Beißer, Claritas Scripturae bei Martin Luther, Göttingen 1966; R. Hermann, Von der Klarheit der Heiligen Schrift. Untersuchungen und Erörterungen über Luthers Lehre von der Schrift in „De servo arbitrio“ [1958], in: ders., Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums. Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd.-2, Berlin 1981, 170-255. 146 Vgl. WA 5, 8. äußere Klarheit der Schrift darin, daß sie zwecks Kritik jener [sc. allegorischen] Auslegungsmethode die vorliegende Textstelle selbst allegorisch deuten muß.“ 142 Freilich hat Luther, worauf wiederholt hingewiesen wurde, auch nach seiner programmatischen Verabschiedung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn nie ganz auf eine allegorische Deutung der Schrift verzichtet. 143 2.3.1.2 Die doppelte Klarheit der Schrift Die von Luther vorgenommene Auszeichnung der Heiligen Schrift fand ihren zusammenfassenden Ausdruck in der Lehre von ihrer doppelten Klarheit, wie er sie 1525 in De servo arbitrio ausgeführt hat. In diese Lehre gehen diejenigen Neuerungen und Aspekte seines Schriftverständnisses ein, die er sich in seinen exegetischen Vorlesungen erarbeitet hatte. 144 Sie sind auch für sein Verständnis der Kirche grundlegend (vgl. unten 6). Der Reformator unterscheidet zwischen einer äußeren und einer inneren Klarheit der Schrift (claritas externa et interna scripturae). 145 Luthers Begriff der claritas externa scripturae ist das Resultat der von ihm vorgenommenen Auflösung der mittelalterlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn, in deren Folge der sensus historicus zur Grundlage der Schrift‐ auslegung avanciert. 146 Über die äußere Klarheit der Schrift erklärt Luther gleich in den ersten Abschnitten von De servo arbitrio: 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 57 <?page no="58"?> 147 Lat.-dt. StA 1, 236 = WA 18, 606. 148 Lat.-dt. StA 1, 237. 149 Vgl. WA 6, 505. 150 Vgl. WA 18, 606. Vgl. Hermann, Von der Klarheit der Heiligen Schrift, 171f. 151 Vgl. WA 18, 641. 715. 718. 739. Vgl. Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 277. „Eadem vero res, manifestissime toti mundo declarata, dicitur in scripturis tum verbis claris, tum adhuc latet verbis obscuris. Iam nihil refert, si res sit in luce, an aliquod eius signum sit in te‐ nebris, cum interim multa alia eiusdem signa sint in luce.“ 147 „Ein und dieselbe Sache aber, ganz deut‐ lich der ganzen Welt erklärt, wird in der Schrift mal mit klaren Worten aus‐ gesagt, mal verbirgt sie sich bisher hin‐ ter undeutlichen Worten. Nun macht es nichts, wenn die Sache am Licht ist, ob irgendein Zeichen in Dunkelheit liegt, weil ja unterdessen viele andere ihrer Zeichen am Licht sind.“ 148 Der Begriff claritas externa bezeichnet eine offenkundige Sache, die im Licht steht und durch sprachliche Zeichen angezeigt wird. Luther hat die genannte Relation von Zeichen und Sache in De servo arbitrio aber auch in anderen Texten als Evidenz bezeichnet. 149 Nun macht jedoch das von ihm in diesem Zusammenhang angeführte Beispiel eines öffentlichen Brunnens, den man von den Seitengassen einer Stadt aus nicht sieht, deutlich, dass er mit Evidenz nicht an logische Evidenz denkt, wie sie etwa Vernunftschlüs‐ sen eigen ist, sondern an das Vorliegen einer Sache in ihrer objektiven Bestimmtheit. 150 Es ist hier also genauer von Sachevidenz zu reden, die sich auf die sprachlichen Zeichen überträgt, die diese repräsentieren. 151 Der Terminus claritas externa bezeichnet folglich die sich im Wortsinn der Schrift ausdrückende Sachevidenz. Sie ist, wie Luther erklärt, mit den Mitteln der Grammatik und der Philologie zu erheben. Mit der Klärung der claritas externa der Schrift ist Luthers Schriftverständ‐ nis noch nicht vollständig erörtert. Das wird sofort deutlich, wenn man folgende Stelle aus De servo arbitrio in Betracht zieht. „Quid enim potest in scripturis augus‐ tius latere reliquum, postquam fractis signaculis et voluto ab hostio sepulchri lapide, illud summum mysterium prodi‐ tum est, Christum filium Dei factum hominem, Esse Deum trinum et unum, „Was kann denn in der Schrift noch Erhabenes verborgen sein, nachdem die Siegel gebrochen sind und der Stein von der Tür des Grabes weggewälzt wor‐ den ist? Womit das höchste Geheimnis an den Tag getreten ist, dass nämlich Christus, der Sohn Gottes, Mensch ge‐ 58 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="59"?> 152 Lat.-dt. StA 1, 234 = WA 18, 606. 153 Lat.-dt. StA 1, 235. 154 Vgl. Hermann, Von der Klarheit der Heiligen Schrift, 190 f. 207-212; E. Wolf, Über die „Klarheit der Schrift“ nach Luthers „De servo arbitrio“, in: ThLZ 92 (1967), 721-730, hier 730, Anm. 2. 155 Lat.-dt. StA 1, 239 = WA 18, 609. 156 Vgl. Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, 210-216; ders., Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, 100-119. 157 Vgl. WA 18, 695. 653; vgl. auch WA 18, 62-214. 158 Lat.-dt. StA 1, 647 = WA 18, 782. innere Klar‐ heit der Schrift Christum pro nobis passum et regnatu‐ rum aeternaliter? “ 152 worden ist, dass Gott dreifaltig ist und ein einziger, dass Christus für uns ge‐ litten hat und herrschen wird in Ewig‐ keit.“ 153 Den Gehalt der claritas externa, der durch die Buchstaben der Schrift repräsentiert wird, bezeichnet Luther hier mit dem menschgewordenen Gott, Christus dem Gekreuzigten. Er tritt in der Schrift klar zu Tage. Zugleich deutet sich in der zitierten Stelle bereits der Zusammenhang von äußerer und innerer Klarheit der Schrift an. 154 Für das Verständnis von Luthers Begriff der claritas interna und ihres Zusammenhangs mit der claritas externa ist folgende Bemerkung von Relevanz: „Wenn du von der inneren Klarheit sprichst, sieht kein Mensch auch nur ein Jota in den Schriften, es sei denn, er hätte den Geist Gottes.“ 155 Der Reformator nimmt in seinen Begriff der claritas interna die von ihm in der ersten Psalmenvorlesung ausgearbeitete Unterscheidung von Geist und Buchstabe (2Kor 3,6) auf, die er jedoch im weiteren Verlauf seiner theo‐ logischen Entwicklung durch die darin enthaltene Antithetik von Gesetz und Evangelium ablöste (vgl. unten 5.1). 156 Der Geist wirkt inwendig, aber er bleibt in seinem Wirken auf den äußeren Buchstaben angewiesen. Er bedient sich in seinem gewissmachenden Handeln des äußeren Buchstabens als eines Vehikels. 157 Das gewissmachende Handeln des Heiligen Geistes besteht seinem Gehalt nach darin, dass er, wie Luther im Anschluss an den alttestamentlichen Sprachgebrauch sagt, das durch die Sünde verfinsterte menschliche Herz umwendet. Vom Geist wird die Selbstsüchtigkeit des Menschen durch eine innere Einbildung des Bildes Christi überwunden: In „einem sehr süßen Hinreißen“ wendet er das Herz zu Christus hin. 158 Damit ist der Gehalt von Luthers Begriff der claritas interna der Schrift erreicht. Sie bezieht sich auf 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 59 <?page no="60"?> 159 WA 18, 609. 160 Vgl. Hermann, Von der Klarheit der Heiligen Schrift, 207-212. 161 Lat.-dt. StA 1, 235 = WA 18, 606. 162 Vgl. Hermann, Von der Klarheit der Heiligen Schrift, 182. 163 Vgl. Beißer, Claritas Scripturae bei Martin Luther, 84. 88. 164 Vgl. Hermann, Von der Klarheit der Heiligen Schrift, 170-255. 165 Vgl. Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 283. Zusam‐ menhang der beiden Klarheiten die Herzenserkenntnis - „in cordis cognitione sita“ 159 - und beinhaltet die mit dem Rechtfertigungsglauben verbundene Heilsgewissheit, die als ein eigenes Wirken des Geistes im Inneren des Menschen verstanden werden muss. 160 Die innere Klarheit der Schrift entspricht der äußeren. Vermöge der claritas interna, der durch den Geist gewirkten Herzenserkenntnis, vermag der Mensch die äußere Klarheit der Schrift sowohl in ihren einzelnen Bestandteilen wie im Ganzen zu erfassen. Ohne die innere Klarheit bleibt aber auch jenes höchste Geheimnis in der Schrift, von dem oben bereits die Rede war, nämlich dass „die Siegel gebrochen sind und der Stein von der Tür des Grabes weggewälzt worden ist“, 161 verborgen. 162 Wie verhalten sich nun beide Klarheiten zueinander? Ist die äußere der inneren Klarheit im Sinne eines objektiven Grunds vor- und übergeordnet, wie einige Interpreten meinen? 163 Oder muss man der claritas interna eine grundlegendere Bedeutung beimessen? 164 Beide Lesarten werden Luthers Gedanken nicht gerecht. Zwar ist die äußere Klarheit der inneren in gewisser Weise vorgeordnet, aber zum Ziel gelangt jene erst in dieser. Ohne die innere Herzenserkenntnis bleibt die Schrift dunkel. Dann wäre aber das Verhältnis beider Klarheiten im Hinblick auf ihre Konstitutionsfunktion angemessener als Gleichursprünglichkeit zu beschreiben. Äußere und innere Klarheit der Schrift sind folglich beide konstitutive Momente im Verstehen der Bibel. 165 Das Verstehen der Schrift ist das Werk des Geistes Gottes: Ohne dass Gott vermittelst des äußeren Wortes durch den Heiligen Geist im Herzen des Menschen Christus als den menschgewordenen und gekreuzigten Gott Gestalt werden lässt, kommt es weder zur Gewissheit des Menschen noch zu einem Verstehen der Heiligen Schrift. 60 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="61"?> 166 Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd.-1, 264-284; Leppin, Martin Luther, 89-106. 167 Leppin, Martin Luther, 91. 168 Vgl. H. Junghans, Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985; V. Leppin, Luther und der Humanismus, Basel 2019. 169 Vgl. B. Lohse, Die Bedeutung Augustins für den jungen Luther, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 11-30; H.-U. Delius, Augustin als Quelle Luthers. Eine Materialsammlung, Berlin (Ost) 1984. Humanis‐ mus Bibel und Augustin 2.3.1.3 Bibel und Kirchenväter - Luthers Kritik an der scholastischen Theologie Bevor Luther mit seinen Ablassthesen im Herbst des Jahres 1517 an die Öf‐ fentlichkeit getreten ist, hat er an der Wittenberger Universität als Reformer des Theologiestudiums gewirkt. 166 Seine Universitätsreform stand im Zu‐ sammenhang mit seiner Tätigkeit als Ausleger der Heiligen Schrift. Als er 1512 an der Wittenberger Universität promoviert wurde, existierte sie ge‐ rade einmal zehn Jahre. Die Voraussetzungen für eine Reform des Theolo‐ giestudiums waren also überaus günstig. Hinzu kam ein kollegiales Umfeld, welches Reformen des Studiums durchaus aufgeschlossen war. Das zeigte sich nicht nur an der Berufung des berühmten Gräzisten Philipp Melan‐ chthon im August 1518. Die junge Wittenberger Universität besaß eine klare humanistische Orientierung. Dem frühneuzeitlichen Humanismus ging es um eine „Neubelebung der sprachlichen Wissenschaften in Gestalt einer in‐ tensivierten Philologie“. 167 Das Losungswort des Humanismus lautet be‐ kanntlich „ad fontes“ - zurück zu den (antiken) Quellen. Damit war vor allem ein Rückgang hinter die mittelalterliche Auslegung antiker Autoren, die als Entstellung gewertet wurde, gemeint. In der Forschung ist es umstritten, ob man Luther selbst dem Humanismus zuordnen kann oder nicht. 168 Wie auch immer man diese Frage entscheidet, unstrittig ist freilich, dass seine Wit‐ tenberger Tätigkeit in einem humanistisch geprägten Reformkontext steht. Luthers Auslegung der biblischen Schriften ist verbunden mit einer wachsenden Kritik an der scholastischen Theologie seiner Zeit. In seinen Vorlesungen geht der junge Professor zunehmend hinter die mittelalterlichen Kommentatoren auf den hebräischen und griechischen Text der Bibel zurück und verwendet die neuesten exegetischen Hilfsmittel seiner Zeit. Auch die Kirchenväter, allen voran Augustin (354-430), werden von Luther nicht mehr durch die Brille der mittelalterlichen Interpretatoren gelesen, sondern im Original. Bereits in der Römerbriefvorlesung ist er mit Augustins antipelagi‐ anischer Schrift De spiritu et littera aufs engste vertraut. 169 Im Corrolarium 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 61 <?page no="62"?> 170 BoA 5, 242 = WA 56, 274. 171 BoA 6, 5 = WA. B 1, 99, Nr.-41. 172 Zitiert nach Leppin, Martin Luther, 96. Disputatio contra scholasti‐ zu Röm 4,7 - „Selig sind die, denen die Ungerechtigkeiten vergeben und de‐ nen die Sünden bedeckt sind“ - fügt Luther mitten in seine lateinischen Aus‐ führungen zur Kritik der scholastischen Theologie auf Deutsch ein: „O Stulti, o Sawtheologen! “ 170 Der Abstand zwischen Bibel und Kirchenvätern auf der einen und der mittelalterlichen Theologie auf der anderen Seite tritt nicht nur immer stärker ins Blickfeld des Reformators, sondern es geht ihm auch explizit darum, die scholastische Theologie durch eine an der Bibel und den Kirchenvätern orientierte Theologie zu ersetzen. Die Bibel und Augustin sollen an die Stelle des mittelalterlich verstandenen Aristoteles und seiner Kommentatoren treten. Man kann hier in der Tat Intentionen erkennen, die auch für den frühneuzeitlichen Humanismus leitend sind. In einem Brief an seinen Gefährten und Ordensbruder Johannes Lang (1487-1548) vom 18. Mai 1517 berichtet Luther über den Lehrbetrieb an der Wittenberger Universität: „Theologia nostra et S. Augustinus prospere procedunt et regnant in nostra universitate Deo operante. Aristoteles descendit paulatim inclinatus ad rui‐ nam prope futuram sempiternam. Mire fastidiuntur lectiones sententiariae, nec est, ut quis sibi auditores sperare possit, nisi theologiam hanc, id est bibliam aut S. Augustinum aliumve ecclesiasticae autoritatis doctorem velit profiteri.“ 171 „Unter Gottes Beistand machen unsere Theologie und S. Augustin gute Fort‐ schritte und herrschen an unserer Uni‐ versität. Aristoteles steigt nach und nach herab und neigt sich zum nahe gerückten ewigen Untergang. Auf er‐ staunliche Weise werden die Vorlesun‐ gen über die Sentenzen verschmäht, so dass niemand auf Hörer hoffen kann, der nicht über diese Theologie, d. h. über die Bibel, über S. Augustin oder über einen anderen Lehrer von kirchlicher Autorität lesen will.“ 172 Mit der Fokussierung auf die Bibel und Augustin sind weitreichende Folgen für den Aufbau des Universitätsstudiums verbunden. Sie zielen im Kern auf eine Abschaffung des an der aristotelischen Philosophie orientierten Grundstudiums an der Artistenfakultät. Luther hat seine Kritik an der scholastischen Theologie seiner Zeit nicht nur in seinen Vorlesungen vorgetragen, sondern auch in Disputationen. Am 4. September 1517, also wenige Wochen vor Beginn der Ablassstreitigkeiten, verteidigte Franz Günther (gest. 1528) aus Nordhausen in Wittenberg zur 62 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="63"?> 173 Vgl. WA 1, 224-228. 174 Vgl. L. Grane, Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio contra Scholasticam Theologiam 1517, Gyldendal 1962; Brecht, Martin Luther, Bd.-1, 160-172; Leppin, Martin Luther, 101-104. 175 Vgl. T. Dieter, Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Unter‐ suchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, Berlin/ New York 2001. 176 Vgl. Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 271; ders., Die Geburt religiöser Autonomie. Martin Luthers Ablaßthesen von 1517, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 53-95; Hamm, Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers, 1-24; Seeberg, Die Lehre Luthers, 140f. 177 Vgl. WA 1, 158-222. cam theolo‐ giam Erlangung des Baccalaureus biblicus eine von Luther verfasste Thesenreihe. Sie trägt den Titel Disputatio contra scholasticam theologiam 173 und ist um einiges radikaler als die späteren Ablassthesen. 174 In der These 45 heißt es: „Es ist ein Irrtum zu sagen, ohne Aristoteles wird man kein Theologe. Gegen die allgemeine Rede.“ These 46 knüpft nahtlos an: „Vielmehr wird man ein Theologe nur, wenn man es ohne Aristoteles wird.“ Luthers Kritik gilt hier ganz dem mittelalterlichen Aristoteles-Verständnis und vor allem seiner In‐ dienstnahme für die Theologie. Sie richtet sich nicht, wie in letzter Zeit wie‐ derholt gezeigt wurde, gegen den historischen Aristoteles. 175 Grundlegende Themen der Theologie des Reformators - die Bestreitung der Freiheit des menschlichen Willens (These 5) oder die Überzeugung, dass der natürliche Mensch nicht wollen kann, dass Gott Gott ist (These 17) - finden sich bereits in diesen Disputationsthesen. Die Heidelberger Disputation vom April 1518 nimmt diese Themen dann wieder auf und führt sie weiter. 2.3.2 Die Kritik an der Bußlehre Der innere Ursprung der Reformation liegt in Luthers Auseinandersetzung mit dem Wesen und der Funktion der Buße. 176 Mit ihrem Begriff und ihrer Praxis hatte er sich schon in den Dictata super Psalterium auseinan‐ dergesetzt. Auch seine erste Veröffentlichung, Die sieben Bußpsalmen mit deutscher Auslegung 177 aus dem Jahre 1517, galt der Buße. Das von ihm in seinen frühen Vorlesungen erarbeitete Bußverständnis wurde dann zum Fundament der Kritik an dem Ablassinstitut der mittelalterlichen römischen Kirche. Der im Herbst des Jahres 1517 einsetzende Ablassstreit markierte den äußeren Durchbruch der Reformation. Luther hatte sich sein eigenes Verständnis der Buße in ihren Grundzügen bereits vor Ausbruch des Ablassstreits erworben. Es führt in das systemati‐ 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 63 <?page no="64"?> 178 Vgl. G.A. Benrath, Art.: Buße V., in: TRE, Bd. 7, Berlin/ New York 1981, 452-473; K.-H. zur Mühlen, Art.: Buße 1, in: EKL, Bd.-1, Göttingen 3 1986, 599-604. 179 Vgl. M. Ohst, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im hohen und späten Mittelalter, Tübingen 1995; R. Schwarz, Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheo‐ logie, Berlin 1968. Bußsakra‐ ment sche Zentrum seiner Theologie: Die Buße zielt für ihn auf ein von Gott gna‐ denhaft gewirktes Selbstverstehen des Menschen. In ihrem Kern ist sie die Einsicht des Menschen in sein vollkommenes Sündersein vor Gott. Sünden-, Gnaden- und Gottesverständnis sind in Luthers Bußtheologie eng miteinan‐ der verbunden. Mit seinem Bußverständnis setzte er durchaus neue, über die mittelalterliche Lehrtradition hinausgehende Akzente. Um seine Auffassung der Buße und die damit verbundene Kritik an dem Ablassinstitut der Kirche zu verstehen, muss als erstes das mittelalterliche Bußsakrament in seinen Grundzügen erörtert werden. Als zweites sind Luthers neues Verständnis der Buße und die es tragenden inneren Aufbauelemente darzustellen. 2.3.2.1 Das mittelalterliche Bußverständnis Das Markusevangelium beginnt bekanntlich mit dem Ruf Jesu: „Tut Buße und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). In der Tat ist das Bußthema für das Christentum von Anfang an grundlegend. Bei ihm geht es um eine neue Begründung des Gottesverhältnisses nach vorangegangenen Verfehlungen, also um eine Rückkehr des Menschen zu Gott. 178 Im frühen Christentum und in der Alten Kirche wurde bußwilligen Sündern eine Wiederaufnahme in die Heilsgemeinschaft der Kirche ermöglicht, wenn sie öffentlich ihre Verfehlungen beichteten und bestimmte Bußleistungen erbrachten. Sie bestanden in der Regel aus Gebet, Fasten und Almosen. Zu Beginn des Mittelalters kam es zu einer Wende im Bußverständnis, als dessen Resultat die Buße 1439 auf der Synode von Florenz als viertes unter den sieben Sakramenten der Kirche erschien. 179 Das Decretum Gratiani von 1140 kennt drei Hauptstücke der Buße: die Reue (poenitentia im engeren Sinne oder contritio), die Beichte (confessio) und die Genugtuung (satisfactio). Das Bußsakrament 1. contritio cordis (Reue): sie hat für einige Autoren sündenvertilgende Kraft; dient der Vorbereitung auf den sakramentalen Empfang der Gnade 64 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="65"?> 180 Vgl. Hamm, Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers, 2-8; Ohst, Pflichtbeichte, 50-102. 181 Vgl. Ohst, Pflichtbeichte, 56-59. Wandlun‐ gen im 12.-Jahr‐ hundert 2. confessio oris (Beichte): Bekenntnis der Sünden gegenüber dem Pries‐ ter; entspricht dem Auftrag Christi 3. satisfactio operis (Genugtuung): Leistungen entsprechend der Bußka‐ nones Die wichtigste Umstellung im Mittelalter betraf die Einführung der Privat‐ buße sowie, damit verbunden, eine Reglementierung des Bußwesens seit dem 9. Jahrhundert. Die Buße war nun nicht mehr wie in altkirchlicher Zeit eine Form öffentlicher Gemeindezucht, sondern der bußwillige Sünder legte vor dem Priester ein individuelles Schuldbekenntnis ab, wurde von ihm absolviert und gemäß der Bußkanones zu individuellen Bußübungen verpflichtet. Die sogenannte Tarifbuße führte jedoch dazu, dass die Bußleis‐ tungen einen ganz neuen Sinn erhielten. Sie verschoben sich von der Schuld auf den Aspekt der Strafe. Im 12. Jahrhundert wandelte sich das Bußverständnis. 180 Die inneren Dimensionen von Schuld, Reue und Liebe traten nun in das Zentrum des Bußinstituts. Für Petrus Abaelard (1079-1142) ist die Reue (contritio) der Inbegriff der Buße. 181 Sie besteht in dem von Gott gnadenhaft gewirkten Schmerz der Sünder über ihre Sünden. Das Motiv der Reue soll aber nicht die Furcht vor Strafen sein, sondern die Liebe zu Gottes Güte. Den reuigen Sündern erlässt Gott die ewigen Strafen (poenae aeternae). Zur wahren Reue, in der die Sündenschuld vergeben ist, gehört, dass die Poenitenten einen Priester zum Beichten aufsuchten. Den Gegenstand des kirchlichen Bußverfahrens bilden die übrigbleibenden zeitlichen Strafen (poenae tem‐ porales). Sie werden in dem irdischen Leben und nach dem Tod im Fege‐ feuer (purgatorium), den kanonischen Bußbestimmungen gemäß, durch Satisfaktionsleistungen abgegolten. Wurde die Absolution ursprünglich nur dann erteilt, wenn reuige Sünder durch Bußübungen ihre Umkehr vor der Gemeinde öffentlich unter Beweis stellten, so änderte sich diese Reihenfolge im 13. Jahrhundert. Noch bevor die Bußleistungen erbracht wurden, konnte die Absolution erteilt werden. Nach mittelalterlicher Auffassung wird die Erbsünde durch die Taufe vergeben. Die Buße wandelt alle auf die Taufe nachfolgenden Sünden in 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 65 <?page no="66"?> 182 Vgl. H. Vorgrimler, Art.: Purgatorium, in: RGG 4 , Bd.-6, Tübingen 2003, 1828-1831. 183 Vgl. Ohst, Pflichtbeichte, 103-117; N. Paulus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter, 3 Bde., Paderborn 1922-1923. Fegefeuer Ablass lässliche Sünden und tilgt ihre ewige Schuld. Es bleibt also nur noch die Straf‐ würdigkeit der lässlichen Sünden bestehen, und sie wird in Form kirchlich auferlegter Strafleistungen beglichen. Einher geht damit eine Aufwertung des Priesters, der die Absolution erteilt. Er hat für die mittelalterlichen Autoren die Schlüsselgewalt. In deren Folge wird der göttliche Auftrag zur Sündenvergebung auf die Vollmacht zur Strafsanktion übertragen. Die kirchlichen Bußstrafen konnten somit als äußerer Vollzug des Strafhandelns Gottes verstanden werden. Dadurch wurde die kirchliche Strafkompetenz über den Bereich des menschlichen Lebens hinaus ausgedehnt. Hier wird nun das purgatorium für das Bußsakrament relevant. 182 Denn starb jemand, bevor er die von der Kirche auferlegten Bußleistungen erfüllen konnte, bot sich ihm nun die Möglichkeit, die noch offenen Leistungen abzugelten. Das Fegefeuer ist der Vorhof der Hölle, aber selbst kein Ort der Verdammnis, sondern ein Läuterungsort. In ihm konnte und sollte das nachgeholt werden, was man im irdischen Leben versäumte, um nach vollständiger Erfüllung aller Bußstrafen geläutert ins Paradies eintreten zu können. An dieser Stelle bekommt der Ablass seine Funktion für das mittelalterli‐ che Bußinstitut. 183 Der Ablass, seit dem 13. Jahrhundert indulgentia genannt, wurzelt im System der Tarifbuße, das die Ersetzung der fixierten Satisfakti‐ onen durch andere Leistungen wie Geldzahlung (redemptio) vorsieht, wobei diese einander äquivalent sein sollen. Beim Ablass hingegen fällt die Äqui‐ valenzforderung weg. Die ersten Ablässe wurden in Südfrankreich Mitte des 11. Jahrhunderts für Kirchenbaumaßnahmen und Kreuzzüge gewährt und versprachen von Anfang an Erleichterung des Fegefeuers. Hugo von St. Cher (gest. 1263) verknüpfte den Ablass mit dem thesaurus ecclesiae (Schatz der Kirche). Ihm zufolge kann der Papst aus dem Schatz der überschüssigen Verdienste Christi sowie der Heiligen Ablass gewähren. Papst Clemens VI. (um 1290-1352) erklärte die Theorie des thesaurus ecclesiae zur offiziellen Kirchenlehre. Im späten Mittelalter wurde das Ablassangebot immer breiter und vielfältiger. Es liegt auf der Hand, dass das Ablassinstitut auf der einen Seite eine wichtige Finanzquelle für die Papstkirche darstellte und auf der anderen Seite sehr wirkungsmächtig war, die Massen an die Kirche zu binden. 66 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="67"?> 184 Zitiert nach Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, 116. 1506 schrieb Papst Julius II. (1443-1513) anlässlich der Grundsteinlegung der Peterskirche zu Rom einen Plenarablass aus, durch den ihr Bau finanziert werden sollte. Sein Nachfolger Leo X. (1475-1521) hat diesen Plenarablass am 31. März 1515 durch eine eigene Ablassbulle erneuert. In der Anfang 1517 erschienenen Instructio summaria von Erzbischof Albrecht von Bran‐ denburg wurden die Richtlinien des Petersablasses festgelegt. Sie sahen vier Haupt-Gnaden vor, die durch den Kauf von Ablassbriefen erlangt werden konnten. „Die erste Gnade ist die vollkommene Vergebung aller Sünden. Eine größere Gnade als diese kann nicht genannt werden, weil der Mensch, der in Sünden lebt und der Gnade Gottes beraubt ist, durch sie vollkommene Vergebung und von neuem die Gnade Gottes erlangt. […] Die zweite Haupt-Gnade ist ein Beichtbrief voll von den größten, hilfreichsten und bislang unerhörten Möglichkeiten. […] Die dritte Haupt-Gnade ist die Teilhabe an allen Gütern der allgemeinen Kirche. Sie besteht darin, daß die für den Neubau Geld gebenden Menschen und ihre in der Liebe verstorbenen Eltern von nun an und in Ewigkeit Anteil haben werden an allen Bitten, Fürbitten, Almosen, Fasten, Gebeten und Wallfahrten aller Art. […] Zur Erlangung dieser beiden Haupt-Gnaden ist es nicht notwendig zu beichten. […] Die vierte Haupt-Gnade besteht in der vollkommenen Vergebung aller Sünden für die im Fegefeuer befindlichen Seelen.“ 184 Der Ablass bildete einen zentralen Bestandteil des mittelalterlichen Bußsa‐ kraments. Dass er zu einer Veräußerlichung der Buße führte, ist deutlich. Er war schon im Mittelalter nicht unumstritten. Luthers Kritik am Ablass in den Thesen von 1517 nimmt die ablasskritische Stimmung seiner Zeit auf, hat jedoch ein völlig verändertes Bußverständnis zum Fundament. 2.3.2.2 Luthers Bußverständnis und seine Voraussetzungen im Sündenbegriff In der ersten seiner 95 Thesen zur Erläuterung der Kraft des Ablasses, die Luther am 31. Oktober 1517 an Erzbischof Albrecht von Brandenburg schickte, heißt es: „Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ‚Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‘ [Matth 4,17], wollte 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 67 <?page no="68"?> 185 Lat.-dt. StA 2, 3 = WA 1, 233. 186 Vgl. B. Hamm, Die 95 Thesen - ein reformatorischer Text im Zusammenhang der frühen Bußtheologie Martin Luthers, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 90-114; Barth, Die Geburt religiöser Autonomie, 53-95. 187 Vgl. Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 272. 188 Vgl. WA 9, 73. Sündenver‐ ständnis er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“ 185 Das neutestamentliche Bußverständnis, demzufolge das gesamte christliche Leben Buße sei, stehe, wie Luther in den folgenden Thesen ausführt, nicht nur im Gegensatz zum mittelalterlichen Bußsakrament und seinen drei Bestandteilen der contritio cordis, der confessio oris und der satisfactio operis (vgl. These 2), sondern meine auch nicht nur die innere Buße allein (vgl. These 3). Vielmehr liege die wahre Buße in der Einheit von innerer und äußerer Buße. Dieses von Luther in den 95 Thesen ausgeführte Verständnis der Buße wurde ihm 1517 zur Grundlage seiner Kritik an dem mittelalterlichen Ablassinstitut. 186 Er versteht die Buße nicht mehr als ein den reuigen Sündern von der Kirche angebotenes sakramentales Hilfsmittel, sondern als einen Bestandteil des menschlichen Lebens im Gottesverhältnis. Er bezieht sie auf die göttlicherseits gewirkte Einsicht des Menschen in seine totale Sündhaftigkeit gegenüber Gott. 187 Buße sei eine Form der Selbstbeurteilung. In ihr entwickelt sich eine Dialektik von ‚gerecht‘ und ‚ungerecht‘, die sich über das Gottesverhältnis aufbaut. Dieses Bußverständnis ist das Resultat seiner Verknüpfung von Sündenbegriff und Buße. Um die Eigentümlichkeit von Luthers Bußtheologie zu verstehen, empfiehlt es sich, die angedeutete Verzahnung näher in Augenschein zu nehmen. So wird auch deutlich, warum er das mittelalterliche Bußsakrament und das Ablassinstitut einer radikalen Kritik unterzieht. Luther unterscheidet zunächst mit der mittelalterlichen Lehrtradition zwischen der Erbsünde und der Aktsünde. Allerdings hat er schon früh, wie die 1509 verfassten Randbemerkungen zu den Sentenzen des Lombarden erkennen lassen, sein Sündenverständnis in dem Begriff der concupiscentia (Begierde) zum Ausdruck bringen können. 188 Mit der spätmittelalterlichen Theologie teilte er zunächst die Auffassung einer Tilgung der Erbsünde durch die Taufe, womit beim Menschen nur noch deren Reste als Schuldver‐ hängnis und Sündenstrafen verbleiben. Da aber die Begierde als eine reale Erfahrung auch nach der Taufe zu erfahren ist, kann die concupiscentia nicht mit der Erbsünde identisch sein. In den frühen Randbemerkungen ordnet 68 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="69"?> 189 LD 1, 62 = WA 3, 331. 190 LD 1, 62 = WA 3, 331. 191 BoA 5, 125 = WA 3, 292. 192 Vgl. WA 55 (1), 129. Vgl. Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 273. Sünde als widergöttli‐ che Selbst‐ behaup‐ tung Luther die Begierde der Aktualsünde zu. Jene Einschätzung wird von ihm in den folgenden Jahren verändert, und zwar in dem Maße, in dem er die qualitative Einheit von Erbsünde und Aktualsünde unterstreicht. Dadurch wird ihre Unterscheidung zweitrangig. In der ersten Psalmenvorlesung deutet Luther die Sünde als Verlust der urständlichen Gerechtigkeit. Der Mensch verkehre die Gerechtigkeit in Un‐ gerechtigkeit, und in dieser Umkehrung besteht das allgemeine Wesen der Sünde. In seiner Erläuterung zu Ps 59,3 („Errette mich von den Übeltätern“) führt der junge Professor mit Bezug auf Paulus aus: „Gerechtigkeit heißt an Gott zu glauben, wie der Apostel im Römerbrief Kap. 4 und 1 zeigt, denn ‚der Gerechte lebt aus Glauben‘ (Röm 1,17). Ungerechtigkeit dagegen heißt: nicht zu glauben, denn jeder, der nicht glaubt, ist ungerecht und gottlos.“ 189 Luther bezeichnet die Ungerechtigkeit als Unbilligkeit, und sie besteht darin, dass der Mensch „seine eigene Gerechtigkeit“ aufstellt und meint, sich „Gott, auch wenn er uns warnt, nicht unterwerfen zu wollen“. 190 Darin erkenne aber der Mensch als Niedrigstehender das Urteil des Höherstehenden, näm‐ lich Gottes, nicht an und verwirft es. Die Ungerechtigkeit des Menschen besteht in seiner Abwendung von Gott und seiner Zuwendung zum Ge‐ schaffenen. Der Mensch ist nicht auf Gott, sondern auf sich selbst bezogen. Diese widergöttliche Selbstbehauptung, das Sich-Gründen des Menschen auf sich selbst, bezeichnet Luther in der ersten Psalmenvorlesung als „in‐ flexus et curvus […] in se ipsos“ 191 und identifiziert sie mit der concupiscen‐ tia. 192 Sünde ist die Verkehrung des Gottesverhältnisses, so dass der Mensch in allem seinen Handeln auf sich gerichtet ist und seine Ich-Perspektive zur Grundlage des Gottesverhältnisses macht. Der Wittenberger Theologe verlagert damit den Sündengedanken in die stets schon von egoistischen Motiven und Interessen gesteuerte Selbstbezogenheit des Menschen. Mit seiner Neubestimmung des Sündenbegriffs wird nicht nur die überlieferte Unterscheidung von Erb- und Aktualsünde hinfällig, auch der Sündenbegriff wird vom moralischen Fehlverhalten gelöst und als ichzentrierte Selbstsucht des Menschen verstanden. Die mittelalterliche Differenzierung von Tod‐ sünden und lässlichen Sünden, welche die Grundlage des Bußsakraments 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 69 <?page no="70"?> 193 Vgl. WA 1, 357 f. 633. 194 Vgl. WA 56, 173. 195 Vgl. WA 3, 292. 196 BoA 5, 119 = WA 3, 287f. 197 LD 1, 53. Erschei‐ nungsfor‐ men der Sünde Buße und Sündener‐ kenntnis bildet, tritt dadurch in den Hintergrund. Alles menschliche Handeln ohne Gottesfurcht ist Todsünde. 193 Aufgrund der Selbstsucht wird selbst die Gottesvorstellung, wie Luther in der Römerbriefvorlesung ausführt, zu einer Wunschprojektion des Menschen und für egoistische Interessen funktiona‐ lisiert. 194 Die Erscheinungsformen der Sünde sind für Luther der Hochmut, super‐ bia, 195 und der Selbstbetrug des Menschen. Der Mensch behauptet gegenüber Gott einen Eigenwert, aber darin betrügt er lediglich sich selbst. Denn er erkennt das Urteil Gottes über ihn, alle Menschen sind Lügner (Ps 116,11; Röm 3,4), nicht an. Er versteht sich selbst nicht als Sünder, sondern als gerecht und ist gerade darin ungerecht. Wenn der Mensch jedoch nicht anerkennt, dass er Sünder ist, so verschwindet die Sünde gewissermaßen. Von dieser Beobachtung geht Luther aus: der Mensch, obwohl er Sünder ist, bestreitet es und bringt so seine Sünde zum Verschwinden. In der Erklärung zu Psalm 51 fasst Luther die angesprochene Dialektik in 4 Thesen zusammen. „Primo. Omnes homines sunt in peccatis coram deo et peccant, i.e. sunt peccato‐ res vere. „Erstens. Alle Menschen sind in Sünden vor Gott und sündigen, d.-h. sie sind wahrhaftig Sünder. Secundo. Hoc ipsum deus per prophetas testatus est et tandem per passionem Christi idem probavit: quia propter pec‐ cata hominum foecit eum pati et mori. Zweitens. Eben das hat Gott durch die Propheten bezeugt und schließlich mit der Passion Christi erhärtet: denn um der Sünden der Menschen willen hat er ihn leiden und sterben lassen. Tertio. Deus in seipso non iustificatur, sed in suis sermonibus et in nobis. Drittens. Gott wird nicht gerecht erwie‐ sen in sich selbst, sondern in seinen Worten und in uns. Quarto. Tunc fimus peccatores, quando tales nos esse agnoscimus, quia tales coram deo sumus.“ 196 Viertens. Dann werden wir zu Sündern, wenn wir anerkennen, daß wir Sünder sind, weil wir es vor Gott sind.“ 197 Die Buße wird von Luther in den Dictata super Psalterium auf den von ihm neu gefassten Sündenbegriff bezogen. Sie ist dasjenige Geschehen, in dem der Mensch ein Bewusstsein davon bekommt, dass er sündigt und 70 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="71"?> 198 Lat.-Dt. StA 2, 7 = WA 1, 234 (These 30); vgl. WA 1, 319. 199 Vgl. WA 1, 320. 322. 525. mithin, wie der Wittenberger Theologe in seiner Auslegung von Psalm 51 schreibt, erst zum Sünder wird. Buße bezeichnet folglich die Entstehung des Sündenbewusstseins beim einzelnen Menschen. Insofern darf der Bezugs‐ punkt von Luthers früher Bußtheologie in der inneren Selbsterkenntnis des Menschen gesehen werden. In der Buße wird sich der Mensch seiner eigenen Sündhaftigkeit inne und bekennt es vor Gott. Sündenerkenntnis und Bekenntnis der Sünde gehören zusammen. Mit dem Hinweis, dass die Buße das Geschehen der wahren Selbster‐ kenntnis des Menschen und damit die Entstehung des Sündenbewusstseins sei, ist Luthers Bußtheologie noch nicht vollständig erörtert. Wenn die Sünde des Menschen gerade in seiner Ichzentriertheit besteht und ihre Er‐ scheinungsform seinen Selbstbetrug über sein eigenes Sündersein darstellt, dann kann der Mensch sich freilich auch nicht aus und von sich selbst als Sünder verstehen. Denn was schützt das eigene, noch so ehrlich gemeinte Sündenbekenntnis davor, nichts anderes als eine besonders raffinierte und sublimierte Form von Hochmut zu sein? Wenn Luther der Meinung ist, dass die wahre Buße nicht, wie es das mittelalterliche Bußsakrament vorsieht, in der Reue bestehen kann, dann hat er genau jenen Umstand im Blick. Kann doch, wie er in den 95 Thesen schreibt, keiner „über die Wahrhaftigkeit seiner Reue“ Gewissheit haben. 198 Aus diesem Grund löst er die Entstehung des Sündenbewusstseins vom Handeln des Menschen ab und versteht es als ein Wirken Gottes am Menschen. Die wahre Reue ist eine Folge der Buße, aber keinesfalls deren Ausgangspunkt. 199 Dass der Mensch sich als Sünder erkennt und sich als ein solcher bekennt, ist für Luther nur als ein Handeln Gottes denkbar. Darauf zielt die von ihm in den Dictata super Psalterium sowie in der Römerbriefvorlesung ausgeführte Demutstheologie. Sie hat ihre Pointe in der von Gott gnadenhaft gewirkten Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder. Geradezu klassisch hat der Wittenberger Professor seinen frühen Grundgedanken in seiner Auslegung des Paulinischen Römerbriefs ausgeführt. Der ganze Brief habe keinen anderen Sinn als den, die totale Sündhaftigkeit des Menschen aufzudecken. „Summarium huius epistole est de‐ struere et evellere et disperdere omnem sapientiam et iustitiam carnis (id est „Die Summe dieses Briefes ist: zu zerstö‐ ren, auszurotten und zu vernichten alle Weisheit und Gerechtigkeit des Fleisches 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 71 <?page no="72"?> 200 BoA 5, 222 = WA 56, 157. 201 M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516. Lateinisch-deutsche Ausgabe, Bd.-1, Weimar 1960, 9. quantacunque potest esse in conspectu hominum, etiam coram nobis ipsis), quantumvis ex animo et synceritate fiant, et plantare ac constituere et mag‐ nificare peccatum (quantumvis ipsum non si aut esse putabatur).“ 200 (mag sie in den Augen der Menschen, auch bei uns selbst, noch so groß sein), wie sehr sie auch von Herzen und auf‐ richtigen Sinnes geübt werden mag, und einzupflanzen, aufzurichten und groß‐ zumachen die Sünde (sowenig sie auch vorhanden sein mag oder sosehr man auch solches von ihr glauben mochte).“ 201 Das menschliche Handeln ist aufgrund der von egoistischen Motiven durchzogenen Selbstbezogenheit Sünde. Noch in die edelsten und besten Handlungen eines Menschen spielen Beweggründe hinein, über die er sich weder in seinem Handeln noch in seinem Rechenschaft-Geben vielleicht bewusst ist oder die er womöglich verdrängt. Luther hat damit den religiö‐ sen Sündengedanken in die Selbstbeurteilung des individuellen Subjekts verlagert und mit einer geradezu abgründigen Dialektik der Selbstsicherung im Geschehen der Selbsterkenntnis des Menschen coram Deo verzahnt. Mit diesem Sündenverständnis sind die Grundlagen der mittelalterlichen Gna‐ dentheologie sowie des Bußsakraments aufgehoben. Die spätmittelalterliche Akzeptationstheorie von Duns Scotus nimmt den um sein Heil besorgten Menschen in die Pflicht. Zunächst soll und muss er tun, was in ihm ist, und Gott wandelt sodann das von dem Menschen erworbene Verdienst in ein Vollverdienst um. Jener Voraussetzung der spätmittelalterlichen Gnadenlehre hat Luther vollständig den Boden entzogen: Alles, was der Mensch tut, ist Ausdruck seiner Sünde und nichts als der Versuch, die eigene Gerechtigkeit vor Gott aufzurichten. Der Mensch sündigt also nicht nur, er ist ganz Sünder. Auch das facere quod in se est kann dann nur ein Vermögen zum Sündigen sein, keinesfalls jedoch eine Leistung, welche ein Mensch zu seinem Heil beizutragen vermag. Luther hat den Sündenbegriff auf das Selbstverhältnis des Menschen bezogen. Sünde ist kein Mangel des Menschen oder gar eine Schwäche, sondern die Verkehrung der schöpfungsmäßigen Ordnung. In der Buße wird sich der Mensch seiner Sündhaftigkeit inne und wird das, was er ist - Sünder. Der anthropologische Ort des Bußgeschehens, und damit auch der Gottesbegegnung, ist das Gewissen. 72 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="73"?> 202 Vgl. WA 7, 832-838. 203 WA 7, 838. 204 AS 1, 269. Vgl. B. Lohse, Gewissen und Autorität bei Luther, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 265-286. 205 WA 1, 611. 206 Vgl. H. Reiner, Art.: Gewissen, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel/ Stuttgart 1974, 574-592. mittelalter‐ liches Ge‐ wissens‐ verständnis 2.3.2.3 Luthers Begriff des Gewissens Luther hat mehrfach in seinem Werk auf die fundamentale Stellung des Gewissensbegriffs hingewiesen. Am bekanntesten ist die Stelle am Ende seiner Rede auf dem Reichstag zu Worms vom 18. April 1521. 202 „Nisi convictus fuero testimoniis scrip‐ turam aut ratione evidente (nam neque Papae neque conciliis solis credo, cum constet eos et errasse sepius et sibiip‐ sis contradixisse), victus sum scripturis a me adductis et capta conscientia in verbis dei, revocare neque possum nec volo quicquam, cum contra conscien‐ tiam agere neque tutum neque integrum sit. Ich kan nicht anderst, hie stehe ich, Got helff mir, Amen.“ 203 „Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde - denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht; es steht fest, daß sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben -, so bin ich durch die von mir angeführten Schrift‐ worte überwunden. Und da mein Ge‐ wissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“ 204 Für die gesamte mittelalterliche Theologie ist es schlicht undenkbar, dass das Gewissen eines Einzelnen sich gegen die gesamte Kirche stellt und sie des Irrtums zeiht. In seinen Resolutionen zu den Ablassthesen von 1518 hat Luther diesen Einwand aufgenommen und ihn lapidar mit dem Hinweis beantwortet: „Ich bin nicht allein, sondern die Wahrheit ist mit mir.“ 205 Das Verständnis des Gewissens als Ort - nicht als Quelle! - der Wahrheit und der Gottesbegegnung ist nun freilich das Resultat seiner eigenen theologischen Entwicklung, in der er den ihm durch sein Studium vertrauten Gewissensbegriff umbildet. Die theologische Lehrtradition hatte erst im hohen Mittelalter im Rück‐ griff auf die antike Theologie und Philosophie den Begriff des Gewissens ausgebildet. 206 Signifikant für den mittelalterlichen Gewissensbegriff ist die Unterscheidung von syntheresis und conscientia. Unter syntheresis ver‐ standen die mittelalterlichen Autoren das Vermögen der Seele, sich zum 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 73 <?page no="74"?> 207 Hirsch, Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, 20 f. Vgl. Reiner, Art.: Gewissen, 586. 208 Hirsch, Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, 21. Vgl. Reiner, Art.: Gewissen, 586. Luthers Umbildung des Gewis‐ sensbe‐ griffs Guten hinzuneigen. Sie ist „eine von jedem Menschen von Natur besessene affektive Kraft und Fertigkeit, die unmittelbar auf das Gute gerichtet ist und insofern das natürliche Gesetz zum Gegenstand hat“. 207 Jene natürliche Kraft ist durch den Sündenfall des Menschen nicht gänzlich verderbt. Im Unter‐ schied zu dem natürlichen Vermögen der Ausrichtung des Menschen auf das Gute bezeichnete man mit conscientia die praktische Anwendung der Grund‐ sätze der syntheresis. „Die conscientia ist eine Fertigkeit des praktischen In‐ tellekts, die sich auf die sittlicher Beurteilung unterstehenden Handlungen bezieht und das natürliche Gesetz zu ihrem ersten unmittelbaren Gegen‐ stande hat.“ 208 Diese Unterscheidung hat vor allem die Funktion, die Wan‐ delbarkeit und Irrtumsfähigkeit des Gewissens verständlich zu machen, denn die conscientia kann falsch sein und sich irren. Unterscheidung von syntheresis und conscientia: ● syntheresis = das Vermögen der Seele, sich zum Guten hinzuneigen ● conscientia = die praktische Anwendung der Grundsätze der synthe‐ resis Die innere Aufspaltung des Gewissensbegriffs in syntheresis und conscientia ist indes nicht ohne Schwierigkeiten. Sie treten vor allem dann zu Tage, wenn jemand nach seinem Gewissen handelt und im Widerspruch zur Kirchenlehre steht. In solchen Fällen empfahlen die mittelalterlichen Theo‐ logen, man solle das Gewissen ablegen. Ein Schuldbewusstsein ist damit aber im Grunde genommen unmöglich gemacht beziehungsweise nur äußerst schwer in diesen Gewissensbegriff einzuordnen. Das erklärt, warum es nicht zu einer religiösen Vertiefung des Gewissens bei den mittelalterlichen Autoren gekommen ist. Es ist an sich keine religiöse Größe und damit auch nicht der Ort der Gottesbeziehung. Luther hat den mittelalterlichen Gewissensbegriff und seine Aufspaltung in syntheresis und conscientia zunächst übernommen, ihn jedoch im Verlauf seiner theologischen Entwicklung zunehmend umgeprägt. In der Römer‐ 74 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="75"?> 209 BoA 5, 225 = WA 56, 177. 210 Vgl. Hirsch, Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, 125f. 211 WA 8, 606. 212 Vgl. Hirsch, Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, 130. 213 Vgl. WA 3, 535. 617. 214 Vgl. WA 3, 175. 309. 215 Vgl. WA 3, 168. 216 Vgl. WA 3, 540. 217 Vgl. WA 4, 263. conscientia briefvorlesung von 1515/ 16 spricht er im Zusammenhang seiner Erläuterung von Röm 1,19 von syntheresis und versteht sie als eine „syntheresis theolo‐ gica“, die in allen Menschen „inobscurabilis“, 209 nicht zu verdunkeln sei, aber nach 1516 hat er den Begriff nicht mehr gebraucht. Vor dem Hintergrund seines neuen, an Paulus und Augustin orientierten Verständnisses von Theo‐ logie empfand er den Begriff als unbiblisch. Der Gehalt des syntheresis-Be‐ griffs verschwindet allerdings in den Texten des Reformators nicht. Er hat ihn in sein Verständnis der natürlichen Vernunft und des jedem Menschen von Gott ins Herz geschriebenen Gesetzes aufgenommen. Damit kommt dem Menschen ein gewissermaßen vorreflexives Wissen von Gott zu, wel‐ ches sich im Gewissen als eine Macht manifestiert, die es überkommt. 210 Mit dem Zurücktreten des Begriffs syntheresis erhält die conscientia eine neue Bedeutung. Letztere wird zur Grundlage der Neubestimmung des Gewissens. Sie „ist eine Tugend nicht des Handelns, sondern des Urteilens, welche das Handeln beurteilt“. 211 Das eigentliche Werk des Gewissens sei es, wie Luther im Anschluss an Paulus (Röm 2) ausführt, coram Deo anzuklagen oder zu entschuldigen. In der ersten Psalmenvorlesung zeichnet der junge Professor die conscientia als Ursprung und Ort der stärksten Affekte und Affektäußerungen aus. 212 Das Gewissen schreit, 213 lärmt, 214 ist unruhig, 215 fürchtet sich, 216 ist angefochten und verzweifelt. 217 Es ist für den jungen Luther der Ort, wo der Mensch seiner Sündhaftigkeit und Schuldverflochtenheit inne wird. Das Schuldbewusstsein meldet sich in der anklagenden Stimme des Gewissens. Es kann durch ein Wort oder durch eine Geste einer anderen Person geweckt werden. Grundsätzlich führt Luther das anklagende Gewissen auf die Schrift und die Verkündigung zurück. Vor solchen Erfahrungen der tiefsten Gewissensmarter ist kein Mensch gefeit. Der letzte Ernst der Gewissenserfahrung rührt für Luther daher, dass sich in ihm Gott meldet. Dadurch bekommen das Gewissen und seine anklagende Stimme erst seine Unbedingtheitsdimension und seine letzte 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 75 <?page no="76"?> 218 WA 10, (1, 2. Hälfte), 171. 219 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd.-2, 443 = WA 56, 526f. 220 Vgl. WA 5, 525. 221 Vgl. WA 1, 540. 556. 557 f. Vgl. Hirsch, Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, 137. 222 Vgl. WA 1, 234 (These 16). Gewissen und Gottes‐ verhältnis Unausweichlichkeit. Der Mensch erfährt, was und wer er vor Gott ist. Die Erkenntnis, die sich hierbei erschließt, ist die seines Zurückbleibens hinter der unbedingten Forderung Gottes, das Gute aus reinem Herzen zu tun. Luther versteht das Gewissen nicht in erster Linie wie die scholastische Tradition als ein sittliches Selbstbewusstsein, welches die einzelnen Hand‐ lungen beurteilt, sondern als Träger des menschlichen Gottesverhältnisses. Die Erfahrung, die der Mensch im Schuldbewusstsein, in den Qualen des angefochtenen Gewissens macht, ist zunächst die des Gerichts Gottes. Der Reformator hat diesen Gedanken in variantenreicher Fülle vorgetragen. Eine sehr prägnante Fassung findet sich in der Adventspostille von 1522: „Dieweyl nu die tzwey ym herzten sind, gewissen der sund, und erkenntniß gottis straffe, muß es ymer betrubt, vortzagt und erschrocken seyn, hatt alle augenblick sorge, gott stehe hynder ihm mit der keule“. 218 Das Gewissen wird von Luther von vornherein mit der Gottesbeziehung verbunden und im Unterschied zur mittelalterlichen Lehrtradition religiös aufgefasst. Coram Deo und conscientia (Gewissen) sind für ihn identisch. In der Römerbriefvorlesung heißt es in dem Scholion zu Röm 15,20: „Denn das Gewissen ist’s, das einen vor Gott entweder zuschanden werden läßt oder mit Ehren bekleidet.“ 219 Und wenig später, in den Operationes in Psalmos, bezeichnet Luther das Gewissen ähnlich wie das Herz als das Innerste des Menschen. 220 In der anklagenden Stimme des Gewissens vollzieht sich das göttliche Gericht. Gott zerschlägt, wie Luther in den Ablassresolutionen schreibt, das Herz des Menschen. 221 Für die mittelalterliche Theologie war Gott im schlechten Gewissen nicht präsent, für den Reformator hingegen ist er im bösen Gewissen in seinem Zorn anwesend. Auch das letzte Gericht bezieht Luther auf die gegenwärtige Gewissens‐ erfahrung (vgl. unten 7.1). Formal sind bei ihm Buße und jüngstes Gericht identisch. In den Ablassthesen von 1517 kann er den Unterschied von Him‐ mel, Hölle und Fegefeuer von der Gewissenserfahrung her bestimmen. 222 Die Hölle entspricht der Erfahrung des verzweifelten Gewissens und das Heil, der Himmel, hingegen dem guten und freudigen Gewissen. 76 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="77"?> 223 StA 2, 247 = WA 2, 714; vgl. WA 4, 609; WA 10 (1), 2. Vgl. Hirsch, Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, 152f. 224 Vgl. Schwarz, Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, 197-199. 225 Lat.-dt. StA 2, 7 = WA 1, 234. 226 Lat.-dt. StA 2, 7 = WA 1, 235 (These 36). „Wo d(er) mensch nit / yn sich selbt befindt vnd fulet / eyn solch gewissen / vnd fro(e)lich hertz zu gottis gnaden / den hilfft keyn ablaß / ob er schon alle brieff vnd ablas lo(e)ßet / die yhe geben seyn / dan an ablas vnd ablas brieff mag man selig werden vnd die sund betzalen add(er) gnugthun / durch den todt. Aber an fro(e)lich gewissen / vnd leichtes hertz / zu got <das ist an vergebung der schuld>. mag niemant selig werden.“ 223 Mit seiner Reformulierung der überlieferten Vorstellungen von Himmel und Hölle reinigt der Reformator die christliche Religion von allen äußerlichen und sinnlichen Bestandteilen und verlagert sie in die Selbsterkenntnis des Menschen vor Gott. Luthers Neubestimmung des Gewissens als Träger des Gottesverhält‐ nisses sowie dessen Verknüpfung mit dem Schuldbewusstsein oder der Buße wurde für ihn zum Fundament seiner Kritik am mittelalterlichen Bußsakrament und dem Ablassinstitut. Beide bleiben der wahren Buße gegenüber viel zu äußerlich. 224 Wenn er in These 32 der Ablassthesen formuliert: „In Ewigkeit werden mit ihren Lehrern jene verdammt werden, die glauben, sich durch Ablassbriefe ihres Heils versichert zu haben“, 225 dann hat er vor allem die Verhinderung wahrer Selbsterkenntnis des Menschen durch das Bußsakrament im Blick. Luther hat das sakramental magische Bußverständnis der mittelalterlichen Kirche völlig durchbrochen und an seine Stelle die geistige Erfassung Gottes im Inneren des Gewissens als Selbsterkenntnis des Menschen gesetzt. Es ist dann nur konsequent, wenn er der gängigen Ablasspraxis seiner Zeit die These entgegensetzt: jeder „wahrhaft reumütige Christ erlangt vollkommenen Erlass von Strafe und Schuld; der ihm auch ohne Ablassbriefe zukommt“. 226 Abschließend stellt sich nun die Frage, was der junge Luther unter Gnade und Gerechtigkeit Gottes verstanden hat. 2.3.3 Iustitia Dei beim frühen Luther In seinem großen Selbstzeugnis aus dem Jahre 1545 hatte Luther als Inhalt seiner reformatorischen Entdeckung ein neues Verständnis der iustitia 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 77 <?page no="78"?> 227 Lat.-dt. StA 2, 507 = WA 54, 186. 228 WA 1, 212. 229 Vgl. Hirsch, Initium theologiae Lutheri, 9-35; Barth, Luthers Verständnis der Subjekti‐ vität des Glaubens, 271-275; D. Korsch, Glaube und Rechtfertigung, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 372-381. Sündener‐ kenntnis und Gottes‐ verhältnis Dei angegeben. Die Gerechtigkeit Gottes, von der Paulus in Röm 1,17 schreibt, sie „wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben“, 227 ist die Kraft, mit der Gott den Menschen gerecht macht, und keine göttliche Eigenschaft. Das „wortleyn deyn warheit und dein gerechtickeit“ heißt nicht „do got mit war und gerecht ist, alß etlich vill meinen, sundern die gnad, da mit uns gott warhafftig macht unnd gerecht durch Christum, wie dan Apostolus Paulus Ro. 1. und 2. und 3. nennet die gerechtickeit gottis und warheit gottis, die uns durch denn glauben Christi geben wirt“. 228 Im Folgenden interessiert allerdings weniger Luthers eigene spätere Selbstdeutung, sondern sein Gnadenverständnis, wie es aus der Perspektive des Bußverständnisses resultiert. Nachdem der mit der wahren Buße verbundene Gerichtsaspekt bereits erörtert wurde, ist jetzt darzustellen, wie Luther die Gnade beziehungsweise das Gnadenhandeln Gottes in seine neue Konzeption einfügt. Sein Gnadenverständnis unterliegt im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts einer Entwicklung. An deren Ende steht die These, dass der Glaube die Gnade und damit das Ganze des Heils sei. Luther hat sie in seiner Hebräerbriefvorlesung, also im unmittelbaren zeitlichen Kontext des Ablassstreits, ausgesprochen. 229 Die Einsicht des Menschen in sein totales Sündersein vor Gott ist ein Handeln Gottes an ihm: Versteht sich ein Mensch als vor Gott ungerecht, dann gibt er Letzterem recht und ist selbst gerecht. Auf vielfältige Weise hat der junge Luther diesen Gedanken in seinen frühen Vorlesungen aus‐ geführt. In ihm liegt der Kern dessen, was die Forschung Luthers frühe Demutstheologie nannte und bisweilen als vorreformatorisch eingestuft hat. In seiner Erläuterung von Ps 51,8 („siehe, dir gefällt Wahrheit“) formuliert der Wittenberger Professor: „Quare a nullo iustificatur, nisi ab eo, qui se accusat et damnat et iudicat. Iustus enim primo est accusator sui et damna‐ tor et iudex sui. Et ideo deum iustificat et vincere ac superare facit. Econtra impius et superbus primo est excusator sui ac defensor, iustificator et salvator. Quare „Daher wird (Gott) von niemandem anderem als gerecht erwiesen als von dem, der sich selbst anklagt und ver‐ dammt und richtet. Der Gerechte näm‐ lich ist zu allererst Ankläger, Verdam‐ mer und Richter seiner selbst. Und deshalb erweist er Gott als gerecht 78 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="79"?> 230 WA 3, 288. 231 LD 1, 54. 232 LD 1, 56 = WA 3, 289; vgl. WA 1, 323. 233 Vgl. WA 1, 322. 234 Vgl. R. Hermann, Gottes Gerechtigkeit und unsere Rechtfertigung, in: ders., Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums. Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd. 2, Berlin 1981, 43-54. 235 Lat.-dt. StA 2, 51 = WA 1, 324. Gerechtig‐ keit Gottes ipso facto dicit deo salvator se non indi‐ gere, et iudicat deum in suis sermonibus et iniustificat ac mendacem et falsum arguit. Sed non prevalebit, deus enim vincet.