eBooks

Einführung in die Kinder- und Jugendmedien

Bd. 3: Methoden und Theorien

1013
2025
978-3-8385-6415-9
978-3-8252-6415-4
UTB 
Stefanie Jakobi
Tobias Kurwinkel
Michael Ritter
Philipp Schmerheim
Franziska Thiel
10.36198/9783838564159

Das Thema Kinder- und Jugendmedien ist gerade für das Lehramtsstudium eine zentrale Bezugsgröße. Mit dieser Reihe soll die Thematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit unterschiedlichem Fokus angegangen werden: Die Bände bedienen jeweils entweder die fachdidaktische oder fachwissenschaftliche Perspektive. Über Verweise miteinander verbunden und dennoch in sich abgeschlossen führen die Bände jeweils in die Grundlagen, Didaktik sowie Theorien und Methoden ein. Band 3 verbindet Theorie und Praxis: Zentrale literatur-, kultur- und medienwissenschaftliche Ansätze werden vorgestellt und am Beispiel der Wizarding World von Harry Potter erprobt. Dazu zählen klassische Ansätze wie Diskursanalyse oder Motivforschung, aber auch solche des 21. Jahrhunderts, darunter postkoloniale und interkulturelle Perspektiven, Gender-, Queer- und Men's Studies sowie Ecocriticism.

9783838564159/9783838564159.pdf
<?page no="0"?> Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de Jakobi | Kurwinkel | Ritter | Schmerheim | Thiel (Hg.) Einführung in die Kinder- und Jugendmedien Bd. 3: Methoden und Theorien Kinder- und Jugendmedien sind für das Lehramtsstudium eine zentrale Bezugsgröße. Diese Einführung stellt aktuelle Diskurse rund um Medien für Kinder und Jugendliche vor und bietet Orientierung für alle, die professionell damit befasst sind. Die drei Bände bedienen jeweils die fachdidaktische oder die fachwissenschaftliche Perspektive. Über Verweise miteinander verbunden und dennoch in sich abgeschlossen, führen sie in die Grundlagen, Didaktik sowie Theorien und Methoden der Kinder- und Jugendmedien ein. Band 3 verbindet Theorie und Praxis: Zentrale literatur-, kultur- und medienwissenschaftliche Ansätze werden vorgestellt und am Beispiel der Wizarding World von Harry Potter erprobt. Dazu zählen klassische Ansätze wie Diskursanalyse oder Motivforschung, aber auch solche des 21. Jahrhunderts, darunter postkoloniale und interkulturelle Perspektiven, Gender-, Queer- und Men’s Studies sowie Ecocriticism. Literaturwissenschaft | Literaturtheorie Kinder- und Jugendmedien Bd. 3 Methoden und Theorien QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem T itel ISBN 978-3-8252-6415-4 Jakobi | Kurwinkel | Ritter | Schmerheim | Thiel (Hg.) 6415-4_Jakobi_Thiel_M_6415_PRINT.indd Alle Seiten 6415-4_Jakobi_Thiel_M_6415_PRINT.indd Alle Seiten 05.09.25 10: 32 05.09.25 10: 32 <?page no="1"?> utb 6415 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Psychosozial-Verlag · Gießen Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main UTB (M) Impressum_01_25.indd 1 UTB (M) Impressum_01_25.indd 1 13.01.2025 11: 28: 25 13.01.2025 11: 28: 25 <?page no="2"?> © Universität Bremen, Annemarie Popp Dr. phil. Stefanie Jakobi ist Lektorin am Arbeitsbereich Kinder- und Jugendliteratur/ -medien der Universität Bre‐ men und aktuell Vertretungsprofessorin für Kinder- und Jugendliteratur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören trans‐ mediales und transgenerisches Erzählen in den Kinder- und Jugendmedien sowie intersektionale Fragestellungen. Dr. phil. Franziska Thiel ist Wissenschaftliche Mitar‐ beiterin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Ihre Lehr- und Forschungsschwer‐ punkte sind neben Kinder- und Jugendmedien die Ge‐ schlechterforschung und die interkulturelle Literaturwis‐ senschaft. Einführung in die Kinder- und Jugendmedien herausgegeben von Stefanie Jakobi, Tobias Kurwinkel, Michael Ritter, Philipp Schmerheim und Franziska Thiel • Bd. 1: Grundlagen (Stefanie Jakobi, Tobias Kurwinkel und Franziska Thiel) • Bd. 2: Didaktik (hg. v. Tobias Kurwinkel und Michael Ritter) • Bd. 3: Methoden und Theorien (hg. v. Stefanie Jakobi und Franziska Thiel) <?page no="3"?> Stefanie Jakobi / Tobias Kurwinkel / Michael Ritter / Philipp Schmerheim / Franziska Thiel (Hg.) Einführung in die Kinder- und Jugendmedien Bd. 3: Methoden und Theorien herausgegeben von Stefanie Jakobi und Franziska Thiel <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838564159 © 2025 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Heraus‐ geber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung Druck: Elanders Waiblingen GmbH utb-Nr. 6415 ISBN 978-3-8252-6415-4 (Print) ISBN 978-3-8385-6415-9 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6415-4 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 9 I. 11 II 35 1 35 1.1 35 1.2 54 1.3 76 1.4 96 2 119 2.1 119 2.2 137 2.3 158 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World. Grundlagen und Herausforderungen | Stefanie Jakobi & Franziska Thiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische und theoretische Kontextualisierungen von Harry Potters Storyworld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? . . . . . . . . . . . . . . Psychoanalytische Literaturwissenschaft: Traum und Trauma in der Wizarding World | Tobias Kurwinkel . . . . . . RaumZeitlichkeit in Harry Potter: „It all seems to move around a lot“ | Julia Lückl & Heidi Lexe . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Diskursanalyse des Mütterlichen bei Harry Potter | Astrid Henning-Mohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transmediale Motivanalyse und das Spiegelmotiv in der Wizarding World: Harry Potter hinter den Spiegeln? | Stefanie Jakobi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medientext und Soziologie: Harry Potter als siegreiche Form der Geschmacksbildung | Christine Magerski . . . . . . . . . . . Postkoloniale Perspektiven auf die Wizarding World: „Magic is Might“? | Magdalena Kißling . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturalität: Wechselseitige Fremdheit und der (Un-)Geist des Hybriden in der Wizarding World | Hadassah Stichnothe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 2.4 176 2.5 218 2.6 237 2.7 256 2.8 274 2.9 293 317 Gender, Queer und Men’s Studies: -Subtexte, Leerstellen und Vieldeutigkeiten in der Wizarding World | Jara Schmidt & Franziska Thiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literary Disability Studies: Inszenierung und Funktionalisierung von Behinderung in der Wizarding World | Maren Conrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ecocriticism und Harry Potter: Von verbotenen Wäldern und magischen Wesen | Benjamin Bühler . . . . . . . . . . . . . . Tier und Mensch: ein Animal Reading der Wizarding World | Alexandra Böhm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzähl- und Kognitionsforschung: Überraschung und Schemamodifizierung in Harry Potter und der Stein der Weisen | Márta Horvath . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Digitalisierung und Netzwerk: Eine gendersensible digitale literaturwissenschaftliche Netzwerkanalyse der Wizarding World | Mareike Schumacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autor: innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Vorwort Kinder und Jugendliche wachsen in Medienwelten auf: Literatur wird dabei nicht nur in Bilderbüchern (mit-)angesehen und in Romanen gelesen, in Hörspielen und -büchern gehört oder in Filmen, Serien und Videos gesehen, sondern auch in verschiedensten Formen gespielt. Seit den frühen 2000er-Jahren sind Kinder und Jugendliche zudem nicht mehr nur primär Rezipierende und Konsumierende im medialen Universum, sondern auch Prosumierende, sie kommunizieren über Social Media und nutzen die interaktiven und kollaborativen Elemente des Web 2.0, um selbst Inhalte zur Verfügung zu stellen. In den letzten beiden Jahrhunderten hat sich so eine spezifische Literatur für Heranwachsende herausgebildet, die stets im Wandel begriffen ist und in den letzten Jahrzehnten eine enorme mediale Diversifizierung erfahren hat. Diese Entwicklung erfreut sich zunehmend auch einer wissenschaftlichen Aufmerksamkeit unterschiedlicher Disziplinen. Hierzu möchte die dreibändige Einführung in die Kinder-und Jugendme‐ dien einen Beitrag leisten; sie versteht sich als Überblick über zentrale Theorien, Methoden und die Didaktik der Kinder-und Jugendmedien. In übersichtlicher Form möchte sie aktuelle Diskurse rund um Medien für Kinder-und Jugendliche vorstellen und Orientierung bieten für alle, die professionell mit Kinder-und Jugendmedien befasst sind. Band 1 bietet eine kompakte fachwissenschaftliche Einführung in das kinder-und jugendmediale Erzählen. Band 2 zur Didaktik der Kinder-und Jugendmedien schließt an den transmedial perspektivierten, literaturwis‐ senschaftlich fundierten ersten Band an und bietet eine didaktische Orien‐ tierung zu ausgewählten Medienformen. In Band 3 werden am Beispiel einer zeitgenössischen Storyworld einschlägige Literaturtheorien und Methoden erprobt, um die Vielfalt der Zugänge der wissenschaftlichen Auseinander‐ setzung mit Kinder-und Jugendmedien sichtbar zu machen. Stefanie Jakobi, Tobias Kurwinkel, Michael Ritter, Philipp Schmerheim und Franziska Thiel im Sommer 2025 <?page no="9"?> Einleitung Der vorliegende Band hat sich zum Ziel gesetzt, zentrale Theorien und Methoden der Literatur- und Medienwissenschaft vorzustellen und diese auf narrative Medientexte der Wizarding World anzuwenden. Im Fokus steht dabei die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Interpretationsansät‐ zen, die sowohl für die Forschung als auch für die Praxis in der Kinder- und Jugendmedienanalyse von Relevanz sind und gezielt auch transmediale Phänomene erfassen. Die Interpretation literarischer und medialer Texte ist nicht nur eine wissenschaftliche Methode, sondern auch eine grundlegende kulturelle Praxis. Die Fähigkeit, Texte zu deuten, Bedeutungen zu rekonstruieren und narrative Strukturen zu analysieren, ist in der geisteswissenschaftli‐ chen Forschung ebenso essenziell wie für die gesellschaftliche Debatte insgesamt. Vor diesem Hintergrund greift der Band auf etablierte litera‐ turwissenschaftliche Modelle zurück und kombiniert diese mit aktuellen interdisziplinären Ansätzen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Fra‐ gen der Intersektionalität sowie der Rolle von Kontexten und Medialität im Interpretationsprozess. Die Wizarding World dient in diesem Band als Untersuchungsgegen‐ stand, da sie nicht nur eines der bekanntesten und einflussreichsten Medienphänomene der Gegenwart darstellt, sondern auch aufgrund ihrer narrativen und intertextuellen Struktur vielfältige analytische Zugänge ermöglicht. Dabei ist insbesondere ihre transmediale Ausgestaltung her‐ vorzuheben: Die Storyworld entfaltet sich über verschiedene Medienfor‐ mate hinweg und lädt so zur Analyse ihrer medialen Struktur, ihrer Rezeption sowie der daran gekoppelten kulturellen Praktiken ein. Der Blick richtet sich daher sowohl auf tradierte literaturwissenschaftliche Herangehensweisen als auch auf neuere methodologische Entwicklun‐ gen, die insbesondere die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts be‐ rücksichtigen. Indem dieser Band unterschiedliche wissenschaftliche Perspektiven zu‐ sammenführt, leistet er einen Beitrag zur methodischen Reflexion innerhalb der Kinder- und Jugendmedienforschung und möchte zugleich Impulse für weitere wissenschaftliche Untersuchungen geben. Die Vielfalt der hier versammelten Ansätze soll dazu anregen, bestehende Interpretationsmuster <?page no="10"?> zu hinterfragen, neue analytische Zugänge zu entwickeln und die Relevanz literaturwissenschaftlicher Methoden im interdisziplinären Kontext zu ver‐ deutlichen. Bremen und Hamburg, Stefanie Jakobi und Franziska Thiel 10 Einleitung <?page no="11"?> I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World. Grundlagen und Herausforderungen Stefanie Jakobi & Franziska Thiel Lesen, Verstehen und Interpretieren sind zentrale Bestandteile unseres täglichen Lebens und lassen den Menschen als ‚deutendes Wesen‘ als ‚homo interprens‘ erscheinen (vgl. Kindt/ Köppe 2008: 7). Wir versuchen ständig, Äußerungen und Handlungen anderer Menschen zu deuten, Bedeutungen zu entschlüsseln und Ereignisse in einen größeren Zusammenhang einzu‐ ordnen. Diese allgegenwärtige Praxis des Interpretierens spiegelt sich auch in ihrer wissenschaftlichen Relevanz wider. Besonders in den Literatur- und Medienwissenschaften spielt das Verstehen und Interpretieren eine herausragende Rolle. Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus betonen in ihren Standardwerken zur Literaturtheorie (2012, 2016), dass Texte und Medien nicht nur interpretationsfähig, sondern auch interpretationsbedürftig sind (vgl. Jahraus/ Neuhaus 2002: 23). Angelika Corbineau-Hoffmann führt dies noch weiter aus: Narrative Medientexte seien „Texte der besonderen Art“, die nicht nur Botschaften übermitteln, sondern „in der spezifischen Art ihrer Gestaltung selbst schon die Botschaft“ sind (Corbineau-Hoffmann 2002: 162). Der vorliegende Band möchte Leser: innen daher einladen und dabei un‐ terstützen, narrative Medientexte nicht nur inhaltlich zu entschlüsseln, sondern auch deren Gestaltung als Botschaft wahrzunehmen. Diese Hilfe scheint notwendig, wie Heike Schmoll in ihrem Kommentar Deutschland in der Bildungskrise unterstreicht, indem sie fragt: „Wie lässt sich […] die Freude an Leseanstrengung fördern, und wie lassen sich Hürden beim Verstehen schwer zugänglicher Texte überwinden? “ (Schmoll 2025) Denn die Suche nach Bedeutung und der Wunsch nach Verstehen von Texten und Botschaf‐ ten waren und sind für uns alle gegeben; für Geisteswissenschaftler: innen sind sie zudem existenziell. <?page no="12"?> Merkkasten: Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert: Krise oder Chance? Im 20. Jahrhundert gehörten Geisteswissenschaften wie Sprach- und Literaturwissenschaften oder Philosophie zu beliebten Studienfächern und wurden auch gesellschaftlich hoch geschätzt. Doch gilt dies nicht mehr für das 21. Jahrhundert: In (internationalen) Rankings sucht man in den Top-Platzierungen vergeblich nach philologischen Fächern (vgl. Statistisches Bundesamt 2024), die Studierendenzahlen haben sich - auch international - fast halbiert, da pragmatische und ökonomische Überlegungen dominieren (vgl. Schmoll 2025). Studien‐ gänge wie BWL oder Informatik werden bevorzugt, da sie bessere Einkommensaussichten und eine ‚Work-Life-Balance‘ versprechen. So verdrängt eine Orientierung an wirtschaftlichem Nutzen die einstige Attraktivität von Fächern wie Germanistik oder Philosophie und somit auch von einschlägigen philologischen Kompetenzen. Diese ‚Krise der Geisteswissenschaften‘ ist eng mit gesellschaftlichen und bildungspolitischen Veränderungen verknüpft. Der Rückgang der Lesekompetenz und der Verlust an Vertrauen in die Fähigkeit der Geisteswissenschaften, gesellschaftliche Entwicklungen zu deuten, tragen dazu bei, dass diese Disziplinen an Bedeutung verlieren - mit weitreichenden Konsequenzen für Bildung und Demokratie (vgl. Schmoll 2025). Dabei stehen die Geisteswissenschaften in einer dop‐ pelten Krise: Sie kämpfen mit einem Imageproblem und einer gerin‐ geren Wertschätzung im Vergleich zu anderen Disziplinen, während gleichzeitig strukturelle Probleme innerhalb der Hochschulen ihre At‐ traktivität und Wirksamkeit beeinträchtigen. Zudem werden Fächer wie Germanistik und Philosophie oft auf scheinbar ‚unpraktische‘ Themen reduziert, obwohl sie wichtige Kompetenzen wie kritisches Lesen und Denken, kulturelles Verständnis sowie Analysefähigkeit vermitteln (vgl. Silberg 2024). Diesbezüglich resümiert die Literatur‐ wissenschaftlerin Julika Griem: „Mir fällt auf, dass die Bereitschaft abnimmt, sich auf anspruchsvolle Texte zu konzentrieren, während die Studierenden mündlich immer besser werden. Genau lesen und damit komplizierte und widersprüchliche Sachverhalte erschließen sind aber Fähigkeiten, auf die wir nicht verzichten können. […] Wenn wir das nicht weiterhin trainieren, dann verlieren wir als Gesellschaft die Möglichkeit, geduldige und gründliche Toleranz zu üben.“ (Griem 12 I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World <?page no="13"?> in Silberg 2024) Geisteswissenschaftler: innen wie Griem und Schmoll warnen davor, dass der mangelnde Fokus auf Textarbeit und Inter‐ pretationskompetenz schwerwiegende Folgen für die Demokratie haben könnte. Denn die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu ent‐ schlüsseln, ist unerlässlich, um einfache Lösungsversprechen kritisch zu hinterfragen und einen fundierten gesellschaftlichen Diskurs zu ermöglichen (vgl. Schmoll 2025). So sehen sich mittlerweile geisteswissenschaftliche Forschungsfelder und Disziplinen in der öffentlichen Wahrnehmung auch mit Miss‐ verständnissen und Widerständen konfrontiert: Sabine Hark und Paula-Irene Villa Braslavsky identifizierten z. B. 2015 einen aggressi‐ ven Anti-Genderismus, der von populistischen Rechten, Journalist: in‐ nen und religiösen Institutionen befeuert wird (vgl. Schößler/ Wille 2022: 10). Rechte Parteien fordern die Abschaffung der Gender Studies und diffamieren sie als „ideologisches Projekt“ ohne wissenschaftli‐ chen Wert (Witzki 2019). Dabei ignorieren sie deren gesellschaftlich relevante Kompetenzen, etwa kritisches Denken und differenzierte Textinterpretation als Schlüsselkompetenzen für eine demokratische Gesellschaft zu fördern. Der Band richtet seinen Fokus auf Methoden und Theorien moderner Interpretationen und reiht sich in eine traditionsreiche Forschungs- und Publikationsgeschichte ein - von Poetik und Hermeneutik (1963-1994), David E. Wellbery (Hrsg.) Positionen der Literaturwissenschaft: Acht Modell‐ analysen am Beispiel von Kleists ‚Das Erdbeben in Chili‘ (1987) über Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus (Hrsg.) Kafkas ‚Urteil‘ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen (2002), Vera und Ansgar Nünning (Hrsg.) Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse: Ansätze - Grundlagen - Modellanalysen (2010) bis zu Oliver Jahraus (Hrsg.) Zugänge zur Literatur‐ theorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns ‚Der Sandmann‘ (2016) -, setzt jedoch zwei zentrale, abweichende Schwerpunkte mit Blick auf den Gegenstand und den zeitlichen Horizont: So findet sich insbesondere mit Blick auf das Lehramtsstudium bis dato keine umfassende deutschsprachige Beschäftigung mit Literaturtheorien und Methoden für die Kinder- und Jugendmedien und dies obwohl das Feld eine zentrale Position im Lehr‐ amtsbereich einnimmt und sich die Kinder- und Jugendmedienforschung in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend auch als eigenständiges Feld I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World 13 <?page no="14"?> jenseits der Didaktik etabliert hat. Weiterhin sucht der Band dezidiert den Blick auf Theorien und Methoden des oder eher für das Verstehen im 21. Jahrhundert zu legen. Denn die methodische Ausdifferenzierung und die Erweiterung der Palette alter und neuer(er) Interpretationstheorien, die bereits in den 1970er-Jahren einsetzte und zum bekannten Methoden‐ pluralismus führte (vgl. bspw. Jahraus/ Neuhaus 2002: 24), bringt für das 21. Jahrhundert weitere und vor allem selbstkritische Paradigmenwechsel (nicht nur) für die Literaturwissenschaft: Die Feststellung, Literaturtheorie sei kaum mehr als reine Texttheorie denkbar; „neuere Ansätze sind in der Regel kulturwissenschaftlich und interdisziplinär ausgerichtet“ (Schmid 2010: 10), muss mittlerweile selbst schon wieder erweitert werden. Gerade in Bezug auf Kinder- und Jugendmedien zeigt sich dies in einer zunehmenden Berücksichtigung transmedialer Formate und Praktiken, die das literatur‐ wissenschaftliche Methodenrepertoire vor neue Herausforderungen stellen und zugleich produktiv erweitern. Interdependente Kategorien und Hetero‐ genitäten prägen Wissens- und Verstehensdiskurse seit dem 21. Jahrhundert zunehmend. Tradierte Denkweisen, Norm- und Wertvorstellungen sowie damit verbundene Konzepte und Begrifflichkeiten werden auf den Prüfstand gestellt, erweitert, verworfen oder kritisiert. Dies spiegelt sich nicht nur im Umgang mit dem Bedürfnis nach ‚Entschlüsselung‘ und Verstehen von Bedeutungen als philologische Fähigkeit wider, sondern zieht sich auch als roter Faden durch den vorliegenden Band: Denn so wie sich bspw. in Intersektionalitätsdebatten Kategorien sozialer Normierung überschneiden und miteinander verwoben sind, so gilt dies auch im besonderen Maße für den Umgang mit theoretischen Konzepten, Modellen und Lesarten in den Beiträgen der Autor: innen. I.I Begriffe und Grundlagen Am Anfang steht eine allgemeine begriffliche Klärung, denn was ist Litera‐ turtheorie überhaupt? Was sind Methoden? Literaturtheorie ist ein Teilbereich der Literaturwissenschaft, der sich mit grundlegenden Fragen zu Literatur, ihrer Produktion, Rezeption und In‐ terpretation befasst (vgl. Descher/ Konrad/ Petraschka 2023). Sie umfasst verschiedene Literaturtheorien sowie methodische Ansätze, die für das Verständnis von Medientexten und ihren Kontexten wichtig sind. Ansgar und Vera Nünning betonen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse immer 14 I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World <?page no="15"?> theoriegeleitet sind: „Im Gegensatz zu der Art und Weise, wie Menschen im Alltag Erfahrungen machen und Wissen erwerben, beruhen wissenschaftli‐ che Erkenntnisse auf methodisch geregelten Verfahren“ (Nünning/ Nünning 2010: 2). Simone Winko und Tilmann Köppe ergänzen: „Keine Leserin und kein Leser kann ‚theoriefrei‘ Literatur lesen, geschweige denn interpretieren“ (Köppe/ Winko 2013: 1). Wenn also die Theoriegebundenheit des Faches bzw. des Verstehensvor‐ gangs nicht angezweifelt werden kann, sind in Bezug auf die Begriffe ‚Theorie‘ und ‚Methode‘ im Kontext der Literaturwissenschaften jedoch Differenzen zu ihren Geschwistern in den Natur- oder Sozialwissenschaften zu markieren. So diskutiert Viktor Zmegac bereits 1971: „Dieser Band handelt von Methoden der deutschen Literaturwissenschaft. Der Titel ist richtig und falsch zugleich. Richtig: weil er die Dinge so nennt, wie sie sich traditionsgemäß nennen, und folglich eine historische Gegebenheit respektiert; mit Einschränkung falsch: weil es höchst zweifelhaft ist, ob bei der Mehrzahl der in den Texten enthaltenen Gedanken, Thesen und Postulate von ‚Methode‘ in einem strengen Wortsinn die Rede sein kann.“ (Zmegac 1971: 9) Merkkasten: Theorie und Methode „Der Begriff ‚Theorie‘, der aus dem griechischen Wort theoría (‚geis‐ tiges Anschauen‘ bzw. ‚wissenschaftliche Betrachtung‘) stammt, be‐ zeichnet explizite, elaborierte, geordnete und logisch konsistente Kategoriensysteme, die der Beschreibung, Erforschung und Erklä‐ rung der Sachverhalte ihres jeweiligen Objektbereichs dienen.“ (Nün‐ ning/ Nünning 2010: 6) „Der Begriff der Methode bezieht sich […] auf die Art und Weise des Vorgehens. Er stammt aus dem Griechischen (méthodos) und bezeichnet ursprünglich ‚den Weg auf ein Ziel hin‘ bzw. die Weise des Vorgehens, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Methoden sind also zunächst einmal festgelegte Schrittfolgen bzw. Abfolgen von Arbeitsschritten, mit denen man zu einem vorher festgelegten Ziel gelangt.“ (Nünning/ Nünning 2010: 7) Die hier benannten Begriffsverständnisse lehnen sich an Kontexte über die Literaturwissenschaften hinaus an und ihre Übertragung auf die Aus‐ einandersetzung mit Medientexten ist somit, wie von Zmegac postuliert, I.I Begriffe und Grundlagen 15 <?page no="16"?> problematisch, da literaturwissenschaftliche Methoden sich in der Regel nicht durch klare „Anweisungen zur Abfolge festgelegter Schritte“ (Winko/ Köppe 2013: 14) ausweisen und ihre Anwendung zudem in der Regel nicht „zu wiederholbaren Ergebnissen führen“ (ebd.) - sprich: Zwei Leser: innen werden trotz der Anwendung der gleichen Methode auf den gleichen Gegen‐ stand nicht zum gleichen Ergebnis kommen, wie es bspw. ein physikalischer Versuchsaufbau oder ein chemisches Experiment erlaubt. Das Verstehen von Medientexten lässt sich nicht in eine Formel à la 1+1=2 übersetzen. Winko und Köppe setzen deswegen für die Literaturwissenschaften einen „schwächeren Sinn[]“ (ebd.) von ‚Methode‘ an, den sie über drei Bedingun‐ gen definieren: • „explizite oder post festum explizierbare Ziele; • verfahrenstechnische Annahmen darüber, auf welchem Weg die Ziele am geeignetsten zu erreichen sind; • eingeführte Begriffe, mit denen die Ergebnisse im wissenschaftlichen Text dokumentiert werden.“ (Ebd.) I.II Blicke in Vergangenheit und Gegenwart Auch wenn sich der Band auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts konzentriert, ist ein Rückblick auf frühere Ansätze unverzichtbar. Die Theo‐ rien und Methoden für das 21. Jahrhundert können nicht ohne die intellek‐ tuellen Grundlagen der zentralen Theorien und wesentlichen Neuerungen der Moderne verstanden werden: Das Erbe der Hermeneutik, die sowohl das Selbstverständnis als auch das Verfahren der Literaturwissenschaft über einen langen Zeitraum bestimmt hat (vgl. Herrmann/ Horstkotte 2016: 7), ist ebenso zentral wie Formalismus und Strukturalismus, New Criticism, New Historicism und marxistische Literaturtheorien. Sie bilden das Fundament, auf dem gegenwärtige Theorien und methodische Ansätze aufbauen, sich zuweilen abgrenzen, darüber hinausgehen und weiterentwickeln (siehe Köppe/ Winko 2013: 19). Dabei schwanken die Ansätze zwischen einer Fo‐ kussierung auf den Text selbst und einer stärkeren Berücksichtigung seines Kontexts. Thomas Fries und Sandro Zanetti beschreiben diesen Wechsel treffend als „Aufbruch mit Theorie, Rückkehr zu den literarischen Texten - und umgekehrt! “ (Fries/ Zanetti 2019: 36). 16 I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World <?page no="17"?> Doch welche Konzepte aus der Vielzahl an Theorien, Methoden und Ansätzen des 20. Jahrhunderts haben im 21. Jahrhundert Bestand oder wirken fort? Welche ‚Vorläufer: innen‘ prägen die Gegenwart, was ist alles ‚Neo-‘ oder ‚Post-‘ (vgl. II.1.1-1.4)? Die aktuelle Auseinandersetzung mit Literaturtheorien und Methoden folgt dabei einer doppelten Bewegung: Einerseits werden zentrale Theorien des vergangenen Jahrhunderts aufge‐ griffen und weiterentwickelt, andererseits findet sich eine zunehmende Öffnung für interdisziplinäre, interdependente, digitale und globalisierte Perspektiven. Somit kann sowohl im wissenschaftlichen Kontext als auch als grundle‐ gender Ansatz des Bandes das theoretische Konzept der Intersektionalität respektive Interdependenz als „Sensibilisierungsstrategie betrachtet wer‐ den: Es macht auf Schnittmengen von Diskriminierungen aufmerksam, sensibilisiert für die Prozesshaftigkeit binärer Differenzlinien und verdeut‐ licht zudem die jeweiligen Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse, in die kategoriale Zuschreibungen eingebettet sind“ (Küppers 2014). Merkkasten: Intersektionalität - Interdependenz: Überschnei‐ dung, Verschränkung und Gleichzeitigkeit Ausgehend von feministischen Bewegungen schwarzer Frauen - dem Black feminism - der 1970er-Jahre, die im ‚White feminism‘ eine deutliche Diskriminierung und Ausgrenzung von Women of Colour kritisierten, entwickelten sich theoretische Modelle, um integrale Qua‐ litäten sozialer Kategorien sichtbar zu machen. Nach Modellen der sogenannten Doppeldiskriminierung und später der ‚Triple-Oppres‐ sion-Theorie‘, die aufzeigen, dass Frauen nicht allein aufgrund ihres Geschlechts, sondern auch aufgrund von Hautfarbe und sozialer Her‐ kunft unterdrückt werden (vgl. Küppers 2014), entstanden weitere An‐ sätze zur Konzeptualisierung von Interdependenzen, denn bestimmte Eigenschaften einer Kategorie sind nicht isoliert zu betrachten, sondern stehen immer in Wechselwirkung mit anderen Aspekten. Die Dreifach‐ unterdrückung von ‚Gender‘, ‚Race‘ und ‚Class‘ wird Ausgangspunkt für das Verständnis von verwobenen, sich überschneidenden Katego‐ rien sozialer Ungleichheit sowie Normierungen. Die Schwarze Kultur‐ theoretikerin und Autorin bell hooks (1952-2021), deren Schriften für die Intersektionalitätsdebatte richtungsweisend sind, baut bspw. darauf auf und thematisiert Marginalisierungen und partikulare Interessen I.II Blicke in Vergangenheit und Gegenwart 17 <?page no="18"?> innerhalb der Frauenbewegung. Unterdrückende Machtverhältnisse und Institutionen wirken nämlich nicht unabhängig voneinander, son‐ dern werden als zusammenhängende Mechanismen untersucht, sodass Überschneidungen von verschiedenen Formen der Diskriminierung und Marginalisierung beschrieben werden müssen (vgl. Degele 2018: 1). Diesen Ansatz bündelt die Juristin Kimberlé Crenshaw (*1959) im Be‐ griff ‚intersectionality‘, der Ende der 1980er-Jahre in den feministischen Diskurs einwirkte (vgl. ebd.). Mittlerweile findet sich das Konzept um den Aspekt der ‚Gleichzeitigkeit von Dominanzverhältnissen‘ und der ‚gegenseitigen Abhängigkeit‘ (vgl. Walgenbach 2012: 61-64) erwei‐ tert in zahlreichen Disziplinen und bietet eine Perspektiverweiterung auf Ungleichheitsdimensionen. Für die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteraturforschung ist in diesem Kontext die Veröffentlichung von Julia Benner (2016) sowie die didaktische Perspektivierung von Verónica Abrego, Ina Henke, Magdalena Kißling, Christina Lammer und Maria-Theresia Leuker (2023) zu benennen. Auch die Erweiterung des Textbegriffs bleibt ein zentraler Ansatz: Nicht nur literarische Texte, sondern auch allgemeine kulturelle Phänomene werden als Medientexte les- und hörbar gemacht (→ Band 1: I.1.3). Eng damit verknüpft ist die Auseinandersetzung mit Alteritätskonzepten, die die Wahrnehmung und Darstellung von Fremdheit und Differenz in der Li‐ teratur und anderen medialen Ausdrucksformen hinterfragen. Ein weiteres prägendes Merkmal der Debatten im 21. Jahrhundert ist das fortwährende Infragestellen und Erschüttern etablierter Begriffsverständnisse und theore‐ tischer Konzepte. Während bereits im 20. Jahrhundert eine Dekonstruktion tradierter Kategorien angestoßen wurden, setzt sich dieser Prozess und die Absage an vermeintliche Wahrheiten gegenwärtig nicht nur fort, sondern erfährt eine Steigerung und Neuausrichtungen. Zudem sind die (Neu)Positionierung der Literaturwissenschaft als Kul‐ turwissenschaft (vgl. Corbineau Hoffmann 2017: 263-275) sowie die bereits erwähnte Berücksichtigung von Kontexten wesentlich für Theorien und Methoden für das 21.-Jahrhundert. Denn die Bedeutung von Kontextualität wird mit zunehmender Pluralisierung von Gegenwartserfahrungen umso relevanter, da unsere Gegenwart als dynamisch und heterogen erscheint - eine Vielschichtigkeit, die sich in unterschiedlichen Lesarten, Interpretatio‐ 18 I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World <?page no="19"?> nen, Theorien, methodischen Zugängen und methodologischen Herausfor‐ derungen widerspiegelt. Merkkasten: Kontextualität - der Schlüssel zum Verstehen Corbineau-Hoffmann benennt in ihrer Einführung Kontextualität diese nicht nur als ‚Basiskategorie der Literaturwissenschaft‘, son‐ dern auch als Strukturmerkmal der medialen Gegenwart (vgl. Corbi‐ neau-Hoffmann 2017: 13) und hält fest, dass (literarische) Texte nie für sich allein stehen, sondern immer in Kontexten, und „je komplexer sie sich ausnehmen, umso mehr“ (ebd.: 5). Kontexte spielen folglich eine entscheidende Rolle bei der Bedeutungsbildung von Medientexten. Denn Medientexte sind im Sinne des lateinischen ‚contextus‘ eng miteinander verknüpft und rufen sinnstiftende Zusammenhänge auf. Der Kontext-Begriff verfügt über eine ausgeprägte Variationsbreite, die sich bspw. im französischen Dictionnaire de la langue française im Verständnis von ‚contexture‘ als „Gewebe von Teilen, die ein Ganzes bilden“, niederschlägt, und besonders auf die ‚Werke des Geistes und der Kunst‘ angewendet wird (ebd.: 20). Darüber hinaus lassen sich Kontexte als Textwelten verstehen, die Gegenstände nicht darstellen, sondern hervorbringen, was das kreative Potenzial deutlich hervor‐ treten lässt. Corbineau-Hoffmann spricht davon, dass die „abbildende Reproduktion […] der schöpferischen Produktion [weicht].“ (Ebd.: 20) Es lassen sich zudem verschiedene Formen unterscheiden, bspw. Klassifikationskontexte (z. B. nach Gattungen), Produktionsbzw. Entstehungskontexte sowie Rezeptionskontexte. Daran anknüpfend bezeichnet Kontextualisierung die gezielte Rekonstruktion der Kon‐ texte, in denen Texte verankert sind. Diese Kontexte beeinflussen - auch oft unbewusst - jede Lektüre und sind in methodisch reflektier‐ ter Form ein unverzichtbarer Bestandteil jeder Interpretation (vgl. Burdorf 2007: 398). Es besteht ein fortlaufendes Wechselverhältnis zwischen Medientexten und ihrer Umwelt. Leonhard Herrmann und Silke Horstkotte bezeichnen dieses Phänomen in Bezug auf die Gegenwartsliteratur auch als eine strukturelle und unmittelbare Bezogenheit von Medientexten auf Diskurse der eigenen Zeit (vgl. Herrmann/ Horstkotte 2016: 4): „Die Gegenwärtigkeit von Literatur ist in I.II Blicke in Vergangenheit und Gegenwart 19 <?page no="20"?> diesem Sinne ein ‚Wahrnehmungsmodus, eine Form der Aufmerksamkeit auf die Erscheinungen, Sprechweisen und Äußerungsformen der Zeit‘“ (ebd.: 3). Die Theorien und Methoden selbst, aber auch ihre kritische Reflexion und Anwendung, besitzen ein besonderes Potenzial, um über den wissenschaft‐ lichen Diskurs hinaus wirksam zu werden und eine hohe Anschlussfähigkeit an Lebenswirklichkeiten zu entfalten. Sie ermöglichen nicht nur ein vertief‐ tes Textverständnis, sondern schärfen auch den Blick für gesellschaftliche Dynamiken und aktuelle Fragestellungen. Gerade durch die methodische Vielseitigkeit und kritische Auseinander‐ setzung mit verschiedenen Perspektiven eröffnen sie neue Denkwege und tragen dazu bei, komplexe Zusammenhänge auch in der Praxis - im Studium oder im späteren beruflichen Umfeld, im Lehramt, in Verlagen oder Kultur‐ einrichtungen - zu erfassen und zu hinterfragen. I.III Aufbau des Bandes Der vorliegende Band verfolgt eine zweifache Zielsetzung: Er präsentiert einerseits verschiedene Methoden und fundierte Ansätze für Interpretatio‐ nen und liefert andererseits neue Beiträge zur Forschung über die Wizarding World. Der Aufbau des Bandes orientiert sich daher auch an den Arbeiten von Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus, die für Modellanalysen plädieren, um theoretische Konzepte greifbar zu machen. Jede Theorie wird zunächst kurz eingeführt, zentrale Begriffe und Vertreter: innen werden benannt. Anschließend erfolgt die exemplarische Anwendung auf narrative Medien‐ texte, konkret illustriert durch Beispiele aus der Wizarding World. Der Band vereint verschiedene methodische Positionen und die damit verbundenen Interpretationsverfahren. Durch Merkkästen sowie eine in‐ terne Verweisstruktur auf andere Beiträge innerhalb des Bandes sowie auf Inhalte der anderen Bände der Einführung werden die Verschränkungen respektive Vernetzungen intellektueller Traditionen, ihre Kontextualität und die Interdisziplinarität von Theorien und Methoden sichtbar. Dabei wird jedoch keineswegs eine Beliebigkeit der Methoden propagiert, sondern der Blick explizit auf das 21. Jahrhundert gerichtet und mit ‚Grenzgänger: in‐ nen über den disziplinären Tellerrand geschaut‘ (vgl. II.2.1-2.9). Die Wahl der jeweils angemessenen Methode für eine spezifische interpretato‐ rische Fragestellung liegt bei den Beitragenden selbst und spiegelt deren ausgeprägtes Methodenbewusstsein wider. 20 I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World <?page no="21"?> Wie bei der Auswahl von Theorien und Methoden ergeben sich auch bei der Wahl des Untersuchungsgegenstandes methodologische Herausfor‐ derungen: Welche Texte werden gelesen, welche Filme geschaut oder welche Medien gehört, und welche dieser Inhalte gelten als repräsentativ für eine Einführung in die Kinder- und Jugendmedien? Die Fragen nach der Relevanz und Repräsentativität bestimmter Medientexte stehen im Zentrum intensi‐ ver Debatten. Dabei geht es insbesondere um Aspekte der Kanonbildung und die Definition sogenannter Klassiker, denn die Literaturwissenschaft definiert als literarischen Kanon ein „Korpus von Texten […] an dessen Überlieferung eine Gesellschaft oder Kultur interessiert ist“ (Winko 2002: 9). Merkkasten: Die Wizarding World zwischen Klassiker und Kanon Mit Bettina Kümmerling-Meibauer lässt sich als Klassiker der Kinder- und Jugendmedien ein narrativer Medientext bestimmen, der sich durch Kriterien wie „Langlebigkeit, Popularität und Vorbildlichkeit, eventuell ergänzt um den Aspekt der literarischen Qualität“ (Kümmer‐ ling-Meibauer 2020: 38) auszeichnet. Klassiker haben im kinder- und jugendmedialen Feld somit einen Sonderstatus - einen ebensolchen Status, den allgemeinliterarische kanonisierte Medientexte genießen: sie sind ein „wesentlicher Bestandteil des ‚kulturellen Gedächtnisses‘“ (ebd.: 39). In dieser Auszeichnung lässt sich auch die enge Verbindung von Klassikerbegriff und Kanon erklären, indem zum Kanon eine Gruppe von Medientexten gezählt werden, „die als exemplarisch und besonders erinnerungswürdig eingestuft“ (ebd.: 38) und angesehen werden. Aus dieser normativen Determinierung von Kanon und Klassikern ergibt sich auch ihre Abhängigkeit von sozio-kulturellen Verschiebungen (vgl. ebd.): Kanon- und Klassikerstatus können sich verändern, sind nicht überzeitlich und zudem kulturell determiniert. Mit und durch die berechtigten Kritiken am Kanon und der etablierten Kanonbildung - gebündelt bspw. im Forschungsverbund #breiterkanon - , wird dieser in der Literaturwissenschaft „heute als kontextbedingtes, dynamisches und plurales Phänomen“ verstanden, „das aus zahllosen Wertungshandlun‐ gen einzelner besteht […] und am ehesten greifbar wird in den Debatten darüber, aus welchen Gründen welche Texte für wertvoller gelten als andere.“ (Herrmann/ Horstkotte 2016: 12) I.III Aufbau des Bandes 21 <?page no="22"?> Ohne an dieser Stelle ein Werturteil über die literar-ästhetische Qualität der Wizarding World und spezifisch ihrer Prätexte fällen zu wollen, kön‐ nen die von Kümmerling-Meibauer als notwendig benannten Bedingun‐ gen als erfüllt angesehen werden (vgl. Kümmerling-Meibauer 2020: 41). Auch sie sind Klassiker: Die zur Wizarding World gehörigen Medientexte ‚geistern‘ bis heute durch Bücherregale, Leinwände und Bildschirme - HBO hat für 2026/ 2027 eine neue Adaption der Buchreihe in Serienformat angekündigt - und Fanfiction-Autor: innen schreiben vermarktet über BookTok an der Welt weiter. Die Wizarding World hat nicht nur ihre eigenen Nachfolger: innen produziert, einen Fantastik-Boom ausgelöst, sondern Buchhändler: innen gerettet (vgl. Ku 2022: 20) und sind für Mil‐ lionen von Leser: innen aus der eigenen Lesebiografie nicht wegzudenken: „Die Bücher weckten meine Liebe zur Sprache, zum guten Erzählen, und ich denke, dass ich ohne Harry Potter heute kein Journalist wäre.“ (Ku 2022: 19) Die generationenübergreifende Anziehungskraft der Wizarding World ist jedoch kein bloßes Symptom ihrer Langlebigkeit, vielmehr stellen die Prätexte von Beginn an ein All-Age-Phänomen (→ Band 1: I.2.2.1) dar und überschreiten Altersgrenzen. Darüber hinaus ist ‚Age‘ ein zentraler Kontextfaktor für die Beschäftigung mit Kinder- und Jugendmedien und dieser stets eingeschrieben, wie auch die zunehmende Relevanz der Age Studies in der Kinder- und Jugendme‐ dienforschung in den letzten Jahren belegt (siehe: Benner/ Ullmann 2019, Deszcz-Tryhubczak/ Jaques 2021). Merkkasten: Age Julia Benner und Anika Ullmann diskutieren für die Kinder- und Jugendliteratur - hier auf das Feld Kinder- und Jugendmedien über‐ tragen -: „Wer sich mit Kinderliteratur aus wissenschaftlicher Per‐ spektive befasst, kommt nicht umhin, über age nachzudenken. Age spielt in seinen vielen Formen und Facetten im gesamten System Kinderliteratur eine entscheidende Rolle.“ (Benner/ Ullmann 2019: 145) Sie führen aus, dass ‚age‘ als zentrale Kategorie bei „der Konstruktion von Kindern als TeilnehmerInnen literarischer Kommunikation“ (ebd. 146) und damit die Produktion, Rezeption sowie Vermittlung beein‐ flussen (vgl. ebd.). Neben diesen äußeren Faktoren sind Medientexte auch intramedial durch ‚age‘ determiniert, in dem in ihnen „Alters‐ 22 I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World <?page no="23"?> konflikte, Alterszuschreibungen und […] altersspezifisch dargestellte Probleme verhandelt“ werden (ebd). Dass den Age Studies kein eigenes Kapitel gewidmet ist - genau wie Interrespektive Postmedialität, Visual/ Media Studies oder auch Game Studies -, ist den Beschränkungen des Bandes geschuldet. Trotz intensiver Auseinandersetzung und Auswahl von Theorien und Methoden bleiben natürlich Lücken in der Zusammenstellung der Theorievielfalt und des Methodenpluralismus ebenso wie in den jeweiligen Modellanalysen, die hier eher beispielhaft ausgewählte Aspekte behandeln können. Doch sollen diese Lücken als Einladung an die Leser: innen verstanden werden, selbst weiter und anders zu lesen, zu denken und zu hinterfragen. I.IV Von Harry Potter zur Wizarding World Harry Potter und die Wizarding World - das sind schon lange nicht mehr nur die Kinder- und Jugendbuchreihe der britischen Autorin J.K. Rowling, die 1997 mit dem ersten Band The Philosopher’s Stone ihren Anfang nahm und mit dem siebten Band Deathly Hollows 2007 ihren Abschluss fand. Es sind auch schon lange nicht mehr nur die Filme, in denen man das Wachsen und Erwachsenwerden von Harry Potter, Ronald Weasley, Hermione Granger sowie Daniel Radcliffe, Rupert Grint und Emma Watson mitverfolgt - sind es doch gleichermaßen Figuren als auch Schauspieler: innen, die sich vor den Augen der Zuschauer: innen über die Jahre hinweg verwandeln (vgl. Thompson 2017). Es ist mittlerweile eine Welt, die sich über Generationen sowie unterschiedliche mediale Ausdrucksformen erstreckt und zunehmend bisweilen ganz ohne Harry Potter auskommt. Was am Ende des 20. Jahrhunderts mit der Erzählung über den titelgeben‐ den Waisenjungen Harry Potter begann, der sich in der Welt der Zauberer und Hexen zurecht finden und immer wieder gegen Lord Voldemort kämp‐ fen muss, wird im 21. Jahrhundert zum globalen kulturellen Phänomen (vgl. Gunelius) und zur transmedialen Storyworld - vermarktet und inszeniert unter dem Dach Wizarding World. Populäres mediales Erzählen ist - wie auch die Wizarding World zeigt - häufig weltenbasiert und weniger gebun‐ den an einzelne Figuren, thematische oder motivische Zugänge (vgl. Wolf I.IV Von Harry Potter zur Wizarding World 23 <?page no="24"?> 1 The Guardian: „Imagine, if you will, the perfect 21st-century marketing campaign.“ Jordison, Sam: Pottermore gives away JK Rowling’s marketing genius (23.06.2011): https : / / www.theguardian.com/ books/ booksblog/ 2011/ jun/ 23/ pottermore-jk-rowling-marke ting-genius-harry-potter (Zugriff 16.06.2023) 2018: 141), wie der Medientheoretiker Henry Jenkins bereits 2007 markiert (vgl. Jenkins 2007). Merkkasten: Die Wizarding World als Storyworld Storyworld lässt sich mit Marie-Laure Ryan als „an imagined totality that evolves according to the events in the story“ (Ryan 2015: 13) defi‐ nieren (→-Band 1: II.3.2.3.3). Die zunehmende Präsenz transmedialer Storywelten betont nach Ryan und Jan-Noël Thon die Bedeutung des „concept of ‚world‘ not only in narratology but also on the broader cultural scene.“ (Ryan/ Thon 2014: 1) Transmediale Storyworlds „are deployed simultaneously across multiple media platforms, resulting in a media landscape in which creators and fans alike constantly expand, revise, and even parody them.“ (Ebd.) Wie Mark J.P. Wolf ausstellt, lässt sich für transmediale Storyworlds häufig ein Ursprungsmedium bestimmen, das die Storyworld einführt (vgl. Wolf 2018: 144). Für die Wizarding World ist dieses Ursprungsmedium der benannte erste Band. Eingeschrieben ist derlei Welten ein dezidierter Vermarktungsgedanke, sie werden als Marken inszeniert, „with easily recognizable elements and designs, images and sounds, and continuing stories that entice consumers to keep returning to their favorite worlds, and spending their money on them— in whatever medium they may appear.“ (Wolf 2018: 141) Wie gestaltet sich die Verschiebung von der Figur Harry Potters zur magischen Welt jenseits der Figur im konkreten Fall - eine Verschiebung, die sich bereits in der Umbenennung der Plattform Pottermore - von J.K. Rowling selbst initiiert - zur umfassenden Marke Wizarding World erkennen lässt: zunächst als Weiterentwicklung der Plattform, nunmehr als Marke, die sämtliche kanonisierte mediale Produkte des fantastischen Universums Rowlings umfasst - die ‚perfekte Marketingkampagne des 21. Jahrhunderts‘ 1 - und wie bleibt sie wiedererkennbar? 24 I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World <?page no="25"?> Angelegt in den ersten Bänden sind bereits zentrale Regeln der Welt, die wiedererkennbaren Inventarien, Orte, Figuren und thematische Muster - dazu gehören bspw. die Aufteilung in eine Welt der Zauber: innen und Hexen vs. der nicht-magischen Figuren, die Zauberschule Hogwarts, deren räumliche Markierungen auch fast 30 Jahre später in dem Action-Rollenspiel Hogwarts Legacy sichtbar werden, Hintergrundwissen wie die Geschichte um Nicolas Flamel, magische Gegenstände wie lebendige Porträts oder Schokofrösche. Weiterhin lassen sich thematische Schwerpunkte im ersten Band erken‐ nen, die einerseits die weiteren Bände und andererseits die Erweiterungen prägen: das Theaterstück The Cursed Child (U-Aufführung 2016) oder auch die aus einem in den Potter-Bänden erwähnten Schulbuch entwickelten Prequels: Fantastic Beasts and Where to Find Them (ab 2001) sowie die Computerspiele und paratextuellen Erweiterungen auf Wizarding World. Dazu gehört das über die einzelnen Figuren angelegte Verhandeln von moralischen Standpunkten: Wo steht Harry Potter? Wo stehen in The Cursed Child aber auch Scorpius und Albus einerseits in Abgrenzung von und andererseits anknüpfend an ihre Eltern? Ist es moralisch vertretbar, sich aus dem Kampf gegen Grindelwald herauszuhalten, wie es Newt Scamander in The Fantastic Beasts zunächst versucht? Ebenso prägend ist das der Märchentradition entnommene Motiv des Kampfes von ‚Gut vs. Böse‘ - Harry Potter vs. Voldemort; der Orden des Phönix gegen die Todesser; Albus und Scorpius gegen Delphi, die Tochter Voldemorts; Newt Scamander und Albus Dumbledore gegen Gellert Grindelwald. Eingewoben in dieses Motiv sind jeweils Diskurse von Macht und den verschiedenen Zugängen zur Macht: über magische Artefakte, den eigenen Mut oder auch das (magische) Beeinflussen von anderen Figuren und Systemen. Weiterhin sind die Grenzen zwischen Gut und Böse in den Inszenierungen der Storyworld durchaus durchlässig, gute Figuren schwanken, fragen sich, wohin sie gehören und arbeiten sich darüber an der eigenen Identität ab: „It isn’t how you are alike. It’s how you are not.“ (Order: 02: 01: 40- 02: 01: 46) flüstert Dumbledore daher auch Harry Potter zu, um ihn vom Einfluss Voldemorts zu befreien. Darüber hinaus bleibt das Böse zunächst oft verborgen: Voldemort als körperlose Macht wird nur über Professor Quirrel im ersten Band handlungsfähig, Delphi wird erst am Ende des Stückes als Tochter Voldemorts und Bellatrix Lestranges entlarvt und auch in Fantastic Beasts and Where to Find Them bedient sich Gellert Grindelwald I.IV Von Harry Potter zur Wizarding World 25 <?page no="26"?> eines anderen Gesichts und eines anderen Namens, bevor seine Identität in der finalen Konfrontation des Filmes aufgedeckt wird. Relevant ist zudem der Außenseiter: innenstatus der Held: innenfiguren: Harry Potter elternlos und ungeliebt, Albus als Slytherin in einer Gryffindor-Familie, Newt Scamander als ungeschickter und unsicherer Zauberer, der sich unter seinen tierischen Geschöpfen wohler fühlt als unter seinen magischen Peers. Diese Außenseiter: innenfiguren suchen sich dann stets ähnlich konnotierte Netzwerke in ihrem Kampf gegen das Böse: Harry Potter schließt sich mit Ronald Weasley und Hermione Granger zusammen; er stammt aus einer ökonomisch benachteiligten und im class-based Zauberersystem wenig angesehenen Familie, sie aus einer Muggel-Familie. Albus Potter befreundet sich mit dem Sohn des Feindes seines Vaters, Scorpius Malfoy, und Newt Scamander mit dem Muggel Jacob Kowalski. Die medialen Expansionen fügen der Wizarding World weitere audiovi‐ suelle Erkennungsmuster hinzu - die Filmmusik, das Spiel mit Wolken und Nebelschwaden (siehe Abb.1 und Abb. 2), welches das Intro aller zur Marke gehörenden Filme eint, ebenso wie das Logo der Marke Wizarding World selbst, das den Trailer zu Hogwarts Legacy ebenso ziert wie obig genanntes Wolken-Nebel-Spiel. Abb. 1: Typografie und Wolken-Nacht-Ästhetik in Harry Potter and the Deathly Hallows Part 1 26 I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World <?page no="27"?> 2 Zu Formen des Restorying: Thomas, Ebony Elizabeth (2022: 196). Abb. 2: Typografie und Wolken-Ästhetik in The Secrets of Dumbledore Auch eine kohärente typografische Gestaltung verbindet die einzelnen medialen Inszenierungen über die verschiedenen Formen des Restorying hinweg. Ob sich der zeitliche Rahmen ändert - wie in der Fanfiction Friend Number Three, welche die Ereignisse nach der Schlacht um Hogwarts inszeniert -, die Identität der Figuren - wie in der Besetzung der Figur Hermione Granger in Harry Potter and the Cursed Child -, der Schauplatz wechselt - wie in Fantastic Beasts and Where to Find Them -, das Medium - wie der Medienwechsel von Buch zu Film zeigt -, die Perspektive - so ist die Fanfiction The Green Girl an Hermione als Fokalisierungsinstanz gebunden oder auch Diskussionen auf Twitter/ X oder in Reddit-Fanforen, über diese zentralen Elemente bleibt die Storyworld erkennbar 2 . Durch solche Formen des Restorying können zudem bestehende Macht‐ strukturen hinterfragt und zugleich alternative Deutungsmöglichkeiten sichtbar gemacht werden. Denn Restorying ist ein narrativer Ansatz, der darauf abzielt, bestehende Geschichten oder Erzählungen neu zu struktu‐ rieren, umzudeuten oder zu erweitern. Dabei wird eine dominante oder vorherrschende Erzählweise hinterfragt und durch alternative Perspektiven ergänzt oder ersetzt. Zu den Kernaspekten des Restorying gehören Neu‐ konstruktionen von Narrativen, die Dekonstruktion stereotyper Narrative sowie das Empowerment marginalisierter Stimmen, was sich in der Wizar‐ ding World wiederfindet (vgl. Thomas 2022: 196-198). Dieser wiedererkennbare Rahmen ist Anlass für kritische Auseinander‐ setzungen mit Harry Potter und der transmedialen Storyworld. I.IV Von Harry Potter zur Wizarding World 27 <?page no="28"?> So bieten die Storyworld selbst mit diskriminierenden Darstellungen, die Vermarktung des Potter-Imperiums, aber auch die Autorin immer wieder Anlass für Kritik und Kontroversen, die sowohl bei Fans und Rezipieren‐ den als auch bei (ehemaligen) Mitwirkenden des Harry Potter-Hypes zur ‚Entfremdung vom Kindheitshelden‘ (vgl. bspw. Ku 2022) führen und von großer gesellschaftspolitischer Relevanz und Aktualität zeugen. Innerhalb der Storyworld sind es vor allem die antisemitischen Stereotype in den Darstellungen der Goblins, Body Shaming sowie die körperliche Markierung des Bösen und Einfältigen (→ Band 3: II.2.4 und II.2.5). Außerhalb - wenn es sich denn trennen ließe - sind es die überaus fragwürdigen Äußerungen Rowlings zur Geschlechteridentität und ihre offene Transfeindlichkeit. Die viel zitierte Trennung von Autor: in und Text - hier von Autorin und Storyworld - fällt schwer, da Rowling selbst die von ihr geschaffene Welt und ihre Deutungshoheit über diese nicht loslassen mag. So formuliert sie selbstentlarvend: I said above, and I stand by it, that every reader has the right to his or her own version of my characters. However, there is one central point about the Potter stories that is not negotiable: we can’t pretend that it isn’t there, or that it doesn’t matter, when it is the crux of the books and in many ways the key to the story. (Rowling 2015) Das ‚it‘, der ‚Schlüssel‘ zur Geschichte ist, nach Rowling, dass Dumbledore „was prepared, always, to go to the hilltop.“ (Rowling 2015) Sie verweist damit auf das Treffen Snapes und Dumbledores vor den Ereignissen des ersten Bandes, in welchem Snape zum Doppelagenten und Spion in den Reihen der Todesser wird. Indem sie eine Deutung vorschreibt, offenbart sie ihren Wunsch der absoluten Hoheit über ihren Text: Sie ist „[t]he ‚Undead‘ Author“ (Duggan 2021: 159), schwebt ebenso wie der Fast-Kopflose-Nick noch durch die Gänge Hogwarts und man möchte ihr dessen Worte mit auf den Weg geben: „I was afraid of death,“ said Nick. „I chose to remain behind. I sometimes wonder whether I oughtn’t to have… […] In fact, I am neither here nor there… I know nothing of the secrets of death, Harry, for I chose my feeble imitation of life instead.“ (OoP: 1550) Doch was bedeutet dieses Ver- und Beharren für die Leser: innen, die Rezip‐ ierenden gerade angesichts der extrafiktionalen Äußerungen Rowlings? 28 I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World <?page no="29"?> Abb. 3: Diskussion um die Grenzziehung der Storyworld anlässlich der Veröffentlichung von Hogwarts Legacy (© Jessie Earl 2022) Am 17. Dezember 2022 twittert die YouTuberin Jessie Earl angesichts der bevorstehenden Veröffentlichung des Spiels Hogwarts Legacy und löst damit nicht nur eine Reaktion von Rowling aus, sondern offenbart auch die temporale, figurale und mediale Reichweite der Welt um Harry Potter - oder eben nicht mehr um Harry Potter, sondern um die zugrunde liegende Storyworld. Obwohl die Figur Harry Potter in dem Spiel nicht vorkommt - da es im Hogwarts des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist -, verdeutlicht Earls Tweet einmal mehr, dass das Spiel untrennbar mit der Autorin der Buchreihe verbunden bleibt. Ähnlich argumentiert auch Jaina Grey in ihrer Rezension des Spiels: „Nothing with a Wizarding World stamp on it can be viewed outside the context of it being a product of Dame J. K. Rowling, CH, OBE.“ (Grey 2023) Bereits dieser kleine Einblick verdeutlicht, dass sich der Umgang mit Harry Potter und der Wizarding World verändert hat; es kommen Erweite‐ rungen und Neuerungen sowie kritische Abgrenzungen und Auseinander‐ setzungen hinzu. So wie sich der Blick auf und die Zugänge zu Harry Potter gewandelt haben, so wie aus Harry Potter die Wizarding World hervorgegan‐ gen ist und wie die Storyworld in den letzten Jahrzehnten seit Harry Potter and the Philosopher’s Stone neue Lesarten und Anreicherungen erfahren hat, so haben sich auch die Zugänge zur Kinder- und Jugendliteratur und -medien entwickelt und verändert. Daher ist es an der Zeit, die Wizarding World mit all ihren Verwebungen aktualisiert zu betrachten, Harry Potter einer gegenwärtigen Re-Lektüre zu unterziehen und diese mit Theorien und Methoden für das 21.-Jahrhundert in Verbindung zu setzen. I.IV Von Harry Potter zur Wizarding World 29 <?page no="30"?> Literaturverzeichnis Primärmedien Rowling, J. K.: Harry Potter and the Order of the Phoenix. New York: Scholastic 2003. Harry Potter and the Order of the Phoenix (David Yates, GB/ USA 2007). Sekundärliteratur Abrego, Verónica/ Henke, Ina/ Kißling, Magdalena/ Lammer, Christina/ Leuker, Ma‐ ria-Theresia (Hrsg.) (2023). Intersektionalität und erzählte Welten. Literaturwissen‐ schaftliche und literaturdidaktische Perspektiven. Darmstadt: wbg. Benner, Julia (2016). Intersektionalität und Kinder- und Jugendliteraturforschung. In: Dettmar, Ute/ Josting, Petra/ Roeder, Caroline (Hrsg.) Immer Trouble mit Gender? Genderperspektiven in Kinder- und Jugendliteratur- und medien(forschung) (= kjl&m extra, 16). München: kopaed, 29-39. Benner, Julia/ Ullmann, Anika (2019). Doing Age. Von der Relevanz der Age Studies für die Kinderliteraturforschung. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung, 145-159. Burdorf, Dieter (2007). Kontextualisierung. In: Ders./ Fasbender, Christoph/ Moen‐ ninghoff, Burkhard (Hrsg.) Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart/ Weimar: J.B. Metzler, 398. Corbineau-Hoffmann, Angelika (2017). Kontextualität. Einführung in eine literatur‐ wissenschaftliche Basiskategorie. Berlin: Erich Schmidt Verlag. Degele, Nina (2018). Intersektionalität: Perspektiven der Geschlechterforschung. In: Kortendiek, Beate/ Riegraf, Birgitt/ Sabisch, Katja (Hrsg.) Handbuch Interdis‐ ziplinäre Geschlechterforschung (= Geschlecht und Gesellschaft, vol 65). Wiesba‐ den: Springer VS. Abrufbar unter: https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-12500-4_32 -1 (Stand: 17/ 09/ 2024). Descher, Stefan/ Konrad, Eva-Maria/ Petraschka, Thomas (2023). Literaturtheorie heute. Aktuelle Tendenzen der Forschung. In: Sonderausgabe # 7 von Textpra‐ xis (2.2023). Abrufbar unter: https: / / www.textpraxis.net/ descher-konrad-petra schka-literaturtheorie-heute, doi: https: / / doi.org/ 10.17879/ 19958519593 (Stand: 27/ 02/ 2025). Deszcz-Tryhubczak, Justyna/ Jaques, Zoe (Hrsg.) (2021). Intergenerational Solidarity in Children’s Literature and Film. Jackson: University Press of Mississippi. 30 I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World <?page no="31"?> Duggan, Jennifer (2021). Transformative Readings: Harry Potter fan fiction, trans/ queer reader response, and J. K. Rowling. Children’s Literature in Education 53: 2, 147-168. Grey, Jaina (2023). Review: There Is No Magic in Hogwarts Legacy. Abrufbar unter: h ttps: / / www.wired.com/ review/ hogwarts-legacy-review/ (Stand: 03/ 07/ 2023). Gunelius, Susan. Harry Potter. The Story of a Global Business Phenomenon: Abruf‐ bar unter: https: / / link.springer.com/ chapter/ 10.1057/ 9780230594104_1 (Stand: 03/ 07/ 2023). Jahraus, Oliver/ Neuhaus, Stefan (Hrsg.) (2002). Einleitung. In: Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen. Stuttgart: Reclam, 23-34. Jenkins, Henry (2007). Transmedia Storytelling 101: Confessions of an Aca-Fan. Abrufbar unter: http: / / www.henryjenkins.org/ 2007/ 03/ transmedia_storytelling_ 101.html (Stand: 03/ 07/ 2023). Kindt, Tom/ Köppe, Tilmann (2008). Moderne Interpretationstheorien. Eine Einlei‐ tung. In: Dies. (Hrsg.) Moderne Interpretationstheorien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 7-26. Köppe, Tilmann/ Winko, Simone (2013). Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. 2., akt. u. erw. Auf. Stuttgart/ Weimar: J. B. Metzler. Ku, Marvin (2022). „Harry Potter“. Expecto Patronum! In: ZEITonline (26.06.2022) Kümmerling-Meibauer, Bettina (2020). Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. In: Kurwinkel, Tobias/ Schmerheim, Philipp (Hrsg.) Handbuch Kinder- und Jugendli‐ teratur. Berlin: Metzler, 38-42. Küppers, Carolin (2014). Intersektionalität. Abrufbar unter: Gender Glossar / Gender Glossary. Abrufbar unter: https: / / www.gender-glossar.de/ post/ intersektionalitae t (Stand: 10/ 09/ 2024). Nieberle, Sigrid (2018). Literaturwissenschaften: die neue Vielfalt in der Geschlech‐ terforschung. In: Kortendiek, Beate/ Riegraf, Birgitt/ Sabisch, Katja (Hrsg.) Hand‐ buch Interdisziplinäre Geschlechterforschung (= Geschlecht und Gesellschaft, vol 65). Wiesbaden: Springer VS. doi: https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-12500-4_123 -1 (Stand: 18/ 09/ 2024). Nünning, Vera/ Nünning, Ansgar (2010). 1. Wege zum Ziel: Methoden als planvoll und systematisch eingesetzte Problemlösungsstrategien. In: Dies. (Hrsg.) Metho‐ den der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze - Grundlagen - Modellanalysen. Stuttgart/ Weimar: Metzler, 1-27. Rowling, J.-K. (2015). Why Dumbledore went to the hilltop (2015). Abrufbar unter: https: / / www.twitlonger.com/ show/ n_1sno25c- (Stand: 03/ 07/ 2023). Literaturverzeichnis 31 <?page no="32"?> Ryan, Marie-Laure (2015). Text, Worlds, Stories. Narrative Worlds as Cognitive and Ontological Concept. In: Dies. (Hrsg.) Narrative Worlds as Cognitive and Ontological Concept. New York: Routledge, 11-18. Ryan, Marie-Laure/ Thon, Jan-Noel (2014). Storyworlds across Media. Introduction. In: Dies. (Hrsg.) Storyworlds across Media. Toward a Media-Conscious Narratology. Lincoln/ London: University of Nebraska Press, 1-21. Schmid, Ulrich (2010). Einleitung. In: Ders. (Hrsg.) Literaturtheorien des 20. Jahrhun‐ derts. Stuttgart: Reclam, 9-37. Schmoll, Heike (2025). Lage der Geisteswissenschaften. Deutschland in der Bil‐ dungskrise. Frankfurter Allgemeine Kommentar 03.01.2025. Abrufbar unter: https: / / zeitung.faz.net/ faz/ top-themen/ 2025-01-03/ 48253e979535c650fd7383e80d55bb3 2/ ? GEPC=s1 (Stand: 28/ 01/ 2025). Silberg, Veronika (2024). Warum Geisteswissenschaften studieren? SPIEGEL-Inter‐ view 19.03.2024. Abrufbar unter: https: / / www.spiegel.de/ start/ geisteswissensch aften-warum-germanistik-und-philosophie-relevant-sind-und-wer-es-studieren -sollte-a-a8bd0cb1-d5fa-4631-9698-b4b69aab5d06? sara_ref=re-xx-cp-sh (Stand: 28/ 01/ 2025). Statistisches Bundesamt (2024). Die beliebtesten Studienfächer in Deutschland nach Anzahl der Studierenden im Wintersemester 2023/ 2024. In: Statista 2025. Abrufbar unter: https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 2140/ umfrage/ anza hl-der-deutschen-studenten-nach-studienfach/ (Stand: 26/ 02/ 2025). Thomas, Ebony Elizabeth (2022). Hermione Is Black. Harry Potter and the Crisis of Infinite Dark Fantastic Worlds. In: Dahlen, Sarah Park/ Thomas, Ebony Elizabeth (Hrsg.) Harry Potter and the Other: Race, Justice, and Difference in the Wizarding World. Jackson: University Press of Mississippi, 181-205. Thompson, Kristin (2017) (übersetzt von Philipp Schmerheim). Harry Potter und Boyhood: Aufwachsen vor der Kamera. In: KinderJugendmedien.de. Erstveröf‐ fentlichung: 02.02.2017, zuletzt aktualisiert am: 10.10.2021. Abrufbar unter: htt ps: / / www.kinderundjugendmedien.de/ begriffe-und-termini/ kinder-und-jugendl iteraturwissenschaft/ stoffe-und-motive/ 1857-harry-potter-und-boyhood (Stand: 03/ 07/ 2023). Walgenbach, Katharina (2012). Gender als interdependente Kategorie. In: Dies./ Dietze, Gabriele/ Hornscheidt, Lann/ Palm, Kerstin (Hrsg.) Gender als interdepend‐ ente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogeni‐ tät. Opladen/ Berlin/ Toronto: Verlag Barbara Budrich, 23-64. Witzki, Daniela (2019). Gender Studies als „rotes Tuch“? Eine Betrachtung aus Verlagssicht. Abrufbar unter: Blog Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Ab‐ 32 I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World <?page no="33"?> rufbar unter: https: / / www.gender-blog.de/ beitrag/ gender-studies-verlagssicht (Stand: 28/ 12/ 2024). Wolf, Mark J. P. (2018). Transmedia World Building. History, Conception, and Construction. In: Freeman, Matthew/ Gambarato, Renira Rampazzo (Hrsg.) The Routledge Companion to Transmedia Studies. New York: Routledge, 141-147. Siglen-Verzeichnis Bücher • PS: Harry Potter and the Philosopher’s Stone (1997) • CoS: Harry Potter and the Chamber of Secrets (1998) • PoA: Harry Potter and the Prisoner of Azkaban (1999) • GoF: Harry Potter and the Goblet of Fire (2000) • FB: Fantastic Beasts & Where to Find Them (2001) • OoP: Harry Potter and the Order of the Phoenix (2003) • HBP: Harry Potter and the Half-Blood Prince (2005) • DH: Harry Potter and the Deathly Hallows (2007) Filme • Stone: Harry Potter and the Philosopher’s Stone (Chris Columbus, GB/ USA 2001) • Chamber: Harry Potter and the Chamber of Secrets (Chris Columbus, GB/ USA 2002) • Prisoner: Harry Potter and the Prisoner of Azkaban (Alfonso Cuarón, GB/ USA 2004) • Goblet: Harry Potter and the Goblet of Fire (Mike Newell, GB/ USA 2005) • Order: Harry Potter and the Order of the Phoenix (David Yates, GB/ USA 2007) • Prince: Harry Potter and the Half-Blood Prince (David Yates, GB/ USA 2009) • Hallows1: Harry Potter and the Deathly Hallows. Part 1 (David Yates, GB/ USA 2010). • Hallows2: Harry Potter and the Deathly Hallows. Part 2 (David Yates, GB/ USA 2011). Siglen-Verzeichnis 33 <?page no="34"?> • Beasts: Fantastic Beasts and Where to Find Them (David Yates, GB/ USA 2016) • Grindelwald: Fantastic Beasts: The Crimes of Grindelwald (David Yates, GB/ USA 2018) • Dumbledore: Fantastic Beasts: The Secrets of Dumbledore (David Yates, GB/ USA 2022) Theaterstück • Cursed Child: Harry Potter And The Cursed Child. (2016) 34 I. Wissenschaftliche Perspektiven auf die Wizarding World <?page no="35"?> II Methodische und theoretische Kontextualisierungen von Harry Potters Storyworld 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? 1.1 Psychoanalytische Literaturwissenschaft: Traum und Trauma in der Wizarding World Tobias Kurwinkel Die Psychoanalyse (von altgriechisch ψυχή psychḗ Atem, Hauch, Seele und ἀνάλυσις analysis Zerlegung), so erklärt Thomas Mann 1929 in seiner Rede Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte, habe die Bedeutung einer „Weltbewegung“, von der „alle möglichen Gebiete des Geistes und der Wissenschaft“ ergriffen seien (Mann 1974: 280). Er resümiert, die Psycho‐ analyse sei einer der „wichtigsten Bausteine, die beigetragen worden sind zum Fundament der Zukunft, der Wohnung einer befreiten und wissenden Menschheit“ (ebd.). Wenngleich der Psychoanalyse seit ihren Anfängen in den 1890er-Jahren auch Kritik und Ablehnung entgegengebracht wurde, geht Mann nicht fehl: Die Psychoanalyse war weltbewegend - in ihrem vollkommen neuen Blick auf den Menschen und die unbewussten Gründe seines Handelns. Im Folgenden wird die klassische Psychoanalyse als (Kultur-)theorie in ihren Grundzügen skizziert, dabei wird im ersten Teil dieses Beitrags auf die frühen Arbeiten von Josef Breuer und Sigmund Freud, auf das Instanzen‐ modell der Psyche sowie auf die Traumdeutung und deren Bedeutung für die Analyse und Interpretation von literarischen Texten eingegangen. Eine solche Darstellung kann angesichts des Umfangs und der Komplexität von Freuds Arbeiten nur exemplarisch sein; obligatorisch sind der Darstel‐ lung Verfahren wie Reduktion und Vereinfachung eingeschrieben. Nach einer kurzen Einführung in die Anwendung psychoanalytischer Methodik auf Medientexte wird diese im zweiten Teil des Beitrags an Beispielen aus der Storyworld Harry Potters angewandt, dabei stehen ausgewählte Figuren wie Petunia Dursley und ihre Familie sowie Harry Potter im <?page no="36"?> Studien über Hyste‐ rie (1895) Bewusstes und Unbe‐ wusstes Fokus der psychoanalytischen Überlegungen. Letzteren liegt die Deutung von Traumata und Verdrängung als Motoren der psychoindividuellen und narrativen Entwicklung der Storyworld zugrunde. 1.1.1 Grundzüge der Psychoanalyse Freud bewies, daß das Seelische an sich unbewußt ist und die Bewußtheit nur eine Eigenschaft, die zum seelischen Akt hinzutreten kann, aber nichts an ihm ändert, wenn sie ausbleibt. Seine Neurosenlehre beruht hierauf, denn sie behauptete und erwies das Phänomen der Verdrängung, der Nichtzulassung eines Triebes ins Bewußtsein und seiner Umwandlung in das neurotische Symptom - ein Nachweis, […] dessen Bedeutung für alles Wissen vom Menschen dem, der ihn erbrachte, gewiß nicht bewußt war, heute aber in aller Welt begriffen wird. (Mann 1974: 275-276) Durch die Therapie von Bertha Pappenheim bzw. Anna O., wie ihr Pseud‐ onym zwecks Anonymisierung lautete, entwickelten die beiden Ärzte Josef Breuer und Sigmund Freud Anfang der 1880er-Jahre mit der von Mann beschriebenen ‚Neurosenlehre‘ ein erstes Modell der Psyche: Nach diesem lasse sich letztere in ein Bewusstes und ein Unbewusstes differenzieren; die Entdeckung des Unbewussten war dabei nicht ihr Verdienst; dieses lag vielmehr darin, das Unbewusste wissenschaftlich beschrieben und validiert zu haben (vgl. de Berg 2005: 10). Nach Breuer und Freud sind das Bewusste und das Unbewusste dynamische Prozesse, die permanent ablaufen, permanent wirksam sind, dabei umfasse das Unbewusste kürzlich oder auch vor langer Zeit unterdrückte oder verdrängte Affekte. Bei an ‚Hysterie‘ erkrankten Menschen wie ihrer ersten Patientin Anna O. liege dem Leiden ein traumatisches Ereignis zugrunde, in dessen Kontext diese Affekte oder Triebe nicht realisiert wurden; da diese im Widerspruch zu anderen affektiven Wunschvorstellungen oder ethischen Normen der Person stehen, werden sie nicht vollständig verdrängt, so dass sie sich immer wieder in anderer Form in das Bewusstsein einschleichen und dabei als neurotisches Symptom körperlich werden (vgl. Gödde 2013: 85-86). Die Transformation von psychisch unvollständig verdrängten Trieben zu physischen Symptomen bezeichneten Breuer und Freud als hysterische Konversion (vgl. Laplanche/ Pontalis 1972: 271). 36 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="37"?> Das Instan‐ zenmodell der Psyche Merkkasten: Hysterie Der Begriff Hysterie (von altgriechisch ὑστέρα hystéra, Gebärmut‐ ter) als uneinheitliche Bezeichnung für psychosomatische Störungen von Frauen mit unterschiedlichsten Symptomen hat eine lange (Wir‐ kungs-)Geschichte (vgl. Didi-Huberman 1997, Nolte 2005, Seidler 2010), die von der pejorativen Verwendung des Begriffs als z. T. misogynes Konzept geprägt ist. Entsprechend wird die Ursache für derartige Störungen bereits in Platons Dialog Timaios in der Gebär‐ mutter verortet: Dieses „lebendige[..] Gebilde“, treibe „überall hin durch den Körper seine Säfte“, wenn es „lange Zeit ohne Frucht“ (91 b, Franz Susemihl) bleibe, was „äußerste Beängstigungen und allerlei andere Krankheiten“ (91 d, Franz Susemihl) verursache. Die Vorstellung, dass es sich bei der Hysterie entweder um eine bloße Simulation oder eine Krankheit handele, deren Therapie u. a. durch Sex, Schwangerschaft oder die Anwendung von Duftölen auf das weibliche Genital erfolgen könne, hält sich bis Ende des 19.-Jahrhun‐ derts (vgl. Devereux 2014). Mit Elisabeth Bronfen ist die epidemische Verbreitung der Hysterie in dieser Zeit Ausdruck kulturellen und persönlichen Unbehagens; sie könne als Botschaft der Verwundung gelesen werden (Bronfen 2014: XIII), um existentielle Verunsicherung und Protest gegen gesell‐ schaftliche Benachteiligung zum Ausdruck zu bringen (vgl. Gödde 2013: 92). Die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff und seiner Ge‐ schichte seit den 1950er-Jahren führte schließlich dazu, dass die Hysterie um 1980 aus der medizinischen Terminologie verschwand. In der Geschichte der Hysterie, die Günter H. Seidler als „Metamor‐ phosen eines Paradiesvogels“ (Seidler 2010) beschreibt, kommt Freud bei aller zeitlichen und kulturellen Bedingtheit das Verdienst zu, den Paradigmenwechsel von einer neurologischen zu einer psychodyna‐ mischen Theorie eingeleitet zu haben; damit ist er maßgeblicher Be‐ gründer des Wissenschaftsdiskurses über die Hysterie, deren Krank‐ heitsbilder ihm den ersten Zugang zum Unbewussten eröffneten (vgl. Gödde 2013: 92). 1.1 Psychoanalytische Literaturwissenschaft: Traum und Trauma in der Wizarding World 37 <?page no="38"?> Anna O. wird von Freud in seiner Vorlesung Über Psychoanalyse an der Clark University im Jahre 1909 als „ein einundzwanzigjähriges, geistig hochbegabtes Mädchen“ beschrieben, das eine „Reihe von körperlichen und seelischen Störungen“ aufgewiesen habe: Ekel vor Nahrungsaufnahme und einmal durch mehrere Wochen eine Unfähigkeit zu trinken trotz quälenden Durstes, eine Herabsetzung des Sprechvermögens, die bis zum Verlust der Fähigkeit fortschritt, ihre Muttersprache zu sprechen oder zu verstehen, endlich Zustände von Abwesenheit, Verworrenheit, Delirien, Alteration ihrer ganzen Persönlichkeit […] (Freud 1943: 4) Breuer, der die Patientin als älterer Kollege und Freuds Mentor zunächst allein behandelte, fand heraus, dass diese Symptome verschwanden, wenn sich die Patientin an die erste Gelegenheit erinnerte, bei der die entspre‐ chende Störung aufgetreten war: Während der „talking cure“ (ebd.: 7), wie Anna später die Behandlung und Methode Breuers bezeichnete, „räsonierte“ sie über ihre englische Gesellschafterin, die sie nicht liebte, und erzählte dann mit allen Zeichen des Abscheus, wie sie auf deren Zimmer gekommen sei und da deren kleiner Hund, das ekelhafte Tier, aus einem Glase getrunken habe. Sie habe nichts gesagt, denn sie wollte höflich sein. (Ebd.: 8) Nach diesem traumatischen Erlebnis war es ihr nur noch möglich, ihren „qualvollen Durst“ über das Essen von „Obst, Melonen u. dergl.“ (ebd.) zu stillen. Nachdem sie „ihrem steckengebliebenen Ärger […] energisch Ausdruck“ verliehen hatte, war die Störung jedoch verschwunden und sie „trank ohne Hemmung eine große Menge Wasser“ (ebd.). Mit dem ersten Modell der Psyche lässt sich der Erfolg der ‚Redekur‘ nicht vollständig erklären - wohl aber mit dem erweiterten, dreiteiligen In‐ stanzenmodell der Psyche, das Freud ab 1923 beschreibt. In diesem diffe‐ renziert er in puncto Unbewusstes bekanntlich zwischen Es und Über-Ich, was den Widerstreit zwischen der Ablehnung und der Verurteilung des Erlebten sowie dem höflichen Schweigen und Einhalten der Konventionen im Falle Anna O. nachvollziehbar macht. Das Es macht den Lust- und Aggressionsanteil der Persönlichkeit aus; es umfasst sowohl die Lusttriebe, mit denen man geboren wird als auch Wünsche, Obsessionen und sonstige Affekte. Das Es, so schreibt Henk de Berg, „diskutiert nicht und überlegt nicht, kennt keine Werte oder Regeln, es beachtet weder Verstand noch Logik“ (de Berg 2005: 58). Anders das 38 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="39"?> Die Traum‐ deutung Über-Ich: Es enthält jene Normen, Werte und Ideale, die durch Erziehung und Bildung erworben wurden. In seiner eigenen Weise ist es ebenso ego‐ istisch und strebt genauso kompromisslos nach ethischer Vollkommenheit wie das Es nach Lustgewinn (vgl. ebd.: 59). Das Ich, das Freud maßgeblich im Bewussten verortet, ist indes um Ausgleich zwischen den beiden Instanzen bemüht: Das Es repräsentiert den Wunsch, vollständig im Einklang mit seinen inners‐ ten Wünschen zu leben; das Über-Ich repräsentiert den unbewussten Druck, vollständig im Einklang mit jenen Wünschen zu leben, die einem von anderen Menschen […] beigebracht wurden; das Ich schließlich versucht, eigene und fremde Wünsche in eine gesunde Balance zu bringen. (Ebd.) Während bei dem traumatischen Erlebnis von Anna O. der Wunsch, ihren Ekel vor dem aus dem Glas trinkenden Hund zu artikulieren, dem Es zugeordnet ist, gehört die ihr anerzogene Etikette mit ihrem Wertekanon und den entsprechenden höflichen Umgangsformen, welche sie ihren Ekel nicht aussprechen lässt, zum Über-Ich. Letzteres obsiegt bei dieser unerhör‐ ten Begebenheit und unterdrückt somit die andere Instanz, was zu den dargelegten Störungen infolge des Traumas führt. Um zu den verdrängten Trieben zu gelangen, hypnotisiert Breuer seine Patientin - ein Verfahren, das Freud in Folge ablehnt. Stattdessen entwickelt er andere Methoden, um Prozesse des Unbewussten bewusst zu machen; zu diesen zählt die Deutung von Träumen, der er eine herausragende Rolle als „Via regia zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben“ (Freud 1942: 613) zuschreibt. In der 1899 erschienenen, aber auf 1900 nachdatierten Traumdeutung unter‐ scheidet Freud zwischen dem manifesten Trauminhalt und dem latenten Traumgedanken; ersterer Begriff entspreche dem Traum, wie er nach dem Aufwachen erinnert wird, zweiterer der verborgenen Botschaft des Traums: Trauminhalt und Traumgedanke liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhalts in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Aus‐ drucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennenlernen sollen. (Freud 1942: 283) Beim Traumgedanken handele es sich dabei um einen unbewussten Wunsch; der Traum als solcher sei somit „die (verkleidete) Erfüllung ei‐ 1.1 Psychoanalytische Literaturwissenschaft: Traum und Trauma in der Wizarding World 39 <?page no="40"?> Ödipus‐ komplex nes (unterdrückten, verdrängten) Wunsches.“ (Ebd.: 166) Im Schlaf ist der Verdrängungsimpuls schwächer, wodurch unbewusste Wünsche leichter ins Bewusstsein vordrängen können. Sie tun dies aber in verfremdeter Form, denn das soziale Gewissen des Über-Ichs ist - obgleich im Schlaf schwächer - doch nicht völlig ausgeschaltet (vgl. de Berg 2005: 23). Diese Verfremdung des Trauminhalts bezeichnet Freud als Traumarbeit, der verschiedene Mechanismen zugrunde liegen; für die literaturbzw. medienwissenschaftliche Deutung sind dabei im Besonderen die Begriffe Symbolisierung, Verdichtung und Verschiebung von Bedeutung. Merkkasten: Mechanismen der Traumarbeit Durch Symbolisierung werden alle Gegenstände psychischer Vor‐ gänge, seien es Dinge, Personen oder Handlungen, in Symbole umge‐ wandelt, die für sie stehen. Die konkrete Bedeutung eines solchen Symbols kann keiner Auflistung, keinem Lexikon der Traumsymbole entnommen werden; sie kann nur im Kontext des jeweiligen Traums und der individuellen Entwicklungsgeschichte des Träumenden er‐ schlossen werden. Das Verhältnis zwischen dem Symbol und dem, wofür es steht, kann in der Terminologie der Rhetorik metaphorisch oder metonymisch sein: Es beruht also entweder auf Ähnlichkeit oder auf Kontiguität, die sich durch räumliche, zeitliche, kausale oder sachliche Nähe, wie zum Beispiel pars pro toto (ein Teil steht für das Ganze) und totum pro parte (das Ganze steht für ein Teil) auszeichnet. Verdichtung bedeutet, dass der latente Traumgedanke umfang- und inhaltsreicher als der manifeste Trauminhalt ist. Sie stellt „eine abge‐ kürzte Übersetzung“ (Laplanche/ Pontalis 1972: 580) des Traumgedan‐ kens dar; dabei überlagern sich unterschiedliche Vorstellungen und Formen, so beispielsweise ein Symbol oder ein Bild. Letztere können dadurch zugleich verschiedene Bedeutungen aufweisen. Bei der Verschiebung wird „ein latentes Element durch etwas Ent‐ fernteres ersetzt“ (Birke/ Butter 2010: 52), beispielsweise wird eine Vorstellung von einer Person auf eine andere verschoben. Sowohl in der Traumdeutung als auch in zahlreichen anderen Schriften liefert Freud literaturpsychologische Deutungen, in der Literatur findet er 40 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="41"?> Literatur und Psy‐ choanalyse Literatur‐ wissen‐ schaft und Psychoana‐ lyse Muster psychoanalytischer Erkenntnisse, wie z. B. den Ödipuskomplex, jene „[o]rganisierte Gesamtheit von Liebes- und feindseligen Wünschen, die das Kind seinen Eltern gegenüber empfindet“ (Laplanche/ Pontalis 1972: 351). Dieses Kernkonzept der Psychoanalyse stellt ein Erklärungsmodell der konflikthaften psychosexuellen Entwicklung dar; demnach begehre das männliche Kind in der sogenannten ödipalen oder phallischen Phase (3.- 5. Lebensjahr) der psychosexuellen Entwicklung das gegengeschlechtliche Elternteil, verbunden mit der Rivalität gegenüber dem anderen. Mit der Überwindung des Ödipuskonflikts vollziehe sich die Identifikation mit den Eltern, wobei sich durch die Verinnerlichung der durch sie gesetzten Grenzen das Über-Ich bilde, welches den Triebansprüchen des Es gegen‐ überstehe. Nach der Latenzphase im Alter zwischen sieben und elf Jahren erfahre der Ödipuskomplex in der genitalen Phase, der Pubertät, eine Wiederbelebung, um dann zur Ablösung von den Eltern und zur jeweiligen Form der erwachsenen Objektwahl zu führen (vgl. ebd.: 351-357). Als Analogon zum Traum versteht Freud die Literatur: Für ihn sind Kunst und Literatur das Ergebnis einer sublimierten Form von Wunscher‐ füllung seitens der Produzierenden, eine Modifikation von Triebenergie in künstlerische Betätigung und intellektuelle Arbeit (vgl. ebd.: 478-481). Da das Muster der Wunscherfüllung wie beim (Tag-)Traum ablaufe, könne Literatur psychoanalytisch gedeutet und ihre jeweiligen latenten Gedanken durch Verstehen der verschiedenen Mechanismen erschlossen werden. Freuds These, dass es sich bei jedem Werk um eine unbewusste Wunsch‐ erfüllung handele, wird heute zurückgewiesen; eine auf der Traumanalogie beruhende Unterscheidung zwischen dem manifesten und latenten Gehalt eines literarischen Textes sowie die Traumdeutung als hermeneutisches Verfahren sind innerhalb der Literaturwissenschaft aber bis heute weit verbreitet (vgl. Birke/ Butter 2010: 53). Die große kulturtheoretische Bedeutung von Freuds Entdeckungen für die Literaturwissenschaft und ihre Theoriesowie Methodenbildung ist früh offensichtlich, wenngleich sie aufgrund der in Deutschland zunächst vorherrschenden positivistischen, dann werkimmanenten Ansätze nur zö‐ gerlich rezipiert werden und im Eigentlichen erst sehr viel später reüssieren (vgl. Pfeiffer 2013: 329). Konkret findet die Psychoanalyse erst nach 1968 im Zuge der Kritischen Theorie Eingang in die Literaturwissenschaft; die 1970er-Jahre sind das Jahrzehnt, in dem die psychoanalytische Literatur‐ wissenschaft, zusammen mit sozialhistorischer und literatursoziologischer 1.1 Psychoanalytische Literaturwissenschaft: Traum und Trauma in der Wizarding World 41 <?page no="42"?> Forschung (→ Band 3: II.2.1) einen „außergewöhnlichen Aufschwung“ (ebd.: 329) verzeichnet. Abgesehen von Carl Gustav Jung (1875-1961) geht die wohl folgen‐ reichste Neuinterpretation und Weiterentwicklung der Freud’schen Psycho‐ analyse auf den französischen Mediziner Jacques Lacan (1901-1981) zurück. Es sind zwei Theorien Lacans (vgl. hierzu Pfeiffer 2013: 342-344), die bis heute bedeutsam sind: Zum einen das Theorem vom imaginären Charakter der menschlichen Selbstfindung im Spiegelstadium des Kindes: Das Kind bilde im genannten Stadium ein Ich aus, wenn es sich zum ersten Mal im Spiegel erblicke, wobei der Blick der Mutter diese Wahrnehmung konstitu‐ iere. Die Einheit und Vollkommenheit des Ich sei aber nur eine imaginäre; eine stabilere Ichkonstitution erfolge erst mit dem Eintritt in die Sprache, die aus einem unendlichen Verweissystem von Zeichen bestehe, das der Struktur menschlichen Begehrens entspreche. Daraus folgert Lacan zum anderen sein zweites grundlegendes Theorem, nach dem das Bewusstsein nicht nur wie eine Sprache strukturiert, sondern ein Produkt von Sprache sei, was sich als besonders wirkmächtig innerhalb der Literaturwissenschaft erweist (vgl. Birke/ Butter 2010: 55) - zuerst in Frankreich und in den USA, seit Ende der 1980er-Jahre dann auch innerhalb des deutschsprachigen Raums (vgl. Pfeiffer 2013: 344). In den letzten Jahrzehnten verbindet sich die psychoanalytische Litera‐ turwissenschaft mit anderen Zugängen, darunter sind dekonstruktivistische ebenso zu nennen wie feministische Ansätze (Kristeva 1978, Benjamin 1990, Rohde-Dachser 1991) und Konzepte der Gender Studies (u. a. King 1995), wie z. B. in Arbeiten zum Verhältnis von Mutter und Tochter (Schäfer 1999) bzw. Vater und Sohn (Aigner 2001) (→ Band 3: II.1.3 und II.2.4). Letztere integrieren psychoanalytische Ansätze, greifen dabei aber nicht auf die biologistischen Elemente der Psychoanalyse zurück, die immer wieder Gegenstand der Kritik sind; das gilt ebenso für den Schematismus, welcher der Psychoanalyse als literaturwissenschaftliche Methode vorgeworfen wird (vgl. zur Kritik Birke/ Butter 2010: 68-69). Durch die Verbindung mit Kategorien wie Fremdheit oder Klassenzugehörigkeit durchleuchten die Zugänge weiter Phänomene wie bspw. Rassismus, Ethnozentrismus und Postkolonialismus (Bhabha 2000). (→-Band 3: II.2.2 und II.2.3). Durch diese Zugänge entgeht die psychoanalytische Literaturwissen‐ schaft der Reduktion auf ein bloß individualpsychologisches Vorgehen wie bei der Zentrierung auf das Figurenverständnis oder der Zeichentheorie; vielmehr öffne sie sich kulturtheoretischen und anthropologischen Frage‐ 42 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="43"?> stellungen und kehre damit „an den Ort der Kulturtheorie zurück, den Freud der Psychoanalyse von Anfang an zugedacht hatte.“ (Pfeiffer 2013: 346) Ziel der psychoanalytischen Literaturwissenschaft ist es, Manifestations‐ formen des Unbewussten in literarischen Werken zu erschließen. Dabei richtet sich der Fokus sowohl auf Inhalt und Form der Texte selbst als auch auf die psychischen Strukturen und Prozesse, welche das Schreiben, Lesen und Interpretieren von Texten steuern (vgl. Birke/ Butter 2010: 51). Psychoanalytische Literaturinterpretationen beziehen sich dabei entweder auf die oder den Autor: in und ihr oder sein Unbewusstes, auf die oder den Leser: in oder auf Inhalt und Form des literarischen Medientexts, im Besonderen auf seine Figuren (vgl. Eagleton 1997: 169). Bei letzterem Fokus wird das psychoanalytische Modell für das Verstehen des Subjekts auf literarische Figuren angewendet - wie im Folgenden am Beispiel von Petunia und ihrer Familie sowie Harry Potter (vgl. hierzu auch Shiong/ Wang 2022). Weiterführende Literatur zu Sigmund Freud Es gibt verschiedene Gesamtausgaben von Freuds Schriften; wenn‐ gleich die Studienausgabe des Fischer-Verlags in zehn Bänden als philologisch sorgfältigste Edition in deutscher Sprache gilt, wird die Ausgabe der Gesammelten Werke („Imago-Ausgabe“) in 17 Bänden, die seine Tochter Anna herausgegeben hat, am häufigsten zitiert. Letztere Edition ist die umfangreichste - und liest sich kostenfrei im World Wide Web unter der URL www.freud-online.de. Das Vokabular der Psychoanalyse (1972) der Psychoanalytiker Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis ist ein fachwissenschaftliches Lexikon zur Theorie der Psychoanalyse, ein Standardwerk zum Ver‐ ständnis und zur Entwicklungsgeschichte der wichtigsten Begriffe der klassischen Psychoanalyse. Das Freud Handbuch (2013), herausgegeben von Hans-Martin Loh‐ mann und Joachim Pfeiffer, erschließt nach dem Konzept der Metz‐ ler-Handbücher Leben, Werk und Wirkung von Sigmund Freud. Der Fokus liegt dabei auf den kulturtheoretischen Aspekten. Gute Einführungen in die Psychoanalyse sind die UTB-Taschenbücher Freuds Psychoanalyse in Literatur- und Kulturwissenschaft (2005) von Henk de Berg und Psychoanalytische Kulturwissenschaften (2013) von Eveline List. 1.1 Psychoanalytische Literaturwissenschaft: Traum und Trauma in der Wizarding World 43 <?page no="44"?> 1.1.2 Die Geburt der Geschichte aus Trauma und Verdrängung: Harry Potter Die Erzählung über Harry Potter beginnt in der Kleinstadt „Little Whinging“ an einem Normalität und Alltag reflektierenden „dull, grey tuesday“ (PS: 8) in der Straße „Privet Drive“ mit der Hausnummer vier. An dieser Adresse leben Petunia und Vernon Dursley, Tante und Onkel von Harry Potter, mit ihrem Sohn Dudley in einem „neat square house“ (Rowling 2015); hier zelebrieren sie ihre Vorstellung einer Normalität, die sich niemals außerhalb der Grenzen von Gewöhnlichkeit und Routine bewegen darf: Sie sind stolz, „that they were perfectly normal, thank you very much.“ (Ebd.) Mit ihrer übertrieben klischierten Darstellung gehören die Dursleys zur realistisch gezeichneten Teilwelt der antinomisch strukturierten Storyworld von Harry Potter, deren andere Seite als fantastische Teilwelt nicht unseren Naturgesetzen folgt und damit, wohl bekannt, von Hexen, Zauberern sowie magischen Tierwesen bevölkert wird. Den Straßennamen der Dursley-Adresse hat Klaus Fritz mit „Liguster‐ weg“ (PS: 5) ins Deutsche übersetzt, womit er J.K. Rowlings Wahl der immergrünen Heckenpflanze als Symbol für die kleinbürgerliche Biederkeit der Wohnsiedlung folgt, jedoch auf den ‚telling name‘ des Originals ver‐ zichtet: Durch seine Ähnlichkeit zu ‚private‘ unterstreicht der englische Straßenname die Angst der Dursleys, dass jemand hinter ihr Geheimnis kommen könnte: „They didn’t think they could bear it if anyone found out about the Potters“ (PS: 7), schließlich seien diese „as unDursleyish as it was possible to be“ (ebd.: 8). Dieses Geheimnis bestimmt das Leben der Dursleys in großem Ausmaß; seinen Ursprung hat es in Petunias Kindheit, als ihre Eltern „seemed to value her witch sister more than they valued her“ und sie sich infolgedessen stets „overshadowed“ (Rowling 2015) fühlte, wie Rowling auf harrypotter.com schreibt. Petunia, die als Kind noch hoffte, dass „she, too, would show signs of magic, and be spirited off to Hogwarts“, begräbt diese Hoffnung wie ihre Schwester Lily aus „jealousy and bitterness“ (ebd.) tief in sich. Bis zu dem Tag, an dem sie mit Harry den Sohn von Lily auf ihrer Türschwelle findet, war sie nicht nur „the more determined of the Dursleys in suppressing all talk about her sister“ (ebd.), sie negierte die Existenz dieser vollständig, indem sie „pretended she didn’t have a sister“ (PS: 13). Aufgrund des erfahrenen Entwicklungs- oder Bindungstraumas des ‚fa‐ voritism‘ ihrer Schwester verdrängt Petunia nicht nur diese, sondern alles, 44 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="45"?> was kontextuell mit ihr in Verbindung steht, sowohl ihre Familie als auch deren magisches Leben. Petunias Schrei, als sie die Haustür öffnet und ihren verwaisten Neffen statt der erwarteten Milchflaschen entdeckt (vgl. ebd.: 24), reflektiert die ex‐ treme Schocksituation (vgl. Rowling 2015), die sich aufgrund des Einbruchs dessen ergibt, was sie bis dato erfolgreich verdrängt hatte. Sie entscheidet sich, Harry aufzunehmen, folgt damit dem Über-Ich ihrer Psyche, gibt dem „unbewussten Druck nach, […] im Einklang mit jenen Wünschen zu leben, die [ihr] von anderen Menschen, [..] in erster Linie von [ihren] Eltern […] beigebracht wurden“ (de Berg 2005: 59). Das Ich, das „[…] für die Operationen Verdrängung, Widerstand, Projektion etc. zuständig ist“ (ebd.), versucht im Falle Petunias jedoch weiterhin das erlittene Trauma zu verdrängen, dabei findet eine Verschiebung von der Schwester auf Harry statt: Als Ergebnis dessen schläft Harry in einem Schrank unter der Treppe (vgl. PS: 26), wird versteckt und muss sich versteckt halten, ist selbstredend auf keinem Familienfoto zu finden (vgl. ebd.: 25). Diese Marginalisierung reflektieren seine Physiognomie und Kleidung: […] Harry had always been small und skinny for his age. He looked even smaller und skinnier than he really was because all he had to wear were old clothes of Dudley’s and Dudley was about four times bigger than he was. (ebd.: 27) Doch Harry wird nicht nur marginalisiert, sondern erfährt - wenn er wahr‐ genommen wird - „neglect and often cruelty“ (HBP: 57), wie es Dumbledore, Schuldirektor der Hogwarts School of Witchcraft and Wizardry, im Besonde‐ ren Petunia vorwirft. Es sind die Triebe des Es, der unbewusste Wunsch, die Schwester auszulöschen, der in diesen Momenten als Vernachlässigung und Grausamkeit gegenüber Harry zum Tragen kommt und temporär ausgelebt wird. Die Verdrängung und Abwehr von allem Magischen, von allem Uner‐ klärlichen, das nicht in die und zu der Welt der Dursleys passt, übersetzt Rowling in Bilder, die an eine Beschreibung Freuds von Verdrängung und Abwehr erinnern; nach dieser seien letztere wie ein ungebetener Gast, der immer heftiger Einlass begehre und für Unruhe sorge (vgl. Saitner 2001: 189). Entsprechend treten immer wieder magische Ereignisse um und mit Harry auf, die ihren vorläufigen Höhepunkt in einem Brief finden, den er wenige Tage vor seinem elften Geburtstag bekommt und der Harrys Annahme in Hogwarts verkündet. Petunia und Vernon halten Brief samt Inhalt von Harry fern, woraufhin immer mehr Post für Harry eintrifft: Das Vernageln 1.1 Psychoanalytische Literaturwissenschaft: Traum und Trauma in der Wizarding World 45 <?page no="46"?> des Briefkastens zeigt keine Wirkung, die Briefe gelangen unter der Tür, durch ein kleines Fenster und den Schornstein ins Haus. Schließlich flüchtet die Familie in ein Hotel, folgend auf eine Felseninsel „way out to sea“ (PS: 52), um der Post zu entkommen. Hier wartet Harry im Dunkeln auf seinen Geburtstag und zählt die Minuten bis Mitternacht, als der genannte ungebetene Gast in Gestalt des Halbriesen Hagrid, „Keeper of Keys and Grounds at Hogwarts“ (ebd.: 57), durch die Tür der „miserable little shack“ (ebd.) bricht: The door was hit with such force that it swung clean off its hinges and with a deafening crash landed on the floor. A giant of a man was standing in the doorway. His face was almost completely hidden by a long shaggy mane of hair and a wild, tangled beard, but you could make out his eyes, glinting like black beetles under all the hair. (Ebd.: 55) Hagrid stellt eine symbolische Inkarnation des Verdrängten dar, eine kli‐ maktisch gesetzte Personifikation des Es bzw. Unbewussten, des Primärpro‐ zesshaften, das ins Bewusste der Figuren dringt; auf der Handlungsebene ist dem die Initiation Harry Potters in die Welt der Hexen und Zauberer eingeschrieben, die für ihn zugleich den Beginn der Adoleszenz markiert. Handlungsstrukturell ist diese Initiation dem Konzept der Übergangsriten (1909) Arnold van Genneps (1873-1957) nachempfunden. Von Hagrid erfährt Harry, dass er ein Zauberer sei und dass seine Eltern nicht aufgrund eines Verkehrsunfalls starben, sondern durch den Zauberstab Voldemorts - dem wohl mächtigsten schwarzen Magier, dessen Name von Hexen und Zauberern aus Angst nicht genannt, sondern paraphrasiert wird: ‚You-Know-Who killed ’em. An’ then - an’ this is real myst’ry of the thing - he tried to kill you, too. Wanted ter make a clean job of it, I suppose, or maybe he just liked killin’ by then. But he couldn’t do it. Never wondered how you got that mark on yer forehead? That was no ordinary cut. That’s what yeh get when a powerful, evil curse touches yeh - took care of yer mum an’ dad an’ yer house, even - but it didn’t work on you, an’ that’s why yer famous, Harry.‘ (Ebd.: 65) Harry bekommt damit für ihn neue, fundamentale Bestimmungsstücke zur Konstitution seiner Identität genannt: So lernt er in puncto sozialer Herkunft, dass er wie sein Vater aussehe, die Augenfarbe seiner Mutter trage (vgl. ebd.: 56) und dass Hagrid sie kannte - „an’ nicer people yeh couldn’t find“ (ebd.: 65). Indem der Halbriese ihm erklärt, dass seine Eltern und er Zauberer seien, wird ihm weiter nicht nur eine Zugehörigkeit zu einer 46 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="47"?> besonderen Gruppe vermittelt, sondern auch eine spezifische Wertigkeit zugewiesen: Seine Mutter und sein Vater „were as good a witch an’ wizard as I ever knew“ (ebd.: 64), demnach werde auch er ein entsprechender Zauberer werden; dazu seien sie wie er, dessen Name „every kid in our world knows“ (ebd.: 63), berühmt. Nachdem Hagrid ihm erzählt hat, wie seine Eltern starben und woher das Mal der blitzförmigen Narbe auf seiner Stirn stammt, durchlebt Harry Fragmente des traumatischen Ereignisses noch einmal: „[He] saw […] the blinding flash of green light[…] and he remembered something else […] - a high, cold, cruel laugh.“ (Ebd.: 65) Ähnliche Erinnerungsfetzen begegnen Harry wiederholt in Formen von Albträumen und Visionen während „he strained his memory during long hours in his cupboard“ (ebd.: 37). Sie sind, psychoanalytisch gedeutet, Symptome einer traumatischen Neurose, „Folge[n] eines emotionalen Schocks […], der im allgemeinen [sic! ] mit einer Situation zusammenhängt, in der das Subjekt sein Leben bedroht fühlte.