“ 230 und lässt ihn siegen und überwinden. Dagegen ist der Gottlose und Übermü‐ tige zuerst einer, der sich entschuldigt, verteidigt, rechtfertigt und zu retten sucht. Daher sagt er eben deswegen, er bedürfe Gott als Retter nicht und richtet (damit) Gott in seinen Worten und macht ihn ungerecht und klagt ihn als Lügner und Falschredner an.“ 231 Das mit der Einsicht in das totale Sündersein vor Gott verbundene Bekennt‐ nis der eigenen Sündhaftigkeit versteht Luther als Übereinstimmung des Menschen mit dem Urteil Gottes. Genau darin ist der Mensch gerecht oder hat Anteil an der Gerechtigkeit Gottes, wie er nur wenig später bemerkt. „Wer sich selbst richtet und die Sünde bekennt, erweist Gott als gerecht und wahr; denn er sagt das von sich, was Gott von ihm sagt. Und so stimmt er mit Gott überein und ist wahrhaftig und gerecht, wie Gott, mit dem er übereinstimmt. Denn beide sagen dasselbe. Gott aber spricht Wahres und Gerechtes: und er sagt dasselbe. Also ist auch er selbst mit Gott gerecht und wahrhaftig.“ 232 Die iustitia Dei wird von Luther in den Dictata, in der Römerbriefaber auch in der Galaterbriefvorlesung als Übereinstimmung der Willensrichtung des Menschen mit Gott beziehungsweise mit seinem Wort bestimmt. Gottes Gerechtigkeit gewinnt im Menschen Gestalt, wenn dieser sich selbst als ein Nichts vor Gott erkennt. 233 Und genau darin, in der eigenen Selbstver‐ dammung und Demütigung vor Gott, wird ein Mensch selbst wahr. Seine Gerechtigkeit besteht in der neuen Selbstbeurteilung, in der er das Urteil Gottes über ihn anerkennt. Der Gehalt von Luthers Verständnis der iustitia Dei umfasst drei Aspekte: die Anerkennung Gottes durch den Menschen, auf Seiten des Menschen eine neue Selbstbeurteilung sowie den Rechtferti‐ gungsglauben. 234 „Denn allein der Glaube macht gerecht [sola fides iustificet], und wer zu Gott kommen will, der muss glauben.“ 235 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 79 <?page no="80"?> 236 LD 2, 42 = WA 1, 540. Vgl. Holl, Was verstand Luther unter Religion? , 29. 237 LD 2, 42 = WA 1, 540; vgl. WA 4, 469 u. ö. 238 Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 284. Das Gericht Gottes und seine Gnade sind zwei Seiten eines Geschehens. Diejenigen, die Gott im Gericht tötet, also bei denen durch das Handeln Gottes die Erkenntnis ihrer totalen Sündhaftigkeit entsteht, die lässt Gott im Grunde schon an seiner Gnade teilhaftig werden. Wenn „Gott damit beginnt, einen Menschen gerecht zu machen, dann verdammt er ihn erst, und wen er geistlich erbauen will, den reißt er ein; wen er heilen will, den verwundet er; wen er lebendig machen will, den tötet er“. 236 Luther hat diesen Gedanken in seinem weiteren Werk immer wieder neuen Ausdruck verliehen. Am häufigsten hat er sich dabei der Formulierung aus dem 1Sam 2,6f. und Dtn 32,39 bedient: „Ich werde töten und lebendig machen.“ 237 Die frühe Fassung der Gerechtigkeit Gottes in den Dictata, in der Römerbrief- und in der Galaterbriefvorlesung ist noch durchzogen von überkommenen Vorstellungen und Begriffen der mittelalterlichen Gnaden‐ lehre. Luther kann von einer eingegossenen Gnade reden, und noch in der Römerbriefvorlesung sieht er den Schlussstein des Rechtfertigungsglaubens mit Augustin und der Lehrtradition in der Liebe zu Gott. Erst in der Hebräerbriefvorlesung ist der Reformator zu der abschließenden Erkenntnis durchgedrungen, „daß der die Gerechtigkeit Gottes ergreifende Glaube tatsächlich das Ganze des christlichen Gottesverhältnisses repräsentiert“. 238 Er unterscheidet nun strikt die Gerechtigkeit, welche der Mensch durch sein Handeln erlangen kann, von derjenigen des Glaubens. Der Kleine Galater‐ briefkommentar von 1519 stellt beide Arten treffend einander gegenüber. „In primis itaque sciendum, quod homo dupliciter iustificatur et omnino con‐ trariis modis. Primo ad extra, ab ope‐ ribus, ex propriis viribus. Quales sunt humanae iusticiae, usu (ut dicitur) et consuetudine comparatae. […] sic enim putant, operando iusta iustum fieri, temperando temperatum, et similia. […] Haec est iusticia servilis, mercenna‐ ria, ficta, speciosa, externa, temporalis, mundana, humana, quae ad futuram gloriam nihil prodest“ […] „Vor allen Dingen muß man denn wis‐ sen, daß der Mensch gerecht werde auf zweierlei Weise, davon eine stracks wi‐ der die andre ist. Zuerst nach außen, von den Werken, aus den eignen Kräf‐ ten. Derart sind die menschlichen Ge‐ rechtigkeiten, die, wie man sagt, durch Übung und Gewohnheit erworben wer‐ den. […] Denn also meinen sie, durch Tun des Gerechten gerecht, durch sich Mäßigen mäßig zu werden, und der‐ gleichen. […] Das ist die Gerechtigkeit, so da ist knechtisch, gedungen, erdich‐ tet, hübsch anzusehen, äußerlich, zeit‐ 80 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="81"?> 239 WA 2, 489f. 240 Zitiert nach E. Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 117f. 241 Vgl. Bayer, Promissio. 242 Vgl. Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 284. 243 LD 1, 316 = WA 57 (3), 191. 244 LD 2, 46 = WA 1, 542. 245 StA 2, 273 = WA 7, 24; vgl. WA 2, 733. Glaube und Hoffnung lich, weltlich, menschlich, welche nichts nutzt zum künftigen Leben. […] Secundo ab intra, ex fide, ex gratia, ubi homo de priore iusticia prorsus desperans tanquam ab immundicia menstruatae proruit ante deum, gemens hu‐ militer peccatoremque sese confessus cum publicano dicit: Deus, propitius esto mihi peccatori. Hic, inquit Chris‐ tus, descendit iustificatus in domum suam“. 239 Zweitens, von innen, aus dem Glauben, aus der Gnade, wo der Mensch an der ersten Gerechtigkeit ganz und gar ver‐ zweifelt […] und vor Gott niederfällt und mit demütigem Seufzen sich als Sünder bekennt und mit dem Zöllner sagt: ‚Gott sei mir Sünder gnädig‘ (Luk 18, 13 f.). Dieser, spricht Christus, ‚ging gerechtfertigt in sein Haus‘.“ 240 Mit der sich seit 1517 durchsetzenden Erkenntnis wird die im Rechtferti‐ gungsglauben erlangte Heilsgewissheit zum methodischen Zentrum der Theologie. Immer wieder schärft Luther jetzt die Korrelation von fides und promissio ein. 241 Die methodische Umstellung hat zur Folge, dass sich Glau‐ bensbegriff und Gnadenverständnis mehr und mehr wechselseitig durch‐ dringen. 242 In seiner Auslegung von Hebr 7,12 („Denn wenn das Priestertum verändert wird, dann muß auch das Gesetz verändert werden.“) erklärt er: „Aber der Glaube ist ja schon die gerecht machende Gnade.“ 243 Zu völliger Klarheit hat Luther seinen Glaubensbegriff in den Ablassresolutionen vom Frühjahr 1518 gebracht. „Denn wer zum Sakrament kommen will, der muß glauben (Hebr. 11,6). […] Petrus spricht also nicht eher als Christus los, sondern er verkündigt nur die Lossprechung und weist auf sie hin. Wer an diese mit Zuversicht glaubt, der erlangt wahrhaft Frieden und Vergebung bei Gott (d. h. er ist gewiß, daß er absolviert ist), nicht als Sache, sondern durch die Gewißheit des Glaubens, wegen des untrüglichen Wortes dessen, der aus Barmherzigkeit verheißt“. 244 Immer wieder erklärt nun der Reformator, die Glaubenden haben an ihrem Glauben genug und bedürfen keiner Werke: „glaubstu so hastu / glaubstu nit / so hastu nit“. 245 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen 81 <?page no="82"?> 246 Vgl. WA 7, 24. 247 D. Korsch, Die religiöse Leitidee, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 91-97, hier 95. Allein der Glaube an das Vergebungswort Christi - der kein ‚äußerer Vor‐ gang‘ ist - schafft dem Gewissen Frieden. Die mit dem Glauben verbundene Gewissheit des Menschen kommt ebenso wenig wie die Erkenntnis seines eigenen Sünderseins vor Gott durch sein Handeln zustande, sondern sie ist allein Gottes Werk. Luther löst die wahre Selbsterkenntnis des Menschen und die Entstehung von grundlegender Gewissheit vom menschlichen Handeln ab und verlagert sie in den Gottesgedanken. Alle Gewissheiten, die ein Mensch sich errichtet, sind stets von der zweifelnden Frage begleitet, ob sie auch wirklich tragen. Grundlegende Selbsterkenntnis erschließt sich einem Menschen nicht durch seine intentionalen Akte. Sie kann also nicht gewollt werden. Vielmehr stellt sich ein Sich-Verstehen unableitbar ein. Die theologische Beschreibung dieses Geschehens der wahren Selbsterkenntnis lautet: Das Gottesverhältnis als wahres Sich-Verstehen wird von Gott selbst konstituiert. 246 Es kommt indes nur über den Umweg des Gerichts und der Anklage Gottes zustande. Das Gottesverhältnis des Glaubens entsteht durch die Negation des Menschen hindurch und fußt auf dem Vergebungs- und Verheißungswort Gottes, mit dem er den Menschen freispricht. Im Gottesgedanken muss sich allerdings die Spannung von Gericht und Vergebung niederschlagen. Andernfalls würde Gott der religiösen Selbst‐ erkenntnis des Menschen äußerlich bleiben. Es ist Gott selbst, der den Menschen im Gewissen anklagt und ihn freispricht. In der kategorialen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium beziehungsweise von Gottes fremdem und seinem eigenen Werk hat Luther diese Dialektik durchdacht (vgl. unten 3.2). Durch sie erhält der Gottesgedanke erst seine Prägnanz. In seiner Schrift De servo arbitrio von 1525 hat Luther die Gerechtigkeit Gottes als iustitia Dei passiva beschrieben. Hier fällt nun der Begriff, mit dem er zwanzig Jahre später im Rückblick den Inhalt seiner reformatorischen Entdeckung zusammenfasst. Sein Verständnis der Gerechtigkeit Gottes als Überwindung der Ungerechtigkeit des Menschen zielt auf die durch Gott selbst hervorgebrachte Einheit von Gott und Mensch im Glauben. Im Glauben ist sich der Mensch nicht nur verständlich geworden und zu sich selbst gekommen, er weiß sich darin auch von Gott anerkannt. Deshalb kann man zusammenfassend sagen, „Gottes Gerechtigkeit ist derjenige Vorgang, in dem er sich selbst und den Menschen verwirklicht.“ 247 82 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="83"?> 248 Vgl. B. Moeller, Luther und das Papsttum, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 106-115; Beutel, Martin Luther, 73-97; Leppin, Martin Luther, 135-192; Korsch, Martin Luther, 29-55. 249 Zitiert nach Beutel, Martin Luther, 76. Verinnerli‐ chung der Religion 2.4 Der Bruch mit der Papstkirche Am 3. Januar 1521 wurden Luther und seine Anhänger exkommuniziert. Die systematisch-theologischen Motive für den Bruch mit der mittelalterlichen Papstkirche lagen vor allem in seinem neuen Bußverständnis und den aus ihm resultierenden institutionskritischen Konsequenzen. 248 Vertreter der römischen Kurie, wie Kardinal Cajetan, der Luther im Herbst 1518 in Augsburg verhörte, hatten die Sprengkraft des Bußverständnisses des jun‐ gen Mönchs rasch erfasst. In der mit Luthers Bußverständnis verknüpften These, dass die Gewissheit des Glaubens nicht an die institutionell verfasste Kirche gebunden ist, sah der Kardinal einen fundamentalen Widerspruch zur römischen Kirche: „Das heißt eine neue Kirche bauen! “ 249 Luthers Neubestimmung der Buße sowie sein Schriftverständnis markie‐ ren die systematischen Eckpunkte, die ihn in Entfremdung von der mittel‐ alterlichen Kirche bringen und schließlich - im Zusammenspiel mit äußeren Ereignissen - zur Etablierung eigenständiger Kirchentümer führen. Mit seinem Bußverständnis ist eine Verinnerlichung der christlichen Religion verbunden. Er ersetzt die sakramentale Buße durch das innerliche Gesche‐ hen des Glaubens und bezieht es auf das gesamte Leben eines Christen. Die Buße ist kein sakramentaler Akt mehr, der beliebig oft wiederholt werden kann, sondern in Luthers Bußverständnis ist festgehalten, dass es immer und in jedem Augenblick um das Gegenüber von Gott und Mensch geht. In der Konsequenz seines neuen Verständnisses als ein lebensbegleitendes Moment tritt die Predigt des Wortes Gottes an die Stelle des überlieferten Bußsakraments. Die Buße wird zu einem von Gott gewirkten Geschehen, in dem sich der Mensch vor Gott als totaler Sünder versteht. Die Glaubenden wissen sich als Sünder vor Gott und allein darin von Gott anerkannt. Glaubensgerechtigkeit ist nicht ihre eigene, sondern eine ihnen fremde, von Gott zugesprochene. Der Ort der Buße ist die Innerlichkeit des Subjekts, das Herz oder das Gewissen des Menschen. Im Gewissen begegnet Gott dem Menschen. Mit der von Luther vorgenommenen Innenverlagerung der Religion bezie‐ hungsweise der Gottesbeziehung in das Gewissen werden die äußeren institutionellen Vermittlungsinstanzen zweitrangig. An ihre Stelle tritt die 2.4 Der Bruch mit der Papstkirche 83 <?page no="84"?> 250 Vgl. E. Troeltsch, Luther und die moderne Welt, in: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906-1913) (= Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8), hrsg. v. T. Rendtorff in Zusammenarbeit mit S. Pautler, Berlin/ New York 2002, 59-97; Barth, Die Geburt religiöser Autonomie, 53-95. 251 AS 1, 269 = WA 7, 838. 252 Hirsch, Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, 185. Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung des individuellen Menschen im Glau‐ ben. Aus der Verzahnung von Gewissen und coram Deo folgt eine Aufwer‐ tung des Individuums und des individuellen Glaubens. Der einzelne Mensch und sein Gottesverhältnis treten in das Zentrum der christlichen Religion. Damit ist der religiöse Individualismus von Luther prinzipiell in sein Recht eingesetzt, auch wenn er erst in der Zeit der europäischen Aufklärung unter veränderten soziokulturellen Bedingungen zum Durchbruch kommt. 250 Das Gewissen ist zwar für Luther der grundlegende Ort der Gottesbe‐ gegnung, aber es ist nicht selbst der Produzent der Wahrheit. In seiner berühmten Rede vor dem Wormser Reichstag sagt er 1521: „Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“ 251 Die Schrift ist als Wort Gottes Grund und Quelle der Wahrheit. „[A]lle Rechenschaft, die das Gewissen sich oder andern davon gibt, daß die Erkenntnis göttlicher Dinge, von der es hingenommen ist, wirklich die Wahrheit und keine Erdichtung oder Lüge ist, hat für Luther an der Schrift ihren festen, alles regierenden Grund- und Ausgangspunkt.“ 252 Die Bibel fungiert zugleich als allgemeine Appellations- und Wahrheitsin‐ stanz. Deshalb ist sie und nicht die Kirche oder ihr Lehramt, wie der Reformator gegenüber der römischen Kirche geltend macht, die alleinige Entscheidungsinstanz in religiösen Dingen. Im Auslegungsmonopol des Papstes trete hingegen ein bloß menschlicher Anspruch und mithin Men‐ schenlehre an die Stelle des Wortes Gottes. Aller Betonung der Objektivität und Vorgegebenheit der Schrift ungeach‐ tet, bleibt es indes nicht bei einer einfachen Vorordnung. Die Verknüpfung von Innerlichkeit und äußerer Vermittlung, von Innen und Außen ist für Luthers Theologie insgesamt signifikant. Der Glaube als inneres Geschehen ist vermittelt durch das äußere Wort der Predigt. Aber auch das äußere Wort Gottes, die Schrift und die Verkündigung, ist keine einsinnige Größe, sondern es tritt in der Doppelheit von Forderung und Verheißung auf. 84 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="85"?> 253 StA 2, 267. 269 = WA 7, 22f. Glaube und Institutio‐ nenkritik Prägnant ausgeführt hat Luther den eben genannten Zusammenhang in seinem Traktat Von der Freiheit eines Christenmenschen. Dort heißt es: „Czum funfften / Hatt die seele keyn ander dinck / widder yn hymel noch auff erden darynnen / sie lebe / frum / frey / vnd Christen sey / den das heylig Eu(a)ngelij / das wort gottis von Christo geprediget. […] Fragistu aber / wilchs ist denn das wort das solch grosse gnad gibt. Vnd wie sol ichs gebrauchen? Antwort. Es ist nit anders / den(n) die predigt von Christo geschehen wie das Euangeliu(m) ynnehelt. Wilche soll seyn / vnd ist alßo gethan / das du ho(e)rist deynen gott zu dir reden / Wie alle deyn leben vnd werck / nichts seyn fur gott / sondern mu(e)ßsist / mit allen dem das ynn dir ist ewiglich vorterben. Wilchs ßo du recht glaubst / wie du schuldig bist / so mustu an dir selber vortzweyffelnn / vnd bekennen / das war sey der spruch Osee. O Israel yn dir ist nichts / denn deyn vorterben / alleyn aber yn mir steht deyn hulff. Das du aber auß dir vnd von dir / das ist auß deynem vorterben(n) ko(m)men mu(e)gist / ßo setzt er dir fur / seynen lieben ßon Jhesum Christu(m) / vnd leßsit dir durch seyn lebendigs trostlichs wort sagen. Du solt ynn den selben mit festem glauben dich ergeben / vnd frisch ynn yhn vortrawen.“ 253 Die Doppelheit von göttlicher Forderung und Verheißung zielt auf den inneren Menschen. Im neuen Menschen des Glaubens ist jegliche äußere und menschliche Hierarchie aufgehoben. In ihm herrscht Christus allein. Doch die innere königliche Freiheit des Christenmenschen verwirklicht sich im äußeren Leib und in der Sozialdimension als selbstlose Hingabe an den Nächsten. Mit diesem aus seinem Bußverständnis erwachsenen äußerst komplexen Glaubensverständnis verändert sich die Zuordnung von Individuum und Institution. Sie birgt eine enorme Sprengkraft in sich. Wie bei der Buße das Sakrament durch die Verkündigung ersetzt wird, so tritt die kirchliche Institution hinter die Schrift zurück. Alleinige Aufgabe der institutionellen Kirche ist die Verkündigung des Wortes Gottes. Darüber hinaus kommt ihr keine religiös-sakramentale Qualität mehr zu. Mit Luthers Glaubensver‐ ständnis, in dem das Ganze des christlichen Heils beschlossen liegt, ist ein neues Verständnis der Kirche beziehungsweise der christlichen Gemein‐ schaft verbunden. Die inneren Aufbauelemente von Luthers Kirchenver‐ ständnis müssen an späterer Stelle noch genauer besprochen werden (vgl. unten 6). Deutlich wird jedoch schon hier, dass die von ihm vorgenommene 2.4 Der Bruch mit der Papstkirche 85 <?page no="86"?> 254 Vgl. Leppin, Martin Luther, 151-164; Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, 143-203. 255 Vgl. WA 6, 404-465. 256 Vgl. WA 6, 497-573. reformato‐ rische Haupt‐ schriften Innenverlagerung des Gottesverhältnisses tendenziell das mittelalterliche Kirchenverständnis sprengt. In seine Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Institution ist indes eine Spannung von Institutionskritik und Quietismus eingeschrieben, die sich in der Geschichte des Luthertums verhängnisvoll auswirkte. 2.5 Die Entfaltung der reformatorischen Theologie In den drei reformatorischen Hauptschriften aus dem Jahre 1520 hat Luther sein neues Verständnis des Glaubens als Gerechtigkeit Gottes weiter aus‐ geführt: zunächst in der Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, der wirkungsmächtigsten Programm‐ schrift des Reformators, sodann in der lateinischen Schrift De captivitate Babylonica ecclesia praeludium und schließlich in dem Traktat Von der Frei‐ heit eines Christenmenschen, der bekanntesten der drei reformatorischen Hauptschriften. Mit den drei Abhandlungen aus dem Jahre 1520 ist Luther auf dem Höhepunkt seiner theologischen Wirksamkeit. 254 Im Vergleich mit dem mittelalterlichen Christentum kann man von einer Neubestimmung des Wesens des Christentums sprechen, in deren Zentrum das im Glauben des Individuums beschlossene Gottesverhältnis steht. Die reformatorischen Hauptschriften von 1520 An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung 255 ● Aufhebung des Unterschieds von Priestern und Laien De captivitate Babylonica ecclesia praeludium 256 ● Untergrabung der sakramentalen Basis der mittelalterlichen Kirche ● Kriterium der Sakramente: Einsetzung durch Christus sowie die Relation von Verheißung und Glaube 86 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="87"?> 257 Vgl. WA 7, 3-38. 258 Vgl. WA 6, 408. 259 Vgl. Kaufmann, Geschichte der Reformation, 271-274; ders., Die Mitte der Reformation. 260 Lat.-dt. StA 3, 185 = WA 6, 501. An den christlichen Adel deut‐ scher Na‐ tion De captivi‐ tate Baby‐ lonica ecc‐ lesia praeludium Von der Freiheit eines Christenmenschen 257 ● die Schrift sei eine ganze Summe eines christlichen Lebens ● Doppelthese: der Christenmensch ist frei und zugleich jedermann untertan Mit der Adelsschrift wendet sich Luther an Laien und versucht, der reforma‐ torischen Bewegung eine breite gesellschaftliche Basis zu verschaffen. Diese Stoßrichtung resultiert aus seiner Bußtheologie und ihren Konsequenzen für das Priestertum. Die Unterscheidung zwischen Priestern und Laien, Luther nennt sie die erste Mauer, hinter der sich die römische Kirche verschanzt, wird geschliffen. Der geistliche Beruf sei kein hervorgehobener Stand, son‐ dern ein Amt. Alle Christen sind als solche gleich vor Gott (vgl. unten 6.2). 258 Die Schrift prangert Missstände an, insbesondere die Geldgier der römischen Kurie. Luther registriert sensibel eine in Deutschland weitverbreitete Kritik an der spätmittelalterlichen Kirche und dem Papstamt und nimmt sie auf. Hieraus erklärt sich die enorme Wirkung der Adelsschrift. Binnen kurzer Zeit erschienen 14 Nachdrucke des Textes. 259 In der zweiten reformatorischen Hauptschrift über die Babylonische Gefangenschaft der Kirche untergräbt Luther die sakramentale Basis der mittelalterlichen Kirche. Die Kritik zielt mit dem Sakramentsbegriff auf den Lebensnerv der römischen Kirche. Kriterium für ein Sakrament ist für Luther seine biblische Bezeugung (vgl. unten 6.3). Nur dann, wenn sich in der Bibel eine Verbindung von Einsetzungswort und sichtbaren Zeichen aufweisen lasse, kann von einem Sakrament gesprochen werden. „Zuallererst muss ich die Siebenzahl der Sakramente bestreiten und vorerst nur noch drei Sakramente aufstellen: die Taufe, die Buße und das Brot. Und all diese, so meine These, sind uns durch die römische Kirche in elendigliche Gefangenschaft verschleppt worden, so dass die Kirche ihrer Freiheit völlig beraubt ist.“ 260 Letztlich hat Luther nur Taufe und Abendmahl als Sakramente gelten lassen. Wie tiefgreifend seine Kritik an der mittelalterlichen Kirche empfunden wurde, mag man daran ersehen, dass die Theologische Fakultät 2.5 Die Entfaltung der reformatorischen Theologie 87 <?page no="88"?> 261 A. Ritschl, Selbstanzeige „Rechtfertigung und Versöhnung II + III“ (1874), in: ders., Kleine Schriften, hrsg. v. F. Hofmann, Waltrop 1999, 28-40, hier 36. 262 BoA 2, 10 = WA 7, 11. 263 StA 2, 265 = WA 7, 21. 264 Vgl. R. Rieger, Von der Freiheit eines Christenmenschen. De libertate Christiana, Tübingen 2001; B. Hamm, Freiheit vom Papst - Seelsorge am Papst. Luthers Traktat ‚Von der Freiheit eines Christenmenschen‘ und das Widmungsschreiben an Papst Leo X.: eine kompositorische Einheit, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 183-199; M. Luther, Von der Freiheit eines Christen‐ menschen, hrsg. u. komm. v. D. Korsch, Leipzig 2 2018. 265 Vgl. Leppin, Martin Luther, 193-204; Brecht, Martin Luther, Bd.-2, 139-193. Von der Freiheit ei‐ nes Chris‐ tenmen‐ schen Septem‐ bertesta‐ ment der Universität Paris diese Lutherschrift aufgrund ihrer kapitalen Irrtümer auf eine Stufe mit dem Koran stellte. Der ebenfalls 1520 erschienene Freiheitstraktat darf schließlich als ein Meisterwerk aus Luthers Hand gelten. Albrecht Ritschl erblickte in der lateinischen Fassung der Schrift „geradezu das Programm der Reformation Luthers“. „Man kann nämlich“, so Ritschl weiter, „das evangelische Ideal des christlichen Lebens gegen das katholische gar nicht ohne den Inhalt des lutherischen Gedankens der religiösen Freiheit […] feststellen.“ 261 Für Luther stellt die Schrift, wie er in seinem Sendschreiben an Papst Leo X. schreibt, nichts weniger als die „gantz Summa eynis Christlichen leben“ dar, jedenfalls, wie er hinzufügt, wenn man sie richtig versteht. 262 Der Traktat bildet das Gegenstück zur Schrift über die babylonische Gefangenschaft der Kirche und beginnt mit der bekannten Doppelthese - „Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr / u(o)ber alle ding / vnd niemandt vnterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding vnd yderman vnterthan.“ 263 - und führt in ihrem ersten Teil den Glauben als die wahre christliche Freiheit aus, die sich, wie Luther im zweiten Teil der Schrift darlegt, in der selbstlosen Nächstenliebe realisiert (vgl. unten 5.4). 264 Nach dem Reichstag zu Worms 1521 war Luther auf der Wartburg. Hier übersetzte er das Neue Testament ins Deutsche und schuf damit die Grundlage der deutschen Sprache. Es erschien im September 1522, „Septembertestament“, in einer Auflage von 3000 Exemplaren und war binnen weniger Tage verkauft. Der Wartburgaufenthalt Luthers machte aber auch deutlich, dass er etwas ins Rollen gebracht hatte, das inzwischen so selbständig geworden war, dass es auch ohne ihn seinen Fortgang nahm. 265 1522 kam es in Wittenberg zu Unruhen, veranlasst durch die sogenann‐ ten ‚Zwickauer Propheten‘, eine Gruppe, die radikale religiöse Positionen vertrat. Die Reformation schien außer Kontrolle zu geraten: die Ordnung 88 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="89"?> 266 Vgl. WA 10 (3), 1-64. 267 StA 2, 531 = WA 10 (3), 5. 268 Vgl. M. Wriedt, Pietas et Eruditio. Zur theologischen Begründung der bildungsrefor‐ merischen Ansätze bei Philipp Melanchthon, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchenge‐ schichtlichen Vereinigung 62 (2011), 25-46; Leppin, Martin Luther, 209-220. 269 Vgl. WA 30 (1), 125-238. 243-425. 270 Vgl. M. Wriedt, Bildung, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 231-236; ders., Die theologische Begründung der Bildungsreform bei Luther und Melanchthon, in: M. Beyer/ G. Wartenberg (Hrsg.), Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anläßlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997. FS Helmar Junghans, Leipzig 1996, 155-184. 271 Vgl. C. Peters, Luther und seine protestantischen Gegner, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 121-134. Neuord‐ nung der Kirche Kontro‐ verse mit Erasmus von Rotter‐ dam der Messe wurde radikal geändert, Altäre und Heiligenbilder demoliert. Im März 1522 kehrte Luther nach Wittenberg zurück und stoppte binnen we‐ niger Wochen das Treiben. Eindringlich sind die Invokavitpredigten, 266 die er in Wittenberg gehalten hat. Änderungen sollten durch das gepredigte Wort erfolgen, welches die Herzen der Menschen erreicht, und nicht durch Gewalt. Gegenüber den ‚Schwachen‘ sei Rücksicht zu nehmen, da nicht „alle gleich starck jm glauben“ 267 sind. Seit den 1520er Jahren war Luther auf der einen Seite um eine Neuord‐ nung der Kirche bemüht und auf der anderen zunehmend in innerreforma‐ torische Streitigkeiten verwickelt. Was die Neuordnung der Kirche betrifft, so gab es bereits 1527 in Kursachsen, wo sich die Reformation ungehindert ausgebreitet hatte, erste Visitationen, maßgeblich unter Federführung von Philipp Melanchthon. 268 Luthers Katechismen 269 von 1529 stellten Reaktio‐ nen auf die deprimierenden Visitationserfahrungen dar. Die hochgradige theologische Unbildung der Pfarrer machte es notwendig, den reformato‐ rischen Glauben in elementarer Form zusammenzufassen. Hinzu kam die Neuordnung des Schulwesens. Die Reformation war auch von Anfang an eine Bildungsreform gewesen. Für die zukünftigen Prediger sollte die Ausbildung in den alten Sprachen - Hebräisch und Griechisch - verbindlich gemacht werden. 270 In der Zeit seiner Auseinandersetzung mit der römischen Kirche waren die innerreformatorischen Gegensätze zu Karlstadt, Thomas Müntzer (1489- 1525), Ulrich Zwingli (1484-1531) und anderen verdeckt. 271 Nach dem Bruch mit Rom traten diese Konflikte immer stärker hervor. Zunächst kam es 1524 beim Abendmahlsverständnis zum Bruch zwischen Luther und Karlstadt. 1525, ein wahres Schicksalsjahr für Luther, wurde die Differenz 2.5 Die Entfaltung der reformatorischen Theologie 89 <?page no="90"?> 272 Vgl. Leppin, Martin Luther, 221-257; Brecht, Martin Luther, Bd. 2, 210-234; T. Kauf‐ mann, Luther und Erasmus, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 142-152; K. Zickendraht, Der Streit zwischen Erasmus und Luther über die Willensfrei‐ heit, Leipzig 1909. 273 Vgl. WA 18, 600-787. 274 Vgl. Erasmus von Rotterdam, De libero arbitrio DIATRIBE sive collatio, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd.-4, Darmstadt 1969. 275 Lat.-dt. StA 1, 47 = WA 1, 354. 276 Vgl. DH 1486. 277 Vgl. WA 7, 94-151. 278 Lat.-dt. StA 1, 203 = WA 7, 146. zwischen Erasmus von Rotterdam und dem Wittenberger unüberbrückbar (vgl. unten 5.3). 272 Mit De servo arbitrio 273 hatte er Erasmus brüskiert. Den unmittelbaren Anlass für Luthers Buch bildete Erasmus’ Schrift De libero arbitrio ΔΙΑΤΡΙΒΗ sive collatio per Desiderium Erasmum Roterodamum, 274 welche Anfang September 1524 bei Froben in Basel erschien, aber der wei‐ tere Entstehungskontext der Schrift lag in Luthers reformatorischer Entde‐ ckung und ihren Implikationen. Sein neues Verständnis der iustitia Dei hatte er in seiner Römerbriefvorlesung von 1515/ 16 mit dem Gedanken der Al‐ leinwirksamkeit Gottes verbunden. In der 13. seiner Heidelberger Thesen heißt es: „Das freie Willensvermögen nach dem Sündenfall ist ein bloßer Name, und indem es tut, was in seinen Kräften steht, sündigt es tödlich.“ 275 Diese These wurde in der Bannandrohungsbulle Leos X. vom 15. Juni 1520 verworfen. 276 In seiner Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum 277 vom 29. November 1520 hatte Luther die von ihm eingenommene Lehrposition noch einmal verschärft. Unter Be‐ zugnahme auf die 13. Heidelberger These schreibt er: „Daher ist auch dieser Artikel notwendig zu widerrufen. Ich habe nämlich schlecht gesagt, dass das freie Willensvermögen vor der Gnade eine Sache allein dem Namen nach sei; vielmehr hätte ich einfach sagen müssen: ‚Das freie Willensvermögen ist ein Hirngespinst unter den Dingen oder ein [bloßer] Name ohne Inhalt.‘ Denn niemand hat es in seiner Hand, sich etwas Böses oder Gutes vorzunehmen, sondern alles (wie der in Konstanz verdammte Artikel Wyclifs recht lehrt) geschieht aus absoluter Notwendigkeit [necessitate absoluta].“ 278 Eine solche Position war denn auch für Erasmus unannehmbar, der der Sache der Reformation in gewisser Hinsicht durchaus wohlwollend gegen‐ überstand. Im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Ulrich von Hutten (1488-1523) ging Erasmus zu Beginn der 1520er Jahre auch öffentlich 90 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="91"?> 279 Vgl. Leppin, Martin Luther, 277-292; Kaufmann, Luther und Zwingli, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 152-161. 280 Vgl. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem syste‐ matischen Zusammenhang, 190. Kontro‐ verse mit Zwingli auf Distanz zu Luther. Die Kontroverse, die schließlich in den beiden Streitschriften kulminierte, war auch veranlasst durch mancherlei Indiskre‐ tionen und Briefveröffentlichungen der beiden in den Streit verwickelten Kontrahenten. In seiner Diatribe von 1524 unternahm Erasmus den Versuch, Luthers Bestreitung der menschlichen Willensfreiheit durch Belege aus der Schrift, den Kirchenvätern und praktische Vernunftgründe zu widerlegen. Ihm ist an einer vermittelnden Position in der strittigen Frage nach dem Verhältnis des göttlichen Gnadenhandelns zur menschlichen Willensfreiheit gelegen. Zwar reagierte Melanchthon, an den Erasmus eines der ersten Exemplare der Diatribe geschickt hatte, erleichtert über den maßvollen Ton, in dem Erasmus seine Schrift gehalten hatte, und gab ihm zu erkennen, dass auch Luthers Antwort entsprechend ausfallen würde. Aber die Stellungnahme des Wittenberger Reformators, der die Schrift des Erasmus nur mit Widerwillen las, fiel dann doch anders aus. Durch die ab Mitte der 1520er Jahre einset‐ zenden innerreformatorischen Streitigkeiten sowie die Bauernaufstände abgehalten, kam er erst im Jahre 1525 zu einer Antwort auf Erasmus’ Schrift. Am 31. Dezember 1525 lag De servo arbitrio als Druckschrift vor, und bereits Mitte November desselben Jahres begann Luthers Wittenberger Mitstreiter Justus Jonas mit der Arbeit an der deutschen Übersetzung. Sie erschien Anfang 1526 unter dem Titel Das der freie / / wille nichts sey, Antwort / / D. Martini Luther an / / Erasmum Roterdam. Erasmus war über Luthers gegen ihn gerichtete Schrift entsetzt und tief verletzt. 1526 publizierte er eine Replik mit dem Titel Hyperaspistes Diatribae adversvs servvm arbitrivm Martini Lvtheri, libri duo, auf die der Wittenberger jedoch nicht mehr reagiert hat. Im Marburger Religionsgespräch von 1529 kam es schließlich zum Bruch Luthers mit Zwingli. 279 Der konkrete Anlass lag in der Auseinandersetzung über das Abendmahl (vgl. unten 6.3.2). Wie Karlstadt vertrat Zwingli ein Verständnis des Abendmahls als Gedächtnismahl. Für ihn ist das Abendmahl eine commemoratio, durch welche diejenigen, die fest glauben, dass sie durch Christi Tod und Blut mit dem Vater versöhnt sind, diesen lebensspendenden Tod verkündigen. 280 Luther, der in seinen frühen Sermonen zum Sakrament 2.5 Die Entfaltung der reformatorischen Theologie 91 <?page no="92"?> 281 Vgl. WA 19, 482-523. 282 WA 19, 491. 283 Vgl. WA 42-44. sowie in der Babylonica das Sakrament dem Wort Gottes deutlich unterord‐ nete, beharrt in den 1520er Jahren jedoch sowohl gegenüber Karlstadt als auch gegenüber Zwingli auf dem einfachen Sinn der Einsetzungsworte des Abendmahls: das Wort ‚ist‘ meint nicht, dass Brot und Wein Leib und Blut Christi bedeuten, sondern dieser ist. Luther, bei dem das ‚ist‘ in den Einset‐ zungsworten des Abendmahls 1519/ 20 noch keine so dominierende Rolle gespielt hatte, geht es um die Realpräsenz Christi im Abendmahl. Diese ver‐ sucht er seit 1526 durch seine Ubiquitätslehre (Lehre von der Allenthalben‐ heit des Leibes Christi) zu entfalten. Sie fußt auf seiner Christusanschauung (vgl. unten 4.2). Im Sermon […] wider die Schwarmgeister 281 von 1526 heißt es: „Item wir glewben, das Jhesus Christus nach der menscheit sey gesetzt uber alle creaturen und alle ding erfulle […]. Ist nicht allein nach der Gottheit sondern auch nach der menscheit ein Herr aller ding, hat alles ynn der hand und ist uberal gegenwertig.“ 282 Christus ist für Luther nicht nur seiner Gottheit nach allgegenwärtig, sondern auch seiner Menschheit nach. Der Reformator greift hier auf scholastische Denkfiguren zurück, von denen er zuvor keinen Gebrauch gemacht hatte. Wie auch immer man seine in den Abendmahlsstreitigkeiten entwickelte Abendmahlslehre beurteilen mag, so sind doch die christolo‐ gischen Konsequenzen unübersehbar. Hierauf ist an späterer Stelle noch einmal ausführlich zurückzukommen. 1513 hatte Luther in Wittenberg mit seiner Vorlesungstätigkeit begonnen und nahm seine Professur mit mehreren Unterbrechungen bis 1546 wahr. Hauptsächlich las er über die Bücher des Alten Testaments. Von 1532 bis 1535 widmete er sich zum dritten Mal dem Psalter und von 1535 bis 1545, vielfach unterbrochen, dem ersten Buch der Bibel, der Genesis. 283 Drei Monate vor seinem Tod kam er mit der Vorlesung zum Abschluss. Luther starb auf einer Reise in seinen Geburtsort Eisleben am 18. Februar 1546. Auf seinem Sterbezettel notierte er die bekannten Worte: „Wir sind Bettler. Das ist wahr“. Zuvor heißt es allerdings: „Den Vergil in seinen Bucolica und Georgica kann keiner verstehen, der nicht fünf Jahre Hirt oder Bauer gewesen ist. Den Cicero in seinen Briefen versteht 92 2 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung <?page no="93"?> 284 WA. TR 5, 317 f., Nr.-5677; zitiert nach Beutel, Martin Luther, 175f. keiner, der nicht zwanzig Jahre in einem großen Staatswesen tätig gewesen ist. Die Heilige Schrift glaube keiner genügend verschmeckt zu haben, der nicht hundert Jahre lang mit den Propheten die Gemeinden geleitet hat“. 284 2.5 Die Entfaltung der reformatorischen Theologie 93 <?page no="95"?> 285 Vgl. Seeberg, Die Lehre Luthers, 140-162; J. von Walter, Die Theologie Luthers, Gütersloh 1940, 25-149; Althaus, Die Theologie Martin Luthers, 27-42. 99-118; Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, 223-235; Korsch, Martin Luther, 73-87; H.-M. Barth, Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009, 193-229; T.S. Landrum, Martin Luther’s hidden God: Toward a Lutheran Apologetic for the Problem of Evil and Divine Hiddenness, Eugen, Oregon 2022. 286 Vgl. Seeberg, Die Lehre Luthers, 140f. 287 BSLK, 560. Transfor‐ mation des mittelalter‐ lichen Got‐ tesbegriffs 3 Luthers Gottesanschauung Luthers Gottesbegriff stellt einen Bestandteil seines Bußverständnisses dar. 285 Insofern dürfen die Beschreibung seiner Gottesanschauung ebenso wie die in den nächsten Abschnitten vorzunehmenden Erörterungen seiner Christologie, Anthropologie und Ekklesiologie als Entfaltungen der in seiner Bußtheologie zusammengefassten Elemente gelten. 286 Im Zentrum seiner frühen Bußtheologie steht die Erkenntnis, dass sowohl das Wort der Vergebung als auch das der Anklage auf Gott selbst zurückzuführen sind. Weder die Entstehung des Sündenbewusstseins noch die Gewissheit des Glaubens kommen durch menschliche Mitbeteiligung zustande. Sie sind allein Gottes Werk im Menschen. Religion ist für Luther Gottesanschauung. Die für letztere signifikante Spannung von Forderung und Verheißung, von Gericht und Gnade resultiert aus seinem Bußverständnis. Sie steht auch im Hintergrund der bekannten Erläuterung des ersten Gebots im Großen Katechismus von 1529: „Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott. Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“ 287 Durch die Verbindung mit dem Glaubensvollzug wurde der mittelalterli‐ che Gottesbegriff durch Luther transformiert und in seiner religiösen Be‐ deutung neu erfasst. Der Reformator löst die Gottesvorstellung aus allen nichtreligiösen Bestandteilen, seien diese politischer, metaphysischer oder kosmologischer Natur, und bezieht sie auf die religiöse Gewissheit. Auf diese Weise normiert und begrenzt er den Gottesgedanken soteriologisch. Gott ist Grund und Deutung der religiösen Gewissheit im Glauben. Nicht zu Unrecht schrieb Emanuel Hirsch im Vorwort seiner kleinen Studie Luthers Gottesan‐ schauung von 1918, „Luthers Gottesbild ist nicht nur das lebendigste und bestimmteste, sondern auch das durchdachteste und klarste, das die christ‐ <?page no="96"?> 288 Hirsch, Luthers Gottesanschauung, 24. 289 Vgl. Seeberg, Die Lehre Luthers, 158. 290 A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1, Göttingen 4 1903, 221. Streit um Luthers Gottesan‐ schauung Luther und die altkirch‐ lichen Be‐ kenntnisse liche Theologie überhaupt erzeugt hat.“ 288 Allerdings stieß Hirschs These von der Klarheit und Geschlossenheit von Luthers Gottesbild nicht nur auf Zustimmung. In der Literatur zu dessen Gottesanschauung wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, ob es ihm wirklich gelungen sei, ein einheit‐ liches Gottesbild zu konzipieren, oder ob es nicht vielmehr dämonische Züge trägt. Ausgangspunkt der Kritik ist insbesondere der von ihm in seiner Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam 1525 behauptete Gottesgedanke. Luther versteht Gott in De servo arbitrio nicht nur als alles bestimmende Macht, der zufolge in der Welt alles nach einer unverbrüchlichen Notwen‐ digkeit geschehe, er unterscheidet hier auch zwischen einem ‚offenbaren‘ und einem ‚verborgenen Gott‘. In dieser Unterscheidung sah man einen nicht überwundenen Rest des nominalistischen Gottesgedankens bei dem Reformator fortwirken. So interpretierte Reinhold Seeberg (1859-1935) in seiner Darstellung der Theologie Luthers in seinem Lehrbuch der Dogmen‐ geschichte dessen Unterscheidung zwischen einem Deus revelatus und einem Deus absconditus im Sinne der nominalistischen Differenzierung von poten‐ tia Dei ordinata und potentia Dei absoluta. 289 In Luthers Rede von dem Deus absconditus finde sich ein Nachhall der potentia Dei absoluta, der zufolge jede Ordnung in der Macht Gottes steht und von ihm geändert werden kann. Andere protestantische Theologen wie Albrecht Ritschl und dessen Sohn Otto Ritschl (1860-1944) erblickten in Luthers Gottesanschauung aus De servo arbitrio nominalistische Reste oder gar einen Anklang an die Zwei-Göt‐ ter-Lehre des Erzketzers Marcion (um 85-160). Auch insgesamt fiel Albrecht Ritschls Urteil über De servo arbitrio nicht gerade günstig aus. Die Schrift sei, wie er im ersten Band seines Hauptwerks Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung schreibt, „ein unglückliches Machwerk“. 290 Die Schwierigkeiten, mit denen sich eine Rekonstruktion von Luthers Gottesanschauung konfrontiert sieht, haben noch einen weiteren Grund. Von seinem Bußverständnis aus unterzog er den Gottesgedanken einer Neubestimmung, doch sie blieb in traditionelle Begriffe und Bestimmun‐ gen eingebettet. Luther hat die Bekenntnisse der alten Kirche und die in ihnen enthaltenen dogmatischen Lehren von der Trinität und der Zwei-Na‐ 96 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="97"?> 291 BSLK, 414f. 292 StA 4, 251 = WA 26, 505. Vgl. M. Seils, Die Sache Luthers, in: LuJ 52 (1985), 64-80; Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systemati‐ schen Zusammenhang, 223-227; C. Helmer, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Luthers Trinitätsverständnis, in: NZSTh 44 (2002), 1-19. 293 Seils, Die Sache Luthers, 79. turen-Christologie übernommen. In den Schmalkaldischen Artikeln von 1536/ 38 erklärte der Reformator: „Das erste Teil der Artikel ist von den hohen Artikeln der gottlichen Majestät, als: 1. Daß Vater, Sohn und heiliger Geist in einem gottlichen Wesen und Natur drei unterschiedliche Personen, ein einiger Gott ist, der Himmel und Erde geschaffen hat etc. 2. Daß der Vater von niemand, der Sohn vom Vater geboren, der heilige Geist vom Vater und Sohn ausgehend. 3. Daß nicht der Vater noch der heilige Geist, sondern der Sohn sei Mensch geworden. 4. Daß der Sohn sei also Mensch worden, daß er vom heiligen Geist ohn männlich Zutun empfangen und von der reinen, heiligen Jungfrau Maria geporn sei, darnach gelitten, gestorben, begraben, zur Helle gefahren, auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten Gottes, kunftig, zu richten die Lebendigen und die Toten etc., wie der Apostel, item S. Athanasii Symbolon und der gemeine Kinderkatechismus lehret. Diese Artikel sind in keinem Zank noch Streit, weil wir zu beiden Teilen dieselbigen bekennen. Darumb nicht vonnoten, itzt davon weiter zu handeln.“ 291 Formell hat Luther das überlieferte trinitarische und christologische Dogma beibehalten. Er bediente sich der überlieferten dogmatischen Sprache und ihrer Formeln, aber er füllte sie im Ausgang von seiner theologischen Entdeckung mit neuem Inhalt. Das gilt auch für die überlieferte Trinitäts‐ lehre. In dem seiner Schrift Vom Abendmahl Christi von 1528 angefügten Bekenntnis hat der Reformator eindrücklich seine eigene Auffassung von der Trinität dargelegt und, in der Folge seines Verständnisses der iustitia Dei als gegebene Gerechtigkeit, den trinitarischen Gottesgedanken ganz auf den Gedanken eines Sich-Gebens Gottes zugespitzt. „Das sind drey person / vnd ein Gott / der sich vns allen selbs gantz vnd gar gegeben hat / mit allem das er ist vnd hat.“ 292 Gottes Sein, so kann man Luthers Gottesanschauung insgesamt zusammenfassen, „ist im Sichgeben“. 293 3 Luthers Gottesanschauung 97 <?page no="98"?> 294 WA 40 (2), 327. 295 Vgl. Ebeling, Luther, 280-309; Korsch, Martin Luther, 73-76. Man sieht bereits an diesen kurzen einleitenden Bemerkungen, dass Luthers Gottesbegriff nicht nur in der Forschungsliteratur umstritten ist, sondern auch vor nicht geringe Interpretationsschwierigkeiten stellt. In der Erörterung seiner Gottesanschauung ist in jedem Fall zu der Frage Stellung zu beziehen, ob er es vermocht hat, ein in sich geschlossenes Gottesbild auszuarbeiten. Im ersten Unterabschnitt wird Luthers Gottesbegriff als ein Element seines Bußverständnisses unter der Überschrift Gotteserkenntnis und Glaubensgerechtigkeit entfaltet. Der zweite Unterabschnitt ist mit der theologia crucis dem wohl bekanntesten Bestandteil von seiner Theologie gewidmet. Ihre innere Struktur, Aufbauelemente sowie Funktion sind her‐ auszuarbeiten. Mit der theologia crucis ist die These verbunden, dass sich Gott ausschließlich unter dem Gegenteil verborgen - sub contrario - offen‐ bart. Gott ist in seiner Offenbarung verborgen. Von dieser Verborgenheit des offenbaren Gottes unterscheidet der Wittenberger in De servo arbitrio eine verborgene Verborgenheit Gottes. Letztere ist es, welche scheinbar hinter dem offenbaren Gott noch einen zweiten, verborgenen Gott einführt und die Kritik an Luthers Gottesbild heraufbeschworen hat. Ob es sich bei dem Deus absconditus wirklich um einen zweiten Gott handelt und wie diese Rede von der verborgenen Verborgenheit Gottes zu verstehen ist, wird im dritten Unterabschnitt darzulegen sein. 3.1 Gotteserkenntnis und Glaubensgerechtigkeit „[C]ognitio dei et hominis est sapientia divina et proprie theologica.“ 294 Die Theologie hat es Luther zufolge mit der Erkenntnis Gottes und des Menschen zu tun. 295 Diese Bestimmung des Theologiebegriffs stellt eine Folge seines Neuverständnisses der Buße dar. Gotteserkenntnis und wahre Selbsterkenntnis des Menschen fallen für den Reformator zusammen, so dass das Gottesbild ein Ausdruck des mit dem Glauben verbundenen neuen Selbstverständnisses des Menschen ist: Das Sich-Verstehen des Menschen als durch Gott gerechtfertigter Sünder findet seine Darstellung in der Got‐ tesvorstellung. Folglich müssen sich die beiden Aspekte des Bußgeschehens - Gericht und Gnade Gottes - in dem Gottesgedanken selbst niederschlagen. Das führt zu einer für Luthers Gottesbild insgesamt konstitutiven Antinomie 98 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="99"?> 296 WA 19, 206 f. Vgl. H. Bandt, Luthers Lehre vom verborgenen Gott. Eine Untersuchung zu dem offenbarungsgeschichtlichen Ansatz seiner Theologie, Berlin 1958, 86-88. Gott und Glaube beziehungsweise einer spannungsvollen Gegensatzeinheit. Der Aufbau re‐ ligiöser Gewissheit geschieht durch einen Bruch hindurch: Gott tötet, wenn er lebendig macht. Mit Rudolf Ottos (1869-1937) bekannter Bestimmung aus seinem Buch Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen kann man Luthers Gottesanschauung als Kontrasteinheit eines mysterium tremendum et fascinosum zusammen‐ fassen. Auf diese Weise vermochte es der Reformator, die religiöse Deutung des individuellen Lebensvollzugs mit dem Gottesgedanken zu verbinden. Die innere Struktur und die Bestandteile dieses Gottesbildes müssen nun genauer erläutert werden. Gott erschließt sich dem Menschen nicht durch müßiges Grübeln oder Spekulieren. Das wahre Gottesverhältnis ist an den konkreten Lebensvoll‐ zug des Individuums gebunden und ist der Ausdruck von dessen religiöser Gewissheit. An dieser Verknüpfung von religiöser Selbstdeutung und Got‐ tesvorstellung hat Luthers Polemik gegen die Vernunft und den metaphy‐ sischen Gottesgedanken der mittelalterlichen Lehrtradition ihren Anhalt. Allerdings stellt der Reformator nicht in Abrede, dass die Vernunft Gott erfassen kann. Die natürliche Vernunft vermag sowohl die Existenz Gottes als auch dessen Eigenschaften durchaus zu erkennen. In der Auslegung des Propheten Jona von 1526 schreibt der Reformator: „So weyt reicht das naturlich liecht der vernunfft, das sie Gott fur eynen guetigen, gnedigen, barmhertzigen, milden achtet; das ist eyn gross liecht. Aber es feylet noch an zwey grossen stucken. Das erst, sie gleubt wol, das Gott solchs vermuge und wisse zuthun, zu helffen und zugeben. Aber das er wolle oder willig sey, solchs an yhr auch zu thun, das kan sie nicht […]. Das ander: […] Sie weys, das Gott ist. Aber wer odder wilcher es sey, der da recht Gott heyst, das weys sie nicht. […] Also spielt auch die vernunfft der blinden kue mit Gott und thut eytel feyl griffe und schlecht ymer neben hin, das sie das Gott heysst das nicht Gott ist, und widderumb nicht Gott heysst das Gott ist, wilchs sie keynes thet, wo sie nicht wuste, das Gott were, odder wuste eben, wilches odder was Gott were. […] Darumb ists gar eyn gros unterscheyd, wissen, das eyn Gott ist, und wissen, was odder wer Gott ist. Das erste weys die natur und ist ynn allen hertzen geschrieben. Das ander leret alleine der heylige geyst.“ 296 3.1 Gotteserkenntnis und Glaubensgerechtigkeit 99 <?page no="100"?> 297 BoA 1, 155 f. = WA 2, 137. 298 WA 10 (1, 1. Hälfte), 151. 299 Vgl. WA 1, 630 (These 2). natürliche Gotteser‐ kenntnis Selbst- und Gotteser‐ kenntnis Eine natürliche Gotteserkenntnis ist der Vernunft möglich. Luther identifi‐ zierte seit 1516 das, was die mittelalterlichen Theologen syntheresis nannten (vgl. oben 2.3.2.3), das Vermögen der Seele, sich auf das Gute auszurichten, mit der natürlichen Vernunft und dem jedem Menschen von Gott ins Herz geschriebenen göttlichen Gesetz. Zeitlebens hat der Wittenberger Theologe an einer natürlichen Gotteserkenntnis festgehalten, sie jedoch für religiös belanglos erachtet. Bereits in seinem frühen Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi aus dem Jahre 1519 schreibt er, „was hilfft dichs / dz gott / gott ist / wan er dier nit eyn gott ist? “ 297 Der bloße Gedanke der Existenz oder Gottheit Gottes ist für sich genom‐ men religiös ohne Interesse. Religiös relevant wird der Gottesgedanke erst dann, wenn er mit dem eigenen Lebensvollzug verbunden ist. Die soteriologische Dimension des Gottesgedankens verdankt sich nicht einer theoretischen Reflexion, sondern sie „leret alleine der heylige geyst“. Glau‐ bensvollzug und Gotteserkenntnis sind von Luther aufs Engste verzahnt. Dass der Gottesgedanke in seiner religiösen Funktion als Ausdrucksmit‐ tel und Selbstdarstellung wahrer religiöser Gewissheit fungiert, bedeutet freilich keine Infragestellung des (metaphysischen) An-sich-Seins Gottes. Davon geht Luther vielmehr fraglos aus. Gott ist für ihn reines In-sich- und Von-sich-Sein. „Aber nu sind alle ding durch Christum gemacht, unnd er ist durch keyniß gemacht; ßo hatt er gewißlich seyn weßen von und ynn yhm selbs unnd von keynem gemachten ding, auch von keynem mecher.“ 298 Dem Menschen erschließt sich Gott allein in seinem eigenen Leben, und nur so, dass er zu einer Erkenntnis seiner selbst gelangt. Darin lag ja die Pointe von Luthers Bußgedanken: in der Buße kommt der Mensch zu einem Verständnis seiner selbst als totaler Sünder beziehungsweise als Nichts coram Deo. Gotteserkenntnis ist zunächst Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder vor Gott. Mit dem Sündenbewusstsein ist das Schuldbewusstsein verknüpft, welches bereits das Gericht Gottes im Gewissen des Menschen ist. 299 Die Erkenntnis des Abstands von Gott und Mensch markiert den ersten Aspekt der Gotteserkenntnis: dem Menschen wird die innere Selbstbezo‐ genheit und Selbstsucht seines Handelns durchsichtig. Zugleich erscheint Gott im Gewissen des einzelnen Menschen als strenger Richter in seinem Zorn und führt ihn in die Verzweiflung. Mit der Dimension des Zorns Gottes 100 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="101"?> 300 Vgl. Hirsch, Luthers Gottesanschauung, 37. 301 Vgl. Hirsch, Luthers Gottesanschauung, 48. Antinomie im Gottes‐ gedanken hat der Reformator in die religiöse Selbstbeurteilung die Spannung von Gelingen und Verfehlen aufgenommen, in der sich jedes menschliche Leben bewegt. Doch die Erkenntnis des Abstands zwischen Gott und Mensch erklärt noch nicht, wie es zur Gemeinschaft von beiden kommt. Es muss noch ein weiteres Moment hinzutreten, welches allerdings weder bereits mit der Verzweiflung gegeben ist noch sich aus ihr herleiten lässt. Erfahrungen der Verzweiflung sind stets ambivalent. Dass es beim einzelnen Menschen zum Aufbau von Gewissheit im eigenen Leben kommt, ist ebenso kontingent wie die Entstehung des Schuldbewusstseins. Luther verbindet das Zustan‐ dekommen von Gewissheit im Leben des Menschen mit der Barmherzigkeit und Gnade Gottes. Sie bezieht sich auf die Verzweiflung, ist aber aus ihr nicht ableitbar. In das neue Selbstverständnis werden das Gericht und die mit ihm verbundene Selbsterkenntnis integriert. Erst von hier aus, also von der sich bei den Einzelnen einstellenden Gewissheit, erscheint die eigene Ver‐ zweiflung als Gericht Gottes und der Zorn Gottes als seine Barmherzigkeit und Liebe. 300 Dieses in sich gestufte Geschehen religiöser Selbsterkenntnis hat Luther in seinem Gedanken der iustitia Dei, der Gerechtigkeit Gottes, zusammengefasst. Sie enthält ein Doppeltes: Gott verwirklicht sich selbst im Gewissen des einzelnen Menschen als ein Gott der Liebe und der Barm‐ herzigkeit, und zugleich kommt der Mensch zu sich selbst und verwirklicht sich. Gotteserkenntnis und wahre Selbsterkenntnis sind zwei Seiten eines in sich gestuften Geschehens, welches freilich lediglich aus der Perspektive der Glaubensgewissheit als ein solches zu Tage tritt. Diese Spannung zwischen dem göttlichen Zorn und seiner Barmherzigkeit löst sich im Vollzug des Glaubens auf, also in dem konkreten, individuellen Selbstverständnis. Allein hier erscheint Gott als ein Gott der Liebe. Außerhalb des Glaubens brechen Zorn und Barmherzigkeit Gottes gleichsam auseinander. Die Spannung im Gottesgedanken lässt sich in einer objektivierenden Reflexion nicht synthetisieren. 301 In De servo arbitrio hat Luther diese Antinomie prägnant herausgearbeitet: „Sic aeternam suam clementiam et mi‐ sericordiam abscondit sub aeterna ira, iustitiam sub iniquitate. Hic est fidei „So verbirgt Gott seine ewige Güte und seine Barmherzigkeit unter ewigem Zorn, seine Gerechtigkeit unter Unge‐ 3.1 Gotteserkenntnis und Glaubensgerechtigkeit 101 <?page no="102"?> 302 Lat.-dt. StA 1, 286 = WA 18, 633. 303 Lat.-dt. StA 1, 287. Bestim‐ mungen Gottes Allmacht Gottes summus gradus, credere illum esse cle‐ mentem, qui tam paucos salvat, tam multos damnat, credere iustum, qui sua voluntate nos neccessario damnabiles facit“. 302 rechtigkeit. An dieser Stelle liegt der höchste Grad des Glaubens: zu glauben, dass derjenige gütig ist, der so wenige rettet und so viele verdammt; zu glau‐ ben, dass derjenige gerecht ist, der uns nach seinem Willen notwendigerweise verdammungswürdig macht“. 303 Auf das in der zitierten Stelle anklingende Motiv der theologia crucis ist im nächsten Abschnitt genauer einzugehen. Zunächst müssen noch kurz der religiöse Gehalt von Luthers Gottesbild sowie die sich hieraus ergebenden Näherbestimmungen Gottes erörtert werden. Die wahre Gotteserkenntnis bringt ein sich selbst in seiner Ambivalenz und Gebrochenheit verständlich gewordenes menschliches Leben zum Ausdruck. Gotteserkenntnis ist eine solche Selbstbeurteilung, in der die bleibende Endlichkeit und Zwiespältigkeit des eigenen Lebens in das Selbstverständnis aufgenommen ist. Eben das unterscheidet die wahre Gotteserkenntnis des Glaubens von den Götterbildern des Menschen. Wenn für den Menschen Gott das ist, woran er sein Herz hängt, dann kann die Frage, wie sich der wahre Gott von den menschlichen Gottesbildern unterscheidet, nicht einfach mit dem Hinweis auf Gott beantwortet wer‐ den. Auch der wahre Gott erscheint für den Menschen nur als ein von ihm produziertes Gottesbild. Deshalb ist und bleibt die Rede von ihm menschliche Rede, die vor Instrumentalisierung und Funktionalisierung nicht geschützt ist. Wenn aber die These von dem Zusammenhang von menschlicher Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis Bestand haben soll, dann kann eine Antwort nur darin liegen, dass die wahre Gotteserkenntnis der Ausdruck eines sich in seiner Endlichkeit und Ambivalenz verstehenden menschlichen Lebens ist. Die Dialektik von Sicherung und Abhängigkeit, die mit jedem Gewissheitsaufbau und mit jeder Sinnsuche verbunden ist, wird in der wahren Gotteserkenntnis durchsichtig. An ihre Stelle tritt ein solches Selbstverständnis, in dem sich das Sich-Verstehen des menschlichen Lebens sowie seine Entstehung ausspricht. Luther hat in seinen Gottesgedanken die Spannung von Zorn und Barm‐ herzigkeit so aufgenommen, dass die Einheit beider Momente an das kon‐ tingente Zustandekommen von menschlicher Glaubensgewissheit gebun‐ 102 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="103"?