“ (Laplanche/ Pontalis 1972: 521) Das Trauma hat dabei einen determinierenden Anteil gerade am Inhalt des Symptoms (Wiederholung des traumatisierenden Ereignisses, immer wiederkehrende Alpträume […]), das als ein wiederholter Versuch erscheint, das Trauma ‚zu binden‘ und abzureagie‐ ren. (Ebd.) Abgesehen von diesen „charakteristischen Intrusionen“, welche die Ver‐ drängung immer wieder durchbrechen, finden sich bei Harry intensive, immer wiederkehrende, traumabezogene Emotionen und eine allge‐ mein gesteigerte physiologische Reagibilität bei Erinnerungen an das Trauma. Außerdem leidet er zumindest ansatzweise, wie auch andere traumatisierte Patienten, an einer übermäßigen Erregtheit, Konzentrationsstörungen, allgemei‐ ner Reizbarkeit, Wutausbrüchen, vermehrter Vigilanz und Schreckreaktionen. Ebenfalls zeigt Harry, wenn auch nicht durchgehend, das typische Vermeidungs‐ verhalten von traumabezogenen Gefühlen und bewussten Erinnerungen an das Trauma, sowie das „Vergessen“ im Sinne der psychogenen Amnesie, die emotio‐ nale Betäubung, Absonderung, Entfremdung und zumindest vorübergehend auch einen sozialen Rückzug. (Subkowski 2004: 744) Physisch ist das Trauma im Mal auf Harrys Stirn konzentriert; die Narbe ist dabei Signum seines Außenseiterdaseins in der realistischen sowie Mar‐ kierung seines Auserwähltenstatus in der fantastischen Teilwelt: In Little Whinging symbolisiert sie das tragische Ereignis mit dem Verlust der Eltern 1.1 Psychoanalytische Literaturwissenschaft: Traum und Trauma in der Wizarding World 47 <?page no="48"?> und die damit verbundene Lebenssituation; dazu ist sie Höhepunkt einer Klimax aus sichtbaren negativen Auszeichnungen, zu denen Harrys „small and skinny“ (PS: 27) Figur, die „baggy old clothes“ (ebd.: 38) oder seine „broken glasses“ (ebd.: 38) zählen. In der magischen Welt hingegen kennzeichnet die Narbe Harry als „the boy who lived“ (ebd.: 24), als den Jungen, der Voldemort besiegte (vgl. ebd.: 67) - und von dem nun Großes zu erwarten sei (vgl. ebd.: 96). Auch die genannten negativen Auszeichnungen verlieren an Bedeutung, erfahren Umdeutungen oder werden aufgelöst: So beweist sich Harry beim magischen Besen-Sport Quidditch als Sucher, die „usually the smallest and fastest players“ (ebd.: 197) sind, in der Winkelgasse erhält Harry seine Schuluniform (ebd.: 87), die mit der übergroßen Kleidung Dudleys, die seine Tante für seinen Schulbesuch zu färben versuchte (ebd.: 41), nichts mehr gemein hat und seine Brille wird während der Zugfahrt nach Hogwarts von Hermine mit einem Zauberspruch repariert (vgl. Stone: 00: 35: 40). Der Einbruch Hagrids in die Hütte auf der Felseninsel, die Konfrontation Harrys mit seiner magischen Herkunft und dem wahren Grund für den Tod seiner Eltern ist mit van Gennep Teil eines Trennungsritus (‚rites de separation‘), der die Ablösung sowohl von seiner Kindheit als auch von der ihm bekannten, realistischen Teilwelt bedeutet. Daran schließt der eigentliche Schwellenbzw. Übergangsritus (‚rites de marge‘) an; eine „Zwischenphase“ (van Gennep 1999: 21), die eine Umwandlung beinhaltet und mit dem Besuch in der Winkelgasse inszeniert wird. Nach einem Besuch in der Zaubererbank Gringotts, wo Harrys Eltern Geld für ihn hinterlassen haben, geht es mit Hagrid auf magische Einkaufstour: Nicht nur die er‐ wähnte Uniform will erworben werden, sondern unzählige Bücher, Zubehör und ein Zauberstab. Die Zugreise mit dem Hogwarts Express ist ebenso Teil dieses Übergangsritus. Hierauf folgt das den Zyklus abschließende Angliederungsritual (‚rites d’agrégation‘) in Form der Hauszuteilung: Dabei wird den neuen Schüler: innen während des Empfangsfestes ein sprechender Hut in einer feierlichen Zeremonie auf den Kopf gesetzt. Der Hut erkennt den Charakter, die Begabung und die Fähigkeiten der Kinder und ordnet diese einzelnen Schulhäusern zu. Letztere tragen mit Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw und Slytherin die Namen der Schulgründer und entsprechen bestimmten Charaktereigenschaften und Qualitäten dieser. Der sprechende Hut weist Harry dem Haus Gryffindor zu, das für Mut, Tapferkeit und Entschlossenheit steht: 48 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="49"?> „Hmm,“ said a small voice in his ear. „Difficult. Very difficult. Plenty of courage, I see. Not a bad mind, either. There’s talent, oh my goodness, yes - and a nice thirst to prove yourself, now that’s interesting-… So where shall I put you? “ Harry gripped the edges of the stool and thought „Not Slytherin, not Slytherin.“ „Not Slytherin, eh? “ said the small voice. „Are you sure? You could be great, you know, it’s all here in your head, and Slytherin will help you on the way to greatness, no doubt about that - no? Well, if you’re sure - better be GRYFFINDOR! “ (PS: 133) Der sprechende Hut ist unsicher, schlägt Harry Slytherin vor, zu dem er jedoch auf gar keinen Fall möchte, denn „[t]here’s not a single witch or wizard who went bad who wasn’t in Slytherin. You-Know-Who was one“ (ebd.: 90), wie Harry von Hagrid lernt. Mit dem Vorschlag des Huts geht eine implizite Bestätigung dessen einher, was Harry seit Kauf seines Zauberstabs ahnt: Es gibt eine Verbindung zwischen ihm und Voldemort - ähnlich derjenigen, die ihre Zauberstäbe aufweisen. Harrys ist das Gegenstück, der Bruder von Voldemorts Stab (vgl. ebd.: 96): Beide tragen eine Schwanzfeder desselben Phönixes in ihrem Kern. Die Psychoanalytikerin Barbara Saitner schreibt in diesem Kontext von einem „Motiv des Hin- und Hergerissenseins zwischen destruktiven und konstruktiven Persönlichkeitsseiten“ (Saitner 2001: 191) - und von der Angst Harrys, die zerstörerische Seite, „die negativen Anteile seines Selbst, deren Ursprung in seinem Trauma zu finden sind“ (ebd.: 192), zu wählen. Das Verlusttrauma, das Harry mit der Ermordung seiner Eltern erleidet, wird um die kumulative Traumatisierung der Vernachlässigung und des Gequältwerdens durch seine Verwandten im Verlauf der Kindheit ergänzt; für Harry fungieren diese Traumata nach dem Psychoanalytiker Peter Blos als Motoren seiner psychischen Entwicklung - anders als bei Petunia und ihrer Familie, die in oraler Fixierung regredieren, „symbolisiert dadurch, dass der überverwöhnte Dudley immer dicker, gieriger und fordernder wird.“ (Saitner 2001: 188) Für das Verlusttrauma Harrys und die Bearbeitung dessen hat Rowling mit dem Spiegel Nerhegeb ein objektionales Motiv geschaffen, dessen Ur‐ sprünge sich als Symbol der Erkenntnis und Selbsterkenntnis lesen (→ Band 3: I.1.4); entsprechend findet sich der Gedanke, dass das Spiegelbild zeige, was selbst nicht in Erscheinung tritt, im ersten Brief an die Korinther im Neuen Testament (vgl. Renger 2008: 359): 1.1 Psychoanalytische Literaturwissenschaft: Traum und Trauma in der Wizarding World 49 <?page no="50"?> Jetzt schauen wir in einen Spiegel / und sehen nur rätselhafte Umrisse, / dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkom‐ men, / dann aber werde ich durch und durch erkennen, / so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin. (1 Kor 13,12) Auf einem nächtlichen Streifzug trifft Harry per Zufall in einem leeren Klassenzimmer auf den Spiegel, der ihm zunächst sein Bild, folgend das seiner Familie, zeigt: The Potters smiled and waved at Harry and he stared hungrily back at them, his hands pressed flat against the glass as though he was hoping to fall right through it and reach them. He had a powerful kind of ache inside him, half joy, half terrible sadness. (PS: 226) Der Spiegel offenbart, seinem entspiegelten Namen „Erised“ (ebd.: 230) bzw. „Nerhegeb“ (ebd.: 232) gemäß, „the deepest, most desperate desire of our hearts“, wie Dumbledore Harry erklärt (ebd.: 231). Er erfüllt Harrys größten, verzweifeltsten Wunsch, indem er ihn seine Eltern als „Projektion seiner eigenen lebendigen verinnerlichten Introjekte“ sehen lässt (Subkowski 2004: 747). Damit vollzieht sich, was in nuce bereits im Korintherbrief zu lesen ist: Harry erkennt sich - und zwar nicht allein durch das Spiegelbild seiner selbst, sondern durch dasjenige seiner Eltern, genauer durch die Blicke letzterer: Es sind die Augen der Eltern, „die den Blick des Kindes zurückwerfen und ihm so […] die Erfahrung von Geborgenheit, Zuwen‐ dung und Akzeptanz vermitteln“ (Amann 2015: 220). In Rückgriff auf Lacan schreibt Astrid Amann: Das Ich ist schon vom ersten Moment seines Selbstbewusstseins ein Imaginäres, es ist auf das Sehen und Gesehen-Werden ausgerichtet. Mehr noch, es ist davon abhängig. Es macht sich ein Bild von sich und braucht die Spiegelung durch anderes und vor allem durch andere, um sich zu erkennen. Die Spiegelerfahrung ist […] Erfahrung, die uns die Möglichkeit des Ganz-Sein-Könnens bietet. Im Spiegel - vor allem im liebevollen menschlichen Spiegel - können wir uns als Ganzheit, [sic] vollständig erfahren. (Ebd.: 219) Wunscherfüllung und Erfahrung möchte Harry nicht mehr missen: Er sucht den Raum mit dem Spiegel wieder und wieder auf, verliert das Interesse an allem anderen, isst nicht mehr (vgl. ebd.: 227), bis ihm Dumbledore in einer Nacht erklärt, dass „[m]en have wasted away before it, entranced by what they have seen or been driven mad“ (PS: 231). Der Spiegel wird an einen 50 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="51"?> anderen Ort gebracht und Harry sucht nicht nach ihm, sondern folgt dem Rat des Schulleiters wie seiner Freunde; in Rückgriff auf letztere ist ihm die Bearbeitung des Verlusttraumas möglich, das sich symptomatisch immer wieder in Gestalt von Albträumen „about his parents disappearing in a flash of green light while a high voice crackled with laughter“ (ebd.: 233) äußert. Im ersten Band verkörpern die Eltern noch das eindeutig Gute, das Ideale, Voldemort hingegen das absolute Böse; dieser Schematismus relativiert sich in den folgenden Bänden durch deutlich komplexere Ausgestaltungen, dabei erfährt Harry, dass seine Eltern, allen voran sein Vater, auch negative Seiten besaßen. In Harry Potter and the Order of the Phoenix gelingt Harry ein Blick auf eine Jugenderinnerung von Severus Snape: Sie zeigt, dass sein Vater nicht nur eine narzisstische Arroganz sein charakterliches Eigen nannte, sondern außerdem andere Mitschüler, namentlich Snape, quälte. Seine Mutter charakterisiert seinen Vater und dessen Verhalten in der Erinnerung wie folgt: ‚Messing up your hair, because you think it looks cool to look like you’ve just got off your broomstick, showing off […], walking down corridors and hexing anyone who annoys you just because you can - I’m surprised your broomstick can get off the ground with that fat head on it.‘ (OoP: 571) Harry identifiziert sich mit Snape aufgrund seiner traumatischen Kindheits‐ erlebnisse, weiß, wie es ist, „to be humiliated in the middle of a circle of onlookers“, versteht „exactly how Snape felt as his father had taunted him“ (ebd.: 573). Er fühlt sich, „as though the memory of it was eating him from inside“, weil er sich so sicher war, dass seine Eltern wunderbare Menschen waren (ebd.: 575). Mit diesen Gefühlen geht eine Desillusionierung einher, die zu einer Deidealisierung der Eltern, insbesondere des Vaters, führt. Dieser Prozess ist Teil der psychosexuellen Entwicklung, beschreibt die Entwicklungsaufgabe der ödipalen Überwindung in der Wiederbelebung des Komplexes während der Pubertät. Über die Bewältigung bilde sich dem Psychotherapeuten Peter Subkowski folgend die eigene Identität heraus: „Die eigenen Eltern werden dabei internalisiert und bilden in depersonalisierter Form einen wichtigen Teil unseres Über-Ichs.“ (Subkowski 2004: 750) Traumata und ihre Verdrängung sind, wie am Beispiel von Petunia Dursley und ihrer Familie sowie Harry Potter durch eine psychoanalytische Lesart exemplarisch gezeigt wurde, Figurenkonzepte der Storyworld und Motoren 1.1 Psychoanalytische Literaturwissenschaft: Traum und Trauma in der Wizarding World 51 <?page no="52"?> der jeweiligen Entwicklung. Dabei dienen die Traumata, ihre Verdrängung und ihre Bearbeitung als Motivatoren der Handlung - im Falle von Harry Potter resultieren sie in Ängste und Konflikte sowie in Prüfungen, denen sich der Protagonist nicht nur stellt, sondern sie auch erfolgreich meistert. In Anlehnung an Peter Subkowski ist Harry Potter damit die Geschichte einer kunstvoll ineinander verwobenen psychischen Entwicklung trauma‐ tisierter Figuren - mit der Möglichkeit zur selektiven Identifizierung, was die Attraktivität der Harry-Potter-Storyworld ausmache (vgl. Subkowksi 2004: 739) - oder, um Rowling zu zitieren, „[t]he subconscious is a very odd thing.“ (Rowling 2015) Primärmedien Mann, Thomas: Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band X: Reden und Aufsätze 2. 2. Aufl. Frankfurt a. M., 1974, 256-280. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band-2 und 3: Die Traumdeutung. Über den Traum. Hrsg. von Anna Freud. Frankfurt a. M., 1942, 1-658. Freud, Sigmund: Über Psychoanalyse. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 8: Werke aus den Jahren 1909-1913. Hrsg. von Anna Freud. Frankfurt a. M., 1943, 1-60. Harry Potter and the Philosopher’s Stone (Chris Columbus. GB/ USA 2001) Platon (2004): Timaios. In: Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden. Bd.-3. Hrsg. von Erich Loewenthal. 8. Aufl. Darmstadt, 91-191. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Philosopher’s Stone. London, 1997. Rowling, J.-K.: Harry Potter und der Stein der Weisen. Hamburg, 1998. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Order of the Phoenix. London, 2003. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Half-Blood Prince. London, 2005. Rowling, J.-K.: Vernon & Petunia Dursley (2015). Abrufbar unter: https: / / www.wiz ardingworld.com/ de/ writing-by-jk-rowling/ vernon-and-petunia-dursley (Stand: 23/ 09/ 2024). Sekundärliteratur Aigner, Josef Christian (2001). Der ferne Vater. Zur Psychoanalyse von Vatererfah‐ rung, männlicher Entwicklung und negativem Ödipuskomplex. Gießen: Psychoso‐ zial-Verlag. Bhabha, Homi K. (2000). Die Verortung der Kulturen. Tübingen: Stauffenberg. 52 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="53"?> Amann, Astrid (2015). Der Spiegel bei Moreno, Freud, Lacan und Fonagy. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie 14: 2, 213-223. Benjamin, Jessica (1990). Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Basel: Stroemfeld/ Roter Stern. Berg, Henk de (2005). Freuds Psychoanalyse in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Tübingen: Francke. Bronfen, Elisabeth (2014). The Knotted Subject. Hysteria and Its Discontents. Prince‐ ton: Princeton University Press. Birke, Dorothee/ Butter, Stella (2010). Methoden psychoanalytischer Ansätze. In: Nünning, Vera/ Nünning, Ansgar (Hrsg.); unter Mitarbeit von Irina Bauder-Be‐ gerow. Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze, Grundlagen, Modellanalysen. Stuttgart: Metzler, 51-70. Devereux, Cecily (2004). Hysteria, Feminism, and Gender Revisited: The Case of the Second Wave. English Studies in Canada 40: 1, 19-45. Didi-Huberman, Georges (1997). Die Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. Paderborn: Fink. Eagleton, Terry (1997). Einführung in die Literaturtheorie. 4. Aufl. Stuttgart: Metzler. Gödde, Günter (2013). Hysterie-Studien. In: Lohmann, Hans-Martin/ Pfeiffer, Joa‐ chim (Hrsg.) Freud Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart: Metzler, 84-93. King, Vera (1995). Die Urszene der Psychoanalyse. Adoleszenz und Geschlechterspan‐ nung im Fall Dora. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse. Kristeva, Julia (1978). Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Laplanche, Jean/ Pontalis, Jean-Bertrand (1972). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. List, Eveline (2013). Psychoanalytische Kulturwissenschaft. Wien: facultas.wuv. Nolte, Karen (2005). Gelebte Hysterie - alltagsgeschichtliche Erkundungen zu Hysterie und Anstaltspsychiatrie um 1900. Würzburger medizinhistorische Mittei‐ lungen 24, 29-40. Pfeiffer, Joachim (2013). Rezeptions- und Wirkungsgeschichte: Literaturwissen‐ schaft. In: Lohmann, Hans-Martin/ Pfeiffer, Joachim (Hrsg.) Freud Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart: Metzler, 329-347. Renger, Barbara (2008). Spiegel. In: Butzer, Günter/ Jacob, Joachim (Hrsg). Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart: Metzler, 357-359. Rohde-Dachser, Christa (1991). Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Berlin: Springer. 1.1 Psychoanalytische Literaturwissenschaft: Traum und Trauma in der Wizarding World 53 <?page no="54"?> Vorläufer Struktura‐ lismus Saitner, Barbara (2002). Angst und Konfliktbewältigung in modernen Märchen: Harry Potter aus dem Blickwinkel der Psychoanalyse. Analytische Kinder- und Jugendpsychotherapie 33: 2, 181-201. Schäfer, Johanna (1999). Vergessene Sehnsucht. Der negative weibliche Ödipuskomplex in der Psychoanalyse. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Seidler, Günter H. (Hrsg.) (2010). Hysterie heute. Metamorphosen eines Paradiesvogels. 3. Aufl. Gießen: Psychosozial-Verlag. Shiong, You-shuan/ Wang, Ya-huei (2022). Trauma, Love, and Identity Development in Rowling’s Harry Potter and the Prisoner of Azkaban. Journal of Language and Literature 22: 1, 42-52. Subkowski, Peter (2004). Harry Potter - das Trauma als Motor der psychischen Entwicklung. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 53: 10, 738-753. Van Gennep, Arnold (1999). Übergangsriten. Frankfurt am Main: Campus Verlag. 1.2 RaumZeitlichkeit in Harry Potter: „It all seems to move around a lot“ Julia Lückl & Heidi Lexe Der Poststrukturalismus ist ein philosophisches Konzept, das zahlreiche „nicht nur unterschiedliche[], sondern teilweise gegensätzliche[]“ Ansätze vereint (Münker & Roesler 2012: 28), die jedoch alle durch eine Grundprä‐ misse verbunden sind: Sprache bildet Realität nicht ab, sondern erzeugt sie mittels ihrer Kategorien und Unterscheidungen (mit). Will man post‐ strukturalistischen Ansätzen, die - nicht nur unter Studierenden - den Ruf der Unverständlichkeit und Überkomplexität genießen, über diese sehr verknappte, allgemeine Definition hinaus näherkommen (und sie dabei auch zugänglicher machen), so braucht es zunächst einen genaueren Blick auf jene Denkschule, auf die sich der Poststrukturalismus auch in seiner Bezeichnung bezieht: auf den Strukturalismus, der in seinen Anfängen eine sprachwissenschaftliche Schule war und auf den Schweizer Ferdinand de Saussure zurückgeht. Von 1906 bis 1911 hält Saussure eine Reihe von Vorlesungen, die eine kleine Revolution der Sprachwissenschaft darstellen (vgl. Wildgen 2010: 25), denn bei ihm steht nicht mehr die Sprachgeschichte im Fokus, sondern vielmehr die synchrone Struktur von Sprachen, wie sie zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreib- und untersuchbar sind. Als zentrale Metapher gilt 54 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="55"?> dabei das Bild eines Schachspiels: Sprache ist ein System, das bestimmten Regeln folgt und spezifische Strukturen aufweist, die man zu jedem beliebi‐ gen Zeitpunkt (nach jedem neuen Zug am Schachbrett) wissenschaftlich untersuchen kann (vgl. Saussure 1967). Ebendiese Betrachtungsweise wurde in weiterer Folge auch in die Litera‐ turwissenschaft übernommen, in der es - im Gegensatz zu der jahrzehnte‐ lang dominierenden Hermeneutik - nicht mehr darum ging, den tieferen Sinn eines literarischen Textes ,auszugraben‘, sondern dessen Strukturen auf mehreren Ebenen herauszuarbeiten (vgl. Endres & Hermann 2018: 3f.). Davon ausgehend entstand ein umfangreiches Begriffssystem zur Beschrei‐ bung literarischer Strukturen, das bis heute verwendet wird - das bekann‐ teste wohl in den Arbeiten von Tzvetan Todorov und später Gérard Genette, zwei französischen Narratologen, die durch die Unterscheidung zwischen ‚histoire‘ (der Inhaltsebene von Texten) und ‚discours‘ (der Erzählebene), und Ausführungen über Zeit, Modus und Stimme von Erzählungen einen begrifflichen „Werkzeugkasten“ entwickelten (vgl. Genette 2010; Todorov 1966) (→-Band 1: II). Wichtig ist dabei mit Blick auf die an diesen Ansatz anschließenden poststrukturalistischen Positionen, dass Strukturalist: innen Struktur und Inhalt nicht unabhängig voneinander denken; vielmehr ist „Sinn […] ein Effekt von Struktur“ (Münker & Roesler 2012: 29). Was damit gemeint ist, lässt sich anschaulich anhand der wohl bekanntesten strukturalisti‐ schen Raumtheorie des 20. Jahrhunderts zeigen - Jurij Lotmans Arbeit zur Struktur literarischer Texte (1972). Seine Grundprämisse besteht in der Annahme, dass sich die erzählten Welten narrativer Texte stets in zwei oppositionelle Räume teilen, die durch unterschiedliche kulturelle Semantiken aufgeladen sind. Diese räumliche Aufteilung (z. B. innen/ außen, oben/ unten) spiegelt nicht-räumliche, kulturell etablierte Differenzen (gut/ böse, eigen/ fremd) wider. Wird die Grenze zwischen diesen semantischen Feldern im Laufe einer Erzählung überschritten, so spricht Lotman von dem handlungsgenerierenden Moment, dem „Ereignis“, das sich zugleich als „revolutionär[es]“ Moment verstehen lässt, da es auf inhaltlicher Ebene auch zu einer Destabilisierung normativer Ordnungen (gut vs. böse, eigen vs. fremd) führt (Lotman 1993: 332, 339). Sinn ist im Strukturalismus also immer ein Produkt (zeichenhafter) Strukturen - eine Annahme, an die auch der Poststrukturalismus anschließt, der in den 1980er- und 1990er-Jahren aus der Kritik am Strukturalismus entstand, sich aber weniger als eine gegenbzw. antistrukturalistische Strömung denn vielmehr als eine Adaptierung, 1.2 RaumZeitlichkeit in Harry Potter 55 <?page no="56"?> Heterogenität Gemein‐ samkeiten Weiterentwicklung und Radikalisierung dieses Ansatzes verstehen lässt (vgl. Münker & Roesler 2012: 21-35). 1.2.1 Poststrukturalistisch denken Die Dekonstruktion nach Jacques Derrida, der psychoanalytische Ansatz (→ Band 3: II.1.1) von Jacques Lacan und Julia Kristevas Intertextualitäts‐ theorie (→ Band 1: I.1.3 Merkkasten: Intertextualität) - dies sind nur drei von zahlreichen Theoremen, die der heterogenen Strömung des Poststruk‐ turalismus zugerechnet werden können. Dass sich diese zum Teil auch zueinander im Widerspruch befindlichen Konzepte dennoch unter einer philosophischen Denkrichtung zusammen‐ fassen lassen, liegt daran, dass sie zumindest fünf zentrale Gemeinsamkeiten in Bezug auf grundlegende Prämissen aufweisen: 1. Poststrukturalistische Ansätze richten sich gegen den westlichen Logo‐ zentrismus, d. h. jene hegemoniale Denkform, die das Wort (griech. logos) ins Zentrum rückt und versucht, durch Rationalität und Sprache ‚die Wahrheit‘ zu erkennen (vgl. Ellis 1989: 36-37). Wie viele andere essentialistische Konzepte werden auch Wirklichkeits- und Wahrheits‐ begriffe erkenntniskritisch hinterfragt: Sprache, so der Poststrukturalis‐ mus, kann Wirklichkeit nicht ‚abbilden‘, sondern sie erzeugt diese selbst (mit). 2. Dementsprechend wendet sich der Poststrukturalismus gegen ein Den‐ ken in Dichotomien (Mann vs. Frau, eigen vs. fremd, schreiben vs. sprechen), wie sie hegemoniale, ‚abendländische‘ Denkformen (und auch strukturalistische Ansätze, z. B. Lotmans Modell, s. o.) prägen. Man versucht aufzuzeigen, dass es sich bei diesen Binaritäten und den durch sie implizierten oder explizierten Be- und Abwertungen (z. B. Männer seien klüger als Frauen) nicht um ‚naturgegebene‘ Tatsachen handelt, sondern dass diese vielmehr durch historische, soziale, politische und gesellschaftliche Prozesse konstruiert sind. 3. Abgelehnt wird zudem die ‚abendländische‘ Fokussierung auf das Subjekt als theoretisches und praktisches Zentrum des Denkens (vgl. Bossinade 2000); stattdessen rücken Strukturen von Macht und Wissen in den Fokus. 4. Das Verhältnis zwischen (sprachlichen) Zeichen und Bedeutung ist nicht eindeutig zu definieren, denn bei Sprache handelt es sich aus 56 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="57"?> poststrukturalistischer Perspektive um ein offenes, stets in Bewegung befindliches System - wohingegen sich die Strukturalist: innen Spra‐ che (und auch literarische Texte) als geordnete Strukturen und mehr oder weniger geschlossene Systeme vorstellten. So liegt gerade in dieser Abgrenzung vom Strukturalismus, in der „Betonung des Unkontrollier‐ baren in der Sprache“ (Frank 1984: 35), der „Minimalkonsens“ (Münker & Roesler 2012: 31) poststrukturalistischer Ansätze. Am deutlichsten wird diese Vorstellung von der Instabilität jeglicher Bedeutung in Derridas différance-Begriff (s. u.). 5. Auffallend ist zudem - und dies ist keine inhaltliche, sondern vielmehr eine formale Gemeinsamkeit -, dass poststrukturalistisch orientierte Schriften den „kalten Blick der Analytiker“ (Münker & Roesler 2012: 35) ablehnen und auf klare Definitionen ihrer Begrifflichkeiten und Kon‐ zepte verzichten. Denn eindeutige Wahrheit oder eine ‚richtige‘ Defini‐ tion kann es, so der Poststrukturalismus, ohnehin nicht geben; man kann nur versuchen, sich im Zuge von Denk- und Schreibbewegungen daran anzunähern und dem freien Spiel der Bedeutung dabei selbst Raum zu geben. Das erklärt auch die stilistischen Eigenheiten, die Texte von Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Lacan, Jacques Derrida und vielen weiteren Poststrukturalist: innen aufweisen: Sie „verlegen sich nicht nur aufs Argumentieren, sondern wollen oft durch Wortspiele, Metaphern, literarische Formen und Figuren beim Lesen gleichsam performativ das nachvollziehbar machen, worum es thematisch geht“ (Münker & Roesler 2012: 39). Von diesen allgemeinen Charakteristika poststrukturalistischer Ansätze ausgehend soll nun der wohl prominenteste Ansatz dieses Theoriekomple‐ xes - der sich auch für die nachfolgende Analyse von Raum und Zeit in Harry Potter anbietet - etwas näher betrachtet werden: die Dekonstruktion. 1.2.1.1 Eine poststrukturalistische Praxis: Dekonstruktion „Ich würde sagen, daß sie [die Dekonstruktion, Anm. J.L.] nichts verliert, wenn sie zugibt, unmöglich zu sein“, so schreibt der Begründer der Dekon‐ struktion Jacques Derrida (2007: 15) über deren paradoxen Status. Was aber ist das „Unmögliche“ an diesem Ansatz, den Derrida weder als Theorie noch als Methode verstanden wissen wollte (vgl. Derrida 2003: 26)? 1.2 RaumZeitlichkeit in Harry Potter 57 <?page no="58"?> différance Dissemina‐ tion Um dieser Frage näherzukommen, erscheint ein Blick auf die Kernthesen der Dekonstruktion und damit auf das Konzept der différance vonnöten. Dabei handelt es sich um einen Neologismus, der sich aus dem doppeldeu‐ tigen Verb différer - auf Deutsch ,abweichen‘ oder ,verzögern‘ - bzw. dessen Partizip Präsens différant, das grammatikalisch eine „aktive Bedeutung im Sinne einer Tätigkeit und nicht eines Zustands“ (Köppe & Winko 2013: 117) impliziert, zusammensetzt (vgl. Derrida 1974: 44). Es geht also um einen Prozess des Abweichens bzw. Aufschiebens, den Derrida auf die Bedeutung sprachlicher Zeichen bezieht: Zeichen - seien es Worte oder komplexere Zeichenketten wie Texte - lassen sich, so die Annahme, nie auf eine bestimmte Bedeutung festmachen, d. h. eindeutig definieren, vielmehr ist ihr Sinn in ständiger Bewegung. Damit radikalisiert Derrida eine Prämisse strukturalistischer Zeichentheorie: Saussure ging davon aus, dass jedem Zeichen (dem Signifikant) eine bestimmte Bedeutung (ein Signifikat) ein‐ deutig zugewiesen werden kann, dass diese Beziehung jedoch arbiträr, d. h. willkürlich, ist (z. B. gibt es keine logischen Gründe dafür, warum man ein Gebäude, in dem man wohnen kann, als ‚Haus‘ bezeichnet). Die Bedeutung jedes Zeichens ergibt sich nach Saussure vielmehr ex negativo durch die Abgrenzung von anderen Zeichen (z. B. ‚Haus‘ bedeutet nicht ‚Baum‘ und auch nicht ‚Vogel‘ oder ‚Auto‘ usw.). Auch Derrida bestimmt Zeichen durch ihre Differenz zu anderen Zeichen, zeigt aber, dass die Bestimmung der Bedeutung eines Zeichens nie an ein Ende kommen kann, da man immer neue Begriffe zur Abgrenzung heranziehen könnte und Zeichen in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Bedeutungen erlangen. Bei dem Versuch, sie zu definieren, stößt man daher unweigerlich auf ein endloses „Spiel“ bzw. eine infinite „Spur“ von Bedeutung, „die wir nie einholen können, und die sich überdies auch nicht durch den Verweis auf eine nicht-sprachliche Wirklichkeit festschreiben lässt“ (Köppe & Winko 2013: 115, vgl. dazu Derrida 1986: 56, 67; 1988: 29-52). Diese Spur unterschiedlicher, teils widersprüchlicher Bedeutungen eines Zeichens gilt es im Rahmen der Dekonstruktion aufzuzeigen. Da dieses Verweisspiel - die sogenannte Dissemination (vgl. Derrida 1972) - jedoch bis ins Unendliche weitergeführt bzw. aufgeschoben (die zweite Bedeutung des franz. différer) werden könnte, ist die Dekonstruktion im vollständigen Sinne, wie eingangs zitiert, in gewisser Weise unmöglich. Sie kann nicht abgeschlossenen werden und befindet sich in einem andau‐ ernden Prozess. 58 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="59"?> Dekon‐ struktion und Litera‐ turwissen‐ schaft Wie kann man nun aber literaturwissenschaftlich mit diesem Ansatz arbeiten? Das ursprünglich philosophische Konzept Derridas wurde von seinen Schüler: innen, den sogenannten Yale-Critics, in die Literaturwissen‐ schaft übertragen und damit auf komplexe Zeichenketten - d. h. Texte - ausgeweitet. Merkkasten: Yale-Critics Der Begriff der Yale-Critics, oft auch Yale-School genannt, bezeichnet jene Gruppe von Literaturwissenschaftlern und Philosophen an der Universität Yale (USA), die in den 1970er- und 1980er-Jahren für ihre dekonstruktivistischen Theorien bekannt wurde. Dazu zählen u. a. J. Hillis Miller, Geoffrey Hartman und Paul de Man, die inspiriert von den Arbeiten Jacques Derridas an einer Weiterführung der De‐ konstruktion arbeiteten und diese in den USA populär machten (vgl. Münker & Roesler 2012: 140f.). Ganz im Sinne Derridas geht es dabei nicht um die Interpretation (also das Festlegen von Bedeutung) literarischer Texte, sondern vielmehr um das Nachvollziehen von Sinnverschiebungen: Anders als im Struktu‐ ralismus, der immer wieder binäre Strukturen, die durch oppositionelle Semantiken (gut vs. böse, fremd vs. eigen) bestimmt sind, in den Texten herausarbeiten wollte (z. B. in Lotmans Raumtheorie, s. o.), zielt die Dekon‐ struktion gerade darauf ab, diese Binaritäten und die ihnen eingeschriebe‐ nen logozentrischen, westlichen Denkmuster zu dekonstruieren. Binaritä‐ ten gelten dabei nicht zuletzt aufgrund ihrer impliziten oder expliziten Be- und Abwertungen als problematisch: Zentrum vs. Peripherie, Mann vs. Frau, Inländer: innen vs. Ausländer: innen - in jeder dieser Dichotomien wird eine Seite gesellschaftlich abgewertet und marginalisiert. Diese Be- und Abwertungen sollen - ebenso wie die Dichotomisierung an sich - als gesellschaftliche Konstrukte aufgedeckt bzw. eben dekonstruiert werden. Vielfach erfolgt dies, indem ,Figuren des Dritten‘ in die binäre Differenz eingeführt werden, die die dichotome Struktur verunsichern; oder indem gezeigt wird, dass etwas, das als komplett unterschiedlich zu etwas anderem präsentiert wird, eigentlich nur durch die Abgrenzung zu diesem anderen existiert (z. B. kann es die Kategorie der ,Inländer‘ nur geben, weil sie sich von einem ,Außen‘ abzugrenzen versucht; sie ist also immer schon auf das 1.2 RaumZeitlichkeit in Harry Potter 59 <?page no="60"?> (vermeintlich) ,Andere‘ bezogen). Dieser Gestus, sich gegen hegemoniale Strukturen zu positionieren und diese zugunsten marginalisierter Gruppen zu dekonstruieren, hat den Poststrukturalismus im Allgemeinen und die Dekonstruktion im Besonderen anschlussfähig für jüngere Theoriediskurse gemacht - beispielsweise für die Gender- und Queer-Studies (→ Band 3: II.2.4) (z. B. Butler 1990) oder die Postcolonial Studies (z. B. Bhabha 1994) (→ Band 3: II.2.2). Im Zuge dieser neueren Methoden erhält der Poststrukturalismus in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft eine Art ‚Revival‘. Untersucht man davon ausgehend nun Raum und Zeit aus poststruktura‐ listischer Perspektive, so geht es darum, den Blick genau auf jene Räumlich- und Zeitlichkeiten zu werfen, die sich strukturalistischen Dichotomien entziehen. Weiterführende Literatur zum Poststrukturalismus Culler, Johnthan (1988). Dekonstruktion: Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Martyn, David (1994). Dekonstruktion. In: Brackert, Helmut/ Stückrath, Jörn (Hrsg.) Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg: Ro‐ wohlt, 664-676. Rötzer, Florian (1987). Französische Philosophen im Gespräch. München: Boer, 67-88. Zima, Peter V. (1994). Dekonstruktion: Einführung und Kritik. Tübingen: Francke. 1.2.2 Von Spuren und Falten. Hogwarts, poststrukturalistisch gelesen Julia Lückl 1.2.2.1 Ordnung vs. Chaos, gut vs. böse? Zur Dekonstruktion der Gegensätze „[He] had never even imagined such a strange and splendid place“ (PS: 124), so Harry Potters erster Eindruck von Hogwarts - jenem Schloss und Internat, das den räumlichen Kern von J.K. Rowlings Storyworld bildet. Es ist ein Ort, der bestimmt wird von rigiden Strukturen, die die Identität der 60 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="61"?> Schüler: innen prägen - allem voran natürlich die sich räumlich manifestie‐ rende Unterscheidung der vier Häuser Gryffindor, Slytherin, Ravenclaw und Hufflepuff. Diese zeigt sich etwa in der Trennung von Schlaf- und Aufent‐ haltsräumen, die nur bei Kenntnis der notwendigen Codes (Passwörter bei den Gryffindors, das Beantworten einer Frage bei den Ravenclaws) betretbar sind. Zudem gibt es klar definierte und von den Schüler: innen und Lehrer: in‐ nen regelrecht inkorporierte räumliche und zeitliche Abläufe, die sowohl das Schuljahr als auch die einzelnen (Schul-)Tage strukturieren (Stundenpläne, Prüfungszeiten, Vorgaben zum Ausgang, eigene Räume für unterschiedliche Aktivitäten). All dies vermittelt den Eindruck einer in sich geschlossenen Ordnung und, damit einhergehend, auch eine gewisse Sicherheit, die insbe‐ sondere durch die Figur des Schulleiters Albus Dumbledore mit-geprägt wird: „[T]he safest place on earth was wherever Albus Dumbledore happened to be“ (PoA: 72). Hogwarts gilt, so könnte man aus der Perspektive des Strukturalismus argumentieren, als Ort der Ordnung und Sicherheit, der sich räumlich von dem umliegenden Chaos abgrenzt - im Kleinen beginnend mit dem ‚Forbidden Forest‘, der gerade durch seine labyrinthische Struktur und Dunkelheit als Ort des Mythisch-Undurchdringlichen semantisiert wird; im Großen von der nach und nach Überhand gewinnenden Schwarzen Magie und Voldemort selbst. Hogwarts als Ort des Guten, Geordneten und Gerechten, an dem jede: r willkommen ist, wird hier (räumlich) gegen das Chaotische und von einem Rassenwahn (der pure-blood Ideologie) geprägte Böse ausgespielt - zumindest auf den ersten Blick, wenn man den Raum im strukturalistischen Sinne als geschlossene, feste Struktur betrachtet, wie es, so Michel Foucault, eine lange Tradition hat: Der Raum gilt seit der Antike als „the dead, the fixed, the undialectical, the immobile“ (1980: 70). Will man diese strukturalistische Vorstellung einer atemporalen Räumlichkeit im Sinne poststrukturalistischer Ansätze unterlaufen, so darf man die Aufmerksamkeit in der Textanalyse nicht - wie eingangs gezeigt - auf „Stabilität und fest[e] Strukturen richten, sondern [auf] das Fragil[e], die Verwandlung und die Dynamik, die durch permanent stattfindende De- und Reterritorialisierungsprozesse in Gang gehalten wird“ (Schroer 2019: 40); also auf jene Bewegungen und Prozesse, die auch Hogwarts als Handlungsort von Beginn an prägen: Then there were doors that wouldn’t open unless you asked politely, or tickled them in exactly the right place, and doors that weren’t really doors at all, but 1.2 RaumZeitlichkeit in Harry Potter 61 <?page no="62"?> solid walls just pretending. It was also very hard to remember where everything was, because it all seemed to move around a lot. (PS: 140-141, Herv. J.L.) Alles ist in Bewegung. Hogwarts entzieht sich der Möglichkeit einer festen und stabilen Repräsentation gerade aufgrund seiner fluiden Räumlich‐ keit, die immer wieder neue Räume und damit auch jene Geheimnisse eröffnet, die handlungsbestimmend sind. Damit treffen rigide, räumlich manifeste Differenzstrukturen, die die Identität der Schüler: innen mit- und ausprägen, auf eine räumliche Beweglichkeit, die die vermeintliche Sicherheit und Schutzfunktion von Hogwarts wiederholt unterläuft. Gerade durch die Wandelbarkeit der Räume, das Entstehen und Entdecken neuer Räume im Raum, in dem „very little stays still“ (Cockrell 2002: 15), ist der (vermeintlich) sichere Raum Hogwarts immer schon durch jenes Böse infiltriert, das die Protagonist: innen stets vor neue Herausforderungen stellt: Im ersten Band - Harry Potter and the Philosopher’s Stone - ist der Stein der Weisen in der Untiefe des Schlosses verborgen, die immer neue Hindernisse (das Schachspiel, den Troll, das Zaubertrankrätsel) bereitstellt, um den Stein zu schützen. In Harry Potter and the Chamber of Secrets ist es die titelgebende, ebenfalls im Untergrund versteckte Kammer, in der die Gefahr in Form von Tom Riddle bzw. dem Horkrux-Tagebuch lauert; in Band III - Harry Potter and the Prisoner of Azkaban - treffen die Protagonist: innen in der Heulenden Hütte auf das ihnen Unbekannte (und vermeintlich Gefährliche) und schließlich dringen die ‚Death Eater‘ in Harry Potter and the Order of the Phoenix durch den gestaltwandelnden ‚Room of Requirement‘ (s. Abschnitt 2.2) nach Hogwarts ein, was in weiterer Folge wortwörtlich zum Fall Dumbledores führt. Zugleich fällt damit auch Hogwarts’ Status als Ort des Schutzes und der Sicherheit, den es, wenn man über das Denken in Dichotomien hinausgeht und einen genauen Blick auf die Raum- und Handlungsstruktur wirft, im Grunde nie hatte. Denn trotz der rigiden Sicherheitsvorkehrungen und Dumbledores Präsenz ist es der Handlungsort Hogwarts, in dessen Untiefen und Falten das Böse-Ungeordnete immer schon Teil des Guten und Sicheren ist. Es sind zwei Dimensionen, die nicht voneinander trennbar sind: Hogwarts ist der Ort, an dem die Schüler: innen (vermeintlich) sichere Zuflucht finden; es ist aber auch der Ort, an dem einst Tom Riddle sein Zuhause fand. So wird Hogwarts zum räumlichen Bindeglied zwischen Harry Potter und Lord Voldemort - beide wurden in Hogwarts sozialisiert, beide sind mit diesem Ort existenziell verbunden: 62 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="63"?> „Voldemort was, I believe, more attached to this school than he has ever been to a person. Hogwarts was where he had been happiest; the first and only place he had felt at home.“ Harry felt slightly uncomfortable at these words, for this was exactly how he felt about Hogwarts, too. (HBP: 359) Die bis zum grande finale im siebten Band rätselhaft bleibende Beziehung zwischen Harry und Voldemort impliziert also auch eine räumliche Ver‐ knüpfung; daher kann ihr letzter Kampf gegeneinander auch nirgendwo anders stattfinden als in Hogwarts. 1.2.2.2 Räumliche différance: The Room of Requirement Es ist ein Raum, in dem sich mehrere Orte überlagern; ein Raum, der auf keiner Karte (nicht einmal der ‚Marauder’s Map‘) verzeichnet ist, da er stets in Bewegung bleibt: der ‚Room of Requirement‘. Er passt sich stets den Bedürfnissen der Figuren an, die ihn betreten und für ihre Zwecke nutzen wollen, und entzieht sich durch sein permanentes Werden und Vergehen jeglicher Möglichkeit, seine Bedeutung festzuschreiben. Vielmehr vermengen sich in ihm unterschiedliche Bedürfnisse, die sich räumlich manifestieren: Für den Hauselfen Dobby eröffnet er einen Ort, in dem Winky nach ihren Alkoholexzessen gepflegt werden kann (vgl. OoP: 358), für Dumbledore wird er in einem Moment körperlicher Bedrängnis zur öffentlichen Toilette (vgl. GoF: 352f.). Doch die hier räumlich manifestierten Wünsche bleiben nicht bestehen, sondern vergehen, wenn derjenige, der den Raum durch seine Wünsche erzeugt hat, ihn wieder verlässt: „[It] is a room that a person can only enter when they have real need of it. Sometimes it is there, and sometimes it is not, but when it appears, it is always equipped for the seeker’s needs“ (OoP: 358). Diese Beschreibung ist eine Schlüsselstelle, denn sie markiert den ‚Room of Requirement‘ als einen „space of as-yet-to-be actualized possibilities“ (Deleuze 1986: 80) im Sinne von Gilles Deleuzes poststrukturalistischem (Raum-)Konzept des ‚espace quelconque‘ - im Englischen ‚any-space-whatever‘: In seinen Studien über das Kino beschreibt Deleuze den ,espace quelcon‐ que‘ als ein offenes Prinzip der Verknüpfung zwischen heterogenen Bildern von Räumen und Handlungen, die das moderne Kino prägt (vgl. Deleuze 1986: 80) - eine Beobachtung, die sich auch für eine poststrukturalistisch informierte Untersuchung erzählter Räume fruchtbar machen lässt, denn Deleuzes Definition des ‚espace quelconque‘ verdichtet die Auflösung fester 1.2 RaumZeitlichkeit in Harry Potter 63 <?page no="64"?> räumlicher Relationen, wie sie das poststrukturalistische Raumverständnis prägen, in einem Begriff. Der ‚any-space-whatever‘ ist ein „perfectly singu‐ lar space which has […] lost its homogeneity, that is, the principle of metric relations or connection of its own parts, so that the linkages can be made in an infinite number of ways“ (Deleuze 1986: 109) - eine Beschreibung, die auch auf den „Come and Go Room“ (OoP: 358), wie Dobby den ‚Room of Requirement‘ nennt, zutrifft. Es handelt sich um einen Raum, in dem sich mehrere Orte und ihre unterschiedlichen Semantiken kreuzen - doch was ist damit gemeint? In der Raumtheorie unterscheidet man zwischen indefiniten, abstrakten Räumen (espace) und konkreten, definierten Orten (lieu). Während erstere disponible Konstrukte sind, aus denen es „etwas zu machen“, zu gestalten bzw. umzugestalten gilt, sind Orte individualisierte Räume mit Namen und Geschichten, an denen bereits gehandelt wurde (vgl. Certeau 1988: 218). Im ‚Room of Requirement‘ - einem Raum, der nur im Modus des Potenziellen existiert, aber der jederzeit zu etwas (Neuem) gemacht werden kann - überlagern sich somit unterschiedliche Orte, die durch die Wünsche jener Zauberer und Hexen entstehen, die diesem Raum zu seiner temporären Manifestation verhelfen und ihn dabei unterschiedlich semantisieren. Erstmals eingeführt wird der Raum in The Order of the Phoenix just in einer Situation, in der die dominante Semantik von Hogwarts als Schutz‐ raum zu brechen droht. Unter Dolores Umbridge, die in ihrer Funktion als diktatorische Groß-Inquisitorin ihrem Namen alle Ehre macht, indem sie „quite literally takes umbrage with students like Harry and Hermione who quibble with her pedagogy“ (Cantrell 2011: 203), müssen sich Harry, Hermine, Ron und ihre Verbündeten neue Räume in Hogwarts erschließen, in denen sie sich Umbridge und dem Zaubereiministerium widersetzen, sich auf ihren späteren Kampf gegen Voldemort vorbereiten können und dafür die D.A. - Dumbledore’s Army - ins Leben rufen (vgl. ebd.: 204). Der ‚Room of Requirement‘, den sie dafür auswählen, ist ein Raum des Widerstands gegen die Autoritäten, die die sichtbaren Räume Hogwarts’ mittlerweile beherrschen: „He [Harry Potter, Anm.] and the D.A. were resisting under her [Umbridge’s, Anm.] very nose, doing the very thing she and the Ministry most feared“ (OoP: 368). Ist der ‚Room of Requirement‘ im fünften Band also ein Schutzraum für die um Harry versammelte Dumbledore’s Army, wird er im sechsten Band zum Ausgangspunkt von Dumbledores Untergang. Denn hier repariert Draco Malfoy das ‚Vanishing Cabinet‘, durch das Hogwarts - ein Raum, in den man 64 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="65"?> nicht apparieren kann, was ihn vor äußeren Gefahren schützt - mit dem schwarzmagischen Laden Borgin and Burkes verbunden wird. Erst durch dieses Kabinett bahnt sich ein Weg für die Death Eater nach Hogwarts. Als polyvalenter ‚any-space-whatever‘ ist der ‚Room of Requirement‘ demnach sicher und gefährlich zugleich, unsichtbar und permeabel, ebenso offen für schwarzmagische wie für gute Absichten: „[T]he Room’s liminal status makes it a space that is equally open to abuse, devolution, and collapse“ (Cantrell 2011: 208). Durch seine Flüchtigkeit, seinen ständigen Wandel weist der Raum eine zentrale Parallele zu Derridas Zeichenver‐ ständnis auf: Das, was als ‚Room of Requirement‘ gefasst wird, ist ein Signifikant, der stets wechselnde und festzumachende Signifikate - die unterschiedlichen, in ihrer Semantik oft einander entgegengesetzte Orte, in die sich der Raum verwandelt - umfasst. Will man diesen Raum analy‐ sieren, so kann man ihn nicht auf eine Bedeutung festschreiben, sondern muss vielmehr seiner „Spur“ (Derrida 1994: 225), seinen unterschiedlichen, einander überlagernden Bedeutungen, nachspüren. J.K. Rowlings ‚Room of Requirement‘ ist damit ein treffendes Beispiel für Derridas différance auf räumlicher Ebene: Die Signifikate (die Orte, lieu) ‚gleiten‘ und sind ‚austauschbar‘; der Raum (der Signifikant) hat keine fixierbare Bedeutung, sondern wandelt sich je nach den ,Requirements‘, die an ihn herangetragen werden. So dient dieser „place where everything is hidden“ (DH: 511) etwa Harry als Versteck für das Buch des Halbblutprinzen und die darin enthaltenen schwarzmagischen Zaubersprüche; Jahrzehnte zuvor aber auch Tom Riddle als Aufbewahrungsort für einen seiner Horkruxe, das Diadem von Rowena Ravenclaw. Er ist also Versteck zahlreicher schwarzmagischer Gegenstände, in der filmischen Adaption aber auch jener Ort, an dem Harrys und Ginnys erster Kuss verborgen bleibt. Hier überlagern sich das Gute und das Böse, das Schwarzmagische, das die Identität Lord Voldemorts prägt, und die Liebe, die Freundschaft und der Zusammenhalt, die Harrys Existenz konstituieren und sein Handeln anleiten. So wird der ‚Room of Requirement‘ nicht nur zum Trainingsraum für die D.A., sondern am Ende der Romanserie, in Harry Potter and the Deathly Hollows, auch zu jenem Raum, in dem sich auch die letzten räumlichen und sozialen Differenzierungen, die Hogwarts aus strukturalistischer Perspektive prägen, auflösen: Als das Schloss von den Anhänger: innen Voldemorts übernommen wird, versammelt sich hier die von Neville Longbottom angeführte Widerstandsbewegung, in der sich die Grenzen zwischen den Hogwart’schen Häusern auflösen, wie Harry bei 1.2 RaumZeitlichkeit in Harry Potter 65 <?page no="66"?> Betrachtung der „windowless walls“, die mit „bright tapestry hangings“ bestückt sind (DH: 470), feststellt: „Harry saw the gold Gryffindor lion, emblazoned on scarlet; the black badger of Hufflepuff, set against yellow, and the bronze eagle of Ravenclaw, on blue […]“ (ebd.). Der Kampf gegen Voldemort vereint die drei Häuser, der ‚Room of Requirement‘ wird im Widerstand gegen den gemeinsamen Feind zu einem „equally resistant space“ (Cantrell 2011: 207). Die etablierten symbolischen und materiellen Ordnungen werden in diesem fluiden Raum aufgelöst; die strukturalistische Dichotomie zwischen Gut und Böse findet in den divergenten Semantisie‐ rungen des ‚Room of Requirement‘ ihre räumliche Auflösung. Der finale Kampf zwischen Lord Voldemort und Harry Potter findet damit nicht nur in einem räumlich veränderten Hogwarts statt, sondern steht auch am Ende einer Handlungschronologie, deren Zeitstruktur mitbestimmt wird von Ereignissen, die den sieben Schuljahren von Harry Potter vorangehen: Das im Horkrux begründete aneinander Gebunden- und aufeinander Bezo‐ gen-Sein der beiden Antagonisten (vgl. Lexe 2014) nimmt seinen Ausgang im Angriff Lord Voldemorts auf den noch nicht einmal einjährigen Harry Potter in Godric’s Hollow. Grund dafür ist jene Prophezeiung, die in der Dramaturgie der Roman-Serie am Ende des fünften Bandes offengelegt wird. Sie stellt das zentrale Moment im analytischen Erzählen dar, mit dessen Hilfe die Biografien von Harry Potter und Lord Voldemort puzzleartig aufgedeckt werden. Lord Voldemorts beinahe wahnhaft erscheinender Versuch, an diese Prophezeiung zu gelangen, gründet wiederum in den Ereignissen am Friedhof von Little Hangleton am Ende des vierten Bandes: Nach dem magischen Ritual auch leiblich in die magische Welt zurückgekehrt, scheitert Lord Voldemort erneut daran, Harry Potter zu töten. Der Grund dafür ist der Horkrux, dessen Existenz und Bedeutung erst im finalen Band sichtbar wird; der in Little Hangleton aber einen zeichenhaften Ausdruck im Priori Incantatem erfährt. 66 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="67"?> 1.2.3 Zur Gleichzeitigkeit von Davor und Danach. Zeit-Kapriolen in Harry Potter Heidi Lexe 1.2.3.1 Priori Incantatem Die magische Reaktion im Aufeinandertreffen zweier Zauberstäbe steht im Zentrum des am Friedhof von Little Hangleton stattfindenden Showdowns in Harry Potter and the Goblet of Fire und markiert jene existentielle Verbin‐ dung zwischen Harry Potter und Lord Voldemort, die das zentrale Motiv der Romanserie darstellt (vgl. Lexe 2014). Begründet liegt es im identen Kern der beiden Zauberstäbe: „‚Harry’s wand and Voldemort’s wand share cores‘“ (GoF: 586), wie Albus Dumbledore Harry Potter am Ende des vierten Bandes - die Ereignisse reflektierend und einordnend - erläutert. Das Priori Incantatem erhält jedoch nicht nur Bedeutung im Sinne eines dramaturgischen Wendepunktes innerhalb der sich über die gesamten sieben Bände erstreckenden Handlungschronologie, sondern auch eine darüber hinausreichende zeitliche Dimension. Durch einen „reverse spell effect“ (ebd.) gibt der Zauberstab jene Gestalten frei, die zuletzt durch eben diesen Zauberstab getötet wurden. Sie erscheinen als „shadowy figures“ (ebd.: 562) und zeigen damit eine Bruchlinie, einen Riss zwischen lebend und tot - eine binäre Opposition, die an die zeitliche Opposition von Gegenwart und Vergangenheit gebunden ist. Im Priori Incantatem wird also das Vorherige, das Vorgängige enthüllt (wortwörtlich verweist die dem Lateinischen abgeleitete Formel auf eine Beschwörung des Vorgängers). So lässt sich der goldene Lichtstrahl („bright, deep gold […] beam of light“, ebd.: 558), der die beiden Zauberstäbe mit‐ einander verbindet, auch als Zeitstrahl lesen - ein Zeitstrahl, der sich letztlich zu einem kuppelförmigen Netz auffächert („a golden, dome-shaped web“, ebd.). In dessen Innerem ist der Gesang jenes Phoenix zu hören, dem die Federn entstammen, die den Kern der beiden Zauberstäbe bilden. Zeit erscheint damit nicht mehr als stringent chronologischer Verlauf im strukturalistischen Sinne, sondern als Vielheit - gebunden an den Gesang jenes mythischen Wesens, dessen Leben stets neu aus dem eigenen Tod hervorgeht. Damit zeigt sich in der rhetorischen Figur des „dome-shaped web“ jene Überlagerung vorgängiger Zeichen, von der Paul de Man in seiner Ideologie des Ästhetischen spricht: Die „Möglichkeit von Wahrheit und Richtigkeit“ (Menke 1988: 273) wird durch die Vielheit in Frage gestellt. 1.2 RaumZeitlichkeit in Harry Potter 67 <?page no="68"?> Gegenwart und Vergangenheit werden damit immer neu in Beziehung gesetzt. Denn das Aufeinandertreffen der beiden Antagonisten in Little Hangleton liegt in jenen Ereignissen begründet, die vor Jahren zur (tem‐ porären) Entmachtung Lord Voldemorts durch Harry Potter geführt (und in Harry Potters Blitznarbe ihre ikonografische Kennzeichnung erfahren) haben. Gleichzeitig aber bringen die Ereignisse in Little Hangleton auch jene von Godric’s Hollow neu hervor. Mitbedingt wird diese Auffächerung der Zeitstrahlen durch das Zeitkon‐ zept, das der Romanserie zugrunde liegt und mit der puzzleartigen Aufde‐ ckung der Biografie Harry Potters sowie dem darin verborgenen Geheimnis seiner unauflöslichen Bindung an Lord Voldemort verknüpft ist. Einem strukturalistischen Blick auf die Zeit (und damit der Begrifflichkeit von Gérard Genette) folgend, bestimmen die sieben Schuljahre des zu Beginn der Reihe 11-jährigen Harry Potters die zeitliche „Ordnung“ (Martínez/ Scheffel 2003: 32) des Geschehens. Die „Dauer“ (ebd.) der Ereignisse je Schuljahr wird mit deren zunehmenden Komplexität gesteigert - auch wenn der jeweilige Jahreskreislauf konstant mit einbezogen wird; die Aufeinanderfolge, sprich „Frequenz“ (ebd.), der Schuljahre wird zur Grundlage der Serialität. Je weiter jedoch die von Band zu Band miteinander verknüpften Handlungs‐ stränge voranschreiten, desto bedeutender werden jene vor dem Beginn der Romanserie liegenden Geschehnisse, die für Harry Potters Biografie bestimmend sind: die Machtherrschaft Lord Voldemorts und deren Ende durch den Angriff des Dunklen Lords auf den einjährigen Sohn von James und Lily Potter. 1.2.3.2 The Boy Who Lived Im ersten Kapitel des ersten Bandes wird Harry Potter vorgestellt als „The Boy Who Lived“ (PS: 1) - so die Kapitelüberschrift, die als sichtbares Graphem über den Fließtext gestellt wird. Folgt man Jacques Derrida, der festhält, dass es „keinen Titel ohne Lesbarkeit einer Spur“ (Derrida 1994: 225) gibt, verdichtet sich bereits darin das angesprochene, zentrale Motiv: Das englischsprachige „lived“ kann, anders als das in der deutschsprachigen Übersetzung genutzte „überlebt“ (PS: 5) ‚leben‘ und ‚überleben‘ gleicherma‐ ßen bedeuten - gemeint ist also nicht nur ein Überleben, sondern auch die Qualität des daran gebundenen (und darauf folgenden) Lebens. Gespiegelt wird die Bedeutung dieses Titels in den Ereignissen, die Jahre später, am Ende des finalen siebenten Bandes im Verbotenen Wald stattfinden: Hier 68 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="69"?> überlebt Harry Potter erneut den Todesfluch von Lord Voldemort. Indem er sich in diesem Moment vom Horkrux befreit, erlangt er jene „Ich-Identität“ (Heinz 2007: 88), durch die der Entwicklungsroman gattungstheoretisch gekennzeichnet ist. Dem Format einer progressive series (vgl. Dettmar 2020) folgend, wird der Identitätsfindungsprozess Harry Potters über die sieben Bände hinweg erzählt, die damit als serieller Entwicklungsroman verstanden werden können. Von jenem Moment an, in dem Harry Potter unter der Treppe der Dursleys hervorgeholt wird, verlässt auch Lord Voldmort in seiner geheimnisvollen Halb-Existenz sein Versteck. Hinter dem Titel „The Boy Who Lived“ verbirgt sich im Sinne einer (eingangs beschriebenen) infiniten Spur also auch ein: ‚The Lord Who Lived‘ - denn erst Harry Potters Wiedereintritt in die magische Welt macht sichtbar, dass Lord Voldemort noch nicht final besiegt ist. Beide kehren zurück ins Leben. Gemeint ist damit sowohl eine binäre Opposition zum Tod als auch eine Lebensqualität, die mit jener Macht gemeint ist („the power to vanquish the Dark Lord“, OoP: 774), über die Lord Voldemort nicht, Harry Potter aber sehr wohl verfügt: Im Vergleich zur teuflischen, außerhalb jeder Beziehung stehenden Figur des Dunklen Lords, der nur Gefolgschaft, aber nicht Familie und Freundschaft kennt, agiert Harry Potter aus der Fülle seiner sozialen Beziehungen heraus. Erst durch diese Macht wird er letztlich auch zum Gebieter über die Deathly Hallows (vgl. Lexe 2017) - und damit zum Gebieter über den Tod. Der Grund, warum Lord Voldemort Harry Potter im Verbotenen Wald erneut nicht durch den Todesfluch zu töten vermag, liegt im Schutz-Zauber Lily Potters. Die in der Szene im Wald von Hogwarts im Raum verstreuten Heiligtümer des Todes jedoch sorgen dafür, dass Harry Potter den Tod nicht fürchtet. 1.2.3.3 Das Tagebuch des Tom Riddle Lord Voldemorts eigentümliche Halb-Existenz liegt in den Ereignissen von Godric’s Hollow begründet, die der Romanserie zeitlich vorgelagert sind - und sich im seriellen Zeitkonzept erst durch die Offenlegung einer Existenz von Horkruxen im sechsten Band erklären lassen. Diese Halb-Existenz unterschiedet sich zentral von anderen untoten Existenzen der Romanserie, die (wie z. B. die Hausgeister) in der Schauerliteratur und der motivischen Un-Eindeutigkeit von Figuren gründen, die verstorben, aber dennoch als Wiedergänger: innen existent sind. Lord Voldemorts Wesenhaftigkeit hinge‐ gen, durch die eine poststrukturalistische Denkbewegung sichtbar gemacht 1.2 RaumZeitlichkeit in Harry Potter 69 <?page no="70"?> werden kann, zeigt sich im zweiten Band, wenn die Ereignisse rund um die Chamber of Secrets das (buchstäbliche) Rätsel-Spiel rund um Tom Riddle in Gang setzen: The ink shone brightly on the paper for a second and then, as though it was being sucked into the page, vanished. Excited, Harry loaded up his quill a second time and wrote ‚My name is Harry Potter‘. (CoS: 254) Auf die Handlungsebene transformiert, zeigt sich hier ein „autopoietischer Prozess“ (Bossinade 2000: 35): das Schreiben selbst wird „quasi aus sich heraus reproduziert“ (ebd.) und ermöglicht entlang dieser Spur eine Repro‐ duktion beider Figuren: jener, die ins Tagebuch schreibt (Harry Potter), und jener, die als Tagebuch antwortet: „‚Hello Harry Potter. My name is Tom Riddle‘“ (CoS: 254). Sowohl das Tagebuch als auch Harry Potter selbst sind Horkruxe - tragen also jeweils ein Seelenstück Lord Voldemorts in sich. Es findet erneut jene Überlagerung beider Figuren statt, wie sie im Titel des ersten Kapitels impliziert war. Das Tagebuch, selbst eine Manifes‐ tation des Vorgängigen, ermöglicht es Harry Potter, in die Erinnerungen Lord Voldemorts einzudringen („I recorded my memories in some more lasting way than ink“, ebd.), indem es zur phantastischen Schwelle wird: Metalepse und Analepse (zu den erzähltheoretischen Zeitbegriffen nach Gérard Genette vgl. Martínez & Scheffel 2003: 30-47) (→ Band 1: II.3.2.4) werden kombiniert und weisen voraus auf die finale Szene in der Chamber of Secrets, als Tom Riddle selbst Harry Potter als Erinnerung entgegentritt: „‚Are you a ghost? ‘ ‚A memory‘, said Riddle quietly. ‚Preserved in a diary for fifty years‘“ (CoS: 325). Erst zu diesem Zeitpunkt löst Tom Marvolo Riddle das Rätsel auf: Im Anagramm seines Namens gibt er sich nicht nur als der spätere Dunkle Lord zu erkennen („I am Lord Voldemort“, ebd.: 331), sondern bindet die fluide, zwischen Leben und Tod agierende Kunstfigur Voldemorts an die metaphysische Person Tom Riddle: „‚Voldemort‘, said Riddle softly, is my past, my present, my future.‘“ (ebd.). Das Anagramm zeichnet Riddle mit Harrys Zauberstab in die Luft und verdoppelt damit jene von einem Graphem hervorgebrachte Spur, deren multiple rhetorische Bedeutung sich in der Figur Voldemorts spiegelt. Die différance, die Uneindeutigkeit der sich ständig verschiebenden Zeichen, führt zu einer Figur, die von jener „Multipliierung“ bestimmt wird, von der Bärbel Lücke mit Blick auf Figuren in Theaterstücken von Elfriede Jelinek spricht: 70 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="71"?> Ich habe das Kunstwort Multipliierung verwandt, um darin die derridasche Falte, pli, unterzubringen, die alle Dichotomisierung von vornherein als eine Auffältelung des in sich gespaltenen Einen und nicht als dualistisch-hierarchische Opposition sieht […]. (Lücke 2007: 62, Herv. B.L.) Lebendig und tot sind in der Erinnerung des Tagebuches von Tom Riddle gleichermaßen aufgehoben wie Vergangenheit und Zukunft in der Gegen‐ wart seiner Begegnung mit Harry Potter. In jeder dieser Begegnungen wird die Figur Lord Voldemorts neu hervorgebracht. 1.2.3.4 Die Prophezeiung Wenn im dialogischen Austausch zwischen Harry Potter und Tom Riddle die Tinte in die Seiten des Tagebuchs eingesaugt wird („it was being sucked into the page“, CoS: 254), wird durch dessen Materialität verdeutlicht, dass der eine sich in die Biografie des anderen einschreibt - respektive bereits in diese Biografie eingeschrieben ist: „[…] for neither can live while the other survives“ (OoP: 774), heißt es (drei Bände und damit drei Schuljahre später) in der Prophezeiung, in der erneut das Wort live aufgegriffen und damit auf den Titel des allerersten Kapitels zurückverwiesen wird. In der Gegenwart der Handlungschronologie steht die Prophezeiung im Mittelpunkt des fünften Bandes, der jenen Neubeginn darstellt, mit dem der vierte Band endet (der Titel des finalen Kapitels lautet „The Beginning“, GoF: 602). Eingeführt als Waffe, die Lord Voldemort nicht in die Hände fallen darf, verweist die Prophezeiung als (magisch) archiviertes Dokument auf die hierarchische Dominanz von Schriftlichkeit gegenüber der Mündlichkeit. Erst als die Aufzeichnung der Prophezeiung zerbricht, zeigt sich deren ursprüngliche, situative, sprachliche Hervorbringung. Im erläuternden Gespräch zwischen Albus Dumbledore und Harry Potter am Ende des Bandes wird das Pensieve als magisches Medium narrativer Anachronie (→ Band 1: II.3.2.4) genutzt: Die in der Vergangenheit von Harry Potters gegenwärtiger Professorin für Wahrsagekunst gemachte Prophezeiung wird mit seiner Hilfe aufgerufen: „But when Sybill Trewlaney spoke, it was not in her usual, ethereal, mystic voice, but in the harsh, hoarse tones Harry had heard her use once before“ (OoP: 774). Verwiesen sei hier auf ein Miteinander von „Sound und Semantik“ (Bos‐ sinade 2000: 51) im Sinne von Julia Kristeva, die mit dem Begriff der chora auf das Vorsprachliche allen Sprechens verweist und damit das „Werden 1.2 RaumZeitlichkeit in Harry Potter 71 <?page no="72"?> der Sprache“ (ebd.: 45) in seiner „sinnhafte[n] Ordnung“ (ebd.) durch ein Moment archaischer Körperlichkeit irritiert. „Kaum hervorgebracht, wird die Sprache wieder aufgelöst“ (ebd.: 46). In Sybill Trewlaneys überspanntem Wesen, aber auch dem körperlich explizierten Sprechakt liegt die Unsicherheit der semiotischen Ebene der Prophezeiung selbst begründet: Wie jede Prophezeiung stellt sie einen in die Zukunft weisenden Sprechakt dar, dessen prädiktiver Charakter die Mehr‐ deutigkeit des Ausgesagten bereits impliziert. Ihre Semiotik entzieht sich einer „Bedeutungsproduktion“ (Bossinade 2000: 47) und stellt sie dennoch gleichzeitig her, indem nach ihr gehandelt wird: „The one with the power to vanquish the Dark Lord approaches … born to those who thrice defied him, born as the seventh month dies […]“ (OoP: 774). Mit diesen Worten beginnt die Prophezeiung und um der darin ausgesagten Möglichkeit, besiegt zu werden, entgegenzuwirken, versucht Lord Voldemort (in Unkenntnis der gesamten Prophezeiung; vgl. ebd.: 453ff) den einjährigen Harry Potter zu töten, auf den die biografischen und zeitlichen Angaben zutreffen. Sie würden allerdings auch auf Neville Longbottom zutreffen. Daher macht nicht die Prophezeiung Harry Potter zum Auserwählten, sondern der von ihr provozierte Angriff auf ihn. Durch ihn wird er als dem Dunklen Lord ebenbürtig gekennzeichnet („marked as equal“, ebd.: 774) und zum Horcrux. Ganz im Sinn der einleitend beschriebenen Sinnverschiebungen, von denen Jacques Derrida spricht, verweist das englischsprachige „equal“ nicht nur auf einen ebenbürtigen Gegner, sondern auch auf jene Wesensgleichheit, die Tom Riddle bereits in der Chamber of Secrets anspricht: „Because there are strange likenesses between us, Harry Potter“ (CoS: 334). Die beiden Zauberstäbe mit ihrem identen Kern bestätigen einerseits diese Wesensgleichheit; weisen andererseits aber auf einen viel existentielleren identen Wesens-Kern voraus: auf den Horkrux, durch den das „equal“ in neuer Qualität bestätigt wird. Dramaturgisch dient die Prophezeiung als foreshadowing (→ Band 1: II.3.2.4). In ihrer Semantik wird sie zum zentralen Bestandteil jenes Rät‐ sel-Spiels, das zum narrativen Movens des seriellen Erzählens wird. Mit jedem der nach und nach offengelegten Puzzlesteine rund um das Geheimnis der existentiellen Verbindung zwischen Harry Potter und Lord Voldemort wird auch sie neu - und damit prozesshaft - hervorgebracht. Die von der Prophezeiung offenbarte - mögliche - Zukunft bestimmt damit sowohl Harry Potters Vergangenheit (den Angriff auf ihn und seine Eltern in Godric’s Hollow), als auch seine in dieser Vergangenheit fußende 72 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="73"?> Gegenwart. Gegenwart und Vergangenheit werden durch die (all-)gegen‐ wärtige Präsenz Lord Voldemorts in Harry Potters Leben einer binären Opposition enthoben. Gleichermaßen wie die Opposition von lebendig und tot. Denn durch den Horkrux, den er in sich trägt, wird Harry Potter auch in die „Multipliierung“ (Lücke 2007: 62) der Figur Lord Voldemorts mit hineingenommen. Erst am Ende des finalen Bandes wird er von diesem Horkrux befreit - und mit der Zerstörung aller Horkruxe stehen einander (wieder) Tom Riddle und Harry Potter gegenüber. Im Sinne von Harry Potters nunmehr erlangten Ich-Identität wird der Mehrfachbedeutung des „lived“, das am Beginn des seriellen Entwicklungsromans steht, an dessen Ende eine neue Qualität hinzugefügt: „The scar had not pained Harry for nineteen years“ (DH: 620). Primärmedien Rowling, J.K.: Harry Potter und der Stein der Weisen. Aus dem Engl. Von Klaus Fritz. Hamburg, 1998. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Philosopher’s Stone. Hogwarts House Edition. London, 2018. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets. Hogwarts House Edition. London, 2018. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Prisoner of Azkaban. Hogwarts House Edition. London, 2018. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Goblet of Fire. Hogwarts House Edition. London, 2018. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Order of the Phoenix. Hogwarts House Edition. London, 2018. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Half-Blood Prince. Hogwarts House Edition. London, 2018 Rowling, J.K.: Harry Potter and the Deathly Hallows. Hogwarts House Edition. London, 2018. Sekundärliteratur Bhabha, Homi (1994). The location of culture.-New York: Routledge. Bossinade, Johanna (2000). Poststrukturalistische Literaturtheorie. Stuttgart: J.B. Metzler. 1.2 RaumZeitlichkeit in Harry Potter 73 <?page no="74"?> Butler, Judith (1990). Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity.-New York: Routledge. Cantrell, Sarah K. (2011). „I solemnly swear I am up to no good“: Foucault’s Heterotopias and Deleuze’s Any-Spaces-Whatever in J. K. Rowling’s Harry Potter Series. Children’s Literature, 39, 195-212. Certeau, Michel de-(1988). Kunst des Handelns. Aus dem Franz. von Ronald Voullié. Berlin: Merve. Cockrell, Amanda (2002). Harry Potter and the Secret Password. Finding Our Way in the Magical Genre. In: Whited, Lana A. (Hrsg.) The Ivory Tower and Harry Potter: Perspectives on a Literary Phenomenon. Columbia: Missouri UP, 15-26. Deleuze, Gilles (1986). Cinema 1: The Movement-Image. Aus dem Franz. von Hugh Tomlinson and Barbara Habberjam. Minneapolis: Minnesota UP. Derrida, Jacques (1972). La dissémination. Paris: Éd. du Seuil. Derrida, Jacques (1974). Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Derrida, Jacques (1986). Positionen: Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta. Wien: Passagen Verlag. Derrida, Jacques (1988). Randgänge der Philosophie. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen Verlag. Derrida, Jacques (1994). Titel (noch zu bestimmen). In: Gestade. Aus dem Franz. von Monika Buchgeister und Hans-Walter Schmidt. Editiert von Peter Engelmann. Wien: Passagen Verlag, 219-244. Derrida, Jacques (2003). Letter to a Japanese Friend [1988]. In: Culler, Jonathan (Hrsg.) Deconstruction: Critical Concepts in Literary and Cultural Studies. Lon‐ don/ New York: Routledge. Derrida, Jacques (2012). Psyche: Erfindungen des Anderen I. Hrsg. von Peter Engel‐ mann. Wien: Passagen Verlag. Dettmar, Ute (2020). Serielles Erzählen. In: Kurwinkel, Tobias/ Schmerheim, Philipp (Hrsg.) Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Unter Mitarbeit von Stefanie Jakobi. Stuttgart: J.B. Metzler, 137-144. Ellis, John M. (1989). Against Deconstruction. Princeton, NJ: Princeton UP. Endres, Martin/ Hermann, Leonhard (2018). Einleitung. In: Dies. (Hrsg.) Struktura‐ lismus, heute: Brüche, Spuren, Kontinuitäten. Stuttgart: J.B. Metzler, 1-9. Foucault, Michel (1980). Power, Knowledge. Selected Interviews and Other Writings 1972-1977. Hrsg. von Colin Gordon. New York: Harvester Wheatsheaf. Frank, Manfred (1984). Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt a. M. Suhrkamp. Genette, Gérard (2010). Die Erzählung. 3., durchges. und korr. Aufl. Paderborn: Fink. Heinz, Jutta (2007): Bildungsroman, auch: Entwicklungsroman. In: Burdorf, Die‐ ter/ Fasbender, Christoph/ Moenninghoff, Burkhard (Hrsg.) Metzler Lexikon Lite‐ 74 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="75"?> ratur: Begriffe und Definitionen. Begründet von Günther und Irmgard Schweikle. 3., völlig neu bearbeitete Aufl. Stuttgart: Metzler, 88-89. Köppe, Tilmann/ Winko, Simone (2013). Neuere Literaturtheorien. 2. Aufl. Stuttgart: J.B. Metzler. Lexe, Heidi (2014). Ge(kenn)zeichnet. Die magische Verbindung zwischen den Ant‐ agonisten als Grundmotiv der Harry Potter-Serie. In: Kurwinkel, Tobias/ Schmer‐ heim, Philipp/ Kurwinkel, Annika (Hrsg.) Harry Potter intermedial. Untersuchun‐ gen zu den (Film-)Welten von Joanne K. Rowling. Würzburg: Königshausen & Neumann, 131-145. Lexe, Heidi (2017). Befreiung durch Liebe. Joanne K. Rowlings Harry Potter als erlösendes Kind. In: Langenhorst, Georg/ Willebrand, Eva (Hrsg.) Literatur auf Gottes Spuren. Religiöses Lernen mit literarischen Texten des 21.-Jahrhunderts. Ostfildern: Grünewald, 249-259. Lotman, Jurij M. (1993). Die Struktur literarischer Texte. Aus dem Franz. von Rolf-Dietrich Keil. 4. Aufl. München: Fink. Lücke, Bärbel (2007). Elfriede Jelineks ästhetische Verfahren und das Theater der Dekonstruktion. In: Janke, Pia (Hrsg.) Elfriede Jelinek: „Ich will kein Theater“. Mediale Überschreitungen. Wien: Praesens Verlag, 61-85. Man, Paul de (1998). Die Ideologie des Ästhetischen. Hrsg. von Christoph Menke. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Martínez, Matias/ Scheffel, Michael (2003). Einführung in die Erzähltheorie. 5. Aufl. München: C. H. Beck. Menke, Christoph (1988). „Unglückliches Bewusstsein“. Literatur und Kritik bei Paul de Man. In: de Man, Paul (1998). Die Ideologie des Ästhetischen. Hrsg. von Christoph Menke. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 265-299. Münker, Stefan/ Roesler, Alexander (2012). Poststrukturalismus. 2. Aufl. Stuttgart: J.B. Metzler. Saussure, Ferdinand de (1967). Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hrsg. von Bally, Charles/ Sechehaye, Albert. Berlin/ New York: de Gruyter. Schroer, Markus (2018). Raum im Poststrukturalismus. In: Ders. (Hrsg.) Räume der Gesellschaft: Soziologische Studien. Wiesbaden: Springer, 27-41. Todorov, Tzvetan (1966). Les catégories du récit littéraire.-Communications 8, 125- 151. Wildgen, Wolfgang (2010). Die Sprachwissenschaft des 20.-Jahrhunderts. Berlin/ Bos‐ ton: de Gruyter. 1.2 RaumZeitlichkeit in Harry Potter 75 <?page no="76"?> Machttheo‐ retische Diskurs‐ analyse 1.3 Literarische Diskursanalyse des Mütterlichen bei Harry Potter Astrid Henning-Mohr Eine Diskursanalyse müsste eigentlich Machtanalyse heißen, denn Michel Foucault beschäftigt zeitlebens das Verhältnis von Macht, Subjektivität und Wissen. Foucaults Texte sind Flaneure. Immer wieder kommen sie zu diesen Begriffen zurück, jedoch nicht ohne sich wieder zu entfernen und vom metaphorischen Spaziergang neue Gedanken mitzubringen, um so die Begriffsbestimmung zu ändern. Auch wenn Foucault selbst einer Zuweisung und Systematisierung kritisch gegenüberstand, so wird er mit seiner Diskursanalyse dem Poststrukturalismus zugeordnet (→ Band 3: II.1.2). Daher sollte bei der folgenden Vorstellung der Begrifflichkeiten, die als Bausteine einer Diskursanalyse fungiert, stets mitgedacht werden, dass Foucault selbst seine Begrifflichkeiten und ihre Beziehung zueinander immer wieder überarbeitet hat. 1.3.1 Bausteine der Diskursanalyse als Textanalyse Die machttheoretische Diskursanalyse entwickelt sich in den 1960er-Jahren aus der poststrukturalistischen Verknüpfung von sozialer Realität und sprachtheoretischem Zugang zu derselben. Insbesondere französische Phi‐ losoph: innen üben im Poststrukturalismus Kritik an den eklatanten Prinzi‐ pen der Moderne: Subjekt, Wissen, Recht und Wahrheit der Werte werden durch sie radikal in Frage gestellt, gelten doch diese modernen Werte als ideologische Grundlage zweier Weltkriege. Zu den Hauptvertreter: innen der poststrukturalistischen Theorien zählen u. a. Louis Althusser, Hélène Cixous, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Roland Barthes, Julia Kristeva, Jacques Lacan, und Michel Foucault. Mit der Diskursanalyse entsteht ein methodisches Feld, der (De-)Konstruktion moderner Prinzipien (Subjekt und Wissen) auf die Spur zu kommen. 1.3.1.1 Begrifflichkeiten der Diskursanalyse: der Diskurs und das Subjekt In Foucaults Arbeiten entwickelt sich ein Zugang zur Kritik des modernen Wissens über die Welt und ihre sozialen Beziehungen. 76 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="77"?> 3 Zur Definition von diskursiven Aussagen vgl. Köppe/ Winko 2013: 99. Diskurse Weiterführende Literatur zu Michel Foucault Zu Foucaults zentralen Schriften gehören Wahnsinn und Gesellschaft (1961), Die Geburt der Klinik (1963), Die Ordnung der Dinge (1966) sowie Die Archäologie des Wissens (1973) und Die Ordnung des Diskur‐ ses (1974). In diesen Texten setzt er sich mit seiner Begrifflichkeit auseinander, welche den Diskurs immer in (variierender) Abhängig‐ keit von Macht, Wissen und Subjektivität verortet. Weitere Arbeiten sind: Sexualität und Wahrheit (1976), In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France 1975-1976 (1999), Geschichte der Gou‐ vernementalität I (2004), Geschichte der Gouvernementalität II (2004). Gleichzeitig ist diese Kritik auch immer eine Kritik an der Vorstellung moderner, fester Subjektivität, die sich als Kontrast zu anderen erkennt und versteht: Der Mann zur Frau, der/ die Europäer: in zum/ zur Asiat: in oder Afri‐ kaner: in, der/ die Lehrerende zum/ zur Schüler: in etc. (→ Band 3: II.2.2 und II.2.3). In dieser Kritik verstehen die Poststrukturalist: innen Subjektivität nicht länger als fest, klar und stets identisch (vgl. Foucault 1991: 31f.). Das Ich muss sich nicht mehr stets gegen die Angriffe der Anderen verteidigen, wie es beispielsweise in den Werken der Klassik oder des Sturm und Drang noch inszeniert wird. Dort wird das bürgerliche Subjekt vom Adel bedroht (Kabale und Liebe. Schiller 1784) oder von entfremdenden Lebensbedingungen der Zivilisation (Werther. Goethe 1774). Das poststrukturalistische Subjekt hin‐ gegen entwickelt und erkennt sich stattdessen selbst in der Handlung und Haltung zu Wissenspraktiken und deren sozialer Ordnung und unterliegt somit einer ständigen Entwicklung aus der Praxis, wie Foucault für sich selbst und seine Arbeiten einfordert: „Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben.“ (Foucault 1969: 30). Diese Wissenspraktiken unterliegen ihrerseits Aussagen darüber, was die dem Subjekt angemessenen Praktiken seien: Was macht eine Frau, was ein Mann, was eine Mutter aus etc.? Das Wissen von solchen subjektdefinier‐ enden Praktiken findet sich in Diskursen, die ein wichtiger Baustein der poststrukturalistischen Kritik und der Diskursanalyse als ihrer Methode sind. Diskurse sind bei Foucault „eine Menge von Aussagen 3 , die einem gleichen Formationssystem zugehören“ (Foucault 1969: 156). Der Diskurs 1.3 Literarische Diskursanalyse des Mütterlichen bei Harry Potter 77 <?page no="78"?> Subjekte Diskurs der Mutter‐ schaft beinhaltet und verbreitet das Wissen, was für eine bestimmte Zeit als richtig und unhintergehbar bezüglich eines Gegenstandes oder eines Subjektes (und seiner Gruppe) ist. Da diese Wahrheitsdefinition mit Machtverhältnissen verbunden ist (wer bestimmt was ‚wahr‘ ist: Medizin, Kunst oder Politik etc.? ), beinhaltet ein Diskurs mit dem Wissen über einen Gegenstand auch Hierarchien. Ein Diskurs ist veränderbar und entwickelt sich im Zusammenhang mit Macht und hat Auswirkung auf das Subjekt, das sich in diesen Diskursen, ihren Aussagen und Verknüpfungen verortet und von sich sagen kann: Ich bin Ich, weil ich dieses Wissen für wahr halte und danach mein Leben und meine Werte richte. Foucault erwartet darin vom Diskurs, dass dieser aufzeigen kann, wie das, was wir heute denken, nicht immer schon da war, sondern das, was als wahr und richtig gilt, aus sozialen und kulturellen Beziehungen entstanden ist (vgl. Foucault 2001: 776). Und dieses - veränderbare - Wissen findet sich auch in der Sprache (vgl. ebda.). Die Sprache spielt in der Diskursanalyse eine wichtige Rolle, da sie zwar Trägerin der Wahrheitsaussagen ist, aber auch gleichzeitig darauf verweist, dass die Wahrheit nur auf dem sprachlichen Zeichen liegt und nicht dem Gegenstand oder dem Subjekt immanent ist (vgl. Köppe/ Winko 2013: 98). Das Fehlen einer überzeitlich festen Wahrheit hinter dem Wort (vgl. Geisenhanslüke 2005: 80) bedeutet für die Literatur ein Erkennen des historisch-kulturellen Wissens in den literarischen Gegenständen, Motiven (→ Band 3: II.1.4), Figuren oder Phänomenen. Anders aber als in der Hermeneutik geht es in der Diskursanalyse nicht darum, eine versteckte Wahrheit der Autor: in bzw. der Epoche zu suchen, die stets gleich von ein‐ geweihten Wissenden gefunden werden muss (vgl. Köppe/ Winko 2013: 98). Stattdessen ‚weiß‘ der Text mehr als sein: e Autor: in, im Text finden sich Wissenspraktiken der sozialen Welt, in denen sich die Figuren bewegen und dadurch Strukturen der Macht erkennen lassen (→ Band 1: I.1.3): Es finden sich die Diskurse über Subjekte und ihre Beziehungen. Der Diskurs z. B. der Mutterschaft verbindet also Sprache und Wissen. Seine sprachlichen Aussagen sind eine Praxis, welche Wissenszusammenhänge her‐ stellt und ihrerseits abhängig ist von Werten und Wissenszusammenhängen, welche die sprachliche Aussage begrenzen. Es ist diese, man möchte schon sagen dialogische Praxis, welche den Gegenstand in seiner historischen Verortung bestimmt. Der Diskurs zieht Grenzen zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, ist praktisches Wissen darum, was und wie eine Mutter zu sein hat und wer und was nicht als mütterlich gilt (vgl. Foucault 1977). Denn all 78 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="79"?> 4 Für eine vertiefte Auseinandersetzung siehe auch Truschkat & Bormann 2020. Archive des Wissens Macht als Handlungs‐ wissen das Sprechen über die Einschlüsse dessen, was Muttersein ist, alle Übergänge, alles Verborgene und Heimliche beschreibt das Wissen des Subjekts darum, wie es sich richtig zu verhalten hat. Im Sprechen über Mutterschaft praktizieren die Sprechenden nicht nur die Wissenszusammenhänge um den Gegenstand, sie praktizieren sie auch auf/ in sich selbst. Mutter ist demnach, wer mütterlich handelt, denkt, entscheidet etc. (vgl. Geisenhanslüke 2016: 35). Und was als mütterlich gilt, geht aus einer Ordnung der Macht hervor. Das mütterliche Subjekt ist somit Gegenstand dieser Macht. Der Diskurs des Mütterlichen stellt demzufolge eine Praxis der Macht und der Norm dar. Allgemein zeigt sich dieses sprachliche Macht-Wissen in offiziellen Geset‐ zestexten, Lehrplänen, Talkshows, Ratgebern oder Zeitschriften und seine Aussagen sind somit an der Produktion und Erhaltung von Wissen beteiligt. Zusammen ergeben sie ein Archiv, dessen Bedeutung als Wissenskomplex Foucault in seiner Archäologie des Wissens (1973) aus dem Zusammenführen der jeweiligen Diskurse heraus erklärt (vgl. Ruoff 2018: 36). Als ‚Archiv‘ ist jedoch nicht ein Raum gemeint, der die Dokumente einer Zeit sammelt, sondern die Verbindungen und Regelungen von Diskursen über einen Wissenskomplex hinaus darstellt. In Diskursen werden „fundamentale […] Positionen, Autoritäten, soziale Hierarchien sowie soziale Positionierungen ausgehandelt“ (Keller u. a. 2020: 30). (Mütterliche) Subjektivität mittels einer Diskursanalyse zu erfas‐ sen bedeutet, die Diskursanalyse als Machtanalyse anzunehmen, da sie sich in erster Linie mit der Adaption von Macht als kollektiv-individueller Praxis beschäftigt. Foucaults Machtbegriff definiert sich nicht in erster Linie als Zwang. Vielmehr ist Macht eine Kraft, die nicht nur einschränkt, sondern aus der Einsicht in die Sinnhaftigkeit eines Gegenstandes und seiner Praktiken entsteht (DeE I 2001 Nr. 50, Wer sind Sie, Professor Foucault? : 771). Weil es z. B. als sinnvoll im Sinne einer pädagogischen Praxis erscheint, den Kindern vorzulesen, wird diese Praxis zu einer mütterlichen Praxis - und damit zu einer Kategorie dessen, was und wie eine Mutter zu sein hat. Für Foucault stellt sich der Machtbegriff als Beziehung zwischen Menschen dar und ermöglicht Einfluss auf etwas oder jemanden und ist in seiner Historizität variabel (vgl. Maset 2002: 57f.) 4 . Macht ist damit die Einsicht, sich als sinnvoll zu verhalten. Für die Diskursanalyse ist dieser Zugang wichtig, weil mit dieser Definition Macht als etwas erfasst wird, das sich 1.3 Literarische Diskursanalyse des Mütterlichen bei Harry Potter 79 <?page no="80"?> 5 Kompositum aus Gouvernement = Regierung und Mentalität = Denkweise. (vgl. Foucault 2004). Machtme‐ chanismen als Handlungswissen in allen Formen der Gesellschaft bis in den menschli‐ chen Körper hinein geriert. Eine Diskursanalyse, welche Wissensdiskurse und Wahrheitspolitiken analysiert, offenbart dieses Handlungswissen als Machtpraxis und zeigt somit auf, wie das, was als selbstverständlich gehalten wird, gemacht worden ist (vgl. Foucault: Das Subjekt und die Macht, 1987). Statt zu fragen: Wer hat die Macht? untersucht eine Diskursanalyse: „Wie funktioniert Macht an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kontext? “ (Maset 2002: 80-93) Foucault formuliert dies folgendermaßen: Macht existiert nur in actu, auch wenn sie sich […] auf permanente Strukturen stützt. […] Tatsächlich ist das, was ein Machtverhältnis definiert, eine Handlungs‐ weise, die nicht direkt und unmittelbar auf die anderen einwirkt, sondern eben auf deren Handeln. (Foucault 1987: 254) Als Gelingensbedingung betont Foucault für Machtbeziehungen den „pro‐ duktiven Aspekt von Machtmechanismen“ (Maset 2002: 83). Das bedeutet, dass die normierenden Wissenspraktiken als sinnvoll und gewollt zu Tage treten: Dementsprechend ist alles Tun ein ideologisches Handeln und erfolgt innerhalb einer politischen Wahrheitsformation. Macht schreibt sich als ‚Technologien des Selbst‘ in die Körper ein (Foucault 1999; auch bei Reckwitz 2006: 155) und stellt als ‚Gouvernementalität‘ 5 auch eine Führung der Subjekte dar, die diese freiwillig selbst übernehmen. Diese Führung vollzieht sich im Wissen darüber, wie etwas zu funktionieren hat. Das kann auf struktureller Ebene stattfinden, wenn wir in der Zeitung lesen, dass Menschen politikmüde sind, weil sie nicht wählen und damit ausge‐ schlossen wird, dass sich politische Praxis auch im Engagement für ihre Hausgemeinschaft darstellt (vgl. Foucault 1983: 114). In den Technologien des Selbst setzt das Subjekt seine Kenntnis über sich um und erkennt sich gleichzeitig in dieser praktizierten Umsetzung als Subjekt. Die Gewissheit darüber, dass man eine Mutter ist, entsteht dann, wenn man mütterlich handelt, also Praktiken anwendet, die als mütterlich definiert werden. Foucault nennt dies, ein „Wahrheitsspiel spielen“ (Foucault 1985: 24). Wie zeigt sich nun dieses Wahrheitsspiel in der Literatur? Foucault macht die Literatur immer wieder - wenn auch mit sich stets verändernder Bedeutung - zum Gegenstand seiner Untersuchungen um Macht, Wissen 80 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="81"?> 6 Neumeyer weist richtig darauf hin, dass dies in Die Ordnung der Dinge (1966) noch anders ist, dort bezeichnet er nämlich noch Literatur als Gegendiskurs (vgl. Neumeyer 2010: 180). Diskurs & Literatur und Subjekt. In seiner Archäologie des Wissens (1969) definiert er die Litera‐ tur als ein „Grundmuster für seine Art von Mustererkennung“ (Foucault 1969: 981), welches die verschiedenen anderen gesellschaftlichen Diskurse (der Ökonomie, der Pädagogik, der Justiz etc.) zusammenführt (vgl. Dotzler 2008: 152) 6 . Auf diese Weise wird Literatur selbst zu einem Feld, welches ‚Wahrheiten‘ u. a. in der Figurendynamik produziert. Die Literatur ergänzt damit außerliterarische Wahrheiten um eine ästhetisch-emotionale Erfah‐ rung (vgl. Hallet 2010: 272-299). Merkkasten: Vertreter: innen der Diskursanalyse und Interdis‐ ziplinarität der Diskursanalyse Innerhalb der Literaturwissenschaft gelten vor allem Achim Geise‐ nhanslüke (1997), Jürgen Link, (2008), Jürgen Fohrmann und Harro Müller (1988) als Vertreter der Diskursanalyse. Allerdings bezieht die literaturwissenschaftliche Diskursanalyse auch immer wieder Anleihen aus anderen Disziplinen, allein deshalb, weil die Analyse des Diskurses immer mit Fragestellungen einher geht, die symbo‐ lischen Charakter haben für die Analyse der Aussagen und ihrer machtspezifischen Verbindung. Die Geschichtswissenschaft (Maset 2002 / Landwehr 2018 / Sarasin 2003), die Kultur- und Genderwissen‐ schaften (Butler 1990), Sprachwissenschaften ( Jäger 2012) oder die Sozialwissenschaften (Pieper und Gutiérrez Rodríguez 2003 / Pieper u. a. 2001 / Keller 2008) halten hierfür hilfreiche Zugänge bereit. Für das Vorgehen sind Rückgriffe auf andere literaturanalytische Zugänge hilfreich: Theorien wie die Hermeneutik, Methoden wie das Close-Reading oder Wide Reading, Parameter der Narratologie wie ‚Fokalisierung‘ oder gar ein Eklektizismus aus mehreren literaturwis‐ senschaftlichen Analyseverfahren. 1.3.1.2 Literaturwissenschaftliche Diskursanalyse Die literarische Diskursanalyse ist weniger ein Verfahren zur Einzeltextana‐ lyse, sondern ein Denksystem, welches die Wissensverweise über Subjekte 1.3 Literarische Diskursanalyse des Mütterlichen bei Harry Potter 81 <?page no="82"?> 7 Als bedeutungstragendes Zeichen definiert Roland Barthes Objekte, Praktiken oder Phänomene, die in ihrer Bildhaftigkeit auch für etwas stehen, das über ihre Gegen‐ ständlichkeit hinaus gehen - der Wein für die Kultur der Gastgeber: in, das Buch für die Klugheit der Besitzenden etc. (vgl. Barthes 1988: 165) oder Gegenstände im literarischen Text herauskristallisiert (vgl. Köppke/ Winko 2013: 97, ebd.: 112). Eine Diskursanalyse befasst sich also mit der Analyse jener stilistischen Aspekte eines literarischen Gegenstandes, wel‐ che den „Wissenskomplex“ (Neumeyer 2010: 180) und das „Wahrheitsspiel“ des Diskursgegenstandes formen und die Praktiken aufzeigen, in denen dieses Wissen an die Körper der Figuren gebunden wird. Kurzum: Eine literaturwissenschaftliche Diskursanalyse widmet sich der Konstruktion politisch-kultureller Praktiken im literarischen Zeichen. Eine Diskursanalyse liest daher literarische Texte als Aussagen, die im Archiv des Wissensgegenstandes seine Entstehungsbedingungen und Anbindungen an das Subjekt aufzeigen. Beim Lesen eines solchen Diskusge‐ genstandes ist dabei nicht die Frage zentral, was uns die Autor*inneninstanz mitteilen möchte, sondern wie das Gesagte als bedeutungstragendes Zei‐ chen 7 zutage tritt und von dort aus den Diskurs entwickelt. Fokussiert werden gesellschaftliche Wissensaspekte, die einen Einfluss auf die Macht des oder über das Subjekt haben. Von dort aus ergibt sich der Überblick über den Forschungsstand, der so viele Aussagen und Objekte wie möglich einbezieht, die sich der Aussage der Mutterschaft widmen. Berner hat dies z. B. unternommen, wenn sie die ökonomischen, medialen und politischen Aussagen zur Mutterschaft in der Gegenwart zusammenträgt (siehe: Berner 2022). Um dem Literarischen der Diskursivität Rechnung zu tragen, ist es wichtig, nach sprachlichen Mustern (Lobrede, Übertreibung, Kommentar etc.), Themen oder Bildern zu fragen. Innerhalb des literarischen Gegenstandes - der Harry Potter-Romane - soll der sprachlichen, dramaturgischen und motivlichen Erscheinung von ‚Mutter‘ über ein Close Reading auf die Spur gekommen werden. Das bedeutet, im Diskursfragment der Hepatologie herauszuarbeiten, wie sich das Mütterliche hier im Querschnitt eines Longsellers zeigt. Dabei können wir ‚Wahrheiten‘ über das Mütterliche nicht als verborgenes Geheimnis entdecken, sondern in den Metaphern und Symbolen, in Grenzziehungen und Aussperrungen. Die (historisch-soziale) kulturelle Praxis des Mütterli‐ chen muss für eine Analyse der Mutter-Praxis in den HPR vorab erfasst werden. 82 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="83"?> Merkkasten: Close Reading Close Reading ist ein Interpretationsverfahren, in welchem die Be‐ deutungen von „Ausdrücken, Versen oder Textteilen“ (Köppe/ Winko 2013: 45) analysiert werden. Vorausgesetzt wird dabei, dass literarische Sprache per se mehrdeutig ist und deshalb ein Interpretationsverfah‐ ren benötigt, welches die (mehrfachen) Bedeutungszuweisungen im Kontext des literarischen Gegenstandes analysiert. 1.3.2 Der Diskurs der Mutter. Oder: Was wir wissen. Hinführung nach Hogwarts Um die kulturell-ästhetische Erfahrbarkeit eines Diskursgegenstandes aus‐ zumachen, benötigt es einen „Gang ins Archiv“ (Neumeyer 2010: 188), also eine Recherche dessen, was Mütterlichkeit außerhalb der literarischen Räume kennzeichnet und von dort in Beziehung zum literarischen Gegen‐ stand tritt. Nathalie Berner stellt in ihrer Untersuchung Die Konstruktion der Mutter in Politik, Wirtschaft, Medien und Alltag (2022) auf der Basis historischer wie zeitgenössischer Quellen und Artefakte fest, dass „das Mutterbild, jenes „‚Herzstück‘ kulturellen menschlichen Zusammenlebens“ (Berner 2022: 41) nur in seiner Existenz, nicht jedoch in seiner Art und Weise anthropologisch ist. Im historischen Blick auf die Genese des Mutterbegriffs durch die unterschiedlichen historischen Epochen hindurch erweist sich auch das heutige westlich geprägte Mutterbild als konstruiert. Diese Gemachtheit wird von (außerwie innerliterarischen) Subjekten in deren Handlungswis‐ sen praktiziert und etabliert. In der Heptalogie HPR treffen die mütterlichen Praktiken auf eine histo‐ risch-kulturelle Praxis der gegenwärtigen Mutterschaft, die Berner mit Be‐ zug auf Petra Schmidt als „Total quality Mama“ (Berner 2022: 54) bezeichnet. Sie, die Mutter, verfügt idealerweise über ein hohes Wissen an gesellschaft‐ lichen Herausforderungen für ihr Kind und der entsprechenden Pädagogik. Sie zeigt emotionale Verbundenheit und psychologische Selbstreflexion und erweist sich als kluge Begleiterin und Unterstützerin im Konkurrenzsystem ihres Kindes. Dabei vergisst sie weder die gesellschaftlichen Ansprüche an sich selbst (auch als Partnerin) und findet einen ausgleichenden Spagat 1.3 Literarische Diskursanalyse des Mütterlichen bei Harry Potter 83 <?page no="84"?> 8 Vgl. die Auswertungen des Statistischen Bundesamtes zur Kindertagesbetreuung 2023: https: / / www.destatis.de/ DE/ Themen/ Gesellschaft-Umwelt/ Soziales/ Kindertages betreuung/ _inhalt.html, Zugriff: _18.8.2023. zwischen Karriere und Familie, bei dem vor allem Letzteres nicht zu kurz kommen darf (vgl. ebd.). Dabei unterstellt die neoliberale ökonomische Lebensstruktur Müttern, deren Kinder im Konkurrenzsystem der Schule (und Gesellschaft) nicht zu den Gewinner: innen gehören, ein Versagen an der Erziehung (vgl. Krüger-Kirn & Tichy 2020: 194). Um Kinder auf eine spätere Einfügung in die Arbeitswelt als kreative, umfassend gebildete, resiliente und teamfähige Arbeitnehmer: innen vorzubereiten, gilt es, manche Kinder vor ihren Eltern zu schützen. Damit sind nicht nur die jugendamtlichen Schutzpraktiken vor Gewalt am Kinde gemeint, sondern auch die Ausweitung des Schulwesens, welches das Kind aus der Familie hinaus in eine immer längere staatlich einsehbare Institution überführt (vgl. Berner 2022: 57). So hat der Anteil staatlicher Institutionen an der Kindheit selbst wie an einem normalen Alltag des Kindes in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen 8 . Hogwarts stellt eine solche Ausweitung der mütterlichen Sorgeaufgabe auf die Schule par excellence dar. Das Internat hat als Ergänzung des Elternhauses auch in der KJL eine lange Tradition (vgl. Quesel 2005). In ihnen zeigt sich bereits institutionell, welche diskursanalytischen Grenzen, Regeln und Bestimmungen der Gegenstand ‚Mutter‘ innehält. Im Überblick stellt sich das folgendermaßen dar: Hogwarts nimmt als Institution die Kinder bei sich auf, deren Eltern sie nicht allein adäquat auf ihr Leben als Zauberer: in vorbereiten können oder wollen. Die Hauslehrer: innen übernehmen eine Elternfunktion und leiten die Figuren zu Anstrengungsbereitschaft an, zu deren gegenseitiger Überwachung und Bewertung, zu Leistungswille und zur Einfügung in die Ordnung der Gesellschaft. Zusätzlich steht als pflegende Mutterfigur Madam Pomfrey zur Verfügung. Ergänzt wird die Funktion der Ersatzmütter bei Harry durch Molly Weasley. Alle Ersatzmüt‐ ter gemeinsam stehen in Relation zu seiner ermordeten Mutter Lily, welche als abwesende Mutter nur den grundlegenden Schutz des Kindes durch die Magie ihres Opfers einnimmt. Da die oben beschriebene Vielheit der Mutterschaft auch in der Literatur nicht mit nur einer Mutterfigur zu besetzen ist, ohne diese gleich ins Burnout zu schreiben, teilt J.K. Rowling die Wissenspraktiken der Mutterschaft auf mehrere Figuren auf. Sie folgt damit der diskursiven Konstruktion 84 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="85"?> 9 Postmoderne Gesellschaften zeichnen sich u. a. durch eine Vielfalt der Identitätsmög‐ lichkeiten aus, sowohl innerals auch intersubjektiv. von Mutterschaft, die sich in postmodernen Gesellschaften 9 nicht in einer eindimensionalen Festlegung findet, so dass eigentlich von Mutterschaften gesprochen werden müsste. Das Phänomen und die Praxis der Mutterschaft ist also ausdifferenziert worden (vgl. Berner 2022: 117). Dieser Ausdifferen‐ zierung von Mutterschaft und Mütterlichkeit wird folgend in der Storyworld Potters nachgegangen. 1.3.3 Der Diskurs des Mütterlichen in den Harry Potter-Romanen Foucaults Begriff von Macht ist eng verbunden mit Wissen und der Norm, an der sich das Wissen ausrichtet. Dieser Norm und ihrem Wissen unterwirft sich das/ ein Subjekt freiwillig und nicht unter Zwang (wer will schon eine ‚schlechte‘ Mutter sein? ) und praktiziert dadurch normierte Eigenschaften ebenso, wie es Normen reproduziert (vgl. Lemke 2000: 240). Die Norm per se nimmt in den Harry Potter-Romanen eine herausragende Rolle ein. Wer ist ‚normal‘ - die Dursleys oder Harry? Wer agiert normge‐ recht - das Zaubereiministerium oder Dumbledore? Rolf Parr verweist mit der Foucaultschen Diskursanalyse darauf, dass der Unterschied zwischen normal und nicht normal schnell erkenntlich wird, wenn „gerade noch Akzeptiertes und das gerade nicht mehr Akzeptierte eng beieinanderliegen.“ (Parr 2008: 39). Dieser Übergangsraum der Unterscheidung zeigt eine post‐ moderne Verschiebung von Identitäten in HPR. Für diese Verschiebung werden die Normen der Mütterlichkeit zum Kriterium Harrys erfolgreicher Entwicklung, der zum Schluss eine eigene Familie findet (vgl. Babenhauser‐ heide 2018: 259). 1.3.3.1 Die abwesende Mutter - Opfer und Unvermögen Die Verknüpfung von Mutterschaft mit einem Opfer ist bei HP ein Dreh- und Angelpunkt der diegetischen Entwicklung von Gut und Böse. Als gestorbene Mütter nehmen Merope Gaunt - Lord Voldemorts Mutter - und Lily Potter eine initiierende Rolle ein. Beide starben durch Männer, die der Liebe nicht fähig sind. Merope wird von ihrem Vater (Voldemorts Großvater) so schlecht 1.3 Literarische Diskursanalyse des Mütterlichen bei Harry Potter 85 <?page no="86"?> 10 Das mütterliche Opfer liegt in ihrem Fall interessanterweise nicht im Sterben, sondern im Weiterleben, auch ohne den geliebten Mann: „She wouldn’t even stay alive for her son? “ (HBP: 218) 11 Vgl. zu diesen Praktiken Biskop 2020: 344. 12 Ich sehe hier von der Fortführung Harry Potter und das verwunschene Kind ab und bleibe im Hauptkorpus der Potter-Heptalogie. behandelt, dass sie nicht genügend Resilienz aufbringt, für ihren Sohn am Leben zu bleiben und Lily Potter wird von Voldemort getötet (vgl. HBP: 169f.). Im Opfer ihres Lebens für Harry legt Lily jedoch den Grundstein für seinen späteren Sieg über Voldemort. Das geschieht sowohl dadurch, dass das Opfer der Mutter als ultimativer Liebesbeweis entscheidend dafür ist, a) den letzten Horkrux als ungewollte (und letztlich zerstörerische) Abspaltung Voldemorts überhaupt zu produzieren als auch b) Harry gegen die „Versuchung zur phallisch-aggressiven Weltbeherrschung durch den Zauberstab des Todes [zu wappnen].