> 304 Vgl. WA 1, 649; WA 2, 539; WA 18, 718. Vgl. Holl, Was verstand Luther unter Religion? , 45; Hirsch, Luthers Gottesanschauung, 29. 305 Vgl. WA 56, 383. 306 Vgl. WA 19, 360; WA 15, 373. 307 StA 1, 350 = WA 7, 585 f. Vgl. M. Seils, Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, Berlin (Ost) 1962, 169-177; ders., Art.: Gottes Mummerei, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, hrsg. v. J. Ritter, Basel/ Stuttgart 1974, 835. Gottes Mummerei Alleinwirk‐ samkeit Gottes den ist. Von diesem Gesichtspunkt aus ergeben sich die Bestimmungen des Gottesgedankens. An erster Stelle ist der Gedanke der göttlichen Allmacht zu nennen, der für Luthers Gottesbild schlechterdings grundlegend ist. Der Allmachtsgedanke ist für ihn kein metaphysisches Gottesprädikat, sondern ein Implikat der religiösen Heilsgewissheit. Ausgangspunkt des Verständ‐ nisses Gottes als allmächtiger Schöpfer und Wirker der Welt ist der indivi‐ duelle Vollzug des Glaubens und gerade keine Spekulation über das Ver‐ hältnis von Gott und Welt. Luther hat dem Allmachtsgedanken seit der Römerbriefvorlesung von 1515/ 16 die Näherbestimmung gegeben, dass Gott alles allein wirkt. 304 Gott wirkt, wie der Reformator unter Aufnahme von Paulus 1Kor 12,6 sagt, „alles in allen“. Würde Gott nicht in jedem Augenblick mit seinem Wirken und Willen in der Welt sein, dann würde sie ins Nichts zurückfallen. Ohne den wirkenden Willen Gottes fällt kein Blatt vom Baum. 305 Die Geschichte ist sein Turnierplatz und die Mächte der Weltge‐ schichte seine Larven und Mummerei. 306 „Es gaht also zu / wen got durch mittel der creaturn wirckt / so sihet man offentlich / wo gewalt oder schweche sey / daher das sprichwort kumpt / Got hilfft de(m) sterckisten. Alszo wilcher furst den krieg gewinnet / durch de(n) hat got die andern geschlage(n). Frist ein wolff yema(n)ts odder wirt sonst beschediget / szo ists durch die creatur geschehen / also macht vn(d) zubricht got ein creatur durch die andern / wer do ligt der ligt / wer do steht der steht / Aber wen er selb wirckt / durch seynen arm / da gaht es anders zu / da ists zustoret ehe wen man meynet / widderumb erbawet ehe man meynet / vnd niemant sihet.“ 307 Der Mensch kann aus der Alleinwirksamkeit Gottes nicht heraustreten. Im Guten wie im Bösen ist der menschliche Wille durch die göttliche Allmacht bewegt. 3.1 Gotteserkenntnis und Glaubensgerechtigkeit 103 <?page no="104"?> 308 Lat.-dt. StA 1, 462. 464 = WA 18, 709. 309 Lat.-dt. StA 1, 463. 465. 310 WA 18, 747. 711. 311 Vgl. WA 18, 615 f.; WA 7, 585-589. 312 Vgl. WA 18, 706. 313 Vgl. F. Hermanni, Luthers Lehre vom unfreien Willen als Fundament der Rechtferti‐ gungslehre, in: Kerygma und Dogma 49 (2003), 88-108, hier 94-96. 314 StA 4, 102 = WA 26, 339f. „Illud igitur reliquum, quod dicimus na‐ turae in impio et Satana, ut creatura et opus Dei, non est minus subiectum om‐ nipotentiae et actioni divinae, quam om‐ nes aliae creaturae et opera Dei. Quando ergo Deus omnia in omnibus movet et agit, neccessario movet etiam et agit in Satana et impio“. 308 „Das also, was wir den Rest der Natur im Gottlosen und in Satan nennen, ist als ein Geschöpf und ein Werk Gottes nicht weniger der göttlichen Allmacht und Wirkung unterworfen als alle an‐ deren Geschöpfe und Werke Gottes. Da ja doch Gott alles in allem bewegt und wirkt, bewegt und wirkt er auch not‐ wendigerweise im Satan und im Gott‐ losen.“ 309 Gott ist schlechthinnige Aktuosität, „actuosissima“, 310 und ununterbrochen am Wirken. 311 Ein ‚schnarchender‘ Gott, wie der des Aristoteles, ist keiner. 312 Das Schöpfungshandeln wird von Luther im Sinne einer creatio continua (kontinuierliche Schöpfung) verstanden. Gott überlässt sein Werk, nachdem er es vollbracht hat, nicht sich selbst, sondern gewährt ihm in ständiger Aktualität Sein und bewahrt es vor dem Chaos. Deshalb wäre der Wunsch, Gott möge wegen der Gottlosen aufhören zu wirken, gleichbedeutend mit dem, er solle aufhören, Gott zu sein. 313 Aufgrund seiner Alleinwirksamkeit ist Gott in allem gegenwärtig und zugleich in seinem Willen und Wirken frei. „Nichts ist so klein / Gott ist noch kleiner / Nichts ist so gros / Gott ist noch gro(e)sser / Nichts ist so kurtz / Gott ist noch ku(e)rtzer / Nichts ist so lang / Gott ist noch lenger / Nichts ist so breit / Gott ist noch breiter / Nichts ist so schmal / Gott ist noch schmeler / vnd so fort an / Ists ein vnaussprechlich wesen vber vnd ausser allem das man nennen odder dencken kan.“ 314 Die soteriologische Bestimmung Gottes als allmächtiger, freier Wille, der alles in der Welt bewegt, ist ein Bestandteil der Glaubensgewissheit. Als Prädikat eines metaphysischen Gottesgedankens wäre sie missverstanden. Gerade als Alleinwirksamkeit besagt sie, die Glaubenden dürfen sich immer 104 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="105"?> 315 Hirsch, Luthers Gottesanschauung, 30. 316 WA 36, 425. 317 WA 36, 424. 318 Lat.-dt. StA 1, 501 = WA 18, 725. 319 Hirsch, Luthers Gottesanschauung, 32. Gott als Liebe und überall in Gottes Hand wissen. Das heißt, die „Allmacht des Allwirken‐ den ist die eine Voraussetzung alles Gottvertrauens“. 315 Neben der Alleinwirksamkeit steht die Bestimmung der unveränderlichen Liebe. Gott ist reines Gutsein, und er kann nie anders als gut handeln. Auch die Bestimmung Gottes als Liebe fußt auf der eigenen Gewissheitserfahrung. Dass Gott Liebe ist und sich in seinem Wort, also in Jesus Christus, definitiv zur Liebe bestimmt hat, ist für Luther Basis und Grund des Trostes für das angefochtene Gewissen. In seiner Liebe ist Gott der Quellgrund alles Guten. Am eindrücklichsten hat der Wittenberger Reformator diesen Aspekt des Gottesgedankens in dem Bild zusammengefasst, dass wir in der Rechtfertigung Gott als „eitel brunst und ein glu(e)ender backofen voller liebe“ 316 erfahren. „Das, wenn jmand wolte Gott malen und treffen, so muͤst er ein solch bild treffen, das eitel liebe were, als sey die Goͤttliche natur nichts, denn ein feur offen und brunst solcher liebe, die himel und erden fuͤllet, Und widderumb, wenn man kund die Liebe malen und bilden, muͤste man ein solch bilde machen, das nicht wercklich noch menschlich, ja nicht Engelisch noch himlisch, sondern Gott selbs were.“ 317 Gott ist notwendig reine Gutheit und nichts als Gutheit. Wenn Gott jeman‐ den liebt, dann liebt er ihn ewig und fest. In De servo arbitrio beschreibt der Reformator eindringlich jene Notwendigkeit der Unveränderlichkeit Gottes im Unterschied zum Menschen. „Wir wissen sehr wohl, dass Gott nicht liebt oder hasst wie wir, weil wir ja in veränderlicher Weise sowohl lieben als auch hassen, er aber nach seiner ewigen unveränderlichen Natur liebt und hasst.“ 318 Luther schaut in „Gottes Willen eine immer sich gleichbleibende Beständigkeit, die durch die Unzuverlässigkeit und Launenhaftigkeit des menschlichen Willens nicht im Geringsten berührt wird“. Das sei, wie Emanuel Hirsch zu Recht bemerkte, „ein starker Gegensatz zur katholischen Frömmigkeit. Dort steht Gott allemal gerade so zu uns, wie wir uns zu ihm stellen“. 319 In seinem Gottesbild verknüpft Luther die allmächtige Freiheit des Herrn aller Dinge mit der Bestimmung der Notwendigkeit des wesenhaft Guten. 3.1 Gotteserkenntnis und Glaubensgerechtigkeit 105 <?page no="106"?> 320 Vgl. Korsch, Martin Luther, 87. 321 Lat.-dt. StA 1, 257 = WA 18, 619. 322 WA 5, 176. 217. Vgl. H. Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie. Schlüssel zu seiner Deutung von Mensch und Wirklichkeit. Eine Untersuchung anhand der Operationes in Psalmos (1519-1521), Paderborn 1995. Die Einheit beider Momente liegt allein in dem Sich-Verstehen des Men‐ schen in seinem Leben. Gottes Wesen entzieht sich der Alternative von Notwendigkeit und Kontingenz: Gott ist notwendig und kontingent im gleichen Sinne. 320 Genau darin ist Luthers Gottesgedanke ein Ausdruck des Wesens der Frömmigkeit. Dass jemand glaubt, ist kontingent. Aber diese Kontingenz des eigenen Sich-Verstehens fußt im unveränderlichen Handeln Gottes. Der Glaube rückt sein eigenes kontingentes Entstehen in eine Notwendigkeitsperspektive ein und versteht es von hier aus neu. Die Bestimmung des notwendigen und unveränderlichen göttlichen Wirkens ist der Ausdruck der religiösen Gewissheit. „Wenn du nämlich zweifelst oder ablehnst zu wissen, dass Gott alles nicht zufällig, sondern notwendigerweise und unveränderlich vorherweiß und will - wie kannst du dann seinen Zusagen glauben, gewiss darauf vertrauen und dich darauf stützen? Wenn er nämlich zusagt, musst du gewiss sein, dass er zu erfüllen weiß, vermag und will, was er zusagt.“ 321 3.2 Theologia crucis Luther hat in sein Gottesbild die Antinomie von Gericht und Barmherzigkeit aufgenommen und auf diese Weise die Gotteserkenntnis mit der Glaubens‐ gerechtigkeit verbunden. Allein im individuellen Vollzug des Glaubens löst sich die Antinomie von göttlichem Gericht und göttlicher Barmherzigkeit auf in das Verständnis Gottes als unwandelbare Liebe: Gott tötet, um lebendig zu machen, er führt in die Hölle, um in den Himmel zu erheben. Luther hat diese Dialektik in den Operationes in Psalmos auf die Formel gebracht: „CRUX sola est nostra theologia“ und geradezu systematisch am Psalter in allen Facetten durchgeführt. 322 Die theologia crucis bildet die begriffliche Verdichtung und Zusammenfassung der bußtheologischen Grundlagen sowie der theologischen Voraussetzungen von Luthers Denken 106 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="107"?> 323 Vgl. W. v. Loewenich, Luthers Theologia crucis [1929], Bielefeld 6 1982; U. Barth, Die Dialektik des Offenbarungsgedankens. Luthers Theologia crucis, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 97-123; M. Korthaus, Kreuzestheologie. Geschichte und Gehalt eines Programmbegriffs in der evangelischen Theologie, Tübingen 2007. 324 Vgl. Loewenich, Luthers Theologia crucis, 19. 325 Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd.-1, 225. 227. 326 Vgl. Loewenich, Luthers Theologia crucis, 26-52. 327 Lat.-dt. StA 1, 52 = WA 1, 362. 328 Lat.-dt. StA 1, 53. theologia crucis in der For‐ schung insgesamt. 323 Ihr kommt der Rang eines methodischen Fundaments seiner Theologie zu. In der Forschung wurde Luthers theologia crucis erst 1929 durch Walter von Loewenich (1903-1992) zum Gegenstand einer monographischen Un‐ tersuchung gemacht. Von Loewenich ging in seiner Studie Luthers Theologia crucis von den Heidelberger Disputationsthesen vom April 1518 aus und rückte insbesondere die Thesen 19 und 20 in den Mittelpunkt. 324 Seither gilt die Heidelberger Disputation als Programmschrift der reformatorischen Theologie Luthers, obwohl es auch immer wieder Stimmen gab, die sie als vorreformatorisch einstuften, da die Thesenreihe noch einer mittelalter‐ lichen monastischen Demutstheologie verpflichtet sei. 325 Von Loewenich selbst konzentrierte sich in seiner Rekonstruktion der thelogia crucis inhalt‐ lich auf den Begriff des Deus absconditus, 326 der von Luther in der Erläuterung der 20. These herangezogen wird. Der Reformator schreibt hier: „Quia enim homines cognitione Dei ex operibus abusi sunt, voluit rursus Deus ex passionibus cognosci et reprobare il‐ lam sapientiam invisibilium, per sapien‐ tiam visibilium, ut sic, qui Deum non coluerunt manifestum ex operibus, co‐ lerent absconditum in passionibus.“ 327 „Weil nämlich die Menschen die Er‐ kenntnis Gottes aus den Werken miss‐ braucht haben, wollte Gott wiederum aus den Leiden erkannt werden und jene Weisheit des Unsichtbaren durch die Weisheit des Sichtbaren verwerfen, damit so diejenigen, die den in seinen Werken offenbaren Gott nicht verehr‐ ten, den in den Leiden verborgenen [Gott] verehren sollten.“ 328 Man kann jedoch fragen, ob mit der von von Loewenich vorgenommenen Zuspitzung der theologia crucis auf den Deus absconditus, und damit auf eine erkenntnistheoretische Fragestellung, schon deren Gehalt angemessen erfasst ist. Von Loewenich geht es in seiner Studie auch darum, das libe‐ rale Lutherbild von Albrecht Ritschl bis hin zu Adolf von Harnack zu 3.2 Theologia crucis 107 <?page no="108"?> 329 Vgl. Loewenich, Luthers Theologia crucis, 169-194. 330 Vgl. Korthaus, Kreuzestheologie, 346 f.; Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie, 26-82; E. Thaidigsmann, Kreuz und Wirklichkeit. Zur Aneignung der „Heidelberger Disputation“ Luthers, in: LuJ 48 (1981), 80-96. 331 Vgl. H.J. Iwand, Theologia Crucis. Ausgearbeitet für den Beienroder Konvent im Herbst 1959, in: ders., Nachgelassene Werke, Bd. 2: Vorträge und Aufsätze, hrsg. v. D. Schellong/ K.G. v. Steck, München 1966, 381-398. Vgl. Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie, 76-79. 332 Vgl. Vogelsang, Die Anfänge von Luthers Christologie nach der 1. Psalmenvorlesung, 15-30. Vgl. Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie, 79-81. 333 Vgl. Vercruysse, Gesetz und Liebe, 7-43. 334 Vgl. Barth, Die Dialektik des Offenbarungsgedankens, 97-123. korrigieren, wo der Gedanke des Deus absconditus ausgeschieden wurde. Der theologische Kontext der 1920er Jahre, in dem von Loewenich seine Lutherdeutung positioniert, führt denn bei ihm auch zu Verzeichnungen von Luthers Kreuzestheologie beziehungsweise zu deren theologiepolitischer Instrumentalisierung. 329 Auch ihre Aufbauelemente bleiben in seiner Dar‐ stellung unberücksichtigt. Neben der von von Loewenich inaugurierten erkenntnistheoretischen Deutung der theologia crucis wurden in der Forschung noch anthropologi‐ sche und christologische Deutungen vorgeschlagen. 330 Eine anthropologi‐ sche Deutung der theologia crucis hat Hans-Joachim Iwand (1899-1960) vertreten. 331 Er rückt den Zusammenhang von Kreuzestheologie und Recht‐ fertigung in den Mittelpunkt. Die theologia crucis sei nicht nur ein Erkennt‐ nisprinzip, vielmehr beschreibe sie das Leben der Christen im Ganzen als Kritik an allen Ideologien. Für eine christologische Deutung der theologia crucis trat der Hirsch-Schüler Erich Vogelsang ein. 332 Christus sei der Ort, an dem sich die theologia crucis vollzieht, und da Luther im Sinne der tropologischen Auslegung der Schrift Christus auf den Christen bezieht, so artikuliert die kreuzestheologische Christologie das Leben der Glaubenden in der Spannung von Gewissheit und Anfechtung. Man sieht bereits an dem knappen Überblick, wie kontrovers Luthers Kreuzestheologie in der Forschung behandelt wird. Strittig ist nicht nur die Frage, ob man die Heidelberger Disputation zur textlichen Grundlage und zum Ausgangspunkt einer Rekonstruktion seiner theologia crucis nehmen sollte, und wenn ja, welche Paragraphen als einschlägig zu gelten haben: nur die Thesen 19 bis 20, wie von Loewenich meinte, oder die gesamte The‐ senreihe? 333 Ulrich Barth (geb. 1945) hat in seiner Studie Die Dialektik des Offenbarungsgedankens vorgeschlagen, 334 nicht die begrifflichen Distinkti‐ 108 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="109"?> 335 Vgl. WA 57 (3), 5-91. 97-238, bes. 79f. 336 Vgl. WA 1, 525-628, bes. 613f. 337 Vgl. WA 1, 281-314, bes. 290f. 338 Vgl. WA 1, 356-365, bes. 362f. Hauptbe‐ legstellen der theolo‐ gia crucis onen der Heidelberger Disputation zum methodischen Ausgangspunkt einer Rekonstruktion von Luthers theologia crucis zu nehmen, sondern seine frü‐ hen Vorlesungen insgesamt heranzuziehen. Damit ist eine weiterführende Perspektive aufgezeigt, da diese Vorlesungen für die Kenntnis und das Ver‐ ständnis seiner theologischen Entwicklung die unverzichtbare Quelle dar‐ stellen. Die Hauptbelegstellen für Luthers theologia crucis vom Frühjahr 1518 sind: (1.) Hebräerbriefvorlesung (Ostern 1517 bis Ostern 1518) 335 (2.) Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (Frühjahr 1518) 336 (3.) Asterisci adversus obeliscos Eccii - eine Streitschrift gegen die Obelisci des Ingolstädter Theologen Johannes Eck (1486-1543) 337 (4.) Disputatio Heidelbergae habita (Frühjahr 1518) 338 Was verstand Luther unter theologia crucis, und welche Aufbauelemente gehen in sie ein? Um das zu beantworten, ist es hilfreich, einen Blick in seine Hebräerbriefvorlesung zu werfen, also in einen Text aus dem unmittelbaren zeitlichen Kontext der Heidelberger Disputation. In der Glosse zu Hebr 12,11 - „Alle Züchtigung aber, wenn sie da ist, dünkt uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein; aber hernach wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübt sind.“ - kommt der Reformator auf die theologia crucis zu sprechen. Er schreibt hier: „Haec sunt duo contraria in scripturis frequentata: iudicium et iustitia, ira et gratia, mors et vita, malum et bonum. Et ‚haec magna opera Domini‘. ‚Alienum opus eius ab eo, ut operetur opus suum‘. ‚Spiritus quidem promptus, caro autem infirma‘. Mire enim laetificat conscien‐ tiam, iuxta ps. 4: ‚In tribulatione dilatasti mihi‘ i. e. dilatationem fescisti mihi. Est enim infusio gratiae, ut Ro. 5: ‚Probatio „Dies sind zwei Gegensätze, die in der Schrift häufig begegnen: Gericht und Gerechtigkeit, Zorn und Gnade, Tod und Leben, Übel und Gut. Und ‚das sind die großen Taten des Herrn‘: ‚Ein ihm fremdes Werk ist es, auf dass er sein Werk tue‘ [ Jes 28,21]. ‚Denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach‘ [Mt 26,41]. Wundersam nämlich macht er das Gewissen fröhlich, nach Ps 4: 3.2 Theologia crucis 109 <?page no="110"?> 339 BoA 5, 374 = WA 57 (3), 79. 340 Zitiert nach Barth, Die Dialektik des Offenbarungsgedankens, 103. 341 Barth, Die Dialektik des Offenbarungsgedankens, 100. modus lo‐ quendi von Luthers Theologie Aufbauele‐ mente der theologia crucis spem operatur, spes autem non confun‐ dit‘. Haec theologia crucis est, seu, ut apostolus dicit: ‚Verbum crucis scanda‐ lum Judaeis et stultitia gentibus‘, quia penitus abscondita ab oculis eorum.“ 339 ‚In der Angst tröstest du mich‘ [Ps 4,2], d.-h. schaffst du mir einen weiten Raum. Ist es doch die Eingießung der Gnade, nach Röm 5: ‚Erfahrung bringt Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zu schanden werden‘ [Röm 5,4f.]. Dies ist die Theologie des Kreuzes, oder wie der Apostel sagt: ‚Das Wort vom Kreuz, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit‘ [1Kor 1,18.23]; denn sie ist ganz und gar verborgen vor ihren Augen“. 340 An der zitierten Passage aus der Hebräerbriefvorlesung fällt auf, dass Luther sein Verständnis der theologia crucis durch eine Verschränkung von unterschiedlichen Bibelzitaten erläutert. Dieses Verfahren ist höchst aufschlussreich und signifikant für seine gesamte Theologie. Schon bei einem oberflächlichen Blick in dessen Vorlesungen und sonstige Texte zeigt sich, dass er unterschiedliche Schriftzitate zusammenstellt und geradezu ineinanderschiebt, um einen bestimmten Bedeutungsgehalt zu markieren. Hierin liegt, wie Ulrich Barth gezeigt hat, der eigentümliche modus loquendi von Luthers Theologie. Der Reformator habe nämlich „schon recht früh einen Typus systematischer Exegese entwickelt, bei der Bibelstellen so‐ zusagen als Stellvertreter oder Repräsentanten bestimmter theologischer Gedanken fungieren, die im Verlauf des Auslegungsdiskurses dann wie Quasi-Merkmale zu einem übergeordneten Begriff synthetisiert werden und dessen theologische Struktur bilden“. 341 Ein solches methodisches Verfahren liegt auch bei der theologia crucis vor. Es sind vor allem vier Bibelzitate, aus denen sich ihre Struktur ergibt. Zunächst ist der sünden- und bußtheologische Rahmen der Kreuzestheolo‐ gie zu nennen, auf den Luther durch die Zitation von Mt 26,41 anspielt. Der Verweis auf das paulinische Wort vom Kreuz (1Kor 1,18), dem er den Begriff theologia crucis entlehnt, am Ende der zitierten Glosse aus der Hebräerbriefvorlesung muss in diesem Rahmen verstanden werden. Die zweite relevante Stelle markiert das Jesajazitat ( Jes 28,21) und die hier begegnende Unterscheidung von einem opus alienum (fremdes Werk) und einem opus suum (eigenes Werk) Gottes. Sie bezieht sich auf die Eigentüm‐ 110 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="111"?> 342 Vgl. WA 4, 87. Vgl. Hirsch, Initium theologiae Lutheri, 24, Anm. 2. 343 Vgl. WA 1, 613f. 344 Vgl. Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie, 98-102. 345 Lat.-dt. StA 1, 38 = WA 1, 357. 346 Lat.-dt. StA 1, 39. lichkeit des göttlichen Handelns. Luther verknüpft nun den Aussagegehalt von 1Kor 1,18 und Jes 28,21 mit Ps 4,2. 4: „Erkennet doch, dass der Herr seine Heiligen wundersam führt [mirificavit]“. Eine solche Verschränkung der drei Schriftstellen begegnet schon in den Dictata super Psalterium. 342 Gott han‐ delt, wie Luther immer wieder betont, wundersam an seinen Heiligen. Und schließlich verknüpft der Wittenberger Theologe den bisher vorgestellten Aussagenkomplex mit Röm 5,4f.: „Geduld [bringt] Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist“. Eine derartige Verzahnung von unterschiedlichen Schriftzitaten zu einer übergeordneten Aussageintention begegnet nicht nur in der Hebräerbrief‐ vorlesung, sondern auch an anderen Stellen, an denen Luther auf die theologia crucis zu sprechen kommt: in den Ablassresolutionen vom Früh‐ jahr 1518, 343 der Heidelberger Disputation oder in der zweiten Psalmenvorle‐ sung. 344 In den Disputationsthesen von 1518 heißt es in der Erläuterung zu These 4 („Die Werke Gottes, wie ungestaltet sie auch immer seien und wie schlecht sie erscheinen, sind doch in Wahrheit unsterbliche Verdienste.“): „Quod cum agnoscimus atque confite‐ mur, nulla in nobis est species neque decor, sed vivimus in abscondito Dei (id est, in nuda fiducia misericordiae eius) in nobis habentes responsum peccati, stulticiae, mortis et inferni, Iuxta illud Apostoli, 2. Corinth. 6. Quasi tristes, semper autem gaudentes, quasi mortui, et ecce vivimus. Et hoc est, quod Esaias cap. 28. vocat, opus alienum Dei, ut ope‐ retur opus suum (id est, nos humiliat in nobis, desperantes faciens, ut exaltet in sua misericordia, sperantes faciens)“. 345 „Wenn wir das erkennen und bekennen, ist in uns ‚keine Gestalt noch Schönheit‘ [ Jes 53,2], sondern wir leben im Verbor‐ genen Gottes [Kol 3,3], das heißt, in nacktem Vertrauen auf seine Barmher‐ zigkeit, während wir in uns das Urteil der Sünde, der Torheit, des Todes und der Hölle haben, gemäß jenem [Wort] des Apostels, 2. Kor 6: ‚Als die Trauri‐ gen, aber allezeit fröhlich, als die Toten, und siehe wir leben.‘ Und das ist es, was Jesaja Kap. 28 ‚das fremde Werk Gottes‘ nennt, damit er sein [eigenes] Werk wirke (das heißt, er demütigt uns in uns, indem er uns zu Verzweifelnden macht, um uns in seiner Barmherzigkeit zu erhöhen, indem er uns zu Hoffenden macht).“ 346 3.2 Theologia crucis 111 <?page no="112"?> 347 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd.-2, 109 = WA 56, 375. 348 WA 1, 208. 349 Vgl. Barth, Die Dialektik des Offenbarungsgedankens, 108; Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie, 149. 350 Vgl. WA 4, 82. 351 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd.-2, 111 = WA 56, 376f. 352 Vgl. Barth, Die Dialektik des Offenbarungsgedankens, 109. wundersa‐ mes Han‐ deln Gottes Der Gehalt sowie die eigentümliche Struktur von Luthers theologia crucis ergeben sich aus der Verknüpfung der aufgeführten Schriftstellen. In dem Gesamtrahmen seiner Sünden- und Bußtheologie zielt sie auf das göttliche Offenbarungshandeln und seine Aneignung durch den Menschen. Diese Intention stellt zunächst eine Folge der Verschränkung von 1Kor 1,18. 23 und Ps 4,4 dar. Luther bezieht das paulinische Wort vom Kreuz nicht nur auf Jesus Christus, er überträgt es auf das christliche Dasein insgesamt und versteht von hier aus das ‚mirum‘ von Ps 4,4. Mit dem wundersamen Handeln Gottes sind nicht mehr wie in der Lehrtradition sinnenfällige Mirakel gemeint, sondern das Zustandekommen des Gottesverhältnisses des Menschen in der Buße. Das Entstehen des Glaubens beim Einzelnen geht durch den Tod des alten Menschen hindurch. „Gottes Art“ sei es, so Luther in der Römerbriefvorlesung, „erst zu zerstören und zunichte zu machen, was in uns ist, bevor er seine Gaben schenkt“. 347 Mit dem wunderlichen Handeln Gottes „ynn seynen kindern“ 348 verbindet der Reformator eine Dialektik von Augenschein und Wirklichkeit. 349 Sie klang in der oben zitierten vierten These der Heidelberger Disputation bereits an. Der natürliche Mensch, der am Äußeren orientiert ist, kann das mirum des göttlichen Handelns nicht verstehen, da es unter dem Gegenteil verborgen ist. 350 Es erschließt sich nur dem geistlichen Verstehen. „Gottes Werk muß nämlich verborgen und unverstanden bleiben gerade dann, wenn es geschieht. Es wird aber nicht anders verborgen als unter einer Gestalt, die unserem Begreifen und Denken widerspricht.“ 351 Das Kreuz Christi repräsentiert nicht nur das göttliche Handeln, sondern auch das christliche Leben. Im Lichte des Kreuzes verkehren sich alle Dinge in ihr Gegenteil. Die Handlungen des Menschen erscheinen äußerlich gut, aber sie sind innerlich schlecht, und das Handeln Gottes, welches äußerlich schlecht erscheint, ist innerlich gut, wie Luther in der dritten der Heidelberger Thesen ausführt. 352 Damit steht das göttliche Handeln in einem Grundgegensatz zum menschlichen Handeln. Es erscheint äußerlich ungestalt und schlecht, aber innerlich als unsterblicher Verdienst. So stehen sich menschliches und göttliches Handeln gegenüber, 112 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="113"?> 353 Barth, Die Dialektik des Offenbarungsgedankens, 111. Vgl. Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie, 116. 354 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd.-1, 327. 329 = WA 56, 304. 355 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd.-1, 329 = WA 56, 305. Verborgen‐ heit des göttlichen Handelns und beide unterliegen, wenn auch in „entgegengesetzter Wertumkehrung“, dem Gegensatz von Sein und Schein. 353 Während das menschliche Handeln, wie es in der Buße sichtbar wird, innerlich schlecht ist, ist das scheinbar negative göttliche Handeln innerlich gut. Für Luther ist das göttliche Handeln unter dem Augenschein des natürli‐ chen Menschen verborgen. Die Verborgenheit des göttlichen Offenbarungs‐ handelns ist die Folge der „Schuld der ersten Sünde“. Durch sie ist „unsere Natur […] so tief in sich selbst verkrümmt […], daß sie nicht nur die köstlichsten Gottesgaben an sich reißt und genießt […], ja auch Gott selbst ‚gebraucht‘, um jene Gaben zu erlangen, sondern daß sie’s sogar gar nicht merkt, daß sie so gottwidrig, verkrümmt und verkehrt nach allem, ja sogar auch nach Gott nur um ihrer selbst willen trachtet“. 354 Deshalb erkennen nur die Glaubenden, denen die unhintergehbare Selbstbe‐ zogenheit ihres Handelns durchsichtig geworden ist, das wundersame Han‐ deln Gottes, da „das Kreuz all das Unsere in den Tod gibt“. 355 Die durch 1Kor 1,18 repräsentierte Alternative von Weisheit und Torheit beziehungsweise von fleischlichem und geistlichem Verstehen des wundersamen göttlichen Handelns ist nun allerdings keine solche, die dem Menschen von sich aus offen steht. Eben das soll die Zitation von Jes 28,21 zum Ausdruck bringen, welche die Alternative von fleischlichem und geistlichem Verstehen an das göttliche Wirken zurückbindet. Die Einbeziehung der Jesajastelle in den Gedankenkomplex der theologia crucis begegnet bei Luther bereits recht früh. Bei der Kommentierung von Ps 92 (93),4 - „Wundersam ist der Herr in der Höhe“ - in der ersten Psalmenvorlesung greift er explizit auf Ps 4,4, Jes 28,21 sowie 1Kor 1,18 zurück, um sein Verständnis von „mirabilis“ zu erläutern. Mirabilis, „hoc est, quod eum tradit in omnes passiones et mortes et tribulatio‐ nes et tamen simul salvat. Et quando maxime deserit, tunc maxime suscipit. Et cum damnat, maxime salvat. Sic enim mirabile (secundum Isaiam 28.) fecit Wundersam, „das besagt, dass [der Herr] ihn [sc. seinen Heiligen] in alle Leiden und Todesarten und Anfechtun‐ gen hineinführt und dennoch zugleich rettet. Und wen er am allermeisten ver‐ lässt, den nimmt er am meisten an. 3.2 Theologia crucis 113 <?page no="114"?> 356 BoA 5, 182 f. = WA 4, 87. 357 Zitiert nach Barth, Die Dialektik des Offenbarungsgedankens, 113f. 358 Barth, Die Dialektik des Offenbarungsgedankens, 114. 359 Lat.-dt. StA 1, 53 = WA 1, 362. 360 Vgl. Barth, Die Dialektik des Offenbarungsgedankens, 116. Gottes fremdes und eige‐ nes Werk consilium suum, dum ‚opus eius alie‐ num est ab eo, ut faciat opus suum‘. […] Quare et hoc psalmo cum dixisset magnas esse persecutiones sanctorum, miratur qoud deus per illas magis salvat per stultitiam crucis“. 356 Und dann, wenn er verdammt, hilft er am meisten. So wundersam nämlich (gemäß Jes 28) vollführt er seinen Rat, dass ‚während sein Werk fremd von ihm ist, er genau sein Werk tut‘. […] durch jene [großen Verfolgungen der Heiligen] errettet Gott mehr, vermöge der Torheit des Kreuzes“. 357 Luther deutet Jes 28,21 als eine generelle Aussage über das göttliche Handeln und entnimmt der Stelle die Unterscheidung zwischen einem fremden und einem eigenen Werk Gottes. Durch die Selbsterkenntnis des Menschen als totaler Sünder, durch Anfechtung und Trübsal führt Gott ihn in seinem fremden Werk in die Hölle, und das heißt, in den Abgrund der Verzweiflung an sich selbst. Doch diejenigen, die Gott in Leiden und Anfechtung bringt, deren erbarmt er sich bereits. Gott vollzieht sein fremdes Werk, um sein eigenes auszuführen. Das aber bedeutet: Gott verwirklicht seinen „Willen nicht auf eine unmittelbare Weise, sondern er wirkt sein ‚opus proprium‘ immer nur im Durchgang durch sein ‚opus alienum‘.“ 358 Er demütigt den Menschen, um ihn zu erhöhen, er tötet, um lebendig zu machen. Das göttliche Handeln ist für Luther in der Welt aufgrund der sündhaften Selbstbezogenheit und Selbstsucht des Menschen stets unter dem Gegenteil verborgen und dem Augenschein entzogen. Im Kreuz Christi ist Gott unter dem Gegenteil ebenso verborgen wie in seinem Zorn. „Die dem Menschen zugewandte Rückseite und das Sichtbare Gottes sind Gegensätze zum Unsichtbaren: das heißt, Menschlichkeit, Schwäche, Torheit.“ 359 Mit Jes 28,21 verankert der Wittenberger Theologe das wundersame Handeln Gottes am Menschen, die Torheit und Schwachheit des Kreuzes, in einem zweifachen göttlichen Wirken. Zugleich, und damit kommt die Bedeutung jener Jesajastelle in den Blick, betont er mit der dem alttestament‐ lichen Propheten entnommenen Unterscheidung die innere soteriologische Zielgerichtetheit des widersprüchlich erscheinenden göttlichen Handelns: Gott tötet, um lebendig zu machen. 360 „Fremd ist sein Werk, auf das er sein 114 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="115"?> 361 WA 55 (1), 147 = WA 3, 246. 362 WA 57 (3), 128. 363 Vgl. Barth, Die Dialektik des Offenbarungsgedankens, 118. 364 BoA 5, 250 = WA 56, 307. 365 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd.-1, 333. 366 LD 1, 419 f. = WA 5, 164. 367 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd.-1, 323 = WA 56, 301. Hoffnungs‐ aspekt Werk tue“. 361 Gott will den Sünder selig machen. Allein, „zu diesem seinem eigentlichen Werk selbst kann er nicht gelangen, wenn er nicht sein fremdes Werk hinzunimmt“. 362 Die innere Finalität vom opus alienum zum opus suum, welche Luther Jes 28,21 entnimmt, liegt allerdings weder zutage, noch ist sie erfahrbar. Im Leben des Menschen erscheint die Gleichzeitigkeit von opus alienum und opus suum, von Töten und Lebendigmachen, nur in einem zeitlichen Nacheinander. Aufgrund der grundsätzlichen Verborgenheit der inneren Verwiesenheit des zweifachen göttlichen Handelns bleibt den Glaubenden nur die Hoffnung, welche sie von sich selbst weg auf Gott hin verweist. 363 „ubi nihil visibile, nihil experimentale nec intus nec foris est, in quod confida‐ tur aut quod ametur aut timeatur, sed super omnia in invisibilem Deum et in‐ experimentalem, incomprehensibilem, sc. in medias tenebras interiores rapitur, nesciens, quid amet, sciens autem, quid non amet, et omne cognitium et expertum fastidiens“. 364 „Hier ist nichts Sichtbares, nichts Er‐ fahrbares, weder innerlich noch äußer‐ lich, auf das man sein Vertrauen set‐ zen könnte oder das man lieben oder fürchten könnte; sondern hoch hinaus über alle Dinge wird sie in den unsicht‐ baren, unerfahrbaren, unbegreifbaren Gott hineingerissen, mitten hinein in die innwendige Finsternis, ohne daß sie weiß, was sie liebt, aber wohl weiß, was sie nicht liebt, und alles, was sie erkannt und erfahren hat verabscheut“. 365 Die von Luther in seine theologia crucis aufgenommene Stelle aus dem pau‐ linischen Römerbrief (Röm 5,4f.) hat nun genau die Funktion, die Gewissheit zum Ausdruck zu bringen, dass der Weg zum opus suum notwendig über das opus alienum führt. „Wenn er in dieser Not geduldig ist und auf die Hand dessen wartet, der an ihm wirkt und ihm die Gnade eingießt, so ist er angenommen und wird Hoffnung, Glauben und Liebe erhalten, welche ihm eben dabei eingegossen werden.“ 366 Trübsal, Anfechtung und Leiden sind die Weise des christlichen Daseins in der Welt, denn die „Trübsale heißen in der Schrift recht eigentlich das Kreuz Christi“. 367 3.2 Theologia crucis 115 <?page no="116"?> 368 Vgl. F. Kattenbusch, Deus absconditus bei Luther, in: Festgabe für D. Dr. Julius Kaftan zu seinem 70. Geburtstage, 30. September 1918, dargebracht von Schülern und Kollegen, Tübingen 1920, 170-214; Bandt, Luthers Lehre vom verborgenen Gott; R. Hermann, Beobachtungen zu Luthers Lehre vom Deus revelatus - nach seiner Verschiedenheit vom Deus absconditus in „De servo arbitrio“, in: ders., Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums. Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd. 2, Berlin 1981, 278-289; E. Jüngel, Quae supra nos, nihil ad nos. Eine Kurzformel der Lehre vom verborgenen Gott - im Anschluß an Luther interpretiert, in: ders., Entsprechungen: Gott - Wahrheit - Mensch. Theologische Erörterungen, München 1980, 202-251; T. Reinhuber, Kämpfender Glaube. Studien zu Luthers Bekenntnis am Ende von De servo arbitrio, Berlin/ New York 2000. Überblickt man die einzelnen Aufbauelemente von Luthers theologia crucis - Ps 4,4, 1Kor 1,18. 23, Jes 28,21 und Röm 5,4f. - in ihrem inneren Zusammenhang, so wird man kaum um das Urteil umhinkommen, dass sie eine Gedankenstruktur von eindrucksvoller systematischer Geschlossenheit und Dichte aufweist. Luther verschränkt in ihr sünden-, bußtheologische, soteriologische, christologische und theologische Motive zu einem Gesamt‐ bild. In dieser Form bildet die theologia crucis nicht nur eine pointierte Verdichtung seiner Theologie, sondern auch ihr gesamtes methodisches Fundament. 3.3 Die verborgene Verborgenheit Gottes Gott, so hat sich gezeigt, ist im individuellen Glaubensvollzug unmittelbar präsent, und darin kommt es sowohl zur Verwirklichung Gottes als Liebe, als auch des Menschen. Die innere Dialektik des Zustandekommens des Glaubens beschreibt die theologia crucis, die keinesfalls nur in der Theologie des jungen Luther eine Rolle spielt. Sie hat ihren Fokus darin, dass Gott sich unter dem Gegenteil verborgen offenbart und die Glaubenden ihr Leben gegen den Augenschein realisieren. Gott bleibt in seiner Offenbarung ein verborgener Gott, ein Deus absconditus. In seiner 1525 publizierten Streitschrift De servo arbitrio gegen Erasmus von Rotterdam verwendet Luther den Begriff Deus absconditus noch in einem anderen Sinne als in der theologia crucis. Hier ist der Deus absconditus kein dialektischer Aspekt des Deus revelatus mehr, sondern der verborgene Gott steht scheinbar noch ‚hinter‘ und ‚neben‘ dem Deus revelatus, der in seiner Offenbarung unter dem Gegenteil verborgen ist. 368 Wenn allerdings hinter dem offenbaren Willen Gottes noch ein zweiter, grundsätzlich verborgener Wille Gottes stehen 116 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="117"?> 369 Vgl. E. Jüngel, Die Offenbarung der Verborgenheit Gottes. Ein Beitrag zum evangeli‐ schen Verständnis der Verborgenheit des göttlichen Wirkens, in: ders., Wertlose Wahr‐ heit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990, 163-182, hier 175-177. 370 Vgl. Bandt, Luthers Lehre vom verborgenen Gott, 83; Hermann, Beobachtungen zu Luthers Lehre vom Deus revelatus, 278. 371 Vgl. Erasmus von Rotterdam, De libero arbitrio DIATRIBE sive collatio, 64f. würde, dann wäre freilich Gott einem unheilbaren Zwiespalt unterworfen und mithin der Gottesgedanke selbst problematisiert. 369 Albrecht Ritschls Urteil, De servo arbitrio sei ein unglückliches Machwerk, würde zu Recht bestehen, und Luthers Gottesbild wäre nicht einheitlich. Luther führt die genannte Unterscheidung in De servo arbitrio neu ein, 370 und zwar als Antwort auf die Auslegung von Ez 18,24: - „Ich, Gott, will nicht den Tod des Sünders, sondern dass er sich bekehre und lebe“ - durch Erasmus in der Diatribe. 371 Aus der Sicht von Erasmus führt jene Stelle aus dem Ezechielbuch bei dem Wittenberger aufgrund seiner These von der Alleinwirksamkeit Gottes und der dieser korrespondierenden Unfreiheit des menschlichen Willens geradewegs in den Widerspruch, dass Gott den Tod des Sünders beklagt, den er doch selbst herbeigeführt hat. Hierauf repliziert Luther in De servo arbitrio: „qui de praedicata et oblata misericor‐ dia Dei loquitur, non de occulta illa et metuenda voluntate Dei, ordinantis suo consilio, quos et quales praedicatae et oblatae misericordiae capaces et parti‐ cipes esse velit. Quae voluntas non re‐ quirenda, sed cum reverentia adoranda est, ut secretum longe reverendissimum maiestatis divinae, soli sibi reservatum, ac nobis prohibitum, multo religiosius, quam infinitae multitudinis specus Co‐ ricii. „Er spricht von der gepredigten und dargebotenen Barmherzigkeit Gottes, nicht von jenem verborgenen und zu fürchtenden Willen Gottes, der nach seinem Ratschluss ordnet, welche und was für welche nach seinem Willen der gepredigten und dargebotenen Barm‐ herzigkeit fähig und teilhaftig sind. Dieser Wille ist nicht zu erforschen, sondern mit Ehrfurcht anzubeten als ein in höchstem Grade verehrungswür‐ diges Geheimnis der göttlichen Majes‐ tät, ihm allein vorbehalten und uns verboten, weit frömmer als Korykische Höhlen von unendlicher Menge. […] Aliter de Deo vel voluntate Dei no‐ bis praedicata, revelata, oblata culta, Et aliter de Deo non praedicato, non reve‐ lato, non oblato, non culto disputandum est. Quatenus igitur Deus sese abscondit et ignorari a nobis vult, nihil ad nos. Hic […] Anders ist über Gott oder über den Willen Gottes zu disputieren, der uns gepredigt, offenbart, dargeboten und von uns verehrt wird, und anders über Gott, der nicht gepredigt, nicht offenbart, nicht dargeboten, nicht ver‐ ehrt wird. So weit also Gott sich selbst 3.3 Die verborgene Verborgenheit Gottes 117 <?page no="118"?> 372 Lat.-dt. 1, 404 = WA 18, 684f. 373 Lat.-dt. StA 1, 405. 374 Vgl. Hermann, Beobachtungen zu Luthers Lehre vom Deus revelatus, 278-289. 375 Vgl. Korsch, Martin Luther, 79-87; Bandt, Luthers Lehre vom verborgenen Gott, 83-179; Jüngel, Quae supra nos, nihil ad nos, 202-251; K. Zwanepol, Zur Diskussion um Gottes Verborgenheit, in: NZSTh 48 (2006), 51-59; S. Volkmann, Luthers Lehre vom verborgenen Gott, in: M. Mühling/ M. Wendte (Hrsg.), Entzogenheit in Gott. Beiträge zur Rede von der Verborgenheit der Trinität, Utrecht 2005, 39-43. 376 Vgl. Korsch, Martin Luther, 79. verborge‐ ner und offenbarer Gott enim vere valet illud, Quae supra nos, nihil ad nos.“ 372 verbirgt und von uns nicht gekannt werden will, geht er uns nichts an. Hier hat wahrlich jenes Wort Geltung: ‚Was über uns ist, geht uns nichts an.‘“ 373 Soweit Luthers Ausführungen in De servo arbitrio, denen zufolge zwischen einem offenbaren und einem verborgenen Willen Gottes zu unterscheiden sei. Den Ausdruck Deus absconditus hat Luther aus Jes 45,15 - „Fürwahr, bei dir ist Gott verborgen, der Gott Israels, der Retter.“ - übernommen, und er begegnet bereits im Zusammenhang mit der theologia crucis in seinem Frühwerk. Auch für seine Unterscheidung zwischen dem Deus absconditus und dem Deus praedicata, revelata, oblata culta in De servo arbitrio beruft sich der Reformator auf die Schrift. In 2Thess 2,4 schreibt Paulus vom Antichristen, er erhebe sich über jeden, „der als Gott gepredigt und verehrt wird“. Luther, der die Stelle nach der Vulgata wiedergibt, „alles, was Gott heißt oder was verehrt wird“ („supra omne, quod dicitur Deus et quod colitur“), findet hier einen Gott, der sich über den Deus praedicatus et cultus erhebt. 374 Diese Unterscheidung scheint nun in der Tat darauf hinauszulaufen, dass er mit ihr sagen will, hinter dem geoffenbarten Willen Gottes, der sich im Kreuz Christi als Liebe manifestiert hat, stehe noch ein dunkler, unerforschbarer Wille, der unterschiedslos alles in allem wirkt. Mit einer solchen Annahme wäre aber Luthers Gottesbild selbst nicht frei von dämonischen Zügen. Das Vertrauen zu Gott würde unter einem letzten Vorbehalt stehen, und Gott könnte seinen Heilswillen jederzeit revozieren. Wie ist die prononcierte Rede von einer verborgenen Verborgenheit Gottes in De servo arbitrio zu verstehen? 375 Bei der Interpretation von Luthers Anschauung der verborgenen Verbor‐ genheit Gottes ist methodisch bei der individuellen Glaubensgewissheit einzusetzen. 376 Allein im Ausgang von ihr wird deutlich, dass der Deus 118 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="119"?> 377 Vgl. WA 18, 754. Vgl. Seils, Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, 87-89. 378 Vgl. Hermanni, Luthers Lehre vom unfreien Willen als Fundament der Rechtfertigungs‐ lehre, 88-108. 379 Vgl. Seils, Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, 93; Korsch, Martin Luther, 86f. Glaube als individuel‐ ler Vollzug absconditus nur als ein Bestandteil der eigenen Heilsgewissheit verstan‐ den werden kann. Obwohl der Wittenberger Theologe von dem reinen An-sich-Sein Gottes ausgeht, ist doch die Soteriologie Grund, Grenze und Norm des Gottesgedankens und nicht dessen metaphysische Bestimmung. Insofern kann man sagen, sein Gottesgedanke zielt auf die Durchsichtigkeit des Menschen, auf seine Selbsterkenntnis als Sünder. Der Gottesgedanke in seinem religiös einzig relevanten Sinne fungiert als Ausdruck und Darstel‐ lung religiöser Gewissheit und dem mit ihr verbundenen Sich-Verstehen des Menschen. Gott und Glaube gehören zusammen, aber der Glaube ist unvertretbar an seinen individuellen Vollzug und seine Aneignung durch den Menschen gebunden. Folglich kann die religiöse Selbstdeutung, die sich in der Vorstellung Gottes als reine, sich schenkende Liebe ausspricht, nicht verallgemeinerbar sein. Nun entsteht der Glaube beim einzelnen Menschen nicht durch sein eigenes Handeln, vielmehr gründet er allein im Wirken Gottes. Hier handelt Gott ohne uns in uns. 377 Dass ein Mensch glaubt, also zu einem neuen und tieferen Verständnis seiner selbst kommt, hängt weder von seinem Willen noch von seinen Bemühungen ab. Gott allein wirkt das Heil, und das heißt, seine eigene Präsenz im Glauben. Dieser Grundanschauung korrespondiert Luthers Behauptung der Unfreiheit des menschlichen Willens. Sie besagt ja gerade, dass das Gottesverhältnis des Menschen nicht durch sein Handeln zustande kommt. 378 Die These von der Unfreiheit des menschlichen Willens sowie die mit ihr verbundene Behauptung einer unverbrüchlichen Notwen‐ digkeit, nach der alles in der Welt geschieht, meint keinen wie auch immer gearteten Determinismus, der die menschliche Freiheit bestreiten möchte. 379 Es geht bei Luthers These von der Unfreiheit des menschlichen Willens, worauf unten noch näher eingegangen werden muss (vgl. unten 5.3), vielmehr um eine religiöse Thematisierung und Reflexion der menschlichen Freiheit. Das servum arbitrium zielt auf eine innere Bestimmung der Freiheit und nicht auf eine äußere Heteronomie. Glaube entsteht stets durch einen Übergang vom Unglauben zum Gott‐ vertrauen, vom Sündersein zum Gerechtfertigtsein. Nur die Glaubenden 3.3 Die verborgene Verborgenheit Gottes 119 <?page no="120"?> 380 Vgl. WA 18, 603-605. 381 Lat.-dt. StA 1, 405 = WA 18, 684. 382 Lat.-dt. StA 1, 407 = WA 18, 685f. 383 Vgl. Jüngel, Quae supra nos, nihil ad nos, 202-251. Erwählung und Prädes‐ tination verstehen sich als Sünder, und darin sind sie gerechtfertigt. Zum Glauben gehört folglich, wie Luther in seiner Streitschrift gegen den Skeptizismus des Erasmus unerbittlich einschärft, 380 notwendig das Wissen darum hinzu, dass der eigene Glaube nur durch Gott und eben nicht durch den Menschen hervorgebracht werden kann. Wenn aber Gott alles allein wirkt und, da er ununterbrochen am Wirken ist, „notwendigerweise“ auch im Gottlosen und im Satan bewegt, dann muss sowohl der frühere eigene Unglaube als auch der Unglaube der anderen auf das Wirken Gottes zurückgeführt werden. „Warum die einen vom Gesetz erreicht werden, die anderen nicht, so dass jene die angebotene Gnade annehmen und diese sie verachten - das ist eine andere Frage und sie wird von Ezechiel an dieser Stelle nicht behandelt.“ 381 Der Deus absconditus repräsentiert das kontingente Zustandekommen des Glaubens beim einzelnen Menschen. Betrachtet man Luthers Antwort auf die Frage, warum die einen vom Gesetz getroffen werden und die ande‐ ren nicht, in deren Zusammenhang er den verborgenen Willen Gottes ins Spiel bringt, genauer, dann wird schnell deutlich, dass sie gar keine theoretisch-objektive Aussage über das Sein Gottes sein will. Glaubende sollen ihres eigenen Heils gewiss sein und nicht darüber spekulieren, warum Gott die einen für sein Wort öffnet und die anderen nicht. „Denn nach dem Wort müssen wir uns richten, nicht nach jenem unerforschlichen Willen.“ 382 Religion und Gottesglaube sind Weisen der Selbstvergewisserung und Selbstdeutung des endlichen Menschen. Da ihm die Perspektive Gottes nicht zur Verfügung steht, soll er sich an den geoffenbarten und gepredigten Gott halten. Deshalb gilt: „Quae supra nos, nihil ad nos“, wie Luther unter Aufnahme eines sokratischen Diktums sagt. 383 Die Einführung des Deus absconditus dient allein der religiösen Vergewisserung des eigenen Heils. Die von Luther in De servo arbitrio neu eingeführte Bedeutungsnuance des Deus absconditus im Sinne einer verborgenen Verborgenheit Gottes im Unterschied zur theologia crucis gehört in den gedanklichen Kontext der Erwählungs- oder Prädestinationslehre. Auch von hier aus zeigt sich, dass seine Ausführungen missverstanden wären, wollte man sie von der subjektiven Perspektive der eigenen Glaubensgewissheit lösen und als eine gleichsam objektive Beschreibung verstehen. Die Prädestinationsvor‐ 120 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="121"?> 384 Lat.-dt. StA 1, 407 = WA 18, 686. 385 BoA 5, 271 = WA 56, 388. 386 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd. 2, 133. Vgl. K. Holl, Die Recht‐ fertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit, in: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 6 1932, 111-154, hier 148-154; E. Vogelsang, Der angefochtene Christus bei Luther, Berlin/ Leipzig 1932, 31, Anm. 2. 387 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd.-2, 133 = WA 56, 388. 388 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd.-2, 133 = WA 56, 388. stellung ist das Korrelat des Rechtfertigungsglaubens und beinhaltet, dass das eigene, mit dem Glauben verbundene Heil allein von Gott bewirkt wird und keinerlei Voraussetzungen im Menschen hat. Somit bringt der Prädestinationsgedanke die Unbedingtheit des eigenen Sich-Verstehens des Glaubens zu einem scharfen Ausdruck. Luthers Umgang mit der Prädestinationsvorstellung in De servo arbitrio - „Warum jene Majestät diesen Fehler unseres Willens nicht aufhebt oder in allen ändert, weil es ja doch nicht in der Macht des Menschen liegt, oder warum er ihm jenen anrechnet, obwohl sich der Mensch ihm nicht entziehen kann, danach zu fragen ist nicht erlaubt“ 384 - entspricht seinen Ausführungen in der frühen Römerbriefvorlesung. Hier hat er drei Stufen der Erwählungsgewissheit unterschieden. Die erste Stufe beschreibt der Reformator wie folgt: „Primus eorum, qui contenti sunt de tali voluntate Dei neque murmurant contra Deum, verum confidunt se esse electos et nollent se damnari.“ 385 „Die erste Stufe, das sind die, die zu‐ frieden sind mit dem Willen Gottes, so wie er ist, und nicht wider Gott mur‐ ren, vielmehr vertrauen, daß sie erwählt sind, und die nicht wollten, daß sie verdammt werden.“ 386 Die zweite, höhere Stufe bezeichnet die, welche sich in den Willen Gottes schicken und die in ihren Herzen zufrieden sind, auch wenn Gott sie zu „den Verworfenen rechnen wollte“. 387 Auf der dritten und höchsten Stufe stehen die, welche sich dem Willen Gottes vollständig unterstellen und ihre Verwerfung auf sich nehmen. „Die werden am vollkommensten gereinigt von dem eigenen Willen und von der ‚Klugheit des Fleisches‘.“ 388 Wenn Luther in der Streitschrift von 1525 darauf beharrt, dass den Menschen Gott in seiner Majestät nichts angeht und die Glaubenden sich, statt zu spekulieren, an den gepredigten Gott halten sollen, dann nimmt er die erste 3.3 Die verborgene Verborgenheit Gottes 121 <?page no="122"?> 389 Vgl. Holl, Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit be‐ sonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit, 153; Vogelsang, Der angefochtene Christus bei Luther, 80. 85f. 390 Lat.-dt. StA 1, 475 = WA 18, 713. 391 Jüngel, Quae supra nos, nihil ad nos, 223. 392 Lat.-dt. 1, 407 = WA 18, 685. Stufe der Erwählungsgewissheit aus der Römerbriefvorlesung auf. 389 In De servo arbitrio liegt der Fokus der Erörterungen deutlich auf der religiösen Selbstvergewisserung: „Mose handelt vielmehr davon: nicht so sehr, dass er die Bosheit des Pharao predigt als die Wahrheit und Barmherzigkeit Gottes. Die Kinder Israels sollen nämlich nicht den Zusagen Gottes misstrauen, in denen er zugesagt hat, er werde sie befreien.“ 390 Die Unterscheidung des Deus absconditus von dem Deus revelatus dient der Vergewisserung des eigenen Glaubens, der auf Erden stets angefochten bleibt. Durch ihre Rückbindung an den Glaubensvollzug des einzelnen Menschen unterscheidet sich Luthers Rede von der verborgenen Verbor‐ genheit Gottes von der nominalistischen Differenzierung der potentia Dei absoluta et ordinata. Allein deshalb führt die in De servo arbitrio eingeführte Unterscheidung zwischen einem verborgenen und einem offenbaren Gott auch nicht zu einer Auflösung seines Gottesgedankens. Vielmehr weist Luther mit dem Deus absconditus der lebensweltlichen Kontingenz, sei es im Hinblick auf das Zustandekommen des eigenen Glaubens, sei es in Hinsicht auf den eigenen Lebensvollzug, einen Ort im Gottesgedanken zu. In diesem Sinne markiert der Deus absconditus einen notwendigen „Grenzbegriff “. 391 Er repräsentiert diejenige Unbestimmtheit, die als Horizont mit jeder Bestim‐ mung mitgesetzt ist. Von einem solchen Grenzbegriff kann freilich nicht gesagt werden, dass er etwas will und tut. Luther, so muss man allerdings kritisch einwenden, macht genau das an einigen Stellen in De servo arbitrio. Wenn er schreibt, Gott will „nicht den Tod des Sünders, im Wort nämlich. Er will ihn aber in seinem unerforschlichen Willen“, 392 dann spricht er dem Deus absconditus einen bestimmten Willen zu. Die Perspektive der religiösen Selbstdeutung wird mit solchen Aussagen verlassen und eine gleichsam göttliche Position eingenommen, welche keinem Menschen zur Verfügung steht. Der Reformator fällt hier hinter seine eigene Einsicht in die 122 3 Luthers Gottesanschauung <?page no="123"?> 393 Vgl. Korsch, Martin Luther, 86 f.; Jüngel, Die Offenbarung der Verborgenheit Gottes, 175f. Beschränktheit des menschlichen Standpunkts zurück und ist entsprechend zu korrigieren. 393 3.3 Die verborgene Verborgenheit Gottes 123 <?page no="125"?> 394 BoA 5, 48 = WA 3, 13. 395 WA 55 (1), 8. 396 BoA 5, 263 = WA 56, 377. 397 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd.-2, 111. 398 Vgl. Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie, 340-388. 399 StA 2, 267 = WA 7, 22. Christusbild und Glaube 4 Das Christusbild Luthers Luthers theologia crucis verbindet die dialektisch-antinomische Gottes- und die Selbsterkenntnis des Menschen als gerechtfertigter Sünder mit dem Paulinischen Wort vom Kreuz. Im Leiden, in der Schwachheit und in der Anfechtung offenbart sich Gott. Bereits die erste Psalmenvorlesung hatte der junge Wittenberger Professor unter das Motto des leidenden Christus gestellt. Der Psalter redet in seinem Wortsinn von „Christum in sua passione“. 394 Aufgrund seiner christologisch-tropologischen Auslegungs‐ weise verknüpft Luther die buchstäblichen Aussagen der Psalmen über den leidenden Christus mit „jedem geistlichen und inneren Menschen“. 395 In der Römerbriefvorlesung legt er, nachdem er über das wundersame Handeln Gottes an seinen Heiligen geschrieben hat, dar: „Sic enim egit in opere suo proprio, quod est primum et exemplar omnium ope‐ rum suorum, i. e. in Christo. Quem tunc, quando voluit glorificare et in regnum statuere, sicut omnium discipulorum pi‐ issima cogitatio ferventer optabat et ex‐ pectabat, maxime contrarie fecit mori, confundi et ad inferos descendere.“ 396 „So nämlich handelte er an seinem ei‐ gentlichen Werke, dem Erstling und Urbild aller seiner Werke, ich meine an Christus. Ihn hat er gerade dann, als er ihn verherrlichen und in sein Königtum einsetzen wollte, wie es der fromme Gedanke aller Jünger so glü‐ hend wünschte und erwartete, ganz im Gegenteil zuerst sterben, zuschan‐ den werden und in die Hölle fahren lassen.“ 397 Luthers Christusbild und seine Aussagen über die Gläubigen haben ihre Eigen‐ art darin, dass sie ganz auf die theologia crucis eingestellt sind. 398 Die angefoch‐ tene Seele hat, wie er in dem Freiheitstraktat von 1520 ausführt, „keyn ander dinck / widder yn hymel noch auff erden darynnen / sie lebe / frum / frey / vnd Christen sey / den das heylig Eua(n)gelij / das wort gottis von Christo gepre‐ diget“. 399 Das Christusbild repräsentiert der angefochtenen Seele die mit dem Wort Gottes verbundene Dialektik von Gericht und Barmherzigkeit, in der <?page no="126"?> 400 Zur Christologie Luthers vgl. Seeberg, Die Lehre Luthers, 179-201; Althaus, Die Theolo‐ gie Martin Luthers, 159-195; E. Wolf, Die Christusverkündigung bei Luther, in: ders., Peregrinatio. Studien zur reformatorischen Theologie und zum Kirchenproblem, München 1954, 30-80; Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, 235-248; M. Lienhard, Martin Luthers christologisches Zeugnis. Entwicklung und Grundzüge seiner Christologie, Göttingen 1980; Barth, Die Theologie Martin Luthers, 169-192; A. Wind, „Homo est deus“: Reflections on Luther’s Christology, in: Dialog 63 (2024), 28-34. 401 Vgl. WA 20, 228; WA 17 (2), 244. 402 StA 2, 275 = WA 7, 25. 403 Lat.-dt. StA 2, 31 = WA 1, 632. 