“ (Babenhauserheide 2018: 261). Das mütterliche Opfer wird auf diese Weise zur Grundbedingung der Lebensfähigkeit des Kindes. Die Mutter Voldemorts fungiert innerhalb dieses Opferdiskurses als mahnender Gegenpool. Denn sie, die selbst völlig lieblos erzogen wurde, kann selbst keine wirkungsmächtige Liebe geben - weder zu Voldemorts Vater noch zu Voldemort selbst (vgl. HBP: 218) 10 . Die aufopfernde Liebe kann Voldemort somit nicht erfahren und sie damit auch nicht in seine Überlebensstrategie mit einbinden. „If there is one thing Voldemort cannot understand, it is love. He didn’t realise that love as powerful as your mother’s for you leaves its own mark.“ (PS: 321). Während Harry durch das Opfer in seiner frühkindlichen Erfahrung eine spätere Resilienz gegenüber den verstörenden familiären Praktiken seiner Ersatzfamilie 11 an den Tag legt, wird sich bei Tom Riddle weder das Waisenhaus noch Hogwarts in der Lage zeigen, aus Tom einen resilienten Menschen werden zu lassen (vgl. Babenhauserheide 2018: 189). Die staatlichen Ersatz-Institutionen können damit das mütterliche Opfer als Urgrund der späteren Überlebensfähigkeit nicht ersetzen. Lilys Opfer hingegen lässt Harry zu einem verantwortungsvollen Mann reifen, der seine eigene Familie gründet. Aus ihrem Einsatz des eigenen Lebens erwachsen Harrys Eigenschaften des „Altruismus und mannhaftes Ertragen des Unabwendbaren“ (Decker 2012: 139). Währenddessen wird Voldemort, unfähig zur Liebe, weder selbst am Leben bleiben noch eine Familientradition weiter führen können 12 , während Lily in Harry weiterlebt. Letzteres offenbart sich nicht nur in der Weitergabe des Namens an Harrys 86 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="87"?> Tochter Lily Luna, sondern auch in der Todesszene Snapes. Für ihn, der im Sterben in Harrys Augen sehen will, sind es nicht Harrys Augen, sondern die Lilys (vgl. ebd.: 227). „Das Opfer schließt den Kreis der Romanhandlung: Am Anfang steht das Opfer von James und Lily Potter, am Ende das von Harry.“ (ebd.: 254), wenn er in den Wald zu Voldemort geht, wohlwissend, dass er sein Leben geben muss, damit die Schlacht in Hogwarts endet und niemand mehr getötet wird. Auf diese Weise stellt das Opfer der Mutter eine Voraussetzung für die (soziale und biologische) Lebensfähigkeit des Kindes dar, ein Fehlen desselben entfernt das Kind stattdessen von der ‚Natur‘ des familiären Schutzes (vgl. ebd.: 174). Der Opferdiskurs bezüglich einer (idealen) Mutterschaft wiederholt sich später bei der Hexe Tonks, deren Sohn Teddy glücklich aufwachsen kann, weil seine Mutter für eine bessere Welt im Kampf gegen Voldemort gestor‐ ben ist. Zusammenfassend muss jedoch auch noch darauf verwiesen werden, dass die mütterliche Opferpraxis in HP eng an einen konservativen Status quo geknüpft ist: Alle Opfer der Storyworld erfolgen zugunsten eines Gesellschaftszustandes (vgl. Babenhauserheide & Krämer 2020: 235), der im Grunde die Opfer erst hervorbringen konnte. Babenhauserheide und Krämer erinnern daran, dass die Opferpraxis nicht dazu führe, dass Armut, Ausgrenzung und Herrschaft abgeschafft würden, sondern nur in einen ge‐ sellschaftlichen Zustand vor der Herrschaft Voldemorts wieder zurückführt (vgl. ebd). Dafür spricht auch der letzte Satz der Heptalogie „All was well“ (DH: 620), der zumindest Assoziationen zum Schöpfungsmythos ermöglicht, in dem die gottgeschaffene Welt, so wie gemacht, richtig war „Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ (Buch Genesis, Mose 1, 31) 1.3.3.2 Die Ersatzmütter Neben den biologischen nehmen auch die Ersatzmütter in den Romanen eine wichtige Funktion für die Inszenierung der mütterlichen Wahrheitsprakti‐ ken ein. In ihren Abstufungen zeigen sich die Ordnung, Klassifizierung, die Analogien und Oppositionen des Diskursgegenstandes. Im Sinne Foucaults bedeutet das, dass auch diejenigen, die der Mutterschaft ähnlich sind, Aussagen zur Bestimmung des Gegenstands der Mütterlichkeit treffen (vgl. 1.3 Literarische Diskursanalyse des Mütterlichen bei Harry Potter 87 <?page no="88"?> Foucault 2001d: 644). Aber auch die „unmütterlichen“ Figuren praktizieren ein Wissen darüber, wie eine Mutter zu sein hat. Rowlings Aufteilung der mütterlichen Praktiken auf mehrere Figuren lässt die Vielfalt und die Grenzziehungen des Mutter-Begriffes gut erfassen. Molly Weasley, Minerva McGonagall, Hermine Granger und Rubeus Hagrid übernehmen teilweise die Mutterrolle für Harry, und zusammengenommen praktizieren sie Aussagen des Diskurses von Mutterschaft. Molly Weasley Die Mutter seines besten Freundes Ron Weasley, bei der Harry mehrere Ferien über zu Besuch ist, ist für ihn die erste positive Erfahrung mütterlicher Praktiken. Diese zeigen sich nicht nur in der Hausfrauentätigkeit, sondern auch im Schimpfen (vgl. CoS: 92), im Umsorgen (vgl. DH: 57), im Haushalten (u. a. vgl. CoS: 46) und im Beschützen (vgl. DH: 602). Molly Weasley lebt für Harry eine Mutterschaft vor, die er bei Petunia Dursley nicht kennengelernt hat, und erweist sich darin als eine Ersatzmutter. Allerdings zeigt sie sich für seine Entwicklung zum Antagonisten Voldemorts als weniger einflussreich als sein Pate Sirius und als Dumbledore, der eine Ersatzvaterrolle einnimmt. Dass Harry für seine Entwicklung Mollys Schutz nicht benötigt, steht in engem Zusammenhang damit, dass dieser ihm ja durch seine biologische Mutter gegeben wurde. Und so kann Molly für Potter zwar mütterliche Praktiken der Umsorgung geben, wirklichen Schutz bietet sie nur für ihre eigenen Kinder. Minerva McGonagall Während Molly Weasley die körperliche Vernachlässigung durch Petunia Dursley aufarbeiten kann (Essen, saubere Kleidung, behütete Atmosphäre) und Madam Pomfrey, als Prototyp der pflegenden Mutter, Potters körperli‐ che Wunden heilt (vgl. Biskop 2020: 378), entspricht die Hausmutter Minerva McGonagall der mütterlichen Aufgabe, im konkurrenzbasierten neolibera‐ len Gesellschaftsleben das „Leben und den Erfolg der nächsten Generation“ zu sichern (vgl. Berner 2022: 49). Den Sieg im Konkurrenzsystem prophezeit McGonagall bereits auf den ersten Seiten des ersten Bandes: „He’ll be famous - a legend - I wouldn’t be surprised if today was known as Harry Potter day in future - there will be books written about Harry - every child in our world will know his name“ (PS: 14) und in Harry Potter and the Order of the Phoenix wird sie sich selbst darum kümmern, dass Potters Berufswunsch Erfolg hat. 88 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="89"?> 13 Bis Harry Hagrid kennenlernt, zeichnet ihn die Narbe als Kind, dessen Herkunft ungewiss ist. Hagrid hat dabei die Aufgabe, ihm zu erklären, welche Herkunft er hat und übernimmt dabei sowohl eine ‚väterliche‘ Rolle, die seine Zugehörigkeit durch Diese Bestimmung zu erfüllen, ist innerhalb der folgenden sieben Bände immer wieder McGonagalls angenommener Auftrag. Dabei vergisst sie auch nicht, die Schüler: innen Hogwarts entlang ihres Genders auf ihre Rolle vorzubereiten, wie bei den Anweisungen zum Weihnachtsball zu erkennen ist (vgl. GoF: 326). Was einen Jungen ‚maskulin‘ und ein Mädchen ‚feminin‘ macht, entsteht als kulturelle Praxis eben auch durch das Nachahmen und Vermitteln dieser Praktiken durch die Eltern. Minerva McGonagall initiiert so die Maskulinität bei Harry (vgl. Adney 2011: 180) (→ Band 3: II.2.4) und lässt in der Initiierung und Vermittlung von genderbasierendem Wissen an die nächste Generation ihre mütterliche Rolle erkennen. In der Rolle der begleitenden mütterlichen Lehrerin ist Minerva McGo‐ nagall zwar streng und fordernd, zeigt aber dennoch, dass sie auf der Seite der Schüler: innen steht, indem sie z. B. Potters Talent für Quiddich erkennt und für ihn die Schulregeln umgeht, wonach er als Erstklässler nicht in der Hausmannschaft hätte spielen dürfen (vgl. PS: 161f.). Minerva McGonagall ist demnach zuständig für die leistungsorientierte und genderdual ausge‐ richtete Zukunftsvorbereitung. Dass sie dabei mehr ist als eine Lehrerin, zeigt sich an der Emotionalität, an der ständigen Erreichbarkeit, welche die Hauslehrerin für die Schüler: innen zeigt: „There was nobody left to tell. Dumbledore had gone, Hagrid had gone, but he had always expected Professor McGonagall to be there, irascible and inflexible, perhaps, but always dependably, solidly present…“ (OoP: 673). Weitere Ersatzmütter Bei aller Bezogenheit auf die weibliche Mutterschaft zeigt sich Rowlings Fertigkeit für Übergänge und Schwellenräume, wenn auch Hagrid in seiner Statur und in seinen Praktiken wahrhaft mütterlich wirkt. Er, der Harry von der Zaubererwelt in die Muggelwelt trägt, birgt nicht nur als männlich gelesene Figur mütterliche Seiten, sondern erweitert auch den Diskurs um Mütterlichkeit. Allein schon das Tragen Harrys zu den Dursleys und wieder zurück in die Zaubererwelt ist eine mütterlich lesbare Handlung, die ja das Kind von einer Welt in die nächste austrägt. Des Weiteren ist es Hagrid, der Harry seine Herkunft erklärt 13 (vgl. PS: 54). Außerdem zeichnet Hagrid 1.3 Literarische Diskursanalyse des Mütterlichen bei Harry Potter 89 <?page no="90"?> die Erbschaft des Magischen erklärt als auch die mütterliche Rolle, da diese eigentlich immer als gesicherte Herkunft gelten kann, was aber bei Harry nicht der Fall ist. 14 Für ihren eigenen Sohn Dudley ist sie eine liebevolle Mutter, deren Mutterschaft jedoch von Dumbledore als schädliche Mütterlichkeit, als eine Art ‚Affenliebe‘ gezeichnet wird und somit auch darin keine positive Mütterlichkeit aufzeigt. grundsätzlich eine beschützende und zum Opfer tendierende Liebe zu allen Geschöpfen aus. Als letzte der Ersatzmütter sei hier noch Petunia Dursley erwähnt. Ihre Ersatzmutterschaftspraxis ist hauptsächlich dadurch gekennzeichnet, dass sich der kindliche Schützling von ihr ablösen muss. Gleichzeitig verstärkt Petunias Haus bei aller Vernachlässigung für Harry den mütterlichen Schutz vor Voldemort, da Dumbledore - wissend um die Bedeutung der schwester‐ lichen Beziehung - Petunia damit beauftragt hat, Harry ein Zuhause zu bieten (vgl. Decker 2012: 145). 14 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Ersatzmütter durch eine betonte Eindimensionalität auszeichnen. Minerva McGonagall scheint geschichtslos alt und weise, Molly Weasley ist die alterslose Dauermutter, Madam Pomfrey, die pflegende Ersatzmutter, sowieso nur ein Typus. Le‐ diglich bei Petunia Dursley deutet sich eine Psychologisierung u. a. über die Konkurrenz zu ihrer Schwester in der Kindheit an (→ Band 3: II.1.1). Alle praktizieren jedoch das Mütterliche und bilden so die Praktiken des Diskurses. 1.3.3.3 Die „Un-Mutter“ Bellatrix Lestrange Für die Erfassung dessen, welches Wissen über Mutterschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als richtig und vernünftig gilt, kommt man in der Dis‐ kursanalyse nicht um das Gegenteil der Vernunft herum. Foucault weist in seiner Untersuchung zur Entstehung der Psychiatrie und der medizinischen Definition von Wahnsinn nach, dass die Gesellschaft, die sich als richtig und vernünftig definiert, seit dem Mittelalter stetig Formen des Wahnsinns als Gegenteil der Vernunft ausmacht und Träger: innen des Wahnsinns aus der Gesellschaft ausschließt (vgl. Foucault 1973). Diesen Ausschlüssen geht eine Definition des Wahnsinns voraus und aus dieser Definition entsteht auch das Wissen, wer und was das Nicht-Wahnsinnige ist. Mit Foucault ist der Wahnsinn damit nicht einfach das binäre Gegenteil zur Vernunft, sondern er zeigt, was als vernünftig gesehen und praktiziert wird: 90 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="91"?> Was mir wichtig schien und was ich zu analysieren suchte, war […]: wie ist es möglich, daß ein Diskurs in einer bestimmten Periode als pathologischer fungiert und in einer anderen Periode als literarischer. (Foucault 1987: 11, zitiert nach Spoerhase 2007: 41) Molly, Minerva und Lily haben eine bedeutende Gegenspielerin: Bellatrix Lestrange. In dem - für Rowling typischen - sprechenden Namen deutet sich bereits die Andersartigkeit und die Grenze an - die Fremde/ Verrückte (vgl. Lauer 2013: 367) -, welche Bellatrix einnimmt: Sie ist das Fremde, das Nicht-Mütterliche und ihre Darstellerin in den Filmen, Helena Bonham Carter, schafft es in Stimme und Mimik, den Wahnsinn ihrer Figur zum Ausdruck zu bringen. Als serielle Wiederkehr im Potter-Universum kann dabei die schauspielerische Ausdeutung der Figur zur Lesart als wahnsinnige Un-Mutter der Heptalogie beitragen (vgl. Barth 2002: 42). Der Name verweist aber auch auf die Abweichung vom Mütterlichen, da er als Gegensatz zum Heimischen und Bekannten daherkommt, während Harry sich doch gerade im Fuchsbau bei Molly Weasley als sich selbst erkennen kann (vgl. CoS: 44). Und diese Abweichung vom Mütterlichen lässt in ihren Praktiken erkennen, wer zur Gruppe der Mütter dazu gehört und wer nicht (vgl. Foucault 1989: 13). Die kinderlose Bellatrix stellt in ihrem Wahnsinn eine Bedrohung der Familie dar, die sich auch darin zeigt, dass sie Nevilles Eltern in den Wahnsinn gefoltert und Neville quasi elternlos gemacht hat und mündet darin, Harrys letzte Anbindung an die Familie - Sirius Black - zu töten. In dieser Bedrohung der Familie zeigt sich gleichzeitig, was die Aufgabe der vernünftigen Mutter sei - nämlich als Bewahrerin der Familie zu agieren. Ihr steht die Macht zu, die Genealogie der Familie zu erhalten oder zu zerstören. Aus dieser mütterlichen Aufgabe, das Leben (auch im eigenen Opfer) zu bewahren, ist der Kampf von Molly gegen Bellatrix während der großen Schlacht in Hogwarts zu lesen: Als ein Konkurrenzkampf um die perfekte Mutterschaft (vgl. Berner 2022: 117). Bellatrix’ Ermordung von Fred und die Bedrohung Ginnys stellt die Fähigkeit Mollys infrage ihre Kinder zu schüt‐ zen. Bellatrix ist damit ein „Störfaktor“ (Behrens 2022: 119) für gelingende Mutterschaft. Und dennoch entscheidet Molly den Kampf für sich - nicht, weil sie die bessere Magierin ist, sondern weil sie aus altruistischen Motiven und mit Eigenschaften der Liebe, Güte und Menschlichkeit ausgestattet ist (vgl. Decker 2012: 149). 1.3 Literarische Diskursanalyse des Mütterlichen bei Harry Potter 91 <?page no="92"?> Ein letztes Prinzip der Anti-Mutter findet sich in den Filmen durch die Verkörperung der Figur durch Helena Bonham Carter, welche Bellatrix als Figur mit sexuellem Begehren nach Voldemort inszeniert. Auch im Buch spricht sie zu Voldemort wie zu einem Liebhaber (vgl. Wolter 2017: 76). Die sexuell aktive, ledige Frau steht polarisierend zur mütterlichen Ehefrau, welche die Sexualität in die Ehe verlegt und sie damit domestiziert (vgl. Berner 2022: 45). Somit zeigt sich auch in der Kontrastierung der Sexualität eine Praxis über die Wahrheit des Mutterdiskurses, in der die Mutter mit ihrer ehelichen Sexualität einer Femme fatale gegenübersteht. 1.3.4 Fazit: Die Regeln des Diskurses und seine Beziehungen Die Wissenspraktiken des Diskurses ‚Mutter‘ lassen in den Beziehungen und Praktiken der als mütterlich erkannten Figuren und ihrer Gegenspieler: in‐ nen erkennen, welche ‚Wahrheiten‘ über Mutterschaft der Text trägt. Das Wissen darum, was als mütterlich gilt, entsteht dabei in erster Linie durch die Grenze zum Nicht-Mütterlichen. Als direkte Sprecher: innen des Mütterlichen ermöglichen es Lily Potter, Molly Weasley, Minerva McGonagall, aber auch Hagrid und Narzissa Malfoy, ihren Kindern Resilienz auszubilden, indem sie das Kind bedingungslos lieben. Selbst Harrys Gegenspieler Draco Malfoy gelangt nicht endgültig auf Voldemorts Seite. Seine Stellung zwischen Gut und Böse entsteht daraus, dass seine Mutter ihn liebt und Dumbledore und Snape ihn schützen (vgl. Biskop 2020: 387). Die ‚Richtigkeit‘ dieser mütterlichen Praxis wird bei Rowling dabei immer wieder an eine biologische Determinante gebunden. Und so werden die Anti-Mütter deutlich als wahnsinnig oder unsympathisch dargestellt - sie stehen zum Mütterlichen antithetisch. Zwischen der Anbindung an den mütterlichen Schutz Lilys, der Abwehr der lebensbedrohlichen anti-familiären Praktiken Voldemorts und Bellatrix’ und dem Ankommen in einer eigenen Familie (vgl. Babenhauserheide 2018: 259), erfolgt Harrys Reifung zwischen den Fronten der guten und bösen Seite mit ihren jeweiligen Bedeutungsträger: innen. Diese Bedeutungsträ‐ ger: innen praktizieren normierende Genderkonstruktionen als anti-moder‐ ner Gesten über das Thema Familie (vgl. Krüger-Kirn/ Tichy 2020: 194). Der Mutter wird dabei eine quasi-natürliche Rolle für die gelingende (leistungs‐ orientierte) Entwicklung des Kindes zugeschrieben (vgl. ebd.: 203). Die familiäre Klimax der Potter-Romane verbindet im Diskurs des Mütter‐ lichen konservative Aspekte der Mütterlichkeit durch die vehemente Beto‐ 92 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="93"?> nung der Natürlichkeit und der vererblichen Determination mit neoliberalen Anforderungen an die Familie (vgl. Babenhauserheide 2018: 262). In den An‐ ordnungen, Äußerungen, Wahrheitswünschen und Wissensstrategien um das Zeichen ‚Mutter‘ wird Mutterschaft auf verschiedene Figuren aufgeteilt und erweist sich an dieser Stelle dann doch wieder als Möglichkeit, eine Kritik an diesen multiplen Mutterschaftsanforderungen des Neoliberalismus zu lesen - völlig unabhängig davon, ob dies nun durch Rowling intendiert war oder nicht. Primärmedien Rowling, J.K.: Harry Potter and the Philosopher’s Stone. London, 2014. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets. London, 2014. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Goblet of Fire. London, 2016. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Order of the Phoenix. London, 2014. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Half-Blood Prince. London, 2014. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Deathley Hallows. London, 2014. Sekundärliteratur Adney, Karlay (2011). The Influence of Gender on Harry Potter’s Heroic Transfor‐ mation. Abrufbar unter: https: / / www.researchgate.net/ publication/ 47410968_Th e_Influence_of_Gender_and_Harry_Potter%27s_Heroic_Transformation (Stand: 29/ 08/ 2023). Babenhauserheide, Melanie (2018). Harry Potter und die Widersprüche der Kulturin‐ dustrie: eine ideologiekritische Analyse. Bielefeld: Transcript. Babenhauserheide, Melanie/ Krämer, Kalle (2020). Was lehrt uns die Frankfurter Schule in Hogwarts. Harry Potter, Adorno und die Erkenntnisse einer ideolo‐ giekritischen Perspektive. In: Roeder, Caroline (Hrsg.) Parole(n) - Politische Dimensionen von Kinder- und Jugendmedien. Berlin: Metzler, 227-240. Barthes, Roland (1988). Die Machenschaften des Sinns. In: Ders. Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 165-167. Berner, Natalie (2022). Die Konstruktion der Mutter in Politik, Wirtschaft, Medien und Alltag. Eine kommunikationswissenschaftliche Diskursanalyse am Beispiel Mutterschaft. Köln: Herbert von Halem Verlag. Biskop, Robert Benjamin (2020). Dramaturgie, Medien, Bildung und Gesellschaft in Harry Potter: Leitfaden zur Analyse, Verständnis und Aneignung literarischer In trigenmotive. Wiesbaden: Springer VS. 1.3 Literarische Diskursanalyse des Mütterlichen bei Harry Potter 93 <?page no="94"?> Bormann, Inka/ Truschkat, Inga (2020). Einführung in die erziehungswissenschaftliche Diskursforschung. Weinheim: Beltz Juventa. Buch Genesis, Mose 1, 1-2,4 (o. J.): Abrufbar unter: https: / / www.die-bibel.de/ bibelt ext/ 1.Mose1,1-2,4a (Stand: 29/ 06/ 2023). Butler, Judith (1990). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lauer, Gerhard (2013). Joanne K. Rowling und Harry Potter. In: Bräuer, Chris‐ toph/ Wangerin, Wolfgang (Hrsg.) Unter dem roten Wunderschirm. Lesarten klas‐ sischer Kinder- und Jugendliteratur. Göttingen: Wallstein, 362-380. Lemke, Thomas (2000): Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität. In: Bröckling, Ulrich/ Krasmann, Susanne/ Lemke, Thomas (Hrsg.) Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozia‐ len. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 227-264. Decker, Jan-Oliver (2012). ‚Harry Potter‘ im Medienverbund: Zur Konzeption von Person, Familie & Erzählen in Literatur und Film. In: Schilcher, Anita/ Pecher, Claudia Maria (Hrsg.) ‚Klassiker‘ der internationalen Jugendliteratur. Bd. 1: Kultu relle und epochenspezifische Diskurse aus Sicht der Fachdisziplinen. Baltmanns‐ weiler: Schneider Hohengehren, 137-159. Dotzler, Bernhard (2008). Limitationsverhältnisse. Foucaults Ontologie der Litera‐ tur. In: Geisenhanslüke, Achim/ Mein, Georg (Hrsg.) Schriftkultur und Schwellen‐ kunde. Bielefeld: Transcript, 145-162. Fohrmann, Jürgen/ Müller, Harro (Hrsg.) (1988). Diskurstheorien und Literaturwissen‐ schaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1969). Michel Foucault erklärt sein jüngstes Buch. In: Schriften in vier Bänden Dits et Ecrits I, Nr.-66, 980-991. Foucault, Michel (1973 [EA: 1961]). Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1977 [EA: 1971]). Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am College de France - 2. Dezember 1970. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1981 [EA 1969]). Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhr‐ kamp. Foucault, Michel (1983). Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1985). Freiheit und Selbstsorge. Gespräch mit Michel Foucault am 20.Januar 1984. In: Becker, Helmut et.al (Hrsg.) Michel Foucault. Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 9-28. Foucault, Michel (1987). Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Hubert L./ Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 241-261. 94 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="95"?> Foucault, Michel (1989 [1984]). Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit. Bd 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1999). Vorlesung vom 21.1.1976. In: Ders.: Verteidigung der Gesell‐ schaft. Vorlesungen am College de France. 1975-76. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 52-75. Foucault, Michel (2001). Wer sind Sie, Professor Foucault? In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd.-1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 770-793. Foucault, Michel (2004). Geschichte der Gouvernementalität 2, Die Geburt der Biopo‐ litik, Vorlesungen am Collège de France 1978-1979. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Geisenhanslüke, Achim (1997). Foucault und die Literatur. Eine diskurskritische Untersuchung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Geisenhanslüke, Achim (2005). Das Ideal der letzten Enttäuschung: Dekonstruktivistische Literaturwissenschaft. Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2004/ 2005. Bielefeld: Aisthesis, 77-89. Geisenhanslüke, Achim (2016). Von anderen Räumen. Michel Foucaults Schwellen‐ kunde. In: Ernst, Thomas/ Mein, Georg (Hrsg.) Literatur als Interdiskurs. Leiden: Brill. doi: https: / / doi.org/ 10.30965/ 9783846761557_005 (Stand: 14/ 02/ 2023). Hallet, Wolfgang (2010). Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und wide Reading. In: Nünning, Ansgar/ Nünning, Vera: Methoden der kultur- und literaturwissenschaftlichen Analyse. Stuttgart: Metzler, 293-315. Jäger, Sigfried (2012). Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. Münster: Unrast. Keller, Reiner (2008). Michel Foucault. Klassiker der Wissenssoziologie. München/ Tü‐ bingen: UVK. Köppe, Tilmann/ Winko, Simone (2013). Neuere Literaturtheorien. Stuttgart: Metzler. Krüger-Kirn, Helga/ Tichy, Leila Zoë (unter Mitarbeit von Anna Elsässer) (2020). Elternschaft und Gender Trouble. Inszenierungen moderner und tradierter Mutterbilder. In: Henninger, Annette/ Birsl, Ursula (Hrsg.) Antifeminismen. ‚Kri‐ sen‘-Diskurse mit gesellschaftsspaltendem Potential? Bielefeld: Transcript, 193- 230. Landwehr, Achim (2018). Historische Diskursanalyse. Frankfurt a. M.: Campus. Link, Jürgen (2008). Sprache, Diskurs, Interdiskurs und Literatur. In: Kämper, Heidrun/ Eichinger, Ludwig M. (Hrsg.) Sprache - Kognition - Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung (=-Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2007). Berlin, New York: de Gruyter, 115-134. Maset, Michael (2002). Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung. Frankfurt a. M.: Campus Verlag. 1.3 Literarische Diskursanalyse des Mütterlichen bei Harry Potter 95 <?page no="96"?> Motivbegriff Neumeyer, Harald (2010). Methoden diskursanalytischer Ansätze. In: Nünning, Ans‐ gar/ Nünning, Vera (Hrsg.) Methoden der kultur- und literaturwissenschaftlichen Analyse. Stuttgart: Metzler, 177-200. Parr, Rolf (2008). Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierung von Grenzzonen, Normalitätsaspekten, Schwellen, Übergängen und Zwischen‐ räumen in Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Geisenhanslüke, Achim/ Mein, Georg (Hrsg.) Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld: transcript, 11-63. Pieper, Marianne/ Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (Hrsg.) (2003). Gouvernementa‐ lität. Ein sozialwissenschaftliches Konzept im Anschluss an Foucault. Frankfurt a. M.: Campus. Pieper, Marianne u. a. (Hrsg.) (2001). Biopolitik - in der Debatte. Wiesbaden: VS. Ruoff, Michael (2018). Foucault-Lexikon. Entwicklung-Kernbegriffe - Zusammen‐ hänge. Leiden: Brill Fink. Sarasin, Philipp (2003). Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Spoerhase, Carlos (2007). Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik. Berlin: de Gruyter. Wolter, Martina (2017). Die literarische Repräsentation des Bösen in den Harry Potter Romanen von J.K. Rowling. Dissertation, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Univer‐ sität Bonn. Abrufbar unter: https: / / nbn-resolving.org/ urn: nbn: de: hbz: 5-47059. (Stand: 30/ 08/ 2023). 1.4 Transmediale Motivanalyse und das Spiegelmotiv in der Wizarding World: Harry Potter hinter den Spiegeln? Stefanie Jakobi 1.4.1 Von Motiven und ihren Schwierigkeiten - ein motivgeschichtlicher Rundgang Ob der Traum (Schäfer 2023), das Ausreißen (Bernhardt 2021), die Hexe (Planka/ Mikota 2013) - literarische Motive sind in der Kinder- und Jugend‐ medienforschung allgegenwärtig. Bestimmen lassen sie sich mit Christine Lubkoll als „im weitesten Sinne […] kleinste strukturbildende und bedeu‐ tungsvolle Einheit innerhalb eines Textganzen.“ (Lubkoll 2009: 750). Sie erweitert diese Beschreibung, indem sie das Motiv zudem als „eine durch die kulturelle Tradition ausgeprägte und fest umrissene thematische 96 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="97"?> Bedeutung von Motiven Konstellation“ (ebd.) klassifiziert. Als zentrale Bausteine literarischer Medi‐ entexte erfüllen Motive nach Horst S. und Ingrid Daemmrich verschiedene Aufgaben: Sie „koordinieren Handlungsverläufe, verknüpfen diskursive Beziehungen, in denen sich das Geschehen zuspitzt, und integrieren das Textfeld“. (Daemmrich/ Daemmrich 1995: XII) Geknüpft sind Motive nach Daemmrich und Daemmrich an „Grunderleb‐ nisse“ (ebd.: XV), „prägnante Situation[en]“ oder „Erfahrungsgehalte“ (ebd.) und in dieser anthropologischen Ausrichtung liegt auch ihre Relevanz für Medientexte im Allgemeinen und Kinder- und Jugendmedientexte im Besonderen begründet. Diese weist Heidi Lexe in Pippi, Pan und Potter. Zur Motivkonstellation in den Klassikern der Kinderliteratur nach. Sie geht von der These aus, dass „eine gemeinsame Motivkonstellation die Klassiker der Kinderliteratur verbindet“. (Lexe 2003: 35) Auch über die kinder- und jugendmediale Forschung hinaus besitzt die literaturwissenschaftliche Mo‐ tivforschung eine lange Tradition (siehe: Mölk 1991 und Frenzel 2002) als Teilbereich der Thematologie. Merkkasten: Thematologie Die ‚Thematologie‘ als Forschungszweig der Komparatistik ist aus der (älteren) Stoff- und Motivgeschichte entstanden und bezeichnet einerseits „die systematische und problemorientierte Untersuchung literarischer Motive, Stoffe und Themen im diachronen und interkul‐ turellen Vergleich, wobei neben den Zeugnissen der Weltliteratur auch Bearbeitungen in anderen Künsten (Bildende Kunst, Musik, Film, Tanz) in die Analyse einbezogen werden.“ (Lubkoll 2022: 34) An‐ dererseits lässt sich ‚Thematologie‘ auch generell als inhaltsbezogene literaturwissenschaftliche Forschung bestimmen (vgl. ebd.), wobei - so Lubkoll - in diesem Kontext „die Gefahr einer zu weiten Öffnung des Gegenstandsbereichs“ bestünde, „denn schließlich hat jeder Text, jede kulturelle Äußerung ein Thema“ (ebd.). Insbesondere für die germanistische Motivforschung lässt sich die Ge‐ schichte der Motivforschung bis auf Johann Wolfgang von Goethe nachwei‐ sen, der in Maximen und Reflexionen (1833) den Begriff erstmalig dezidiert literaturwissenschaftlich geprägt hat: „Was man Motive nennt, sind also eigentlich Phänomene des Menschengeistes, die sich wiederholt haben und 1.4 Transmediale Motivanalyse und das Spiegelmotiv in der Wizarding World 97 <?page no="98"?> Urmotive wiederholen werden, und die der Dichter nur als historische nachweist.“ (H.A. 12a: 495) Als weitere zentrale Entwicklungshelfer sind die Brüder Grimm zu nennen, die einen alle indogermanischen Völker einenden Ur-Mythos an‐ hand der Ähnlichkeit von Motiven in einem komparatistischen Vergleich von Märchen herzuleiten suchten. Die Idee von kulturübergreifenden und -überschreitenden Urmotiven (vgl. Lubkoll 2013: 542) lässt sich nunmehr Jahrhunderte später im Kontext der Digital Humanities belegen. So zeichnen Sara Graça da Silva und Jamshid J. Terrain in ihrer vergleichenden Analyse bspw. Züge und Motive des Märchens Der Schmied und der Teufel bis in die Bronzezeit nach und dies über nationale Grenzen hinweg (siehe: da Silva/ Terrain 2016). Deutlich wird anhand der Motivforschung Grimm’scher Prägung, dass diese einerseits einen folkloristischen Einschlag besitzt und andererseits auch einen nationalphilologischen Bezug, der durchaus nationale bzw. nationalistische Züge tragen kann, wie die Aufforderung an die gesammelten Freunde deutscher Poesie und Geschichte erlassen zeigt: Auf hohen Bergen, in geschlossenen Thälern lebt noch am reinsten ein unveral‐ teter Sinn, in den engen Dörfern, dahin wenig Wege führen und keine Straßen, wo keine falsche Aufklärung eingegangen oder ihr Werk ausgerichtet hat, da ruht noch an vaterländischer Gewohnheit, Sage und Gläubigkeit ein Schatz im Verborgenen. (Grimm 1811) Merkkasten: Von problematischen Motiven oder problemati‐ schen Motivforscher: innen Ein Name prägt die komparatistische Stoff- und Motivforschung: Eli‐ sabeth Frenzel (1915-2014) (vgl. Goßens 2001: 128). Ihre Handbücher Stoffe der Weltliteratur (1962) und Motive der Weltliteratur (1976) sind in zahlreichen Auflagen erschienen und stellen bis dato die gängigsten thematologischen Nachschlagewerke dar. Daemmrichs und Daemm‐ richs Themen und Motive (1978), „hat sich, obwohl es moderne theo‐ retische Ansätze mit praktischer Anwendbarkeit verbindet, bislang nicht in gleichem Maße durchgesetzt.“ (Ebd.: 131) Zu problematisieren ist diese Ausnahmeposition Frenzels aufgrund ihrer Forschungsbio‐ grafie, die an die „motivgeschichtlichen Debatten der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts“ (ebd.: 132) anknüpft und die Beschäftigung mit Motiven dezidiert in das Spannungsverhältnis von literaturwis‐ 98 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="99"?> Terminolo‐ gische Ab‐ wägungen senschaftlicher Beschäftigung und „nationalsozialistische[r], völki‐ sche[r] Position“ (ebd.) setzt. Dieses Spannungsverhältnis wird auch in Frenzels 1940 erschienener Dissertation sichtbar, die einen Überblick „über jüdische Theaterfiguren in der deutschsprachigen Literatur vom 13. Jahrhundert bis in ihre unmittelbare Gegenwart“ gibt und diesen für „antisemitische[] Hetze“ (ebd.: 133) instrumentalisiert. Das Motiv wird so zum Träger nationalsozialistischer sowie antisemitischer Inhalte und biologistisch aufgeladen. Diese theoretische Einbindung wird in den nachfolgenden thematologischen Arbeiten Frenzels nicht explizit revidiert oder aufgearbeitet (vgl. ebd.: 134), selbst wenn die Le‐ xika nicht „als Relikte nationalsozialistischer Propaganda“ (ebd.: 135) zu lesen sind, ist ihre Alleinstellung vor diesem Hintergrund dennoch zu hinterfragen und ihr Gebrauch zu reflektieren. Diese potenziell problematische Ausrichtung zieht sich durch die For‐ schungsgeschichte. Neben dieser politischen Dimension von Motiven sowie ihrer Nutzbar‐ machung im Kontext von kulturellen oder gegenderten (→ Band 3: II.2.4) Zuschreibungen (siehe bspw.: Motive wie ‚der edle Wilde‘, ‚die Femme Fatale‘), ist die Geschichte der Motivforschung zudem auch - wie andere geisteswissenschaftliche Disziplinen - durch terminologische Schwierigkei‐ ten geprägt, die sich aus den zahlreichen Neu- und Umbestimmungen des Begriffes ‚Motiv‘ ergeben und dies sowohl im germanistischen als auch komparatistischen Kontext, wie Hugo Dyserinck deklariert (vgl. Dyserinck 1991: 108). Mitunter erscheinen auch die Anrufungen eben dieser Schwierigkeiten so „ausgesprochen problematisch und vielschichtig“ (Geider 2003: 95) wie die Begriffsbestimmung selbst (siehe: Bisanz 1975, Mölk etc.), von Mölk als „Das Dilemma der literarischen Motivforschung“ benannt: Das Dilemma, das gemeint ist, liegt darin, daß man entweder Motivforschung betreibt, ohne sich wirklich darum zu sorgen, was denn genau ein literarisches Motiv sei, oder daß man eine Definition des Begriffs ‚literarisches Motiv‘ versucht, in der Hoffnung zwar, daß sie nützen könnte, aber mit der sich rasch einstellenden Erfahrung, daß sie weder einem selbst noch gar anderen bei der Arbeit an den Texten unentbehrliche Dienste leistet. (Mölk 1991: 91) 1.4 Transmediale Motivanalyse und das Spiegelmotiv in der Wizarding World 99 <?page no="100"?> Tatsächlich lassen sich für eine motivforschende Arbeit ohne konkreten und präzisen Motivbegriff in der Forschungstradition prominente Beispiele fin‐ den. Verwiesen sei bspw. auf Stith Thompsons Motif-Index of Folk-literature, welcher auf nur wenig theoretischer Begriffsarbeit beruht, wie auch das zugrunde liegende Motivverständnis zeigt: Certain items in narrative keep on being used by storytellers; they are the stuff of which tales are made. It makes no difference exactly what they are like; if they are actually useful in the construction of tales, they are considered to be motifs. As a matter of fact, there must usually be something of particular interest to make an item important enough to be remembered, something not quite commonplace. (Thompson 1955: 7) Auch wenn die forschungsgeschichtliche Relevanz des Motif-Index of Folk-li‐ terature nicht in Zweifel gezogen werden soll, scheint die Reduzierung des Motivs auf etwas, was erinnerungswürdig ist (vgl. ebd.), wenig trennscharf, wie auch Thompsons Auflistung von potenziellen Motiven zeigt: We can generally say that motifs have to do with things - with gods and demigods, with heavenly bodies, insofar as their description is not purely astronomical; the origin of animals and their habits, when these differ from the teachings of zoological departments; queer and unusual animals, again not found in the zoological handbook; forbidden things of all kinds, normally not mentioned in the codes of law; magic objects; various manifestations of the dead or of marvelous creatures, ogres and the like; monstrous people; unusual pieces of luck; unusual social practices; and the like. Or it may be that a simple action of some kind is told because it has a humorous point, or because it is marvelous to listen to. (Ebd.) Die Entscheidung, was ein Motiv ist, obliegt bei Thompson den Rezipieren‐ den (vgl. ebd.). Dieser an ein betrachtendes Subjekt geknüpften Bestimmung des Motivs stimmt auch Mölk zu und betont: „Was ein Motiv ist, entscheidet der Betrachter (Interpret).“ (Mölk 1991: 94) Würzbach und Salz verweisen ebenfalls auf die subjektive Dimension der Motivbestimmung in ihrer methodischen Auseinandersetzung mit ihrem Index (vgl. Würzbach/ Salz 1995: 3). Um diesen Betrachtenden-Bezug intrasubjektiv aufzulösen, schlagen Ja‐ kobi und Kurwinkel folgende Fragen vor: 100 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="101"?> Methodolo‐ gische Vor‐ gehens‐ weise Das Modell der trans‐ medialen Motivana‐ lyse 1. „Konstituiert das narrative Element die Erzählung? (Intramediale Nar‐ rativitätsrelevanz) 2. Hat das narrative Element diese Bedeutung auch in anderen medialen Inszenierungen? (Intermediale Narrativitätsrelevanz) 3. Schreibt das narrative Element diskursive Zuschreibungen in die mediale Inszenierung ein? (Diskursive Narrativätsrelevanz)“ (Kurwin‐ kel/ Jakobi 2023: 3) Neben den benannten terminologischen Schwierigkeiten, durch welche die Motivforschung gekennzeichnet ist, lassen sich final auch auf methodolo‐ gischer Ebene Problematiken vermelden. So problematisiert Lubkoll den „positivistische[n] Reduktionismus (die Konzentration auf den minderwer‐ tigen Stoff als außerliterarischer Vorgabe) und die Vernachlässigung der äs‐ thetischen Form des Kunstwerks“ (Lubkoll 2022: 36) als verbreitete Kritik‐ punkte der Motivforschung. Für die Kinder- und Jugendliteraturforschung formuliert Emer O’Sullivan analog, dass häufig nur Listen von Motiven eta‐ bliert werden, wobei diese „weder im Hinblick auf ihre ästhetische Funktion noch auf Gestaltungsmomente, Darstellungsweisen, intertextuelle Bezüge usw. untersucht werden“ (O’Sullivan 2000: 70). Als Instrumentarium für eine strukturierte Motivanalyse, welche die von Lubkoll und O’Sullivan attes‐ tierten Schwierigkeiten adressiert, schlagen Jakobi und Kurwinkel das Mo‐ dell der transmedialen Motivanalyse vor. Die Attribuierung ‚transmedial‘ verweist darauf, dass Motive zu den „Phänomene[n] [gehören, SJ], […] die nicht an ein bestimmtes Ursprungs‐ medium gebunden sind und von verschiedenen Medien mit den jeweils eigenen Mitteln umgesetzt werden können“ (Poppe 2013: 38). Anknüpfend an die vorgestellten strukturellen, ästhetischen und dis‐ kursiven Funktionen literarischer Motive werden für die Analyse fünf verschiedene Ebenen und Dimensionen ausgemacht: 1. Narrative Ebenen - histoire und discours, 2. Materielle Dimension, 3. Mediale Dimension, 4. Paratextuelle Dimension und 5. Diskursive Dimension. 1.4 Transmediale Motivanalyse und das Spiegelmotiv in der Wizarding World 101 <?page no="102"?> Narrative Ebenen Materielle Dimension Abb. 1: Das Modell der transmedialen Motivanalyse 1. Im Zentrum des Modells stehen die narrativen Ebenen, um ihrer Rele‐ vanz für das Motiv Rechnung zu tragen: Im Zusammenspiel von histoire und discours werden Motive einerseits wiedererkennbar, indem ihr se‐ mantischer Kern auf der Ebene der histoire sichtbar wird, und anderer‐ seits unterschiedlich ausgestaltbar, indem das Zeicheninventar auf der Ebene des discours variiert (→-Band 1: II.3.1). 2. Die Sensibilisierung für die materielle Beschaffenheit, die durch die Ein‐ beziehung der materiellen Dimension in das Modell hervorgehoben wird, greift den material turn in den Kultur- und Geisteswissenschaften auf. Dabei werden die daraus resultierenden Überlegungen zur Rolle materieller Aspekte in der ästhetischen Gestaltung literarischer Texte auf das Motiv übertragen. Merkkasten: ‚material turn‘ Als ‚material turn‘ wird die gesteigerte Aufmerksamkeit der Geistes- und Kulturwissenschaften seit dem Jahrtausendwechsel „an Mate‐ rialität und materiellen Kulturen“ bezeichnet (Müller-Wille 2019: 12). Eng verbunden ist dieser mit dem Aufkommen digitaler Medien (vgl. ebd.) und ihrer Markierung als scheinbar immateriell sowie zunehmenden intermedialen Forschungsperspektiven (vgl. Müller 102 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="103"?> Mediale Dimension Paratextu‐ elle Dimen‐ sion Diskursive Dimension 2008: 36). Müller postuliert diesbezüglich, dass „die Frage nach der Materialität die Grundvoraussetzung für jeden Ansatz [darstellt], der auf die Interaktionen zwischen verschiedenen Medien bzw. medialen ‚Materialitäten‘ zielt“ (ebd.). Mit Röcken fungiert der Begriff ‚Materialität‘ „wie ein Scheinwerfer; er lässt Sachverhalte in einem anderen Licht erscheinen, verändert deren Wahrnehmung und Bewertung. Wer in diesem Sinne von ‚Materialität‘ spricht, nimmt freilich nicht nur etwas anders wahr, sondern zuweilen auch etwas anderes.“ (Röcken 2008: 30) Die skizzierte Verbindung von Medium und Materialität wird innerhalb des Modells über die enge Platzierung von materieller und medialer Dimension ausgestellt. 3. Die mediale Dimension konzentriert sich auf das Zeicheninventar, das auf der Ebene des discours genutzt wird. Im Modell wird die Beziehung zwischen medialer Dimension und discours ausdrücklich hervorgeho‐ ben, um dieses Zusammenspiel sichtbar zu machen. Während bei einer intramedialen Analyse discours und mediale Dimension verschmelzen, rückt ein intermedialer Vergleich gezielt die Unterschiede der Medien in den Vordergrund, die die Gestaltung und Inszenierung von Motiven beeinflussen. 4. Die paratextuelle Dimension versteht sich anknüpfend an den Begriff des Paratextes nach Genette als „jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öf‐ fentlichkeit tritt“ (Genette 2014: 9) und überträgt dieses Verständnis ei‐ nerseits auf das Motiv und andererseits auf andere Medien. Damit wird die rahmende und präsentierende Funktion der paratextuellen Elemente (vgl. ebd.) nicht nur auf den konkreten Medientext bezogen, sondern auch auf die Motive in diesen. 5. Obwohl Genette den Paratext im Rahmen der Transtextualität auf derselben Ebene wie Intertextualität ansiedelt (vgl. Genette 1993: 19) wird diese Verbindung im motivanalytischen Modell durchbrochen. Stattdessen werden diese Beziehungssysteme der diskursiven Dimen‐ sion zugeordnet. Dabei wird auf Michel Foucaults Diskursbegriff Be‐ zug genommen, der Diskurse als „Beziehungen zwischen Aussagen“ definiert (Foucault 2013: 48) (→ Band 3: II.1.3). Dieser Begriff wird genutzt, um die Relevanz intertextueller, intermedialer und metatex‐ 1.4 Transmediale Motivanalyse und das Spiegelmotiv in der Wizarding World 103 <?page no="104"?> Zur Aktuali‐ tät der Motivforschung tueller Bezüge für die Analyse von Motiven zu erfassen und darzu‐ stellen. Dieser Einbezug der diskursiven Dimension knüpft an aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Bewegungen an, welche die womöglich eher ‚alt‐ backen‘ konnotierte Motivforschung für eine zeitgenössische Betrachtung qualifizieren. So weist Lubkoll der Motivforschung eine kulturgeschichtli‐ che Ausprägung zu (vgl. Lubkoll 2022: 41) und Reidenbach gliedert die Mo‐ tivforschung in aktuelle ideenhistorische Tendenzen in der Literaturwis‐ senschaft ein: literarisch vermittelte Ideen oder Motive [sind, SJ] als Elemente innerhalb eines zweigliedrigen Bedingungs- und Motivationsgefüges aus Frage und Antwort zu rekonstruieren, mit anderen Worten Literaturgeschichte [ist, SJ] als Problemge‐ schichte und somit als Teil einer übergreifenden Konzeption von Ideengeschichte oder auch ‚intellectual history‘ aufzufassen. (Reidenbach 2024: 172-173) Mit diesen methodischen Neuausrichtungen qualifiziert sich die Motivana‐ lyse damit auch - und gerade in ihrer transmedialen Ausrichtung - als ein zeitgenössisches methodisches Instrumentarium, wie folgend an der Harry Potter-Storyworld und der Inszenierung des Motivs des Spiegels in diesem gezeigt werden soll. 1.4.2 „Der glücklichste Mensch auf der Erde könnte den Spiegel Nerhegeb wie einen ganz normalen Spiegel verwenden“ - Das Spiegelmotiv zwischen Selbsterkenntnis, Trauer und Wahnsinn in der Wizarding World „Art is a mirror“ (Manukyan 2009: 268) zitiert Manukyan in ihrer Ausein‐ andersetzung mit dem Spiegelmotiv das geläufige Bonmot und referiert damit auf die - durchaus selbstbezügliche - Prävalenz von Spiegeln, Spie‐ gelungen und dem Spiegelmotiv in der literarischen Tradition (vgl. ebd.). Diese Prävalenz wird auch im literaturwissenschaftlichen Forschungsdis‐ kurs wiederholt hervorgehoben. So betonen Daemmrich und Daemmrich, dass das Motiv des Spiegels „seine Funktion und seinen Sinngehalt über viele Jahrhunderte bewahrt“ habe (Daemmrich/ Daemmrich 1995: 325). Ähnlich argumentiert Millner, die den Ursprung des Motivs bis „an die Anfänge der überlieferten Kultur der Menschheit“ (Millner 2004: 60) zurückverfolgt, 104 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="105"?> wobei sie insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Ich als relevanten Diskursstrang ausweist (vgl. ebd.). Es ist somit nicht nur die Kunst, die Literatur, die sich in Medientexten wiederholt spiegelt, sondern auch das Subjekt. Wie wird dieses objektionale Motiv (zur Typologie von Motiven siehe Kurwinkel/ Jakobi 2023) nun in der Storyworld umgesetzt und an welche diskursiven Muster knüpfen die Inszenierungen des Motivs in diesem Kontext an? Dass das Spiegelmotiv innerhalb der Storywold eine zentrale Position einnimmt, wird bereits im ersten Band Harry Potter und der Stein der Weisen sichtbar, wird Harrys Begegnung mit dem Spiegel Nerhegeb doch ein ganzes Kapitel gewidmet, dessen Titel dem Namen des Spiegels entspricht und die Bedeutung dessen einmal mehr - paratextuell - auszeichnet (vgl. PS: 351). Auch handlungsstrukturell lässt sich das narrative Gewicht des Spiegelmotivs für Harry Potter und der Stein der Weisen - und zwar sowohl in Roman als auch Verfilmung - nachweisen, ist die Auflösung des narrativen Höhepunkts als der Konfrontation von Harry Potter mit dem Lord Voldem‐ ort einen Körper gebenden Professor Quirrell doch ebenfalls an den Spiegel Nergeheb geknüpft (vgl. ebd.: 525). Zunächst jedoch zur ersten Begenung mit dem Spiegel, spannt diese doch zentrale diskursive Fäden der motivischen Inszenierung auf. Gebunden ist sie an die Wahrnehmungsperspektive Harry Potters: Es war, auf zwei Klauenfüßen stehend, ein gewaltiger Spiegel, der bis zur Decke reichte und mit einem reich verzierten Goldrahmen versehen war. Oben auf dem Rahmen war eine Inschrift eingeprägt: NERHEGEB Z REH NIE DREBAZ TILT NANIEDTH CIN. (PS: 376) Es ist jedoch nicht allein die heterodiegetische Erzählinstanz, die auf narra‐ tiver Ebene die Materialität des Motives Spiegel durch die Beschreibungen, welche die Macht des Spiegels über seine physische Gestalt deutlich machen, hervorhebt, sondern auch die typografische Gestaltung der Inschrift über die Großschreibung im Rahmen der materiellen Dimension. Durch die gespiegelte Inschrift wird den Leser: innen die Wirkmacht des Spiegels bereits über den Lektürevorgang ausgewiesen: erst durch das Spiegeln wird sie lesbar. Nach Millner wohnt dem Spiegelmotiv stets ein Medienwechsel inne: „Das optische Medium wird durch jenes der Sprache ersetzt. Gleichzeitig Wahrgenommenes muss vom Erzähler ebenso in die lineare Form des Textes 1.4 Transmediale Motivanalyse und das Spiegelmotiv in der Wizarding World 105 <?page no="106"?> umgewandelt werden.“ (Millner 2004: 181) Im Rahmen der Storyworld wird dieser Medienwechsel verdoppelt - über den Medienwechsel von Buch zu Film quasi gespiegelt: Die filmische Inszenierung übersetzt die lineare Repräsentation des Buches dabei in ein sich langsames Annähern an den Spiegel (vgl. Stone: 1: 31: 55-1: 32: 30). Über die leitmotivische Variation der Titelmusik sowie einen blauen Filter wird im filmischen Medium die fantastische und geheimnisvolle Natur des Spiegels medienspezifisch unterstrichen. Während die Buchfassung dem Spiegel und seiner Wirkung auf Harry ein ganzes Kapitel widmet, wird dies in der filmischen Version auf we‐ nige Minuten zusammengerafft (→ Band 3: II.1.2). Diese zeitliche Raffung findet jedoch nicht allein auf discours-Ebene statt, sondern auch auf his‐ toire-Ebene: So streckt das Buch die Handlung um den Spiegel auf drei Nächte, wobei diese dreifache Struktur - die ‚drei‘ als wichtige Zahl aus der Märchentradition - ihre Relevanz einmal mehr betont. Der Film hingegen zeigt zwar auch drei Szenen, die sich um den Spiegel drehen, diese werden jedoch zeitlich eng miteinander verzahnt: Harry begegnet dem Spiegel, rennt, um Ron zu holen, sitzt schließlich allein vor dem Spiegel und wird von Albus Dumbledore überrascht. Anstelle einer Abwertung der Relevanz des Spiegelmotivs durch diese zeitliche Verknappung im filmischen Medientext ließe sich hier vielmehr für eine medienspezifische Auszeichnung dessen argumentieren: die Handlung wird zeitlich und dadurch auch narrativ als Einheit präsentiert. Zu betonen ist weiterhin eine zentrale Veränderung im Medienwechsel, die sich aus der Darstellung des Gespiegelten ergibt. Im Prätext sieht Harry Potter seine gesamte Familie: Sie sahen ihn nur an und lächelten. Und langsam sah Harry in die Gesichter der anderen Menschen im Spiegel und sah noch mehr grüne Augenpaare wie das seine, andere Nasen wie die seine, selbst einen kleinen alten Mann, der aussah, als ob er Harrys knubblige Knie hätte - Harry sah zum ersten Mal im Leben seine Familie. (PS: 378) Der Film setzt dieser Wiedervereinigung einer Großfamilie hingegen die Kernfamilie gegenüber: Es sind einzig Lily und James Potter, die Harry aus dem Spiegel entgegenblicken (vgl. Stone: 1: 33: 29). Im Kontext der Storyworld, die wiederholt gerade die Kernfamilie als zentrale Einheit im Kontext kindlicher Sozialisation oder Überleben (→ Band 3: II.1.3) etabliert, scheint die filmische Verknappung hier folgerichtig. 106 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="107"?> Neben diesen Veränderungen, die Film und Buch voneinander abgrenzen, knüpft eine mediale Inszenierungsentscheidung die beiden enger und offen‐ bart zudem die Funktionsweise des Spiegels, der jeweils nur ein Spiegelbild zulässt. In der literarischen Vorlage, die stark an Harrys Perspektive gebun‐ den ist, erfahren die Leser: innen nur durch den Dialog, was Ron Weasley im Spiegel sieht: „Nein, ich bin allein, aber ich sehe anders aus, älter, und ich bin Schulsprecher.“ „Was? “ „Ich bin … ich trage ein Abzeichen wie früher Bill, und ich halte den Hauspokal und den Quidditch-Pokal in den Händen, und ich bin auch noch Mannschaftska‐ pitän! “ (PS: 381) Der Film könnte diese Inszenierung umgehen und es den Zuschauer: in‐ nen erlauben, auch einen Blick auf Ron Weasleys Spiegelbild zu werfen. Stattdessen beobachten die Zuschauer: innen (gemeinsam mit Harry) Rons Reaktionen über ein Close-Up auf dessen Gesicht und der Film übernimmt an dieser Stelle die Perspektivierung der Romane (vgl. Stone: 1: 34: 25-1: 34: 40). Die Spiegelungen von Harry Potter und Ron Weasley offenbaren, dass der Spiegel Nergeheb als magischer Spiegel diskursiv an motivgeschichtli‐ chen Traditionslinien anknüpft, wie sie Daemmrich und Daemmrich aus‐ weisen: „Der magische Spiegel kristallisiert Wunschträume, Phantasien und Erscheinungen einer geliebten Person […].“ (Daemmrich/ Daemmrich 1995: 326)- Dezidiert ausgeführt wird diese Funktionalisierung von Albus Dumble‐ dore, wobei über diesen noch eine weitere diskursive Ausrichtung des Motivs ausgezeichnet wird: „Er zeigt uns nicht mehr und nicht weniger als unseren tiefsten, verzweifeltsten Herzenswunsch. […] Allerdings gibt uns dieser Spiegel weder Wissen noch Wahr‐ heit. Es gab Menschen, die vor dem Spiegel dahingeschmolzen sind, verzückt von dem, was sie sahen, und andere sind wahnsinnig geworden, weil sie nicht wussten, ob ihnen der Spiegel etwas Wirkliches oder auch nur etwas Mögliches zeigte.“ (PS: 386) Ausgedeutet wird hiermit die Beziehung von Spiegel und Wahnsinn, eine motivische Konstellation, die Peez insbesondere seit der Romantik als zentral für die Gestaltung des Spiegelmotivs benennt (vgl. Peez 1990: 6). Die Gefahr, die hier mit dem Spiegel verbunden wird, wird im Kontext der Storyworld nicht nur intramedial ausgestellt, sondern auch auf der paratex‐ 1.4 Transmediale Motivanalyse und das Spiegelmotiv in der Wizarding World 107 <?page no="108"?> tuellen Dimension. So expliziert Rowling auf Pottermore - und unterstreicht damit en passant ihr autoritäres Autor: innenverständnis (→ Band 3: II.2.4): Albus Dumbledore’s words of caution to Harry when discussing the Mirror of Erised express my own views. The advice to ‚hold on to your dreams‘ is all well and good, but there comes a point when holding on to your dreams becomes unhelpful and even unhealthy. […] The mirror is bewitching and tantalising, but it does not necessarily bring happiness. (Rowling 2015) Paratextuell offenbart sich der Spiegel zudem als eine Leerstelle, die zu füllen versucht wird. Im Interview wird Rowling bspw. gefragt, was die unterschiedlichen Figuren zu unterschiedlichen Zeiten sehen würden - der Spiegel wird somit zum Symbol figuraler Entwicklung (vgl. Rowling in Anelli/ Spartz 2005). Die Antworten, die Rowling schuldig bleibt oder nach denen sie gar nicht gefragt wird, werden wiederholt von Fans geliefert, wobei in diesen Erweiterungen das Spiegelmotiv häufig mit Trauer und Verlust konnotiert wird - die Spiegelung wird zur momentanen Möglich‐ keitswerdung des Unmöglichen - „Harry’s deepest yearning is for some‐ thing impossible: the return of his parents.“ (Rowling 2015) - und potenziell trostspendend. Es ist jedoch nicht ausschließlich Harry, der in den Fanfictions seinen gespiegelten (toten) Angehörigen begegnet, sondern George Weasley, der im Rahmen von One-Shots oder Memes jeweils glaubt, sich selbst im Spiegel zu sehen, aber tatsächlich seinem toten Bruder gegenübersteht. Dieses Spiel mit den Reflexionen verweist dabei auf weitere motivische Konstellationen, in die das Spiegelmotiv häufig eingebunden ist: das Zwillings- oder auch Doppelgänger: innenmotiv. Zwillinge und Doppelgänger: innen fungieren potenziell als lebende Spiegel des Subjekts und können im Falle der Weas‐ ley-Zwillinge dann den Verlust des identischen Gegenübers symbolisieren. Besagte Verbindung von Spiegel und Verlust ist in den Romanen nicht allein auf den Spiegel Nergeheb beschränkt, sondern prägt auch weitere Spiegel - wie bspw. den magischen Taschenspiegel, den Sirius seinem Patensohn schenkt, um ihm den Kontakt mit ihm zu ermöglichen - eine Möglichkeit, die Harry Potter zu spät ergreift, die aber im letzten Band dennoch zu seiner Rettung beiträgt (vgl. DH: 879). In Harry Potter und der Orden des Phönix dient der Spiegel nach Sirius’ Tod zunächst jedoch als momentane Chance, den Patenonkel wiederzufinden: 108 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="109"?> Harry verharrte einen Moment lang vollkommen reglos, dann warf er den Spiegel zurück in den Koffer, wo er zerbrach. Eine ganze strahlend helle Minute lang war er überzeugt gewesen, dass er Sirius sehen, wieder mit ihm sprechen würde … (OoP: 1798) Während der Spiegel zunächst kurzfristig eine trügerische Hoffnung auf eine Wiederkehr Sirius Blacks darstellt, offenbart das (eigene) Auge schließ‐ lich die Wahrheit: Sein Atem beschlug das Glas. Er hielt sich den Spiegel noch näher ans Gesicht und spürte eine Welle der Erregung, doch die Augen, die durch den Nebel zurückblinzelten, waren eindeutig seine eigenen. (Ebd.: 1797) Ebenso wie der Spiegel Nergeheb Harry Potters Eltern nicht zurückbringen kann, vermag es auch der magische Taschenspiegel nicht, Sirius Black oder Albus Dumbledore zurückzubringen, Harry begegnet im Spiegel nur seinen Augen oder den Augen Aberforth Dumbledores als gespiegeltes Echo seines toten Mentors (vgl. DH: 1054). Wiederholt wird somit auf das Auge als ‚Spiegel zur Seele‘ rekurriert. Relevant für die Storywold ist eben diese semantische Linie, wenn die verschiedenen Instanzen betrachtet werden, welche die Augen konkret als Spiegel funktionalisieren und darüber Geheimnisse oder die ‚wahre‘ Natur des jeweiligen Gegenübers offenbaren. Harry Potter und der Gefangene von Askaban deutet so die Verwandlung Remus Lupins in einen Werwolf bereits über das Close-Up auf sein Auge an, in dem sich der aufgehende Vollmond spiegelt. Abb. 2: Das spiegelnde Auge als ‚Spiegel zur Seele‘ in Harry Potter und der Gefangene von Askaban (Prisoner: 1: 39: 29) 1.4 Transmediale Motivanalyse und das Spiegelmotiv in der Wizarding World 109 <?page no="110"?> Über diese Spiegelung als Ankündigung des Selbstverlustes von Remus Lu‐ pin über seine erzwungene Verwandlung in einen Werwolf wird ein weiteres diskursives Muster aufgerufen, welches prägend für die Motivgeschichte des Spiegelmotivs ist: Spiegel „kündigen Krisenerscheinungen an und be‐ leuchten Störungen des Persönlichkeitszentrums.“ (Daemmrich/ Daemmrich 1995: 325) Narrativ ausgestaltet wird dies im Rahmen der Storyworld zunächst anhand der Reaktion Harry Potters auf die Bilder, die er im Spiegel gesehen hat: Harry wünschte sich, er könnte genauso leicht das, was er im Spiegel gesehen hatte, aus seinem Innern räumen, doch das gelang ihm nicht. Allmählich bekam er Alpträume. Immer und immer wieder träumte er davon, wie seine Eltern in einem Blitz grünen Lichts verschwanden, während eine hohe Stimme gackernd lachte. „Siehst du, Dumbledore hatte Recht, dieser Spiegel könnte dich in den Wahnsinn treiben“, sagte Ron, als Harry ihm von diesen Träumen erzählte. (PS: 389) Der Spiegel als Tür zum Unbewussten ist an dieser Stelle mit dem Traum verbunden, der ebenfalls Unbewusstes sichtbar werden lässt (→ Band 3: II.1.1). Nach Drynda ist diese Macht des Spiegels dezidiert mit dem Tod verknüpft - der Spiegel als Tor zur Unterwelt, der Welt der Schattenwesen: Dem Spiegel wird eine besondere Machtposition zugeschrieben - er wirft nicht nur Bilder der äußeren und inneren Welt zurück, sondern ist auch imstande, diese einzufangen. Und da das einmal Festgehaltene unter entsprechenden Bedingun‐ gen zeitverzögert herbeigerufen werden kann, steht man in banger Erwartung vor der Eventualität, der Schattenwelt einen Besuch abstatten zu müssen. (Drynda 2012: 18) Die Begegnung mit Spiegeln kann somit mit Angst konnotiert sein und ist zudem auch Ausdruck dieser Angst, indem der Spiegel die eigenen unbewussten und zu verdrängenden Gedanken sichtbar werden lässt. Der Spiegel wird so zur „Darstellung der Selbstbegegnung“ (Millner 2004: 50). Komisch gebrochen und gleichsam ausgestellt wird diese Auseinander‐ setzung in den Szenen in Harry Potter und der Gefangene von Askaban, in welchen Harry den magischen Spiegel in seinem Zimmer im Gasthaus zum Tropfenden Kessel zur Selbstvergewisserung sucht und stets scheitert. Verunsichert ob seiner Begegnung mit dem - ihm noch unbekannten - Sirius Black in dessen tierischer Gestalt, versucht er sich beim Blick in den Spiegel zu beruhigen: 110 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="111"?> Im Spiegel über dem Waschbecken sah er sich ins Gesicht. „Es kann kein Todes‐ omen gewesen sein“, erklärte er trotzig seinem Spiegelbild. „Ich hab einfach Panik gekriegt, als ich dieses Ding im Magnolienring gesehen habe … wahrscheinlich war es bloß ein streunender Hund …“ Wie von selbst hob er die Hand, um sein Haar zu glätten. „Ein aussichtsloser Kampf, mein Lieber“, sagte der Spiegel mit pfeifender Stimme. (PoA: 98-99)- Es bleibt an dieser Stelle unklar, ob die Antwort des Spiegels sich auf Harry Potters immerwährenden Kampf gegen sein Haar bezieht oder auf seine Bemühungen, seine Angst zu unterdrücken: weniger Selbstbestätigung qua externem Objekt - wie es die Rolle des sprechenden Spiegels in Schneewitt‐ chen ist - als Selbstverunsicherung über dieses. Und auch das schläfrige „‚Das ist die richtige Einstellung, mein Junge‘“ (ebd.: 123) als Antwort auf Harry kämpferische Ansage: „‚Ich lasse mich nicht umbringen‘“ (ebd.) ist eher komisch funktionalisiert. Im weiteren Verlauf der Handlung wird diese eher komische Nutzbarma‐ chung des Spiegels als Auseinandersetzung mit dem Selbst jedoch tatsäch‐ lich krisenhaft aufgeladen. In Harry Potter und der Orden des Phönix kämpft Harry zunehmend mit seiner Verbindung zu Lord Voldemort, wobei diese Verbindung explizit in seinen Träumen - und damit einmal mehr im Raum des Unbewussten - über Spiegel sichtbar gemacht wird: Im Traum erlangt Harry nicht allein Einblick in Voldemorts Gedanken, sondern sieht sich selbst in diesem: Allein in dem dunklen Raum, drehte sich Harry zur Wand. Dort in der Düsternis hing ein gesprungener, altersfleckiger Spiegel. Harry ging darauf zu. Sein Spie‐ gelbild wurde größer und deutlicher in der Dunkelheit … ein Gesicht, weißer als ein Totenschädel-… rote Augen mit schlitzartigen Pupillen-… (OoP: 127) Das Spiegelmotiv wird hier - wie es auch Drynda motivgeschichtlich nach‐ weist (vgl. Drynda 2012: 24) und bereits in Bezug auf die Weasley-Zwillinge angerissen wurde --mit dem Motiv des Doppelgängers verbunden. Zugespitzt wird die gespiegelte Auseinandersetzung mit Harrys Identi‐ tätskrise in einer weiteren Traumszene - dies allerdings vor allem in der filmischen Adaption. Das Buchkapitel Das Auge der Schlange - einmal mehr wird die motivische Konstellation von Traum, Spiegel und Auge aufgerufen - erzählt den Angriff der Schlange Nangini auf Mr Weasley, dem Harry, hervorgerufen durch die mentale Verbindung zu Lord Voldemort, beiwohnt. Die Verschmelzung der beiden Figuren - als Spielart des Doppelgängermo‐ 1.4 Transmediale Motivanalyse und das Spiegelmotiv in der Wizarding World 111 <?page no="112"?> tivs - wird im Roman narrativ über die interne Fokalisierung umgesetzt, die Harry in den Körper der Schlange transportiert: Sein Körper fühlte sich geschmeidig, kraftvoll und biegsam an. Er glitt zwischen glänzenden Metallstäben hindurch, über dunklen, kalten Stein … er lag flach auf dem Boden und glitt auf dem Bauch dahin … es war dunkel, doch er konnte Gegenstände um sich her erkennen, die in fremdartigen, leuchtenden Farben glühten … er drehte den Kopf … auf den ersten Blick war der Korridor leer … aber nein-… (OoP: 968) Die filmische Inszenierung wechselt hingegen beständig zwischen einer externen Okkularisierung (→ Band 1: II.3.2.6.2), die Harry unruhig träu‐ mend zeigt - sein Körper, der sich im Bett hin- und herwirft - und einer internen Okkularisierung, die zunächst, die Perspektive Nanginis - in einer schlängelnden Bewegung durch den Raum - übernimmt und somit analog zur Perspektivierung des Romans funktioniert (vgl. Order: 1: 07: 39-1: 07: 44). Dies jedoch, ohne dass die Zuschauer: innen zunächst erkennen können, wer sich durch den Raum bewegt. Unterlegt wird die Szene durch ein Voice Over, als Echo eines vorangegangenen Gesprächs mit Sirius. Dieses kontextualisiert den Traum, der keiner ist. Erkennen, dass es sich um Nagini handelt, können es die Zuschauer: innen über eine Spiegelung - nur sie lässt den Schlangenkörper sichtbar werden, der ansonsten unsichtbar bleibt und dadurch die Verschmelzung von Harry und Schlange/ Voldemort potenziert (vgl. ebd: 1: 07: 45-1: 07: 48). Der Spiegel oder die Spiegelung wird somit zum Ort der Erkenntnis - wie Gemmel in Anlehnung an Jacques Lacan formuliert: Erst durch Spiegelung, sei es nun im Wasser, auf einer polierten Metalloberfläche oder eben im Spiegel erhalte ich überhaupt ein Bild meines Selbst. Ohne Spiegel bzw. ohne ein Spiegelbild sind das eigene Gesicht, die Augen als Sinnesorgan des Visuellen das Einzige, was ich nicht wahrnehme, das dem eigenen Blick auf die Welt verborgen bleibt! (Gemmel 2004: 73) Über die interne und damit eingeschränkte Okkularisierung, welche die Zuschauer: innen ebenso wie Harry mit der Schlange - und wie paratextuell benannt - mit deren Auge verschmelzen lässt, bleibt diese verborgen und nur über die Spiegelung im filmischen Medium erkennbar. Diesen Traum- und Besessenheitsszenen sind jeweils Momente größter emotionaler Aufruhr vorangestellt: Sei es Harry Potters erster Kuss mit Cho Chang - und damit sein erster Kuss in der Storyworld - oder auch der 112 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="113"?> Tod seines Paten Sirius Black. Die emotionalen Aufstörungen bilden dabei jeweils das Eingangstor, den Schlüssel zum Unbewussten, wie Severus Snape expliziert: „Dann werden Sie leichte Beute für den Dunklen Lord sein! “, sagte Snape grimmig. „Dummköpfe, die stolz das Herz auf der Zunge tragen, die ihre Gefühle nicht beherrschen können, die in traurigen Erinnerungen schwelgen und sich damit leicht provozieren lassen - Schwächlinge.“ (OoP: 1124) Auf dem narrativen Höhepunkt des Films - der Konfrontation des von Vol‐ demort besessenen Harry Potter mit Dumbledore im Zaubereiministerium wird einmal mehr das Spiegelmotiv eingesetzt, um den inneren Konflikt - zwischen Potter und Lord Voldemort - zu inszenieren. Die Zuschauer: innen sehen einerseits Harrys Körper, der sich in Krämpfen windet und hören ihn mit der Stimme Voldemorts sprechen. Andererseits erhalten sie auch Einblick in Harrys Innenleben. Dieses wird als Zimmer gestaltet, in dem Harry vor einem Spiegel steht und sich sein Spiegelbild schließlich in Voldemort verwandelt. Abb. 3: Harry Potter als Voldemort (Order: 2: 01: 35) Das Auftauchen seiner Freund: innen sowie der Appell Albus Dumbledores rufen für Harry und die Zuschauer: innen verschiedene Momente mit Harrys Freund: innen, seinem soeben verstorbenen Paten sowie die Spiegelung seiner Eltern im Spiegel Nerhegeb hervor, wobei die montierten Bilder den Filmen entnommen sind und somit die innere Logik der Szene durchbrechen: Sie sollen Harrys inneren Erinnerungsfilm zeigen, inszenieren jedoch eher die Erinnerungen der Zuschauer: innen an die Wizarding World. Die Bilder führen zur direkten Ansprache Harrys an Voldemort, indem er sein Mitgefühl diesem gegenüber ausdrückt, und zur Zerschlagung des Spiegelbildes als Versinnbildlichung der Befreiung von der Verbindung zu 1.4 Transmediale Motivanalyse und das Spiegelmotiv in der Wizarding World 113 <?page no="114"?> Voldemort - akustisch unterstrichen durch sich steigernde Streichinstru‐ mente (vgl. ebd.: 02: 02: 22-02: 48). „[D]as Zerbrechen des Glases kennzeichnet das Wunder“, wie Langen für die Motivgeschichte des Spiegelmotivs auszeichnet, über das auch Harry „unversehrt und ganz bleibt“ (Langen 1957: 274) - zumindest für den Moment. Im Rahmen der Storyworld wird das Spiegelmotiv somit wiederholt ge‐ nutzt, um das Unbewusste - Wünsche, Sehnsüchte, Träume, Trauer, Ängste, aber auch die Verbindung zu Voldemort, die sich im letzten Band als Horkrux entpuppt - darzustellen. Es ist zudem Anschlussstelle für weitere Bearbeitun‐ gen - die Suche nach dem Innenleben von Figuren, die im Rahmen der Storyworld häufig nicht im Fokus stehen, nicht qua Fokalisierung narratoäs‐ thetisch privilegiert werden und deren Wünsche damit nicht Teil des Kanons sind, sondern einzig in den Fan Fiction Gehör finden. Eben diese Spiegelungen des Spiegels stehen mitunter auch dem Autor: in‐ nendiskurs entgegen, erlauben Freiraum - auch für Figuren, die in Rowlings Perspektive auf die Wizarding World und über diese hinaus keinen Platz haben. In der Storyworld, die sich von der Autorin gelöst hat, wie Farr for‐ muliert - „They didn’t need Rowling anymore because the books belonged fully to them, to the readers and the passionate fans.“ (Farr 2022: xxi) - , kann das Spiegelmotiv dann auch gesellschaftspolitisches Medium werden, wie die folgende Illustration zeigt (vgl. Abb. 4). In dieser wird der Spiegel Nerhegeb als Möglichkeitsraum inszeniert, die eigene Geschlechtsidentität frei wählen zu können und gleichsam auch als Bekenntnis des Fandoms zum Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung. Der fiktionale Spiegel wird so zum extrafiktionalen Statement - für ein inklusives Fandom, aber auch gegen eine exkludierende Schöpferin. 114 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="115"?> Abb. 4: Der Spiegel als Möglichkeitsraum jenseits von Rowling (@damianimated) Primärmedien Harry Potter and the Philosopher’s Stone (Chris Columbus. GB/ USA 2001). Harry Potter and the Prisoner of Azkaban (Alfonso Cuarón. GB/ USA 2004). Harry Potter and the Order of the Phoenix (David Yates. GB/ USA 2007). Rowling, J.K.: Harry Potter und der Stein der Weisen. Hamburg, 1998. Rowling, J.K.: Harry Potter und der Gefangene von Askaban. Hamburg, 1999. Rowling, J.K.: Harry Potter und der Orden des Phönix. Hamburg, 2003. Rowling, J.K.: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes. Hamburg, 2007. Rowling, J.K.: The Mirror of Erised. (2015). Abrufbar unter: https: / / www.wizardingw orld.com/ de/ writing-by-jk-rowling/ the-mirror-of-erised (Stand: 18/ 09/ 2024). Sekundärliteratur Anelli, Melissa/ Spartz, Emerson: The Leaky Cauldron and MuggleNet interview Joanne Kathleen Rowling: Part Two. The Leaky Cauldron, 16 July 2005. Abrufbar 1.4 Transmediale Motivanalyse und das Spiegelmotiv in der Wizarding World 115 <?page no="116"?> unter: http: / / www.accio-quote.org/ articles/ 2005/ 0705-tlc_mugglenet-anelli-2.ht m (Stand: 20.09.2024). Bernhardt, Sebastian (Hrsg.) (2021). „Ausreißen“ in der aktuellen Kinder- und Ju‐ gendliteratur. Analysen und didaktische Perspektiven. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Daemmrich, Horst S./ Daemmrich, Ingrid (1995). Themen und Motive in der Literatur. 2. überarb. u. erw. Aufl. Tübingen/ Basel: Francke Verlag. Drynda, Joanna (2012). Spiegel-Frauen. Zum Spiegelmotiv in Prosatexten zeitgenössi‐ scher österreichischer Autorinnen. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Dyserinck, Hugo (1991). Komparatistik. Eine Einführung. Bonn: Bouvier. Farr, Cecilia Konchar (2022). Introduction. In: Dies. (Hrsg.) Open at the Close. Jackson: University Press of Mississippi, xi-xxix. Foucault, Michel (2013). Archäologie des Wissens. 16. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Frenzel, Elisabeth (2002). Rückblick auf zweihundert Jahre literaturwissenschaftli‐ che Motivforschung. In: Wolpers, Theodor (Hrsg.) Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung. Bericht über Kolloquien der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1998- 2000. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 21-39. Genette, Gérard (1993). Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aesthetica. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Geider, Thomas (2003). Motivforschung in Volkserzählungen der Kanuri (Tschad‐ see-Region). Ein Beitrag zur Methodenentwicklung der Afrikanistik. Köln: Rüdiger Köppe. Gemmel, Mirko (2004). Überlegungen zum Spiegelmotiv im Narziss-Mythos. Zeit‐ schrift für Kunst- und Kulturwissenschaft 32: 2, 67-75. Goethe, Johann Wolfgang von: Maximen und Reflexionen. In: Ders.: Werke. Ham‐ burger Ausgabe in 14 Bde. Bd. 12: Schriften zur Kunst und Literatur. Maximen und Reflexionen. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. 12. Aufl. München, 1994, 365-547. [zitiert als H.A. 12a]. Goßens, Peter (2001). „Vom Inhalt der Literatur“. Elisabeth Frenzel und die Stoff- und Motivgeschichte. Komparatistik 2000/ 2001.-Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Heidelberg: Synchron, 128-136. Graça da Silva, Sara/ Tehrani, Jamshid J. (2016). Comparative phylogenetic analyses uncover the ancient roots of Indo-European folktales. R. Soc. open sci. 3: 150645. Abrufbar unter: http: / / dx.doi.org/ 10.1098/ rsos.150645 (Stand: 05/ 06/ 2025) Genette, Gérard (2014). Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. 5. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 116 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="117"?> Grimm, Jacob (1986). Aufforderung an die gesammten Freunde deutscher Poesie und Geschichte erlassen (22.1.1811, Kassel). Abgedruckt in: Heinz Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. München/ Zürich, 63-69. Kurwinkel, Tobias/ Jakobi, Stefanie. Thematologie im 21. Jahrhundert: Die transme‐ diale Motivanalyse. Special Issue # 7 of Textpraxis (2.2023). Abrufbar unter: https: / / www.textpraxis.net/ en/ kurwinkel-jakobi-theatologie-im-21-jahrhundert, Abruf‐ bar unter: https: / / doi.org/ 10.17879/ 19958492841 (Stand: 05/ 06/ 2025). Langen, August (1957). Zur Geschichte des Spiegelsymbols in der deutschen Dich‐ tung. Deutsche Philologie im Aufriß, 269-280. Lexe, Heidi (2003). Pippi, Pan und Potter. Zur Motivkonstellation in den Klassikern der Kinderliteratur. Wien: Edition Praesens. Lubkoll, Christine: Thematologie. In: Schneider, Jost (Hrsg.) Methodengeschichte der Germanistik. Berlin: de Gruyter, 747-762. Lubkoll, Christine (2013). Motiv. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.) Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. 5. aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler, 542-543. Lubkoll, Christine (2022). Thematologie - Intertextualität - Transmedialität. Theo‐ retische Zugänge zu einer Betrachtung der literarischen Moderne. In: Kurwinkel, Tobias/ Jakobi, Stefanie (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugend‐ medialer Motive. Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch. Tübingen: Francke, 31-47. Manukyan, Kathleen (2009). From Maidens to Mugs: The Motif of the Mirror in the Works of Nikolai Gogol. Canadian Slavonic Papers 51: 2-3, 267-286. Millner, Alexandra (2004). SPIEGELWELTEN WELTENSPIEGEL Zum Spiegelmotiv bei Elfriede Jelinek, Adolf Muschg, Thomas Bernhard, Albert Drach. Wien: Braumüller. Mölk, Ulrich (1991). Das Dilemma der literarischen Motivforschung und die euro‐ päische Bedeutungsgeschichte von ‚Motiv‘. Überlegungen und Dokumentation. Romantisches Jahrbuch 42, 91-120. Müller-Wille, Klaus (2019). Das Lesen neu erfinden. Zu Aspekten der Materialität in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Dettmar, Ute/ Josting, Petra/ Roeder, Caroline (Hrsg.) Schnittstellen der Kinder- und Jugendmedienforschung. Aktuelle Positionen und Perspektiven. (=-Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien, Bd.-1). Berlin: Metzler, 11-26. O’Sullivan, Emer (2000). Stoff- und Motivforschung. In: Dies. (Hrsg.) Kinderliterari‐ sche Komparatistik. Heidelberg: Winter, 70-75. Planka, Sabina/ Mikota, Jana (Hrsg.) (2013). Das Motiv der Hexe in den Kinder- und Jugendmedien. Weidler: Berlin. 1.4 Transmediale Motivanalyse und das Spiegelmotiv in der Wizarding World 117 <?page no="118"?> Poppe, Sandra (2013). Emotionen in Literatur und Film. Transmediale Visualität als Mittel der Emotionsdarstellung. In: Renner, Karl N./ von Hoff, Dagmar/ Krings, Matthias (Hrsg.) Medien erzählen Gesellschaft. Transmediales Erzählen in der Medienkonvergenz. Berlin/ Boston: de Gruyter, 37-64. Reidenbach, Christian (2024). Literaturwissenschaft als Ideengeschichte. Über topi‐ sches Lesen in den Ordnungen des Denkens. Dtsch. Vierteljahrsschr. Literaturwiss. Geistesgesch 98, 153-178. doi: https: / / doi.org/ 10.1007/ s41245-023-00199-5. Röcken, Per (2008). Was ist - aus editorischer Sicht - Materialität? Editio 22, 22-46. Schäfer, Iris (2023). Traum und Träumen in Kinder- und Jugendmedien (=-Traum - Wissen - Erzählen). Paderborn: Brill/ Fink 2023. Thompson, Stith (1955). Narrative Motif-Analysis as a Folklore Method. FF Commu‐ nications 161. Helsinki: STA. Würzbach, Natascha/ Salz, Simone M. (1995). Motif Index of the Child Corpus. Berlin/ New York: de Gruyter. 118 1 Vorläufer: innen --Alles ‚Neo‘, alles ‚Post‘? <?page no="119"?> 15 Die Autorin verzichtet in ihrem Aufsatz auf sprachliche Gendermarkierungen. 16 Siehe hierzu ausführlich: Magerski, Christine/ Karpenstein-Eßbach, Christa (2019). Literatursoziologie. Grundlagen, Problemstellungen und Theorien. Wiesbaden: Springer VS. Soziale und symboli‐ sche Ord‐ nung 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut 2.1 Medientext und Soziologie: Harry Potter als siegreiche Form der Geschmacksbildung 15 Christine Magerski Die Funktion der Literatursoziologie liegt im Aufdecken der Zusammen‐ hänge von moderner Gesellschaft und ihrer Kultur. 16 Diese Aufgabe teilt sie mit den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften. Während die Ge‐ sellschaftswissenschaften jedoch vornehmlich die sozialen Formen und Ordnungen und die Kulturwissenschaften die symbolischen Formen und Ordnungen untersuchen, hat die Literatursoziologie beide im Blick und fragt nach Korrelationen zwischen sozialer und symbolischer Ordnung. Die Literatur und somit ebenso die Harry Potter-Romane bieten sich dafür in besonderer Weise an, da sie unmittelbar an Sprache und damit an ein genuin soziales Phänomen gebunden sind. Wo wir auf Zeichen, Sprache und Schrift stoßen, haben wir es mit Entitäten zu tun, die ihrem Sinn und Aufbau nach auf die Existenz und das Verhalten anderer bezogen sind. 2.1.1 Zur Literatursoziologie und ihrer Methodik Um diese wechselseitige Relation von Literatur und Gesellschaft zu erfassen, verfolgt die Literatursoziologie zwei Wege: Sie folgt einerseits den Spuren der Gesellschaft in der Literatur und beobachtet andererseits das Funktionieren und Wirken von Literatur in der Gesellschaft. Der erste Weg verläuft über die Texte, während der zweite Weg die Institution und damit die Entstehung des eigentlichen Buches einschließlich seiner Rezeption schärfer ins Auge fasst. Damit ist bereits gesagt, dass sich Literatursoziologie keineswegs auf ein antiformalistisches oder auch antistrukturalistisches <?page no="120"?> 17 Bereits die frühe Literatursoziologie zeigte ein auffallendes Interesse an der Frage der Form und widmete sich dem Zusammenhang literarischer und sozialer Strukturen; ein Interesse, wie es sich später in den einzelnen literatursoziolgischen Schulen, aber etwa auch bei Franco Moretti wiederfindet. Siehe hierzu ausführlich Magerski 2004, 2015 und 2021 sowie Moretti 1983. Das literari‐ sche Feld Verfahren reduzieren lässt, sondern durchaus auch die Frage nach der textuellen Beschaffenheit des jeweiligen Werkes einschließt. 17 Merkkasten: ‚Gute‘ Literatur? Allein Attribute wie ‚gute‘, ‚anspruchsvolle‘ oder ‚schlechte‘, ‚an‐ spruchslose‘ Literatur, aber auch Sammelbegriffe wie Hoch-, Unter‐ haltungs- oder Trivialliteratur zeigen der Literatursoziologie an, dass der Literaturbegriff nicht nur ein gespaltener, sondern auch ein von normativen Unterscheidungen geprägter und klassifizierter ist. Diese literarische Differenzierung, dies sieht die Literatursoziologie, korre‐ liert mit der sozialen. Seit der Lese- und Literaturrevolution des 18. Jahrhunderts und der „Emanzi‐ pation (der Literatur, C.M.) aus dem religiösen Erbauungsschrifttum in Rich‐ tung auf ein neues Bedürfnis nach schöngeistiger Literatur“ (Scharfschwert 1977: 27f.) hat nahezu jeder literate Mensch Zugang zur Literatur, was wiederum zu einem kontinuierlichen Anwachsen des zunächst schmalen, bürgerlich-gelehrten Publikums führte. Erst dieses sich progressiv erwei‐ ternde Publikum, auch dies sieht die Literatursoziologie, ermöglicht eine Literatur, welche beispielsweise in Form des Romans gleichzeitig erbaut, belehrt und unterhält. Als erste massenhaft produzierte Unterhaltungsli‐ teratur setzte sich nämlich der Roman gezielt von der religiösen Kultur der kleinbürgerlichen und bäuerlichen Bevölkerung ab und provozierte im Gegenzug eine neuerliche, insbesondere von der Hochliteratur der Klassik vollzogene und nicht selten von Klagen über den schlechten literarischen Durchschnittsgeschmack begleitete Abgrenzungslogik. Das Resultat ist ein literarisches Feld, in dem sich - spätestens seit der einschlägigen Studie Die Regeln der Kunst (1999) des französischen Kultur‐ soziologen Pierre Bourdieu bekannt - unterschiedliche Positionen bezüglich der ‚wahren‘ Literatur gegenüberstehen. Diese Positionen sind sowohl über die Herkunft der Autoren wie auch über die Leserschaft sozial eingebunden, 120 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="121"?> Positionie‐ rungen dürfen jedoch nicht verkürzt auf soziale oder politische Parteinahmen reduziert werden. Der freie Schriftsteller der modernen Gesellschaft steht vor der Entscheidung und kann sich, wie es etwa Heinrich Heine tat, in die außerliterarischen Auseinandersetzungen der Zeit einschalten, oder den Romantikern folgen und sich ganz auf die der Literatur als Kunst inhärente Kraft berufen. Aus literatursoziologischer Perspektive ist dann auch nicht die Position selbst entscheidend, sondern das Zusammenspiel der jeweiligen Position mit den Positionierungen, d. h. den Werken selbst. Das Werk interessiert die Literatursoziologie nicht als ‚geniales Einzelkunstwerk‘, sondern als eine spezifische und gleichwohl sozial eingebundene Form. Folgt man diesem Grundsatz, so ist für jede Zeit nicht nur zu fragen, welche Form von Literatur welche Wirkung hervorruft, sondern auch, wer oder was über den Erfolg bestimmter Formen von Literatur entscheidet. Vorausgesetzt wird dabei zum einen, dass sich das Geschriebene, gleich welcher Art, zwar dem scheinbar universellen Bedürfnis nach Kommunika‐ tion über zeiträumliche Grenzen hinaus verdankt, in seinem jeweiligen Sinn und seiner Struktur aber auf ein konkretes Gegenüber bezogen ist. Zum anderen gilt der Literatursoziologie als gesichert, dass Literatur nicht nur die sozialen Beziehungen zwischen literarischen Figuren zum Gegenstand macht, sondern diese qua Werk auch stiftet. Nicht ohne Grund lässt sich eine Linie von den Lesegemeinschaften der Aufklärung bis hinein in die Fanclubs und Internetforen mit hunderttausenden aktiven Mitgliedern aller Altersgruppen und unterschiedlicher kultureller Herkunft ziehen. Literatur wirkt, und dies auf den kognitiven und emotionalen Ebenen ebenso wie auf der Handlungsebene. Von daher wird sie von der Literatursoziologie als eminentes Moment einer Gesellschaft verstanden, die ihr eigenes Schaffen und mithin ihre eigene Kultur immer stärker reflektiert. Selbstreflexion wird demnach ebenso auf Seiten der Literatur vorausgesetzt, was wiederum bedeutet, dass wir zunehmend von Intentionen, ja gezielten Strategien hinsichtlich der Produktion und Distribution ausgehen können. Merkkasten: Vom Zweizum Dreischichtenmodell: Hoch-, Un‐ terhaltungs- und Trivialliteratur Wer was wo und für wen schreibt, sind bis heute die leitenden Fragen der Literatursoziologie. Dass es dabei eine Komplexitäts- und Refle‐ xionssteigerung zu berücksichtigen gibt, ist der Literatursoziologie spätestens seit den 1960er-Jahren bewusst. Dementsprechend geht 2.1 Medientext und Soziologie 121 <?page no="122"?> 18 Siehe hierzu Löwenthal, Leo (1964). Literatur und Gesellschaft. Das Buch in der Massen‐ kultur. Neuwied a. Rhein: Luchterhand. 19 Siehe hierzu ausführlich: Silbermann, Alphons (1981). Einführung in die Literatursozio‐ logie. München: Oldenbourg. Bereiche der Litera‐ tursoziolo‐ gie Literaturso‐ ziologische Methoden sie von einem Zweizu einem Dreischichtenmodell über, relativiert die strikte Trennung zwischen Hoch- und Unterhaltungskultur und verweist auf die zahlreicher werdenden Übergänge zwischen beiden Segmenten. Namentlich Leo Löwenthal verdanken wir den Hinweis, dass eine Litera‐ tursoziologie sich aus der Befangenheit der Kulturkritik lösen und eine exakte empirische Forschung anstreben müsse. 18 Mit ihr verbinden sich quantitative Methoden, die nicht innerhalb der Literaturwissenschaft entwickelt werden, sondern in den Sozialwissenschaften. Da sich der vorlie‐ gende Band vorrangig an Kultur- und Literaturwissenschaftler wendet, soll diese Richtung hier nur angesprochen und mit Alphons Silbermann auf ein Konzept verweisen werden, das zwar Aussagen über das Kunstwerk selbst sowie über dessen Struktur kategorisch aus der empirischen Betrachtung ausschließt, die Aufmerksamkeit aber konsequent auf das gesellschaftliche Handeln aller an einem literarischen Werk konkret beteiligten Akteure lenkt: Autor, Verleger, Kritiker und Publikum. 19 Fragt man nach dem Gesagten, welche konkreten literatursoziologischen Methoden sich für die literatursoziologische Erfassung einer massenkultu‐ rell offensichtlich einschlägigen Publikation wie die Harry Potter-Heptalogie besonders eignen, so scheinen drei besonders geeignet: 1. die Analyse der Verbindung von Form, Stil und Wirkung, wie sie erst‐ mals vom deutsch-ungarischen Kulturphilosophen und Literaturwis‐ senschaftler Georg Lukács mit der Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas (1911) vorgestellt wurde, 2. die vom deutschen Anglisten Levin Ludwig Schücking entwickelte So‐ ziologie der literarischen Geschmacksbildung, welche spätestens mit der Studie Die feinen Unterschiede (1987) des französischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu eine prominente Renaissance erfuhr, 3. das auf dem namentlich von Peter Bürger mit Theorie der Avantgarde (1974) zentrierten Institutionsbegriff gründende und mithin auf den Literaturbetrieb abstellende Verfahren. 122 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="123"?> 20 Vgl. hierzu: Lukács, Georg (1910/ 1973). Zur Theorie der Literaturgeschichte (1910 unter dem Titel „Zur Methodologie der Literaturgeschichte“ in der Übersetzung von Denes Zalan. Wieder abgedruckt in: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. H 39/ 40, 10/ 1973, S.-24-51. Form, Stil und Wir‐ kung Literari‐ sche Ge‐ schmacks‐ bildung Mithilfe der ersten Methoden lässt sich der Eintrag der Gesellschaft in die Literatur veranschaulichen, mit der zweiten die Verbindung zwischen dem konkreten Text und der jeweiligen Leserschaft herstellen und mit der dritten das Funktionieren von Literatur in der Gesellschaft genauer fassen. 1. Bei der Betrachtung des Konnex von Form, Stil und Wirkung, wie er erstmals systematisch von Lukács dargelegt wurde, lautet die Grund‐ annahme, dass bestimmte literarische Formen nur unter bestimmten Bedingungen zur Wirkung gelangen können. Die Wirkung der jeweils siegreichen Form ist in diesem Kontext total und prägt den Stil ihrer Zeit. 20 Form meint die Gattungen (→ Band 1: I.1.3), während Stil den vorherrschenden Lebensstil oder auch die Grundstimmung einer be‐ stimmten Zeit bezeichnet. So steht die in der Antike dominante Form des Dramas mit ihrer geschlossenen Gestalt für eine von strengen Nor‐ men und einer weitgehend homogenen Grundstimmung getragenen Epoche, während der Roman laut Lukács in der Moderne unangefochten an der Spitze der Gattungshierarchie steht, weil die offene Form mit dem Zeitgeist der Moderne korrespondiert: Der Stil des Lebens ist in der in‐ dividualisierten Moderne romanesk geworden und lässt eine Gattung florieren, die, anders als das Drama, mit dem Gefühl der „transzenden‐ talen Obdachlosigkeit“ (Lukács 1920: 32) korrespondiert. 2. Komplementieren und in Teilen auch korrigieren lässt sich dieser Ansatz mit der von Schücking aus der Taufe gehobenen Soziologie der literari‐ schen Geschmacksbildung. Der Ausgangspunkt ist auch hier eine Ab‐ sage an die Vorstellung eines „Volksganze(n)“ (Schücking 1923: 15), eben weil die Gesellschaft in Hinsicht auf Weltbild, Weltwertung und Grund‐ sätze der Lebensführung deutlich in sich unterschieden sei, ja diese überhaupt nur in Gruppen existiere, welche wiederum aus den sozialen Schichtungen hervorgehen. Ob es unter ihnen überhaupt noch eine Schicht oder auch Gruppe gäbe, die sich recht eigentlich als Ausdruck der Zeit schlechthin ausmachen ließe, wird bezweifelt, und da man es mit einer „ganze(n) Reihe von Zeitgeistern“ (ebd.: 17) zu tun habe, so sei auch das Publikum zersplittert und demokratisiert. Was nach dem Ver‐ schwinden einer einheitlichen, von einer relativ geschlossenen gesell‐ 2.1 Medientext und Soziologie 123 <?page no="124"?> Literatur als Institu‐ tion schaftlichen Schicht mit gleichartiger Bildung getragenen literarischen Kultur bleibt, sind „Geschmacksträgertypen“ (ebd.: 128), die wiederum die Wirkungsgeschichte bestimmter literarischer Richtungen und Werke beeinflussen. 3. Mit dem Aufziehen einer ganzen Reihe von ‚Zeitgeistern‘ aber ist weder der Sammelbegriff ‚Literatur‘ noch die geschmacksgerechte Produktion von Literatur verschwunden. Im Gegenteil: Wie insbesondere der Ro‐ manist Peter Bürger gezeigt hat, stellt gerade die Differenzierung und Autonomisierung der Literatur die Grundprämisse eines Verständnisses von Literatur als Institution (vgl. Bürger 1974). Dabei ist es zunächst völlig belanglos, ob man diese, wie etwa die Vertreter der Kritischen Theorie, als Kulturindustrie kritisiert oder, wie vornehmlich die Vertre‐ ter der Feld- und Systemtheorie, als autonomen sozialen Teilbereich in seiner Funktion und Leistung herausstellt. Entscheidend ist, dass die Pluralität von Literatur und damit auch der Dissens darüber, was unter ‚guter‘ Literatur zu verstehen sei, den Motor des Betriebs am Laufen hält. Würde sich der Kreis von Form, Stil und Wirkung zu einem allumfas‐ senden Einheitsgeschmack verengen, so wäre das spannungsgeladene Feld moderner Literatur verschwunden und hätte einem allein der Logik des Marktes folgenden Produktionsbereich Platz gemacht. 2.1.2 Die Harry Potter-Romane als siegreiche Form Als die Verfasserin des vorliegendes Beitrags in Vorbereitung auf den Band am Strand des Mittelmeers einen Harry Potter-Band las, wurde sie von ihr gänzlich unbekannten Liegestuhlnachbarn darauf hingewiesen, dass Harry Potter nicht nur nichts für Erwachsene, sondern auch bereits völlig überholt sei. Statt einer Antwort folgte ein kurzes Nicken und der Blick auf die Lektüre der forschen Urlaubsgäste. Das Paar mittleren Alters, so stellte sich heraus, bevorzugte blickdichte Schutzumschläge, was jede Spekulation über eventuelle Vorlieben verbietet. Allein die Intervention aber zeigt, dass selbst noch die Verächter den Helden der ‚rowlingschen Zauberwelt‘ kennen und sich um distinktive Wertung bemühen. Der Erfolg von Harry Potter gilt dann auch zurecht als ein soziales Phänomen und ist damit auch und insbesondere ein Fall für die Literatursoziologie. Gesehen aus dem Blickwinkel der Form lässt sich zunächst festhalten, dass die Harry Potter-Heptalogie mit ihrem weltweiten Erfolg den Siegeszug des Romans an der Spitze der Gattungshierarchie bestätigt. Dabei ist es jedoch 124 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="125"?> weder Prousts À la recherche du temps perdu (1913-1927) noch Döblins Berlin Alexanderplatz (1929), sondern die Subgattung eines ursprünglich als Kinderbuch konzipierten Romans, die hier massiv zur Wirkung kommt und unserer Zeit ihren Stil zu verleihen scheint. Will man diesen Stil näher bestimmen, so lässt sich mit der von Moritz Baßler 2023 vorgelegten Bilanz zur Gegenwartsliteratur von einem ‚populären Realismus‘ sprechen. Für diese atypische Spielart des literarischen Realismus ist entscheidend, dass sich ihr Realismus allein in der Stimmigkeit der diegetisch erzeugten Welt erschöpft. Einen Bezug auf die Welt außerhalb des Romans muss es für die Literatur des populären Realismus nicht geben, weil dieser vom Lesepublikum gar nicht erwartet wird. Die Wirkung ist nicht trotz, sondern wegen dem klaren Ausweis als High-Fantasy garantiert. Ersetzt man nun den von Lukács eingebrachten Begriff der Wirkung mit dem des Feedbacks, so lässt sich mit Ursula Bergenthal die Trias von Form, Stil und Wirkung für Harry Potter als „Zusammenhang von Massenkommunikation und literarischer Form“ (Bergenthal 2008: 34) fassen und in den Kontext der von Autor und Verlagen gesteuerten Dynamik des Textes innerhalb der Mediengesellschaft einordnen. Die Textmerkmale, von Bergenthal als ‚Schema‘ bezeichnet, spielen demnach eine wesentliche Rolle für die Übersetzung und Anschlusskommunikation, während wiederum die Textverwertung im seriellen Schreiben auf die Interpretation der Texte und letztlich die Texte selbst zurückwirkt. Erst diese „vielfältigen komplexen Feedback-Schleifen“ (ebd.) formen die moderne Massenkommunikation, in der auch die Harry Potter-Romane zur Wirkung kommen. Wie Bergenthal in diesem Zusammenhang zu Recht betont, muss diese dabei aber keineswegs passiv, unreflektiert oder trivial sein. Darauf ist zurückzukommen. An dieser Stelle soll die Form bzw. das Schema des zum internationalen Stil avancierten populären Erzählens näher beleuchtet werden, um die Wirkung bzw. die ‚Feedback-Schleifen‘ der Erfolgsserie besser verstehen zu können. Hierfür eignet sich der erste Band Harry Potter and the Philosopher’s Stone und die diegetische, in der umfangreichen Expositionsphase sorgfältig entworfene Welt. Geradezu schematisch wird die erzählte Welt hier in zwei polare Welten unterteilt (→ Band 1: I.1.2): Auf der einen Seite befindet sich das kleinbürgerliche Milieu, die Muggels, unter denen Harry Potter notgedrungen als Waisenkind aufwächst. Die Autorin stattet dieses Milieu mit allen Attributen der Spießigkeit aus (→ Band 3: II.2.5), wie man sie seit der Romantik kennt; eine enge, fantasielose Welt, in der allein Stumpfsinn 2.1 Medientext und Soziologie 125 <?page no="126"?> und Materialismus gedeihen. Auf der anderen Seite steht die Welt der entfesselten Fantasie - und dies im Guten wie im Bösen. Innerhalb der Diegese existieren beide Welten in derselben Zeit, jedoch in relativ klar voneinander getrennten Räumen (→ Band 3: II.1.2). Relativ ist diese Trennung insofern, als die Magie auch in die Welt der Muggels hineinwirkt, ja dem ‚Oberspießer‘ und Einfamilienhausbesitzer Dursley gar, wie Bürvenich herausstellt, einen Schweineschwanz anzuzaubern vermag, weshalb dieser zurecht von einer „durch und durch spießbürgerlichen-re‐ aktionären Familie“ (Bürvenich 2001: 59) spricht. Gegen diese richtet sich zur Errettung der Fantasie die ganze Kraft des Zaubers. Auch funktionieren beide Welten nach klaren Regeln, die streng einzuhalten hat, wer sich in ihnen behaupten will. Mehr noch: Die Zauberwelt wird von ihrer Schöpferin mit Institutionen versehen, wie man sie nicht nur aus der Welt der Muggels, sondern auch aus der realen Welt kennt - angefangen von der Post bis zu den für soziale Kohäsion zentralen Bildungseinrichtungen. Auch ist jeder Ausbruch aus diesen geregelten Institutionen selbst in der Welt des Fantastischen überaus riskant. So erfahren die Lesenden im zweiten Band - Harry Potter and the Chamber of Secrets - über den schrecklichen schwarzen Magier Lord Voldemort, dass dieser nach dem Verlassen der Zauberschule weit und fern reiste und so immer tiefer in die „Dark Arts“ sank, „consorted with the very worst of our kind“ (CoS: 353). Mit anderen Worten: Die kulturell tradierte, mit dem Konzept der Normalität spielende Opposition von Spießbürgertum und bohémischem Außenseitertum feiert im Schema der Harry Potter-Romane ebenso eine Renaissance wie das Motiv des ewigen Kampfs zwischen guten und bösen Kräften. Der titelgebende Protagonist steht in beiden Welten anfänglich ganz am Rand. Dass diese Erzählkonstellation trotz starker Schematisierung keineswegs gänzlich passiv, unreflektiert oder gar trivial ist, wird neben dem Humor nicht zuletzt durch ein spielerisches, bis in die Welt der Muggels hineinreichendes Element garantiert, wie ganz deutlich wird, wenn es heißt: „Ms. Dursley tried to act normally“ (PS: 10). Die diegetische Welt mag eine fantastische sein, besiedelt aber ist sie von bewusst handelnden Akteuren. Dies gilt nachgerade für den Protagonisten und macht Harry Potter zu einem Helden im wahrsten Sinne des Wortes; ein exemplarischer Vertreter des Guten und einer menschlichen und damit ‚wahren‘ Zauberkunst, welche durchaus als Stellvertreterin der Kunst als solcher gelesen werden kann. Auf diesen, seinen Kampf gleich an zwei Fronten führenden Helden nun muss, damit kommen wir zurück zu Lukács und der Frage der Wirkung, eine 126 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="127"?