404 Vgl. WA. TR 1, 59 f. u. ö.; WA 1, 525-527. Vgl. E. Wolf, Staupitz und Luther. Ein Beitrag zur Theologie des Johannes von Staupitz und deren Bedeutung für Luthers theologischen Werdegang, Leipzig 1927; Vogelsang, Der angefochtene Christus bei Luther, 71-74. 405 Vgl. WA 9, 17. Grundzüge von Luthers Christolo‐ gie sich das menschliche Sich-Verstehen aufbaut. Luthers Christusanschauung beinhaltet folglich eine Weiterbestimmung des Wortes Gottes als Evange‐ lium. 400 Jesus Christus ist, wie der Reformator formulieren kann, der Spiegel des väterlichen Herzens Gottes. 401 Im Glauben gewinnt Christus im Herzen beziehungsweise im Gewissen des glaubenden Menschen Gestalt. „Nit allein gibt der glaub ßouil / das die seel / dem gottlichen wort gleych wirt aller gnaden voll / frey / vn(d) selig / sondernn voreynigt auch die seele mit Christo / als eyne brawt mit yhrem breudgam.“ 402 Diese Christusanschauung baut auf Luthers neues Bußverständnis auf. Die wahre Buße besteht, wie es in den Disputationsthesen Von der Vergebung der Sünden von 1518 heißt, in dem Glauben der Sünder an das Vergebungswort Christi. „Nichts nämlich rechtfertigt als allein der Christusglaube, zu dem das Darreichen des Wortes durch den Priester notwendig ist.“ 403 Wie Luther selbst berichtet hat, ist er zu seinem Christusbild durch Johannes von Staupitz im Kloster gelangt. 404 Sein Beichtvater habe ihn angesichts seiner Anfechtungen durch den richtenden Christus auf den gekreuzigten Christus hingewiesen. An dieser Auskunft wird ein doppelter Grundzug von Luthers Christolo‐ gie deutlich. Zunächst rückt er, und zwar bereits in den frühen Randbemer‐ kungen zu Augustin, 405 den Menschen Jesus Christus in das Zentrum seiner Christologie. Ausgangspunkt seiner Christusanschauung ist nicht mehr wie in der altkirchlichen und mittelalterlichen Theologie die metaphysische 126 4 Das Christusbild Luthers <?page no="127"?> 406 Vgl. Vogelsang, Die Anfänge von Luthers Christologie nach der 1. Psalmenvorlesung, 11. 407 Vgl. Vogelsang, Der angefochtene Christus bei Luther, 78f. 408 Vgl. Wolf, Die Christusverkündigung bei Luther, 30-80. Entwick‐ lung von Luthers Christolo‐ gie Frage, wie göttliche und menschliche Natur in einer Person vereinigt werden können, sondern das biblische Bild von dem Menschen Jesus Christus. 406 Sodann verknüpft der Wittenberger Professor die Aussagen über Christus mit denen über die Christen. 407 Hieraus resultiert die für ihn signifikante soteriologische Zuspitzung seiner Christusanschauung. Hinter dem Chris‐ tusbild tritt, insbesondere in den Predigten Luthers, die dogmatische Kon‐ struktion des Gottmenschen Jesus Christus zurück. Alle Aussagen der über‐ lieferten Personchristologie werden im Horizont der Soteriologie reformuliert. So deutlich diese beiden Grundzüge in dem Christusbild Luthers hervor‐ treten, so schwierig ist es indes, seine Christologie insgesamt auf eine systematische Weise zu interpretieren. Das hat seinen Grund nicht nur darin, dass er keine Lehre von Christus im Sinne einer dogmatischen Abhand‐ lung geschrieben und christologische Motive und Reflexionen in höchst unterschiedlichen Zusammenhängen entfaltet hat. 408 Gravierender noch ist: in die Gestaltung seines Christusbildes nahm er sehr disparate christo‐ logische Traditionen und Motive auf. Sie reichen von den altkirchlichen Vorstellungen der Vergottung des Menschen, dem Betrug des Teufels über Elemente der mittelalterlichen Mystik bis hin zu solchen der anselmischen Satisfaktionstheorie. Im Hinblick auf das christologische Dogma ist dasselbe zu sagen, wie zu der mit ihm zusammenhängenden Trinitätslehre: Luther hat formal an der Zwei-Naturen-Lehre festgehalten und sie vorausgesetzt. Allerdings ergibt sich sein eigenes Verständnis der Christologie noch nicht aus den christologischen Formeln und Begrifflichkeiten, derer er sich bei der Darstellung und Ausgestaltung seines Christusbildes bedient hat, sondern allein aus seiner Grundanschauung. Sie liegt in dem neuen Bußverständnis beziehungsweise dem daraus hervorgegangenen Rechtfertigungsglauben. Von ihm aus werden die überlieferten Motive umgeformt und mit neuem Inhalt gefüllt. Das Christusbild und die Christologie Luthers unterliegen einer Entwick‐ lung, welche in der Forschung unterschiedlich bewertet wird. Zwar hat, wie schon erwähnt, bereits der junge Erfurter Sententiar in seinen Anmerkun‐ 4 Das Christusbild Luthers 127 <?page no="128"?> 409 Vgl. D. Vorländer, Deus incarnatus. Die Zweinaturenchristologie Luthers bis 1521, Witten 1974, 36-50. 410 Vgl. WA 9, 18. 411 Vgl. WA 39 (2), 3-5. 412 Vgl. WA 39 (2), 93-96. sacramen‐ tum et exemplum gen zu Augustin und zu Petrus Lombardus die Menschheit Jesu Christi in den Mittelpunkt seiner Christusanschauung gestellt, aber aufs Ganze gesehen bleibt doch sein damaliges Christusbild den spätmittelalterlichen Schulformeln verpflichtet. 409 In den frühen Vorlesungen über die Psalmen, im Römer-, Galater- und Hebräerbrief geht Luther von dem Menschen Jesus Christus aus und fokussiert die Christologie auf sein Leiden und seine An‐ fechtung am Kreuz. Infolge seiner Neuinterpretation des wundersamen Handelns Gottes, des mirum aus Ps 4,4, bezieht er jedoch dieses nicht auf die Wundertaten im Leben Jesu, sondern sowohl auf das Gottesverhältnis Jesu als auch das der Gläubigen. Christusbild und christliche Existenz rücken ganz nahe zusammen: der leidende, angefochtene und den Tod überwin‐ dende Christus wird zum Bild des Glaubens und seiner Entstehung. Christus, so Luthers Formel, ist sacramentum et exemplum (Sakrament und Vorbild). 410 Ab der Mitte der 1520er Jahre entfaltet der Wittenberger Reformator, ins‐ besondere in seiner Auseinandersetzung mit dem Abendmahlsverständnis der Oberdeutschen und Schweizer Reformatoren, sein Christusbild stärker im Rückgriff auf die überlieferten dogmatischen Formeln der Zwei-Natu‐ ren-Lehre. Allerdings wird das altkirchliche christologische Dogma von ihm in einer soteriologischen Perspektive rezipiert. Wichtig für seine späte Christologie sind neben den Abendmahlsschriften die Disputationsthesen Verbum caro factum est / Das Wort ward Fleisch 411 und De divinitate et hu‐ manitate Christi / Von der Gottheit und Menschheit Christi 412 aus den Jahren 1539 und 1540. In ihnen legt er seine aus seiner reformatorischen Entde‐ ckung resultierende Neudeutung der Zwei-Naturen-Lehre im Zusammen‐ hang vor. Sie zielt auf eine Reformulierung des Dogmas im Horizont der religiösen Sprache. Einzusetzen ist mit dem aus Luthers theologia crucis resultierenden Chris‐ tusbild. Von hier aus ist seiner Umformung des dogmatischen Christusbildes nachzugehen. 128 4 Das Christusbild Luthers <?page no="129"?> 413 Vgl. BoA 1, 157 = WA 2, 138. Vgl. Korsch, Martin Luther, 56-57; Vogelsang, Die Anfänge von Luthers Christologie nach der 1. Psalmenvorlesung; ders., Der angefochtene Christus bei Luther. 414 BSLK, 511. Vgl. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, 238; Althaus, Die Theologie Martin Luthers, 167. 415 LD 1, 309 = WA 57 (3), 151. 416 Lat.-dt. StA 2, 75 = WA 2, 148. 417 Vgl. WA 2, 148; WA 1, 268; WA 6, 114; WA 10 (3), 219; WA 20, 308. Christus‐ bild als Dar‐ stellung des göttli‐ chen Han‐ delns 4.1 Jesus Christus, mein Herr Signifikant für Luthers Christusanschauung ist die Gleichförmigkeit (con‐ formitas) von Christus und den Glaubenden. 413 Immer wieder schärft er in seinen Vorlesungen und Texten seit den Erfurter Randbemerkungen zu Augustin ein, Christus sei sacramentum et exemplum. Am bündigsten hat der Reformator seine christologische Grundanschauung in seiner Erläuterung des zweiten Artikels des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus von 1529 zusammengefasst. Dort heißt es: „Ich gläube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geborn und auch wahrhaftiger Mensch von der Jungfrauen Maria geborn, sei mein HERR“. 414 Jesus Christus ist für Luther genau darin ‚mein Herr‘, wenn ein Mensch „durch den Glauben […] dem Worte Gottes ähnlich“ wird, so dass der, der „an ihn glaubt, ein Sohn Gottes wird“. 415 Entsprechend heißt es von Christus, er „wollte uns nicht unähnlich sein, ja vielmehr wurde er für uns wie einer von uns und nahm die Knechtsgestalt an, das heißt, er unterwarf sich selbst allen Übeln“. 416 Die methodische Grundlage der angeführten christologischen Aussagen Luthers ist die theologia crucis. Sie kommt in seinem Christusbild zu einem besonders starken Ausdruck. Christus ist das Werk Gottes, in dem die Antinomie des göttlichen Handelns im und für den Glauben zur Darstellung gelangt. Seit der Heb‐ räerbriefvorlesung hat Luther seinen frühen Gedanken der Menschheit Jesu Christi mit dem Christushymnus aus dem Philipperbrief (Phil 2,5-11) verknüpft. 417 In Verbindung mit dem Leitgesichtspunkt der theologia crucis heißt es in der Hebräerbriefvorlesung: 4.1 Jesus Christus, mein Herr 129 <?page no="130"?> 418 BoA 5, 345 = WA 57 (3), 99; vgl. WA. B 1, 326-331, bes. 328 f., Nr.-145. 419 LD 1, 293. 420 Vgl. Vogelsang, Der angefochtene Christus bei Luther; F. Gogarten, Luthers Theologie, Tübingen 1967, 163; Lienhard, Martin Luthers christologisches Zeugnis, 90; Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie, 341-356. 421 LD 1, 80 = WA 3, 432. 422 Vgl. WA 2, 685-697. 423 Vgl. W. Goez, Luthers „Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben“ und die mittelal‐ terliche ars moriendi, in: LuJ 48 (1981), 97-114; B. Hamm, Luthers Anleitung zum seligen Sterben vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Ars moriendi, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 115-163. 424 StA 1, 236 = WA 2, 689. angefoch‐ tener Chris‐ tus „Igitur qui vult salubriter ascendere ad amorem et cognitionem Dei, dimittat regulas humanas et metaphysicas de divinitate cognoscenda et in Christi hu‐ manitate seipsum primum exerceat. Im‐ piissima enim temeritas est, ubi Deus ipse humiliavit se, ut fieret cognoscibi‐ lis, quod homo aliam sibi viam quaerat proprii ingenii consiliis usus.“ 418 „Wer also in heilbringender Weise zur Liebe und Erkenntnis Gottes emporstei‐ gen will, der lege die von Menschen ge‐ gebenen metaphysischen Anleitungen, das göttliche Wesen zu erkennen, bei‐ seite und übe sich zuerst in bezug auf das menschliche Wesen Christi. Denn höchst unfromme Vermessenheit ist es, wenn der Mensch, wo doch Gott selbst sich erniedrigt hat, um erkennbar zu werden, sich einen andern Weg sucht und dabei den Eingebungen seines eige‐ nen Geistes folgt.“ 419 Wie genau sich Luthers Christusbild in seine theologia crucis einfügt, wird nicht nur an seiner Betonung der Menschheit Jesu Christi sowie den Gedanken der Erniedrigung und Knechtsgestalt ersichtlich, welche später in der sich herausbildenden altlutherischen Christologie eine geradezu konsti‐ tutive Rolle spielen, sondern vor allem in seiner gegenüber der Lehrtradition neuen Betonung der Anfechtung und Gottverlassenheit Jesu. 420 Bereits in der ersten Psalmenvorlesung kommt diese Eigenart seiner Christologie zum Zuge. So bemerkt er in seiner Auslegung von Psalm 68 (69), die Psalmen sind „Gebete des tatsächlich in der Hölle weilenden Christus“. 421 Am deutlichsten hat der Reformator den Gedanken des angefochtenen Christus in seinem Sermon von der Bereitung zum Sterben 422 von 1519 ausgeführt. Nachdem er in seiner in der mittelalterlichen Tradition der ars moriendi 423 stehenden Schrift die drei Schreckensbilder des Sterbens - Sünde, Tod und Hölle - vor Augen gemalt hat, kommt er auf Christus, das „gnaden bild“, zu sprechen, auf das die Sterbenden blicken und „ynn sich bilden“ sollen, 424 um die schreckenden und anfechtenden Bilder zu verdrängen. Von Christus heißt es hier, er sei 130 4 Das Christusbild Luthers <?page no="131"?> 425 StA 1, 237 = WA 2, 690; vgl. WA 2, 139. 426 Lat.-dt. StA 2, 292 = WA 8, 86. Vgl. Vogelsang, Der angefochtene Christus bei Luther, 28-30; G. Ebeling, „Christus … factus est peccatum metaphorice“, in: A. Freund/ U. Kern/ A. Radler (Hrsg.), Tragende Tradition. Festschrift für Martin Seils zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1992, 49-73; Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie, 348-456; W. Härle, „Christus factus est peccatum metaphorice“. Zur Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi, in: NZSTh 36 (1994), 302-315. 427 StA 1, 237 = WA 2, 690. 428 BoA 1, 157 = WA 2, 138. 429 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd.-2, 119 = WA 56, 381. „vmb deynen wille(n) / gen hell gefaren / vn(d) von gott ist vorlassen gewe‐ ßen / alß eyner der vordampt sey ewiglich / da er sprach am Creutz / Eli eli lama asabthani. O meyn gott o meyn gott / waru(m)b hastu mich vorlassen“. 425 In der Konsequenz seiner theologia crucis treibt Luther die Anfechtung und Gottverlassenheit des am Kreuz sterbenden Christus bis zum Äußersten. Christus unterstellt sich selbst, für die an der Zwei-Naturen-Lehre orien‐ tierte Lehrtradition undenkbar, dem Gericht und wird für die Menschen zur Sünde: „Christus […] factus est peccatum metaphorice“. 426 In seiner Gottverlassenheit ist Christus das Trost- und Gnadenbild des angefochtenen Menschen, der, völlig zunichte geworden, nicht auf sich, sondern allein auf Gott vertraut. „Sich yn dem bild / ist vbirwunden deyn helle / vn(d) deyn vngewiß vorse‐ hung / gewiß gemacht / das ßo du da mit alleyn dich beku(m)merst / vnd das glaubst fur dich geschehn / ßo wirstu / yn dem selben glauben behalten gewiß‐ lich“. 427 Der leidende und von Gott verlassene Christus repräsentiert das opus alienum Gottes, durch das allein ein Mensch „zu seyns selb erkentnis kūme“. 428 Verzweiflung, Anfechtung und Gottverlassenheit sind jedoch die Weisen, auf die Gott dem Menschen nahe kommt. „Wir bitten um Heil und er führt uns, um uns selig zu machen, noch tiefer in die Verdammnis hinein und verbirgt unter solchem Unwetter seine Erhöhung.“ 429 Christus ist das Gnadenbild des wundersamen göttlichen Handelns, und darin ist er sacramentum et exemplum. Die Formel zielt, wie an Luthers Erläuterung in der Hebräerbriefvorlesung deutlich wird, auf die Selbster‐ kenntnis des Menschen als Sünder vor Gott. 4.1 Jesus Christus, mein Herr 131 <?page no="132"?> 430 BoA 5, 348 = WA 57 (3), 114. 431 LD 1, 296. 432 Lat.-dt. StA 2, 3 = WA 1, 233. 433 Vgl. WA 56, 321f. 434 WA 10 (1, 1. Hälfte), 12; vgl. WA 57 (3), 124 f.; WA 5, 639. Vgl. Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie, 375-382. 435 WA 2, 145. Vgl. U. Rieske-Braun, Duellum mirabile. Studien zum Kampfmotiv in Martin Luthers Theologie, Göttingen 1999. Christus‐ bild und Glaube fröhlicher Wechsel und Streit „Sacramentum passionis Christi est mors atque remissio peccatorum, exemplum autem est imitatio poenarum eius. Ideo qui Christum vult imitari quoad exemplum, necesse est, ut credat primum firma fide Christum pro se esse passum ac mortuum quoad sacramen‐ tum.“ 430 „Das Sakrament des Leidens Christi ist sein Tod und die Vergebung der Sün‐ den, das Vorbild aber die Nachahmung seiner Qualen. Wer also Christus als Vorbild nachahmen will, muß notwen‐ digerweise zuerst fest daran glauben, daß Christus als Sakrament (als göttli‐ ches Zeichen) für ihn gelitten hat und gestorben ist.“ 431 Die Qualen des angefochtenen Gewissens, für Luther der Sitz der Hölle (vgl. oben 2.3.2.3), bezieht er auf die Passion Christi. Doch die mit dem Bußgeschehen verbundene Erkenntnis des totalen Sünderseins des Men‐ schen vor Gott hat ihr inneres Ziel im Vertrauen des Menschen auf Gottes Verheißung der Sündenvergebung. Beide Momente werden durch die Be‐ stimmung Christi als sacramentum repräsentiert. Sie bezieht sich auf den inneren Menschen. Zur wahren Buße gehört jedoch nicht nur die innere, sondern auch die äußere Buße. Jene wäre keine, „wenn sie nicht äußerlich vielfältige Marter des Fleisches schafft“. 432 Den zuletzt genannten Aspekt seines Bußverständnisses hat Luther in seine Bestimmung von Christus als exemplum aufgenommen. 433 Im Herzen der Glaubenden bildet sich Christus als Gabe innerlich ein, „nehret deynen glawben und macht dich tzum Christen“, aber „Christus als eyn exempel ubet deyne werck, die machen dich nit Christen, ßondern sie gehen von dyr Christen schon zuuor gemacht“. 434 Die im Anschluss an Phil 2,5-11 beschriebene Konformität zwischen Christus und den Gläubigen hat Luther unter Aufnahme von früheren Mo‐ tiven in das Bild eines fröhlichen Wechsels zwischen Christus und den Sün‐ dern gekleidet. 435 Eine seiner bekanntesten Formulierungen findet sich im Freiheitstraktat von 1520. „Hie hebt sich nu der fro(e)lich wechßel vnd streytt / Die weyl Christus ist gott vnd mensch / wilcher noch nie gesundigt hatt / vnd seyne frumkeyt 132 4 Das Christusbild Luthers <?page no="133"?> 436 StA 2, 277 = WA 7, 25f. 437 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd.-1, 371 = WA 56, 324. 438 Lat.-dt. StA 2, 71 = WA 2, 145. Vgl. Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 286 f; B.K. Holm, Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre, Berlin/ New York 2006; ders., Wechsel ohnegleichen. Über die Grundstruktur der Rechtfertigung und Heiligung und das Austauschen von „Gaben“ in Luthers „Tractatus de libertate christiana“, in: NZSTh 40 (1998), 182-196. 439 Vgl. WA 39 (1), 44 f. Vgl. Hirsch, Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, 205, Anm. 1. 440 Vgl. Barth, Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, 287. 441 Vgl. BSLK, 511 f. Vgl. C. Danz, Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 41-44. 442 Vgl. WA 7, 29; WA 10 (1, 2. Hälfte), 24. fides ap‐ prehensiva Christi vnu(e)birwindlich / ewig / vnd almechtig ist / ßo er denn der glaubigen seelen sund / durch yhren braudtring / das ist / d(er) glaub / ym selbs eygen macht vnd nit anders thut / den(n) als hett er sie getha(n) / ßo mussen die sund ynn yhm vorschlunden(n) vn(d) erseufft werden / Denn sein vnu(e)birwindlich gerechtig‐ keyt / ist allenn sunden zustarck / also wirt die seele vo(n) allen yhren sun‐ den / lauterlich durch yhre(n) malschatzts / das ist des glaubens haben / ledig vnd frey / vnd begabt / mit der ewigen gerechtickeit yhrs breu(e)dgamß Christi.“ 436 Luther verbindet Christus und die Glaubenden so eng miteinander, dass ersterer sich in das Herz des Glaubenden geradezu einbildet und gemalt wird. Ebenso kann er davon reden, dass Christus in seinem Sterben die Glaubenden „abgebildet“ hat. 437 Beide werden „eins“ durch den Glauben. „Durch den Glauben an Christus wird die Gerechtigkeit Christi unsere Ge‐ rechtigkeit. Alles, was ihm gehört, ja er selbst, wird unser Eigentum.“ 438 Die in dem fröhlichen Wechsel liegende Aneignungsstruktur hat Luther im Be‐ griff der fides apprehensiva Christi (aneignender Glaube) festgehalten. 439 Christus muss vom Menschen angeeignet werden, damit es zum wahren Glauben kommt, aber die Notwendigkeit dieser existentiellen Aneignung liegt nicht im aneignenden Menschen selbst, sondern in Christus, und sie ist kein Akt, den der Mensch selbst hervorbringen kann. 440 Für diese gegenläu‐ fige Aneignungsstruktur steht der Heilige Geist. 441 Außerhalb der fides ap‐ prehensiva ist Christus lediglich Gegenstand eines bloßen und äußerlichen Fürwahrhaltens (fides historica). 442 Das auf Kreuz und Auferstehung Jesu Christi fokussierte Christusbild des Reformators beschreibt das Zustandekommen des eigenen Glaubens im Geschehen der Buße. Dass zum Glauben sowohl die Differenz von Gott und Mensch als auch ihre Überwindung gehört, findet seine religiöse Darstellung 4.1 Jesus Christus, mein Herr 133 <?page no="134"?> 443 Vgl. R. Schwarz, Gott ist Mensch. Zur Lehre von der Person Christi bei den Ockhamisten und bei Luther, in: ZThK 63 (1966), 289-351; Vorländer, Deus incarnatus. Die Zwei‐ naturenchristologie Luthers bis 1521; J.A. Steiger, Die communicatio idiomatum als Achse und Motor der Theologie Luthers. Der ‚fröhliche Wechsel‘ als hermeneutischer Schlüssel zu Abendmahlslehre, Anthropologie, Seelsorge, Naturtheologie, Rhetorik und Humor, in: NZSTh 38 (1996), 1-28; N. Slenczka, Christus, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 381-392; O. Bayer/ B. Gleede (Hrsg.), Creator est creatura. Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation, Berlin/ New York 2007. christologi‐ sches Dogma in Tod und Auferstehung Jesu Christi. Sein zusammenfassender Ausdruck ist das Bekenntnis: Ich glaube, dass Jesus Christus mein Herr ist. 4.2 Communicatio idiomatum - Die neue Sprache des Glaubens Luthers Umgang mit dem überlieferten christologischen Dogma ist an sei‐ nem Grundgedanken der Konformität zwischen Christus und den Gläubigen orientiert und erhält durch die theologia crucis sein spezifisches Profil. In den Fokus des Interesses rückt die Lehre von der communicatio idiomatum, der wechselseitigen Anteilhabe der Eigenschaften der göttlichen und mensch‐ lichen Natur. Mit ihr verbindet sich ein Insistieren auf eine neue Sprache des Glaubens. 443 Worin der Kern von Luthers Neubestimmung der Personchris‐ tologie, also der Frage nach der Einheit von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi besteht, wird deutlich, wenn man seine Fassung mit der über‐ kommenen Zwei-Naturen-Lehre vergleicht. Auf dem Konzil von Chalcedon im Jahre 451 hat die Alte Kirche die dogmatischen Bestimmungen der Chris‐ tologie für die Folgezeit verbindlich festgelegt. Die Person des Gottmen‐ schen müsse, so das christologische Dogma, als eine Einheit von göttlicher und menschlicher Natur verstanden werden. In den einschlägigen Passagen des Chalcedonense heißt es: „[E]inen und denselben Christus, Sohn, Herrn, Einziggeborenen, in zwei Naturen, unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, unzerteilt erkannt, wobei keinesfalls die Verschiedenheit der Naturen wegen der Einigung aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder Natur erhalten bleibt und zu Einer Person und Einer Hypostase vereinigt wird, nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt, sondern einen und denselben einziggeborenen Sohn, Gott-Logos, Herrn Jesus Christus, 134 4 Das Christusbild Luthers <?page no="135"?> 444 DH 302; zitiert nach H. Karpp (Hrsg.), Textbuch zur altkirchlichen Christologie. Theologia und Oikonomia, Neukirchen-Vluyn 1972, 138-140. 445 Vgl. C. Danz, Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 67-79. 446 BSLK, 415. Luther und das christo‐ logische Dogma wie von alters her die Propheten von ihm und Jesus Christus selber uns gelehrt haben und das Bekenntnis der Väter uns überliefert hat.“ 444 Der Konzilsbestimmung zufolge ist Christus sowohl wahrer Gott als auch wahrer Mensch sowie eine Person in zwei voneinander unterschiedenen Naturen: der göttlichen Natur, die unveränderlich, leidensunfähig, unend‐ lich etc., und der menschlichen Natur, die veränderlich, leidensfähig, endlich etc. ist. Als wahrer Gott ist Jesus Christus seiner Gottheit nach wesenseins (homoousios) mit dem Vater; zugleich ist er wahrer Mensch und seiner Menschheit nach wesenseins (homoousios) mit den Menschen. Von den zwei in ihm zur Einheit einer Person vereinigten Naturen soll gelten: Sie sind in ihm im Hinblick auf ihre Unterschiedenheit unvermischt und unverändert, und in Hinsicht auf die Person sind sie ungeteilt und ungetrennt. Die dogmatischen Bestimmungen des Konzils von Chalcedon sind indes nicht ohne Probleme. Zunächst stellen die Formulierungen einen Kompromiss zwischen den im Streit liegenden christologischen Positionen der alexand‐ rinischen und antiochenischen Schulen dar. 445 Sodann bestimmte das Konzil die Einheit der beiden Naturen in Jesus Christus lediglich negativ. Unklar blieb, wie diese Einheit selbst zu denken sei. Im metaphysischen Rahmen der Zwei-Naturen-Lehre konnte dieses Problem nicht befriedigend gelöst werden. Es kommt einer Quadratur des Kreises gleich. Da beide Naturen miteinander unvereinbar sind und sich ausschließen, führten die Versuche, sie gedanklich zur Einheit einer Person zusammenzufügen, immer wieder zur Eliminierung einer der beiden Naturen oder der Einheit der Person. Mit seiner Christusanschauung hat Luther an die christologische Ter‐ minologie und die altkirchliche Zwei-Naturen-Lehre angeknüpft. Sowohl beim trinitarischen als auch beim christologischen Bekenntnis war er von der Schriftgemäßheit dieser Dogmen überzeugt. In den Schmalkaldischen Artikeln von 1536/ 38 schreibt er, über die dogmatischen Bestimmungen der Trinität sowie der Christologie sei mit den Altgläubigen weder „Zank noch Streit“. 446 Ganz in diesem Sinne hat der Reformator 1528 mit der Lehrtradition in seinem Bekenntnis seinen Glauben an den Sohn Gottes zusammengefasst. 4.2 Communicatio idiomatum - Die neue Sprache des Glaubens 135 <?page no="136"?> 447 StA 4, 246 f. = WA 26, 500f. 448 Vgl. WA 26, 261-509. „Zum andern gleub ich / vnd weis / das die schrift vns leret / Das die mittel person ynn Gott / nemlich der Son / allein ist warhafftiger mensch worden / von dem heiligen geist on mans zuthun empfangen / vnd von der reynen heiligen iungfraw Maria / als von rechter natu(e)rlichen mutter / geborn / wie das alles S(ankt) Lu‐ cas klerlich beschreibt vnd die Prophete(n) verku(e)ndigt haben. Also / das nicht der Vater oder heiliger geist sey mensch worden / wie etliche ketzer geleret. Auch das Gott der son / nicht allein den leib / on seele ‹wie etliche ketzer geleret› son‐ dern auch die seele / das ist / eine gantze vo(e)llige menschheit angenomen / vnd rechter samen odder kind Abraham vnd Dauid verheissen vnd natu(e)rlicher son Marie geborn sey / ynn aller weise vnd gestalt / ein rechter mensch / wie ich selbs byn vnd alle andere / on das er on sunde / allein von der Iungfrawen durch den heiligen geist komen ist / Vnd das solcher mensch sey warhafftig Gott / als eine ewige vnzurtrenliche person aus Gott vnd mensch worden / also das Maria die heilige iungfraw sey eine rechte warhafftige mutter / nicht allein des menschen Christi / wie die Nestorianer leren / Sondern des sons Gotts / wie Lucas spricht / Das ynn dir geborn wird / soll Gotts son heissen / Das ist mein vnd aller herr / Ihesus Christus / Gottes vnd Marien einiger / rechter natu(e)rlicher son / warhafftiger Gott vnd mensch.“ 447 Wie gestaltet sich nun Luthers Anknüpfung an die christologischen Formeln der Alten Kirche vor dem Hintergrund seines Christusbildes? Er hat mit der Lehrtradition fraglos in der Person Christi eine Einheit von göttlicher und menschlicher Natur angenommen und ihre geschichtliche Wirklichkeit vorausgesetzt. Allerdings hat er dadurch neue Akzente gesetzt, dass die So‐ teriologie den übergeordneten Rahmen seiner Christologie bildet. In seiner Auseinandersetzung mit Ulrich Zwinglis Abendmahlsverständnis, welche der Wittenberger 1528 in der Schrift Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis 448 geführt hat und die für sein Verständnis der Christologie grundlegend ist, kommt er auf die beiden Naturen in Christus zu sprechen. „Ob nu hie die alte wettermecherynn fraw vernunfft / der Alleosis grosmut‐ ter / sagen wu(e)rde / Ia die Gottheit kann nicht leiden noch sterben / Soltu antworten / Das ist war / Aber dennoch weil Gottheit vnd menschheit ynn Christo eine person ist / so gibt die schrifft / vmb solcher personlicher einickeit willen / auch der Gottheit / alles was der menscheit widerferet / vnd widder‐ umb / Vnd ist auch also ynn der warheit / Denn das mustu ia sagen / Die person 136 4 Das Christusbild Luthers <?page no="137"?> 449 StA 4, 82 f. = WA 26, 321. 450 Lat.-dt. StA 2, 463 = WA 39 (2), 3. Vgl. G. Ebeling, Lutherstudien, Bd. 2/ 3, 158; S. Steiff, „Novis linguis loqui“. Martin Luthers Disputation über Joh 1,14 „verbum caro factum est“ aus dem Jahre 1539, Göttingen 1993. 451 Lat.-dt. StA 2, 465 = WA 39 (2), 5. 452 Lat.-dt. StA 2, 467 = WA 39 (2), 5. Gottheit und Menschheit in Christus Verbum caro fac‐ tum est neue Spra‐ che des Glaubens [zeige Christum] leidet / stirbet / Nu ist die person warhafftiger Gott / drumb ists recht gered / Gottes son leidet / Denn ob wol das eine stu(e)ck [das ich so rede] als die Gottheit / nicht leidet / so leidet dennoch die person / welche Gott ist / am andern stu(e)cke / als an der menscheit“. 449 Gottheit und Menschheit bilden in Christus eine Person. Nun gehören die Merkmale der Unveränderlichkeit sowie die Leidensunfähigkeit zur göttlichen Natur. Folglich kann, wie Luther hervorhebt, die Gottheit weder leiden noch sterben. Das sei auch der Vernunft einsichtig und werde von ihr bekräftigt. Doch im Unterschied zur Vernunft spricht die Schrift von der Passion, dem Leiden und dem Tod Christi. Wenn aber Christus eine Person in zwei Naturen ist, wie kann man dann von ihm sagen, er leidet? Wie ist der Widerspruch zwischen der Leidensunfähigkeit der göttlichen Natur und dem von der Schrift behaupteten Leiden des Sohnes Gottes aufzulösen? In der Disputation Verbum caro factum est aus dem Jahre 1539 hat Luther strikt zwischen dem Geltungsbereich der Philosophie und dem der Theologie unterschieden. Was in der „Theologie wahr“ ist - die von Joh 1,14 behauptete Fleischwerdung des Wortes - sei „in der Philosophie […] schlicht unmöglich und abwegig“. 450 Folglich muss man „bei den Artikeln des Glaubens zu einer anderen Dialektik und einer anderen Philosophie übergehen, die Wort Gottes und Glaube genannt wird“. 451 Luther löst die christologischen Aussagen von der logisch-metaphysischen Ebene ab und weist sie dem Glauben und seiner Artikulation zu. Darauf zielt seine Behauptung, im „Reich des Glaubens“ außerhalb jeder Sphäre von Dialektik und Philosophie sei „in neuen Sprachen zu reden“. „Bei den Artikeln des Glaubens ist die Empfindung [affectus fidei] zu betreiben, nicht der Verstand der Philosophie. Dann wird man wahrhaft erkennen, was es heißt: Das Wort ward Fleisch.“ 452 Luther ist weniger an einer metaphysischen Konstruktion des Gottmenschen interessiert, wie die theologische Lehrtradition seit der Alten Kirche, sondern an der Anschauung des biblischen Christus. Darin kommt 4.2 Communicatio idiomatum - Die neue Sprache des Glaubens 137 <?page no="138"?> 453 Lat.-dt. StA 2, 477 = WA 39 (2), 96; vgl. WA 40 (3), 686; WA 41, 522 f.; WA 37, 9. 454 Vgl. WA 10 (1, 1. Hälfte), 8-18. 455 WA 10 (1, 1. Hälfte), 11; vgl. WA 12, 285. 456 Vgl. Slenczka, Christus, 381-392. 457 WA 18, 685. Vgl. Wolff, Luthers Arbeit an christologischen Metaphern, 187, Anm. 63. 458 Vgl. WA 39 (2), 93. 459 Vgl. WA 8, 43-128. Vgl. Vind, Latomus and Luther. Person‐ christologie zur Geltung, dass die Person Christi einen „unaussprechlichen Sachverhalt“ repräsentiert. 453 Folglich sei das Hauptstück im Evangelium, wie der Refor‐ mator in der Schrift Eyn kleyn unterricht, was man ynn den Euangelijs suchen und gewartten soll 454 von 1522 schreibt, „das du Christum […] auffnehmist unnd erkennist […], das, wenn du yhm tzusihest odder ho[e]rist, das er ettwas thutt odder leydet, das du nit tzweyffellst, er selb Christus mit solchem thun und leyden sey deyn, darauff du dich nit weniger mu[e]gist vorlassen, denn alß hettistu es than, ia alß werist du der selbige Christus“. 455 Der methodische Ausgangspunkt von Luthers Christusanschauung ist die Einheit von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi, wie sie in der Bibel dargestellt und von Glaubenden aufgenommen ist. Was bedeutet das für das Verständnis der Personchristologie und die Schwierigkeit, von der göttlichen Natur ein Leiden auszusagen? Der Wit‐ tenberger Theologe unterscheidet zwischen Gott und Mensch, unabhängig von ihrer Vereinigung in Jesus Christus und in ihrer Vereinigung in ihm. 456 Deshalb kann er in der oben zitierten Stelle aus der Abendmahlsschrift von der Leidensunfähigkeit der Gottheit reden. Aber das gilt eben nur in abstracto, und bei solchen Aussagen ist das sokratische Diktum angebracht: „quae supra nos, nihil ad nos“. 457 Gleiches ist aber auch von der menschlichen Natur in abstracto zu sagen. Ihr kommen keine göttlichen Prädikate als solcher zu. 458 In seiner Schrift Rationis Latomianae confutatio 459 von 1521 hat Luther diesen Unterschied von abstrakt und konkret zusammengefasst. „Ubi cautissime observandum, ut utran‐ que naturam de tota persona enunciet, cum omnibus suis propriis, et tamen caveat, ne quod simplicitet deo, aut simpliciter homini convenit, et tribuat. Aliud enim est, de deo incarnato, vel „Wobei sehr sorgfältig zu beachten ist, dass er beide Naturen von der ganzen Person aussagt mit all ihren Eigenschaf‐ ten und sich gleichwohl davor hütet, ihm beizulegen, was Gott schlechthin oder dem Menschen schlechthin zu‐ 138 4 Das Christusbild Luthers <?page no="139"?> 460 Lat.-dt. StA 2, 394 = WA 8, 126. 461 Lat.-dt. StA 2, 395. 462 Vgl. WA 39 (2), 93 (Thesen 8 und 9). 463 Lat.-dt. StA 2, 473 = WA 39 (2), 94. 464 Lat.-dt. StA 2, 472 = WA 39 (2), 94. 465 Lat.-dt. StA 2, 473. humanitas und deitas communi‐ catio idio‐ matum homine deificato loqui, et aliud de deo vel homine simpliciter.“ 460 kommt. Denn das eine ist es, vom fleischgewordenen Gott oder gottge‐ wordenen Menschen zu reden, und ein anderes, von Gott oder dem Menschen schlechthin.“ 461 Luther unterscheidet in seiner Christologie zwischen dem Abstraktbegriff Natur beziehungsweise Menschheit (humanitas) und der Einheit von Gott und konkretem Menschen (homo) in Jesus Christus. 462 Christus ist wahrer Mensch und wahrer Gott. In ihm nehmen sowohl der Begriff ‚Gott‘ als auch der Begriff ‚Mensch‘ eine „neue Bedeutung“ an. 463 Es ist deshalb anders von der humanitas und der deitas ‚außerhalb‘ der Person Christi als ‚in‘ ihr zu sprechen. Von der Person Christi, in der göttliche und menschliche Natur vereinigt sind, ist folglich in neuen Sprachen zu sprechen - loqui novis linguis. „20. Certum est tamen, omnia voca‐ bula in Christo novam significationem accipere in eadem re significata. […] 22. Novae linguae usu significat rem cum divinitate inseparabiliter in ean‐ dem personam ineffabilibus modis co‐ niunctam. 23. Ita necesse est, vocabula: homo, humanitas, passus etc. et omnia de Christo dicta nova esse vocabula. 24. Non quod novam seu aliam rem, sed nove e aliter significet, nisi id quoque novam rem dicere velis.“ 464 „20. Jedoch ist sicher, dass alle Wörter bei Christus eine neue Bedeutung an‐ nehmen, wenn dieselbe Sache bezeich‐ net wird. […] 22. Dem Gebrauch der neuen Sprache nach bezeichnet das Wort [sc. Geschöpf] eine Sache, die mit der Gottheit untrennbar in dersel‐ ben Person in unaussprechlicher Weise verbunden ist. 23. So folgt notwendiger‐ weise, dass die Wörter Mensch, Mensch‐ heit, gelitten usw. und alles über Chris‐ tus Gesagte neue Wörter sind. 24. Nicht, dass sie eine neue oder eine andere Sa‐ che bezeichneten, sondern sie bezeich‐ nen sie auf eine neue und andere Weise, es sei denn, dass man auch dies eine neue Sprache nennen wollte.“ 465 Luther reformuliert die überlieferte Personchristologie im Horizont der Soteriologie. Ihm geht es bei der Person Jesu Christi nicht um die metaphy‐ 4.2 Communicatio idiomatum - Die neue Sprache des Glaubens 139 <?page no="140"?> 466 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd. 2, 99. 101 = WA 56, 371 f. Vgl. J. Ringleben, Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her, Tübingen 2010; T. Wabel, Sprache als Grenze in Luthers theologischer Hermeneutik und Wittgensteins Sprachphilosophie, Berlin/ New York 1998, 172-202. 467 Vgl. Vind, „Homo est deus“, 28-34; G. Linde, „[…] naturam […] divinam seu verbum Deum […] passum et mortuum“. Does Luther Have a Notion of Genus Tapeinoticum, in: NZSTh 63 (2023), 241-275; Wolff, Luthers Arbeit an christologischen Metaphern, 179-198; Härle, „Christus factus est peccatum metaphorice“, 302-315; C.-F. Geyer, Zum theologischen Metapherngebrauch, in: NZSTh 39 (1997), 15-36; Korsch, Martin Luther, 61. 468 Lat.-dt. StA 2, 470 = WA 39 (2), 93. 469 Lat.-dt. StA 2, 471. sische Konstruktion einer Einheit der Person in zwei Naturen, sondern um eine „neue Sprache“ des Glaubens. 466 Grundlegend für die Christusanschau‐ ung ist der affectus fidei (Empfindung des Glaubens) und nicht Logik oder Dialektik. Das eigene, neue Selbstverständnis des Glaubens gehört konsti‐ tutiv zum christologischen Artikel hinzu. Die Kommunikation der Unaus‐ sprechlichkeit des verbum caro factum est (das Wort ward Fleisch) führt zu sprachlichen Bildern, die nicht der Subsumptionslogik des Allgemeinen oder Besonderen gehorchen und damit in sprachlichen Formen die Unaussprech‐ lichkeit der Einheit von Gott und Mensch in Christus bewahren. 467 Darin liegt der zentrale Stellenwert der communicatio idiomatum für das Chris‐ tusbild Luthers. Sie führt zu gegenüber der Lehrtradition neuen und unge‐ wohnten Aussagen. „1. Fides catholica haec est, ut unum dominum Christum confiteamur verum Deum et hominem. 2. Ex hac veritate geminae substantiae et unitate personae sequitur illa, que dicitur, communicatio idiomatum. 3. Ut ea, quae sunt hominis, recte de Deo et e contra, quae Dei sunt, de homine dicantur. 4. Vere dicitur: iste homo creavit mundum et Deus iste est passus, mortuus, sepultas etc.“ 468 „1. Der (gemein-)christliche Glaube ist dieser, dass wir den einen Herrn Chris‐ tus als wahren Gott und [wahren] Men‐ schen bekennen. 2. Aus dieser Wahrheit von der zweifachen Substanz und aus der Einheit der Person folgt jene soge‐ nannte wechselseitige Anteilhabe der Eigenschaften, 3. so dass das, was dem Menschen zukommt, mit Recht von Gott, und andererseits das, was Gott zukommt, vom Menschen gesagt wird. 4. Wahrheitsgemäß wird gesagt: Dieser Mensch hat die Welt erschaffen, und: Dieser Gott hat gelitten, ist gestorben und begraben worden, usw.“ 469 Die Zwei-Naturen-Lehre bietet keine metaphysische Beschreibung einer Person. Vielmehr artikuliert sich in ihr der Glaube als Einheit von Gott 140 4 Das Christusbild Luthers <?page no="141"?> 470 Vgl. C. Danz, Systematische Theologie, Tübingen 2 2024, 219-226; Linde, „[…] naturam […] divinam seu verbum Deum […] passum et mortuum“. 471 StA 2, 285 = WA 7, 29. und Mensch. Er provoziert zu einer neuen Sprache und zu ungewohnten sprachlichen Bildern. Deshalb muss von Jesus Christus gesagt werden, dieser Mensch ist Gott, und umgekehrt, Gott ist dieser Mensch. Im Glauben als einem personalen Geschehen in der Geschichte werden sowohl Gott als auch der Mensch neu verstanden. Die spezifisch lutherische Sprach‐ lehre der communicatio idiomatum hält die wechselseitige Übertragung der Eigenschaften der beiden Naturen fest. Vom Menschen Jesus Christus ist sowohl Göttliches als auch Menschliches auszusagen. Auf diese Weise gelangt Luther zu einer positiven Beschreibung der Einheit der Person Jesu Christi, also zu dem, was dem Dogma von Chalcedon nicht gelungen ist. Wenn von einer wechselseitigen Anteilhabe der Eigenschaften der beiden in Jesus Christus persönlich geeinten Naturen zu reden ist, wie die lutherische Lehre von der communicatio idiomatum behauptet, dann hat die menschliche Natur Anteil an den Merkmalen der göttlichen und umgekehrt diese an jenen. Jesus Christus kann folglich auch seiner Menschheit nach nicht auf einen bestimmten Ort begrenzt sein, so dass er überall auch seiner menschlichen Natur nach präsent sein kann. Aus Luthers Neufassung der communicatio idiomatum folgt nicht nur eine positive Beschreibung der Einheit der beiden Naturen in Christus, sie bildet auch die Grundlage seiner Abendmahlsauffassung (vgl. unten 6.3.1). Von der altlutherischen Theologie wurde diese Besonderheit der lutherischen Christologie in der Lehre von dem genus majestaticum (Genus der Majestät) ausgeführt. 470 Als theoretische Gegenstandsbeschreibungen wären jedoch die Luthers Christusbild und den Christusglauben zum Ausdruck bringenden sprach‐ lichen Bilder missverstanden. Wer Jesus Christus in Wahrheit ist, lässt sich nur verstehen, wenn sich der Mensch selbst neu versteht. Deshalb muss Christus so gepredigt werden, „d(aß) mir vn(d) dir / der glaub drauß erwachß vn(d) erhalten werd“. 471 Luthers Christusbild hat seine soteriologi‐ sche Zuspitzung in der Verknüpfung des Verständnisses der Person Christi mit dem Sich-Verstehen der Glaubenden. 4.2 Communicatio idiomatum - Die neue Sprache des Glaubens 141 <?page no="143"?> 472 Vgl. WA 39 (1), 175-177. 473 Lat.-dt. StA 1, 668 = WA 39 (1), 176. 474 Lat.-dt. StA 1, 669. Vgl. G. Ebeling, Disputatio de homine. Lutherstudien, Bd. 2, Tübingen 1982. 475 Vgl. WA 18, 636. 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk Luthers Verständnis des Menschen als gerechtfertigter Sünder resultiert aus seiner reformatorischen Entdeckung. In der Disputatio de homine 472 von 1536 hat er seine Bestimmung des Menschen prägnant zusammengefasst. In der These 32 heißt es: „Paulus Rom. 3. Arbitramur hominem iustificari fide absque operibus, breviter hominis definitionem colligit, dicens, Hominem iustificari fide.“ 473 „Paulus fasst in Röm 3,28: ‚Wir halten dafür, dass der Mensch gerechtfertigt wird durch den Glauben ohne Werke‘ kurz die Definition des Menschen zu‐ sammen, indem er sagt: Der Mensch wird durch den Glauben gerechtfer‐ tigt.“ 474 Der Mensch wird durch den Glauben gerechtfertigt, so die theologische Definition des Menschen nach Luther, um deren Voraussetzungen und Im‐ plikationen es in dem vorliegenden Argumentationsgang gehen soll. In der Anthropologie fokussiert sich sein Verständnis des Glaubens auf die Relation von Person und Werk im Gottesverhältnis. Mit der für Luthers Theologie insgesamt ebenso signifikanten wie grundlegenden Unterscheidung von Gesetz und Evangelium werden zunächst die kategorialen Grundlagen der Anthropologie im Wort Gottes beschrieben. Auf sie baut seine theologische Definition des Menschen auf, welche im zweiten Unterabschnitt erörtert werden muss. Der Mensch wird nicht durch seine Werke gerecht und heil, sondern allein durch den Glauben. Welche Rolle spielt die menschliche Freiheit in der Theologie des Wittenberger Reformators? Seine Antwort scheint eindeutig: Freiheit, so sagt er es in De servo arbitrio, sei ein göttlicher Name und keinesfalls ein menschlicher. 475 Der Behauptung eines gebunde‐ nen Willens stellt Luther allerdings die Freiheit eines Christenmenschen gegenüber. Wie sich beides zueinander verhält, ist im dritten Unterabschnitt <?page no="144"?> 476 WA 7, 502. Vgl. Seeberg, Die Lehre Luthers, 201-214; Ebeling, Luther, 120-156; R. Hermann, Luthers Theologie. Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd. 1, Göttingen 1967, 117-144; Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, 283-294; Barth, Die Theologie Martin Luthers, 230-252. 477 Vgl. G. Ebeling, Das rechte Unterscheiden. Luthers Anleitung zu theologischer Urteils‐ kraft, in: ders., Theologie in den Gegensätzen des Lebens. Wort und Glaube, Bd. 4, Tübingen 1995, 420-459; A. Beutel, Theologie als Unterscheidungslehre, in: ders. (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 450-454. 478 WA 40 (1), 207. zu diskutieren. Das Handeln des Menschen ist für das Zustandekommen des Gottesverhältnisses nicht konstitutiv, aber aus dem Glauben, so Luthers Überzeugung, folgen gleichsam unmittelbar gute Werke: Persona facit opera, non opera personam. Dem Verständnis und der Begründung des Handelns der Christen ist abschließend die Aufmerksamkeit zuzuwenden. 5.1 Gesetz und Evangelium Die grundlegende Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evan‐ gelium für Glaube und Theologie hat Luther unaufhörlich eingeschärft. „Nahezu die gesamte Schrift und die Erkenntnis der ganzen Theologie hängt in der rechten Erkenntnis von Gesetz und Evangelium.“ 476 Das discrimen hat denn auch den Rang einer Fundamentalunterscheidung, und Theologie wird geradezu als Unterscheidungslehre definiert. 477 Mit jener Unterscheidung stehe, wie der Reformator nicht müde wird zu betonen, die Theologie selbst auf dem Spiel, und ihre Beherrschung mache den Theologen aus. „Wer das Evangelium recht von dem Gesetz zu unterscheiden weiß, der danke Gott und darf wissen, dass er ein Theologe ist.“ 478 Theologie, so kann man zusam‐ menfassend sagen, ist die Entfaltung der Rechtfertigungsbotschaft, ihrer Voraussetzungen und Konsequenzen. Das begriffliche Instrumentarium, mit dem der Reformator den rechtfertigenden Glauben expliziert, repräsentiert die antithetische Unterscheidung und Zuordnung von Gesetz und Evange‐ lium. Mit ihr befindet man sich im innersten Gravitationszentrum seiner Theologie. Worum geht es bei der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium? Zunächst nimmt Luther in seine Fundamentalentscheidung seine theologia crucis auf: Gott handelt wundersam an seinen Heiligen, indem er sein eigentliches Werk stets durch sein fremdes Werk hindurch ausführt. Sodann 144 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="145"?> 479 Vgl. Wolff, Luthers Arbeit an christologischen Metaphern, 182-184; Ebeling, Luther, 16. 480 Vgl. Ebeling, Luther, 126-128. 481 Lat.-dt. StA 1, 393 = WA 18, 680. 482 Vgl. Ebeling, Luther, 100-119. 483 WA 55 (1), 4; vgl. WA 10 (1), 2. Theologie als Unter‐ schei‐ dungslehre Geist und Buchstabe geht es um die humane Bezugsbasis von Theologie und Glaube, also um die Dimension der Erfahrung sowie die Verklammerung von Theologie und Anthropologie. Der Gebrauch von antithetischen Unterscheidungen ist für die Theologie Luthers insgesamt signifikant. Wer seine Schriften liest, der begegnet einer Fülle von Differenzierungen: Person und Werk, Reich Christi und Reich der Welt, Geist und Buchstabe usw. Die Pointe aller dieser Unterscheidun‐ gen liegt nun nicht etwa in einer begrifflichen Distinktion, in einer fein säuberlichen Trennung von Aspekten oder gar in einem Dualismus, sondern in einer ‚Dialektik‘, die sich über antithetische Gegensatzpaare aufbaut. 479 So zielt auch das discrimen von lex und evangelium auf eine dialektische Wahrnehmung ihres strittigen Beieinanders. 480 Weder das ‚Gesetz‘ noch das ‚Evangelium‘ lassen sich ein für allemal fixieren oder gar auf den Begriff bringen. Sie müssen in ihrem dialektischen Beieinander stets neu unterschieden werden. Allein deshalb ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium die Kunst, welche zu beherrschen den Theologen ausmacht. Wer hier nicht unterscheidet, der muss „alles mischen, Himmel, Hölle, Leben, Tod, und wird daran leiden, gar nichts von Christus zu wissen“. 481 Gesetz und Evangelium haben bei Luther den Rang von theologischen Kategorien. Eine Vorform ihrer Antithetik findet sich in der ersten Psal‐ menvorlesung. 482 In ihr differenziert er im Anschluss an 2Kor 3,6 - „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“ - allerdings zwischen Buchstabe und Geist. „In der heiligen Schrift ist es das Beste, den Geist von dem Buchstaben zu unterscheiden; denn das macht einen wahrhaft zum Theologen.“ 483 Die von Luther in den Dictata super Psalmos gehandhabte Unterscheidung von Geist und Buchstabe zielt auf das geistliche und innere Verstehen des Bibeltextes. Wer an den Buchstaben hängen bleibt, der bleibt beim Äußeren stehen. Das telos der Schrift ist jedoch die innere Umwandlung des Menschen. In der frühen Differenzierung von Geist und Buchstabe deutet sich die spätere von Gesetz und Evangelium bereits an. Ebenso wie der Buchstabe so tötet auch das Gesetz, weil es im Äußeren verbleibt. Der Geist und das Evangelium hingegen machen lebendig, da sie in das Innere des Menschen dringen und das Herz beziehungsweise das Gewissen 5.1 Gesetz und Evangelium 145 <?page no="146"?> 484 StA 2, 271. 273 = WA 7, 23f. 485 WA 10 (1), 2. Hälfte, 155; vgl. WA 8, 103 f.; WA 18, 680. zweierlei Wort Got‐ tes des Menschen wandeln. Luther belässt es jedoch nicht bei einer einfachen Disjunktion von Innen und Außen. Der auf das Innere zielende Geist nimmt seinen Weg stets über den äußeren Buchstaben. Und auch das Gesetz wird als ein Wort des göttlichen Gerichts erst dort verstanden, wo es geistlich erfasst wird. Allein aus der Perspektive des Evangeliums erscheint es als Gericht und Forderung Gottes an den Menschen. Prägnant hat Luther den Unterschied von Gesetz und Evangelium in dem Freiheitstraktat herausgearbeitet. Über den Glauben, der die Seele allein gerecht macht, schreibt er: „Hie ist fleyßsig zu mercken / vnd yhe mit ernst zubehalten / d(aß) allein der glaub on alle werck frum / frey / vn(d) selig machet […] Vnd ist zu wissen / das die gantze heylige schrifft / wirt yn zweyerley wort geteyllet / wilche seyn. Gebot oder gesetz gottis / vnd vorheyschen oder zusagunge. Die gebott / leren vnd schreyben vns fur / mancherley gutte werck aber damit seyn sie noch nit geschehen. Sie weyßen wol / sie helffen aber nit / leren was man thun soll / geben aber keyn sterck dartzu. Daru(m)b seyn sie nur datzu geordnet / das der mensch drynnen sehe sein vnuormu(e)gen zu dem gutten / vnd lerne an yhm selbs vortzweyffeln. […] Wen nu der mensch auß den gebotten sein vnuormu(e)gen gelernet vn(d) empfunden hatt / das yhm nu angst wirt / wie er dem gebott gnug thue. Seyntemal das gebot muß erfullet seyn / oder er muß vordampt seyn. So ist er recht gedemu(e)tigt vnd zu nicht worden / ynn seynen augen / findet nichts yn yhm damit er mu(e)g frum werden. Dan ßo ku(m)pt das ander wort. Die gottlich vorheyschung vnd zusagung / vnd spricht / wiltu alle gepott erfullen / deyner bo(e)ßen begirde vnd sund loß werden / wie die gebott zwyngen vnd foddern. Sihe da / glaub in Christu(m) / yn wilchem ich dir zusag / alle gnad / gerechti‐ ckeyt / frid vn(d) freyheyt / glaubstu so hastu / glaubstu nit / so hastu nit.“ 484 Das Wort Gottes begegnet in der Schrift als „tzweyerley wortt oder pre‐ digt“: 485 als Forderung und als Zusage. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium meint freilich keine einfache Verteilung von Forderung und Verheißung auf bestimmte Schriftworte, so, als ob das Alte Testament Gesetz und das Neue Testament Verheißung wäre. Vielmehr kann ein und dasselbe Schriftwort sowohl Gesetz als auch Evangelium sein. Es geht bei Luthers Differenzierung um eine tieferliegende Dimension. 146 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="147"?> 486 Lat.-dt. StA 2, 339 = WA 8, 104; vgl. WA 40 (2), 2 f. Vgl. Seils, Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, 107-110. 487 Vgl. WA 8, 106f. 488 Vgl. WA 8, 105f. Gesetz Evange‐ lium In der zitierten Stelle aus dem Freiheitstraktat beschreibt der Reformator die Funktionen der antithetischen Gestalten des göttlichen Wortes. Das Gesetz zeigt dem Menschen zweierlei: zunächst lehrt es ihn, was er tun soll. Darin erschöpft sich indes die Funktion des Gesetzes noch nicht. Indem es sich mit der Forderung, das Gute auch innerlich zu verwirklichen, an den Menschen richtet, macht es ihm sodann bewusst, dass er hinter der Forderung Gottes zurückbleiben muss. Das Gesetz ist also auf der einen Seite die göttliche Forderung des ‚du sollst‘, und auf der anderen, und das ist die spezifische theologische Funktion, welche Luther mit der lex verbindet, zielt es auf die Einsicht des Menschen in sein eigenes Unvermögen, der Forderung nachzukommen. Durch das Gesetz wird die dem Menschen selbst verborgene Sünde offenbar, das heißt, durch die göttliche Forderung, das Gute aus reinem Herzen zu tun, kommt es zur Erkenntnis des Menschen als Sünder. Aber auch mit der durch das Gesetz bewirkten Sündenerkenntnis ist seine Funktion für Luther noch nicht erschöpft. Es zeigt dem sich seiner eigenen sündhaften Selbstbezogenheit innegewordenen Menschen darüber hinaus auch den Zorn und das Gericht Gottes, unter dem er steht. „Ein zweifaches Übel also offenbart das Gesetz, ein inneres und ein äußeres. Das eine, das wir uns selbst zugefügt haben: die Sünde oder Verderbnis der Natur. Das andere, das Gott zufügt: Zorn, Tod und Fluch.“ 486 Mit seinem Gesetzesbegriff verklammert der Reformator das Wirken Gottes mit der Selbsterkenntnis im Gewissen des Menschen als ein unter dem göttlichen Zorn stehender Sünder. 487 Insofern repräsentiert das Gesetz das fremde Werk Gottes. Im Unterschied zum Gesetz bezeichnet das Evangelium als Wort Gottes eine Zusage oder eine Verheißung. 488 Es bezieht sich, wie Luther in der oben zitierten Passage aus dem Freiheitstraktat schreibt, auf den, der unter der Forderung des Gesetzes verzweifelt, der also erkannt hat, dass er das Gesetz innerlich erfüllen soll, dazu jedoch nicht in der Lage ist. Denjenigen, denen ihr Sündersein sowie der Zorn Gottes durchsichtig geworden ist, spricht das Evangelium die Verheißung der Sündenvergebung durch Jesus Christus zu, die er glauben soll. „Alßo geben die zusagung gottis / was die gepott erfoddern / vnd volnbringen / was die gepott heyssen / auff das es 5.1 Gesetz und Evangelium 147 <?page no="148"?> 489 StA 2, 273 = WA 7, 24. 490 Lat.-dt. StA 2, 343 = WA 8, 105f. 491 Lat.-dt. StA 2, 345 = WA 8, 106. 492 Lat.-dt. StA 2, 343 = WA 8, 106. lex natura‐ lis allis gottis eygen sey. Gepot vn(d) erfullung / er heysset allein / er erfullet auch alleyn.“ 489 Das Evangelium zielt auf den Glauben des Menschen. Auch am Evangelium unterscheidet Luther zwei Aspekte, um das Handeln Gottes mit dem Gewissen zu verbinden. Es predigt, wie er im Antilatomus von 1521 ausführt, zweierlei: „die Gerechtigkeit und Gnade Gottes. Durch die Ge‐ rechtigkeit heilt es die Verderbnis der Natur - Gerechtigkeit aber, die Gottes Gabe ist, nämlich der Christusglaube“. 490 Durch das Evangelium empfängt der Mensch „die Gabe für die Sünde“ und „die Gnade für den Zorn“. 491 Das Evangelium, das eigentliche Werk Gottes, bezieht sich auf das Gesetz, das opus alienum Gottes, indem es die Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder im Gewissen bestätigt und zugleich dem unter dem Zorn Gottes stehenden erschrockenen und verzweifelten Gewissen widerspricht sowie an seine Stelle die Gnade Gottes setzt. In diesem Übergang wirkt Gott den „Frieden des Herzens“ und macht das „Gewissen fröhlich, sicher und unerschro‐ cken“. 492 Gesetz fremdes Werk Gottes Sündenerkenntnis / Zorn Gottes verzweifeltes Gewissen Wort Gottes Evangelium eigentliches Werk Gottes Gabe für die Sünde / Gabe für den Zorn fröhliches Gewissen Bei dem Gesetz denkt Luther an die Forderung Gottes, wie sie etwa in den zehn Geboten des Dekalogs vorliegt. Allerdings beschränkt sich das, was er Gesetz nennt, nicht auf den Dekalog, sondern es bezieht die gesamte Lebens‐ wirklichkeit des Menschen ein. Der Mensch steht immer unter dem Gesetz und seiner Forderung, deren Ursprung Gott ist. Es ist, wovon der Reformator ausgeht, jedem Menschen bekannt, weil es ihm ins Herz geschrieben ist. Er 148 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="149"?> 493 WA 18, 81. 494 Lat.-dt. StA 2, 72 = WA 2, 146f. 495 Lat.