> breite Leserschaft gewartet haben. Rowling selbst lenkt ein Stück weit in diese Richtung, wenn sie auf das Identifikations-Appeal ihres Protagonisten verweist und behauptet, dass jeder gern mal die Erfahrung machen würde, dass mehr in ihm steckt, als er ahnt (vgl. Dallach & Rowling 2000). Und doch handelt es sich bei Harry Potter nicht um einen Bildungsroman im klassischen Sinne, da Wesen und Charakter des Protagonisten von Beginn an feststehen. Nicht das Verfolgen der Entwicklung eines Menschen macht den Reiz der Form aus, sondern der spielerische Kampf höherer, moralisch aufgeladener Mächte. Dass Rowling es nicht versäumt, dem geächteten Lord Voldemort die Züge eines rassenwahnsinnigen Diktators zu verleihen, unterstreicht dies ebenso wie der leicht verständliche und übersetzbare, unmittelbar an den ‚international style‘ des populären Realismus gebundene Schreibstil. Dass dieser Stil heute dominiert, erklärt sich laut Baßler aus einer „Spielkultur“, in der wir eine „Spielgemeinschaft normalisierten Spektakels“ (Baßler 2023: 136f.) bilden. So gesehen, konnte Harry Potter zum Bestseller werden, weil die Romane eine Erwartungshaltung bedienen, die ihren Halt in einer auf Spiel und Spektakel geeichten Gegenwartskultur findet. In ihr lassen sich Elemente des Märchens mit einer Kritik an der extra-fiktionalen Mittelschicht ver‐ binden. Wie Bergenthal herausgestellt hat, setzt Rowling einerseits auf allgemein vertraute Genre-Konventionen, verknüpft verschiedene Genre eng miteinander und spricht so verschiedene Lesergruppen an. Anderer‐ seits werden textinterne Modernitätskritik mit der Verwendung zeitgenös‐ sischer intermedial orientierter Darstellungsweisen und Narrationsformen vermischt (vgl. Bergenthal 2008: 31). Was nach einem Widerspruch klingt, lasse sich auflösen, denn wenngleich textintern durch die negative Konno‐ tation einzelner Medien und zeitgenössischer gesellschaftlicher Aspekte eine (archaische) Antiwelt konstruiert werde, so sei die Wahrnehmung der Rezipienten in der modernen, ausdifferenzierten und auf Konsum eingestellten Gesellschaft doch in den Text eingeschrieben (vgl. ebd.: 33). Mit Sicht auf die von Lukács unterstrichene Intentionalität auf Seiten des Autors ließe sich dann sagen, dass die hybride Form bewusst gewählt wurde. Die Wirkung war nicht garantiert, auch mag sie für die Autorin überraschend gekommen sein, literatursoziologisch betrachtet aber hat sich die Wirkung inmitten unserer Spielkultur mit einer gewissen Zwangsläu‐ figkeit eingestellt. High-Fantasy-Romane waren bereits auf dem Weg zur siegreichen und damit stilprägenden Form. Die unglaublichen Abenteuer des Helden ‚realistisch‘ zu rahmen, wäre der letzte Streich, mit dem das 2.1 Medientext und Soziologie 127 <?page no="128"?> Erzählte sowohl über den Fantasy-Leserkreis wie auch über den der Kinder- und Jugendliteratur hinaus populär gemacht wurde. Jenseits des „wahrhaft Spirituelle(n)“ (Houghton 2001: 72) werden mit ihm Spielkultur und spät‐ bürgerliche Selbstkritik zusammengeführt und in Serien produziert; ein Verfahren, das der italienische Literaturwissenschaftler und Erfolgsautor Umberto Eco in Anlehnung an Dwight Macdonald als „Midcult“ bezeichnet und das uns unmittelbar zum literarischen Geschmack führt (Macdonald 1960, Eco 1989: 180-216). 2.1.2.1 Harry Potter aus der Perspektive einer Soziologie der literarischen Geschmacksbildung Die Geschmacksdiskussion spielt seit dem 18. Jahrhundert vor allem in der Literaturkritik eine zentrale Rolle (Brückner 2003: 13-56). Schücking verlängerte diese Diskussion in die Literatursoziologie und brachte mit dem Konzept der Geschmacksträgertypen eine Forschungsrichtung hervor, welche angesichts international erfolgreicher All-Age-Bücher oder auch Crossover-Literatur (→ Band 1: I.2.2.4) wie Harry Potter-Romane an ihre Grenzen zu kommen scheint. Denkt man hier zudem an die von Bourdieu tabellarisch erfassten ‚feinen Unterschiede‘ eines kulturellen Konsums, mit dem immer auch soziale Standesgrenzen markiert werden, so scheint zu‐ nächst fraglich, ob sich Harry Potter unter diesem Gesichtspunkt überhaupt noch betrachten lässt. Um eine belastbare Antwort zu geben, bedürfte es der oben angesprochenen empirischen Forschung. Als gesichert aber kann gelten, dass mit der Demokratisierung der Literatur und dem neuen Midcult jedwede Distinktionen schwieriger werden. Was die historisch breite Leser‐ schaft von Harry Potter eint, wäre der Geschmack an leicht lesbarer, span‐ nender Unterhaltung mit einem Hauch kritisch-literarischer Selbstreflexion, über den jüngere oder allein am Plot interessierte Lesende problemlos hin‐ wegsehen können, während die selbstreflexiven, die Methoden moderner Vermarktung ironisierenden Stellen den kritischen und aufgeklärten Lesern suggerieren, dass Rowling selbst nicht Teil des Marketings sei, sondern vielmehr reflektierendes ‚Opfer‘ dieser Prozesse (vgl. Bergenthal 2008: 478). Da aber das Gefallen an dieser Art von literarischem Zauber offensichtlich nicht in jeder Zeit vorherrscht, liegt zumindest die Vermutung nahe, dass bei der massiven Ausweitung dieses Geschmacksträgertyps noch andere Kräfte walten. Zu denken ist hier an die offensive Bewerbung oder auch die multimediale Verwertung (→ Band 1: I.2.1), von der auch Harry Potter 128 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="129"?> ‚gehypt‘ wurde und wird, und dies bis hin zu einem gänzlich literaturferne Konsumgüter erfassenden Merchandising (→ Band 3: I.2.3.3 Medien- und Produktverbund). Harry Potter ist ‚in‘, oder war es zumindest, und folgt damit einer Logik der Mode und der Werbung, die letztlich auch der Abwertung besagter Strandnachbarn zugrundeliegt. Gleichwohl aber sollte die Literatursoziologie vorsichtig sein und ein Phänomen wie Harry Potter nicht leichtfertig auf Kommerz, die Gier nach Verkäuflichkeit oder ein homogenisierendes Vergnügen reduzieren. Nicht ohne Grund hat Michael Makropoulos die Rede von der Kulturindustrie und der vermeintlichen Manipulation der Subjekte mit dem Argument konfrontiert, dass Massenkultur eine unverzichtbar produktive Funktion gesellschaftlicher Integration erfüllt (Makropoulos 2008: 148). Unter den Bedingungen der Kontingenzerfahrung, wie sie zu modernen Gesellschaften gehört und wonach kontingent ist, was auch anders möglich ist, sorgt Massenkultur dafür, Kontingenztoleranz zu lehren: So gesehen, bewirkt Massenkultur „die zureichende soziale Integration kontingenzförmiger In‐ dividuen ohne ihre Kontingenzförmigkeit zu reduzieren“ (ebd.). Das aber würde bedeuten, dass, gerade weil eine Form wie Harry Potter nicht zuletzt durch die eigene Serialisierung standardisiert wird, dieses auch die Mög‐ lichkeit kombinatorischer Verknüpfungen heterogener Elemente eröffnet und gerade nicht zu einer nivellierenden und homogenisierenden Reduk‐ tion von Variabilität führt. Aus der Perspektive einer kontingenzbasierten Normalisierungsgesellschaft erscheinen Massen- und Spielkultur und in ihr Harry Potter dann als produktive und notwendige Bedingung von Gesellschaftlichkeit. Auch könnte man an dieser Stelle mit Löwenthal noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass das Vergnügen an der Unterhaltung, dem Tri‐ vialen und Populären zu den unübergehbaren menschlichen Bedürfnissen gehört, weil sie dabei helfen, sich vor dem Druck und den Zwängen des Gesellschaftlichen ein Stück weit zu retten oder sich an sie anzupassen (vgl. Löwenthal 1964: 54ff.). Zwar gibt es die Gefahren der Zerstreuung, den Fluchtcharakter und die Verführung zur Preisgabe der Selbstbesinnung zugunsten eines vor allem sinnlichen Genusses, doch sind beide Positionen die zwei Seiten einer Massenkultur, die wir gleichzeitig verachten und bedienen. Mit anderen Worten: Gerade der Geschmack am Populären, wie er mit dem Konsum von Harry Potter ostentativ zur Schau gestellt wird, verdient die Aufmerksamkeit einer Literatursoziologie, welche Lesen zunächst einmal grundsätzlich als eine soziale Praxis jenseits kultureller 2.1 Medientext und Soziologie 129 <?page no="130"?> Hegemonie und deren Kampf um Anerkennung versteht. Nachgerade die Forschungen auf dem Gebiet der Populärkultur haben hier eine politisie‐ rende Umwertung von populärer Kultur bewirkt und gezeigt, dass, während voraussetzungsvolle Literatur hegemonialitäts- und machterhaltend wirkt, Produkte des Populären eine Artikulation ermöglichen, in der sich der soziale Wert minoritärer Eigensinnproduktion repräsentiert findet (vgl. Göttlich at.al. 2002). Das Lesevergnügen selbst und somit der Geschmack am Literarischen an sich wird so rehabilitiert. Zudem, auch dies zeigt Harry Potter, produziert die Lust auf das Populäre neue Textformen, die für verschiedenartigste Lektüren offen sind und ein „Reservoir von Ressourcen“ bereitstellen, das man als einen Supermarkt (kennzeichnen kann), aus dem sich die Leser diejenigen Artikel herausgreifen, die sie wollen, sie mit denjenigen aus ihrer kulturellen ‚Speisekammer‘ zu Hause kombinieren und daraus neue Gerichte kochen oder neue Lektüren zubereiten, die ihren eigenen Bedürfnissen und kreativen Fähig‐ keiten entsprechen. (Fiske 2000: 59) Diese Politik des Vergnügens und damit das Vermögen von Populärkul‐ tur, kulturelle Gemeinschaftlichkeiten herzustellen, die heute zumeist ‚Szenen‘ oder auch ‚Communities‘ genannt werden, treibt eine Soziologie literarischer Geschmackbildung zwangsläufig über den Rand der Texte. So wurde Harry Potter zumindest in Deutschland erst in dem Moment zum Verkaufsschlager, in dem neben dem Roman auch die Erfolgsgeschichte der ehemaligen Sozialhilfeempfängerin Joanne K. Rowling das mediale Interesse weckte. Die Auflagenzahlen vervielfältigten sich seit September 1999 und führten erst zu jenem „Harry-Potter-Fieber“ (Bürvenich 2001: 19), das nun von der geradezu fantastischen Geschichte des Aufstiegs eines „Aschenput‐ tels“ (Volkery 2000) zur Star-Autorin am Laufen gehalten wurde. Durch Medienpräsenz und werbewirksame Strategien entstand neben dem Text das seinerseits durch diverse Kanäle generierte Bild einer Erfolgsautorin und verweist eindringlich auf den Wandel der Kommunikation zwischen Autor und Leser in der modernen, multimedialen Gesellschaft (vgl. Bergen‐ thal 2008: 29). Die Leser haben Geschmack gefunden an einer Figur des realen Lebens, die es, ganz wie der Held ihres Romans, von der mittelosen Randfigur an die kapitalstarke Spitze schaffte. Um zu verstehen, wie dies möglich war, müssen wir die Blickrichtung noch einmal wechseln und das Funktionieren einer populärer, sich immer stärker auch auf die Autorperson 130 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="131"?> erstreckenden Literatur im Rahmen einer Institution betrachten, die vom Literaturbetrieb bis ins Showbusiness reicht. 2.1.2.2 Die Erfolgsserie als Produkt der literarischen Institution Bereits bevor Harry Potter von der Hand der Autorin in die Hände der Lesenden gelangte, hatte das Manuskript zahlreiche Instanzen durchlaufen. Seit August 1995 bot Rowling ihren Erstling Harry Potter and the Philoso‐ pher’s Stone zwei Literaturagenten und acht Verlagen an - ohne Erfolg. Der Umfang erschien den Verlagen als zu groß für ein Kinderbuch. Erst im Juli 1996 konnte der Agent Christopher Little den jungen, erst 1986 gegründeten Londoner Bloomsbury Verlag gewinnen. Bereits in dieser Phase also wirkten Akteure des literarischen Betriebs mit, die - mit dem Li‐ teratursoziologen Hans Norbert Fügen gesprochen - als ‚institutionalisierte Vermittler‘ bezeichnet werden können (Fügen 1971). Zu ihnen zählen neben der Agentur und dem Verlag nebst Lektorat auch die Literaturkritik und Buchhandel. Sie alle wirkten und wirken mit an dem Erfolg der Zauberwelt und konstituieren, indem sie ineinandergreifen, den Text als Literatur. Dass es auch Literatur als Institution gibt, wissen wir spätestens seit Peter Bürgers Theorie der Avantgarde (1974). Folgt man Bürger, so fungiert die Institution Literatur als Vermittlungsebene zwischen der Funktion des Einzelwerks und der Gesellschaft. Sie ist eine geschichtliche Variable, deren Veränderungen viel langsamer stattfinden als die Abfolge der einzelnen Werke, womit bereits gesagt ist, dass sich die Texte selbst der Institution zumindest tendenziell anpassen müssen. Dass dies auch für Harry Potter gilt, belegt neben dem enormen Verkaufserfolg auch die Tatsache, dass der erste Roman bereits kurz nach dem Erscheinen mit dem The Guardian Children’s Fiction Prize ausgezeichnet und auch in der Folge reichlich mit Literaturpreisen im In- und Ausland versehen wurde. Der Roman feiert demnach auf beiden relevanten Ebenen frühe Triumphe: auf der materiellen, vom Markt bestimmten und auf der symbolischen, von den Gatekeepern der Literaturkritik und Literaturexperten bespielten Ebene (→ Band 1: I.2). Ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten Bandes war dieser bereits ein internationales Phänomen: Innerhalb von zwei Jahren erschien das Buch in 115 Ländern und 25 Sprachen (vgl. Lipsen 1999). Auch war die Kulturpolitik schnell zur Stelle und ermöglichte der Autorin mit einem Stipendium vom Scottish Arts Council die zügige Arbeit am zweiten Band. 2.1 Medientext und Soziologie 131 <?page no="132"?> Harry Potter fällt damit eindeutig nicht in den Bereich der eingeschränk‐ ten Produktion, d. h. in ein Segment, in dem laut Bourdieu von vornherein nur mit einer kleinen Schicht geschmacklich homogener Konsumenten kalkuliert wird, sondern fällt in das Segment der Massenproduktion, die von Beginn an auf ein breites Publikum setzt. Dieses Segment hat seit den 1960er-Jahren erheblich an Raum gewonnen, was jedoch nicht bedeutet, dass es keine anderen Positionen mehr gibt. Rowling mag, um mit Bour‐ dieu zu sprechen, über einen „Sinn für Platzierungen“ (Bourdieu 1999: 414) verfügen, trifft jedoch gleichwohl auf Gegenpositionen: Der Widerspruch kam, und das ist bezeichnend, von einer Autorengruppe mit gleichfalls renommierten Namen; Stars, die es aber für ihre Lesungen, anders als Joanne K. Rowling im Oktober 2000, nie auf 30.000 Zuhörer im SkyDome von Toronto geschafft haben. Namentlich John Updike, Philip Roth und Saul Bellow protestierten im Jahr 2000 dagegen, dass die bislang veröffentlichten vier Harry Potter-Bände permanent die ersten vier Plätze der Bestseller Liste der New York Times belegen und forderten geschlossen die Einrichtung einer separaten Bestsellerliste für Kinderbücher - eine aus dem Feld selbst erhobene Forderung, der die New York Times schließlich nachkam (vgl. Bürvenich 2001: 22). Dass es eines derartigen Protests überhaupt bedurfte, zeigt an, dass Rowling in jenen Raum des Möglichen vorstoßen konnte, dem laut Bourdieu eine besondere Bedeutung für das Auftauchen des Neuen und den sich daraus ergebenden Kräfteverschiebung innerhalb des literarischen Feldes zukommt. Folgt man Bourdieu, so steht hinter jeder künstlichen Kühnheit eine neue, zunächst außerhalb des Feldes bzw. der Institution entwickelte Disposition mit breiter Akzeptanz (Bourdieu 1999: 372). Mit Sicht auf Harry Potter könnte man bezüglich dieser Disposition mit Bergenthal auf die „Entdeckung einer neuen Kindlichkeit bzw. Jugendkults“ (2008: 20) verwei‐ sen, die heute nicht nur die Literatur, sondern auch die Wissenschaft und Marktstrategen interessiert. Es sind eben nicht nur Kinder, die Harry Potter lesen. Zu mehr als 40 Prozent werden die Romane auch von Erwachsenen gelesen (vgl. Meyer-Gosau 2001: 8). Die Kühnheit auf Seiten der Autorin und der institutionalisierten Vermitt‐ ler ist somit eine relative. Nicht ohne Grund sprach Bourdieu bereits in den 1990er-Jahren von einer „zunehmenden gegenseitigen Durchdringung der Welt der Kunst und der des Geldes“ (Bourdieu 1999: 530). Neue Formen des Kultursponsoring wie auch neue Allianzen zwischen Kulturproduzen‐ ten und Wirtschaftsunternehmen lassen die kulturellen Produktions- und 132 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="133"?> 21 Vergleiche hierzu den noch immer überaus lesenswerten Essay „Über Erfolgsbücher und ihr Publikum“ von Siegfried Kacauer in: Ders., Ornament der Masse (1963/ 1994). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Distributionsmittel unter die „Herrschaft der Wirtschaft“ und damit unter die „Logik der kommerziellen Produktion“ (Bourdieu 1999: 530f.) geraten. Die größte Bedrohung sah Bourdieu in den Medienproduzenten: Als troja‐ nisches Pferd halten mit ihnen Markt, Mode, Staat, Politik und Journalismus ihren Einzug in das Feld der Kulturproduktion (ebd.). Unter dem Diktat der Wirtschaft haben sich die Verhältnisse auf den Kopf gestellt: Wäh‐ rend der lange dominierende Kanon eine Wertung der Literatur von oben (top-down) darstellt, sind mit der Logik kommerzieller Produktion die Bestsellerlisten das entscheidende Wertungskriterium geworden und damit eine Wertung von unten (bottom-up). Ein Bestseller wie Harry Potter bedarf keiner Begründung; die Zahlen sprechen für sich. Doch steht vor allem der Bestseller, wie Siegfried Kracauer lehrt, als Zeichen eines geglückten soziologischen Experiments. 21 Als „Bestseller-Phä‐ nomen“ (Keuschnigg 2012) steht dieses Experiment heute im Zentrum einer sehr reizvollen interdisziplinären Forschung. Diese hat gezeigt, dass die objektive Funktion der Bestsellerlisten heute sowohl in der Marktinfor‐ mation, dem Kundenservice, dem Ausdruck des Zeitgeistes als auch in der Geschmacksbildung gesehen wird. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass Bestsellerlisten einen sich selbst verstärkenden Effekt erzeugen, der mehr bewirkt als Literaturkritik: Erfolg selbst ist erfolgreich. So verstan‐ den, haben wir es auch bei Harry Potter einerseits mit einem sich selbst bestätigenden und verstärkenden System von Kapitaleinsätzen, Rabatten, forcierten Verkäufen und Werbung zu tun, weshalb man innerhalb der Bestsellerforschung den Bestseller heute sogar als Einführung einer neuen Währung in die Literatur betrachtet. Andererseits aber belegen Titel wie Patrick Süskinds Das Parfüm (1985), dass ein langanhaltender Platz auf den Bestsellerlisten schon ein gutes Stück der Wegstrecke in Richtung Kanonisierung sein kann. Ob dies auch für Harry Potter gilt, bleibt abzuwarten. Für eine Kanonisierung spricht der von Paul Bürvenich unterstrichene Befund, dass schon im Jahr 2000 eine Erstausgabe des Erstlings für 6000 Pfund versteigert wurde - und bereits vier Monate später auf 15.000 Pfund taxiert wurde. Folgt man Bürvenich weiter, so zählt Rowling heute mit einer Auflage von über 120 Millionen Exemplaren zweifelsfrei zu den erfolgsreichsten Schriftstellern aller Zeiten, 2.1 Medientext und Soziologie 133 <?page no="134"?> ja kann allein mit Sicht auf den Verkauf der ersten vier Bände nicht einmal der Best- und Longseller Die Bibel mithalten (2001: 25). Dabei fällt auf, dass Top- und Mega-Seller wie Harry Potter scheinbar nur im internationalen Me‐ dienverbund möglich sind, das heißt als Kette von Buch, E-Buch, Hörbuch, Comic, Verfilmung etc (→ Band 1: I.2.3.2). Als Stichworte mögen hier das Konzept des ‚Co-Production Markets‘ und die Adaptionsindustrie stehen, bei denen Akteure verschiedener Medien zusammenkommen und ein reger Handel mit Rechten floriert. Dadurch wird eine literarische Kultur, wie sie auch von Rowling bedient wird, tendenziell zunehmend in die Populärkultur integriert, insbesondere über Adaptionen bzw. Blockbuster. Will man noch gezielter zu dem Punkt vorstoßen, an dem auch die Harry Potter-Romane zu verankern sind, so empfiehlt sich die Studie Das Bestseller-Phänomen (2012) des Soziologen Marc Keuschnigg. Der Autor attestiert den Kulturmärkten extreme Erfolgsungleichheiten: Eine hohe Zahl von Misserfolgen steht hier einigen wenigen extrem erfolgreichen Bestsellern gegenüber. Keuschnigg führt dies auf Konformität unter Käu‐ fern zurück und argumentiert unter Berufung auf empirische Daten, dass zunächst zwischen zwei Mechanismen unterschieden werden müsse: Ad‐ ler- und Rosenmechanismus. Der Rosen-Mechanismus greift bei einem vollständig informierten Akteur, der das beste Produkt kauft, während der Adler-Mechanismus bei einer grundlegenden Entscheidungsunsicherheit in einem eher intransparenten Markt greift. Die Unsicherheitsreduktion er‐ folgt hier entweder durch soziales Lernen, das heißt durch Identifikation mit beziehungsweise Abgrenzung von bestimmten Gruppen (Konformität mit anderen Lesenden als Unsicherheitsreduktion und Konsumkoordination) oder durch die Ausrichtung des Konsums an eigenen, vorangegangenen Konsumhandlungen (Erfahrungslernen, Gewohnheitsnutzen). Zu den Kul‐ turmärkten werden dabei alle Superstarmärkte wie Musik-, Film-, Sport- oder Kunstmärkte gezählt, wobei die Literatur keine besondere Gewichtung erfährt. Anzuknüpfen wäre hier mit Bergenthals umfangreicher Studie Des Zau‐ berlehrlings Künste (2008), die dem Phänomen der extremen Nachfrage‐ konzentration gezielt hinsichtlich der Literatur nachgeht und Harry Potter überzeugend als Beispiel eines neuen, massen-, markt- und medienkompa‐ tiblen Romantypus in der modernen Mediengesellschaft ausweist. Ange‐ sichts des enormen Erfolgs bestehe kein Zweifel, dass auch hier der Best‐ seller auf Konformität unter Käufern als Konsequenz von Lesersteuerung beruht und der ‚Hype‘ um das Werk zu jenen sozialen Zusatzinformationen 134 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="135"?> gehört, die der Konsument für seine Entscheidung braucht. Der Boom selbst beflügelt wiederum das Epigonentum und lässt jenen Nachahmungseffekt greifen, wie er von der Literaturkritik bereits im Jahr 2001 unter dem Titel „Literarischer Zauberboom: Harry Potter auf dem Scheiterhaufen? “ (Holzbach 2001) erfasst wurde. Die Wirkungsmacht einer Form wie die des Bestsellers Harry Potter ist dann auch erheblich, und dies keineswegs allein mit Sicht auf die Literatur und die Leserschaft, sondern auch auf jene zum medialen Komplex angewachsene Institution, welche Literatur überhaupt erst als solche her‐ vorbringt. Erinnert sei abschließend an das Versprechen von Amazon, den vierten Harry Potter-Band am Ersterscheinungstag kostenlos per Express auszuliefern. Die Folgekosten gingen in die Millionen und führten zu einem für das weltweit größte E-Commerce-Unternehmen bedrohlichen Einbruch der Amazon-Aktien (vgl. Büvenich 2001: 21). Amazon aber hat überlebt, der Poker um die Bestseller geht weiter und mit ihm jenes faszinierende literatursoziologische Experiment, an dem wir alle - und dies meint selbst noch die kritischen Strandnachbarn - in irgendeiner Form beteiligt sind. Primärmedien Rowling, J.K.: Harry Potter and the Philosopher’s Stone. London, 1997. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets. London, 1998. Sekundärliteratur Baßler, Moritz (2023). Populärer Realismus: Vom International Style gegenwärtigen Erzählens. München: Beck. Bergenthal, Ursula (2008). Des Zauberlehrlings Künste: „Harry Potter“ als Beispiel für literarische Massenkommunikation in der modernen Mediengesellschaft. Göttingen: Wallstein. Bourdieu, Pierre (1999). Die Regeln der Kunst: Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brückner, Dominik (2003). Geschmack: Untersuchungen zu Wortsemantik und Begriff im 18. und 19.-Jahrhundert. Berlin: de Gruyter. Bürger, Peter (1974). Theorie der Avantgarde. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bürvenich, Paul (2001). Der Zauber des Harry Potter: Analyse eines literarischen Welterfolgs. Berlin/ Bern: Peter Lang. 2.1 Medientext und Soziologie 135 <?page no="136"?> Dallach, Christoph/ Rowling, Joanne K. (2000). „Ich komme mir vor wie ein Spice Girl“: Die britische Schriftstellerin Joanne K. Rowling über den Erfolg ihres Märchenhelden Harry Potter und ihr neues Leben als Popstar. kulturSpiegel. Abrufbar unter: https: / / magazin.spiegel.de/ EpubDelivery/ spiegel/ pdf/ 16352599 (Stand: 18/ 02/ 2023). Eco, Umberto (1989). The Structure of Bad Taste (1964). In: Ders., The Open Work. Cambridge: Harvard University Press. Fiske, John (2000). Populäre Urteilskraft. In: Göttlich, Udo/ Winter, Rainer (Hrsg.) Politik des Vergnügens: Zur Diskussion der Populärkultur in den Cultural Studies. Köln: Halem, 53-74. Fügen, Hans Norbert (1971). Wege der Literatursoziologie. Neuwied: Luchterhand. Göttlich, Udo/ Albrecht, Clemens/ Gebhardt, Winfried (Hrsg.) (2002). Populäre Kultur als repräsentative Kultur: Die Herausforderungen der Cultural Studies. Köln: Halem. Haug, Christine (Hrsg.) (2012). Bestseller und Bestseller-Forschung (=-Kodex 2). Wiesbaden: Harrassowitz. Holzbach, Heidrun (2001). Literarischer Zauberboom: Harry Potter auf dem Schei‐ terhaufen? Spiegel onlone. Abrufbar unter: https: / / www.spiegel.de/ kultur/ literat ur/ literarischer-zauberboom-harry-potter-auf-den-scheiterhaufen-a-119757.htm l (Stand: 07/ 05/ 2023). Houghton, John (2001). Was bringt Harry Potter unseren Kindern? Chancen und Nebenwirkungen des Millionen-Bestsellers. Basel: Brunnen-Verlag. Keuschnigg, Marc (2012). Das Bestseller-Phänomen. Die Entstehung von Nachfrage‐ konzentration im Buchmarkt. Wiesbaden: Springer VS. Kracauer, Siegfried (1963/ 1994). Das Ornament der Masse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lipsen, Eden Ross (1999). Book’s Quirky Hero and Fantasy Win the Young. The New York Times on the Web. Abrufbar unter: https: / / archive.nytimes.com/ www.nytim es.com/ library/ books/ 071299potter-sales.html (Stand: 06/ 03/ 2023). Löwenthal, Leo (1964). Literatur und Gesellschaft: Das Buch in der Massenkultur. Neuwied a. Rhein: Luchterhand. Lukács, Georg (1910/ 1973). Zur Theorie der Literaturgeschichte (1910 unter dem Titel „Zur Methodologie der Literaturgeschichte“ in der Übersetzung von Denes Zalan). Wieder abgedruckt in: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur 39/ 40: 10, 24-51. Lukács, Georg (1920). Die Theorie des Romans: Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin: Cassirer. Macdonald, Dwight (1960). Masscult and Midcult. Partisan Review 27: 4. Magerski, Christine (2004). Die Konstituierung des literarischen Feldes nach 1871. Ber‐ liner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie. Tübingen: Niemeyer. 136 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="137"?> Methodolo‐ gische Grundla‐ gen Magerski, Christine (2015). Schule machen. Zur Geschichte und Aktualität der Literatursoziologie. Zagreber Germanistische Beiträge 24, 193-220. Magerski, Christine/ Karpenstein-Eßbach, Christa (2019). Literatursoziologie. Grund‐ lagen, Problemstellungen und Theorien. Wiesbaden: Springer VS. Magerski, Christine (2021). Von der formalen Soziologie zur formalen Literatursozio‐ logie. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 46: 2, 546-566. Makropoulos, Michael (2008). Theorie der Massenkultur. Paderborn: Fink. Meyer-Gosau, Frauke (2001). Potterismus: Was der deutschen Gegenwartsliteratur fehlt - und Harry hat’s. In: Kutzmutz, Olaf (Hrsg.) Harry Potter oder Warum wir Zauber brauchen. Wolfenbüttel: Bundesakademie für kulturelle Bildung, 7-9. Scharfschwert, Jürgen (1977). Grundprobleme der Literatursoziologie: Ein wissen‐ schaftlicher Überblick. Stuttgart: Kohlhammer. Schücking, Levin L. (1923). Die Soziologie der literarischen Geschmackbildung. Mün‐ chen: Roesl & Cie. Silbermann, Alphons (1981). Einführung in die Literatursoziologie. München: Olden‐ bourg. Volkery, Carsten (2000). Stephen Kings Urteil: Harry Potter ist ein männliches Aschenputtel. Spiegel Online. Abrufbar unter: https: / / www.spiegel.de/ kultur/ liter atur/ stephen-kings-urteil-harry-potter-ist-ein-maennliches-aschenputtel-a-8653 6.html (Stand: 12/ 02/ 2023). 2.2 Postkoloniale Perspektiven auf die Wizarding World: „Magic is Might“? Magdalena Kißling Literatur postkolonial zu lesen ist inzwischen ein etabliertes Verfahren. Der Anstoß hierfür kam aus den English Departments einiger US-ame‐ rikanischer und britischer Universitäten. Methodologisch an den antiko‐ lonialen Theoriediskurs der 1940erbis 1960er-Jahre anschließend (u. a. Aimé Césaire, Frantz Fanon, Albert Memmi) und in der französischen Theorietradition des 20. Jahrhunderts stehend (u. a. Michel Foucault, Jacques Derrida (→ Band 3: II.1.2), legten v. a. Edward Said, Homi K. Bhabha und Gayatri Chakravorty Spivak einschlägige Arbeiten zur Verhältnisbestim‐ mung von Literatur und Imperialismus vor. Ihre methodologischen Überlegungen, die sich in erster Linie auf die moderne englische und fran‐ zösische Literatur beziehen, werden seit den späten 1990er-Jahren für die 2.2 Postkoloniale Perspektiven 137 <?page no="138"?> deutschsprachige Literatur adaptiert. Wegweisend hierfür waren Arbeiten der amerikanischen Germanistik (u. a. Berman 1998, Friedrichsmeyer et al. 1998, Lützeler 1997, Zantop 1997). Heute sind die Postcolonial Studies fester Bestandteil und Teilbereich der deutschsprachigen Literaturwissenschaft (u. a. Dunker 2005, Dürbeck & Dunker 2014, Dürbeck et al. 2017). Ihre methodischen Verfahren sind dabei so vielfältig wie der Charakter des kolonialen Diskurses selbst. Sie reichen vom Re-Writing über Hybridität zu diskursanalytischen Verfahren. Merkkasten: Vordenker: innen und Wegbereiter: innen Frankophone antikoloniale Theorie (1930er-60er) Aimé Césaire: Cahir d’un retour au pays natal/ Notizen von einer Rückkehr (1932 [1954]); Discours sur le coloni‐ alisme/ Über den Kolonialismus (1968 [1950]): Stimme des antagonistischen Postkolonialismus; Bezeichnung der Kolonialisierung als Akt der Barbarei und Perspek‐ tivwechsel auf Entzivilisierung der Kolonisator: innen; Namensgeber mit Langgedicht (1932) der Negritude-Be‐ wegung Frantz Fanon: Peau noire, masques blancs/ Schwarze Haut, weiße Masken (1952 [1980]), Les damnés de la terre/ Die Verdammten der Erde (1961 [1966]): Verweis auf beidseitige Neurose infolge der Internalisierung des kolonialen Erziehungsgedankens, Schwarze als wesens‐ mäßig schlecht anzusehen; Beobachtung des Begehrens Schwarzer nach Annäherung an koloniale Kultur und Sprache; Annahme des Umschlags kolonialer Gewalt in Gegengewalt, die sich später in postkolonialen Wri‐ ting-Back-Paradigma bestätigt Albert Memmi: Portrait du colonisé/ Portrait des Kolo‐ nisierten (1957), Portrait du colonisateur/ Portrait des Kolonisators (1980): Verweis auf die Notwendigkeit der Entkolonialisierung bei zeitgleicher Problematisierung der Interdependenz zwischen Kolonisierten und Kolo‐ nisierenden 138 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="139"?> Französische Theorietradition (1960er-90er) Michel Foucault: Archäologie des Wissens (1973), Die Ordnung des Diskurses (1997): Begründung der histo‐ rischen Diskursanalyse, die aufzeigt, dass Diskurse in Gesellschaften Aussagesysteme mittels Selektion, Kanalisierung, Aneignung und Ausschließung kontrol‐ lieren und ordnen und darüber regulierend in gesell‐ schaftskulturelle Praktiken eingreifen; Methode zur Analyse von Diskursserien mit ihren spezifischen Er‐ scheinungs-, Wachstums- und Veränderungsbedingun‐ gen Jacques Derrida: De la Grammatologie (1967): Begrün‐ dung dekonstruktivistischer Praxis, über die binäre Oppositionen zu durchbrechen und bestehende Herr‐ schaftsverhältnisse zu destabilisieren möglich scheinen Amerikanische Germanistik (1990er) Susanne Zantop: Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770-1870 (1997); Russell A. Berman: Enlightenment or Empire. Colonial Discourse in German Culture (1998); Sara Friedrichs‐ meyer, Sara Lennox & Susanne Zantop: The Imperi‐ alist Imagination. German Colonialism and Its Legacy (1998); Paul Lützeler: Der postkoloniale Blick. Deut‐ sche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt (1997): Übertragung postkolonialer Theorieansätze auf germa‐ nistische Forschungszusammenhänge durch Aufzeigen der bisher negierten Interferenzen zwischen Kolonial‐ diskursen und deutschsprachiger Literatur während und jenseits aktiver Beteiligung an der europäischen Kolonisierung Germanistik im deutschsprachi‐ gen Raum (2000er-) Axel Dunker: (Post-)Kolonialismus und Deutsche Lite‐ ratur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie (2005); Gabriele Dürbeck & Axel Dunker: Postkoloniale Ger‐ manistik. Be-standsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren (2014); 2.2 Postkoloniale Perspektiven 139 <?page no="140"?> Kolonialpo‐ litik und Identitäts‐ fragen Dirk Göttsche, Axel Dunker & Gabriele Dürbeck: Handbuch Postkolonialismus und Literatur (2017): Auf‐ greifen der Impulse aus der amerikanischen Germa‐ nistik; Etablierung einer postkolonialen Germanistik durch methodologische Ausdifferenzierung postkolo‐ nialer Theorien, breite Relektüren kanonischer Texte und Kanonisierung postkolonialer Literatur 2.2.1 Warum postkolonial lesen? Zum Verhältnis von Kolonialismus und Literatur Die Kolonialgeschichte beginnt in ihrer frühen Phase im 16. Jahrhundert und ist bis heute nicht abgeschlossen. So kämpfen einzelne Kolonien nach wie vor um ihre Unabhängigkeit, die Aufarbeitung der Gräueltaten, die Rückgabe kolonialer Kunstbeute und Reparationszahlungen. Neben den ökonomischen Folgen der europäischen Kolonialpolitik zeigt sich auch in nationalen Identitätsfragen eine tiefe Prägung, insofern das gesamte west‐ liche Selbstverständnis auf dem konstruierten Binarismus westlicher Überlegenheit und subalterner Rückständigkeit beruht (vgl. Reckwitz 2017: 406), der den Kolonialmächten als Legitimationslegende galt. Zen‐ traler Akteur der Expansionspolitik war Großbritannien, aber auch das Deutsche Reich, das um 1900 zum viertgrößten Kolonialreich avancierte. Anfang des 20. Jahrhunderts war in etwa die Hälfte des Festlandes mit Kolonien bedeckt und rund zwei Fünftel der Weltbevölkerung unterstan‐ den der kolonialen Herrschaft. Dass die Literatur nicht losgelöst von der imperialen Denk- und Handlungslogik blieb, sondern (prä-)koloniale Diskurse mitgestaltete, disseminierte und punktuell subvertierte, ist eine der grundlegenden Annahmen postkolonialer Theorie. Zugrunde liegt ihr die Beobachtung, dass der kolonialrassistische Diskurs selbstverständlicher Bestandteil des Blicks auf die Welt ist, so dass er nicht eigens thematisiert werden muss, um innerhalb der Textwelt integriert zu sein. Zudem zeigt sich, dass die Faktur der Texte (Erzählperspektive, Figurenzeichnung/ -kon‐ stellation, sprachliche Gestaltungsmittel, Raumsemantik, Intertexte) von einer „Struktur der Ungleichheit, der Disproportion, der Asymmetrie, der Hierarchisierung“ (Dunker 2008: 2) geprägt ist. 140 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="141"?> Orienta‐ lism Verortung von Kultur 2.2.1.1 Wie postkolonial lesen? Methodologische Ansätze Bahnbrechend für den Ansatz, Literatur in ihrer spezifischen Funktion für das europäische Kolonisierungsprojekt zu untersuchen, war Edward Saids Studie Orientalism (1979 [1978]), die einen Paradigmenwechsel einleitete. Anhand zahlreicher Textlektüren des 18. und 19. Jahrhun‐ derts zeichnet die Studie nach, dass Literatur integraler Bestandteil des Kolonialismus war, insofern von ihr „a sort of regulatory social presence“ (Said 1994: 73) auf Wahrnehmungsweisen und Einstellungen ausgeht. Deutlich macht Said dabei, dass die literarischen Textwelten keine realhistorischen Diskurse repräsentieren, sondern über bestimmte literarische Verfahren, Stile und Erzählformen ein Wissen über den Orient erzeugen und regulieren: Orientalism „became not merely a style of representation but a language, indeed a means of creation“ (Said 1979: 87). Literatur nehme die Rolle eines „special agent of Western power“ (ebd.: 223) ein und sei daher nicht losgelöst vom Kolonialdiskurs zu verstehen, Literatur und Kolonialdiskurs seien vielmehr „unthinkable without each other“ (Said 1994: 70f.). In einer zweiten Studie Culture and Imperialism (1994) differenziert Said die Rolle von Literatur im kolonialen Projekt und berücksichtigt im methodischen Zugriff auf Literatur stärker Ambivalenzen, indem er seine Textlektüren um das erweitert „what was once forcibly excluded“ (Said 1994: 66); gemeint ist das Widerständige nar‐ rativer und sozialer Strukturen gegen das imperiale Projekt. Das Verfahren bezeichnet er als „contrapuntal reading“ (ebd.: 66). Mit Widersprüchen und Ambivalenzen befasst sich auch Homi K. Bhabha. In seinem Werk The Location of Culture (1994) betont er, dass Wissensproduktionen über den kolonisierten Anderen nicht in einem ho‐ mogenen Diskursraum stattfinden. Am Beispiel subalterner Beamtenschaft (z. B. Dolmetscher: innen) zeigt er auf, dass sich Subalterne der Kolonial‐ macht annähern, worüber eine doppelte Dynamik aus Ähnlichkeit und Differenz (vgl. Patrut & Zink 2022: 11) entsteht, die eindeutige Identitäts‐ zuordnungen verwehrt. Wie folgt bringt er diese Dynamik zum Ausdruck, die sichtbar macht, dass der Annäherungsprozess nie gelingt: „a class of persons Indian in blood and colour, but English in tastes, in opinions, in morals and in intellect“ (Bhabha 1994: 87). Er bezeichnet diese Annäherung („almost the same, but not quite“; ebd.: 86) als „discourse of mimicry“ (ebd.) und verortet ihn in einem dritten Raum (third space; ebd.: 36), in dem sich ein unaufhaltsamer Prozess der Neubegründung und (Re-)Konstruk‐ 2.2 Postkoloniale Perspektiven 141 <?page no="142"?> Asyn‐ chrone Sprechsitu‐ ationen Verfahren postkolo‐ nialer Ana‐ lysen tion kultureller Identität vollzieht. Das Besondere an diesem Raum ist, dass er weder von den Kolonisierenden noch von den Kolonisierten greif- und beherrschbar ist. Methodisch fassen lassen sich seine Überlegungen unter dem Konzept der Hybridität (→-Band 3: II.2.3). Mit Gayatri Chakravorty Spivak rücken politische Möglichkeits‐ rahmen des Sprechens in den Fokus. In ihrem viel zitierten Essay Can the Subaltern Speak? (1988) sowie weiteren Arbeiten geht sie Fragen der Re‐ präsentation und Überlegungen zur Standpunktgebundenheit im Sprechen und Handeln nach. In ihrer Auseinandersetzung mit Repräsentationsfragen unterscheidet sie zwei Formen: ein ‚Sprechen über‘, das einer Logik der Vor-Stellung entspricht und v. a. im Bereich der Kunst anzutreffen ist, und ein ‚Sprechen für‘ im Sinn der politischen Vertretung (vgl. Spivak 1988: 275). Die Repräsentation in Gestalt der Vor-Stellung erweist sich ihr zufolge als das eindeutigste Projekt epistemischer Gewalt (vgl. ebd.: 280f.), weil sie die Spuren des ‚Anderen‘ in seiner prekären Subjektivität aus‐ löscht. Infolge von jahrhundertelangen Prozessen der Verschleierung und Fremdzeichnung sei nur noch schwer nachzuzeichnen, was ein ‚authenti‐ sches kolonisiertes Subjekt‘ überhaut ist (vgl. Spivak 2008: 237). Die Existenz eines subalternen Subjekts, das autonom für sich sprechen kann, stellt sie entsprechend infrage, fordert aber dennoch sprachliche Markierungen asymmetrischer Sprechpositionen ein. Ein strategischer Essenzialismus soll mittels „concept-metaphors“ (Spivak 2009: 3) politische Sichtbarkeit subal‐ terner Perspektiven ermöglichen. Den Einsatz solcher Begriffsmetaphern (z. B. BIPoC) knüpft sie dabei an Bedingungen, um Vorstellungen vom subalternen Subjekt nicht zu re-essentialisieren: Die Begriffsmetaphern, auch Masterwords genannt, stellen keine identitären Begriffe dar und sind folglich nicht zu verwechseln mit der Suchbewegung nach einem inneren Kern des Subjekts. Sie sind lediglich zweckgebunden einzusetzen und stets zu hinterfragen, da sich das subalterne Subjekt in seiner Singularität jeglicher Exemplarität entzieht. Schließlich haben sie einen provisorischen Charakter und sind daher auf ihre Überwindung ausgerichtet (vgl. Spivak 2008: 135, Spivak 2005: 476, Spivak 1996: 162). Ausgehend von den theoretisch-methodischen Überlegungen, die auf machtkritischen Beobachtungen fußen, haben sich für den deutschspra‐ chigen Raum verschiedene Verfahren herausgebildet: die postkoloniale Erzähltheorie (Birk & Neumann 2002), die kontrapunktische Lektüre (Dunker 2008) oder die postkoloniale Diskursanalyse (Kißling 2020), die je nach Ansatz dem einen Theoretiker oder der anderen Theoretikerin 142 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="143"?> stärker folgen, sich jedoch darin gleichen, eine diskurskritisch geprägte Analyseperspektive auf das Verhältnis von Literatur und Kolonialismus in materieller wie symbolischer Hinsicht zu werfen. Texte postkolonial neu zu lesen bedeutet zusammengefasst, (Sprach-)Bilder und Diskurse, die durch Raumsemantiken, Intertexte sowie Figuren/ -konstellationen und Figurenrede zur Darstellung kommen (→-Band 1: II.3.2.2), machtkritisch zu untersuchen. 2.2.1.2 Analysekategorien und Fragen für eine postkoloniale Analyse Figurenzeichnung Welche Funktion spielen ethnische Differenzmarker, die ins‐ besondere innerhalb interkultureller Geschlechterbeziehungen häufig „Modelle für ganze Gesellschaftsentwürfe abgeben“ (Dun‐ ker 2008: 10), für die Narration? Inwiefern zeigt sich durch die figurale und/ oder auktoriale Figurendarstellung Weißsein als ein machtvolles Konstrukt oder fragiler Besitz? Perspektiven‐ struktur Inwiefern öffnen bzw. verschließen sich über Figurenrede sowie Fokalisierungs- und Erzählinstanzen Erzählperspektiven? Wel‐ che Standpunktgebundenheit nehmen die jeweiligen Stimmen in ethisch-politischer Dimension, die eine rein narratologische Äu‐ ßerungsebene überschreiten, ein: öffnet sich in der Dialogizität und Stimmenvielfalt ein „Schwarze[s] Wissensarchiv“ (Eggers 2005: 18), das ein postkoloniales Potenzial der Texte realisiert und Repräsentationsverhältnisse diskutiert, oder reproduziert sich (trotz Vielstimmigkeit) ein weißer Blick? Raumsemantik Inwiefern lassen sich (imaginierte) Räume metaphorisch lesen und wirkungsästhetisch deuten? In welchem Verhältnis stehen vertraute und exotisierte Landschaften? Welche Wirkung entfal‐ ten Imaginationen vom ‚leeren‘ Raum, der suggeriert, es hätte zuvor kein Kulturleben in den kolonisierten Gebieten gegeben? Intertexte Welches (koloniale) Wissen fließt von Prätexten mit welcher Funktion in den Ausgangstext? 2.2 Postkoloniale Perspektiven 143 <?page no="144"?> Sprache Welche kolonialen Semantiken lassen sich in rassistisch flektier‐ ten Wörtern mit welcher Funktion und Wirkung für den Text freilegen? Inwiefern hat die ästhetische Sprache das Potenzial zur Verletzung oder zeigt sich als Akt der Aneignung und Wider‐ ständigkeit? Sprachliche Gestaltungs‐ mittel Inwiefern tragen verwendete sprachliche Mittel zur Aufrechter‐ haltung eines hegemonialen Weltblicks bei? Lassen sich z. B. sprachliche Mittel wie ‚economy of stereotype‘, über das ein ras‐ sistisches Stereotyp zur Zeichnung eines schnellen und einfachen Bildes aufgerufen wird, wiederfinden, oder eine metonymische Verschiebung, die zur Folge hat, das nicht das aufgerufene Ste‐ reotyp, sondern das über das stereotype Bild Vermittelte in den Untersuchungsfokus rückt. Darstellung auf Basis von Kißling 2020: 132f. Merkkasten: Schwarze Wissensarchive, weiße Blicke und ras‐ sistisch flektierte Sprache - eine Begriffsklärung Als outsider within trugen kolonisierte Schwarze Frauen, die in weißen Haushalten arbeiteten, einen enormen Fundus an Beobachtungen über Weiße zusammen, der mit der Idee der Alltagsbewältigung und Überlebenssicherung in Form von Predigten, Parabeln, Liedern, Erzählungen und Sprichwörtern mündlich weitergegeben wurde und seit dem 18. Jahrhundert Eingang in verschriftete Slave Narratives fand. Eggers (2005) bezeichnet dieses tradierte Wissen in Rekurs auf bell hooks (1992) als Schwarzes Wissensarchiv. Die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Toni Morrison machte sich zum Projekt, den Blick vom rassifizierten Objekt, das von Weißen beschrieben und imaginiert wurde, zu den Beschreibenden und Imagi‐ nierenden zu verschieben (1992: 90). Sie entwickelte Analyseverfahren für literarische Texte zur Rekonstruktion, wie Weiße mit welchen Folgen für beide Seiten stereotype Vorstellungen über (ehemals) ko‐ lonisierte Subjekte und Räume hervorbringen. Sichtbar wird darüber ein zurichtender Blick, den Natasha Kelly auch als „eurozentrischen Blick“ bezeichnet (2010: 165). Toni Morrison verweist darauf, dass Sprache in einer von rassischen Vorurteilen geprägten Gesellschaft 144 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="145"?> stets „racially inflected“ (1992: 13) ist; gemeint ist damit, dass sich Sprache nicht jenseits rassistischer Denk- und Argumentationslogik bewegt. Übersetzt wird diese Markierung von Sprache als ‚rassistisch flektiert‘ auch mit ‚rassisch gebeugter Sprache‘ (Morrison 1994: 34). 2.2.2 (Post)Koloniale Logiken und Subversionen des Kolonialdiskurses in der Wizarding World Je nach Text bzw. Medium kann eine postkoloniale Analyse sehr unter‐ schiedlich ausfallen, ein schematisches Abarbeiten der genannten Analy‐ sekategorien ist nicht intendiert. Die Stärke des Analyseverfahrens liegt vielmehr darin, dass die Theoriebezüge zu den Postcolonial Studies die sys‐ tematische Entwicklung von Fragen an die Storyworld (→ Band 1: II.3.2.3.3) erlauben, die nicht nur sichtbar machen, wo die Harry Potter-Bücher an kolonialrassistischen Logiken partizipieren und hierarchische Strukturen affirmieren, sondern auch auf Subversionen des Kolonialdiskurses verwei‐ sen. Ausgehend von diesen theorieinspirierten Fragen geraten nachstehend literarische Darstellungen der Storyworld in den Blick. In den Fokus rücken die hierarchisch gegliederte Storyworld, die Funktion des Blutsrechts als Statussymbol, die Farbsymbolik, ethnische Markierungen in der Figuren‐ zeichnung und intertextuelle Bezüge zur Sklaverei über die Hauselfen. Werden an diesen ausgewählten Darstellungselementen zunächst koloniale Logiken aufgezeigt, verweist ein anschließendes Kapitel auf Ambivalenzen und Brüche innerhalb der Storyworld. 2.2.2.1 Die hierarchisch gegliederte Storyworld In der Storyworld treten Zauberer und Hexen, Zauberwesen und Muggel auf, die in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. In der Rangordnung unten stehen aus Sicht der Zauberer und Hexen die Muggel, die Großbritannien überschwemmen und ihnen nur wenig ‚reinrassige‘ Räume - wie die Enklave Hogsmeade - lassen. Die diskursive Abgren‐ zung von den Muggel wird ‚rasselogisch‘ erzeugt. Mit den Worten „Oh dear, is this the Muggle-born? Bad posture and skinny ankles“ (DH: 142) verbindet Auntie Muriel Körperzeichen (Knöchel) der muggelstämmigen Hermione vorurteilsgeleitet mit ethnischer Zugehörigkeit (‚Muggle-born‘) und zieht damit eine naturgegebene Grenze zwischen Muggel- und 2.2 Postkoloniale Perspektiven 145 <?page no="146"?> Zaubergeschlecht, die in der Storyworld weit verbreitet ist. Muggel werden in ihren Fähigkeiten Tieren und minderbegabten Wesen gleichgesetzt, die zum eigenen Wohl der Führung bedürfen („wizard dominance“; DH: 291, vgl. auch ebd.: 199, 457, 462). Auch wird ihr technischer Fortschritt (z. B. Telefon) als rückständig belächelt (vgl. OoP: 115), so dass aus Perspektive der sich als superior inszenierenden Zauberer und Hexen interkultureller Austausch unproduktiv bis unmöglich erscheint. Hierarchisch zwischen Muggel und Zauberer/ Hexen verorten sich die Zauberwesen, u. a. Werwölfe, Hauselfen, Veela, Riesen, Goblins oder Zentauren. Innerhalb der Zauberwelt erleben sie Diskriminierung, Ausbeutung und materiellen Ausschluss. So wird ihnen, infolge eines niedergeschlagenen Goblin-Aufstandes im 18. Jahrhun‐ dert, der an die zahlreichen Aufstände und Revolten gegen die britische Kolonialherrschaft in Indien im 18. und 19. Jahrhundert erinnert, das Recht auf einen Zauberstab verwehrt (u. a. DH: 378, 394, 395). Werwölfe verwirken zudem das Recht auf Arbeit und mit dieser fehlenden Erlaubnis materielle Zugänge (vgl. OoP: 281, PoA: 261), Veela wiederum werden exotisiert und analog zur Schwarzen Frau zur femme fatale stigmatisiert. Dass Schwarzen Frauen in der Funktion eines Gegenbilds zur passiven, keuschen weißen Weiblichkeit ein tierischer Sexualtrieb unterstellt und ein übersexuali‐ sierter Körper zugeschrieben wurde, der sich auf eine nach heutigen Wissenschaftsstandards nicht aufrechtzuhaltende Vermessung Schwarzer Körper stützte (vgl. Parbey 2020: o.S.), blitzt in der Figur der Veela auf. Hauselfen gelten wiederum von Natur aus als unterwürfig (vgl. OoP: 100, 143f.) und Riesen als vorzivilisatorisches Volk, das über minder entwickelte Technik verfügt, Auseinandersetzungen stets blutrünstig und gewalttätig löst und kaum dazu fähig ist, eine Sprache zu lernen (vgl. HBP: 217, 599f., OoP: 640). Auch hier scheint eine Parallele zur ‚Rasselehre‘ des 18.