-dt. StA 2, 73. Glaube als Unterschei‐ dung von Gesetz und Evange‐ lium greift hier auf den Aspekt des mittelalterlichen Gewissensbegriffs zurück, den die Scholastiker syntheresis nannten (vgl. oben 2.3.2.3), sowie die von der Stoa ausgearbeitete Vorstellung einer lex naturalis (natürliches Gesetz), dessen Urheber Gott ist. Der Dekalog Moses wird von Luther als eine ge‐ schichtliche Positivierung der lex naturalis verstanden. Deshalb ist er, der „Juden Sachssen spiegel“, 493 auch für die Christen verbindlich. Das Evangelium ist nur dort als solches erkannt, wo es vom Gesetz unterschieden wird. Eine Unterscheidung ist notwendig, weil beide im Lebensvollzug ununterschieden ineinander liegen, so dass das Evangelium selbst als Forderung (miss-)verstanden wird. Im Interesse an der Reinheit des Evangeliums als Zusage ist es vom Gesetz zu unterscheiden. Andernfalls werde, so Luther, auch die befreiende Botschaft des Evangeliums als eine Forderung verstanden, die der Mensch zu realisieren hat. Was unterscheidet das Wort Gottes als Evangelium von dem Gesetz? Mit dem Evangelium und dem von ihm hervorgebrachten Glauben ist auf der Seite des Menschen die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium verbunden. Das Wissen um den Unterschied von Forderung und Gabe resultiert allein aus der Perspektive des Evangeliums. Es lässt sich auf Seiten des Menschen so näher beschreiben, dass die Glaubenden zwischen der Kon‐ stitution ihrer Gerechtigkeit durch Gott und ihrer eigentätigen Realisierung unterscheiden. Luther hat die mit dem Glauben verbundene Differenzierung von Gesetz und Evangelium in dem Sermon über die zweifache Gerechtigkeit von 1519 durch die Unterscheidung von fremder und eigener Gerechtigkeit ausgedrückt. „Secunda iusticia est nostra et propria, non quod nos soli operemur eam, Sed quod cooperemur illi primae et alie‐ nae. […] Haec iusticia est opus prioris iusticiae et fructus, atque sequela eius‐ dem“. 494 „Die zweite Art der Gerechtigkeit ist die unsere und uns eigene. Zwar kön‐ nen wir sie nicht allein zuwege brin‐ gen, jedoch insofern mittun, wie wir mit jener ersten, der fremden Gerech‐ tigkeit zusammenwirken. […] Diese Ge‐ rechtigkeit ist das Werk der ersten Ge‐ rechtigkeit und deren Frucht, ja ihre Konsequenz“. 495 5.1 Gesetz und Evangelium 149 <?page no="150"?> 496 Vgl. G. Ebeling, Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, in: ders., Wort und Glaube, Tübingen 3 1967, 50-68. 497 Vgl. WA 10 (1, 1. Hälfte), 449-463, bes. 456. 457; WA 11, 31. 498 Vgl. Ebeling, Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, 66. duplex usus legis usus legis civilis Der mit dem Wort Gottes als Evangelium verbundene Glaube ist das Wissen um zwei Weisen der Gerechtigkeit: einer fremden und einer eigenen. Während die erste sich auf die Konstitution der menschlichen Person bezieht, zielt die zweite, die eigene Gerechtigkeit, auf die Realisierung der Person in ihren Handlungen. Beide Dimensionen der Gerechtigkeit liegen auf unterschiedlichen Ebenen: Einmal ist die Konstitution der Person im Blick, ihr ordnet Luther den Glauben zu, und das andere Mal die Realisierung der nun konstituierten Person. Deren Werke richten sich aber nicht mehr auf den Aufbau der Person, sondern auf die Weltgestaltung, und haben folglich keine Heilsbedeutung mehr. Der Glaube oder das Evangelium realisiert sich auf Seiten des Menschen durch das Vornehmen der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Vom Evangelium aus und damit im Lichte des discrimen von lex und evangelium kommt es nun aber auch im Gesetz zu einer Unterscheidung. 496 Luther kennt seit 1522 einen doppelten Gebrauch des Gesetzes, einen duplex usus legis. 497 Die Unterscheidung zwischen einem bürgerlichen und einem theologischen Gebrauch des Gesetzes, einem usus legis civilis oder auch politicus und einem usus legis theologicus, ist eine solche, die aus der von Gesetz und Evangelium erst resultiert. 498 Der doppelte Gebrauch des Gesetzes - duplex usus legis ● usus legis civilis: bürgerlicher Gebrauch des Gesetzes = äußere Gerechtigkeit ● usus legis theologicus: theologischer Gebrauch des Gesetzes = Sün‐ denerkenntnis Der usus legis civilis, der bürgerliche Gebrauch des Gesetzes, bezieht sich auf die politische Ordnung im Staat. Für ihre Einhaltung und Durchsetzung ist die Obrigkeit zuständig. Ihr obliegt die Schwertgewalt, und hierzu ist sie, wie Luther mit Paulus (Röm 13) betont, von Gott eingesetzt. Der Reformator ist der Überzeugung, dass das Gesetz in diesem Sinne, ebenso wie die Ordnungen der Welt, oekonomia (Ehe, Familie, Haushalt) und politia (Staat, 150 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="151"?> 499 WA 39 (1), 459. 441. 500 Vgl. Ebeling, Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, 50-68; W. Elert, Eine theologische Fälschung zur Lehre vom tertius usus legis, in: Zeitschr. f. Religions- und Geistesgeschichte 1 (1948), 168-170. theologi‐ scher Ge‐ brauch des Gesetzes Fürstentum, Kaiserreich), die er durchgehend vormodern patriarchalisch versteht, letztlich auf Gott zurückzuführen sind und jener somit auch in letzter Instanz der Ursprung des Gesetzes in seinem politischen oder bür‐ gerlichen Gebrauch ist. Allerdings zielt das Gesetz in seinem bürgerlichen Gebrauch lediglich auf die äußere Ordnung im Staat. Die Gerechtigkeit, welche Luther mit dem usus politicus legis verbindet, ist eine äußere Ge‐ rechtigkeit. Es geht bei der Befolgung staatlicher Gesetze, mit Immanuel Kant (1724-1804) gesprochen, um die bloße Legalität der Handlungen und nicht um die innere Gesinnung der Handelnden. Die äußere Befolgung der Gesetze ist für das menschliche Zusammenleben unentbehrlich, sie führt jedoch nicht dazu, dass der Mensch vor Gott gerecht wird. Insofern ist die „politische Gerechtigkeit […] gut und lobenswert, obwohl sie vor Gott nicht bestehen kann“. Sie hat als „weltliche Gerechtigkeit […] ihre eigene Ehre und ihren eigenen Lohn in diesem Leben unter den Menschen, aber nicht bei Gott“. 499 Das Gesetz in seinem bürgerlichen beziehungsweise politischen Ge‐ brauch dient der Aufrechterhaltung der Ordnung im Staat, und es führt coram mundo (vor der Welt) zur iustitia civilis (bürgerliche Gerechtigkeit). Der oben bereits beschriebene theologische Gebrauch des Gesetzes, der usus theologicus, unterscheidet sich von dem bürgerlichen. In ihm ist das Gesetz allein dazu da, den Menschen zur Erkenntnis des eigenen Sünderseins zu führen. Hier hat das Gesetz eine überführende Funktion. Es bezieht sich auf das Innere des Menschen und zeigt ihm sein Zurückbleiben hinter der Forderung des Gesetzes. Im Gewissen klagt das Gesetz den Menschen an, erschreckt ihn und führt zur Einsicht, dass er schuldhaft nicht der ist, der er vor Gott sein soll. Durch das Gesetz in seiner theologischen Funktion kommt es zur Erkenntnis des totalen Sünderseins des Menschen vor Gott. Einen dritten Gebrauch des Gesetzes, einen tertius usus legis, für die Glau‐ benden kennt der Wittenberger Reformator im Unterschied zu Melanchthon und Johannes Calvin (1509-1564) nicht. 500 Das Evangelium ist das Ende und die Befreiung vom Gesetz, aber keine neue lex. 5.1 Gesetz und Evangelium 151 <?page no="152"?> 501 Vgl. B. Hamm, Gerechtfertigt allein aus Glauben - das Profil der reformatorischen Rechtfertigungslehre, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorien‐ tierung, Tübingen 2010, 251-288; ders., Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre, in: ZThK 83 (1986), 1-38. 502 Vgl. Holl, Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit, 114 f.; R. Hermann, Gottes Gerechtigkeit und unsere Rechtfertigung, in: ders., Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums. Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd. 2, Berlin 1981, 43-54; Korsch, Glaube und Rechtfertigung, 372-381; Holm, Gabe und Geben bei Luther; Barth, Die Theologie Martin Luthers, 253-277 503 Lat.-dt. StA 1, 61 = WA 1, 365. 504 BSLK, 415 f.; vgl. WA 39 (1), 205. 5.2 Die Rechtfertigung als Definition des Menschen Die Rechtfertigung des Menschen durch Gott steht im Zentrum der Theo‐ logie des Reformators. Ihre Grundzüge hat er sich in seiner Auseinander‐ setzung mit dem überlieferten Verständnis der iustitia Dei zwischen 1513 und 1520 erarbeitet (vgl. oben 2.3.3). 501 Rechtfertigung (iustificatio) ist der Akt Gottes, durch und in dem er den Menschen anerkennt und mit ihm in Gemeinschaft tritt. 502 Sehr eindrücklich hatte Luther den Gehalt seines Ver‐ ständnisses der Rechtfertigung bereits 1518 in der Heidelberger Disputation dargelegt: „Die Liebe Gottes findet das für sie liebenswerte nicht vor, sondern erschafft es.“ 503 In der Rechtfertigungslehre des Reformators geht es um eine Neubestimmung des Menschen und darin um die Frage, wie grundlegende, lebenstragende Gewissheit für den Menschen zustande kommt: durch Gott oder den Menschen? Es ist dieser schlechterdings fundamentalen Stellung des Rechtfertigungsgedankens für seine Theologie geschuldet, dass Luther in ihr nicht nur bündig die Definition des Menschen zusammengefasst sieht, sondern auch den Artikel, von dem man in der Auseinandersetzung mit anderen Lehren, insbesondere denen der Altgläubigen, also der römisch-ka‐ tholischen Kirche, um kein Jota weichen dürfe. „Von diesem Artikel kann man nichts weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erde oder was nicht bleiben will; denn es ‚ist kein ander Name, dadurch wir konnen selig werden‘, spricht S. Petrus Act. 4. […] Und auf diesem Artikel stehet alles, das wir wider den Bapst, Teufel und Welt lehren und leben. Darum mussen wir des gar gewiß sein und nicht zweifeln. Sonst ist’s alles verlorn, und behält Bapst und Teufel und alles wider uns den Sieg und Recht.“ 504 Der Artikel der iustificatio richtet sich gegen ein Verständnis der Religion, in der das Gottesverhältnis vom Menschen und seinen Handlungen abhängig 152 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="153"?> 505 Lat.-dt. StA 2, 487 = WA 39 (2), 237. 506 Lat.-dt. StA 2, 403 = WA 39 (1), 45. 507 Vgl. WA 1, 357; WA 7, 33. 508 Lat.-dt. StA 2, 402 = WA 39 (1), 45. Aufbauele‐ mente des Rechtferti‐ gungsglau‐ bens gemacht wird. Erst vor diesem Hintergrund gewinnt er sein spezifisches Profil. „Dass wir allein durch den Glauben gerechtfertigt werden, heißt, dass alle Gerechtigkeit des Gesetzes und der Menschen verdammt wird.“ 505 Sodann ist mit dem Rechtfertigungsglauben eine Kritik an dem mittelalterli‐ chen Glaubensbegriff und seiner Aufspaltung in unterschiedliche Momente verbunden. „Da aber Paulus wortreich dem Glauben die Rechtfertigung zuschreibt, ergibt sich zwingend, dass er nicht über solche Glaubensgestal‐ ten (um sie so zu nennen) redet, die man als erworbenen, eingegossenen, ungeformten, geformten, nicht entfalteten, entfalteten, allgemeinen oder besonderen Glauben bezeichnet.“ 506 Der Glaubensakt als solcher ist die von Gott gestiftete Gemeinschaft mit dem Menschen, und sie lässt sich aufgrund ihrer Unbedingtheit weder aufspalten noch quantifizieren. Das innere Gefüge von Luthers Verständnis von Rechtfertigung baut auf die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die hieraus resultierende Differenzierung von zwei Arten der Gerechtigkeit sowie die Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen auf. Er unterscheidet die Gerechtig‐ keit, die der Mensch selbst durch sein Handeln erlangen kann von der, die ihm zugesprochen wird und die ihm unverdient und umsonst zukommt. Die erste Form der Gerechtigkeit bezieht sich auf das eigene Handeln des Menschen, während die zweite eine dem Menschen fremde bezeichnet. Erstere vermag coram mundo vielleicht zu bestehen, aber im Hinblick auf Gott ist sie Todsünde. 507 Hingegen ist die zweite Gerechtigkeit zugleich extra nos und in nos, und nur sie beinhaltet den rechtfertigenden Glauben. „10. Oportet igitur de alia fide quadam eum loqui, quae faciat Christum in nobis efficacem contra mortem, peccatum et legem. 11. Et quae nos non sinat similes esse daemonibus et hominibus descen‐ dentibus in infernum, sed similes faciat sanctis Angelis et filiis Dei ascendenti‐ bus in coelum. 12. Haec est autem fides apprehensiva (ut dicimus) Christi, pro peccatis nostris morientis, et pro iustitia nostra resurgentis.“ 508 „10. [Paulus] muss also von einem an‐ deren Glauben sprechen, der Christus in uns zur Wirkung bringt gegen Tod, Sünde und Gesetz, 11. und der nicht den Dämonen und den Menschen, die zur Hölle fahren, gleichen lässt, sondern uns den heiligen Engeln und den Kin‐ dern Gottes, die zum Himmel auffahren, gleich macht. 12. Das aber ist (wie wir ihn nennen) der Glaube, der Christus ergreift, der für unsere Sünden stirbt 5.2 Die Rechtfertigung als Definition des Menschen 153 <?page no="154"?> 509 Lat.-dt. StA 2, 403. 510 LD 1, 172 = WA 56, 269. Vgl. R. Hermann, Luthers These „Gerecht und Sünder zugleich“ [1930], ND Darmstadt 1960. 511 Vgl. K. Holl, Die Rechtfertigungslehre im Lichte der Geschichte des Protestantismus, Tübingen 1906. Interpreta‐ tionspro‐ bleme der Rechtferti‐ gungslehre propter Christum und um unserer Gerechtigkeit willen aufersteht“. 509 Luthers Rechtfertigungslehre legt alles Gewicht auf die Ausschaltung der menschlichen Mitwirkung am Heil. Die leitende Grundvorstellung lautet: Gott spricht den sich als Sünder erkennenden Menschen gerecht. In der Römerbriefvorlesung fasste der Wittenberger Professor sein Verständnis des gerechtfertigten Sünders in der bekannten Doppelbestimmung simul iustus et peccator zusammen. „Denn wenn wir nur in Gottes Urteil gerecht sind, dann nicht in unserem Leben und Wirken. Daher sind wir auch von innen und von uns aus gesehen immer gottlos.“ 510 Die Gerechtfertigten sind im Urteil Gottes ganz Gerechte und zugleich in sich ganz Sünder. Im rechtfertigenden Glauben wird sich der Sünder als ein solcher verständlich, und darin stimmt er mit dem Urteil Gottes über ihn ein. Er ist gerecht. Im Mittelpunkt von Luthers Deutung der Rechtfertigung des Menschen allein durch Glauben und ohne Werke des Gesetzes steht das Urteil Gottes. So klar seine Aussagen auf den ersten Blick erscheinen mögen, so ist doch ihre Explikation, wie die Geschichte der Rechtfertigungslehre im Protes‐ tantismus zeigt, mit zahlreichen Problemen konfrontiert. 511 Zunächst kann man fragen, was Gott das Recht zur Gerechtsprechung von Ungerechten gibt? Untergräbt eine solche Anschauung vom Heilshandeln Gottes nicht den Gottesgedanken und die für ihn konstitutive Gerechtigkeit? Schon in der Reformationszeit wurden Versuche unternommen, die mit Luthers Ar‐ tikel vom rechtfertigenden Glauben verbundenen Antinomien zu rationali‐ sieren. Andreas Osiander (1498-1552) zufolge sieht Gott bei seinem Recht‐ fertigungsurteil auf Christus, der in den Glaubenden Gestalt gewinnt und dessen Gerechtigkeit die der Sünder ist. Deshalb kann Gott diejenigen für gerecht erklären, die es doch auf keine Weise sind. Auch die altlutherische Orthodoxie hat, Melanchthon folgend, die in Luthers religiösem Grundge‐ danken liegende Antinomie rationalisiert, indem dessen Christusanschau‐ ung gewissermaßen den Rechtsgrund für Gottes Gnadenhandeln abgibt. Die Gerechtsprechung des Sünders erfolgt propter Christum: Seine Erfüllung des 154 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="155"?> 512 Vgl. BSLK, 56. 513 Lat.-dt. StA 2, 405 = WA 39 (1), 45. 514 WA 2, 490. 515 Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 118f. 516 Vgl. E. Hirsch, Die Rechtfertigungslehre Luthers, in: ders., Lutherstudien, Bd. 3, hrsg. v. H.M. Müller, Waltrop 1999, 109-129. Gesetzes und sein stellvertretender Tod am Kreuz für die Sünden der Menschheit werden den Glaubenden nicht nur zugerechnet (imputare), sie geben Gott auch die Möglichkeit, den Sünder gerecht zu sprechen. 512 Die genannte Auffassung kann sich durchaus auf Luther und seine Christologie berufen. „Der wahre Glaube aber sagt: Ich glaube fest daran, dass Gottes Sohn gelitten hat und auferweckt worden ist, aber das alles für mich, für meine Sünden; dessen bin ich gewiss.“ 513 Der Reformator kann allerdings den wesentlichen Gehalt seines Verständnisses der iustificatio auch so darstellen, dass die Christologie mit der Gerechtigkeit Gottes zusammenfällt. So in dem Kleinen Galaterkommentar von 1519. „Sic fit, ut credentibus in nomine do‐ mini donentur omnia peccata et iusticia eis imputetur ‚propter nomen tuum, do‐ mine,‘ quoniam bonum est, non propter meritum ipsorum, quoniam nec ut audi‐ rent meruerunt. Iustificatio autem sic corde per fidem, quae est in nomine eius, dat eis deus potestatem filios dei fieri, diffuso mox spiritu sancto in cordibus eorum, qui charitate dilatet eos ac paca‐ tos hilaresque faciat, omnium bonorum operatores, omnium malorum victores, etiam mortis contemptores et inferni. Hic mox cessant omnes leges, omnium legum opera: omnia sunt iam libera, licita, et lex per fidem et charitatem est impleta.“ 514 „Also geschieht es, daß denen, die an den Namen des Herrn glauben, alle Sün‐ den vergeben werden und Gerechtig‐ keit ihnen zugerechnet wird, um deines Namens willen, Herr, denn er ist gut, und nicht um ihrer Verdienste willen, denn sie haben’s nicht einmal verdie‐ net, daß sie hören dürften. Wenn aber das Herz also gerecht worden ist durch den Glauben an seinen Namen, dann gibt Gott ihnen die Macht, Gottes Kin‐ der zu werden, indem er alsbald seinen heiligen Geist in ihre Herzen ergießt, der sie durch die Liebe weit und friede‐ voll und fröhlich macht, und zu Tätern alles Guten, Überwindern des Übels, ja, auch zu Verächtern des Todes und der Hölle. Hier hören alsbald alle Gesetze und aller Gesetze Werke auf: es ist nun alles frei und erlaubt, und das Gesetz ist erfüllt durch Glaube und Liebe.“ 515 Das Christusbild ist hier der Ausdruck des Rechtfertigungsglaubens und nicht die Bedingung für Gott, den Sünder als gerecht anzuerkennen. 516 Eine Deutung der Rechtfertigungslehre im Sinne einer Imputationslehre, die von Christus durch seinen Gehorsam erworbene Gerechtigkeit wird dem Sünder 5.2 Die Rechtfertigung als Definition des Menschen 155 <?page no="156"?> 517 WA 2, 490, zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 118. forensisch oder effek‐ tiv zugerechnet, hebt die Unbedingtheit des Urteils Gottes dadurch auf, dass sie es von einer Voraussetzung abhängig macht. Eine weitere, immer wieder diskutierte Frage entzündet sich an Luthers Aussage, die Rechtfertigung des Menschen bestehe in einem Urteil Gottes. In diesem ist der Mensch gerecht, aber für sich bleibt er Sünder. Der soge‐ nannten forensischen Auffassung der Rechtfertigungslehre zufolge ändert sich im Menschen durch seine Gerechtsprechung durch Gott nichts. Seine Gerechtigkeit besteht allein im Urteil Gottes. Dem gegenüber behauptet die effektive Deutung der Lehre eine durch den Rechtfertigungsakt Gottes herbeigeführte Änderung im Menschen. Die Rechtfertigung des Sünders durch Gott ist der Anfang eines Besserungsprozesses, der bis zum Ende des Lebens währt. Beide Auffassungen sind ungenügend. Sie beruhen auf dem Versuch, Luthers religiöse Anschauung in eine begrifflich distinktive Lehre umzuschmelzen. Der Rechtfertigungsglaube beinhaltet die Erkenntnis sowie das Bekennt‐ nis des eigenen Sünderseins durch den Menschen, und allein darin ist er gerecht. „Denn diese Gerechtigkeit ist nichts andres als die Anrufung des göttlichen Namens; der Name Gottes aber ist Barmherzigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Kraft, Weisheit. Und sie ist Anklage des eignen Namens; unser eigner Name aber ist Sünde, Lüge, Eitelkeit, Torheit, gemäß jenem Worte: ‚Alle Menschen sind Lügner‘ (Ps 116,11).“ 517 An Luthers religiösem Grundgedanken der iustificatio lassen sich drei Aufbauelemente unterscheiden. Zunächst beinhaltet die Rechtfertigung der Sünder eine Anerkennung des Urteils Gottes über den Menschen. Letzterer erkennt Gott an und erklärt ihn für gerecht. Der Rechtsspruch Gottes über den Menschen lautet, er ist Sünder. Soweit markiert die Aussage allerdings lediglich den Abstand zwischen Gott und Mensch, und es ist nicht deutlich, inwiefern darin schon die Rechtfertigung der Sünder sowie die Gemeinschaft von Gott und Mensch beschlossen liegt. Verständlich wird das erst durch den zweiten Aspekt. Die Anerkennung Gottes als gerecht ist nämlich der Ausdruck einer neuen Selbstbeurteilung des Menschen. Indem er sich als Sünder erkennt, stimmt er mit dem Urteil Gottes über ihn überein. Ein Mensch, der sich selbst so beurteilt, wie Gott ihn sieht, als Sünder, kommt zu sich selbst und wird wahrhaftig. Deshalb ist seine Einsicht in 156 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="157"?> 518 Lat.-dt. StA 1, 669 = WA 39 (1), 177. 519 Vgl. K. Schwarzwäller, Sibboleth. Die Interpretation von Luthers Schrift De servo arbitrio seit Theodosius Harnack. Ein systematisch-kritischer Überblick, München 1969; H.J. McSorley, Luthers Lehre vom unfreien Willen nach seiner Hauptschrift De servo arbitrio im Lichte der biblischen und kirchlichen Tradition, München 1967; R. Hermann, Zu Luthers Lehre vom unfreien Willen, in: ders., Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums. Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd. 2, Berlin 1981, 88-97; Reinhuber, Kämpfender Glaube; M. Beiner, Intentionalität und Geschöpflichkeit. Die Bedeutung von Martin Luthers Schrift „Vom unfreien Willen“ für die theologische Anthropologie, Marburg 2000; Barth, Die Theologie Martin Luthers, 299-321. 520 Vgl. WA 1, 47. 224; WA 7, 146; WA 18, 614. 670. seine Verfassung, die innere Selbsterkenntnis, die wahre Gerechtigkeit des Menschen. Der sich als Sünder verständlich gewordene Mensch vertraut nicht mehr auf sich selbst und sein Handeln, sondern allein auf Gott. Die hierin liegende komplexe Aneignungsstruktur stellt schließlich drittens der Rechtfertigungsglaube dar. Er ist nach der einen Seite die Selbsterkenntnis des Menschen und nach der anderen das Vertrauen auf Gott und seine Verheißung der Sündenvergebung. Rechtfertigungsglaube, fides iustificans, ist das wahre Gottesverhältnis, und in ihm kommen Gott und Mensch zur Einheit. Im rechtfertigenden Glauben, so wie ihn Luther versteht, geht es um die Erkenntnis Gottes und des Menschen. Da der Mensch in diesem Geschehen zu seiner Wahrheit kommt, repräsentiert die iustificatio die theologische Definition des Menschen. „Wer [vom Menschen] sagt, er müsse gerechtfertigt werden, der bekräftigt ganz gewiss als wahr, dass er ein Sünder und Ungerechter und daher vor Gott Schuldiger sei, aber durch Gnade zu retten.“ 518 5.3 Libertas christiana und servum arbitrium Luthers Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam gehört ohne Zweifel zu den bedeutendsten, aber auch umstrittensten seiner Schriften, an der sich die Geister scheiden. 519 Während die einen in dieser Schrift den reformato‐ rischen Grundgedanken in bedingungsloser Schärfe durchgeführt sehen, argwöhnen andere, der Reformator sei in ihr im Eifer des gedanklichen Schlagabtauschs zu weit gegangen. Seine bereits seit 1516 vorgetragene und in De servo arbitrio erneuerte Behauptung der Unfreiheit des menschli‐ chen Willens 520 scheint einen Determinismus zu propagieren, demzufolge 5.3 Libertas christiana und servum arbitrium 157 <?page no="158"?> 521 Vgl. WA 18, 614. 670. 522 Vgl. Hermanni, Luthers Lehre vom unfreien Willen als Fundament der Rechtfertigungs‐ lehre, 96-102. 523 Vgl. P. Melanchthon, Loci praecipui theologici von 1559, in: Melanchthons Werke in Auswahl, hrsg. v. R. Stupperich, Bd. II/ 1, bearbeitet v. H. Engelland, fortgeführt v. R. Stupperich, Gütersloh 2 1978, 263-280; C. Danz, Art.: Wirken Gottes, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, hrsg. v. J. Ritter/ K. Gründer/ G. Gabriel, Basel 2005, 824-829. 524 Vgl. G. Ebeling, Die königlich-priesterliche Freiheit, in: ders., Lutherstudien, Bd. 3, Tübingen 1985, 157-180; C. Stange, Die reformatorische Lehre von der Freiheit des Handelns, in: ders., Studien zur Theologie Luthers, Bd.-1, Gütersloh 1928, 20-33. 525 StA 2, 273 = WA 7, 25. 526 StA 2, 267 = WA 7, 21. Glaube und christliche Freiheit alles in der Welt nach einer unverbrüchlichen Notwendigkeit geschieht, 521 die der menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit keinen Raum mehr lässt. 522 Schon Melanchthon sah sich angesichts dieses Dilemmas in den späteren Auflagen seiner Loci communes dazu genötigt, Luthers vehemente Bestreitung der menschlichen Freiheit abzumildern, und die altlutherische Orthodoxie ist darin eher dem großen Humanisten als dem Wittenberger Reformator gefolgt. 523 Luther spricht jedoch nicht nur vom unfreien Willen, sondern ebenso von einer libertas christiana. Der Glaubende, der vom Gesetz entbunden ist, der ist frei. 524 „Das ist die Christlich freiheit / der eynige glaub / der do macht / nit das wir mu(e)ßsig gahn oder u(e)bell thun mugen / sondern das wir keynis wercks bedurffen zur frumkeyt vnd seligkeyt zu erlangen“. 525 Die christliche Freiheit liegt im Gottesverhältnis des Glaubens beschlos‐ sen. Der Glaubende ist, wie Luther in seinem Freiheitstraktat schreibt, sowohl vom Gesetz als auch von den Werken frei. Doch wie verhalten sich die Freiheit eines Christenmenschen und die Unfreiheit des Willens ihrerseits zueinander? Stehen sie unverbunden nebeneinander, oder lassen sich systematische Gesichtspunkte für einen inneren Zusammenhang von geknechtetem Willen und der königlichen Freiheit des Christen benennen? In der deutschen Fassung des Tractatus de libertate christiana schreibt Luther, die Seele werde durch äußere Dinge weder frei noch gut oder böse. „So ists offenbar / das keyn eußerlich ding mag yhn frey / noch frum ma‐ chen / wie es mag ymmer genennet werden / denn seyn frumkeyt vn(d) frey‐ heyt / widerumb seyn bo(e)ßheyt vnd gefenckniß / seyn nit leyplich noch eußer‐ lich.“ 526 158 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="159"?> 527 Vgl. D. Korsch, Freiheit als Summe. Über die Gestalt christlichen Lebens nach Martin Luther, in: NZSTh 40 (1998), 139-156; E. Jüngel, Zur Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift, München 1978; B. Hamm, Martin Luthers Entde‐ ckung der evangelischen Freiheit, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 164-182; R. Rieger, Von der Freiheit eines Christen‐ menschen. De libertate Christiana, Tübingen 2001. 528 StA 2, 265 = WA 7, 21. 529 Lat.-dt. StA 1, 290 = WA 18, 635. 530 Lat.-dt. StA 1, 291. unfreier Wille Das Handeln des Menschen bleibt äußerlich. Der Traktat vom November 1520, der mit der bekannten Doppelthese von der Freiheit und Knechtschaft des Christenmenschen einsetzt, welcher die Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen korrespondiert, entfaltet in seinem ersten Teil das Zustandekommen der christlichen Freiheit. 527 Die die gesamte Schrift strukturierende Differenzierung von innerem und äußerem Menschen wäre allerdings als anthropologischer Dualismus von Seele und Leib missver‐ standen. Die Seele, darauf weist Luther ausdrücklich hin, meint den „geyst‐ lich / new / ynnerlich“ 528 Menschen. Der äußerliche und leibliche Mensch hingegen ist der alte. Letzterem hat der Reformator einen unfreien Willen attestiert. Was versteht der Wittenberger Theologe unter dem Willen, und warum ist er der Meinung, er sei unfrei? In De servo arbitrio vergleicht er den menschlichen Willen in einem bekannten Bild mit einem Lasttier, um das zwei Reiter im Kampf liegen. „Sic humana voluntas in medio posita est, ceu iumentum, si insederit Deus, vult et vadit, quo vult Deus […]. Si insederit Satan, vult et vadit, quo vult Satan, nec est in eius arbitrio, ad utrum sessorem currere aut eum quaerere, sed ipsi sessores certant ob ispsum obtinen‐ dum et possidendum.“ 529 „So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt, wie ein Zugtier. Wenn Gott darauf sitzt, will und geht es, wo‐ hin Gott will […]. Wenn Satan darauf sitzt, will und geht es, wohin Satan will. Und es liegt nicht an seinem Willens‐ vermögen, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn zu suchen. Vielmehr streiten die Reiter selbst darum, es in Besitz zu nehmen und in Besitz zu be‐ halten.“ 530 Der menschliche Wille, soviel kann man der zitierten Stelle zunächst entnehmen, ist niemals ohne eine Bestimmung. Er wird entweder von Gott oder dem Satan, wie Luther schreibt, geritten, also bestimmt, wobei es nicht in der Macht des Willens liegt, sich selbst von einem Bestimmungsgrund 5.3 Libertas christiana und servum arbitrium 159 <?page no="160"?> 531 Vgl. WA 18, 669. 532 Lat.-dt. StA 1, 348 = WA 18, 662f. 533 Lat.-dt. StA 1, 349; vgl. WA 18, 669. 534 Vgl. Hermanni, Luthers Lehre vom unfreien Willen als Fundament der Rechtfertigungs‐ lehre, 89-96. 535 Vgl. WA 56, 386. Wille als Selbstbe‐ stimmung zum anderen zu wenden. Freiheitstheoretisch besagt Luthers Bild vom menschlichen Willen, um den Gott und Teufel im Streit liegen, dass es keine Indifferenzfreiheit geben könne, die sich ohne Grund zu etwas bestimmt. Der Wille als das innere Personenzentrum des Menschen ist niemals neutral oder gar absolut 531 und somit in seiner Tätigkeit stets ein bestimmter Wille. Den menschlichen Willen versteht der Reformator als das Vermögen zur Selbstbestimmung. Er ist, von Gott angetrieben, stets tätig und in Bewegung. „Vim igitur voluntatis humanae dici, credo, potentiam vel facultatem vel habilitatem vel aptitudinem volendi, nolendi, eligendi, contemnendi, appro‐ bandi, refutandi et si quae sunt aliae voluntatis actiones“. 532 „Ich glaube also, dass du mit ‚Kraft des menschlichen Willens‘ eine Möglichkeit oder Fähigkeit bezeichnest oder eine Eignung zu wollen, nicht zu wollen, zu wählen, zu verachten, zuzustimmen, abzulehnen und was immer sonst Hand‐ lungen des Willens sind.“ 533 Der Wille ist die Kraft und das Vermögen, sich zu einer Handlung zu bestimmen, aber er ist in seinen Akten bereits bestimmt. 534 Von dem sich so auslegenden und sich bestimmenden Willen sagt Luther, er sei unfrei. Es stellt sich freilich sofort die Frage, woran die Behauptung der Unfreiheit des menschlichen Willens ihren Anhalt hat. Zunächst meint der Reformator mit dem servum arbitrium keinen Zwang oder eine äußerliche Beschränkung der menschlichen Freiheit. Von einem solchen Missverständnis hat er sich sowohl in der Römerbriefvorlesung 535 als auch in De servo arbitrio entschie‐ den distanziert. „Necessario vero dico, non coacte, sed ut illi dicunt, neccessitate immutabilita‐ tis, non coactionnis, hoc est, homo cum vacat spiritu Dei, non quidem violentia, velut raptus obtorto collo, nolens facit malum, quemadmodum fur aut latro nolens ad paenam ducitur, sed sponte et libenti voluntate facit, Verum hanc „Vielmehr, wie sie sagen, mit einer Notwendigkeit der Unveränderlichkeit, nicht des Zwanges. Das heißt: Wenn der Mensch ohne Heiligen Geist ist, dann handelt er nicht unter Gewalteinfluss - als ob er am Hals gewürgt und weg‐ gerissen würde - gegen seinen Willen böse. So wie etwa ein Schurke oder 160 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="161"?> 536 Lat.-dt. StA 1, 288 = WA 18, 634. 537 Lat.-dt. StA 1, 289. 538 Vgl. WA 18, 634. Vgl. K.-H. zur Mühlen, Art.: Affekt II. Theologiegeschichtliche Aspekte, in: TRE, Bd.-1, Berlin/ New York 1977, 599-612. libentiam seu voluntatem faciendi, non potest suis viribus omittere, cohercere aut mutare, sed pergit volendo et lu‐ bendo, etiam si ad extra cogatur aliud facere per vim, tamen voluntas intus manet aversa, et indignatur cogenti aut resistenti, Non autem indignaretur, si mutaretur, ac volens vim sequeretur.“ 536 Dieb gegen seinen Willen der Strafe zugeführt wird. Sondern er handelt aus eigenem Antrieb und freiwillig. Diese Freiwilligkeit oder diesen Willen zu handeln aber kann er nicht aus eige‐ nen Kräften unterlassen, zügeln oder ändern, sondern er fährt fort zu wollen und bereitwillig zu sein; sogar wenn er äußerlich mit Gewalt gezwungen wird, etwas anderes zu tun, widersetzt sich dennoch drinnen der Wille und ist wi‐ derwillig gegen den, der ihn zwingt oder ihm Widerstand entgegenbringt. Er wäre aber nicht widerwillig, wenn er geändert würde und willig der Gewalt folgte.“ 537 Luther hat mit seiner These vom unfreien Willen nichts Äußeres, also die Welt und die Dinge in ihr, im Blick - solches macht ja weder frei noch unfrei. Es geht ihm um die innere Struktur des Willens, um seine Verfasstheit. Es steht nämlich nicht in dessen Macht, nicht zu wollen. Folglich kann die Freiheit auch nicht von sich selbst ablassen: Sie muss sich selbst zu etwas bestimmen. Luther fasst diese dem Willen immanente Struktureigenart in dem Begriff einer necessitate immutabilitatis (Notwen‐ digkeit der Unveränderlichkeit) zusammen. Der Wille ist nicht nur stets durch Gott angetrieben, agil, er ist auch durchgängig auf sich selbst bezogen, und zwar notwendigerweise. Mit seiner Lehre vom unfreien Willen hat der Reformator auch die Affektbestimmtheit des menschlichen Willens im Blick. 538 Der Mensch ist, so könnte man den Gedanken mit Spinoza (1632- 1677) zusammenfassen, nicht ‚Herr im eigenen Hause‘, da er durchweg von Affekten und Leidenschaften bestimmt wird, stets das Seine sucht und sein affektgeleitetes Handeln im Nachhinein mit vernünftigen Argumenten zu begründen versucht. „Befrage die Erfahrung, wie wenig die zu überzeugen sind, die irgendeiner Sache leidenschaftlich anhängen. Andererseits: Wenn sie davon abgehen, dann gehen 5.3 Libertas christiana und servum arbitrium 161 <?page no="162"?> 539 Lat.-dt. StA 1, 289. 291 = WA 18, 634. 540 Vgl. D. Korsch, Glaubensgewißheit und Selbstbewußtsein. Vier systematische Variatio‐ nen über Gesetz und Evangelium, Tübingen 1989, 224-232. 541 Vgl. Hermann, Zu Luthers Lehre vom unfreien Willen, 88-97; Seils, Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, 89-113. 542 Vgl. T. Wabel, Verborgenheit und Entzogenheit Gottes, in: NZSTh 53 (2011), 45-70, hier 49. innere Struktur der Selbst‐ bestim‐ mung sie unter Gewalteinwirkung davon ab oder, weil sie sich von etwas anderem größeren Vorteil versprechen, niemals aber freiwillig.“ 539 Es ist der stärkere Affekt, der sich jeweils durchsetzt und dem Willen eine andere Richtung gibt, aber nicht der vernünftige Entschluss. Luthers Argumente weisen in einer freiheitstheoretischen Perspektive auf eine in der Selbstbestimmung enthaltene Struktureigentümlichkeit hin. Die menschliche Freiheit, so sehr sie allein im Akt der Selbstbestimmung wirklich ist, findet sich als eine solche bereits vor und ist folglich eine zur Selbstbestimmung bestimmte Freiheit. Sie steht unter der Bestimmung, Selbstbestimmung zu sein. 540 Und sie muss sich auch zu etwas bestimmen, damit sie nicht leer und unbestimmt bleibt. Zu einem Bestimmten wird das Selbst nämlich nur dann, wenn es sich auf etwas bezieht und sich von diesem unterscheidet. Abstrahiert das Selbst allerdings in seinem Selbstverständnis und in seinen freien Akten von seiner Bestimmtheit, so impliziert das die Aufgabe, sie durch sein eigenes Wirken hervorzubringen. Das aber bedeutet, die Person durch das eigene Handeln zu verwirklichen. Diese Aufgabe beinhaltet einen unendlichen Prozess, da das Selbst aufgrund der für es konstitutiven (formalen) Struktur der Selbstbeziehung unbestimmt ist und mit keiner von ihm gesetzten Bestimmung identisch sein kann. Nimmt man die angeführten Aspekte zusammen, dann lässt sich Luthers Behauptung von der Unfreiheit des menschlichen Willens als eine Beschreibung der eigentümlichen Verfasstheit endlicher Selbstbestimmung verstehen. 541 Sie setzt sich in ihren Akten schon voraus, ist stets an sich gebunden und muss, um Selbstbestimmung zu sein, sich zu etwas bestimmen. Luthers gegen Erasmus verfochtene Behauptung der Unfreiheit des menschlichen Willens ist also weit davon entfernt, die menschliche Selbst‐ bestimmung zu bestreiten. 542 Ihr Anliegen liegt eher in einer genauen Beschreibung der komplexen Struktur sowie der Selbstvoraussetzung der menschlichen Freiheit in ihren Handlungen. Es geht um die Frage, wie wahre menschliche Selbsterkenntnis möglich ist, wenn das Selbstverhältnis des Menschen sowohl von Affekten bestimmt als auch durchgehend auf sich 162 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="163"?> 543 Vgl. WA 7, 23. 544 StA 2, 277. 279 = WA 7, 26; vgl. WA 6, 202-276, bes. 211. 545 Vgl. WA 7, 24. 546 StA 2, 279 = WA 7, 26. 547 Vgl. WA 18, 634. 548 Vgl. WA 7, 23. 28. Glaube und erstes Ge‐ bot selbst bezogen ist. Die Position von Erasmus, welche den Übergang von der Sünde zur Gnade als einen intendierten Akt vorstellt, greift angesichts der spezifischen Verfasstheit des Menschen und seiner Freiheit - so Luthers Einwand - erheblich zu kurz. Wie kommt es im menschlichen Leben zu einer Erfassung der eigen‐ tümlichen Struktur der Freiheit? Luthers Antwort, wie er sie in seinem Freiheitstraktat ausgeführt hat, lautet: allein im Glauben. 543 Der Glaube ist deshalb die wahre Freiheit, weil er das erste Gebot erfüllt. „Hi sichstu aber / auß wilchem grund dem glauben ßouil billich zugeschrieben wirt / das er alle gepott erfullet / vnd on alle andere werck frum macht. Denn du sihest hi / das er das erste gepott erfullet alleine da gepotten wirt / Du solt eynen gott ehren.“ 544 Im Glauben gibt der Mensch Gott recht, und darin ist er frei und erfüllt das erste Gebot. Das impliziert freilich die Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder in der Dialektik von Gesetz und Evangelium. Dazu kann es aber durch das Handeln des Menschen nicht kommen. Da es im Äußerlichen verbleibt, führt es nicht zur Selbstdurchsichtigkeit des Menschen. Nur das Wort Gottes, im Glauben ergriffen und mit ihm eins geworden, 545 dringt ins Innere des Menschen durch. Er ist die wahre Selbsterkenntnis des Menschen, und das heißt, er erkennt Gott als gerecht und wahr an. „Denn gott mag nicht geehrt werden / yhm wird dan / wahrheyt vnd allis gut zu geschrieben / wie er denn warlich ist / Das thun aber keyn gutte werck / sondern allein der glaube des hertzen.“ 546 Gerecht und frei wird der Mensch vor Gott nicht durch sein eigenes Handeln, sondern allein durch den Glauben. 547 Wenn Luther von der Freiheit eines Christenmenschen spricht, dann meint er nicht Autonomie im modernen Sinne. Die königliche Freiheit des Glaubens ist einerseits negativ ein Freisein des Glaubenden von allen (äußeren) Werken, dem Gesetz und der Sünde 548 und andererseits die Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder. Im Fokus der Argumentation steht eine religiöse Reflexion von Sünde und Gnade 5.3 Libertas christiana und servum arbitrium 163 <?page no="164"?> 549 Vgl. M. Heckel, Luthers Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ als Mark‐ stein des Kirchen- und Staatskirchenrechts, in: ZThK 109 (2012), 122-152, hier 124f. 550 StA 2, 265 = WA 7, 21. 551 Vgl. C. Danz, Die Notwendigkeit in der Freiheit. Zur Aufnahme von Luthers Freiheitsbe‐ griff in Schellings Freiheitsschrift, in: ders./ R. Leonhardt (Hrsg.), Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, Berlin/ New York 2008, 75-94. und keine metaphysische Beschreibung des menschlichen Willens. 549 Die christliche Freiheit ist der Glaube, und er bezieht sich auf den inneren Menschen. Von ihm, dem neuen Menschen, sagt Luther, er sei „eyn freyer herr / u(o)ber alle ding / vnd niemandt vnterthan“. 550 Deutlich wird hier auch, warum sich der Glaube als ein Bestimmtsein des Willens durch Gott von dem durch den Satan unterscheiden muss. Vom Teufel bestimmt zu sein, heißt nämlich, dass die innere Verfasstheit der endlichen Selbstbestimmung dem Menschen in seinem Selbstvollzug nicht durchsichtig ist. Im Blick ist dabei die ‚teuflische‘ Struktur des Versuchs, die Bestimmtheit des eigenen Selbst durch das Handeln hervorzubringen, die zu keinem Ende führt. Die libertas christiana zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass sich der Mensch im Gottesverhältnis als endliche Freiheit erfasst. Sie ist eine solche, die darum weiß, sich in jedem ihrer Akte bereits vorauszusetzen. Die mit dem Glauben verbundene endliche Freiheit unterscheidet mithin zwischen ihrer Konstitution durch Gott und ihrer eigenen Realisierung. Durch das eigene Handeln kann das Faktum der Freiheit nicht hervorgebracht werden, es dient allein der Weltgestaltung. Luthers Rede von der Unfreiheit des menschlichen Willens und von der Freiheit des Glaubens geht es nicht um die einfache Alternative von Freiheit oder Notwendigkeit. Insofern wird man durchaus sagen können, seine Behauptung eines servum arbitrium hat ihre Pointe gar nicht in einer Bestreitung der menschlichen Freiheit. Sie steht vielmehr im Dienste einer Aufklärung der humanen Selbstbestimmung über sich selbst. Deshalb kann man in Luthers schroffer Betonung des unfreien Willens durchaus eine Freiheitstheorie erblicken, deren Anliegen eine religiöse Reflexion der endlichen Freiheit und ihrer inneren Aufbauelemente darstellt. 551 5.4 Die guten Werke Welchen Stellenwert und welche Funktion hat das ethische Handeln des Menschen in der Theologie Luthers? Anders gefragt: unter welcher ethi‐ 164 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="165"?> 552 Vgl. P. Althaus, Die Ethik Martin Luthers, Gütersloh 1965; W. Härle/ R. Preul (Hrsg.), Gute Werke, Marburg 1993; E. Jüngel, Der menschliche Mensch. Die Bedeutung der re‐ formatorischen Unterscheidung der Person von ihren Werken für das Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens, München 1990, 194-213; M. Suda, Die Ethik Martin Luthers, Göttingen 2006; Barth, Die Theologie Martin Luthers, 277-298. 553 Vgl. WA 6, 202-276. 554 Vgl. WA 7, 3-38. 555 Vgl. WA 39 (1), 44-53. 82-86. 202-204. 556 StA 2, 299 = WA 7, 36. 557 Lat.-dt. StA 2, 407 = WA 39 (1), 46. 558 StA 2, 279 = WA 7, 26. wichtige Texte Glaube und gute Werke schen Forderung können Glaubende noch stehen, wenn sie schon an ihrem Glauben genug haben, und wie begründet der Reformator das Handeln der Christen? Das ethische Thema wird von ihm unter dem traditionellen Titel der guten Werke verhandelt. 552 Grundlegende Schriften Luthers zur Ethik sind: ● Von den guten Werken (1520) 553 ● Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) 554 ● Thesen für fünf Disputationen über Römer 3,28 (1535-1537) 555 In seinen Schriften hat Luther immer wieder darauf hingewiesen, dass aus dem Glauben gute Werke gleichsam unmittelbar von selbst folgen würden. So schreibt er in dem Freiheitstraktat: „Sih also fleusset auß dem glauben die lieb vn(d) lust zu gott / vnd ausz der lieb / ein frey / willig / frolich leben(n) dem nehsten zu diene(n) vmbsonst.“ 556 Stellen wie diese lassen sich aus dem Werk des Reformators in Fülle zusammentragen. In den späten Disputationsthesen über Röm 3,28 aus den Jahren 1535/ 37 heißt es, „34. Wir bekennen, dass gute Werke auf den Glauben folgen müssen, vielmehr nicht müssen, sondern ihm von selbst folgen [Sed sponte sequi], so wie ein guter Baum nicht gute Früchte bringen muss, sondern von selbst bringt.“ 557 Aus dem Glauben der gerechtfertigten Person gehen die guten Werke von selbst hervor, also ohne zu müssen, ebenso wie ein guter Baum gute Früchte von selbst hervorbringt. Der Glaube kann, so stellt es Luther vor, gar nicht untätig sein. Als „selbthetter vnd werckmeyster“ 558 geht er von selbst ins Handeln über, und aus ihm quellen nur gute Werke. Sie können sich, das ist vor dem Hintergrund von Luthers Glaubensverständnis deutlich, nicht 5.4 Die guten Werke 165 <?page no="166"?> 559 StA 2, 267 = WA 7, 21. 560 Lat.-dt. StA 2, 406 = WA 39 (1), 46. 561 Lat.-dt. StA 2, 407. 562 WA 10 (1, 2. Hälfte), 40f. gute Werke als Folge des Glau‐ bens auf das Gottesverhältnis des Menschen beziehen. Für die Rechtfertigung des Menschen haben seine Handlungen keine Bedeutung. Die Person wird nicht durch ihre Werke, seien sie nun gut oder böse, gerecht, da die Seele „keyn eußerlich ding mag […] frey / noch frum machen“. 559 „35. Et sicut boni fructus non faciunt arborem bonam, Ita bona opera non ius‐ tificiant personam. 36. Sed bona opera fiunt a persona iam ante iustificata per fidem, Sicut fructus boni fiunt ab arbore iam ante bona per naturam.“ 560 35. Und wie gute Früchte nicht den Baum gut machen, so rechtfertigen gute Werke nicht die Person, 36. son‐ dern gute Werke werden von einer Per‐ son getan, die schon zuvor durch den Glauben gerechtfertigt ist, so wie gute Früchte von einem Baum kommen, der schon zuvor auf Grund seiner Natur gut ist.“ 561 Gute Werke können sich lediglich auf die irdische Daseinsgestaltung des Lebens der Glaubenden beziehen, und zwar als Folge des Rechtfertigungs‐ handelns Gottes. Das setzt das Wissen der Glaubenden darum voraus, dass sich das Gottesverhältnis in keiner Weise der Qualität ihres Handelns ver‐ dankt. Mit dem Glauben ist das Wissen um den Unterschied von göttlichem und menschlichem Handeln sowie ihre unterschiedlichen Zuständigkeits‐ bereiche verbunden. Das menschliche Handeln ist nur dann von der Aufgabe einer Konstitution der Person oder des Gottesverhältnisses entlastet, wenn den Handelnden diese Differenz bewusst ist. „Szo merck nu: gegen gott und seyne heyligen darffistu keyn guttis thun, szondern nur gotts holenn, suchen, bitten und empfahen durch den glawben, von yhm. Christus hatts alles fur dich than und außgericht, sund betzallt, gnad, leben unnd selickeytt erworbenn, laß dyr an yhm benugenn, denck nur, das du yhn yhe mehr und mehr ynn dich bringist und solchen glawben sterckist. Darumb alles gutts, das du thun kanst, und deyn gantzes leben richte dahynn, das es gut sey“. 562 Im Glauben ist dem Menschen seine eigene Konstitution durchsichtig. Sein Handeln bezieht sich auf das Weltverhältnis. Dem bisher Ausgeführten scheint zu widersprechen, dass Luther an einigen Stellen von dem Glauben als einem Werk reden kann. So nennt er in dem Traktat Von den guten Werken 166 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="167"?> 563 StA 2, 17 = WA 6, 204. 564 StA 2, 29 = WA 6, 216. 565 Vgl. WA 6, 530. 566 StA 2, 285 = WA 7, 29f. Notwendig‐ keit der Werke von 1520 den Glauben an Christus ein gutes Werk. Er sei das „erste vnd hochste aller edlist gut werck […]. Dan in diesem werck mussen alle werck gan / vnd yrer gutheit einflusz gleich wie ein lehen vo(n) ym empfangen“. 563 Unter dem Werk des Glaubens an Christus kann hier freilich kein solches gemeint sein, welches der Mensch selbst hervorbringen könnte. Der Glaube kommt, wie der Reformator im Fortgang der Erörterung unmissverständlich erklärt, „an zweifel […] nit ausz deinen wercke(n) noch vordinst. sondern allein ausz Jesu Christo / vmbsunst vorsproche(n) vnd gebe(n)“. 564 Die Re‐ deweise von dem Glauben als einem Werk, wenn auch dem höchsten und schwierigsten, hat der Reformator später aufgrund der ihr anhaftenden Missverständlichkeit fallen gelassen und ihn strikt als ein Werk Gottes bezeichnet. 565 Wenn er vom Glauben als einem guten Werk spricht, dann meint er gerade ein menschliches Nichtwerk, ein solches also, welches Gott allein in uns und ohne uns wirkt. Was sind nun gute Werke, und warum sind sie für die Glaubenden, die ja an und in ihrem Glauben schon das ganze Heil im Gottesverhältnis haben, überhaupt notwendig? Die eigentümliche ‚Notwendigkeit‘ der guten Werke hat Luther damit begründet, dass der Mensch zum einen ein leib-seelisches und zum anderen ein handelndes Wesen ist. „Hie wollen wir antworten allen denen / die sich ergern auß den vorigen reden vn(d) pflegen zu sprechen Ey so denn der glaub alle ding ist vnd gilt allein gnugsam frum zumachen. Waru(m)b sein denn die gutten werck gepotten? so wollen wir gutter ding sein / vnd nichts thun. Neyn lieber mensch nicht also. Es were wol / also / wen du allein ein ynnerlich mensch werist / vnd gantz geystlich vnd ynnerlich worden / wilchs nit geschicht biß am Ju(e)ngsten tag. Es ist vn(d) bleybt auff erde(n) nur ein anheben vn(d) zu nehmen / wilchs wirt in yhener welt volnbracht.“ 566 Der Mensch ist nicht nur innerer Mensch, Gewissen, sondern auch äußerer, leiblicher, der stets in Sozialbeziehungen lebt und in ihnen handeln muss. Aus der bleibenden Leibgebundenheit des Menschen in diesem Leben resultiert die Notwendigkeit der guten Werke. Zwar ist der innere Mensch frei und Herr über alle Dinge, aber diese Freiheit realisiert sich für den 5.4 Die guten Werke 167 <?page no="168"?> 567 Lat.-dt. StA 2, 3 = WA 1, 233. 568 StA 2, 287 = WA 7, 30. Umgang mit dem ei‐ genen Leib Reformator aufgrund der Leiblichkeit allein in der dienstbaren Knechtschaft am Nächsten. Auf diese Weise folgen die Christen dem Beispiel Christi, der Knechtsgestalt annahm (Phil 2,5-11). Um freilich zum exemplum der zwischenmenschlichen Beziehungen zu werden, muss Christus zuvor als Gabe im Glauben ergriffen werden. Luther unterscheidet im Hinblick auf die Realisierung des Glaubens zwei Dimensionen: den eigenen Leib und die Sozialbeziehungen. In beiden geht es um Konsequenzen aus dem Rechtfer‐ tigungshandeln Gottes auf Seiten der Glaubenden, um die Realisierung ihres Glaubens in der Welt. Für den Reformator stellt sich die Frage nach dem Umgang mit dem eigenen Leib als Folge seines Glaubensverständnisses. Das Entstehen des eigenen Glaubens ist ein rein innerliches Geschehen, nämlich der durch das Handeln Gottes vermittelte Übergang vom erschrockenen zum fröhlichen Gewissen. Luther war schon sehr früh zu der Überzeugung gelangt, dass das innere Geschehen des Glaubens Konsequenzen im Äußeren zeitigen muss. Bereits die Ablassthesen bezogen die Buße programmatisch auf das gesamte Leben der Christen. Lebensbuße meint nicht nur die Selbstbeurteilung des Menschen als Sünder, sie schafft auch „äußerlich vielfältige Marter des Flei‐ sches“. 567 Den Gedanken der Abtötung des Fleisches hat der Wittenberger Theologe in sein Verständnis der guten Werke aufgenommen: Der Glaube äußert sich in einem konstruktiven Umgang mit dem eigenen Leib. „Da heben sich nu die werck an / hie muß er nit mu(e)ßsig gehen / da muß furwar der leyb mit fasten / wachen / erbeytten vnd mit aller messiger zucht getrieben / vn(d) geu(e)bt sein / das er dem ynnerlichen menschen vn(d) dem glauben gehorsam vnd gleychformig werde / nit hyndere noch widderstreb / wie sein art ist / wo er nit getzungen wirt.“ 568 Im Hinblick auf den eigenen Leib geht es um eine Entsprechung zwischen dem inneren Menschen, dem Glauben, und dem äußeren, leiblichen Men‐ schen mit seiner Triebstruktur. Letzteres soll dem inneren Menschen unter‐ geordnet beziehungsweise „gleichförmig“ werden. Die Arbeit am eigenen Leib, wodurch er in Konformität zu dem inneren Menschen gebracht wird, soll nun weder etwas mit Gesetzlichkeit noch mit Zwangscharakter zu tun haben. Luther spricht hier stets von einer Folge des Geschenkcharak‐ ters des Glaubens, die der Verantwortung des Einzelnen anheimgestellt 168 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="169"?> 569 Vgl. WA 7, 31. 570 StA 2, 295 = WA 7, 34. 571 Vgl. Korsch, Freiheit als Summe, 139-156. Nächsten‐ liebe und Sozialdi‐ mension ist. 569 Man kann diesen Aspekt von seinem Verständnis der guten Werke eine innerweltliche ethische Qualifizierung der Lebenserhaltung und Le‐ bensführung nennen. Max Weber (1864-1920) beschrieb das Phänomen, allerdings mit Blick auf den puritanischen Calvinismus, als Rationalisierung der Lebensführung. Im Unterschied zur mittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit wird dadurch die Lebenserhaltung und, was den wichtigsten Aspekt darstellt, die Arbeit aufgewertet (vgl. unten). Die guten Werke bestehen zunächst in der Herrschaft des inneren Men‐ schen über seinen Leib. Das geschieht durch eine Rationalisierung der Lebensführung: Die Glaubenden geben sich nicht mehr ihren leiblichen Bedürfnissen und Trieben hin, sondern bilden sie entsprechend dem inneren Menschen. Luther verbindet nun den Gedanken der ethischen Durchbildung des eigenen Leibes mit der Sozialdimension, in der jeder Mensch unweiger‐ lich lebt. „Denn der mensch lebt nit allein / ynn seynem leybe / sondern auch vnter andernn menschen auff erden̄. Darumb kann er nit on werck sein gegen die selbenn / er muß yhe mit yhn zu reden vnd zu schaffen haben̄ / wie wol yhm der selben werck keyns nodt ist zur frumkeit vnd seligkeyt.“ 570 Diese Dimension der Realisierung des Glaubens oder der christlichen Frei‐ heit begründet der Reformator damit, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Auch die Glaubenden leben immer mit anderen Menschen zusammen, welche nicht alle wahre Glaubende sind. Zudem existieren die Einzelnen in den Ordnungen der Welt, die Luther als von Gott gestiftete Ordnungen versteht. Sozialbeziehungen können allerdings nicht nach dem Muster von Selbsterhaltung und unmittelbarer Selbstdurchsetzung gebildet, sondern müssen gestaltet werden durch „reden“ und „schaffen“, in der Sprache der modernen Soziologie: durch Gesellschaft und Wirtschaft. 571 Die Gestaltung der Sozialbeziehungen nach dem Muster des inneren Menschen, die an die Stelle der egoistischen Selbsterhaltung und Selbstdurchsetzung tritt, beschreibt Luther durch den Gedanken der Nächstenliebe, die er wiederum schon sehr früh als eine Konsequenz der Christologie verstanden hat. Im Anschluss an den Philipperhymnus (Phil 2,5-11) deutet er das Leben der Glaubenden in Entsprechung zu Christus, der Knechtsgestalt annahm. Wie 5.4 Die guten Werke 169 <?page no="170"?> 572 StA 2, 265 = WA 7, 21. 573 Lat.-dt. StA 2, 72 = WA 2, 147. 574 Lat.-dt. StA 2, 73. 575 WA 10 (1, 2. Hälfte), 39. 576 StA 2, 287 = WA 7, 31. selbstlose Hingabe an den Nächs‐ ten Christus sollen auch Glaubende ihrem Mitmenschen dienstbare Knechte werden. So lautete der eine Teil der Doppelthese zu Beginn des Freiheitstrak‐ tats: Ein Christenmensch ist „eyn dienstpar knecht aller ding vnd yderman vnterthan“. 572 Vor diesem Hintergrund ergibt sich als Bestimmung der guten Werke, dass sie selbstlose Werke der Nächstenliebe sind und gleichsam das Bild Christi im zwischenmenschlichen Bereich realisieren. „Et in hoc imitatur exemplum Christi et conformis fit imagini eius. Nam et hoc ipsum Christus requirit, ut sicut ipse omnia fecit pro nobis, non quaerens quae sunt, sed tantummodo quae nostra et in hoc obedientissimus fuit deo patri. Ita vult ut et nos idem exemplum ad proximos exhibeamus.“ 573 „Und darin folgt sie dem Beispiel Christi nach und wird seinem Bild gleichgestal‐ tet. Denn Christus fordert genau das: So wie er selbst alles für uns getan hat, indem er nicht das Seine, sondern nur das Unsere suchte und gerade dadurch Gott dem Vater vollkommen gehorsam war, so gewiss will er, dass auch wir sein Beispiel an den Nächsten verwirk‐ lichen.“ 574 Gute Werke sind folglich diejenigen, die dem Mitmenschen nutzen: „Eyn gutt werk heyst darumb gutt, das es nutze sey, und wolthu und helffe, dem es geschicht: warumb sollt es tzonst gutt heyssen? “ 575 Auch in den nach dem Kriterium der Nächstenliebe gestalteten Handlungen, in denen einer dem anderen zum Christus werden soll, geht es nicht mehr um eine heilsreligiöse Bedeutung. Im Blick ist bei den guten Werken allein die innerweltliche Betätigung. Sie werden vollbracht, um „got zu gefallen“, 576 und zielen auf eine Fügung in den Willen Gottes ohne über die endliche Handlungsintention hinausgehende Motive. Die Pflichterfüllung und Sittlichkeit, die freilich an die traditionale Moral und ihre Formen anknüpft, ist der einzige Inhalt des Handelns der Glaubenden. Damit verbindet sich eine Aufwertung der Arbeit und des weltlichen Berufs, wie sie in der katholischen Frömmigkeit nicht möglich war. Max Weber und Ernst Troeltsch haben diesen Aspekt von Luthers Ethik zu Beginn des 20. Jahrhunderts als innerweltliche As‐ kese bezeichnet und in ihm eine mentalitätsgeschichtliche Voraussetzung für die Herausbildung der modernen kapitalistischen Erwerbswirtschaft 170 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="171"?> 577 Vgl. M. Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, Bodenheim 1993; Troeltsch, Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt; ders., Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, 442-445. 578 K.-H. zur Mühlen, Art.: Evangelische Räte, in: RGG 4 , Bd.-2, Tübingen 1999, 1721-1723. 579 Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, 39. 580 StA 2, 305 = WA 7, 38. 581 Vgl. Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, 40, Anm. 43; Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 476-481. Probleme von Luthers Ethik gesehen. 577 Für Luther kann der Mensch seinen Glauben nur in den Ordnun‐ gen der Welt leben, und zwar dort, wo er sich von Gott hingestellt findet. Die römisch-katholische Unterscheidung „der christlichen Sittlichkeitsgebote in ‚praecepta‘ und ‚consilia‘“ wird von ihm und den anderen Reformatoren aufgelöst. 578 Das „einzige Mittel Gott wohlgefällig zu leben“ besteht nicht mehr in einer „Überbietung der innerweltlichen Sittlichkeit durch mönchi‐ sche Askese, sondern ausschließlich“ in der „Erfüllung der innerweltlichen Pflichten […], wie sie sich aus der Lebensstellung des einzelnen ergeben, die dadurch eben sein ‚Beruf ‘ wird“. 579 Das Leben des Glaubenden realisiert sich in dienstbarer Knechtschaft und in Nächstenliebe, und diese Ethik der Dienstbarkeit ist eine unmittelbare Folge des Zustandekommens des eigenen Glaubens durch das Handeln Gottes. Am Ende seines Freiheitstraktats hat Luther diesen Zusammenhang prägnant zusammengefasst. Hier heißt es: „Auß dem allenn folget der beschluß / das eyn Christen mensch lebt nit ynn yhm selb / sondern ynn Christo vn(d) seynem nehstenn / ynn Christo durch den glauben / ym nehsten / durch die liebe / durch den glauben feret er vber sich yn gott / auß gott feret er widder vnter sich durch die liebe / vnd bleybt doch ymmer ynn gott vn(d) gottlicher liebe.“ 580 Die libertas christiana besteht im Glauben. Sie realisiert sich aber nicht anders als durch die dienstbare und selbstlose Hingabe an den Nächsten entsprechend dem exemplum Christi, der die Gestalt Gottes verschmähte und Knechtsgestalt annahm. Luthers Begründung und Konstruktion der Ethik folgt konsequent aus seinem Glaubensverständnis und seiner Christusanschauung. Sie ist indes mit Schwierigkeiten behaftet. Seine oft wiederholte Aussage von dem engen Zusammenhang von Glaube und Handeln ist alles andere als klar. Darauf wurde auch in der Forschungsliteratur hingewiesen. 581 „Es ist Luther“, so betont Martin Seils (1927-2024), 5.4 Die guten Werke 171 <?page no="172"?> 582 Seils, Die Sache Luthers, 73; vgl. ders., Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, 100-105. 111-113. 583 Vgl. Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, 40, Anm. 43; Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 476-481. 584 Vgl. E. Hirsch, Nietzsche und Luther, in: ders., Lutherstudien, Bd. 2, hrsg. v. H.M. Müller, Waltrop 1998, 168-206, hier 200. 585 Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, 40, Anm. 44. „vielleicht nie ganz gelungen, den Zusammenhang von Glauben und Tun, wie er ihn gesehen haben wollte, voll einsichtig zu machen. Vielzitierte Aussagen wie die, es sei ‚eyn lebendig, schefftig, thettig, mechtig ding vmb den glawben, das vnmuglich ist, das er nicht on vnterlas solt gutts wircken, …‘ klingen ein wenig immer auch wie Beschwörungsformeln, hinter deren Gehalt die gedankliche Verklammerung etwas zurückgeblieben zu sein scheint.“ 582 Wie aus dem neuen Ich der Glaubenden die guten Werke sua sponte hervorgehen sollen, bleibt undeutlich. Die Verknüpfung von Glaube und Handeln im Sinne der Nächstenliebe ist locker, und sie greift traditionelle Motive auf. 583 Auch das der Natursphäre entlehnte Bild von dem Baum, der von selbst gute Früchte hervorbringt, bietet für die Ebene des mensch‐ lichen Handelns nur sehr wenig Erklärungskraft. Es erreicht gar nicht die normative Ebene des Geistes und seiner Zwecksetzungen. Weiterhin ist die Lutherische Ethik der Nächstenliebe beziehungsweise der dienstbaren Knechtschaft mit der Frage konfrontiert, wie die Person und ihre christliche Freiheit in der selbstlosen Hingabe an den Nächsten bewahrt werden können. Löst sich die christliche Freiheit nicht selbst auf, wenn sie sich allein in der ethischen Dienstbarkeit realisiert? 584 Der Reformator versteht die Berufsarbeit als äußeren Ausdruck der Nächstenliebe. Dadurch kommt es zwar zu einer Aufwertung des weltlichen Berufs, aber die Fassung des Berufsgedankens selbst sowie seine Begründung durch die Vorsehung Gottes ist, worauf bereits Max Weber hingewiesen hat, weltfremd. In einer Anmerkung seiner Schrift Die protestantische Ethik kommentiert Weber Luthers Berufsgedanken lakonisch mit einem Zitat von Adam Smith (1723- 1790): „Nicht vom Wohlwollen des Fleischers, Bäckers oder Brauers erwarten wir uns unser Mittagessen, sondern von ihrer Rücksicht auf ihren eigenen Vorteil; wir wenden uns nicht an ihre Nächstenliebe, sondern an ihre Selbstsucht, und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern stets nur von ihrem Vorteil.“ 585 172 5 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk <?page no="173"?> 586 BSLK 459 f. Vgl. Seeberg, Die Lehre Luthers, 278-331; Althaus, Die Theologie Martin Luthers, 248-338; Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, 294-344; D. Wendebourg, Kirche, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 403-414; Korsch, Martin Luther, 103-131; Barth, Die Theologie Martin Luthers, 382-421. 587 BoA 2, 321 = WA 10 (2), 23. 588 Vgl. K. Holl, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd.-1: Luther, Tübingen 6 1932, 288-325, hier 296-298. Luthers Umbildung des Kir‐ chenverständnis‐ ses 6 Das Kirchenverständnis In den Schmalkaldischen Artikeln von 1537 schreibt der Reformator, „es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und ‚die Schäflin, die ihres Hirten Stimme hören‘ [ Joh 10,3]; denn also beten die Kinder: ‚Ich gläube eine heilige christliche Kirche.‘ Diese Heiligkeit stehet […] im Wort Gottes und rechtem Glauben“. 586 Sein Verständnis der Kirche als Gemeinde, Haufen, Volk Gottes etc. ist eine Folge seines reformatorischen Glaubensverständnisses, welches auf die unmittel‐ bare Präsenz Gottes im Glauben der Einzelnen zielt. Sie kommt allerdings nicht anders zustande als durch die Verkündigung des Wortes Gottes in der Gemeinde. Die öffentliche Verkündigung und damit die Sozialdimension der kirchlichen Gemeinschaft ist somit für die Entstehung des individuellen Glaubens zwar notwendig und unverzichtbar, aber zugleich wird die Sozial‐ dimension mit dem zum Zielkommen des Verkündigungswortes im Glauben der Einzelnen schlicht überflüssig. „Yhr solt euch nicht meyster heyssen auff erden / denn eyner ist ewr meys‐ ter / Christus / der meyster leret ym hertzē / doch durch das eußerliche wort seyner prediger / die es in die oren treyben / aber Christus treybts in das hertz.“ 587 Da der Glaube allein durch das Wirken Gottes als der Heilige Geist im In‐ neren des Individuums entsteht, ist die äußere Verkündigung des göttlichen Wortes eine notwendige Bedingung, jedoch keine hinreichende. Luthers Anschauung der Kirche stellt eine Konsequenz seiner Deutung des Rechtfertigungsglaubens dar. Mit ihr ist eine gegenüber dem rö‐ misch-katholischen Kirchenverständnis völlige Neubildung des Kirchenge‐ dankens verbunden, dessen Anfänge bis in die erste Psalmenvorlesung zu‐ rückreichen. 588 Das verwundert insofern wenig, als der Reformator sein Kirchenverständnis in Auseinandersetzung mit der römischen Kirche ent‐ <?page no="174"?> 589 BSLK, 61. 590 Vgl. WA 50, 649. Confessio Augustana Funktion der Kirche wickelte, in der er zunehmend den Hort des Antichristen erblickte. Für den römischen Katholizismus ist die Kirche gleichsam die Verlängerung der Menschwerdung Christi in der Geschichte. Die wahre Kirche fällt so gera‐ dezu mit der empirischen Institution, ihrer Hierarchie und ihren Rechts‐ strukturen zusammen. Sie ist eine societas perfecta (vollkommene ethische Gemeinschaft). Im Unterschied zu diesem sakramentalen Verständnis der Kirche als Heilsinstitution wird der Kirchenbegriff von Luther rein funktio‐ nal festgelegt. Ihre Legitimität bestimmt sich allein aus der Wahrnehmung ihrer Aufgabe: der Verkündigung des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente. Die Confessio Augustana hat den Grundgedanken von Luthers Kirchenverständnis folgendermaßen in Artikel VII zusammengefasst: „Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden. Dann dies ist gnug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, daß da einträch‐ tiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakrament dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden. Und ist nicht not zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche, daß allenthalben gleichformige Ceremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden, wie Paulus spricht zun Ephesern am 4.: ‚Ein Leib, ein Geist, wie ihr berufen seid zu einerlei Hoffnung euers Berufs, ein Herr, ein Glaube, ein Tauf.‘“ 589 Die Kirche resultiert aus der Funktion der Evangeliumsverkündigung und der Sakramentsverwaltung. Allerdings bedarf gerade die Wahrnehmung dieser Funktion der Schaffung einer Institution. Ohne Ordnungsstrukturen und Reglungen bis hin zu kirchenrechtlichen Festlegungen können auch die protestantischen Kirchen nicht ihre Funktion der Evangeliumsverkün‐ digung erfüllen. Ihre Ausgestaltung hat freilich keine heilsrelevante oder sakramentale Bedeutung mehr und obliegt pragmatischen Gesichtspunkten, die jederzeit geändert werden können. 590 Obwohl also für das Zustande‐ kommen des Heils nicht konstitutiv, ist dennoch eine institutionelle Form der Kirche notwendig, da die Kommunikation des Wortes Gottes geordnet vorgenommen werden muss. Die funktionale Fassung des Kirchenbegriffs im Unterschied zum sakra‐ mentalen Verständnis der Kirche als einer für das Heil geradezu konstituti‐ 174 6 Das Kirchenverständnis <?page no="175"?> 591 Vgl. WA 6, 285-324. 592 Vgl. WA 11, 408-416. 593 Vgl. WA 38, 195-256. 594 Vgl. WA 50, 509-653. 595 Vgl. WA 51, 469-572. 596 Vgl. WA 2, 430. grundle‐ gende Texte ven Größe, wie im römischen Katholizismus, ist der eine Aspekt, der mit Luthers Neufassung zusammenhängt. Die wahre Kirche, so ein weiterer As‐ pekt, fällt für ihn auch nicht mehr mit der empirisch institutionellen Kirche zusammen. Aus dem Glaubensverständnis ergibt sich eine Differenzierung des Kirchenbegriffs in eine unsichtbare und eine sichtbare Kirche. Die wahre Kirche ist die Gemeinschaft der Gläubigen, aber sie ist nicht mit der empi‐ rischen Kirchenzugehörigkeit identisch. Nicht alle, die Mitglied einer insti‐ tutionellen Kirche sind, gehören auch zu den wahren Glaubenden. In seinem Kirchenverständnis verknüpft Luther so unterschiedliche Dimensionen wie äußere und innere, empirische und transzendente oder institutionelle und überinstitutionelle. Wichtige Schriften zum Kirchenverständnis ● Vom Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig (1520) 591 ● Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen (1523) 592 ● Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe (1533) 593 ● Von den Konziliis und Kirchen (1539) 594 ● Wider Hans Worst (1541) 595 Da Luthers Kirchenverständnis auf seinem Glaubensverständnis aufbaut und der Glaube durch die äußere Kommunikation des Wortes Gottes zu‐ stande kommt, empfiehlt es sich, Luthers Ekklesiologie im Ausgang von seinem Schriftverständnis in den Blick zu nehmen. Denn schließlich soll, wie der Reformator unterstrichen hat, die Kirche nichts anderes sein als eine creatura verbi. 596 Im ersten Unterabschnitt ist die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche vor dem Hintergrund der theologia crucis sowie der Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift zu rekonstruieren. Der zweite Unterabschnitt ist Luthers Bestimmung der Kirche und ihrer 6 Das Kirchenverständnis 175 <?page no="176"?> 597 Vgl. A. Ritschl, Ueber die Begriffe: sichtbare und unsichtbare Kirche, in: ders., Ge‐ sammelte Aufsätze, Freiburg i. Br./ Leipzig 1893, 68-99; Holl, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, 296-298; F. Kattenbusch, Die Doppelschichtigkeit in Luthers Kirchenbegriff, in: ThStKr 100 (1927/ 28), 197-347; U. Barth, Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, hrsg. v. F. Steck, Tübingen 2 2023, 429-444. 598 Vgl. WA 3, 183; WA 4, 81. 107. 450. 599 Vgl. Holl, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, 298f. Unterschei‐ dung von Kennzeichen gewidmet. Zu den Themen, die in der Lehre von der Kirche abgehandelt werden, gehört die Sakramentslehre. Um Luthers Verständnis der Sakramente, wie er sie in seiner Auseinandersetzung mit der Papstkirche entwickelt hat, wird es im dritten Unterabschnitt gehen. Theologische Über‐ legungen zum Begriff der Kirche betreffen immer auch ihre Unterscheidung vom Staat. Dem Verhältnis von geistlichem und weltlichem Regiment, der sogenannten Zwei-Reiche-Lehre, wird im vierten Unterabschnitt nachge‐ gangen. 6.1 Sichtbare und unsichtbare Kirche Signifikant für Luthers Verständnis der Kirche ist die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche. Sie wird von ihm bereits in der ersten Psalmenvorlesung von 1513-1515 verwendet. 597 Die Differenzierung war freilich schon vor Luther geläufig. Eingeführt wurde sie von Augustin. Im Zusammenhang mit der Ausarbeitung seiner späten Prädestinationslehre unterscheidet er zwischen der sichtbaren katholischen und der wahren Kirche der Geistlichen und Erwählten. Sichtbar ist die Kirche, weil sie am Sakrament hängt, und sie ist ein corpus permixtum, da sie aus Gläubigen und Heuchlern besteht. Die wahre Kirche hingegen ist unsichtbar. Ihre Mit‐ glieder sind an den ewigen Erwählungsratschluss Gottes zurückgebunden. Luthers Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche geht bereits in den Dictata super Psalterium über die Augustinische Unterscheidung hinaus, indem die unsichtbare Kirche an die Verkündigung des Wortes Gottes gebunden wird und nicht an den Erwählungsratschluss Gottes. 598 Sie baut auf sein sich entwickelndes reformatorisches Verständnis des Glaubens auf: Alle hören zwar das Wort Gottes, aber nicht jedem treibt es Christus ins Herz. Luthers Kirchenbegriff fußt auf seiner Rechtfertigungs- und nicht der Prädestinationslehre. 599 Wie versteht nun der Reformator die Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche, und welche Aufbaumomente gehen in die Differenzie‐ 176 6 Das Kirchenverständnis <?page no="177"?> 600 BoA 1, 335 = WA 6, 296f. 601 StA 1, 283 = WA 2, 752f. sichtbarer und un‐ sichtbarer Kirche Kirchenver‐ ständnis und theolo‐ gia crucis rung ein und formen sie zu einem einheitlichen gedanklichen Zusammen‐ hang? In seiner Schrift Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig von 1520 schreibt er: „Drumb vmb mehres vorstandts vnd der kurtz willenn / wollen wir die zwo kirchen nennen / mit vnterscheydlichen namen. Die erste / die naturlich / grund‐ tlich / wesentlich vnnd warhafftig ist / wollen wir heyssen / ein geystliche yn‐ nerliche Christenheit. Die andere / die gemacht vnd eusserlich ist / wolle wir heyssen ein leypliche / eußerlich Christenheit / nit das wir sie vonn einander scheydenn wollen / sondern zu gleich als wen ich von einem menschen rede / vnd yhn nach der seelen ein geistlichen / nach dem leyp ein leyplichen menschen nenne / oder wie der Apostel pflegt [Röm 7,22-25] / ynnerlichen vnd eußerli‐ chen menschen zunennen. Also auch / die Christlich vorsamlung / nach der seelen / ein gemeyne in einem glauben eintrechtig / wie wol nach dem leyb / sie nit mag an einē ort vorsamlet werdenn / doch ein iglicher hauff an seinem ort vorsamlet wirt.“ 600 Ein Jahr zuvor, im 1519 veröffentlichten Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften diskutierte Luther die im Zitat genannte Unterscheidung von innerer und äußerer Christenheit im Kontext von Ausführungen zum Sakramentsver‐ ständnis. Er schreibt hier, seine Neubestimmung des Sakraments zusammen‐ fassend: „Derhalben es auch nutz vnd nott ist / das die lieb vnd gemeynschafft Christi vnnd aller heyligen vorborgen / vnsichtlich vn(d) geystlich gescheh / vn(d) nur / eyn leyplich / eußerlich zeychen / derselben vnß gebe(n) werde / dan wo dieselben lieb / gemeynschafft / vnd beystand offentlich were / wie der mensche(n) zeyt‐ lich gemeynschafft / ßo wurden wir da durch nit gesterckt noch geubt / yn die vnsichtlichen vn(d) ewigen guter zu trawen / odder yhr zu begeren“. 601 Die Differenzierung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche bei Luther steht, was ihre Genese betrifft, im Zusammenhang seines neuen Verständnisses des Glaubens als eines inneren Geschehens, das Gott im Gewissen des Menschen ohne dessen Beteiligung wirkt. Aufgenommen in sein Kirchen‐ verständnis hat er die Grundunterscheidung zwischen dem Handeln Gottes und dem des Menschen. Sie steht ebenfalls im Zentrum seiner theologia 6.1 Sichtbare und unsichtbare Kirche 177 <?page no="178"?> 602 Vgl. Lat.-dt. StA 1, 322 = WA 18, 652. 603 Vgl. Barth, Symbole des Christentums, 442-444. 604 Vgl. BoA 1, 323. crucis, wie er sie in seinen frühen Vorlesungen sowie in der Heidelberger Disputation vom April 1518 und in den Ablassresolutionen aus demselben Jahr ausgeführt hat. Man wird deshalb wohl auch in der Vermutung nicht fehlgehen, dass für Luthers Begriffsprägung ecclesia invisibilis beziehungs‐ weise ‚verborgene Kirche‘ (abscondita est Ecclesia), wie sie unter anderem in De servo arbitrio verwendet wird, 602 die theologia crucis die methodische Basis darstellt. Die Lutherforschung ist, soweit man die Literatur überschauen kann, dem Zusammenhang von Kreuzestheologie und Kirchengedanken bisher noch nicht genügend nachgegangen. 603 In einer engen Beziehung zur Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche steht die von Luther in der Schrift gegen den Leipziger Franziskaner-Mönch Augustin Alfeld (um 1480-1535) von 1520, 604 dem hochberühmten Romanisten zu Leipzig, angeführte Differenzierung von geistlichem und leiblichem oder, wie der Reformator im Anschluss an Paulus in Röm 7,22-25 sagt, innerem und äußerem Menschen. Auch diese Unterscheidung, die bereits im Zusammenhang mit den guten Werken erörtert wurde, stellt eine Folge der theologia crucis dar. In den Thesen 3 und 4 der Heidelberger Disputation, in der Luther das Handeln des Menschen und das Handeln Gottes gegenüberstellt, heißt es in den Erläuterungen der Thesen: „Opera hominum videntur speciosa, sed intus sunt foeda, ut Christus de Pharisaeis Matth. 23. dicit. Videntur enim sibi et aliis bona et pulchra, Sed Deus est, qui non iudicat secundum faciem, sed scrutatur renes et corda. At sine gratia et fide impossibile est mundum haberi cor.“ „Die Werke der Menschen erscheinen schön, aber innerlich sind sie hässlich, wie Christus von den Pharisäern Mt 23 sagt. Denn sie erscheinen ihnen und anderen gut und schön, aber Gott ist es, der nicht nach dem äußeren Anschein urteilt, sondern die Nieren und Herzen erforscht. Aber ohne Gnade und Glau‐ ben ist es unmöglich, ein reines Herz zu haben.“ „Opera Dei esse deformia, patet per illud Esa. 53. Non est ei species neque decor. Et 1. Reg. 2. Dominus mortificat et vivi‐ ficat, deducit ad inferos et reducit. Hoc sic intelligitur, quod Dominus humiliat et perterrefacit nos Lege et conspectu „Dass Gottes Werke ungestalt sind, er‐ gibt sich durch jenes [Wort aus] Jes 53: ‚Er hat keine Gestalt noch Schön‐ heit‘ und 1Sam 2: ‚Der Herr tötet und macht lebendig, er führt in die Hölle hinunter und wieder heraus.‘ Dies wird 178 6 Das Kirchenverständnis <?page no="179"?> 605 Lat.-dt. StA 1, 36. 38 = WA 1, 356f. 606 Lat.-dt. StA 1, 37. 39. 607 Vgl. WA 18, 633. Vgl. Barth, Symbole des Christentums, 433-435. 608 Vgl. Holl, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, 297 f.; Barth, Symbole des Christentums, 444. unsicht‐ bare Kirche peccatorum nostrum, ut tam coram ho‐ minibus, quam coram nobis videamur esse nihil, stulti, mali imo vere tales sumus. Quod cum agnosscimus atque confitemur, nulla in nobis est species neque decor, sed vivimus in absondito Dei (id est, in nuda fiducia misericordiae eius) in nobis habentes responsum pec‐ cati, stulticiae, mortis et inferni.“ 605 so verstanden, dass der Herr uns demü‐ tigt und erschreckt durch das Gesetz und den Anblick unserer Sünden, so dass wir sowohl vor den Menschen als auch vor uns selbst nichts zu sein scheinen, Toren, Böse, ja, wir sind in Wahrheit solche. Wenn wir dies erken‐ nen und bekennen, ist in uns ‚keine Ge‐ stalt noch Schönheit‘, sondern wir leben im Verborgenen Gottes, das heißt, in nacktem Vertrauen auf seine Barmher‐ zigkeit, während wir in uns das Urteil der Sünde, der Torheit, des Todes und der Hölle haben.“ 606 Im Glauben ist der innere Mensch gut, auch wenn er nach außen schlecht erscheint, und er lebt im Verborgenen Gottes. Die Innendimension des Glaubens ist dem äußeren leiblichen Menschen nicht zugänglich, sondern nur dem Glauben sichtbar, der sich, wie Luther formuliert, auf das Un‐ sichtbare richtet (Hebr 11,1). 607 Die Innerlichkeitsdimension des Glaubens, deren dialektisches Zustandekommen die Kreuzestheologie beschreibt, wird unter dem Gesichtspunkt der unsichtbaren Kirche zu einer universalen Gemeinschaft einer innerlichen Gewissenseinheit entschränkt. 608 Auch die Weise, wie Luther die ecclesia invisibilis mit der ecclesia visibilis verknüpft, fußt auf dem Fundament der theologia crucis. Denn ihrer methodischen Einsicht zufolge ist zwar das Handeln Gottes verborgen, was aber nicht heißen soll, dass es gänzlich entzogen ist. Es ist, um mit Luthers Formel zu reden, unter dem Gegenteil verborgen. Sichtbar ist nur, wie es in dem Abendmahlssermon von 1519 heißt, das leibliche, sichtbare, äußere Zeichen. Ebenso ist nun im Hinblick auf den Kirchenbegriff lediglich die äußere Gemeinschaft der Glaubenden sichtbar. Die Unterscheidung und Zuordnung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche reformuliert auf der Ebene der Gemeinschaft der Glaubenden das aus der theologia crucis resultierende dialektische Verhältnis von innerem und äußerem Menschen. Beide Dimensionen stehen nun derart in einem Zusam‐ menhang, dass die Glaubenden, wie Luther im Freiheitstraktat schreibt, in 6.1 Sichtbare und unsichtbare Kirche 179 <?page no="180"?> 609 Vgl. WA 6, 296. 610 Vgl. Holl, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, 304f. 611 Lat.-dt. StA 1, 239 = WA 18, 609; vgl. WA 18, 653. Kirchenver‐ ständnis und die Lehre von der doppel‐ ten Klarheit der Schrift diesem Leben stets in einem fleischlichen Leib leben, den sie entsprechend des inneren Menschen gestalten sollen. Innendimension und Außendimen‐ sion lassen sich nicht trennen, obwohl sie auch nicht zusammenfallen können. Von dem äußerlichen Leben eines Menschen kann nicht auf dessen Herz beziehungsweise auf Glauben zurück geschlossen werden. 609 Nur Gott, der Herzenskündiger, der in das Herz des Menschen blickt, kennt die wahren Glaubenden. Einem Menschen ist die Dimension des Gewissens von anderen grundsätzlich unzugänglich. Entsprechend ist auch die unsichtbare Kirche immer an die sichtbare, also die Verkündigung des Evangeliums, gebunden, ohne freilich mit ihr einfach identisch zu sein. Luthers Differenzierung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche baut auf die aus der theologia crucis stammende Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen auf und ist mit der Schriftlehre verknüpft. Der Glaube kommt allein aus dem Hören des Evangeliums. 610 In seinem Schrift‐ verständnis unterscheidet er zwischen der äußeren und der inneren Klarheit der Schrift (vgl. oben 2.3.1). Während die äußere Klarheit sich auf die in dem Wortsinn der Schrift ausdrückende Sachevidenz bezieht, ordnet der Reformator die innere Klarheit der Schrift der Herzenserkenntnis und damit der Heilsgewissheit zu. Beide Formen der Klarheit der Schrift sind nun derart aufeinander bezogen, dass der Heilige Geist in seinem Gewissheit schaffen‐ den Handeln stets an das äußere Wort als Vehikel gebunden ist. Die innere und die äußere Klarheit haben allerdings unterschiedliche Geltungsbereiche. Ihnen entsprechen die beiden Dimensionen von Luthers Kirchenbegriff. Die Zuordnung der beiden Klarheiten der Schrift zu seinem differenzierten Kir‐ chenverständnis beschreibt er in De servo arbitrio folgendermaßen: „Doppelt ist die Klarheit der Schrift […]: Eine ist äußerlich im Amt des Wortes gesetzt, die andere in der Kenntnis des Herzens [in cordis cognitione] gelegen.“ 611 Die äußere Klarheit der Schrift gehört dem Predigtamt zu, also dem Dienst am Wort, und die innere Klarheit der Herzenserkenntnis. Damit unterschei‐ den sich die Geltungsbereiche von äußerer und innerer Klarheit: Die äußere Klarheit ist öffentlich, und die innere Klarheit ist nicht öffentlich, da sie die Christen als Privatperson betreffen. Zwar ist die Herzenserkenntnis an die äußere und öffentliche Verkündigung zurückgebunden, die für die Entste‐ hung der Herzenserkenntnis notwendig ist, aber sie enthält die individuelle 180 6 Das Kirchenverständnis <?page no="181"?> 612 Vgl. Holl, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, 303f. sichtbare Kirche Kirche als Gemeinde Aneignung im Glauben noch nicht. Herzenserkenntnis und Heilsgewissheit kommen allein durch ein eigenes Wirken des Heiligen Geistes im Gewissen des Menschen zustande. Die beiden Aspekte der Klarheit der Schrift, ihre Zuordnung zum Predigtamt und zur Erkenntnis des Herzens, werden von Luther mit der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche zu einem in sich geschlossenen Zusammenhang verzahnt: Die öffentliche Verkündigung der klaren Schrift Gottes repräsentiert die ecclesia visibilis und die in der Herzenserkenntnis beschlossene innere Klarheit die ecclesia invisibilis. Die sichtbare Kirche ist folglich dort, wo das Wort Gottes verkündigt wird, während die unsichtbare Kirche diejenigen umfasst, bei denen das Wort Gottes durch das innere Wirken des Heiligen Geistes den Glauben hervorbringt. Diese Gemeinschaft der Glaubenden ist die allein wahre Kirche. Sie ist zwar nie ohne eine sichtbare Kirche, in der das Wort Gottes verkündigt und die Sakramente verwaltet werden, aber sie fällt auch nicht mit der Institution zusammen. Beide Kirchen verhalten sich zueinander wie zwei konzentrische Kreise. 6.2 Kirche als Gemeinde Für Luthers Kirchenverständnis ist die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche geradezu fundamental. Sowohl seine eigenen Ausfüh‐ rungen zu den inhaltlichen Aspekten seines Neuverständnisses als auch seine Kritik an der Papstkirche bauen auf diese Differenzierung auf. Im Folgenden wird zunächst sein Verständnis der Kirche als Gemeinde sowie seine darauf fußende Kritik an der mittelalterlichen Kirche erörtert und anschließend die notae ecclesiae, die Kennzeichen, an denen die wahre Kirche erkannt werden könne. Der Reformator ist davon überzeugt, dass es sich bei der evangelischen Neugestaltung der Kirche nicht um eine Sekte oder eine Abspaltung von der katholischen Kirche handelt. Den Gedanken einer Sektenbildung hat er stets verworfen. 612 Ihm geht es um die allein wahre Ekklesia, und er scheut auch nicht davor zurück, der römischen Kirche das Kirchesein abzusprechen. In seinem Gesamtwerk hat Luther mehrfach das Wort Kirche im Unter‐ schied zur Schrift, der Klarheit zukommt, ein blindes, undeutliches Wort 6.2 Kirche als Gemeinde 181 <?page no="182"?> 613 Vgl. I. Lønning, Luther und die Kirche. Das blinde Wort und die verborgene Wirklich‐ keit, in: LuJ 52 (1985), 94-112. 614 WA 50, 624. Vgl. B. Lohse, Die Einheit der Kirche bei Luther, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 300-314; W. Höhne, Luthers Anschauung über die Kontinuität der Kirche, Berlin 1963; E. Kinder, Der evangelische Glaube und die Kirche. Grundzüge des evangelisch-lutherischen Kirchenverständnis‐ ses, Berlin 1958. 615 BoA 1, 334 f. = WA 6, 296. 616 BoA 1, 335 = WA 6, 296. genannt. 613 In der für seine Ekklesiologie wichtigen späten Schrift Von den Konzilien und Kirchen aus dem Jahre 1539 schreibt er: „Aber dis wort Kirche ist bey uns zumal undeutsch und gibt den sinn oder gedancken nicht, den man aus dem Artickel nehmen mus.“ 614 In der zitierten Stelle drückt sich eine Reserve gegenüber dem Begriff ‚Kirche‘ aus, die sich in dem gesamten Werk des Reformators nachweisen lässt. Das Wort ist deshalb für ihn undeutlich, weil es die innere Konstitution der Gemeinde durch das Handeln Gottes und damit die geistlich-innerliche Dimension des Glaubens nicht zum Ausdruck bringt. In dem Wort verschwindet gleichsam die unsichtbare Kirche in der sichtbaren, äußeren Institution. In diesem Sinne heißt es bereits in der frühen Schrift Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig: „Wie wol nw dem wortlein / geystlich / odder kirchen hie gewalt geschicht / das solch eußerlich wesen alßo genandt wirt / ßo es doch allein den glauben be‐ trifft / der in der seele(n) / recht worhafftige / geistliche vnd Christen macht / hat doch der prauch vber hand genōmen / nit zu kleiner vorfurung vnd yrtumb vieler seelen / die do meynen solchs eusserlich gleyssen / sey der geistliche vnd warhafftige sta(n)d der Christe(n)heit oder kirche(n).“ 615 Und Luther fügt hier hinzu: „Von disser kirchen / wo sie allein ist / stet nit ein buchstab in der heyligenn schrifft / das sie von got geordenet sey“. 616 Der Begriff Kirche bezieht sich für den Reformator viel zu stark auf die äußerliche Dimension der Institution und ihrer Ordnungen und lässt die innerlich verborgene Dimension des Glaubens zurücktreten. Aus diesem Grund hat er durchgängig in seinen Schriften statt von Kirche bevorzugt von Gemeinde gesprochen. „Wolan, hindan gesetzt mancherley schrifften und teilung des worts Kirche, Wollen wir dismal einfeltiglich bey dem Kinderglauben bleiben, der da sagt: Ich 182 6 Das Kirchenverständnis <?page no="183"?> 617 WA 50, 624. 618 Vgl. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem syste‐ matischen Zusammenhang, 207. 619 Vgl. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, 255. 620 StA 1, 274 = WA 2, 743. 621 Vgl. WA 3, 179. 204. 347; WA 4, 224. 267. 324. 353. Vgl. Holl, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, 305f. communio sanctorum gleube eine heilige Christliche Kirche, Gemeinschaft der heiligen. Da deutet der glaube klerlich, was die Kirche sey, nemlich eine gemeinschafft der Heiligen, das ist, ein hauffe oder samlung solcher Leute, die Christen und heilig sind, das heisst ein Christlicher heiliger hauffe oder Kirchen“. 617 Die Gemeinde ist die Versammlung, der Haufen, derer, die das Wort Gottes im Gottesdienst hören und die eine, wie Luther auch sagt, communio sancto‐ rum bilden. Der Begriff communio sanctorum kann sowohl die Gemeinschaft der Heiligen als auch die Gemeinschaft am Heiligen, nämlich am Abendmahl meinen. 618 Die Bedeutung Gemeinschaft am Heiligen, die aus der Alten Kirche stammt, hat Luther nicht verwendet. Vielmehr versteht er unter communio sanctorum eine Art Gütergemeinschaft der Gläubigen. 619 „Dyße gemeynschafft / steht darynne das alle geystlich guter / Christi vnnd seyner heyligen / mit geteyllet vnd gemeyn werden / dem / der dyß sacra‐ ment empfeht / widderumb alle leyden vnd sund / auch gemeyn werden / vnd alßo liebe gegen liebe antzundet wirdt / vnd voreynigt / Vnd das wyr auff der groben synlichen gleychniß bleyben. Wie yn eyner statt / ey‐ nem yglichen burger gemeyn wirt / der selben statt / namen / eere / frey‐ heyt / handell / brauch / sitten / hulff / beystand / schutz / vnd der gleychen. widderumb / alle gefar / fewr / wasser / feynd / sterben / scheden / auffsetz vnd der gleychen. Dan(n) wer mit geniessen will / der muß auch mit gelten / vnd lieb mit lieb vorgleychen.“ 620 Leitend für Luthers Neuverständnis der Kirche ist der Gedanke der Ge‐ meinde, und sie wird von ihm als eine Gütergemeinschaft entsprechend dem Leitbegriff der Nächstenliebe aufgefasst. Aus diesem ‚Liebeskommunismus‘ der Gläubigen - der Begriff stammt von Heinrich Heine (1797-1856) - hat der Reformator schon relativ früh jegliche Hierarchie ausgeschlossen. Be‐ reits in der ersten Psalmenvorlesung begegnet der Gedanke als Konsequenz der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche, ohne freilich schon auf die römische Kirche angewandt zu werden. 621 Das geschieht erst mit dem Ablassstreit und der sich in seinem Verlauf verschärfenden Ausein‐ 6.2 Kirche als Gemeinde 183 <?page no="184"?> 622 Vgl. Holl, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, 313-317. 623 Vgl. WA 1, 233. 624 Vgl. Holl, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, 211. 625 BoA 1, 336 = WA 6, 297. 626 Vgl. WA 6, 293. 627 Vgl. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem syste‐ matischen Zusammenhang, 298. 628 Vgl. H. Goertz, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg 1997; Barth, Symbole des Christentums, 444-448. Kritik an der Papst‐ kirche allgemei‐ nes Pries‐ tertum aller Gläubigen andersetzung mit Rom. Jetzt rücken gegenüber der ersten Psalmenvorlesung sichtbare und unsichtbare Kirche weiter auseinander, und Luther zieht im‐ mer schärfer die Folgerung, dass mit dem Evangelium keinerlei Hierarchie oder Herrschergewalt verbunden sein kann. 622 In den Ablassthesen von 1517 war er sich vollkommen darüber im Klaren: Das Amt des Priesters könne nur darin bestehen, die bereits von Gott gewährte Sündenvergebung auszusprechen und zu bestätigen. Auch der Papst, so formuliert er in These 6, könne nicht mehr tun. 623 Das Evangelium schließe weder richterliche Gewalt in sich noch lasse sich eine Hierarchie als göttliche Ordnung aus ihm ableiten. 624 Hieraus resultieren zwei weitere grundlegende Aspekte von Luthers Kirchenverständnis. Zunächst: Wenn sich aus dem Evangelium keine Hier‐ archie im Sinne einer gleichsam von Gott eingesetzten Ordnung ableiten lässt, dann kann nur Christus und nicht der Papst das Oberhaupt der Kirche sein. „Auß dem allen folget / das die erste Christenheit die allein ist die warhafftige kirch / mag vnnd kann kein heubt auff erden haben / vnnd sie von niemant auff erden / noch Bischoff / noch Bapst regirt mag werden / sondern allein Christus ym hymel ist hie das heubt / vnd regiret allein.“ 625 Das Haupt der Kirche ist aufgrund ihrer Nicht-Leiblichkeit 626 nicht der Papst, sondern Christus allein, der in den Herzen der Gläubigen regiert. Freilich ist der Gedanke, Christus ist das Haupt der Kirche, in der christlichen Tradition von Anfang an geläufig. In Luthers Auseinandersetzung mit Rom gewinnt er allerdings eine antipäpstliche und romkritische Bedeutung. 627 Denn wenn Christus das Haupt der Kirche ist, dann kann es der Papst gerade nicht sein. Damit verbindet sich sodann die Vorstellung des allgemeinen Priester‐ tums aller Gläubigen. 628 Wenn sich aus dem Evangelium keinerlei Hierarchie ableiten lässt, kann es auch keinerlei sakramentalen Unterschied zwischen 184 6 Das Kirchenverständnis <?page no="185"?> 629 StA 2, 99 = WA 6, 407; vgl. WA 6, 560-567; WA 7, 28f. 630 StA 2, 100 = WA 6, 408. 631 StA 2, 269 = WA 7, 22. Priesteramt Priestern und Laien geben. Der Gedanke des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen bahnt sich in den Dictata super Psalterium als Folge des Zusammenrückens von Wortverkündigung und Kirchenbegriff bereits an. Allerdings werden hier die romkritischen Konsequenzen noch nicht gezo‐ gen, sondern erst, als sich der Konflikt mit Rom verschärfte. Die klarste Formulierung des Gedankens findet sich in der wirkungsmächtigsten von Luthers reformatorischen Programmschriften aus dem Jahre 1520, nämlich der Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung. Hier führt Luther aus: „Dan alle Christen / sein warhafftig geystlichs stands / vnnd ist vnter yhn kein vnterscheyd / denn des ampts halben allein. wie Paulus .i. Corint. xii. sagt / das wir alle sampt eyn Corper seinn / doch ein yglich glid sein eygen werck hat / da‐ mit es den andern dienet“. 629 Und ein wenig später folgen dann die bekannten Sätze: „Dan was ausz der tauff krochen ist / das mag sich rumen / das es schon priester Bischoff vnd Bapst geweyhet sey / ob wol nit einem yglichen zympt / solch ampt zu vben. Dan weyl wir alle gleich priester sein / muß sich niemant selb erfur thun / vnd sich vnterwinden / an vnszer bewilligen vnd erwelen / das zuthun / des wir alle gleychen gewalt haben […]. Drumb solt ein priester stand nit anders sein in der Christe(n)heit / dan als ein amptman / weil er am ampt ist / geht er vohr / wo ehr abgesetzt / ist ehr ein bawr odder burger wie die andern.“ 630 Der Priester hat ein Amt in der Gemeinde inne. Er unterscheidet sich von den Laien jedoch nicht durch eine unverlierbare sakramentale Weihe, einen character indelebilis (unzerstörbare Eigenschaft). Priester ist man für Luther allein durch die Verkündigung des Wortes Gottes. Das Predigtamt ist ebenso wie das Bischofsamt ein Dienst, der sich allein aus der übernommenen Funktion ergibt. Auch Christus ist um „keyns andern ampts willen / den zu predigen das wort gottis kummen“. 631 Aber warum dann ein Amt in der Gemeinde? Es ergibt sich aus der Notwendigkeit, dass die Verkündigung geordnet geschehen muss, wenn anders das Wort Gottes sein Ziel erreichen soll, den Glauben zu wecken. Das ist aber nur dann möglich, wenn nicht 6.2 Kirche als Gemeinde 185 <?page no="186"?> 632 Vgl. WA 6, 564. 633 WA 50, 633. 634 Lat.-dt. StA 3, 357 = WA 6, 566. 635 Vgl. B. Kriegbaum, Art.: Donatismus, in: RGG 4 , Bd.-2, Tübingen 1999, 939-942. Merkmale der Kirche alle zugleich reden, wenn also die Gemeinde sich Prediger wählt, die stell‐ vertretend für die Gemeinde die Funktion der Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung übernehmen. 632 So sehr Luther freilich den funktio‐ nalen Charakter des Predigtamts betont, so schließt er doch Frauen noch rigoros mit dem Argument aus, das Evangelium hebe das „natuͤrlich recht“ nicht auf, „sondern bestetigt“ es „als Gottes ordnung und geschepffe“. 633 Luthers Verständnis der Kirche als Gemeinde stellt eine Folge seiner Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche dar. Seine Kritik an der römischen Kirche ist vor allem dadurch motiviert, dass die sichtbare, äußere Kirche an die Stelle der verborgenen Gemeinschaft der Gläubigen tritt. Somit werden, wie der Reformator immer wieder betont, menschliche Traditionen und Menschengesetze mit einer Aura des Sakralen und Göttli‐ chen umkleidet und als ewige und unveränderliche Ordnungen stilisiert. Demgegenüber beharrt er darauf, dass die sichtbare Kirche, einschließlich der Ämter, eine äußerliche Institution ist, die entsprechend sich wandelnder gesellschaftlicher Lagen veränderbar ist. In dieser Form, auch das ist eine Konsequenz der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche, ist sie allerdings notwendig. Denn das Wirken des Heiligen Geistes in den Herzen der Gläubigen ist an die äußere Verkündigung gebunden. Die Priesterweihe kann dann aber nichts anderes sein als eine Beauftragung des Verkündigers durch die Gemeinde. „Und insofern ist das Sakrament der Priesterweihe, wenn es überhaupt etwas ist, nichts anderes als ein gewisser Ritus, um jemanden in den kirchlichen Dienst zu berufen. Ferner ist das Priesteramt im eigentlichen Sinne nichts anderes als der Dienst am Wort - am Wort, sage ich, nicht des Gesetzes, sondern des Evangeliums.“ 634 Entsprechend der theologia crucis ist die wahre Kirche unter dem Gegenteil verborgen: der sichtbaren Gemeinschaft. Woran erkennt man aber die Kirche? Hierauf gibt die Lehre von den notae ecclesiae, die die wahre Kirche von der falschen unterscheiden, eine Antwort. Sie wurde von Augustin in seiner Auseinandersetzung mit dem Donatismus, einer nordafrikanischen rigoristischen christlichen Sekte, 635 entwickelt. Der Bischof von Hippo nennt 186 6 Das Kirchenverständnis <?page no="187"?> 636 WA 30 (3), 342. 637 BoA 1, 339 = WA 6, 301. äußere Merkmale der Kirche vier Kennzeichen der wahren Kirche: Einheit (unitas), Heiligkeit (sancti‐ tas), Katholizität (catholicitas) und Apostolizität (apostolicitas). Die vier Merkmale behält auch die mittelalterliche Kirche als grundlegende notae ecclesiae bei. Luther hat an die Unterscheidung verschiedener Kennzeichen angeknüpft, ihnen jedoch vor dem Hintergrund seiner Neubestimmung des Kirchenbegriffs eine neue Deutung gegeben. Infolge seiner Differenzierung von ecclesia visibilis und invisibilis können die von Augustin aufgeführten Kennzeichen der Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität aller‐ dings nicht mehr auf die äußere Kirche bezogen werden. Sie kommen allein der unsichtbaren Kirche zu, die im dritten Artikel des Glaubensbekenntnis‐ ses gemeint ist. „Inn Christus wort ist sie heilig und gewis, Ausser Christus wort ist sie gewis eine jrrige, arme sunderin, doch unverdampt umb Christus willen, an den sie gleubt. Das will ich gesagt haben widder die halstarrigen rhuͤmer, die jmer plaudern: Die kirche, Die kirche, De kirche, Wissen nicht, weder was kirche, noch heiligkeit der kirchen sey, faren daruber zu und machen die kirche so heilig, das Christus druͤber mus jhr luͤgener sein, und sein wort gar nichts gelten.“ 636 Die wahre Kirche beziehungsweise die Gemeinschaft der Heiligen ist die unsichtbare, und ihr kommen die Merkmale der Heiligkeit, Einheit, Katho‐ lizität und Apostolizität zu. Sie existiert allein als Gemeinschaft der Glau‐ benden in Christi Wort im Verborgenen. Von den Kennzeichen der ecclesia invisibilis unterscheidet Luther solche der äußeren sichtbaren Kirche. Er nennt in seinem Werk unterschiedliche notae, deren Zahl einmal größer und einmal kleiner ist. Die grundlegenden äußeren Kennzeichen der Kirche, daran hat der Reformator nie einen Zweifel gelassen, sind jedoch die Ver‐ kündigung des Evangeliums und die Austeilung der Sakramente. Schon in der frühen ekklesiologischen Schrift Vom Papsttum zu Rom aus dem Jahre 1520 heißt es: „Die zeichenn / da bey man eußerlich mercken kann / wo die selb kirch in der welt ist / sein die tauff / sacrame(n)t vnd das Euange‐ lium“. 637 Wortverkündigung und die beiden Sakramente Taufe und Abend‐ mahl erscheinen in allen Aufzählungen der äußeren Merkmale der Kirche als die fundamentalsten. Denn der Glaube ist für Luther stets an das äußere, sinnlich wahrnehmbare Wort sowie das entsprechend dem Wortverständnis umgebildete Sakramentsverständnis gebunden. Unabhängig von diesen äu‐ 6.2 Kirche als Gemeinde 187 <?page no="188"?> 638 Vgl. WA 50, 628-642. 639 Vgl. W. Schwab, Entwicklung und Gestalt der Sakramentstheologie bei Martin Luther, Frankfurt a. M. 1977; D. Wendebourg, Taufe und Abendmahl, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 414-423. 640 Vgl. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem syste‐ matischen Zusammenhang, 318; Barth, Die Theologie Martin Luthers, 322-381. ßeren Zeichen kann der Glaube nicht entstehen, auch wenn er nicht durch die äußere Wortverkündigung allein hervorgebracht wird, sondern nur durch das innerliche Wirken Gottes. In seinen späten Schriften, etwa Von den Konziliis und Kirchen aus dem Jahre 1539 oder in Wider Hans Worst von 1541 nennt Luther sieben beziehungsweise elf Kennzeichen der äußeren Kirche. Diese sind in Von den Konziliis und Kirchen: 1. das Wort Gottes, 2. das Sakrament der Taufe, 3. das heilige Sakrament des Altars, 4. die Schlüs‐ selgewalt, 5. die Berufung und Ordination von Pfarrern und Bischöfen, 6. das Gebet sowie Lob und Dank gegen Gott und 7. das Erleiden von Kreuz und Anfechtungen. 638 Die notae ecclesiae unsichtbare Kirche: Einheit (unitas), Heiligkeit (sanctitas), Katholizität (catholicitas) und Apostolizität (apostolicitas) sichtbare Kirche: Wortverkündigung und die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl 6.3 Die Sakramente Luther hat sein Verständnis der Sakramente in Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Sakramentslehre auf der einen Seite und mit innerprotes‐ tantischen Kontrahenten wie den Täufern, den sogenannten ‚Schwärmern‘, also dem linken Flügel der Reformation, und den oberdeutschen Reforma‐ toren auf der anderen entwickelt und entfaltet. 639 Seine Stellungnahmen und seine den Sakramenten geltenden Schriften sind durchweg konkreten Anlässen geschuldet. Das gilt bereits für den äußeren Durchbruch der Refor‐ mation, die Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Bußsakrament in den 1517 einsetzenden Ablassstreitigkeiten. Luther hat somit keine in sich zusammenhängende allgemeine Sakramentslehre ausgeführt, sondern seine eigene Auffassung im Rückgriff auf das Neue Testament dargelegt. 640 188 6 Das Kirchenverständnis <?page no="189"?> 641 Vgl. F. Loofs, Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, Teil 2, hrsg. v. K. Aland, Halle 5 1953, 470. 642 Augustin, Die christliche Bildung (De doctrina Christiana), Stuttgart 2002, 47f. 643 Vgl. H. Jorissen, Art.: Transsubstantiation, in: LThK, Bd.-10, Freiburg i. Br./ Basel/ Wien 2009, 177-182. mittelalter‐ liches Sak‐ raments‐ verständnis Transsubstantiationslehre Die wichtigste sakramententheologische Abhandlung Luthers stellt die im Jahre 1520 erschienene reformatorische Programmschrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche) dar. In ihr untergräbt er geradezu die sakramentalen Grundlagen der mittelalterlichen Kirche und setzt an die Stelle des überkommenen Sakramentsverständnisses eine völlige Neubestimmung, in der sein Glau‐ bensverständnis zu einem scharfen Ausdruck gelangt. Die Siebenzahl der Sakramente, die zuerst bei Petrus Lombardus be‐ gegnet, 641 wurde auf dem Konzil von Florenz im Jahre 1439 dogmatisch fixiert. Die sieben Sakramente sind: Taufe, Firmung, Weihe (ordo), Ehe, Eucharistie, Buße und letzte Ölung. Bis dahin hat man dem Sakramentsbe‐ griff vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zugewendet. Grundlegend für das Sakramentsverständnis der mittelalterlichen Kirche ist Augustin. Er verwendet den Sakramentsbegriff einerseits in einem weiten Sinne für das sinnlich wahrnehmbare Zeichen (signum), das auf eine verborgene geistige, überirdische Wirklichkeit (res divinae) verweist. „Von den Zeichen also, mit denen die Menschen untereinander ihre Wahrnehmungen austauschen, beziehen sich einige auf den Sehsinn und sehr viele auf den Gehörsinn, die wenigsten auf die übrigen Sinne.“ 642 Andererseits stehen bei Augustin die heiligen Handlungen von Taufe und Eucharistie im Blickpunkt des Interesses. Der wichtigste Bestandteil des Sakraments ist das Wort, so dass es gleichsam ein sichtbares Wort ist: verbum visibile. Es konstituiert sich für Augustin durch das Hinzukommen des Wortes zum materiellen Element. „Accedit verbum ad elementum et fit sacramentum“ (Tritt das Wort zum Element, so entsteht das Sakrament). Das hohe Mittelalter hat unter dem Einfluss der Aristotelesrezeption die Sakramentslehre weitergebildet, und zwar vor allem unter Aufnahme der aristotelischen Unterscheidung von Substanz und Akzidenz. Die sich hieraus ergebende Transsubstantiationslehre wurde auf dem IV. Laterankonzil 1215 dogmatisch fixiert und als verbindlich erklärt. 643 Sie versucht, die Präsenz Christi in der Eucharistie mittels der Unterscheidung von Substanz und Akzidenz zu erläutern. Die beiden Substanzen Brot und Wein werden während der Konsekration (Wandlung bei der Eucharistie) der Elemente 6.3 Die Sakramente 189 <?page no="190"?> 644 Vgl. WA 2, 713-723. 645 Vgl. WA 2, 727-737. 646 Vgl. WA 2, 742-758. 647 Vgl. WA 6, 353-378. 648 Vgl. WA 6, 497-573. Grundle‐ gende Schriften durch den geweihten Priester annihiliert, so dass sich Brot und Wein unter Wahrung ihrer Akzidentien (Aussehen, Geschmack) in die Substanzen Leib und Blut Christi verwandeln. Auf diese Weise wiederholt der Priester in der Messe das Opfer Christi auf Golgatha, allerdings auf eine unblutige Weise. Die Transsubstantiationslehre, die schon vor Luther im späten Mittelalter umstritten war ( John Wyclif [1330-1384] und Jan Huss [um 1369-1415]), wurde auf dem Tridentinum 1551 bekräftigt. Der Wittenberger hat die Lehre zunächst infolge seines Neuverständnisses der Sakramente einer vernich‐ tenden Kritik unterzogen, jedoch später in den Abendmahlsstreitigkeiten mit Zwingli und Karlstadt die nicht weniger problematische Ubiquitätslehre an deren Stelle gesetzt. Luthers wichtigste frühe Schriften zu seinem Verständnis der Sakramente sind: ● Ein Sermon von dem Sakrament der Buße (1519) 644 ● Ein Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe (1519) 645 ● Ein Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften (1519) 646 ● Ein Sermon von dem neuen Testament, d. i. von der heiligen Messe (1520) 647 ● De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520) 648 In den drei Sermonen aus dem Jahre 1519 hat Luther die Grundgedanken seiner Deutung der Sakramente entworfen, die er dann ein Jahr später in seiner reformatorischen Programmschrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium zusammenhängend als Fundamentalkritik an der Papstkirche ausführte. Wichtige Aspekte dieser Schrift, insbesondere im Hinblick auf sein Abendmahlsverständnis, hatte er bereits zuvor, in der ebenfalls 1520 erschienenen Schrift Ein Sermon von dem neuen Testament, d. i. von der heiligen Messe skizziert. 190 6 Das Kirchenverständnis <?page no="191"?> 649 Vgl. WA 6, 568. 650 Lat.-dt. StA 3, 371 = WA 6, 572. 651 Lat.-dt. StA 3, 371 = WA 6, 572. Luthers Umbildung des Sakra‐ mentsverständnis‐ ses Luthers Verständnis der Sakramente resultiert sowohl aus seinem Glau‐ bensals auch aus seinem Schriftverständnis sowie der Christologie. Aus der Lehre von der Schrift folgt für die Sakramentslehre, dass Jesus Christus das einzige Sakrament ist. Ihm gegenüber haben die kirchlichen Handlungen lediglich den Status von signa sacramentalia (sakramentale Zeichen), die Christus repräsentieren, denen aber keine res sacra (heilige Sache) zukommt. Gleichwohl hat der Reformator an dem Begriff Sakrament beibehalten. Von einem geltenden Sakrament könne aber nur dann gesprochen werden, wenn es von Jesus Christus eingesetzt und mit ihm eine Verheißung der Sündenvergebung verbunden ist. Ihm allein stehe es zu, ein Sakrament einzusetzen. 649 Die Einsetzung der Sakramente durch Jesus Christus bildet den einen grundlegenden Aspekt von Luthers Sakramentsverständnis. Zum Sakrament gehört ihm zufolge jedoch nicht nur die göttliche Einsetzung beziehungsweise die göttliche Verheißung der Sündenvergebung, sondern ebenso konstitutiv ein sichtbares Zeichen sowie der Glaube. Sie sind Medien, genauer Medienkörper Jesu Christi. Nur dann, wenn ein biblisch bezeugtes Zeichen mit der Sündenvergebung verknüpft sei, liege ein Sakrament vor. Aus beiden Aspekten zusammen ergibt sich eine Reduktion der Siebenzahl der Sakramente auf zwei, nämlich Taufe und Abendmahl. „Daraus ergibt sich, dass es bei strenger Handhabung des Wortgebrauchs nur zwei Sakramente in der Kirche Gottes gibt: Taufe und Brot; denn nur hier sehen wir beides zugleich: von Gott gestiftete Zeichen und die Verheißung der Sündenvergebung.“ 650 Nur die Taufe und das Abendmahl sind von Christus eingesetzt und können deshalb als Sakramente in der Kirche gelten. Für die Buße, die Luther 1520 ebenfalls noch als Sakrament aufführt, gilt das, wie er am Ende der Schrift über die babylonische Gefangenschaft der Kirche schreibt, nicht. „Denn dem Bußsakrament, das ich den beiden zugestellt habe, fehlt das sichtbare und von Gott gestiftete Zeichen, und so sagte ich, dass es nichts anderes sei als Weg und Rückkehr zur Taufe.“ 651 6.3 Die Sakramente 191 <?page no="192"?> 652 StA 1, 272 = WA 2, 742. Sakrament und Glaube In diesem Sinne hat Luther bereits in dem Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams von 1519 den Begriff des Sakra‐ ments bestimmt. „Das heylige Sacrament des altars / vn(d) des heyligen waren leychna(m)s Christi / hat auch drey dingk. die ma(n) wissen muß. Das erst ist / das sacrament odder zeychen. Das ander / die bedeutung des selben sacraments / Das dritte / der glaub / der selben beyden / wie dan yn eynem yglichen sacrament / diße drey stuck seyn mußen. Das Sacrament muß eußerlich vnd sichtlich seyn / yn eyner leyplichen form odder gestalt. Die bedeutung / muß ynnerlich vnd geystlich seyn / yn dem geyst des menschen. Der glaub / muß die beyden zusamen zu nutz vnd yn den prauch bringen.“ 652 Das Sakrament umfasst für Luther drei Momente: 1. das Sakrament oder Zeichen, 2. die Bedeutung und 3. den Glauben. Letzterer verknüpft die beiden Dimensionen des äußeren Zeichens und der inneren Bedeutung zur Einheit eines Gesamtgeschehens, welches sich von dem Vollzug des Glaubens nicht lösen lässt. Hierin darf man die Pointe von Luthers Neubestimmung des Sakraments sehen. Es entsteht als ein solches allein in dem Ereignis des Glaubens und lässt sich, wie es im römischen Sakramentsverständnis der Fall ist, gerade nicht aus ihm herauslösen. Die methodische Grundlagenfunktion der theologia crucis bewährt sich auch bei seinem Sakramentsverständnis. Der Reformator konstruiert den Sakramentsbegriff entsprechend seinem Glaubensverständnis. Wie der Glaube allein durch das äußere Wort zustande kommt, so gehört auch zum Sakrament ein äußeres sinnliches Medium. Es repräsentiert die göttliche Verheißung der Sündenvergebung und ist dem Glauben zugeordnet. 192 6 Das Kirchenverständnis <?page no="193"?> 653 Lat.-dt. StA 3, 218 = WA 6, 514. 654 Lat.-dt. StA 3, 219. 655 Lat.-dt. StA 3, 225. 227 = WA 6, 517. 656 Vgl. A. Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 4: Die Taufe. Das Abendmahl, Göttingen 1993. promissio und fides „Ubi enim est verbum promittentis dei, ibi necessaria est fides acceptantis ho‐ minis, ut clarum sit, initium salutis nostrae esse fidem, quae pendeat in verbo promittentis dei, qui citra omne nost‐ rum studium, gratuita et immerita mise‐ ricordia nos praevenit, et offert promis‐ sionis suae verbum.“ 653 „Wo nämlich das Wort des verheißen‐ den Gottes ist, da braucht es den Glau‐ ben eines Menschen, der die Verhei‐ ßung annimmt. So dass klar hervortritt, dass der Anfang unserer Seligkeit der Glaube ist, der am Wort des verheißen‐ den Gottes hängt, welcher uns ganz ohne unser Bemühen in frei gewähr‐ ter und unverdienter Barmherzigkeit zuvorkommt und das Wort seiner Ver‐ heißung anbietet.“ 654 Die enge Verbindung und Verzahnung von promissio und fides, wie sie Lu‐ ther seit der Hebräerbriefvorlesung von 1517/ 18 zunehmend herausgearbei‐ tet hat, wird auch zur Grundlage seines Neuverständnisses der Sakramente. Sie sind in ihrem Kern und wahren Wesen Verheißungen, die allein dem Glauben zugeordnet sind. Nun gehen, wie er betont, die Verheißungen dem Glauben voran und sind ihm vorgeordnet. Allerdings belässt er es nicht bei einer einseitigen Vorordnung des Sakraments. Ohne den individuellen Glauben läuft nämlich das Sakrament beziehungsweise die Verheißung ins Leere. „Jeder kann doch leicht verstehen, dass dieses beides zugleich notwendig ist: die Verheißung und der Glaube. Ohne Verheißung nämlich kann man an nichts glauben. Ohne den Glauben aber ist die Verheißung nutzlos, denn durch ihn wird sie gekräftigt und erfüllt.“ 655 Ähnlich wie in der Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift kommt auch die Verheißung, obwohl sie dem Glauben wie die äußere Klarheit der Schrift vorgeordnet ist, ohne den Glauben nicht zum Ziel. Ebenso sind auch in seinem frühen Sakramentsverständnis Verheißung und Glaube zwar nicht der Genese, wohl aber der Konstitutionsfunktion nach gleichursprünglich. Ohne den Glauben ist das Sakrament ohne Nutzen. Es muss im Glauben angeeignet werden. Das gilt für die beiden Sakramente, welche Luther als schriftgemäß anerkennt, nämlich Taufe und Abendmahl. Nur sie sind von Christus eingesetzt, das heißt, dass jeweils ein sichtbares sinnliches Zeichen mit einer Verheißung verbunden durch die Schrift bezeugt ist. 656 6.3 Die Sakramente 193 <?page no="194"?> 657 WA 30 (1), 309 = BSLK, 515. 658 Lat.-dt. StA 3, 271 = WA 6, 533; vgl. WA 2, 733. 659 StA 1, 260 = WA 2, 727. Bedeutung der Taufe 6.3.1 Taufe Luther findet die neutestamentliche Einsetzung der Taufe in dem Taufbefehl Mt 28,19: „Drum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes“. Diese Stelle verknüpft er mit Mk 16,16: „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.“ Der Kombination beider Stellen entnimmt er den Verheißungscharakter der Taufe und versteht sie als göttliche Zusage der Sündenvergebung. Die promissio ist verbunden mit dem sinnlichen Medium des Wassers. Im Katechismus sagt Luther, die Taufe „ist das wasser ynn Gottes gebot gefasset und mit Gottes wort verbunden“. 657 Den übergeordneten Gesichtspunkt der Taufe bildet das göttliche Verheißungswort der Sündenvergebung. Es ist jedoch strikt dem Glauben zugeordnet: nur denjenigen, die dem göttlichen Verheißungswort auch wirklich glauben, ist die Taufe von Nutzen. „Man kann nämlich nicht glauben, wenn keine Verheißung da ist; und die Verheißung kann sich nicht halten, wenn sie nicht geglaubt wird. Erst wenn beide wechselseitig wirken, verschaffen sie den Sakramenten ihre wahre und ganz sichere Wirksamkeit.“ 658 Die Taufe steht, wie Luther geradezu selbstverständlich mit der Tradition annimmt, am Anfang des christlichen Lebens, aber durch ihre Zuordnung zu dem Glauben ist sie auf das gesamte Leben der Christen bezogen. Dieser Aspekt, der ihre Dauer in den Vordergrund rückt, resultiert aus der Bedeutung der Taufe. Schon in dem frühen Taufsermon von 1519 schreibt Luther: „Die bedeutung ist / eyn seliglich sterbenn der sund / vnd aufferstheung yn gna‐ den gottis / das der alt mensch / der yn sunden empfangen wirt vnd geporen / do erseufft wirt / vn(d) ein newer mensch erauß geht vnd auff steht / yn gnaden geporen.“ 659 Ebenso versteht er in der Schrift über die babylonische Gefangenschaft der Kirche die Taufe als ein Sterben und Auferstehen mit Christus. Ein Verständnis der Taufe als Reinigung von den Sünden ist in seinen Augen viel zu schwach, um ihren Gehalt angemessen zum Ausdruck zu bringen. 194 6 Das Kirchenverständnis <?page no="195"?> 660 Lat.-dt. StA 3, 272 = WA 6, 534. 661 Lat.-dt. StA 3, 273. 662 Vgl. WA 6, 534; WA 2, 728. „Quod ergo baptismo tribuitur a pecca‐ tis, vere quidem tribuitur, sed lentior et mollior est significatio, quam ut bap‐ tismum exprimat, qui potius mortis et resurrectionis symbolum est.“ 660 „Wenn also der Taufe die Sündenab‐ waschung zugeschrieben wird, so ist das zwar richtig, aber diese Bedeutung ist doch zu wenig treffsicher und zupa‐ ckend, als dass sie den Sinn der Taufe recht ausdrücken könnte, die doch viel eher das Sinnbild für Tod und Auferste‐ hung ist.“ 661 Sie bedeutet vielmehr das Sterben des Sünders und dessen Auferstehung. Dadurch gewinnt Luther die Möglichkeit, die Taufe als einen lebenslangen Prozess zu verstehen, in dem der innere Mensch den äußeren sich gleichge‐ staltet. Jener Prozess der geistlichen Taufe währt nicht nur das ganze Leben, also so lange, wie der Mensch in einem leiblichen Körper lebt, sondern er kommt erst im letzten Gericht zur Vollendung. 662 Die geistliche Taufe realisiert sich im Leben des Glaubenden einerseits im Vertrauen auf die göttliche Zusage und anderseits in der Herrschaft des inneren Menschen über das Fleisch. Anders als für die dogmatische Lehrtradition, die seit Augustin mit dem Sakrament der Taufe die Auslöschung der Erbsünde verbindet, ist Luther der Auffassung, diese bleibe auch in den Getauften bestehen. Die Verheißung ist die übergeordnete Dimension des Sakraments der Taufe, und ihr entspricht allein der Glaube als Vollzug der Einzelnen. Die darin angelegte Hoffnungsdimension gehört konstitutiv zum Glauben hinzu und stellt eine Folge der theologia crucis dar. In sein Verständnis der Taufe hat Luther die Hoffnungsdimension derart aufgenommen, dass der dem Verheißungswort entsprechende Glaube gleichsam gegen den Augenschein bereits das Ganze des christlichen Heils im Gottesverhältnis darstellt. Durch ihre grundlegende Stellung ist die Taufe dem Bußsakrament übergeordnet, und deshalb versteht Luther die Buße als eine Rückkehr zur Taufe und ihrer unverbrüchlichen Verheißung. 6.3.2 Abendmahl Ebenso wie die Taufe bestimmt Luther auch das Sakrament des Abendmahls in der Relation von promissio und fides. Die biblische Einsetzung des 6.3 Die Sakramente 195 <?page no="196"?> 663 Lat.-dt. StA 3, 193 = WA 6, 504. 664 Lat.-dt. StA 3, 228 = WA 6, 518. 665 Lat.-dt. StA 3, 229. 666 Vgl. WA 6, 517f. Bedeutung des Abend‐ mahls Abendmahls in beiderlei Gestalt ist für den Wittenberger Reformator durch die Abendmahlsberichte in den vier Evangelien sowie durch das 11. Kapitel des ersten Korintherbriefs von Paulus belegt. In den Abendmahlsschriften der Jahre 1519 und 1520 liegt der Akzent bei Luther darauf, dass dieses Sakrament von Christus zur Sündenvergebung „für euch“ 663 eingesetzt wurde und noch nicht, wie in der späteren Auseinandersetzung mit Karlstadt und Zwingli, auf dem wörtlichen Verständnis der Einsetzungsworte des Abendmahls: „Das ist mein Leib“. Auch das Sakrament des Abendmahls hat eine triadische Struktur, wobei die Relation von promissio und fides den übergeordneten Rahmen bildet, wie Luther in der Schrift über die babylonische Gefangenschaft der Kirche hervorhebt. „Atque ut maior vis sita est in verbo quam signo, ita maior in testamento quam sacramento, Quia potest homo verbum seu testamentum habere et eo uti, absque signo seu sacramento. Crede, inquit Augustinus et mandu‐ casti, Sed cui creditur, nisi verbo pro‐ mittentis? Ita possum quotidie, immo omni hora, Missam habere, dum quo‐ ties voluero, possum verba Christi mihi proponere, et fidem meam in illis alere et roborare. hoc est revera, spiritualiter manducare et bibere.“ 664 „Und wie dem Wort größere Kraft in‐ newohnt als dem Zeichen, so wohnt dem Testament größere Kraft inne als dem Sakrament; denn es ist ja möglich, dass ein Mensch das Wort oder das Tes‐ tament hat und Gebrauch davon macht ohne das Zeichen oder das Sakrament. ‚Glaube‘, sagt Augustin, ‚und du hast ge‐ gessen! ‘ Aber worauf richtet sich denn der Glaube, wenn nicht auf das Wort dessen, der die Verheißung ausspricht? Und so kann ich jeden Tag, ja stündlich Messe feiern, indem ich mir, sooft ich möchte, die Worte Christi vor Augen führen und meinen Glauben durch sie nähren und stärken kann. Und das heißt in Wahrheit ‚geistlich essen und trin‐ ken‘.“ 665 Obwohl Zeichen oder Sakrament in der zitierten Stelle deutlich hinter das Wort zurücktreten, so ist doch auch das Verheißungswort stets durch das sinnliche Medium des äußeren Lauts vermittelt. Das von Gott eingesetzte Zeichen oder Sakrament seiner Verheißung ist beim Abendmahl Christi Leib und Blut in Brot und Wein. 666 Brot und Wein, also die Zeichen, sind jedoch nur in dem die Verheißung der Sündenvergebung ergreifenden Glauben 196 6 Das Kirchenverständnis <?page no="197"?> 667 Lat.-dt. StA 3, 209 = WA 6, 510. 668 Vgl. WA 11, 431-456. 669 Vgl. WA 18, 62-125. 134-214. 670 Vgl. WA 23, 64-283. 671 Vgl. WA 26, 261-509. Weiterbil‐ dung der Abend‐ mahlsan‐ schauung in den 1520er Jah‐ ren wichtige Schriften Sakramente und lassen sich aus diesem Geschehenszusammenhang nicht herauslösen. Vor dem Hintergrund seines Verständnisses des Sakraments ist Luther zunächst nicht an der Frage interessiert, wie aus Brot und Wein Leib und Blut Christi werden können, und erklärt diese Frage für religiösen „Vor‐ witz“. „Ist es denn nötig, Gottes Wirkungsweisen gänzlich zu begreifen? “ 667 Vielmehr sollen beim Abendmahl die Sünder die ihnen zugesagte göttliche Sündenvergebung im Glauben ergreifen. Das schließt freilich die Erkenntnis und Anerkenntnis des eigenen Sünderseins vor Gott ein. Als solcher soll der Mensch die ihm verheißene Sündenvergebung annehmen und auf sie ver‐ trauen. So ist der Glaube auch beim Abendmahl die entscheidende Dimen‐ sion, ohne die die unwandelbare göttliche Verheißung, obwohl sie dem Glauben des Einzelnen vorangeht, ins Leere läuft und nutzlos ist. In den 1520er Jahren kommt es zu einer Umformung der frühen Sakra‐ mentsanschauung, insbesondere des Abendmahls. Die leibliche Gestalt der Sakramente sowie ihr Gnadenmittelcharakter rücken nun in den Vorder‐ grund. Wichtigste Texte zum Verständnis des Abendmahls hat Luther in seiner Auseinandersetzung mit den Schweizer und Oberdeutschen Refor‐ matoren verfasst. ● Vom Anbeten des Sakraments des heiligen Leichnams Christi (1523) 668 ● Wider die himmlischen Propheten von den Bildern und Sakrament (1524/ 25) 669 ● Daß diese Worte ‚das ist mein Leib etc.‘ noch fest stehen (1527) 670 ● Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis (1528) 671 Luthers Verständnis des Abendmahls zielt auf die leibliche Realpräsenz Jesu Christi im Sakrament. „Ist das nu wahr und unwidersprechlich nach dem Glauben, daß die Gottheit in Christo auf Erden wesentlich, persönlich, selbs gegenwärtig ist an soviel Orten, und doch zugleich im Himmel bei dem Vater, so folget daraus, daß er zugleich 6.3 Die Sakramente 197 <?page no="198"?> 672 WA 23, 139, zitiert hach Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 34. 673 Vgl. Steiger, Die communicatio idiomatum als Achse und Motor der Theologie Luthers, 1-28. Kritik am römischkatholi‐ schen Ver‐ ständnis Kritik an Zwingli allenthalben ist, und wesentlich, persönlich Himmel und Erde und alles erfülle mit seiner eigen Natur und Majestät.“ 672 Die Deutung der vollen leiblichen Gegenwart Christi im Abendmahl durch den Wittenberger Reformator unterscheidet sich sowohl von dem römisch-katholischen Messopferverständnis als auch von Zwingli. Luthers Abendmahlsauffassung stellt eine Konsequenz seiner mit der Schriftlehre sowie dem Glaubensverständnis verzahnten Christologie dar (vgl. oben 4.2). Der Lehre von der communicatio idiomatum zufolge hat die menschliche Natur Jesu Christi Anteil an den Majestätseigenschaften der göttlichen. 673 Das ist die Voraussetzung für die Auffassung, dass Christus in den Elementen des Abendmahls Brot und Wein real präsent sei. Auch die römisch-katholische Lehre behauptet die reale Gegenwart Christi in der Eucharistie. Sie kommt allerdings allein durch die Vermittlung eines geweihten Priesters zustande. Er wandelt die Elemente in Leib und Blut Christi. Luther hat der altgläubigen Auffassung vehement widersprochen und darauf insistiert, dass es das Wort Christi allein sei, welches sich im Abendmahl vergegenwärtigt. Es ist nicht der geweihte Priester, der die Elemente wandelt. Hieraus resultiert das Interesse des Wittenbergers an den Einsetzungsworten - „Das ist mein Leib“ und „Das ist mein Blut“. Sie zielen auf den Glauben der Einzelnen, in denen Christus sich ins Herz bildet. Während Luther mit dem römisch-katholischen Eucharistieverständnis an der Realpräsenz Christi festhält, sie jedoch anders konzipiert, identifi‐ ziert er im Abendmahlsverständnis Zwinglis eine Intellektualisierung und Spiritualisierung. Zwingli und die Oberdeutschen Reformatoren haben, mit Bezug auf die Auffassung des Wittenbergers bis 1520, das Abendmahl als ein Erinnerungsmahl verstanden. Die Elemente, Brot und Wein, sind nicht Leib und Blut Christi, wohl aber bedeuten sie Letzteres. Hinter ihrer Lehre steht eine Christologie, welche göttliche und menschliche Natur in Christus trennt beziehungsweise die Unterschiede der beiden Naturen hervorhebt. Luther betont demgegenüber die Einheit der Person Jesu Christi sowie die wechselseitige Anteilhabe der beiden Naturen untereinander, die communicatio idiomatum. Seine Anschauung führt zu einer neuen Sprache des Glaubens, wenn von Christus die Rede ist. Die Eigenschaften der menschlichen Natur sind von der göttlichen und die Eigenschaften der 198 6 Das Kirchenverständnis <?page no="199"?> 674 WA 23, 138, zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 35. 675 StA 4, 87 f. = WA 26, 327. 676 Vgl. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systema‐ tischen Zusammenhang, 247 f.; H. Hilgenfeld, Mittelalterlich-traditionelle Elemente in Luthers Abendmahlsschriften, Zürich 1971; C. Henschen, Erniedrigung Gottes und des Menschen Erhöhung. Eine systematisch-theologische Studie zu Luthers Abendmahls‐ lehre nach der Schrift Daß diese Worte Christi ‚Das ist mein leib‘ noch stehen fest (1527), Frankfurt a.-M. 2010, 77-79. Allgegen‐ wart Christi göttlichen Natur von der menschlichen auszusagen: Gott ist dieser Mensch, und dieser Mensch ist Gott. Das zieht die für das Abendmahlsverständnis relevante Konsequenz nach sich, vom auferstandenen Jesus Christus auch seine ganze Menschheit zu behaupten. Diese hat Anteil an dem göttlichen Prädikat der Allpräsenz, und das bereits seit ihrer Vereinigung mit dem Logos in dessen Menschwerdung. „Sie [sc. die Schwarmgeister] bekennen, daß Christus sei zur rechten Hand Gotts, und damit wollen sie gewonnen haben, daß er nicht sei im Abendmahl. […] Wohlan sehet und höret uns zu. Christus’ Leib ist zur Rechten Gotts, das ist bekannt. Die Rechte Gotts ist aber an allen Enden, […] so ist sie gewißlich auch im Brot und Wein über Tische. Wo nun die rechte Hand Gotts ist, da muß Christus Leib und Blut sein. Denn die rechte Hand Gotts ist nicht zerteilet in viel Stücke, sondern ein einiges einfältiges Wesen. […] Wo und was Gotts Rechte ist und heißt, da ist Christus des Menschen Sohn.“ 674 Die Allgegenwart Jesu Christi meint freilich ebenso wenig wie die Gottes einen gegenständlich fixierbaren Ort. Der erhöhte Christus ist nicht nur im Himmel, wie für Zwingli, er ist überall (ubiquitär). Luther unterscheidet in seiner Abendmahlsschrift von 1528 im Anschluss an die spätmittelalterliche Diskussion drei Weisen, „an eim ort zu sein / Localiter odder circumscrip‐ tiue / Diffinitiue / Repletiue“. 675 Während die erste Art der Präsenz eine räumliche Anwesenheit eines Gegenstands meint, zielt die zweite auf eine Gegenwart der Seele im Körper. 676 Der Wittenberger hingegen versteht das Gegebensein des erhöhten menschlichen Leibs Christi repletive (erfüllend, unbegrenzt). „Zum dritten / ist ein ding an o(e)rten Repletiue / vbernatu(e)rlich / das ist / wenn etwas zugleich gantz vnd gar / an allen o(e)rten ist vnd alle o(e)rte fullet / vnd doch von keinem ort abgemessen vnd begriffen wird nach dem raum des orts / da es ist. Diese weise wird allein Gotte zu geeignet […]. Diese weise 6.3 Die Sakramente 199 <?page no="200"?> 677 StA 4, 89 f. = WA 26, 329. 678 Lat.-dt. StA 3, 372 = WA 6, 572. 679 Lat.-dt. StA 3, 373. 680 Vgl. WA 2, 728. Zusam‐ menhang von Taufe und Abend‐ mahl ist vber alle mas vber vnser vernunfft vnbegreifflich / vnd mus allein mit dem glauben ym wort behalten werden.“ 677 Das Insistieren auf der leiblichen Gegenwart Christi im Abendmahl, in den Elementen Brot und Wein, die bleiben, was sie sind, stellt eine Konsequenz der lutherischen Christologie dar. Christologie und Glaubensgerechtigkeit stehen in einem engen Zusammenhang. Wie die Glaubensgerechtigkeit als eine Selbstvergegenwärtigung Christi im Glauben des Einzelnen verstanden werden muss, so auch das Abendmahl: in ihm vergegenwärtigt Christus sich selbst in den Elementen Brot und Wein. Luther bezieht die beiden Sakramente derart auf das christliche Leben, dass die Taufe dem Anfang und das Abendmahl dem Ende des Lebens zugeordnet wird. „Baptismus autem, quem toti vitae tri‐ buimus. Recte pro omnibus sacramen‐ tis satis erit, quibus in vita uti debea‐ mus. Panis autem vere morientium et excedentium sacramentum. Siquidem in eo transitum Christi ex hoc mondo memoramur, ut ipsum imitemur, et sic distribuamus haec duo sacramenta, ut baptismus initio et totius vitae cursui, panis autem termino et morti depute‐ tur.“ 678 „Die Taufe aber, die wir dem ganzen Leben zueignen, wird mit gutem Recht alle Sakramente, die wir im Leben ge‐ brauchen sollen, aufwiegen. Das Brot aber ist ernstlich das Sakrament für die Sterbenden und von der Welt Abschied Nehmenden; wir erinnern uns dabei ja an den Übergang und Abschied Christi aus dieser Welt, um ihm nachzufolgen. Und so sollten wir diese beiden Sakra‐ mente so aufteilen, dass die Taufe dem Beginn und dem ganzen Verlauf des Le‐ bens, das Brot jedoch dem Lebensende und dem Tode zugeordnet wird.“ 679 Beide Sakramente verweisen nun aber noch dahingehend aufeinander, dass die Taufe ja nichts anderes als das Sterben des Fleisches bedeutet. 680 Insofern repräsentieren beide Sakramente einen inneren Zusammenhang, der das ganze Leben des Christen umgreift. Denn die Bedeutung der Taufe kann nicht anders im Leben der Glaubenden realisiert werden, als dass sie von dieser Welt absterben. Eben das nimmt Luthers Bestimmung des Abendmahls auf, wenn es dem Abschied von diesem Leben und damit der Vollendung der Taufe zugeordnet wird. Seine Reformulierung des Sakra‐ 200 6 Das Kirchenverständnis <?page no="201"?> 681 Vgl. WA 11, 245-280. 682 Vgl. WA 10 (3), 371-385; vgl. WA 7, 36f. 683 Vgl. Barth, Die Theologie Martin Luthers, 422-460; E. Herms, Leben in der Welt, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 423-435; M. Honecker, Thesen zur Aporie der Zweireichelehre, in: ZThK 78 (1981), 128-140; H.-H. Schrey (Hrsg.), Reich Gottes und Reich der Welt. Die Lehre von den zwei Reichen, Darmstadt 1969; J. Heckel, Im Irrgarten der Zwei-Reiche-Lehre. Zwei Abhandlungen zum Reichs- und Kirchenbegriff Martin Luthers, München 1957; K. Holl, Luther und das landesherrliche wichtige Texte mentsverständnisses auf der Folie der von ihm vorgenommenen Zuordnung von promissio und fides als ein Wechselverhältnis, in dem das Ganze des christlichen Heils im Gottesverhältnis beschlossen ist, besticht durch ihre eindrucksvolle systematische Geschlossenheit. 6.4 Geistliches und weltliches Regiment Infolge seines neuen, reformatorischen Verständnisses des Glaubens als einer Gabe Gottes hat Luther einen Kirchenbegriff ausgearbeitet, der vollständig mit dem mittelalterlichen Verständnis der Kirche bricht. Die methodische Grundlage von seinem Kirchenbegriff und der für ihn signifikanten Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche bildet die theologia crucis. Die wahren Glaubenden leben in dieser Welt verborgen in Einheit mit Jesus Christus, der allein in ihren Herzen regiert. Zwar ist die wahre Kirche unsichtbar, aber zugleich ist sie auf die sichtbare Gemeinde bezogen, da der Glaube nur durch die Verkündigung des Evangeliums und die Austeilung der Sakramente zustande kommt. Doch die sichtbare Kirche existiert immer in der Welt und ihren politischen Ordnungen und Struktu‐ ren. Die Zuordnung und Unterscheidung der Kirche vom weltlichen Regi‐ ment hat Luther in einer Reihe von Schriften thematisiert, deren wichtigste die Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung aus dem Jahre 1520 sowie der drei Jahre später publizierte Traktat Von der weltlichen Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei 681 darstellen. Zentrale Aspekte seiner Distinktion von Reich Christi und weltlicher Obrigkeit behandeln auch seine in der Schlosskirche zu Weimar am 24. und 25. Oktober 1522 gehaltenen Predigten. 682 Die in beiden Schriften ausgeführte Unterscheidung von zwei Regimenten oder Reichen hat man im 20.-Jahrhundert Zwei-Reiche-Lehre genannt und in ihr einen Grundzug lu‐ therischer Sozialethik erblickt. 683 Allerdings stellt der Begriff Zwei-Rei‐ che-Lehre keine Selbstbezeichnung des Luthertums dar. Er stammt von Karl 6.4 Geistliches und weltliches Regiment 201 <?page no="202"?> Kirchenregiment, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 6 1932, 326-380. 684 Vgl. K. Barth, Rezension von P. Althaus, Religiöser Sozialismus. Grundfragen der christlichen Sozialethik (Gütersloh 1921), in: Das Neue Werk 4 (1922), 461-472. ND in: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1, hrsg. v. J. Moltmann, München 1972, 152-165. 685 Vgl. V. Mantey, Zwei Schwerter - Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, Tübingen 2005, 233-245. 686 Vgl. E. Kinder, Gottesreich und Weltreich bei Augustin und bei Luther. Erwägungen zu einem Vergleich der „Zwei-Reiche-Lehre“ Augustins und Luthers, in: H.-H. Schrey (Hrsg.), Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen, Darmstadt 1969, 40-69. 687 Vgl. Mantey, Zwei Schwerter - Zwei Reiche, 14-155. politische Ethik der mittelalter‐ lichen Kir‐ che Barth. 684 Um den Grundgedanken der genannten Unterscheidung soll es im Folgenden zum Abschluss der Darstellung von Luthers Kirchenverständnis gehen. Der Wittenberger Theologe hat selbst keine in sich geschlossene po‐ litische Ethik ausgearbeitet, wie der Titel Zwei-Reiche-Lehre suggeriert. Er hat sich ausschließlich zu konkreten Situationen geäußert und in diesem Rahmen Reflexionen zum Verhältnis seines innerlichkeitsbezogenen Kir‐ chenverständnisses zu den politischen Strukturen vorgelegt. So reagiert er mit seiner Obrigkeitsschrift von 1523 auf einen konkreten Anlass, nämlich das von bayerischen Herzögen sowie Kurfürst Joachim I. von Brandenburg (1484-1535) und Herzog Georg von Sachsen (1471-1539) am 7. November 1522 erlassene Verbot, seine Übersetzung des Neuen Testaments zu verkau‐ fen und zu kaufen. 685 Die Unterscheidung von zwei Reichen oder Regimenten geht auf Augus‐ tin zurück. 686 In seinem bekannten Werk De civitate Dei aus den Jahren 413-426 differenziert er zwischen einer civitas Dei und einer civitas terrena, dem Reich Gottes und dem Reich der Welt. Mit seinem Werk hat Augustin als erster Theologe das Verhältnis von Kirche und politischer Ordnung reflektiert und die Grundlage für die politische Ethik des Christentums gelegt. Dabei identifiziert er das Gottesreich mit der Kirche und hebt es von der politischen Herrschaft ab. Das politische Denken des Mittelalters hat die augustinische Unterscheidung weitergeführt und in zahllosen Kontroversen die durch das Papsttum repräsentierte civitas Dei dem Kaiser als dem Repräsentanten der civitas terrena übergeordnet. 687 Luther knüpft an diese Traditionen der beiden Reiche an, wobei freilich unklar ist, wie weit seine Kenntnis der politischen und ekklesiologischen 202 6 Das Kirchenverständnis <?page no="203"?> 688 Vgl. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem syste‐ matischen Zusammenhang, 337; H. Bornkamm, Luthers Lehre von den zwei Reichen im Zusammenhang seiner Theologie, in: H.-H. Schrey (Hrsg.), Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen, Darmstadt 1969, 165-195, hier 179-188; R. Schwarz, Luthers Lehre von den drei Ständen und die drei Dimensionen der Ethik, in: LuJ 45 (1978), 15-34. biblische Aussagen zu den bei‐ den Regi‐ mentern Theorien des Mittelalters überhaupt reicht. 688 Seine Unterscheidung der beiden Regimente stellt eine Konsequenz seines Verständnisses der Kirche dar und verbindet es mit dem Grundgedanken seiner Ethik, seinem Ver‐ ständnis der guten Werke. Aus der durch die Stichworte ‚sichtbare und unsichtbare Kirche‘ einerseits und ‚gute Werke‘ andererseits angedeuteten Problemperspektive der politischen Ethik Luthers resultiert eine gegenüber Augustin und der mittelalterlichen Kirche völlig andersartige Zuordnung und Unterscheidung der beiden Reiche, die in einigen ihrer Bestandteile durchaus moderne Aspekte enthält, auch wenn sie bei ihm als solche freilich noch nicht zum Tragen kommen. Mit seiner Differenzierung der beiden Reiche bezieht sich Luther sowohl auf Aussagen der Bibel als auch auf Konsequenzen seines Glaubensverständnisses. Was zunächst die biblischen Stellen betrifft, so ist es vor allem Röm 13,1f.: „Eine jede Seele sei der Gewalt und Obrigkeit untertan; denn es ist keine Gewalt, die nicht von Gott wäre. Die Gewalt aber, die überall besteht, die ist von Gott verordnet. Wer nun der Gewalt widersteht, der widersteht Gottes Ordnung. Wer aber Gottes Ordnung widersteht, der wird für sich selbst die Verdammung erlangen.“ In der zitierten Stelle aus dem Römerbrief wird die politische Ordnung als eine gottgewollte herausgestellt. Den Gedanken einer göttlich gewollten Obrigkeit einschließlich der mit ihr verbundenen Zwangs- und Durchset‐ zungsgewalt entnimmt Luther auch anderen Schriftstellen wie Ex 21,14 und Mt 26,52. Daneben finden sich allerdings auch Aussagen in der Schrift, welche Gewalt und Gewaltanwendung untersagen. So steht in Mt 5,38f.: „Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt ist: ‚Ein Auge um ein Auge, einen Zahn um einen Zahn.‘ Ich aber sage euch, man soll keinem Übel widerstehen, sondern so dich jemand auf den rechten Backen streicht, dem halte auch den andern dar; und 6.4 Geistliches und weltliches Regiment 203 <?page no="204"?> 689 Vgl. Mühlen, Art.: Evangelische Räte, 1721-1723. 690 Vgl. WA 10 (3), 377. 691 Vgl. WA 11, 249. Luthers Zu‐ ordnung der Schrift‐ aussagen wer mit dir rechten will, dass er dir den Rock nehme, dem laß auch den Mantel dazu; und wer dich eine Meile zu gehen zwingt, mit dem gehe zwei Meilen.“ Andere Stellen, auf die Luther regelmäßig hinweist, in denen eine strikte Gewaltlosigkeit oder der Ausschluss jeglicher Gewalt ausgesagt wird, sind Röm 12,19; Mt 5,44 und 1Petr 3,9. Die angeführten sich widersprechenden Schriftaussagen werfen die Frage auf, wie sie in einen Zusammenhang gebracht werden können. Wie ver‐ hält sich die göttlich legitimierte Gewaltanwendung zu der doch ebenso göttlichen Forderung der strikten Gewaltlosigkeit? Von der theologischen Tradition wurde dieses Problem bis in das hohe Mittelalter so gelöst, dass sie die christlichen Sittlichkeitsgebote in praecepta (Vorschriften) und consilia evangelica (evangelische Räte; frei zu wählende Mittel der Vollkommenheit) unterschied. 689 Während die praecepta für die große Masse der Christen gelten und eine gewissermaßen ermäßigte Ethik enthielten, galten die consilia, die verschärften evangelischen Räte, nur für den besonderen Stand der Vollkommenen, also der Mönche und Nonnen. Sie realisieren stellver‐ tretend für die Menge der Kirchenmitglieder die strengen Anforderungen der Bergpredigt und leben eine strikte Gewaltlosigkeit. Luther kann die sich widersprechenden Schriftaussagen zur Gewalt nicht wie die mittelalterliche Sittlichkeit durch eine bloße Verteilung auf unterschiedliche Stände auflösen. Das ist durch sein Glaubensverständnis, welches keinen besonderen Stand mehr kennt, ausgeschlossen. 690 Der wahre Glaube und damit die Vollkommenheit liegen im Inneren des Menschen, nämlich allein in der Erkenntnis des Herzens, und nicht in äußerlichen Ständen. 691 Andernfalls wäre der Glaube von den Werken abhängig gemacht. Folglich müssen die Worte Christi für alle und allgemein gelten, und zwar sowohl die, die von der göttlichen Legitimität der Gewalt als auch die, die vom gewaltlosen Ertragen des Leidens und der Gewalt reden. Wie ordnet Luther die sich widersprechenden Haltungen der Schrift zur Obrigkeit und ihrer Gewaltausübung einander zu, und was versteht er unter den beiden Regimenten? In seiner Obrigkeitsschrift erklärt er: „Darumb muß man diese beyde regime(n)t mit vleyß scheyden vn(d) beydes bleybe(n) lassen / Eyns das frum macht / Das ander das eußerlich frid schaffe vnd 204 6 Das Kirchenverständnis <?page no="205"?> 692 StA 3, 41 = WA 11, 252. 693 StA 3, 40 = WA 11, 251f. Reich Christi weltliches Regiment bo(e)sen wercken weret / keyns is on das ander gnu(o)g yn(n) der wellt / Denn on Christus geystlich regiment / kann niemant frum werde(n) fur got / durchs welltlich regiment / So gehet Christus regiment nicht vber alle menschen / sondern allezeyt ist der Christen am wenigsten vnd sind mitten vnter den vnchristen.“ 692 Der Reformator unterscheidet zwei Regimenter: ein geistliches und ein weltliches. Das Reich Christi bezieht sich ausschließlich auf die wahren Christen, die mit der unsichtbaren Kirche identisch sind. Hier herrscht Christus allein, und sein Regiment ist strikt auf die Innerlichkeitsdimension des Glaubens bezogen. Christen sind aber nicht nur innere Menschen, son‐ dern in diesem Leben immer auch äußere Menschen, die in den Ordnungen und Strukturen dieser Welt leben. Dieser Dimension ordnet Luther das welt‐ liche Regiment zu. Soweit stellt die Unterscheidung und Zuordnung der beiden Regimenter eine Konsequenz seines Glaubensverständnisses sowie der mit diesem verbundenen Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen beziehungsweise in der ekklesiologischen Dimension von un‐ sichtbarer und sichtbarer Kirche dar. Christus regiert im Herzen der Gläu‐ bigen, und die Innerlichkeit des Glaubens ist nachdrücklich von der Sphäre des Äußeren, der des Handelns, unterschieden. Allerdings kann es bei der Unterscheidung und also beim Nebeneinander der beiden Dimensionen des geistlichen und des weltlichen Reichs nicht sein Bewenden haben, da die Christen, wie Luther ja zugleich betont, nicht nur innere Menschen sind, sondern immer in einem Leib und in Sozialbeziehungen leben. Wäre der Mensch nur innerer Mensch, oder wären alle Menschen Christen, dann würde es freilich der weltlichen Herrschaft und der Schwertgewalt, welche das Recht durchsetzt, nicht bedürfen. Das ist jedoch nicht der Fall, und der Christen sind wenige auf dieser Welt. Sie leben, wie der Wittenberger in der Obrigkeitsschrift sagt, „fern von eynander“. 693 Beide Reiche muss es Luther zufolge deshalb geben, weil nur die allerwe‐ nigsten wahre Christen sind. Das weltliche Regiment und die Schwertgewalt beziehen sich allein auf die Bösen und die Übeltäter, und sie machen stets die Mehrheit aus. Sie müssen durch das äußere Recht und die Schwertgewalt im Zaum gehalten werden. Die Christen hingegen bedürfen weder der Schwertgewalt noch des Rechts. 6.4 Geistliches und weltliches Regiment 205 <?page no="206"?> 694 StA 3, 38 = WA 11, 250. 695 Lat.-dt. StA 2, 82 = WA 2, 151. 696 Lat.-dt. StA 2, 83. „Darumb ists vnmu(e)glich / das vnter den Christen sollte welltlich schwerd vn(d) recht zu(o) schaffen finden / Syntemal sie viel mehr thun von yhn selbs / denn alle recht vnnd lere foddern mu(e)gen / Gleych wie Paulus sagt 1. Timo 1. Dem gerechte(n) ist keyn gesetz geben / sondern den vngerechten.“ 694 Wie Luther schreibt, folgen aus dem Glauben unmittelbar nur gute Werke. Glaubende sind wie der gute Baum, der keiner Aufforderung oder Andro‐ hung rechtlicher Sanktionen bedarf, um gute Früchte hervorzubringen (vgl. oben 5.4). Wahre Christen nehmen aber auch alles Unrecht und alles Leiden hin. Leiden, Anfechtung und Verfolgung sind für den Reformator geradezu die paradigmatischen Bedingungen, unter denen die Glaubenden in der Welt existieren. Dieser Gedanke findet sich durchgängig in seiner Beschreibung des christlichen Lebens. So schreibt er in dem frühen Sermon über die zweifache Gerechtigkeit aus dem Jahre 1519, in dem er am Ende auf die Unterscheidung von weltlicher Gewalt und Christenstand zu sprechen kommt: „Alii sunt qui non cupiunt vindictam, immo parati sunt (secundum Euange‐ lium) Tollenti pallium et tunicam dare, et non resistunt ulli malo. Hii sunt filii dei, fratres Christi, haeredes futurorum bonorum.“ 695 „Die anderen sind, die keine Rache be‐ gehren, die vielmehr bereit sind, (dem Evangelium gemäß) dem, der den Rock nimmt, auch noch den Mantel zu geben, und sie widerstehen keinem Übel. Das sind die Kinder Gottes, Brüder Christi, die Erben der zukünftigen Güter.“ 696 Die wahren Christen, die die wenigsten sind, leben ihre durch Christus erworbene königliche Freiheit so, und nur so, dass sie sich in selbstloser Liebe an den Nächsten hingeben, und zwar ausschließlich ihm zu Dienste und zu Nutze. Genau hier liegt nun der systematische Anknüpfungspunkt für Luther, an dem er geistliches und weltliches Regiment miteinander verzahnt. Für sich selbst sollen die Glaubenden alles Unrecht erdulden, und sie brauchen auch weder das Recht noch die weltliche Gewalt. Aber für ihre Nächsten sind sie verantwortlich. Zum Nutzen und Dienst am Nächsten sollen auch sie zum Schwert greifen und notfalls als Henker tätig sein. Für sich selbst bedürfen sie dessen freilich nicht, sondern ausschließlich als Liebesdienst am Nächsten. 206 6 Das Kirchenverständnis <?page no="207"?> 697 StA 3, 43 f. = WA 11, 254f. 698 WA 10 (3), 381. 699 Vgl. WA 11, 250. Glaubens‐ verständnis und die bei‐ den Reiche „Da ist das ander stu(e)ck / d(aß) du dem schwerd zu(o) dienen schuldig bist / vn(d) fodern sollt / wo mit du kanst / es sey mit leyb / gu(o)t / ehre / vn(d) seele / Den(n) es ist eyn werck / des du nichts bedarffest / aber gantz nutz vn(d) nott aller wellt vn(d) deynem nehisten. Darumb wenn du sehest / das am hen‐ ger / bo(e)ttell / richter / herrn / oder fursten mangellt / vn(d) du dich geschickt fundest / solltistu dich datzu erbieten vnd darumb werben / auff das iah die no(e)ttige gewallt nicht veracht vnd matt wu(e)rde oder vntergienge. Denn die wellt kann vnnd mag yhr nicht geratten.“ 697 Luthers Gedanke folgt konsequent aus seinem Glaubensverständnis und der mit ihm verbundenen Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen. Die Welt kann nicht mit dem Evangelium regiert werden, und zwar deshalb nicht, weil es sich allein auf die Innendimension des Glaubens bezieht. Da der Glaube nur individuell zustande kommt, so kann er nicht allgemein sein. Deshalb ist die weltliche Gewalt notwendig, welche die Ord‐ nung aufrechterhält, die Übeltaten der Bösen eindämmt und die Verkündi‐ gung der Kirche ermöglicht. An der Ordnung der Welt und ihrer Gestaltung mitzuwirken, sind auch die Christen, die immer in Sozialverhältnissen leben, zwar nicht um ihrer selbst willen, wohl aber um ihres Nächsten willen, verpflichtet. Andernfalls würden sich die Menschen in einem gleichsam Hobbe’schen (Thomas Hobbes, 1588-1679) Krieg aller gegen alle vernichten und einer den anderen „fressen“. 698 Die Notwendigkeit des Staats und seiner Jurisdiktionsgewalt wird von Luther als Folge des Sündenfalls verstanden. 699 Um die Sünde und ihre boshaften Folgen äußerlich einzudämmen, ist die Obrigkeit in dieser Welt geradezu notwendig und von Gott eingesetzt, so dass auch die Schwertgewalt göttlich legitimiert ist. Die politische Ordnung bezieht sich freilich allein auf das äußere Zusam‐ menleben der Menschen. Und hierin darf nun die entscheidende Pointe von Luthers Unterscheidung der beiden Reiche erblickt werden, die geradezu moderne Konsequenzen enthält. Glaubende existieren immer in beiden Reichen. Das Verbindungsglied zwischen ihnen liegt in ihrer notwendigen Leibgebundenheit und in der christlichen Liebespflicht gegenüber ihren Nächsten. Die dienstbare Knechtschaft gegenüber dem Nächsten, die die Christen womöglich zur Übernahme und Durchführung der Schwertgewalt verpflichtet, gehört allein in die Realisierungsdimension des Glaubens 6.4 Geistliches und weltliches Regiment 207 <?page no="208"?> 700 StA 3, 51 f. = WA 11, 262. und hat keinen Einfluss auf das Gottesverhältnis. Die Unterscheidung der beiden Reiche resultiert aus der Grunddistinktion von göttlichem und menschlichem Handeln. Das Handeln des Staats und die weltliche Gewalt, so notwendig sie zur Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung sind, sind ausschließlich auf die Außendimension bezogen. „Das welltlich regiment hatt gesetz / die sich nicht weytter strecken / denn vber leyb vnd gu(o)tt / vnd was eußerlich ist auff erden. Denn vber die seele kan vnd will Gott niemant lassen regirn / denn sich selbs alleyne. Darumb wo welltlich gewallt sich vermisset / der seelen gesetz zu(o) geben / do greyfft sie Gott ynn seyn regiment / vnd verfuret vn(d) verderbet nur die seelen.“ 700 Die Dimension der Innerlichkeit, das Gewissen des Menschen, ist der staatli‐ chen Gewalt entzogen. Hier regiert Gott allein. Wo sich die weltliche Gewalt anmaßt, über die Gewissen zu regieren, da maßt sie sich verwerflicher Weise die Stelle Gottes an, die ihr nicht zusteht. Umgekehrt kann freilich auch die Welt nicht durch das geistliche Regiment regiert werden. Es bezieht sich auf die Innendimension des Glaubens. Damit ist in der politischen Ethik, wie sie Luther skizziert, auf der einen Seite der Gewissensfreiheit ihr grundsätzliches Recht eingeräumt und auf der anderen Seite jeder Form von Theokratie und Gesinnungsterror der Riegel vorgeschoben. 208 6 Das Kirchenverständnis <?page no="209"?> 701 Vgl. U. Asendorf, Eschatologie bei Luther, Göttingen 1967; Althaus, Die Theologie Martin Luthers, 339-354; P. Bühler, Kreuz und Eschatologie. Eine Auseinandersetzung mit der politischen Theologie, im Anschluß an Luthers theologia crucis, Tübingen 1981, 260-285; Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, 345-356; N. Slenczka, Christliche Hoffnung, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 435-443; Barth, Die Theologie Martin Luthers, 490-512. 7 Die Eschatologie Die Gedanken an Tod und letztes Gericht spielen eine zentrale Rolle im Denken Martin Luthers. Bereits sein Eintritt ins Kloster im Jahre 1505 war durch den Gedanken des letzten Gerichts und die Frage, wie er in ihm bestehen könne, motiviert. Und wenn man seine theologia crucis in den Blick nimmt, dann zeigt sich der Hoffnungsaspekt als geradezu konstitu‐ tiv für seine gesamte Theologie. Es verwundert dann auch nicht, wenn aufgrund der Verschränkung von fides und promissio die Hoffnung eine wesentliche Dimension seines Glaubensbegriffs repräsentiert. Die Eschato‐ logie stellt damit alles andere als ein Randthema im Werk Luthers dar, sondern sie bildet einen grundlegenden Bestandteil seines theologischen Denkens insgesamt. 701 Blickt man in seine Schriften und seine Ausführungen zu dem Thema der letzten Dinge (de novissimis), so muss man zweierlei allerdings festhalten: Zum einen findet sich im Gesamtwerk des Reformators keine ausgeführte Eschatologie. Der Begriff de novissimis wurde auch erst im 17. Jahrhundert im Anschluss an Sirach 7,36 („in omnia operibus tuis memorare novissimis tua et in aeternum non peccabis“) geprägt als Zusammenfassung der theologisch-dogmatischen Behandlung der letzten Dinge: Tod des Menschen, Auferstehung, letztes Gericht, endgültige Vorse‐ hung, also ewiges Leben und ewige Verdammnis. Luther kommt in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf eschatologische Gedanken und die christliche Hoffnung zu sprechen. Hieraus resultieren verschiedene Anmerkungen zum Ende aller Dinge und zum endgültigen Schicksal des Menschen. Zum anderen hat er die ihm überkommenen Lehraussagen zur Eschatologie übernommen. So schreibt er in seinem der Schrift Vom Abendmahl Christi angefügten Bekenntnis von 1528: „Am letzten gleube ich die aufferstehung aller todten am Iu(e)nsten tage / beyde der frumen vnd bo(e)sen / das ein iglicher daselbs empfahe an seinem leibe / wie <?page no="210"?> 702 StA 4, 256 = WA 26, 509. Vgl. Seils, Die Sache Luthers, 64-80. ers verdienet hat / Vnd also die frumen ewiglich leben mit Christo / vnd die bo(e)sen ewiglich sterben mit dem teuffel vnd seinen engeln / Denn ichs nicht halte mit denen / so da leren / das die teuffel auch werden endlich zur seligkeit komen.“ 702 Luther nimmt in seinem Bekenntnis die überlieferten eschatologischen Aus‐ sagen auf, nämlich die Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag, das Gericht mit seinem doppelten Ausgang (ewiges Leben und ewige Verdammnis) sowie die Ablehnung der Lehre von der apokatastasis panton, der Wieder‐ bringung aller. In dieser Form hat er die Inhalte der christlichen Hoffnung sowohl der Schrift als auch der theologischen Lehrtradition entnommen. Die christliche Hoffnung bezieht sich auf eine Zukunft und hat bestimmte Inhalte. Zwar läuft in seinen Schriften der realistisch-objektive Rahmen der überlieferten Vorstellung vom Ende aller Dinge durchgängig mit, aber im Zentrum werden die apokalyptischen Bilder als Bestandteile des christlichen Selbstverständnisses umgeformt, so dass der Wittenberger Reformator die sich in der Dialektik von Gesetz und Evangelium vollziehende Heilserfah‐ rung schon als das ewige Leben verstehen kann. Zunächst ist unter dem Titel Tod und jüngstes Gericht auf die individuelle Eschatologie einzugehen, also auf das ewige Schicksal des Einzelnen, und im Anschluss daran auf die universale Eschatologie. In der Geschichte des Luthertums stand die individuelle Eschatologie stärker im Blickpunkt des Interesses als die universale. 7.1 Tod und jüngstes Gericht Tod und letztes Gericht spielen als Hintergrund und Grundlage in Luthers Theologie eine entscheidende Rolle. Er knüpft an den mittelalterlichen Vorstellungshorizont vom letzten Gericht mit seinem doppelten Ausgang an. Generell geht es hier um die Frage, wie der Mensch in diesem Gericht vor Gott bestehen könne. Luthers Antwort, die ihm in seiner theologi‐ schen Entwicklung immer stärker deutlich wurde, lautet: nicht durch sein Handeln, sondern allein durch den Glauben an Gottes Verheißungswort. Infolge seines neuen Verständnisses des Glaubens formte sich ihm auch die ihm überkommene Lehre von der individuellen Eschatologie um. Er rekonstruiert sie entsprechend der Struktur seines Glaubensverständnisses. 210 7 Die Eschatologie <?page no="211"?> 703 Slenczka, Christliche Hoffnung, 440. 704 StA 2, 530 = WA 10 (3), 1 f.; vgl. WA 10 (2), 23. 705 Vgl. WA 10 (3), 76. Vgl. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, 347; P. Althaus, Unsterblichkeit und ewiges Sterben bei Luther. Zur Auseinandersetzung mit Carl Stange, Gütersloh 1930. 706 WA 10 (3), 76. Vgl. P. Althaus, Luthers Gedanken über die letzten Dinge, in: LuJ 23 (1941), 9-34, hier 11-22. 707 WA 10 (3), 191. Tod des Menschen „Wie der Christ im Glauben zugleich in sich und außerhalb seiner selbst in Christus ist und auf genau diese Weise selbst der Ort der Gegenwart Christi ist, so ist er in der Hoffnung zugleich in der Gegenwart und in der Zukunft und ist dabei selbst der Ort der Gegenwart der Zukunft.“ 703 Christen leben als innere Menschen durch Christus in Gott und als äußere Menschen in dieser Welt. Dieser Grundstruktur, die eine Konsequenz seiner theologia crucis darstellt, folgen sowohl seine Individualals auch seine Universaleschatologie. Luther fokussiert die christliche Hoffnung auf den einzelnen Menschen und seinen unvertretbaren Glauben. Prägnant schreibt er gleich zu Beginn der ersten Invokavit-Predigt von 1522: „WJr seindt allsampt zu(o) dem tod gefodert / vnd wirt keyner für den andern sterben. Sonder ein yglicher in eygner person für sich mit dem todt kempffen. In die oren künden wir woll schreyen. Aber ein yglicher mu(o)ß für sich selber geschickt sein in d(er) zeyt des todts / ich würd denn nit bey dir sein / noch du bey mir. Hiejin(n) so muß ein yederman selber die hauptstück so einen Christen belange(n) / wol wissen vnd gerüst sein“. 704 Den Tod des Menschen versteht der Reformator mit der Lehrtradition als eine Scheidung von Leib und unsterblicher Seele. 705 Im Tod des Menschen zerfällt das sündhafte Fleisch des Leibs. In ihm kommt die Bedeutung des Sakraments der Taufe zum Ziel. Folglich soll der Christ den Tod in der Hoffnung hinnehmen, endgültig von der Sünde befreit zu werden. Für den Glaubenden ist er keine Strafe mehr. „Also der todt der vorhyn ain straff der sünd was, der ist yetzund ain artzeney der sünd. Also hie ist er gebenedeyt, das geschicht nu, wenn wir willig sterben.“ 706 Den Tod selbst beschreibt der Reformator als einen Schlaf. Die Glaubenden schlafen nach ihrem Tod im „schoß Abraham[s]“, 707 wie Luther das Wort Gottes metaphorisch umschreibt, wo ihre Seelen bis zum jüngsten Tag „ynn Christus schoß 7.1 Tod und jüngstes Gericht 211 <?page no="212"?> 708 WA 10 (3), 192. 709 WA 10 (3), 192. 710 Vgl. WA 10 (3), 193. 711 LD 2, 33 = WA 1, 534. 712 Vgl. WA 1, 243 (These 16). 713 Vgl. Hirsch, Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, 135-142; Slenczka, Christli‐ che Hoffnung, 436. Gewissen, Himmel und Hölle gefasset und bewahret werden“. 708 Die Bösen wiederum sind nach ihrem Tod nicht im Wort Gottes aufbewahrt. Ihre Leiber sind wie die der Gläubigen in der Erde begraben, aber ihr Zustand unterscheidet sich von den Letzteren, wie Luther in seiner Predigt über Lk 16,19 vom 22. Juni 1522 am Beispiel des reichen Mannes ausführt. „Denn des reychen leychnam ist on zweyffel nicht ynn die helle, ßondern ynn die erden begraben. Es muß aber eyn ortt seyn, da die seele seyn kann unnd keyne ruge hatt, der selbe kan nicht leyplich seyn. Darumb achten wyr, dieße helle sey das böße gewissen, das on glawbe und Gottis wort ist, ynn wilchem die seele vergraben ist unnd verfasset biß an iungsten tag, da der mensch mit leyb und seele ynn die rechte leypliche helle verstossen wirtt.“ 709 Die Scheidung vom Wort Gottes sind das böse Gewissen und die Hölle. 710 Bereits in den Ablassthesen hatte Luther die überlieferten Vorstellungen von Fegefeuer (purgatorium), Hölle und Himmel auf das Gewissen des Menschen bezogen. Auch in den Resolutionen zu den Ablassthesen verzahnte er die überlieferten Jenseitsvorstellungen geradezu mit seinem Verständnis des Gewissens. „Viertens: zum mindestens die Strafe des Todes steht allen bevor wie auch die Angst vor dem Tode. Sie ist gewiß die Strafe über alle Strafen und für die meisten schwerer selbst als der Tod - ganz zu schweigen von der Furcht vor dem Jüngsten Gericht und der Hölle, von der Gewissensangst usw.“ 711 Hölle, Fegefeuer und Himmel entsprechen dem verzweifelten Gewissen, der sich annähernden Verzweiflung und dem fröhlichen Gewissen. 712 Luther versteht das Gewissen als den Ort des Jüngsten Gerichts, der Hölle und des ewigen Lebens. Mit dieser Reformulierung der ihm überkommenen eschato‐ logischen Aussagen geht der Wittenberger Theologe weit über die Tradition hinaus und versteht die apokalyptisch-eschatologischen Darlegungen als Beschreibungsformen des Gewissens der Einzelnen in einer Totalitäts- und Unbedingtheitsdimension. 713 212 7 Die Eschatologie <?page no="213"?> 714 Vgl. WA 7, 149. 451. 453. 715 Vgl. WA 30 (2), 367-390. 716 BSLK, 420. 443. 717 Lat.-dt. StA 2, 7 = WA 1, 235 (These 40); vgl. WA 1, 238 (These 94). 718 Vgl. E. Hirsch, Das Wesen des reformatorischen Christentums, Waltrop 2000, 166f. Kritik an der Fege‐ feuervor‐ stellung Gewissen und letztes Gericht Die mittelalterliche Vorstellung vom Fegefeuer hatte der Reformator zunächst noch beibehalten. Er kritisierte allerdings die gängige Praxis der Seelenmessen und Ablässe für die Verstorbenen und erachtete das purgato‐ rium aufgrund fehlender Schriftbelege nicht für einen Glaubensartikel. 714 Später jedoch, in der polemischen Schrift Widerruf vom Fegfeuer 715 aus dem Jahre 1530 und in den Schmalkaldischen Artikeln von 1536/ 38, verwirft er die Annahme eines Fegefeuers als Teufelsgespenst und Abgötterei. „Drumb ist Fegfeuer mit allem Gepränge, Gottesdienst und Gewerbe fur ein lauter Teufelsgespenst zu achten; denn es ist auch wider den Häuptartikel, daß allein Christus und nicht Menschenwerk den Seelen helfen soll, ohn daß sonst auch uns nichts von den Toten befohlen noch gepoten ist“. „Zuletzt rumpelt er [sc. der Papst] auch ins Fegfeuer unter die Toten, erstlich mit Messen- und Vigilienstiften, [zuletzt und] darnach mit dem Ablaß [mit Bullen] und dem Guldenjahr, und wurden endlich die Seelen so wohlfeil, daß er eine umb ein Schwertgroschen losgab.“ 716 Wenn der Glaube bereits das Ganze des christlichen Heils darstellt und dieses allein in dem Geschehen der Lebensbuße zustande kommt, dann kann die Vorstellung von einem postmortalen Strafbeziehungsweise Läuterungsort, an dem bisher ungesühnte Bußleistungen für lässliche Sündenstrafen abge‐ golten werden, nur noch eine widersprüchliche Vorstellung sein. Wahre Glaubende fliehen nicht vor der Strafe, die von Gott kommt. Sie nehmen sie dankbar hin. „Wahre Reue sucht und liebt die Strafen; der Reichtum der Ablässe aber befreit von ihnen und führt dazu, die Strafen - zumindest bei Gelegenheit - zu hassen.“ 717 Wenn aber die Glaubenden die Strafe Gottes suchen, so können sie unmöglich wollen, sie werde ihnen im purgatorium irgendwie abgekürzt oder erleichtert. 718 Auch wenn Luther den überkommenen Rahmen der Eschatologie beibe‐ hält, so liegt doch der Akzent auf einem Verständnis der individualeschato‐ logischen Aussagen als Selbstbeurteilungsformen des frommen Subjekts. Seine Deutung des letzten Gerichts folgt ganz seiner innerlichkeitsbezoge‐ nen Reformulierung der eschatologischen Gehalte. Eine geradezu klassische Deutung des jüngsten Gerichts findet sich in der Römerbriefvorlesung. 7.1 Tod und jüngstes Gericht 213 <?page no="214"?> 719 WA 56, 203f. 720 Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516, Bd.-1, 115. 721 Holl, Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit beson‐ derer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit, 111-154. Bei seiner Erläuterung von Röm 2,15 („Als die das beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihren Herzen“) kommt er auf die überlieferten Vorstellungen zu sprechen. Hier schreibt er: „Ideo et Deus secundum easdem omnes Iudicabit et reuelabit intima nostra, ita vt introrsum et intimius fugiendi non sit locus. Sed necessario nuda erunt omni‐ bus et aperta, Vt si diceret Deus: Ecce ego te non Iudico, Sed tuo de te Iudicio assentior et confirmo, cum aliter tuipse de te non possis Iudicare, ideo neque ego. Ergo tuis testibus cogitationibus et conscientia dignus es Vel celo vel inferno.“ 719 „So wird auch Gott alle Menschen nach diesen ihren innersten Gedanken rich‐ ten, wird unser Innerstes enthüllen, so, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, sich nach innen in noch geheimere Schlupfwinkel zu flüchten; sondern es wird unausweichlich vor aller Augen entblößt und offen daliegen, wie wenn Gott sagen wollte: Siehe, ich richte dich nicht, sondern ich stimme nur deinem Urteil über dich selber zu und bekräftige es. Weil du anders über dich selbst nicht urteilen kannst, darum kann’s auch ich nicht tun. Also verdienst du nach dem Zeugnis deiner eigenen Gedanken und deines Gewissens entweder den Him‐ mel oder die Hölle.“ 720 Der Gedanke des letzten Gerichts wird, wie die zitierte Stelle unterstreicht, aller Äußerlichkeit, wie sie in der mittelalterlichen Frömmigkeit ihren Ausdruck fand, entkleidet und strikt auf die Innendimension des Gewissens bezogen. 721 Das letzte Gericht symbolisiert für Luther die vollständige Selbsterkenntnis des Menschen, und Gottes Urteil über den Einzelnen ist im Grund nichts anderes als seine Zustimmung zu dem, was jeder Mensch selbst erkennt, wenn die innersten Beweggründe seines Handelns ihm offen zutage liegen. 214 7 Die Eschatologie <?page no="215"?> 722 Vgl. Korsch, Martin Luther, 132-149; A. Wiemer, „Mein Trost, Kampf und Sieg ist Christus“. Martin Luthers eschatologische Theologie nach seinen Reihenpredigten über 1. Kor. 15 (1532/ 33), Berlin/ New York 2003, 166-215. 723 BoA 7, 307 = WA 36, 571. 724 Vgl. Althaus, Luthers Gedanken über die letzten Dinge, 30. 725 Vgl. WA 36, 304. Vgl. Wiemer, „Mein Trost, Kampf und Sieg ist Christus“, 157-159; G. Ebeling, Des Todes Tod. Luthers Theologie in der Konfrontation mit dem Tod, in: ZThK 84 (1987), 162-194, hier 178. 726 Vgl. WA 2, 749; WA 7, 30. 727 BoA 7, 306 = WA 36, 569. Vgl. Althaus, Luthers Gedanken über die letzten Dinge, 14-17. 728 Vgl. WA 18, 685. Vgl. Hermann, Beobachtungen zu Luthers Lehre vom Deus revelatus, 279-281. 729 Vgl. WA 2, 429f. Papsttum und Anti‐ christ 7.2 Das Ende aller Dinge Nicht nur der Einzelne geht dem Ende entgegen, sondern auch die gesamte Welt. 722 Gott wird sie „zustoren“. 723 Apokalyptische Endzeitdeutungen durchziehen das ganze Werk Luthers, auch wenn ihr Stellenwert für sein Selbstverständnis in der Forschung umstritten ist. Unbestreitbar ist, dass er immer wieder die überlieferte Figur der nahenden Endzeit zur Gegenwarts‐ deutung herangezogen hat. 724 Das jüngste Gericht stehe unmittelbar bevor. 725 In der Entstehung des Glaubens in der Dialektik von Gesetz und Evangelium ereignet es sich schon in diesem Leben, aber vollständig wird die Sünde erst am jüngsten Tag vertilgt. 726 „Hoc regnum, quod iam absconditum, ist eben, quod postea erit“ (Dieses Reich, das schon verborgen da ist, ist dasselbe, welches hernach sein wird). 727 Die wahre Kirche ist in der Welt verborgen und dem Leiden sowie der Anfechtung ausgesetzt. Dem zum Gericht wie‐ derkehrenden Christus geht nach dem zweiten Thessalonicherbrief (2Thess 2,3f.) die Herrschaft des Antichristen voran. Seine Merkmale bestehen in der Erhebung über Gott und sein Wort, 728 die auf dessen Ersetzung durch menschliche Lehren und Satzungen zielt. Seit 1519 erblickte der Reformator den genannten Grundzug des Antichristen im römischen Papsttum. 729 Es setze, so der immer wiederkehrende Tenor seiner Aussagen, aus purem Machtinteresse menschliche Lehren an die Stelle des Wortes Gottes und maße sich verwerflicher Weise an, die einzig legitime Instanz der rechten Schriftauslegung zu sein. „Dies Stuck zeigt gewaltiglich, daß er [sc. der Papst] der rechte Endechrist oder Widerchrist sei, der sich uber und wider Christum gesetzt und erhohet, weil er will die Christen nicht lassen selig sein ohn seine Gewalt, welche doch nichts 7.2 Das Ende aller Dinge 215 <?page no="216"?> 730 BSLK, 430 f.; vgl. WA 53, 394. 731 BoA 8, 43 = WA. TR 1, 135, Nr. 330. Vgl. Raeder, Luther und die Türken, 224-231; T. Kaufmann, „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation, Göttingen 2008. 732 Vgl. WA 51, 585-625. 733 WA 7, 469. Ende der Welt ist, von Gott nicht geordent noch geboten. Das heißt eigentlich, ‚uber Gott und wider Gott sich setzen‘, wie S. Paulus sagt. [Nein] Solchs tut dennoch der Turke noch Tatter nicht, wie große Feinde sie der Christen sind, sondern lassen gläuben an Christum, wer da will, und nehmen leiblichen Zins und Gehorsam von den Christen.“ 730 Der Reformator identifizierte allerdings nicht nur das römische Papsttum mit dem der Wiederkunft Christi vorangehenden Antichristen, sondern mitunter auch die seit den 1520er Jahren in Richtung Wien vorrückenden Türken. „Der Papst ist der Geist des Antichrist, und der Türke ist das Fleisch des Antichrist. Sie helfen einander [beim] Töten, dieser leiblich mit dem Schwert, jener durch die Leute und geistlich.“ 731 Luther kann freilich auch in den Türken das Strafgericht Gottes erblicken und sich gegen einen Kreuzzug gegen sie wenden, so in seiner Schrift Vermahnung zum Gebet wider die Türken. 732 Wenn mit der akuter werdenden Bedrohung des christlichen Abendlands durch die Türken wirklich das Ende der Welt naht, dann macht ein Krieg gegen sie nur wenig Sinn. Mit dem Ende der Welt kommt auch das des osmanischen Reichs. Wiewohl der Wittenberger Theologe davon überzeugt war, dass diese Welt, ebenso wie das Fleisch des Menschen, vergehen muss, so hat er sich stets dagegen gewandt, den Zeitpunkt des Endes der Welt zu bestimmen. Wäre damit doch die Perspektive religiöser Selbstbeurteilung verlassen. Vielmehr soll der Christ gerade auch angesichts seiner Leiden in dieser Welt ausharren und darauf vertrauen, dass Gott sein fremdes Werk zu seinem eigentlichen Werk hinführen wird. „Die tausend jar muͤssen anfahen, da dis Buch [sc. die Offenbarung Johannes] ist gemacht, denn der Tuͤrck ist aller erst nach tausend jaren komen, In des sind die Christen blieben, vnd haben regiert, on des Teuffels dank. Aber nu wil der Tuͤrck dem Bapst zu huͤlffe komen, vnd die Christen ausrotten, weil nichts helffen wil.“ 733 Das Erscheinen des Antichristen ist das Zeichen der unmittelbar bevorste‐ henden Wiederkunft Christi und des damit verbundenen Endes der Welt. 216 7 Die Eschatologie <?page no="217"?> 734 BoA 7, 305 = WA 36, 568. 735 WA 36, 568; zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 265. Vgl. Wiemer, „Mein Trost, Kampf und Sieg ist Christus“, 152-170. 736 BoA 7, 306 f. = WA 36, 570; zitiert nach E. Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 266. „Nos expectamus eius adventum, quando veniet, et nos resurgemus cum ipso. ‚Darnach.‘ Ubi hoc factum, ubi resurrecturus, est ende. Da hin zeigt als scriptura, quod sol auffhoren das welt‐ lich leben, der leidige Teufel cum suo regimine und als weltlich regiment und als geistliche empter. Et sol das gesche‐ hen, quod deus vult herr sein, et nos filii, et eius regnum anfahen, et nunquam finem habebit, quia jhens leben non sic ordinatur ut dis, ut Christum.“ 734 „Wir erwarten seine Wiederkunft, wann er kommen wird und wir mit ihm aufer‐ stehen werden. Darnach das Ende. Wo das geschehen ist, wo er wiederkommt, ist das Ende. Dahin zeigt alle Schrift, daß aufhören soll das weltliche Leben, der leidige Teufel mit seinem Regiment, und alles weltliche Regiment, und alle geist‐ liche Ämter. Und soll das geschehen, daß Gott will Herr sein und wir seine Kinder sind, und sein Reich wird anfa‐ hen und nimmermehr ein Ende haben, denn jenes Leben ist anders geordnet denn dies, wie Christus (Matth 22,30) sagt.“ 735 Die Welt vergeht und mit ihr ihre politischen und geistlichen Ordnungen. Wenn Christus am Ende dem Vater sein Reich übergibt (1Kor 15,24), dann wird, so deutet es der Reformator, er den „fidem beseit thun et suos stellen coram patre und setzen aperte in regnum, ut deum et Christum videant in sua maiestate an verbo, fide, auffs aller clerst“ (Glauben beiseit tun und die Seinen stellen vor Gott und offen ins Reich setzen, daß sie Gott und Christus sehen in seiner Majestät, ohn’ Wort und Glaube, aufs Allerklarste). 736 Auch Luthers universale Eschatologie setzt dessen theologia crucis als methodische Grundlage voraus. Der Glaube richtet sich nicht nur auf das Unsichtbare, sondern er lebt auch aus ihm. So ist ebenso wie die christliche Existenz auch die Welt eingespannt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die mit dem Glauben verbundene Hoffnungsstruktur - die aus dem extra nos und dem in nos resultiert - erweitert sich auf diese Weise vom Glauben der Einzelnen zu einer Totaldimension, welche die Erwartung einer neuen Kreatur einschließt. 7.2 Das Ende aller Dinge 217 <?page no="219"?> Bibliografie 1 Quellen Luther, M., Werke. Kritische Gesamtausgabe. Schriften, Weimar 1883-2009. Luther, M., Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden, Weimar 1912-1921. Luther, M., Werke. Kritische Gesamtausgabe. Deutsche Bibel, Weimar 1906ff. Luther, M., Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel, Weimar 1930ff. Luther, M., Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers. Texte und Untersuchungen, hrsg. im Auftrag der Kommission zur Herausgabe der Werke Martin Luthers, Köln 1981ff. Luther, M., Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 16, hrsg. v. J. Ficker, Leipzig 1908. Luther, M., Werke in Auswahl, 8 Bde., hrsg. v. O. Clemen, Bonn 1912 ff. ND Berlin 1955ff. Luther, M., Ausgewählte Werke, 6 Bde., hrsg. v. H.H. Borcherdt, München 2 1938. Luther, M., Ausgewählte Werke. Ergänzungsreihe, 7 Bde., hrsg. v. H.H. Borcherdt, München 2 1934ff. Luther, M., Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 1516. Lateinisch-deutsche Ausgabe, 2. Bde., Weimar 1960. Luther, M., Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, 10 Bde., hrsg. v. K. Aland, Göttingen 2 1981. 4 1991. Luther, M., Ausgewählte Schriften, 6 Bde., hrsg. v. K. Bornkamm/ G. Ebeling, Frank‐ furt a.-M. 1982. Luther, M., Studienausgabe, 6 Bde., hrsg. v. H.-U. Delius, Berlin 1980-1999. Luther, M., Lateinisch-deutsche Studienausgabe, 3 Bde., hrsg. v. W. Härle/ J. Schil‐ ling/ G. Wartenberg, Leipzig 2006-2009. Luther, M., Deutsch-deutsche Studienausgabe, 3 Bde., hrsg. v. J. Schilling mit A. Beutel/ D. Korsch/ N. Slenczka/ H. Zschoch, Leipzig 2012-2016. 2 Hilfsmittel Aland, K., Hilfsbuch zum Lutherstudium, Witten 4 1996. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 9 1982. Beutel, A. (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005. <?page no="220"?> Hirsch, E., Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformato‐ ren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937. Lutherjahrbuch. Organ der internationalen Lutherforschung, hrsg. im Auftrag der Luther-Gesellschaft, Göttingen 1926ff. Rieger, R., Martin Luthers theologische Grundbegriffe. Von „Abendmahl“ bis „Zwei‐ fel“, Tübingen 2017. Scheel, O. (Hrsg.), Dokumente zu Luthers Entwicklung, Tübingen 2 1929. 3 Biographien Beutel, A., Martin Luther. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Leipzig 2 2006. Boehmer, H., Der junge Luther, Leipzig 1925. 4 1951. Brecht, M., Martin Luther, 3 Bde., Stuttgart 1981-1987. Leppin, V., Martin Luther, Darmstadt 2006. Scheel, O., Martin Luther, 2. Bde., Tübingen 3 1921/ 4 1930. Schilling, H., Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 4 2016. 4 Gesamtdarstellungen der Theologie Luthers Althaus, P., Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 2 1963. Asendorf, U., Die Theologie Martin Luthers nach seinen Predigten, Göttingen 1988. Barth, H.-M., Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009. Bayer, O., Vernunft und Vertrauen. Zur Grundorientierung lutherischer Theologie, Berlin/ Boston 2022. Bayer, O., Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003. Ebeling, G., Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964. Gogarten, F., Luthers Theologie, Tübingen 1967. Harnack, T., Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlösungslehre, 2 Bde., Erlangen 1862/ 1886. Hermann, R., Luthers Theologie, in: ders., Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd.-1, hrsg. v. H. Beintker, Göttingen 1967. Iwand, H.-J., Luthers Theologie. Nachgelassene Werke, Bd.-5, hrsg. v. J. Haar, München 3 2000. Korsch, D., Martin Luther. Eine Einführung, Tübingen 2 2007. 220 Bibliografie <?page no="221"?> Köstlin, J., Luthers Theologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem inneren Zusammenhange, 2 Bde., Stuttgart 1863. 2 1901 (ND Darmstadt 1968). Lohse, B., Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995. Maurer, E., Luther, Freiburg i. Br. 1999. McGrath, A.E., Luther’s Theology of the Cross. Martin Luther’s Theological Breakthrough, Oxford 1990. Pesch, O.H., Hinführung zu Luther, Mainz 2004. Ringleben, J., Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her, Tübingen 2010. Schwarz, R., Luther, Göttingen 3 2004. Seeberg, E., Luthers Theologie in ihren Grundzügen, Stuttgart 1940. Seeberg, E., Luthers Theologie. Motive und Ideen, Bd. I: Die Gottesanschauung, Göttingen 1929; Bd. II: Christus. Wirklichkeit und Urbild, Stuttgart 1939. Seeberg, R., Die Lehre Luthers (= Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. IV/ 1), Leipzig 3 1917. Steinmetz, D.C., Luther in Context, Grand Rapids 1995. Walter, J. v., Die Theologie Luthers, Gütersloh 1940. 5 Einleitung / Forschungsüberblicke Assel, H. (Hrsg.), Karl Holl. Leben - Werk - Briefe, Tübingen 2021. Assel, H., Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance - Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910-1935), Göttingen 1994. Barth, R., Systematische Lutherdeutung in der liberalen Theologie, in: ZNThG 16 (2009), 58-74. Barth, U., Das gebrochene Verhältnis zur Reformation. Bemerkungen zur Lu‐ ther-Deutung Albrecht Ritschls, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübin‐ gen 2004, 125-148. Bauer, J., Luther und seine klassischen Erben. Theologische Aufsätze und Forschun‐ gen, Tübingen 1993. Bell, T., Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, Mainz 1993. Beyer, M., Lutherausgaben, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 2-8. Beyer, M./ Wartenberg, G. (Hrsg.), Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anläßlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997. FS Helmar Junghans, Leipzig 1996. 5 Einleitung / Forschungsüberblicke 221 <?page no="222"?> Bizer, E., Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen 1958. 3 1966. Boehmer, H., Luther im Lichte der neueren Forschung, Leipzig 3 1914. Bornkamm, H., Luther. Gestalt und Wirkung. Gesammelte Aufsätze, Gütersloh 1975. Bornkamm, H., Luthers geistige Welt, Gütersloh 1959. Danz, C., Martin Luther (Neue Wege der Forschung), Darmstadt 2015. Danz, C./ Leonhardt, R. (Hrsg.), Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezep‐ tion von der Aufklärung bis zum 20.-Jahrhundert, Berlin/ New York 2008. Denifle, F.H.S., Luther und Luthertum in der ersten Entwickelung quellenmäßig dargestellt, 2 Bde., Mainz 2 1904/ 1909. Dierken, J., ‚Protestantisches Prinzip‘. Religionsphilosophische Implikationen ei‐ ner geschichtsphilosophischen Denkfigur Hegels, in: ders., Selbstbewußtsein individueller Freiheit. Religionstheoretische Erkundungen in protestantischer Perspektive, Tübingen 2005, 259-280. Dingel I. (Hrsg.), Justus Jonas (1493-1555) und seine Bedeutung für die Wittenberger Reformation, Leipzig 2009. Dingel I. (Hrsg.), Nikolaus von Amsdorf (1483-1565). Zwischen Reformation und Politik, Leipzig 2008. Dingel, I./ Kohnle, A. (Hrsg.), Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformer Europas, Leipzig 2011. Dingel, I./ Wartenberg, G. (Hrsg.), Georg Major (1502-1574). Ein Theologe der Wittenberger Reformation, Leipzig 2005. Dingel, I./ Wartenberg, G. (Hrsg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. Beiträge zur 500. Wiederkehr des Gründungsjahres der Leucorea, Leipzig 2002. Ebeling, G., Lutherstudien, 3 Bde., Tübingen 1971-1989. Ebeling, G., Luthers Auslegung des 14. (15.) Psalms in der ersten Psalmenvorlesung im Vergleich mit der exegetischen Tradition, in: Lutherstudien, Bd.-1, Tübingen 1971, 132-195. Grane, L., Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie, Leiden 1975. Grisar, H., Luther, 3 Bde., Freiburg i. Br. 1911/ 12. Harnack, A. v., Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd.-3: Die Entwicklung des kirchlichen Dogmas II/ III, Darmstadt 1964. Hegel, G.W.F., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, hrsg. v. E. Moldenhauer/ K.M. Michel, Frankfurt a.-M. 9 2019. Helmer, C. (Hrsg.), The Medieval Luther, Tübingen 2020. Helmer, C., How Luther became the Reformator, Louisville, Kentucky 2019. 222 Bibliografie <?page no="223"?> Hermann, R., Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums. Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd.-2, hrsg. v. H. Beintker, Berlin 1981. Hirsch, E., Zu Luthers Theologie (Rezension von: E. Seeberg, Grundzüge der Theologie Luthers), in: ders., Lutherstudien, Bd.-3, Waltrop 1999, 218-224. Hofmann, J.C.K v., Schutzschriften für eine neue Weise, alte Wahrheiten zu lehren, 4. Bde., Nördlingen 1856-1859. Holl, K., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 1921. 6 1932. Holl, K., Was verstand Luther unter Religion, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd.-1: Luther, Tübingen 1921. 6 1932, 1-110. Iserloh, E., Geschichte und Theologie der Reformation, Paderborn 1980. 4 1998. Iserloh, E., Luther und die Reformation, Aschaffenburg 1974. Iserloh, E., Luthers Thesenanschlag. Tatsache oder Legende? , Wiesbaden 1962. Junghans, H., Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985. Joest, W., Gesetz und Freiheit. Das Problem des tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese, Göttingen 4 1968. Kaufmann, T., Geschichte der Reformation, Frankfurt a. M./ Leipzig 2009. Kirn, H.-M., Luther und die Juden, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 217-224. Kohnle, A., Luther und die Bauern, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 134-139. Leppin, V., Lutherforschung am Beginn des 21.-Jahrhunderts, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 19-34. Leppin, V., Luther-Literatur seit 1983, Teil I, in: ThR 65 (2000), 350-377; Teil II, in: ThR 65 (2000), 431-454; Teil III, in: ThR 68 (2003), 313-340. Lessing G.E., Eine Parabel, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd.-3: Geschichte der Kunst, Theologie, Philosophie, hrsg. v. H.G. Göpfert, München 1983, 442-443. Lohse, B., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttin‐ gen 1988. Lohse, B., Luther und das Augsburger Bekenntnis, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 138-157. Lohse, B., Zur Struktur von Luthers Theologie. Kriterien einer Darstellung der Theologie Luthers, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 237-249. Lortz, J., Die Reformation als religiöses Anliegen heute, Trier 1948. 5 Einleitung / Forschungsüberblicke 223 <?page no="224"?> Mannermaa, T., Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergot‐ tung, Hannover 1989. Michel, S./ Speer, C. (Hrsg.), Georg Rörer (1492-1557). Der Chronist der Wittenberger Reformation, Leipzig 2012. Mühlen, K.-H. zur, Wirkung und Rezeption. I. Im Zeitalter der lutherischen Bekennt‐ nisbildung und Orthodoxie, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 462-472. Pesch, O.H., Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs, Ostfildern 1985. Peters, C., Luther und Müntzer, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 139-142. Raatz, G., Auf dem Weg zur kritischen Identität des Protestantismus. Johann Salomo Semlers Lutherdeutung, in: C. Danz/ R. Leonhardt (Hrsg.), Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20.-Jahrhundert, Berlin/ New York 2008, 5-39. Raeder, S., Luther und die Türken, in: A. Beutel, Luther Handbuch, Tübingen 2005, 224-231. Ritschl, A., Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3: Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn 4 1895. Rohls, J., Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 1: Die Voraussetzungen und das 19.-Jahrhundert, Tübingen 1997. Schilling, J., Art.: Lutherausgaben, in: TRE, Bd.-21, Berlin/ New York 1991, 594-599. Slenczka, N./ Sparn, W. (Hrsg.), Luthers Erben. Studien zur Rezeptionsgeschichte der reformatorischen Theologie Luthers, Tübingen 2005. Stephan, H., Luther in den Wandlungen seiner Kirche. Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus, Bd.-1, Berlin 1907. Troeltsch, E., Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/ 1909/ 1922) (= Kritische Gesamtausgabe, Bd.-7), hrsg. v. V. Drehsen in Zusammenarbeit mit C. Albrecht, Berlin/ New York 2004. Troeltsch, E., Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906-1913) (= Kritische Gesamtausgabe, Bd.-8), hrsg. v. T. Rendtorff in Zusam‐ menarbeit mit S. Pautler, Berlin/ New York 2002. Troeltsch, E., Luther und die moderne Welt, in: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906-1913) (= Kritische Gesamtausgabe, Bd.-8), hrsg. v. T. Rendtorff in Zusammenarbeit mit S. Pautler, Berlin/ New York 2002, 59-97. Vind, A., Latomus and Luther. The Debate: Is every Good Deed a Sin? , Göttingen 2019. 224 Bibliografie <?page no="225"?> Wallmann, J., Karl Holl und seine Schule, in: Tübinger Theologie im 20. Jahrhundert, Tübingen 1978 (= Zeitschrift für Theologie und Kirche, Beiheft 4), 1-33. Wittekind, F., Ritschls geschichtsphilosophische Deutung der Reformation der Kirche, in: C. Danz/ R. Leonhardt (Hrsg.), Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, Berlin/ New York 2008, 201-233. Wolff, O., Die Haupttypen der neueren Lutherdeutung, Stuttgart 1938. Wriedt, M., Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johannes von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991. 6 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung Aland, K., Der Weg zur Reformation. Zeitpunkt und Charakter des reformatorischen Erlebnisses Martin Luthers, München 1965. Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg. v. G. Bien, Hamburg 4 1985. Bannach, K., Die Lehre von der doppelten Macht Gottes bei Wilhelm von Ockham. Problemgeschichtliche Voraussetzungen und Bedeutung, Wiesbaden 1975. Barth, U., Die Geburt religiöser Autonomie. Martin Luthers Ablaßthesen von 1517, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 53-95. Barth, U., Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, in: NZSTh 34 (1992), 269-291. Bayer, O., Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Göttingen 1971. Beißer, F., Claritas Scripturae bei Martin Luther, Göttingen 1966. Benrath, G.A., Art.: Buße V., in: TRE, Bd.-7, Berlin/ New York 1981, 452-473. Beutel, A., In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis, Tübingen 1991. Bodenstein, W., Der einfältige Glaube. Luthers Entwicklung von 1521 bis 1525, Tübingen 1998. Bornkamm, H., Luthers Bericht über seine Entdeckung der iustitia dei, in: ARG 37 (1940), 117-128. Buchholz, A., Schrift Gottes im Lehrstreit. Luthers Schriftverständnis und Schrift‐ auslegung in seinen drei großen Lehrstreitigkeiten der Jahre 1521-28, Frankfurt a.-M. 1993. Burger, C., Art.: Devotio moderna, in: RGG 4 , Bd.-2, Tübingen 1999, 776. 6 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung 225 <?page no="226"?> Delius, H.-U., Augustin als Quelle Luthers. Eine Materialsammlung, Berlin (Ost) 1984. Denzinger, H., Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrent‐ scheidungen / Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, hrsg. v. Peter Hünermann, Freiburg i. Br./ Basel/ Wien 45 2017. Dettloff, W., Die Entwicklung der Akzeptations- und Verdienstlehre von Duns Scotus bis Luther mit besonderer Berücksichtigung der Franziskanertheologie, Münster 1963. Dettloff, W., Die Lehre von der acceptatio divina bei Johannes Duns Scotus mit besonderer Berücksichtigung der Rechtfertigungslehre, Werl 1954. Dieter, T., Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Unter‐ suchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, Berlin/ New York 2001. Dobschütz, E. v., Vom vierfachen Schriftsinn. Die Geschichte einer Theorie, in: Harnack-Ehrung. Beiträge zur Kirchengeschichte, ihrem Lehrer Adolf von Harn‐ ack zu seinem siebzigsten Geburtstag (7. Mai 1921) dargebracht von einer Reihe seiner Schüler, Leipzig 1921, 1-13. Dörfler-Dierken, A., Luther und die heilige Anna. Zum Gelübde von Stotternheim, in: LuJ 64 (1997), 19-46. Dörfler-Dierken, A., Die Verehrung der Heiligen Anna in Spät-Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1992. Ebeling, G., Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, in: ZThK 48 (1951), 172-230. Ebeling, G., Evangelisch Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Her‐ meneutik, München 1942. Erikson, E.H., Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Frankfurt a.-M. 1975. 6. unveränderte Auflage Eschborn 2005. Flasch, K., Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986. Führer, W., Das Wort Gottes in Luthers Theologie, Göttingen 1984. Grane, L., Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio contra Scholasticam Theologiam 1517, Gyldendal 1962. Hamm, B., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010. Hamm, B., Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers - ein Beitrag zur Bußgeschichte, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuori‐ entierung, Tübingen 2010, 1-24. Hamm, B., Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 25-64. 226 Bibliografie <?page no="227"?> Hamm, B., Warum wurde für Luther der Glaube zum Zentralbegriff des christlichen Lebens? , in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 65-89. Hamm, B., Die 95 Thesen - ein reformatorischer Text im Zusammenhang der frühen Bußtheologie Martin Luthers, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatori‐ scher Neuorientierung, Tübingen 2010, 90-114. Hamm, B., Freiheit vom Papst - Seelsorge am Papst. Luthers Traktat ‚Von der Freiheit eines Christenmenschen‘ und das Widmungsschreiben an Papst Leo X.: eine kompositorische Einheit, in: ders., Der frühe Luthers. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 183-199. Hamm, B., Art.: Staupitz, Johann(es) von, in: TRE, Bd.-32, Berlin/ New York 2001, 119-127. Hamm, B., Johann von Staupitz (ca. 1468-1524) - spätmittelalterlicher Reformer und ‚Vater‘ der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 92 (2001), 6-42. Hauschild, W.-D., Art.: Gnade IV. Dogmengeschichtlich (Alte Kirche bis Reformati‐ onszeit), in: TRE, Bd.-13, Berlin/ New York 1984, 476-495. Hermann, R., Gottes Gerechtigkeit und unsere Rechtfertigung, in: ders., Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums. Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd.-2, hrsg. v. H. Beintker, Berlin 1981, 43-54. Hermann, R., Von der Klarheit der Heiligen Schrift. Untersuchungen und Erörte‐ rungen über Luthers Lehre von der Schrift in „De servo arbitrio“ [1958], in: ders., Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums. Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd.-2, hrsg. v. H. Beintker, Berlin 1981, 170-255. Hirsch, E., Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, in: ders., Lutherstudien, Bd.-1, Waltrop 1998. Hirsch, E. Initium theologiae Lutheri, in: ders., Lutherstudien, Bd.-2, Waltrop 1998, 9-35. Holl, K., Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegekunst, in: ders., Gesam‐ melte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd.-1: Luther, Tübingen 6 1932, 544-582. Kaufmann, T., Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenie‐ rungs- und Ausdrucksformen, Tübingen 2019. Kaufmann, T., Luther und Erasmus, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübin‐ gen 2005, 142-152. Kaufmann, T., Luther und Zwingli, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 152-161. Korsch, D., Die religiöse Leitidee, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 91-97. 6 Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung 227 <?page no="228"?> Korsch, D., Glaube und Rechtfertigung, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 372-381. Leppin, V., Luther und der Humanismus, Basel 2019. Leppin, V., Mystik, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 57-61. Leppin, V., Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995. Lohse, B. (Hrsg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart 1988. Lohse, B., Die Bedeutung Augustins für den jungen Luther, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 11-30. Lohse, B., Luthers Auslegung von Psalm 71 (72), Vers 1 und 2 in der ersten Psalmenvorlesung, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 31-43. Lohse, B., Cajetan und Luther. Zur Begegnung von Thomismus und Reformation, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 44-63. Lohse, B., Gewissen und Autorität bei Luther, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 265-286. Lohse, B. (Hrsg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968. Luther, M., Von der Freiheit eines Christenmenschen, hrsg. u. komm. v. D. Korsch, Leipzig 2 2018. Moeller, B., Luther und das Papsttum, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 106-115. Mühlen, K.-H. zur, Art.: Buße 1, in: EKL Bd.-1, Göttingen 3 1986, 599-604. Mühlen, K.-H. zur, Luthers Kritik am scholastischen Aristotelismus in der 25. These der „Heidelberger Disputation“ von 1518, in: LuJ 48 (1981), 54-79. Oberman, H.A., „Iustitia Christi“ und „Iustitia Dei“. Luther und die scholastische Lehre von der Rechtfertigung, in: B. Lohse (Hrsg.), Der Durchbruch der reforma‐ torischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968, 413-444. Ohst, M., Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im hohen und späten Mittelalter, Tübingen 1995. Paulus, N., Geschichte des Ablasses im Mittelalter, 3 Bde., Paderborn 1922-1923. 228 Bibliografie <?page no="229"?> Peters, C., Luther und seine protestantischen Gegner, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 121-134. Reiner, H., Art.: Gewissen, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.-3, Basel/ Stuttgart 1974, 574-592. Rieger, R., Von der Freiheit eines Christenmenschen. De libertate Christiana, Tübin‐ gen 2001. Rothen, B., Die Klarheit der Schrift. Martin Luther: Die wiederentdeckten Grundla‐ gen, Göttingen 1990. Schmidt-Lauber, G., Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/ 16, Köln 1994. Schubert, A., Libertas Disputandi. Luther und die Leipziger Disputation als akade‐ misches Streitgespräch, in: ZThK 105 (2008), 411-442. Schwarz, R., Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2 2016. Schwarz, R., Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, Berlin 1968. Schwarz, R., Fides, Spes und Caritas beim jungen Luther unter besonderer Berück‐ sichtigung der mittelalterlichen Tradition, Berlin 1962. Vercruysse, J.E., Gesetz und Liebe. Die Struktur der „Heidelberger Disputation“ Luthers (1518), in: LuJ 48 (1981), 7-53. Vorgrimler, H., Art.: Purgatorium, in: RGG 4 , Bd.-6, Tübingen 2003, 1828-1831. Wolf, E., Über die „Klarheit der Schrift“ nach Luthers „De servo arbitrio“, in: ThLZ 92 (1967), 721-730. Wolf, E., Staupitz und Luther. Ein Beitrag zur Theologie des Johannes von Staupitz und deren Bedeutung für Luthers theologischen Werdegang, Leipzig 1927. Wriedt, M., Pietas et Eruditio. Zur theologischen Begründung der bildungsreforme‐ rischen Ansätze bei Philipp Melanchthon, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchen‐ geschichtlichen Vereinigung 62 (2011), 25-46. Wriedt, M., Bildung, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 231-236. Wriedt, M., Die theologische Begründung der Bildungsreform bei Luther und Me‐ lanchthon, in: M. Beyer/ G. Wartenberg (Hrsg.), Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anläßlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997. FS Helmar Junghans, Leipzig 1996, 155-184. 7 Luthers Gottesanschauung Bandt, H., Luthers Lehre vom verborgenen Gott. Eine Untersuchung zu dem offenbarungsgeschichtlichen Ansatz seiner Theologie, Berlin 1958. 7 Luthers Gottesanschauung 229 <?page no="230"?> Barth, U., Die Dialektik des Offenbarungsgedankens. Luthers Theologia crucis, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 97-123. Blaumeiser, H., Martin Luthers Kreuzestheologie. Schlüssel zu seiner Deutung von Mensch und Wirklichkeit. Eine Untersuchung anhand der Operationes in Psalmos (1519-1521), Paderborn 1995. Danz, C., Wirken Gottes. Zur Geschichte eines theologischen Grundbegriffs, Neu‐ kirchen-Vluyn 2007. Erasmus von Rotterdam, De libero arbitrio DIATRIBE sive collatio, in: ders., Ausge‐ wählte Schriften, Bd.-4, Darmstadt 1969. Helmer, C., Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Luthers Trinitätsverständnis, in: NZSTh 44 (2002), 1-19. Hermann, R., Beobachtungen zu Luthers Lehre vom Deus revelatus - nach seiner Verschiedenheit vom Deus absconditus in „De servo arbitrio“, in: ders., Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums. Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd.-2, hrsg. v. H. Beintker, Berlin 1981, 278-289. Hirsch, E., Luthers Gottesanschauung, Göttingen 1918. Iwand, H.J., Theologia Crucis. Ausgearbeitet für den Beienroder Konvent im Herbst 1959, in: ders., Nachgelassene Werke, Bd.-2: Vorträge und Aufsätze, hrsg. v. D. Schellong/ K.G. v. Steck, München 1966, 381-398. Jüngel, E., Die Offenbarung der Verborgenheit Gottes. Ein Beitrag zum evangeli‐ schen Verständnis der Verborgenheit des göttlichen Wirkens, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990, 163-182. Jüngel, E., Quae supra nos, nihil ad nos. Eine Kurzformel der Lehre vom verborgenen Gott - im Anschluß an Luther interpretiert, in: ders., Entsprechungen: Gott - Wahrheit - Mensch. Theologische Erörterungen, München 1980, 202-251. Kattenbusch, F., Deus absconditus bei Luther, in: Festgabe für D. Dr. Julius Kaftan zu seinem 70. Geburtstage, 30. September 1918, dargebracht von Schülern und Kollegen, Tübingen 1920, 170-214. Korthaus, M., Kreuzestheologie. Geschichte und Gehalt eines Programmbegriffs in der evangelischen Theologie, Tübingen 2007. Landrum, T.S., Martin Luther’s hidden God: Toward a Lutheran Apologetic for the Problem of Evil and Divine Hiddenness, Eugen, Oregon 2022. Loewenich, W. v., Luthers Theologia crucis [1929], Bielefeld 6 1982. Reinhuber, T., Kämpfender Glaube. Studien zu Luthers Bekenntnis am Ende von De servo arbitrio, Berlin/ New York 2000. Schwarzwäller, K., Sibboleth. Die Interpretation von Luthers Schrift De servo arbitrio seit Theodosius Harnack. Ein systematisch-kritischer Überblick, München 1969. 230 Bibliografie <?page no="231"?> Seils, M., Die Sache Luthers, in: LuJ 52 (1985), 64-80. Seils, M., Art.: Gottes Mummerei, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, hrsg. v. J. Ritter, Basel/ Stuttgart 1974, 835. Seils, M., Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, Berlin (Ost) 1962. Thaidigsmann, E., Kreuz und Wirklichkeit. Zur Aneignung der „Heidelberger Disputation“ Luthers, in: LuJ 48 (1981), 80-96. Volkmann, S., Luthers Lehre vom verborgenen Gott, in: M. Mühling/ M. Wendte (Hrsg.), Entzogenheit in Gott. Beiträge zur Rede von der Verborgenheit der Trinität, Utrecht 2005, 39-43. Wabel, T., Verborgenheit und Entzogenheit Gottes, in: NZSTh 53 (2011), 45-70. Zwanepol, K., Zur Diskussion um Gottes Verborgenheit, in: NZSTh 48 (2006), 51-59. 8 Das Christusbild Luthers Bayer, O./ Gleede, B. (Hrsg.), Creator est creatura. Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation, Berlin/ New York 2007. Bornkamm, K., Christus - König und Priester. Das Amt Christi bei Luther im Verhältnis zur Vor- und Nachgeschichte, Tübingen 1998. Danz, C., Systematische Theologie, Tübingen 2 2024. Danz, C., Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019. Danz, C., Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013. Ebeling, G., „Christus … factus est peccatum metaphorice“, in: A. Freund/ U. Kern/ A. Radler (Hrsg.), Tragende Tradition. Festschrift für Martin Seils zum 65. Geburts‐ tag, Frankfurt a.-M. 1992, 49-73. Geyer, C.-F., Zum theologischen Metapherngebrauch, in: NZSTh 39 (1997), 15-36. Goez, W., Luthers „Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben“ und die mittelalter‐ liche ars moriendi, in: LuJ 48 (1981), 97-114. Hamm, B., Luthers Anleitung zum seligen Sterben vor dem Hintergrund der spätmit‐ telalterlichen Ars moriendi, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 115-163. Härle, W., „Christus factus est peccatum metaphorice“. Zur Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi, in: NZSTh 36 (1994), 302-315. Karpp, H. (Hrsg.), Textbuch zur altkirchlichen Christologie. Theologia und Oikono‐ mia, Neukirchen-Vluyn 1972. Lienhard, M., Martin Luthers christologisches Zeugnis. Entwicklung und Grundzüge seiner Christologie, Göttingen 1980. 8 Das Christusbild Luthers 231 <?page no="232"?> Linde, G., „[…] naturam […] divinam seu verbum Deum […] passum et mortuum“. Does Luther Have a Notion of Genus Tapeinoticum, in: NZSTh 63 (2023), 241-275. Lohse, B., Luthers Christologie im Ablaßstreit, in: ders., Evangelium in der Ge‐ schichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 287-299. Rieske-Braun, U., Duellum mirabile. Studien zum Kampfmotiv in Martin Luthers Theologie, Göttingen 1999. Ritschl, A. Selbstanzeige „Rechtfertigung und Versöhnung II + III“ (1874), in: ders., Kleine Schriften, hrsg. v. F. Hofmann, Waltrop 1999, 28-40. Schwarz, R., Gott ist Mensch. Zur Lehre von der Person Christi bei den Ockhamisten und bei Luther, in: ZThK 63 (1966), 289-351. Slenczka, N., Christus, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 381-392. Steiff, S., „Novis linguis loqui“. Martin Luthers Disputation über Joh 1,14 „verbum caro factum est“ aus dem Jahre 1539, Göttingen 1993. Steiger, J.A., Die communicatio idiomatum als Achse und Motor der Theologie Luthers. Der ‚fröhliche Wechsel‘ als hermeneutischer Schlüssel zu Abendmahls‐ lehre, Anthropologie, Seelsorge, Naturtheologie, Rhetorik und Humor, in: NZSTh 38 (1996), 1-28. Vogelsang, E., Der angefochtene Christus bei Luther, Berlin/ Leipzig 1932. Vogelsang, E., Die Anfänge von Luthers Christologie nach der 1. Psalmenvorlesung, Berlin/ Leipzig 1929. Vorländer, D., Deus incarnatus. Die Zweinaturenchristologie Luthers bis 1521, Witten 1974. Vind, A., „Homo est deus“: Reflections on Luther’s Christology, in: Dialog 63 (2024), 28-34. Wabel, T., Sprache als Grenze in Luthers theologischer Hermeneutik und Wittgensteins Sprachphilosophie, Berlin/ New York 1998. Wolf, E., Die Christusverkündigung bei Luther, in: ders., Peregrinatio. Studien zur reformatorischen Theologie und zum Kirchenproblem, München 1954, 30-80. Wolff, J., Metapher und Kreuz. Studien zu Luthers Christusbild, Tübingen 2005. Wolff, J., Luthers Arbeit an christologischen Metaphern, in: J. Frey/ J. Rohls/ R. Zimmermann (Hrsg.), Metaphorik und Christologie, Berlin/ New York 2003, 79- 198. 232 Bibliografie <?page no="233"?> 9 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk Althaus, P., Die Ethik Martin Luthers, Gütersloh 1965. Beiner, M., Intentionalität und Geschöpflichkeit. Die Bedeutung von Martin Luthers Schrift „Vom unfreien Willen“ für die theologische Anthropologie, Marburg 2000. Beutel, A., Theologie als Unterscheidungslehre, in: ders. (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 450-454. Danz, C., Die Notwendigkeit in der Freiheit. Zur Aufnahme von Luthers Freiheits‐ begriff in Schellings Freiheitsschrift, in: ders./ R. Leonhardt (Hrsg.), Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahr‐ hundert, Berlin/ New York 2008, 75-94. Danz, C., Art.: Wirken Gottes, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, hrsg. v. J. Ritter/ K. Gründer/ G. Gabriel, Basel 2005, 824-829. Ebeling, G., Das rechte Unterscheiden. Luthers Anleitung zu theologischer Urteils‐ kraft, in: ders., Theologie in den Gegensätzen des Lebens. Wort und Glaube, Bd. 4, Tübingen 1995, 420-459. Ebeling, G., Disputatio de homine. Lutherstudien, Bd.-2 (3 Teile), Tübingen 1977- 1989. Ebeling, G., Die königlich-priesterliche Freiheit, in: ders., Lutherstudien, Bd.-3, Tübingen 1985, 157-180. Ebeling, G., Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, in: ders., Wort und Glaube, Tübingen 3 1967, 50-68. Elert, W., Eine theologische Fälschung zur Lehre vom tertius usus legis, in: Zeitschr. f. Religions- und Geistesgeschichte 1 (1948), 168-170. Hamm, B., Martin Luthers Entdeckung der evangelischen Freiheit, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 164- 182. Hamm, B., Gerechtfertigt allein aus Glauben - das Profil der reformatorischen Rechtfertigungslehre, in: ders., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neu‐ orientierung, Tübingen 2010, 251-288. Hamm, B., Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre, in: ZThK 83 (1986), 1-38. Härle, W./ Preul, R. (Hrsg.), Gute Werke, Marburg 1993. Heckel, M., Luthers Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ als Mark‐ stein des Kirchen- und Staatskirchenrechts, in: ZThK 109 (2012), 122-152. Hermann, R., Zu Luthers Lehre vom unfreien Willen, in: ders., Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums. Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd. 2, hrsg. v. H. Beintker, Berlin 1981, 88-97. 9 Persona facit opera, non opera personam - Glaube und Werk 233 <?page no="234"?> Hermann, R., Luthers These „Gerecht und Sünder zugleich“ [1930], ND Darmstadt 1960. Hermanni, F., Luthers Lehre vom unfreien Willen als Fundament der Rechtferti‐ gungslehre, in: Kerygma und Dogma 49 (2003), 88-108. Hirsch, E., Die Rechtfertigungslehre Luthers, in: ders., Lutherstudien, Bd. 3, hrsg. v. H.M. Müller, Waltrop 1999, 109-129. Hirsch, E., Nietzsche und Luther, in: ders., Lutherstudien, Bd. 2, hrsg. v. H.M. Müller, Waltrop 1998, 168-206. Holl, K., Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit, in: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd.-1: Luther, Tübingen 6 1932, 111-154. Holl, K., Die Rechtfertigungslehre im Lichte der Geschichte des Protestantismus, Tübingen 1906. Holm, B.K., Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre, Berlin/ New York 2006. Holm, B.K., Wechsel ohnegleichen. Über die Grundstruktur der Rechtfertigung und Heiligung und das Austauschen von „Gaben“ in Luthers „Tractatus de libertate christiana“, in: NZSTh 40 (1998), 182-196. Iwand, H.J., Die grundlegende Bedeutung der Lehre vom unfreien Willen für den Glauben, in: ders., Um den rechten Glauben. Gesammelte Aufsätze, München 1965, 13-30. Iwand, H. J., Studien zum Problem des unfreien Willens, in: ders., Um den rechten Glauben. Gesammelte Aufsätze, München 1965, 31-61. Jacobi, T., Christen heißen Freie, Tübingen 1997. Jüngel, E., Der menschliche Mensch. Die Bedeutung der reformatorischen Unter‐ scheidung der Person von ihren Werken für das Selbstverständnis des neuzeitli‐ chen Menschen, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens, München 1990, 194-213. Jüngel, E., Zur Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift, München 1978. Korsch, D., Freiheit als Summe. Über die Gestalt christlichen Lebens nach Martin Luther, in: NZSTh 40 (1998), 139-156. Korsch, D., Glaubensgewißheit und Selbstbewußtsein. Vier systematische Variatio‐ nen über Gesetz und Evangelium, Tübingen 1989. Liedke, U., Freiheit. Anmerkungen zu Herbert Marcuses Lutherkritik, in: NZSTh 40 (1998), 197-213. Lobenstein-Reichmann, A., Freiheit bei Martin Luther. Lexikographische Textana‐ lyse als Methode historischer Semantik, Berlin/ New York 1998. 234 Bibliografie <?page no="235"?> Maurer, W., Von der Freiheit eines Christenmenschen. Zwei Untersuchungen zu Luthers Reformationsschriften 1520/ 21, Göttingen 1949. McSorley, H.J., Luthers Lehre vom unfreien Willen nach seiner Hauptschrift De servo arbitrio im Lichte der biblischen und kirchlichen Tradition, München 1967. Melanchthon, P., Loci praecipui theologici von 1559, in: Melanchthons Werke in Auswahl, hrsg. v. R. Stupperich, Bd. II/ 1, bearbeitet v. H. Engelland, fortgeführt v. R. Stupperich, Gütersloh 2 1978. Mühlen, K.-H. zur, Art.: Affekt II. Theologiegeschichtliche Aspekte, in: TRE, Bd.-1, Berlin/ New York 1977, 599-612. Stange, C., Die reformatorische Lehre von der Freiheit des Handelns, in: ders., Studien zur Theologie Luthers, Bd.-1, Gütersloh 1928, 20-33. M. Suda, M., Die Ethik Martin Luthers, Göttingen 2006. Troeltsch, E., Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912. Weber, M., Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, hrsg. v. K. Lichtblau/ J. Weiß, Bodenheim 1993. Zickendraht, K., Der Streit zwischen Erasmus und Luther über die Willensfreiheit, Leipzig 1909. 10 Das Kirchenverständnis Augustin, Die christliche Bildung (De doctrina Christiana), Stuttgart 2002. Barth, K., Rezension von P. Althaus, Religiöser Sozialismus. Grundfragen der christlichen Sozialethik (Gütersloh 1921), in: Das Neue Werk 4 (1922), 461-472. ND in: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1, hrsg. v. J. Moltmann, München 1972, 152-165. Barth, U., Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, hrsg. v. F. Steck, Tübingen 2 2023. Bornkamm, H., Luthers Lehre von den zwei Reichen im Zusammenhang seiner Theologie, in: H.-H. Schrey (Hrsg.), Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen, Darmstadt 1969, 165-195. Danz, C., Wort Gottes, Kirche, Organisation. Zur evangelischen Ekklesiologie im Anschluss an Martin Luther, in: Wiener Jahrbuch für Theologie 6 (2006), 155-172. Goertz, H., Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg 1997. Heckel, J., Im Irrgarten der Zwei-Reiche-Lehre. Zwei Abhandlungen zum Reichs- und Kirchenbegriff Martin Luthers, München 1957. 10 Das Kirchenverständnis 235 <?page no="236"?> Henschen, C., Erniedrigung Gottes und des Menschen Erhöhung. Eine systema‐ tisch-theologische Studie zu Luthers Abendmahlslehre nach der Schrift Daß diese Worte Christi ‚Das ist mein leib‘ noch stehen fest (1527), Frankfurt a.-M. 2010. Herms, E., Leben in der Welt, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 423-435. Hilgenfeld, H., Mittelalterlich-traditionelle Elemente in Luthers Abendmahlsschrif‐ ten, Zürich 1971. Höhne, W., Luthers Anschauung über die Kontinuität der Kirche, Berlin 1963. Holl, K., Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd.-1: Luther, Tübingen 6 1932, 288-325. Holl, K., Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd.-1: Luther, Tübingen 6 1932, 326-380. Honecker, M., Thesen zur Aporie der Zweireichelehre, in: ZThK 78 (1981), 128-140. Jorissen, H., Art.: Transsubstantiation, in: LThK, Bd.-10, Freiburg i. Br./ Basel/ Wien 2009, 177-182. Kattenbusch, F., Die Doppelschichtigkeit in Luthers Kirchenbegriff, in: ThStKr 100 (1927/ 28), 197-347. Kinder, E., Gottesreich und Weltreich bei Augustin und bei Luther. Erwägungen zu einem Vergleich der „Zwei-Reiche-Lehre“ Augustins und Luthers, in: H.-H. Schrey (Hrsg.), Reich Gottes und Reich der Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen, Darmstadt 1969, 40-69. Kinder, E., Der evangelische Glaube und die Kirche. Grundzüge des evangelisch-lu‐ therischen Kirchenverständnisses, Berlin 1958. Kriegbaum, B., Art.: Donatismus, in: RGG 4 , Bd.-2, Tübingen 1999, 939-942. Lohse, B., Die Einheit der Kirche bei Luther, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hrsg. v. L. Grane/ B. Moeller/ O.H. Pesch, Göttingen 1988, 300-314. Lønning, I., Luther und die Kirche. Das blinde Wort und die verborgene Wirklichkeit, in: LuJ 52 (1985), 94-112. Loofs, F., Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, Teil 2, hrsg. v. K. Aland, Halle 5 1953. Mantey, V., Zwei Schwerter - Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, Tübingen 2005. Mühlen, K.-H. zur, Art.: Evangelische Räte, in: RGG 4 , Bd.-2, Tübingen 1999, 1721- 1723. Peters, A., Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd.-4: Die Taufe. Das Abendmahl, Göttingen 1993. 236 Bibliografie <?page no="237"?> Ritschl, A., Ueber die Begriffe: sichtbare und unsichtbare Kirche, in: ders., Gesam‐ melte Aufsätze, Freiburg i. Br./ Leipzig 1893, 68-99. Schrey, H.-H. (Hrsg.), Reich Gottes und Reich der Welt. Die Lehre von den zwei Reichen, Darmstadt 1969. Schwab, W., Entwicklung und Gestalt der Sakramentstheologie bei Martin Luther, Frankfurt a.-M. 1977. Schwarz, R., Luthers Lehre von den drei Ständen und die drei Dimensionen der Ethik, in: LuJ 45 (1978), 15-34. Wendebourg, D., Kirche, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 403-414. Wendebourg, D., Taufe und Abendmahl, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 414-423. 11 Die Eschatologie Althaus, P., Luthers Gedanken über die letzten Dinge, in: LuJ 23 (1941), 9-34. Althaus, P., Unsterblichkeit und ewiges Sterben bei Luther. Zur Auseinandersetzung mit Carl Stange, Gütersloh 1930. Asendorf, U., Eschatologie bei Luther, Göttingen 1967. Bühler, P., Kreuz und Eschatologie. Eine Auseinandersetzung mit der politischen Theologie, im Anschluß an Luthers theologia crucis, Tübingen 1981. Danz, C., „Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben“ (Mt 25,46). Überlegungen zur Funktion und Bedeutung des Letzten Gerichts in der protestantischen Theologie, in: NZSTh 53 (2011), 71-89. Ebeling, G., Des Todes Tod. Luthers Theologie in der Konfrontation mit dem Tod, in: ZThK 84 (1987), 162-194. Hirsch, E., Das Wesen des reformatorischen Christentums, Waltrop 2000. Kaufmann, T., „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Reli‐ gion“ in Spätmittelalter und Reformation, Göttingen 2008. Schwambach, C., Rechtfertigungsgeschehen und Befreiungsprozess. Die Eschatolo‐ gie von Martin Luther und Leonardo Boff im kritischen Gespräch, Göttingen 2004. Slenczka, N., Christliche Hoffnung, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübin‐ gen 2005, 435-443. Wiemer, A., „Mein Trost, Kampf und Sieg ist Christus“. Martin Luthers eschatologi‐ sche Theologie nach seinen Reihenpredigten über 1. Kor. 15 (1532/ 33), Berlin/ New York 2003. 11 Die Eschatologie 237 <?page no="238"?> Personenregister Aland, Kurt-30, 189 Albrecht von Brandenburg, Erzbischof-67 Alfeld, Augustin, eigentl. Augustin aus Alfeld-178 Althaus, Paul-17, 32 Amsdorf(f), Nikolaus von-26 Aristoteles-35, 46, 62f., 104 Arnoldi, Bartholomäus von (aus) Usingen-37 Augustin-21, 49, 61f., 75, 80, 126, 128f., 176, 186, 189, 195, 202f. Barth, Hans Martin-32 Barth, Karl-23, 26, 202 Barth, Ulrich-108, 110 Beutel, Albrecht-29ff., 188 Beyer, Michael-29 Biel, Gabriel-37 Bizer, Ernst-23, 42, 48 Borcherdt, Hans Heinrich-30 Bornkamm, Heinrich-22 Bornkamm, Karin-30 Brecht, Martin-18 Cajetan, Thomas, Kardinal-51, 83 Calvin, Johannes-151, 169 Cassianus, Johannes-53 Cicero, Marcus Tullius-92 Clemen, Otto-28 Clemens VI., Papst-66 Delius, Hans-Ulrich-29 Denifle, Friedrich Heinrich Suso-24 Ebeling, Gerhard-24, 27, 30f. Eck, Johannes-51, 109 Erasmus, Desiderius, von Rotterdam 54, 90f., 96, 116f., 120, 157, 162 Erikson, Erik H.-34 Faber Stapulensis, Jacobus-54 Ficker, Johannes-22 Franck, Sebastian-16 Friedrich III., der Weise, Kurfürst von Sachsen-42, 51 Georg der Bärtige, Herzog von Sachsen-202 Gogarten, Friedrich-17 Grisar, Hartmann-24 Günther, Franz-62 Härle, Wilfried-29 Harnack, Adolf von-107 Harnack, Theodosius-17, 21, 107 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich-15, 18 Heine, Heinrich-183 Heutleb, Leonard-40 Hirsch, Emanuel-17f., 22, 47, 95f., 105, 108 Hobbes, Thomas-207 Hofmann, Johann Christian Konrad von-20f. Holl, Karl-18, 21-24, 26, 48, 214 Hugo von St. Cher-66 Huss, Jan-190 Hutten, Ulrich von-90 <?page no="239"?> Iserloh, Erwin-25 Iwand, Hans-Joachim-108 Joachim I. Nestor, Kurfürst von Brandenburg-202 Joest, Wilfried-24 Johannes Duns Scotus-35ff., 72 Jonas, Justus-26, 91 Julius II., Papst-67 Kant, Immanuel-151 Karlstadt, Andreas, eigentl. A. Bodenstein-41, 89, 91f., 190, 196 Karl V., deutscher Kaiser-52 Korsch, Dietrich-29, 31 Lang, Johannes-62 Leo X., Papst-67, 88, 90 Leppin, Volker-31 Lessing, Gotthold Ephraim-20 Loewenich, Walter von-107f. Lohse, Bernhard-19, 32 Lortz, Joseph-24 Luder, Hans-33 Luder, Margarete, geb. Lindemann-33 Lyser, Georg-40 Marcion-96 Melanchthon (Schwarzerdt), Philipp 26, 61, 89, 91, 151, 154, 158 Miltitz, Karl von-51 Müntzer, Thomas-27, 89 Natin, Johannes-40 Osiander, Andreas-154 Otto, Rudolf-99 Paulus, Apostel-37, 43ff., 49, 69, 75, 78, 103, 118, 150, 153, 174, 178, 185, 196, 206, 216 Pesch, Otto Hermann-25 Petrus, Apostel-81, 152 Petrus Abaelard-65 Petrus Lombardus-41, 53, 68, 128, 189 Platon-35 Reuchlin, Johannes-54 Ritschl, Albrecht-21, 26, 88, 96, 107, 117 Ritschl, Otto-96, 107 Rörer, Georg-26 Rückert, Hanns-22 Schilling, Johannes-29 Schwarz, Reinhard-31 Seeberg, Erich-17f. Seeberg, Reinhold-96 Seils, Martin-171 Semler, Johann Salomo-20 Slenczka, Notger-29 Smith, Adam-172 Spalatin(us), Georg-42 Spinoza, Baruch de-161 Staupitz, Johann von-26, 41-44, 49, 126 Tempier, Stephan-35 Tetzel, Johannes-51 Thomas von Aquin-35 Troeltsch, Ernst-15, 18, 20, 170 Trutfetter, Jodokus-37 Vergil-92 Vogelsang, Erich-23, 108 Wartenberg, Günther-29 Weber, Max-169f., 172 Personenregister 239 <?page no="240"?> Wilhelm von Ockham-35ff. Wimpina, Konrad-51 Wyclif, John-90, 190 Zschoch, Hellmut-29 Zwingli, Ulrich-89, 91f., 136, 190, 196, 198f. 240 Personenregister <?page no="241"?> Sachregister Abendmahl 31, 87, 187, 189ff., 193, 195- 198, 200 Abendmahlsstreitigkeiten-89, 92, 132, 190 Transsubstantiationslehre-189 Ablass-66f. Ablassstreit-51, 63, 78, 183, 188 Akzeptationstheorie-→ Gnade Alleinwirksamkeit Gottes → Gottesan‐ schauung Luthers Allgemeines Priestertum aller Gläubigen-87, 184 Altprotestantismus-20 Alt- und Neuprotestantismus-15 apokatastasis panton-→ Eschatologie ars moriendi-130 Buße-63ff., 67f., 70ff. als wahre Einsicht in das vollkommene Sündersein vor Gott-64, 67f., 70ff. spätmittelalterliches Bußsakrament-39, 50, 64, 66, 68, 71f., 77, 188 Christologie-92, 126ff. christologisches Dogma-97, 127f., 134f. Christus als sacramentum und exemplum-128, 131 ‚communicatio idiomatum‘-134, 139, 141 Einheit von Gott und konkretem Menschen in Jesus Christus-136, 138f., 141 Ubiquitätslehre-92, 190 Zwei-Naturen-Lehre (Alte Kirche)-127 ,communio sanctorum‘-183 ‚concupiscentia‘-→ Sünde Demutstheologie Luthers 23, 71, 78, 107 ‚deus revelatus‘ - ‚deus absconditus‘ → Gottesanschauung Luthers ‚devotio moderna‘-34 Ekklesiologie-175f., 182, 187, 202, 205 Funktion der Kirche-174 Kirche als Gemeinde-173, 181, 186 ‚notae ecclesiae‘-181, 186, 188 sakramentaler - funktionaler Kirchenbegriff-174 sichtbare - verborgene Kirche-175f., 178ff., 182, 187, 203, 205 Zwei-Reiche-Lehre-176, 201 Eschatologie-209f., 213, 217 ‚apokatastasis panton‘-210 individuelle Eschatologie-210 universale Eschatologie-210, 217 Ethik-165, 170, 172 Nächstenliebe-169, 172 politische Ethik-202, 208 Umgang mit dem eigenen Leib-168 Fegefeuer-65, 212 ‚fides‘ - ‚promissio‘-→ Glaube ‚fides historica‘ - ‚fides apprehensiva‘-→ Glaube <?page no="242"?> Freiheit-158, 160, 162f. libertas christiana-157, 164, 171 Unfreiheit des menschlichen Willens-117, 119, 157, 160ff., 164 Geist - Buchstabe-145 Gerechtigkeit- fremde - eigene Gerechtigkeit-149f., 153 Gerechtigkeit Gottes (‚iustitia Dei‘)-23, 33, 42f., 45f., 48, 50, 77, 79f., 82, 86, 90, 97, 101, 152 ‚iustitia activa‘ - ‚iustitia passiva‘-46 Gesetz- ‚tertius usus legis‘-151 ‚usus legis civilis‘ - ‚usus legis theologicus‘-150 Gesetz - Evangelium 59, 82, 143f., 146f., 149ff., 163, 210, 215 Gewissen-39, 72, 74ff. als Ort der Wahrheit und der Gottesbegegnung-73, 84 als Ort des jüngsten Gerichts-212f. Luthers Religion als Gewissensreligion (Holl)-23 mittelalterliches Gewissensverständnis-73 Glaube-78f., 81, 84ff., 95, 99, 106, 119, 125, 132f., 140, 149f., 158, 163ff., 167, 173, 175, 183, 187, 191f., 204, 207, 217 ‚fides‘ - ‚promissio‘-81, 193ff., 201, 209 ‚fides historica‘ - ‚fides apprehensiva‘-133 Gewissheit des Glaubens-83, 95 Glaube - Werke-143, 204 mittelalterlicher Glaubensbegriff-153 Gnade-36, 64, 77f., 80f., 90, 95, 98, 101, 148, 163 Akzeptationstheorie-36, 72 mittelalterliche Gnadenlehre-35ff., 72 Gottesanschauung Luthers-90, 95f., 99 Alleinwirksamkeit Gottes-90, 103, 117 Antinomie- Zorn - Barmherzigkeit Gottes 101 ‚deus revelatus‘ - ‚deus absconditus‘-96, 116, 122 Gotteserkenntnis als wahre Selbsterkenntnis des Menschen-98, 100ff. Hl. Schrift-52, 55ff., 59f. als einzige Norm theologischer Aussagen-52 doppelte Klarheit der Schrift 57, 59f., 175, 180, 193 ‚sensus historicus‘ als Grundsinn der Bibel-56f. vierfacher Schriftsinn-53f., 57 Humanismus-35, 61 Letztes Gericht-→ Gewissen ‚lex naturalis‘-149 Lutherforschung-19, 22, 24, 26 Mensch- innerer Mensch - äußerer Mensch-153, 159, 167ff., 177, 179f., 195, 205, 207, 211 Nominalismus-35ff., 96, 122 ‚potentia dei absoluta‘ - ‚potentia dei ordinata‘-36, 96, 122 242 Sachregister <?page no="243"?> Person - Werke-143, 145, 165 ‚potentia dei absoluta‘ - ‚potentia dei ordinata‘-→ Nominalismus Prädestination-120, 176 Psalmen- christologische Deutung der Psalmen-54 Rechtfertigungslehre-22, 152, 154f., 176 Interpretationsprobleme-154 Rechtfertigungsurteil- forensisch - effektiv-156 Reformation- Reformationsdeutung-15 reformatorischer Durchbruch Luthers-16, 23, 42 Sakramentenlehre-188, 191 leibliche Realpräsenz Christi im Sakrament-197 mittelalterliche Sakramentenlehre-188 Sakramente als Verheißungen-193 Taufe als Sterben und Auferstehung des Sünders-195 ‚sensus historicus‘-→ Hl. Schrift Sünde-68 als widergöttliche Selbstbehauptung-69 ‚concupiscentia‘-68f. Erbsünden - Aktualsünden-69 lässliche Sünden - Todsünden-66, 69 Taufe-39 ‚theologia crucis‘-19, 98, 102, 106ff., 110f., 113, 115, 120, 125, 128f., 134, 144, 175, 178ff., 186, 192, 195, 201, 209, 211, 217 ‚thesaurus ecclesiae‘-66 Transsubstantiationslehre-→ Abend‐ mahl Trinität-96 Ubiquitätslehre-→ Christologie ‚via moderna‘ - ‚via antiqua‘-35 Wittenberger Universitätsreform-26, 61f. Zwei-Naturen-Lehre (alte Kirche)-→ Christologie Zwei-Reiche-Lehre-→ Ekklesiologie Sachregister 243 <?page no="244"?> BUCHTIPP Das Buch nimmt den gegenwärtigen bibelwissenschaftlichen Diskussionsstand auf. Durch den Handbuchcharakter sollen wesentliche Themen diakonischen und sozialarbeiterischen Professionswissens bibelwissenschaftlich aufgearbeitet werden. Ein besonderer Akzent liegt darauf, anthropologische sowie ethische Aspekte und die damit verbundenen Themenbereiche in dem Arbeitsbuch in ihrer bibelwissenschaftlichen Aufarbeitung zur Sprache kommen zu lassen. Aspekte der Gemeinschaft und der Spiritualität betonen den für Diakonie vorausgesetzten Bezugsrahmen menschlichen Handelns. Auslegungen zu alt- und neutestamentlichen Schlüsseltexten, die in diakonischen Handlungsfeldern einen hohen Referenzwert haben, runden das Lehrbuch ab. Jörg Lanckau, Thomas Popp, Anni Hentschel, Anni Hentschel, Klaus Scholtissek (Hrsg.) Biblisches Arbeitsbuch für Soziale Arbeit und Diakonie 1. Au age 2021, 339 Seiten €[D] 29,90 ISBN 978-3-8252-5672-2 eISBN 978-3-8385-5672-7 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="245"?> BUCHTIPP Das vorliegende Lehrbuch bietet eine einführende Darstellung in die Systematische Theologie sowie ihre Themen und Probleme. Behandelt werden die Stellung der Systematischen Theologie in der akademischen Theologie, ihre innere Gliederung und die Geschichte des Fachs mit Blick auf den Wandel ihres Selbstverständnisses als einer theologischen Disziplin. Auf dieser Grundlage thematisiert das Lehrbuch alle relevanten Lehrstücke einer theologischen Dogmatik in einer problemgeschichtlichen Perspektive. Benutzerinnen und Benutzern des Lehrbuchs wird die Systematische Theologie als eine wissenschaftliche Darstellung der christlichen Religion erschlossen, die zum eigenen Weiterdenken anregen soll. Christian Danz Systematische Theologie 2., vollständig überarbeitete Auflage 2024, 517 Seiten €[D] 34,90 ISBN 978-3-8252-5781-1 eISBN 978-3-8385-5781-6 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="247"?> ISBN 978-3-8252-6407-9 Christian Danz Einführung in die Theologie Martin Luthers 2. Auflage Das Buch bietet eine fundierte Einführung in die Theologie Martin Luthers in einer problemgeschichtlichen und systematischen Perspektive. Behandelt werden methodische Probleme der Lutherdeutung wie auch der gegenwärtige Forschungsstand sowie die Herausbildung der reformatorischen Theologie Luthers. Mit Luthers Gottesanschauung, seinem Christusbild, der aus seinem reformatorischen Grundgedanken erwachsenen Anthropologie, dem Kirchenverständnis und der Eschatologie werden grundlegende Themen seiner Theologie mit Blick auf ihren werk- und problemgeschichtlichen Kontext erörtert. Ein Literaturverzeichnis führt in die wichtigsten Quellen, Hilfsmittel sowie die Sekundärliteratur zur Theologie Martin Luthers ein. Personen- und Sachwortregister erschließen das Buch. Theologie | Religionswissenschaft Einführung in die Theologie Martin Luthers Danz Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 2. A. 2025-02-21_6407-9_Danz_M_6407_PRINT.indd Alle Seiten 2025-02-21_6407-9_Danz_M_6407_PRINT.indd Alle Seiten 21.02.25 11: 21 21.02.25 11: 21