-Jahrhun‐ derts unverkennbar: Die Riesen erinnern an den homme sauvage, der klimatisch bedingt im Vergleich zum homme civilisé angeblich weniger Verstandeskraft ausbilde und daher nur schwer zu zivilisieren sei (Kohl 1986: 141f., 152). Sichtbar wird diese weitverbreitete Einstellung u. a. an Harry und Hermione, die Hagrid davon überzeugen, dass sein Versuch, seinen Halbbruder Grawp zu zähmen, notwendigerweise scheitern muss und vollbürtige Riesen („violent giant“) unter ihresgleichen zu bleiben haben (OoP: 639). Vergleichbares gilt für die Zentauren, die nur beinahe menschli‐ che Intelligenz besitzen und daher als „unkontrollierte Tiere“ fern zu halten seien, wie es Dolores Umbridge ihren Schüler: innen in Hogwarts lehrt (vgl. ebd.: 693f.). Der deprivilegierte Status der Zauberwesen wird dabei oft 146 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="147"?> sprachlich manifestiert: Elfen oder Riesen sprechen in Dialekten. Stabilisiert wird das hierarchische Gesellschaftssystem über unterschiedliche Rangfol‐ gen innerhalb der Klasse der Zauberwesen. Hagrid findet beispielsweise als Halbriese weniger Anerkennung als Fleur mit ihrem Veelaerbe. Auch hier zeigen sich Parallelen zum Kolonialdiskurs, der innere Differenzierungen gezielt nutzte, um interne Konkurrenzen zu schaffen, die ein Verbünden gegen die Vorherrschenden verhinderte. Neben diesen internen Hierarchien unter den Kolonisierten sorgten Gesetze und Gebote zum Schutz der ‚Rein‐ rassigkeit‘ dafür, die hierarchische Struktur aufrechtzuhalten. Auch diese Logik findet sich in der Storyworld wieder, insofern die Heirat zwischen Zauberern/ Hexen und Werwölfen zwar nicht verboten, aber doch sozial geächtet ist (vgl. hierzu auch Linzer 2009: 164). Vergleichbare Prozesse der Abwertung und Ausgrenzung finden ihr Abbild in der Muggel-Welt. So bezeichnen die Dursleys Zauberer und Hexen als „freak[s]“ und „abnormal“ (PS: 44), woran deutlich wird, wie tief durchdrungen rassistische Haltungs- und Handlungsweisen über alle ethnischen Gruppen hinweg sind (→ Band 3: II.2.5). 2.2.2.2 Blutsrecht als Statussymbol Die auf ‚Rasselogik‘ basierende Gesellschaftshierarchie, die Machtstruktu‐ ren in der Storyworld zementiert, findet sich durch die Unterscheidung zwischen ‚pure-blood‘, ‚half-blood‘ und ‚muggle-born‘ auch innerhalb der Klasse der Zauberer und Hexen wieder. Die ‚pure-bloods‘ blicken auf eine ‚reinrassige‘ Erblinie und erheben entsprechend ihres Blutsstatus eine natürlich bedingte Machtposition, die insbesondere in den Bänden Harry Potter and the Chamber of Secrets (1998) und Harry Potter and the Goblet of Fire (2000) verhandelt wird. Aus ‚pure-blood‘-Perspektive sind ‚half-bloods‘ und ‚muggle-born‘ minderwertig; die letztgenannte Gruppe wird als Diebin der ‚pure-blood‘-Magie diskreditiert (vgl. u. a. DH: 214). Begründet liegt die Minderwertigkeit im Blutsrecht, demzufolge Staatsrechte ausschließlich genetisch und nicht über den Geburtsort (Bodenrecht) verliehen wird (vgl. bpb). Sein realhistorisches Vorbild findet das Blutsrecht in Ländern wie Deutschland, das erst seit dem Jahr 2000 das Blutsum das Bodenrecht ergänzte. In der Storyworld führt der Kampf um Durchsetzung des Blutsrechts, der traditionell von Slytherins geführt wird und ‚half ‘- und ‚muggle-born‘ Bildungszugänge verschließen würde, zu Diskriminierungen und sogar Todesfällen. So ist die Maulende Myrte ein Todesopfer dieses 2.2 Postkoloniale Perspektiven 147 <?page no="148"?> Konflikts (vgl. CoS: 298) und ‚muggle-born‘ sehen sich alltäglich Beleidigun‐ gen wie folgenden ausgesetzt: „No one asked your opinion, you filthy little Mudblood“ (ebd.: 117). Der Ausdruck ‚Mudblood‘ (Schlammblüter) ist dabei als ein verletzender Ausdruck zu verstehen: „[e]verybody present knew that ‚Mudblood‘ was a very offensive term for a witch or wizard of Muggle parentage“ (GoF: 110). Wenn auch nicht in der Wirkungsästhetik, so ist das Schimpfwort doch in der Funktion vergleichbar mit rassistisch flektierten Wörtern wie dem N-Wort zu beurteilen, das in der kolonialen Welt des 18. und 19. Jahrhunderts der Etablierung und Aufrechterhaltung konstruierter Machthierarchien diente (vgl. Kellermeier-Rehbein 2022: 79). 2.2.3 dark and bright - christliche Farbsymbolik Die Storyworld operiert über ‚Rassekonzepte‘ und verletzende Wörter hinaus mit einer spezifischen Farbsymbolik: Die meisten bösen Charaktere (‚Dark Wizard‘) sind dunkel und hässlich gezeichnet. Insbesondere Lord Voldemord ist körperlich entstellt (→ Band 3: II.2.5) und die Todesser: innen sind in schwarze Kapuzengewänder und Masken gehüllt. Auch Severus Snape, ein ehemaliger Anhänger des Dark Lord und Hogwarts-Lehrer für Zaubertränke, ist mit seinen schwarzen, fettigen Haaren stereotyp als düstere und abstoßende Figur inszeniert. Hinzu kommt bei ihm, wie bei wei‐ teren düsteren Gestalten - allen voran den Goblins -, die Hakennase als ein antisemitische Klischees transportierendes Symbol der Unzuverlässigkeit, Hinterlistigkeit und Gewitztheit (vgl. hierzu auch Linzer 2009: 127). Die ‚gu‐ ten‘ Figuren hingegen sind hell und wohlgestaltet dargestellt. Zurückführen lässt sich diese hell/ dunkel-Farbsymbolik auf die traditionelle christliche Farbenlehre, der zufolge die Farbe Schwarz dem Teuflischen und die Farbe Weiß der Reinheit zugeordnet ist. ‚Rassetheorien‘, die insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert zur Hochzeit des europäischen Kolonialismus prägende Kraft entfalteten, machten sich diese in westlichen Kulturen verankerte Farbsymbolik zu eigen: Europa konstruierte sich als weiß und die Bevölkerung der kolonisierten Gebiete als Schwarz (vgl. Arndt 2015: 653; Opitz 1992: 133). Hautfarbe, die im präkolonialen Zeitalter noch nicht als Distinktionsmerkmal galt, wurde zum Marker sozialer Positioniertheit, über den gesellschaftliche Zugänge und Privilegien reguliert wurden. Aus einer religiösen Farbkonnotation erwuchs ein Gesellschaften strukturie‐ rendes ‚Rassekonzept‘ (vgl. Arndt 2015: 653), das über die Farbsymbolik der Storyworld wieder aufgerufen wird, insofern die Farben Weiß und 148 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="149"?> Schwarz die rassifizierenden Konnotationen in Synergie zur christlichen Gut/ Böse-Symbolik aufgenommen haben. Die dunkle und abstoßende äußere Gestalt der bösen Charaktere liest sich in postkolonialer Perspektive also nicht nur als Metapher für innere Hässlichkeit, sondern ruft ebenso Vorstellungen über den gefährlichen kolonialen Anderen auf (→ Band 3: II.2.3). Mit Toni Morrison lässt sich diese in der Literaturgeschichte gängige Farbsymbolik ebenso wie die Verwendung antisemitischer Vorur‐ teile als ‚economy of stereotype‘ bezeichnen. Zu verstehen ist darunter ein sprachliches Gestaltungsmittel, das „a quick and easy image without the responsibility of specificity“ (Morrison 1992: 67) erlaubt. Morrison ge‐ lingt mit dieser Bezeichnung dafür zu sensibilisieren, dass sprachliche Gestaltungsmittel zwar traditionsreich und funktional sein können, sich zugleich aber aus Schwarzer Perspektive als problematisch erweisen, weil sie koloniale Stereotype fortschreiben, anstelle sie zu dekonstruieren. 2.2.4 Semantische Räume und ethnische Figurenmarker Die Storyworld beschreibt fantastische Räume, verweist auf ost- und außer‐ europäische Orte und lässt Figuren aus anderen Kontinenten auftreten, ein eurozentrischer Blick wird dabei kaum überschritten (vgl. Anatol 2003: 168-171). Hogwarts, das aus Muggel-Perspektive als das exotische Andere gilt, wiederholt vielmehr Strukturen des britischen Empires: Die Zauberer und Hexen bewachen restriktiv seine Grenzen und gewähren nur magiefähigen Personen (und Squib) Zutritt, sie stilisieren sich gegenüber den Muggeln und Zauberwesen als kulturell höherwertig (vgl. Kap. 2.1) und moralisch überlegen. Symbolfigur dieser Überlegenheit ist Dumbledore, der nicht nur Bedrohungen innerhalb der Zauberwelt abwehrt und Hogwarts zum sicheren Ort des Reiches macht, sondern auch die Muggel-Welt über‐ blickt und gezielt eingreift, wenn Gefahren für die eigenen Mitglieder (u. a. Harry) drohen. Seine Macht und seinen Reichtum stellt Hogwarts, dem Em‐ pire ähnlich, in prächtigen Gebäuden, wertvollen Kunstgegenständen und glamourösen Banketten aus. Bedrohungen gegen das Gesellschaftssystem kommen von außen und rechtfertigen Ausgrenzung und Ausschlüsse. So rückt Harry aufgrund seiner Fähigkeit, Parsel zu sprechen, in die diskursive Nähe Schlangen zähmender Fakire, wie sie in der britischen Kolonie Indien vorkamen, und wird temporär von seiner Peergroup ausgeschlossen. Die historisch aufständischen Goblins sind stereotyp mit asiatischen Zügen gezeichnet. Professor Quirrel legt mit seinem Sikhs-Turban, der dem körper‐ 2.2 Postkoloniale Perspektiven 149 <?page no="150"?> losen Voldemort temporär als Versteck dient, eine Verweisspur ins koloniale Indien und das osteuropäische Land Albanien dient als Zufluchtsort für Voldemort, von wo aus er mit seinen Verbündeten weitere Angriffe auf Hogwarts vorbereitet. Mit Blick auf die Figuren zeigt sich, dass die zentralen und guten Figuren europäisch-weiß gezeichnet sind, was daran zu erkennen ist, dass sie in Bezug auf Ethnizität und Nation unmarkiert bleiben, während Abweichun‐ gen davon benannt und figural kommentiert werden; Toni Morrison (vgl. 1992: 72) verweist auf diese strukturelle Beobachtung in Literatur. So treffen Harry und seine Freund: innen im Rahmen der Quidditch-Weltmeisterschaft auf „Bulgarian blighters“ (GoF: 91), die sich die besten Plätze unter den Nagel reißen wollen, wie der Zaubereiminister beiläufig fallenlässt, und treffen auf den bulgarischen Nationalspieler Viktor Krum, der von der Erzählinstanz beschrieben wird als „thin, dark, and sallow-skinned, with a large curved nose and thick black eyebrows. He looked like an overgrown bird of prey“ (ebd.: 95). Während das osteuropäische Volk als tierisch und wild eingeführt wird, ist die französische Triwizard-Teilnehmerin Fleur Delacour elegant und schön gezeichnet. Sie hat langes üppiges Silberhaar, das sie in den Nacken wirft (→ Band 3: II.2.3). Dass britische Gewohnheiten und die englische Sprache Norm und Maßstab darstellen, bringt der Zauberei‐ minister Fudge zum Ausdruck, wenn er sein Desinteresse gegenüber dem bulgarischen Kollegen offenlegt: „And allow me to introduce you to Mr. Oblansk - Obalonsk - Mr - well, he’s the Bulgarian Minister of Magic, and he can’t understand a word I’m saying anyway, so never mind.“ (GoF: 92) 2.2.5 Intertextueller Bezug zum Kolonialismus Neben Verweisspuren auf den Geheimbund des Ku-Klux-Klans über die Todesser: innen, die während der Quidditch-Weltmeisterschaft in schwarze Kapuzen und Masken gekleidet unter Fackellicht Muggel angreifen (vgl. GoF: 108), zeigt sich auch ein Intertext zur Sklaverei. Die Storyworld kreiert mit den Hauselfen Figuren, deren naturgegebene Eigenschaft das Dienen ist. Die Annahme angeborener Unterwürfigkeit und Zufriedenheit mit ihrem Status als Dienende findet in der Zauberwelt Konsens (u. a. ebd.: 112). Für eine Anstellung bezahlt zu werden, wie der Hauself Dobby dies nach seiner Freilassung verlangt, oder nach Zufriedenheit zu streben, scheint sowohl unter Zauberern und Hexen als auch unter Hauselfen abwegig: „House-elves is not supposed to have fun.“ (ebd.: 90) Hermione ist 150 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="151"?> die Einzige, die gegen den sklavenähnlichen Status der Hauselfen aufbegehrt und eine Gewerkschaft für die Rechte von Hauselfen gründet. Mitstreitende findet sie hierfür nicht, zu etabliert ist in der Zauberwelt das Narrativ der dienenden Hauselfen. In der Forschung wird der Sklaverei-Bezug wahlweise als Verweisspur zur Antisklavereikampagne in Großbritannien zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelesen, als Kritik an der schlechten Behandlung der Sklaven, wie sie in der britischen Kinder- und Jugendliteratur eine lange Tradition findet, als Parodie auf die aktivistische Linke in Großbritannien oder als Anspielung auf die schlechten Arbeitsbedingungen des Reinigungs- und Kochpersonals an britischen Privatschulen (vgl. Carey 2003: 104-110, Gupta 2003: 123f., Westman 2002: 325). Gemeinsam ist den unterschiedlichen Interpretationen das Irritationsmoment, das der Hauselfen-Darstellung in ihrer komischen Überzeichnung vergleichbar zur Ku-Klux-Klan-Ana‐ logie innewohnt: Die Intertexte sollen Widerspruch bei den Rezipierenden anregen (vgl. hierzu auch Linzer 2009: 114), womit erste Brüche in der diegetischen Darstellung ‚rassebasierter‘ Vorstellungen angedeutet sind. 2.2.6 Brüche innerhalb der rassistischen Weltkonstruktion Neben der machtaffirmierenden Partizipation der Storyworld am kolonialen Diskurs ziehen punktuell Subversionen in die Darstellung rassistischer Weltkonstruktion ein, von denen beispielhaft auf Grenzgänger-Figuren, auf Repair-Prozesse sowie auf Irritationen in der Ethnisierung von Figuren eingegangen wird. 2.2.6.1 Grenzgänger-Figuren Die Einteilung der britischen Bevölkerung in Zauberer/ Hexen und Muggel, in ‚pure‘- und ‚half-blood‘ sowie in dunkle und helle Macht, die in der Zauberwelt unhinterfragte Differenzkategorien darstellen und mit der Ar‐ gumentationslegende Blutsrecht zusammenhängen, wird punktuell unter‐ laufen: So bleiben in der Storyworld die Phänomene ungeklärt, dass Muggel Zauberfähigkeiten ausbilden können (z. B. Hermione) und ‚pure-blood‘ - genannt Squibs - wiederum ohne Zauberfähigkeiten zur Welt kommen (z. B. der Hausmeister Argus Filch). Die Grenzgänger-Figuren führen die innerdiegetische Differenzkonstruktion ad absurdum. Für Irritation sorgt zudem das Narrativ von den ‚pure-bloods‘ als den höherwertigeren Zaube‐ rern und Hexen. Nicht nur erweist sich Hermione, die ‚Muggle-born‘ ist, als 2.2 Postkoloniale Perspektiven 151 <?page no="152"?> Klassenbeste, während der reinblütige Neville Longbottom wiederkehrend an seinen Zauberaufgaben scheitert (CoS: 121) (→ Band 3: II.2.5), auch stellt sich einer der mächtigsten Zauberer der Storyworld, Voldemord, als ‚nur‘ ‚half-blood‘ heraus. Mit den Worten „[i]t is our choices, Harry, that show, what we truly are, far more than our abilities“ (CoS: 352) bietet Dumbledore, der als anerkannter Zauberer in der Storyworld über hohe Diskursmacht verfügt, eine Alternative zur ‚rassebasierten‘ Ideologie an und tritt innerhalb der Storyworld gegen naturalisierende Vorstellungen von höher- und min‐ derwertig ein. Darüber hinaus sind Prozesse des „going native“ (Hamann & Kißling 2017: 149) zu erkennen, sinnbildlich steht hierfür die Figur Arthur Weasly. Fasziniert von der andersartigen Kultur der Muggel legt er eine Sammlung muggel-geschaffener Gegenstände in seinem Schuppen an (vgl. CoS: 41) und lässt sich, vergleichbar einem kulturellen Grenzgänger, durch genaues Beobachten und Ausprobieren auf die fremde Kultur ein. Pointiert zum Ausdruck kommt sein kulturelles Überlaufen in der Äußerung, „he should snap his wand in half and go and join them“ (ebd.: 235). Mit seinem grenzüberschreitenden Verhalten fordert auch er eindeutige Zuordnungskategorien heraus. Die Regelhaftigkeit der sozialen Ordnung wird schließlich über die Farbsymbolik irritiert. Erzählerisch gelingt dies über die Figuren Sirius Black, Remus Lupin und Mad-Eye Moody, die alle zu den Vertrauten Dumbledores zählen, äußerlich und eigenschaftsbedingt jedoch Züge der dunklen Seite aufweisen. Sirius Black sieht aus wie ein Bö‐ sewicht und ist auch genealogisch und namentlich auf der Seite der dunklen Magie situiert. Remus Lupin ist ein Werwolf und Mad-Eye Moody ist durch seine zahlreichen Kriegsverletzungen entstellt und sorgt insbesondere in dem Moment, in dem er durch einen Doppelgänger der bösen Seite ausge‐ tauscht wird, für Verwirrung (vgl. GoF: 584-598). In die Gruppe der nicht eindeutig verortbaren Figuren fällt auch der titelgebende Protagonist Harry, der als Vertreter der ‚guten Seite‘ Eigenschaften des Bösen in sich trägt, was ihm gegenüber zu Skepsis, Verunsicherung und Distanznahme führt, weil er die binäre Ordnungslogik unterläuft. Die Grenzgänger-Fi‐ guren, die sich mit Bhabha auch als hybride Figuren bezeichnen lassen, stellen die ‚rassebasierte‘ Denklogik innerliterarisch als Konstrukt aus, das weniger der Erklärung für menschliche Unterschiede dient als vielmehr der politischen Polarisierung, um Ängste und Unsicherheiten zum Zwecke der Absicherung von Machthierarchien zu schüren. 152 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="153"?> 2.2.6.2 Repair-Prozesse Erzählerisch umgesetzt werden Brüche in der machtaffirmierenden Erzähl‐ logik zudem durch eine spezifische Fokalisierung (→ Band 1: II.3.2.6.2). Der extradiegetische Erzähler privilegiert die Sichtweisen von Harry und seinen Vertrauten, die in aller Regel eine progressiv-emanzipatorische Ein‐ stellung vertreten. ‚Rassebasierte‘ Denklogiken und Argumentationsmuster treten zwar auf, werden aber oftmals in Form von „Repair-Prozessen“ (Gansel 2022: 176) relativiert. Gemeint ist damit, dass Sprechweisen oder Handlungen, die aus demokratischer Perspektive problematisch sind, intradiegetisch sanktioniert oder korrigiert werden. Ein Beispiel stellt folgende Unterhaltung dar. Draco Malfoy beschimpft Hermione als „filthy little Mudblood“ (CoS: 117), was unmittelbar zu einer angespannten Stim‐ mung führt. George und Fred Weasley wollen sich auf Malfoy stürzen, Ron richtet seinen Zauberstab gegen ihn und Alicia Spinnet verdeutlicht mit ihrem Ausruf „How dare you! “ (ebd.: 118), dass der Vorfall, der Hermione auf ihren Blutsstaus reduziert, als rassistische Beleidigung eingestuft und sozial geächtet wird. Der Repair-Prozess weist offen rassistische Angriffe zurück und offenbart in dieser Szene ein Bekenntnis der Storyworld zu demokratischen Grundwerten (vgl. hierzu auch Eccleshare 2002: 78). 2.2.6.3 Irritationen in der Ethnisierung von Figuren Auch die oben dargestellte Raum- und Figurenzeichnung, die einseitig das Andere ethnisiert und das Gefährliche und Böse in außereuropäischen Räumen verortet, ist punktuell von Brüchen gekennzeichnet. Die als fremd‐ ländisch und kulturell anders markierten Figuren werden zwar Gegenstand abwertender Projektionen (vgl. Kap. 2.4), sie ermächtigen sich aber auch gegenüber den stereotypen Zuschreibungen. Ein Beispiel stellt der Zaubereiminister Oblansk dar, der - wie oben gezeigt - diskursiv von seinem bri‐ tischen Kollegen abgewertet wird. Mit den Worten „Vell, it vos very funny“ (GoF: 104) legt er am Ende des Quidditch-Turniers offen, dass er sehr wohl dem Englischen mächtig ist und irritiert stereotype Annahmen über den ungebildeten Osteuropäer. Zu einer Reaktion auf seine Offenlegung kommt es nicht, das Gespräch wird von der Stimme des Stadionsprechers überlagert. Fudges Blamage bleibt ein kleiner und möglicherweise schnell zu überlesen‐ der, aber dennoch ein Bruch im westlichen Dominanzgebärden. 2.2 Postkoloniale Perspektiven 153 <?page no="154"?> Ein kaum merklicher Bruch stellt auch die weitgehende Colourblind‐ ness in der Figurenzeichnung der Hogwarts-Schüler: innen dar. Mit Dean Thomas, Angelina Johnson und Lee Jordan treten Schwarze Figuren auf, die Patil-Zwillinge verweisen auf einen indischen Hintergrund und der Name Cho Chang legt eine vage ostasiatische Verbindung, ohne sich einer Nation eindeutig zuordnen zu lassen. Vielmehr ist der Name, der beispielsweise im Chinesischen auch in naheliegenden Lautäquivalenzen semantisch keinen Sinn als Namen ergibt, ein Ausdruck der Anglisierung bzw. Orientialisierung von Namen (Gupta 2009: 199f.; Lee 2020: 122; Park Dahlen/ Shell 2020: 93). Mögliche Backgrounds der Figuren werden weder thematisiert noch mit Masterwords (Spivak) markiert, die Verortung als Fi‐ gur of Colour vollzieht sich vielmehr über Andeutungen, die Fanwiki-Seiten (vgl. Harry Potter Wiki) und Literaturverfilmungen vereindeutigend zemen‐ tieren. Zwar bleiben die Figuren of Colour als Neben- und Randfiguren notwendigerweise flat character mit wenig Entwicklung und Gewicht für den Handlungsverlauf und bekräftigen einen Assimilationsdiskurs: Sie sind erfolgreich, beliebt und stehen - als Mitglieder der Dumbledore-Armee - auf der ‚guten Seite‘; in der Forschung hat diese Figurenzeichnung der Storyworld die Kritik eines eurozentrischen Blicks eingebracht. Zugleich liegt der weitgehenden Colourblindness auch ein subversives Moment inne, insofern der Verzicht auf ethnisierende Begriffsmetaphern Migration als gesellschaftliche Normalität anerkennt. 2.2.7 Fazit Die Storyworld postkolonial zu lesen bedeutet, Figuren, Räume, sprach‐ liche Mittel sowie Intertexte und Symbole ins Blickfeld zu rücken und Darstellungstechniken zwischen Machtaffirmation und -subversion auf mögliche Wirkungsästhetiken zu prüfen. Als Ziel verfolgt das Verfahren, die Verstrickungen literarischer Textwelten in koloniale Logiken ebenso zu erkennen wie Widerständiges gegen den hegemonialen Machtdiskurs zu identifizieren. Wertungsfragen im Sinn der Beurteilung eines Textes als rassistisch oder nicht-rassistisch sind dabei nachgeordnet. In erster Linie geht es darum, das Interferenzverhältnis zwischen Literatur und Ko‐ lonialdiskursen zu verstehen, um daraus Schlüsse für literaturdidaktische Fragen diversitätssensibler Textauswahl und -vermittlung zu ziehen. 154 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="155"?> Primärmedien Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Philosopher’s Stone. London, 1997. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets. London, 2014. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Prisoner of Azkaban. London, 1999. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Goblet of Fire. London, 2004. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Order of the Phoenix. Nachdruck. London, 2014. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Half-blood Prince. 1. Edition. London, 2005. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Deathly Hallows. 1. Edition. London, 2007. Sekundärliteratur Anatol, Giselle Liza (Hrsg.) (2009). Reading Harry Potter again. New critical essays. Santa Barbara, California: Praeger. Arndt, Susan (2015). ‚Neger_in‘. In: Arndt, Susan/ Ofuatey-Alazard, Nadja (Hrsg.) Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutscher Sprache: Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: Unrast, 653-657. Berman, Russell A. (1998). Enlightenment or Empire. Colonial Discourse in German Culture. Lincoln/ London: University of Nebraska Press. Bhabha, Homi K. (1994). The Location of Culture. London/ New York: Routledge. Birk, Hanne/ Neumann, Birgit (2002). Go-between: Postkoloniale Erzähltheorie. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.) Neue Ansätze in der Erzähltheorie (=-WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium, 4). Trier: WVT, 115-152. Bpb: Bundeszentrale für politische Bildung. Ius sanguinis. In: Glossar Migration - Integration - Flucht & Asyl. Abrufbar unter: https: / / www.bpb.de/ kurz-knapp/ lex ika/ glossar-migration-integration/ 270377/ ius-sanguinis/ (Stand: 23/ 10/ 2023). Carey, Brycchan (2009). Hermione and the House-Elves Revisited: J.K. Rowling, Antislavery Campaigning, and the Politics of Potter. In: Anatol, Giselle Liza (Hrsg.) Reading Harry Potter again. New critical essays. Santa Barbara, California: Praeger, 159-174. Dunker, Axel (2005). Einleitung. In: Ders. (Hrsg.) (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie. Bielefeld: Aisthesis, 7-16. Dunker, Axel (2008). Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutsch‐ sprachigen Literatur des 19.-Jahrhunderts. Paderborn: Fink. Dürbeck, Gabriele/ Dunker, Axel (Hrsg.) (2014). Postkoloniale Germanistik. Bestands‐ aufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld: Aisthesis. 2.2 Postkoloniale Perspektiven 155 <?page no="156"?> Dürbeck, Gabriele/ Dunker, Axel/ Göttsche, Dirk (Hrsg.) (2017). Handbuch Postkolo‐ nialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler. Eccleshare, Julia (2002). A guide to the Harry Potter novels. London/ New York: Continuum. Eggers, Maureen Maisha (2005). Ein Schwarzes Wissensarchiv. In: Eggers, Grada Kilomba/ Piesche, Peggy/ Arndt, Susan (Hrsg.) Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weissseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast, 18-21. Friedrichsmeyer, Sara/ Lennox, Sara/ Zantop, Susanne (Hrsg.) (1998). The Imperialist Imagination. German Colonialism and Its Legacy. Ann Arbor: University of Michigan Press. Gansel, Carsten (2022). Störungen in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien - Aspekte einer Theorie der Störung. In: Gansel, Carsten/ Kaufmann, Anna/ Hernik, Monika/ Kamińska-Ossowska, Ewelina (Hrsg.) Kinder- und Jugendliteratur heute. Göttingen: V&R unipress, 173-188. Gupta, Suman (2009). Re-reading Harry Potter. Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan. Hamann, Christof/ Kißling, Magdalena (2017). Going native. In: Dürbeck, Ga‐ briele/ Dunker, Axel/ Göttsche, Dirk (Hrsg.) Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler, 149-153. Hooks, Bell (1992). Black looks. Race and representation. Boston: South End Press. Kelly, Natasha A. (2010). Das N-Wort. In: Nduka-Agwu, Adibeli/ Hornscheidt, Antje Lann (Hrsg.) Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassis‐ tischen Sprachhandlungen. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel, 157-166. Kißling, Magdalena (2020). Weiße Normalität. Perspektiven einer postkolonialen Literaturdidaktik. Bielefeld: Aisthesis. Kohl, Karl-Heinz (1986). Entzauberter Blick. Das Bild vom guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lee, Diana (2020). Learning to Imagine Better: A Letter to J. K. Rowling from Cho Chang. In: Jenkins, Henry/ Peters-Lazaro, Gabriel/ Shresthova, Sangita (Hrsg.) Popular Culture and the Civic Imagination: Case Studies of Creative Social Change. New York: University Press, 117-128. Linzer, Claudia (2009). „Mudbloods“ und „Half-Breeds“. Rassismus und Identitätszu‐ schreibung in den Harry-Potter-Romanen. Marburg: Tectum. Lützeler, Paul Michael (Hrsg.) (1997). Der postkoloniale Blick. Deutsche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Morrison, Toni (1992). Playing in the dark. Whiteness and the literary imagination. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press. 156 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="157"?> Morrison, Toni (1994). Im Dunkeln spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination. Essays. Ins Deutsche übersetzt von Helga Pfetsch und Barbara Bechtolsheim. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Opitz, May (1992). Rassismus hier und heute. In: Oguntoye, Katharina/ Opitz, May/ Schultz, Dagmar (Hrsg.) Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, 127-144. Parbey, Celia (2020). Brauchen Schwarze Frauen ein bestimmtes Äußeres, um aufzusteigen? Die Zeit. Abrufbar unter: https: / / www.zeit.de/ zett/ politik/ 2020-1 2/ rassismus-weiblichkeit-sexualisierung-gender-studies-denise-bergold-caldwel l/ komplettansicht (Stand: 19/ 09/ 2023). Park Dahlen, Sarah/ Schell, Kallie (2022). „Cho Chang is Trending“. What It Means to Be Asian in the Wizarding World. In: Park Dahlen, Sarah/ Thomas, Ebony Elizabeth (Hrsg.) Harry Potter and the Other: Race, Justice, and Difference in the Wizarding World. Mississippi: University Press, 86-104. Patrut, Iulia-Karin/ Zink, Dominik (2022). Postkolonialismus und Literatur. Der Deutschunterricht LXXIV: 5, 6-16. Reckwitz, Erhard (2017). Großbritannien. In: Göttsche, Dirk/ Dunker, Axel/ Dürbeck, Gabriele (Hrsg.) Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler, 406-412. Said, Edward W. (1979). Orientalism. New York: Vintage Books. Said, Edward W. (1994). Culture and imperialism. New York: Vintage Books. Spivak, Gayatri Chakravorty (1988). Can the subaltern speak? In: Nelson, Cary/ Grossberg, Lawrence (Hrsg.) Marxism and the interpretation of culture. Hound‐ mills/ Basingstoke/ Hampshire/ London: Macmillan Education, 271-313. Spivak, Gayatri Chakravorty (1996). More on Power/ Knowledge. In: Dies./ Landry, Donna/ MacLean, Gerald M. (Hrsg.) The Spivak reader. Selected works of Gayatri Chakravorty Spivak. New York: Routledge, 141-174. Spivak, Gayatri Chakravorty (2005). Scattered speculations on the subaltern and the popular. Postcolonial Studies 8: 4, 475-486. Spivak, Gayatri Chakravorty (2008). Other Asias. Malden: Blackwell Publishers. Spivak, Gayatri Chakravorty (2009). Outside in the Teaching Machine. New York: Routledge. Westman, Karin E. (2002). Specters of Thatcherism: Contempory British Culture in J.K. Rowling’s Harry Potter Series. In: Whited, Lana A. (Hrsg.) The Ivory Tower and Harry Potter. Perspectives on a Literary Phenomenon. Columbia/ London: University of Missouri Press, 305-328. Zantop, Susanne (1997). Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolo‐ nial Germany, 1770-1870. Durham/ London: Duke University Press. 2.2 Postkoloniale Perspektiven 157 <?page no="158"?> Terminolo‐ gie Interkultu‐ relle Litera‐ turwissen‐ schaft 2.3 Interkulturalität: Wechselseitige Fremdheit und der (Un-)Geist des Hybriden in der Wizarding World Hadassah Stichnothe Inter- und Transkulturalität stehen für verwandte Konzepte und Theorien mit zahlreichen inhaltlichen wie terminologischen Überschneidungen. Ge‐ meinsam ist ihnen die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Kulturen, ihren Überschneidungen und Konstruktionen und der Frage, wie sich diese in kulturellen Erzeugnissen wie z. B. der Literatur widerspiegeln. 2.3.1 Interkulturelle Literaturwissenschaft Im Bereich der Literaturwissenschaft geht der Begriff der Interkulturalität in seiner heutigen Bedeutung zurück auf die Entstehung der interkulturellen Germanistik ab den 1990er-Jahren, die zunächst stark auf die Etablierung einer eher kulturwissenschaftlich orientierten Germanistik an den Universi‐ täten ausgerichtet war. Im Gegensatz zur sogenannten „Inlandsgermanistik“ (Wierlacher 1987: 14) sollte sich die interkulturelle Germanistik schwer‐ punktmäßig mit der Darstellung des Verhältnisses deutscher Literatur und Kultur und anderen Kulturen in literarischen Texten beschäftigen. Grundsätzlich befasst sich die interkulturelle Literaturwissenschaft mit dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen, wobei häufig mit dem Begriffspaar Eigen- und Fremdkultur gearbeitet wird. So definieren etwa Alois Wierlacher und Andrea Bogner die Disziplin als „interdisziplinäre ger‐ manistische Fremdkulturwissenschaft.“ (Wierlacher/ Bogner 2003: IX) Wie Gabriela Scherer und Karin Vach ausführen, basiert ein solches Verständnis von Kultur letztlich auf dem Prinzip der Abgrenzung (Scherer/ Vach 2019: 20). Das Präfix „inter“ (dt. zwischen) verweist nun auf die Prozesse, die im Aufeinandertreffen und im Austausch dieser Gemeinschaften ablaufen und ebenso Austausch wie Abwehr oder Bekämpfung beinhalten können, aber auch die Möglichkeit, „dass etwas Neues im wechselseitigen Austauschpro‐ zess ausgehandelt wird.“ (Ebd.: 21) Neben der Erfassung des Verhältnisses von Eigen- und Fremdkultur in literarischen Texten sieht sich die interkulturelle Literaturwissenschaft auch als Methode und die Literatur als Weg zur Vermittlung interkultureller Kompetenzen, wie es etwa in der Einführung in die interkulturelle Literatur‐ wissenschaft formuliert wird: „Indem Literatur das Fremde mit dem Eigenen 158 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="159"?> Transkultu‐ ralität verbindet, leistet sie einen Beitrag zu interkultureller Kommunikation und interkultureller Kompetenz.“ (Hofmann/ Patrut 2015: 8; vgl. auch Dawidow‐ ski 2015: 17). Der interkulturelle Ansatz in der Literaturwissenschaft wurde ursprüng‐ lich von Forschenden wie Alois Wierlacher entwickelt und weist am Anfang noch eine starke Nähe zur „Auslandsgermanistik“, der Xenologie und dem Fachbereich Deutsch als Zweit- und Fremdsprache auf. Entscheidende Im‐ pulse für die Entwicklung der interkulturellen Literaturwissenschaft lieferte Norbert Mecklenburg mit Beiträgen wie Über kulturelle und poetische Alte‐ rität. Kultur- und literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik (1990) sowie dem seine Forschungen zusammenfassenden Band Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissen‐ schaft (2008), der mittlerweile als Standardwerk des Forschungsgebietes gilt. Mecklenburg nimmt u. a. Aspekte der sich entwickelnden postkolonialen Theorie auf (→ Band 3: II.2.2), verbindet sie mit seinem Konzept einer kritischen Hermeneutik und widmet sich solch zentralen Konzepten wie Hybridität und Alterität (siehe Erklärungen weiter unten). Während das Präfix ‚inter‘ also die wechselseitigen Dynamiken zwischen mehr oder weniger voneinander abgegrenzten Kulturen fokussiert, nimmt das Konzept der Transkulturalität entsprechend seiner Vorsilbe (‚trans‘: dt. jenseits, darüber hinaus) besonders die Verwobenheit, Wechselwirkun‐ gen und Übergänge von Kulturen ineinander in den Blick und stellt auch die Frage, inwiefern sich Kulturen überhaupt als getrennte Einheiten voneinander abgrenzen lassen: ‚Transkulturalität‘ sollte, dem Doppelsinn des lateinischen transentsprechend, darauf hinweisen, dass die heutige Verfassung der Kulturen jenseits der alten […] Verfassung liegt und dass dies eben insofern der Fall ist, als die kulturellen De‐ terminanten heute quer durch die Gesellschaften hindurchgehen, diese also durch Verflechtungen und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind. (Welsch 2020: 5) Entsprechend definieren Blumentrath et al. Transkulturalität als „For‐ schungs- und Analysekonzept, das den Blick auf die Problematisierung vermeintlicher kultureller Einheiten, auf Differenzen und Übergänge rich‐ tet.“ (Blumentrath et al. 2007: 54) Für die Theoriebildung sind hier vor allem die Schriften von Wolfgang Welsch zentral, der in seiner Definition der Transkulturalität besonders „die globale und lokale Verflochtenheit, Durch‐ mischung und Gemeinsamkeit der Kulturen in modernen, differenzierten Gesellschaften hervorhebt.“ (Langbehn 2017: 121) Die im Begriffspaar Eigen- 2.3 Interkulturalität 159 <?page no="160"?> Kritik und Fremdkultur angelegte Dichotomisierung sieht Welsch als in sich schon problematisch, da Kulturen sich eben nicht leicht voneinander abgrenzen lassen und innerhalb eines Kulturraumes auch keine einheitliche Kultur besteht. Merkkasten: Kulturbegriff Grundsätzlich geht es sowohl in der transals auch in der interkultu‐ rellen Literaturwissenschaft um das Verhältnis von dem, was man unter ‚Kulturen‘ versteht, und dessen Reflexion in der Literatur. Allerdings ist der Begriff ‚Kultur‘ weniger selbsterklärend, als es umgangssprachlich zunächst scheinen mag. Nach Michael Hofmann und Iulia-Karin Patrut lässt sich unter Kultur zunächst einmal „das En‐ semble des vom Menschen als sinnvoll Erachteten und [das] Ensemble der planvoll veränderten Welt“ verstehen, wobei der Eingriff in die Umwelt als Ausgangspunkt für die epistemologische Trennung von „Natur“ und „Kultur“ dient (Hofmann/ Patrut 2015: 7). Dieser Begriff wird dann seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auf „idealtypische Gemeinschaften mit gemeinsamer Sprache und gemeinsamen Tradi‐ tionen“ angewandt (ebd.). Die Vorstellung vom Aufeinandertreffen zweier distinkter Kulturen ist es auch, die zu der Kritik am Interkulturalitätskonzept geführt hat, die in der deutschsprachigen Forschung wohl am prononciertesten von Welsch vorgetragen wurde. Hiernach (re-)produziere das Konzept der Interkultura‐ lität eben jenes Denken in binären Oppositionen und Hierarchien, das es eigentlich überwinden wolle. Kulturen seien jedoch nicht als abge‐ schlossene, klar voneinander zu trennende Entitäten zu denken, sondern grundsätzlich hybrid fließend und unabgeschlossen (vgl. Welsch 2020: 6.). Da letztlich jedes Konzept, das von der Begegnung mit einer ‚fremden‘ Kultur ausgeht, diese Fremdheit erst konstruiert, werden hierdurch die Versuche einer interkulturellen Verständigung von vornherein unmöglich gemacht: „Die antiquierte Fiktion inkommensurabler Kulturen ruft den Wunsch nach interkulturellem Dialog hervor und verurteilt ihn zugleich zum Scheitern.“ (Welsch 2010: 50) 160 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="161"?> Vernetzung kultureller Identität Formen des Fremdverstehens Merkkasten: Hybrid Hybrid meint in diesem Zusammenhang, dass Kulturen nicht vonein‐ ander scharf getrennt sind, sondern auch Merkmale anderer Kulturen aufweisen können: „Für eine jede Kultur sind tendenziell alle anderen Kulturen zu Binnengehalten oder Trabanten geworden.“ (Welsch 2020: 6, vgl. auch den Abschnitt in diesem Beitrag zur Hybridität) Welsch u. a. stellen hiergegen das Konzept der Transkulturalität, das Kulturen als immer schon hybrid, in Bewegung und unabgeschlossen begreife: „Transkulturalität in diesem Sinne signalisiert eine Kulturgren‐ zen überschreitende Dynamik und Fluidität; Kulturen beeinflussen sich gegenseitig, so dass Netzwerke entstehen, die essentialistische Kultur‐ vorstellungen auflösen.“ (Langbehn 2017: 121) Dies trage nicht nur den Bedingungen globalisierter Migrationsgesellschaften Rechnung, sondern sei auch retrospektiv auf weiter zurückliegende Entwicklungen anwendbar. Angreifbar macht sich Welsch freilich, wenn er mit Blick auf die Moderne feststellt, es gebe nunmehr weder „schlechthin Fremdes“ noch „schlechthin Eigenes“ (Welsch 2000: 337). So zutreffend diese Aussage auch mit Blick auf die Vernetztheit kultureller Identitäten sein mag, läuft sie doch Gefahr, manifeste Fremdheitserfahrungen zu negieren, die sich nicht nur in sehr realen gesellschaftlichen Konflikten niederschlagen, sondern auch ihr Echo in der Literatur finden. Wichtig ist Welschs Kritik dennoch als Hinweis auf die Gefahr von Essen‐ tialisierungen und der Notwendigkeit, Kulturen letztlich als Konstrukte im Sinne von Andersons „imagined communities“ zu verstehen, die sich stets aufs Neue und im Austausch und Überschneidung mit anderen Gemein‐ schaften diskursiv formieren (vgl. Anderson 1983: 5f.). Der Literatur kommt hierbei eine wichtige Rolle zu, ist sie doch in der Lage, nicht nur ‚kulturelle Identität‘ ebenso wie Begegnungen unterschiedlicher Kulturen zu gestalten, sondern auch „Imaginationen der Homogenität, wie beispielsweise ‚Volk‘ oder ‚Nation‘ zu problematisieren.“ (Hofmann/ Patrut 2015: 7) 2.3.1.1 Fremdheit und Alterität Alterität und Fremdheit bezeichnen verwandte, aber nicht deckungsgleiche Erfahrungen. Alterität leitet sich vom lateinischen Wort alter ab, das den 2.3 Interkulturalität 161 <?page no="162"?> Othering Zentrum und Peri‐ pherie Anderen (von Zweien) bezeichnet, der nicht notwendigerweise ein Fremder sein muss, im Gegensatz zu alius, dem Fremden. Dieses hier bezeichnete Fremde liegt außerhalb des direkten Erfahrungsbereichs, gehört also zum Bereich des Unvertrauten. Die individuelle Auseinandersetzung mit dem Anderen und dem Fremden ist ein Teil der Identitätsbildung und als solche auch in der Kinder- und Jugendliteratur ein wiederkehrendes Thema. Auch bei der diskursiven Erzeugung von imagined communities wie etwa Nationalstaaten, Diasporakulturen etc. spielen Vorstellungen von Fremdheit und Alterität eine wichtige Rolle, oft um sich über Projektion und Abgren‐ zung der eigenen Identität zu versichern (vgl. Antor 2017: 27-28.). Die Erfahrung von Fremdheit kann sehr unterschiedliche Reaktionen von Ab‐ grenzung bis zum Begehren hervorrufen. Ortfried Schäffter unterscheidet als unterschiedliche Formen des Fremdverstehens die Setzung des Fremden als „Resonanzboden des Eigenen“, als Gegenbild, Ergänzung oder als das Komplementäre (Schäffter 1991 zitiert nach Hofmann / Patrut 2015: 13). Im Zusammenhang mit den Konzepten von Fremdheit und Alterität steht auch der von Gayatri C. Spivak erstmals systematisch beschriebene Prozess des ‚Othering‘, in dem Personen mit Merkmalen des Fremden bzw. des ‚ganz Anderen‘ versehen werden, oftmals durch rassistische Zuschreibung und Stereotypisierung, um so das eigene Selbstbild zu bestätigen (Babka 2017: 22, Spivak 1985). 2.3.1.2 Hybridität Ein zentrales Konzept der interkulturellen Literaturwissenschaft ist das der Hybridität, das gerade wegen seiner häufigen und manchmal ungenauen Anwendung einer näheren Erläuterung bedarf. Popularisiert wurde das Konzept unter anderem durch seine prominente Verwendung in Homi K. Bhabhas The Location of Culture (1994) und die nachfolgende Rezeption in den postkolonialen Studien (→ Band 3: II.2.2). Bhabha verbindet den Begriff der Hybridität mit dem des Dritten Raumes als einem Ort komplexer Aus‐ handlungen zwischen Zentrum und Peripherie. Hybridität bezeichnet hier einen Zustand, in dem die strikte Trennung zwischen dem Eigenen und dem Fremden aufgehoben ist, wodurch Machtverhältnisse unklar und neu verhandelbar werden. Dieser Verwendung des Begriffs durch die interkul‐ turelle Literaturwissenschaft geht jedoch seine Anwendung im Bereich der Biologie voraus (vgl. Schwarz 2017: 157). Besonders in der Botanik wurde der Begriff auf die Kreuzung unterschiedlicher Arten angewandt. Die im 162 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="163"?> Hybridisie‐ rung als äs‐ thetisches Phänomen Kulturelle Hybridität 19. Jahrhundert erfolgte Anwendung auf sogenannte menschliche ‚Rassen‘ wird vor allem in Hinblick auf mögliche Gefahren und Vorteile geführt (vgl. Schwarz 2017: 157). Dieser Hintergrund sollte bei der Anwendung des Kon‐ zeptes im Anschluss an postkoloniale Theoretiker: innen nicht vergessen werden, führt er doch das Moment des zwanghaften Zusammenführung von Disparatem vor Augen, das bei einer unkritischen Gleichsetzung mit „Vermischung“ jeglicher Art oft außer Acht gelassen wird, denn „[h]ybrid ist nicht alles, was gemischt oder zusammengesetzt ist, sondern nur, was in einer spannungsvollen, widersprüchlichen Weise heterogen, in sich ungleichartig, nicht-integriert bleibt.“ (Mecklenburg 2009: 113) Es ist diese Widersprüchlichkeit, das Nicht-Integrierte, die auch das widerständige Potenzial des Hybriden ausmacht, das Vorstellungen von kultureller Homogenität oder gar Reinheit unterläuft. Ferner wird in der Literatur‐ wissenschaft, ausgehend von Michail Bachtin, zwischen ästhetischer und kultureller Hybridität unterschieden (vgl. ebd.: 115-117). Hybridisierung als ästhetisches Phänomen meint, bezogen auf die Litera‐ tur, solche Verfahren wie z. B. die erlebte Rede, bei der die Perspektiven von Erzählinstanz und Figur in einer Formulierung verschränkt werden und für gewöhnlich in der dritten Person wiedergegeben werden (vgl. Schwarz 2017: 159). So fallen beispielsweise in der Schilderung eines Traums von Harry, in dem er durch die Augen der Schlange Nagini Arthur Weasley sieht und diesen angreifen möchte, mehrere, aus narratologischer Sicht eigentlich voneinander getrennte Instanzen zusammen: „Harry longed to bite the man … but he must master the impulse … he had more important work to do …“ (OoP: 409) In diesen Sätzen erklingen die Stimme des Erzählers, Harrys Gedanken (und, wie den meisten Lesenden an dieser Stelle bereits klar ist, der drängende Wunsch Voldemorts) also gleichzeitig in einer Passage, die dadurch mehrstimmig (polyphon) wird. Als literarisches Verfahren fragt Hybridität also nach dem Vorhandensein von disparaten Elementen in einem Text, die weiterhin erkennbar nebeneinander bestehen, wie es auch in der Form der Montage oder Collage der Fall ist. Kulturelle Hybridität meint hingegen jene gleichzeitige Präsenz unter‐ schiedlicher kultureller Einflüsse beispielsweise in einer Figur oder einem Raum, mit der sich auch die interkulturelle Literaturwissenschaft auseinan‐ dersetzt und die manchmal in Bindestrichformulierungen wie ‚deutsch-tür‐ kisch‘, ‚afro-amerikanisch‘ o.Ä. zusammengefasst werden. Freilich wird auch hier verschiedentlich hingewiesen auf „die Paradoxie von Gegenbegriffen wie ‚Hybridität‘ (oder ‚Transkulturalität‘), die nolens 2.3 Interkulturalität 163 <?page no="164"?> 22 Z. B. „he couldn’t help noticing that there seemed to be a lot of strangely dressed people about.“ (PS: 9) „He had been hugged by a complete stranger. […] He was rattled.“ (PS: 11) volens voraussetzen und perpetuieren, was sie bestreiten und beenden wollen: Differenzen.“ (Uerlings 2017: 104) Wie sich zeigen wird, bietet aber auch die pro‐ blematische Geschichte des Begriffs mit seinen Assoziationen zur sogenannten ‚Rassenreinheit‘ Anknüpfungspunkte für die Anwendung auf literarische und andere mediale Szenarien wie in der Harry Potter-Storyworld. 2.3.2 Fremdheit und Alterität als Leitmotiv der Wizarding World Fremdheitserfahrungen sind ein konstitutives Element der Harry Potter-Sto‐ ryworld, beginnend mit dem Gegensatz zwischen der Alltagswelt der Mug‐ gels und dem Bereich der Magie, der sich zunächst parallel für Protagonist und Lesende in den ersten Konfrontationen von Harry und den Dursleys und der magischen Welt von Hogwarts auftut. Diese Fremdheitserfahrung bestimmt nicht nur Harrys sukzessive Aufnahme in die magische Welt der Hexen und Zauberer: innen, sondern wird auch in den Folgebänden bis zum Schluss aufrechterhalten und findet dann ihre Wiederholung in den filmischen Prequels der Fantastic Beasts-Filmreihe. Auf der Ebene der histoire (→ Band 1: II.3.1) ist es zunächst der Ge‐ gensatz zwischen der satirisch überzeichneten kleinbürgerlichen Welt der Dursleys und der immer vehementer einbrechenden magischen Welt, die das Geschehen bestimmt. Bereits die eröffnenden Sätze etablieren somit den Grundkonflikt: Mr and Mrs Dursley, of number four, Privet Drive, were proud to say that they were perfectly normal, thank you very much. They were the last people you’d expect to be involved in anything strange or mysterious, because they just didn’t hold with such nonsense. (PS: 7) Die Normalität der Dursleys wird hier ironisch als Norm gesetzt, gegen die der Text nun lustvoll verstößt, indem zunächst Mr Dursley immer mehr Menschen und Dinge wahrnimmt, die ihm ‚strange‘, also seltsam und fremd vorkommen. 22 Die wechselseitige Fremdheit von magischer und Muggelwelt wird auch von den ersten beiden Vertreter: innen der fremden, magischen Sphäre bestätigt, die im Roman auftreten: Albus Dumbledore erscheint als personifizierte Störung im Privet Drive, ohne zu realisieren 164 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="165"?> „that he had just arrived in a street where everything from his name to his boots was unwelcome“ (PS: 15), und Minerva McGonagall bestätigt die scheinbare Inkompatibilität beider Welten: „You couldn’t find two people who are less like us“ (PS: 20). Für die Lesenden wird somit klar: Hier treffen zwei Gemeinschaften aufeinander, die nicht nur durch fundamen‐ tale Unterschiede voneinander getrennt sind, sondern denen es auch an Verständnis füreinander mangelt: „These people will never understand him! “ (PS: 20). Der Text nimmt im Folgenden immer wieder die Unterscheidung zwischen der „normalen“ Perspektive der Dursleys und der „strangeness“, der Fremdartigkeit der magischen Sphäre auf, wobei schnell deutlich wird, dass „strangeness“ eine Qualität ist, die auch auf Harry zutrifft: „The problem was, strange things often happened around Harry“ (PS: 31). Und tatsächlich führt für Harry die Begegnung mit dem Fremden zur Erkenntnis, dass dieses tatsächlich nicht fremd ist, sondern ihm eigen, sodass ihm nach seinem ersten Ausflug mit Hagrid in die Winkelgasse nun plötzlich die bisherige Alltagswelt fremd erscheint: „Everything looked so strange, somehow“ (PS: 97). Die Inversion der Fremdheitserfahrung suggeriert Harrys Übergang in die magische Sphäre, wobei ihm seine Erfahrung ermöglicht, „das Fremde als Resonanzboden des Eigenen“ (Hofmann / Patrut 2015: 13) zu begreifen. Kritisch scheint hier bereits die Verbindung zwischen ‚biologischer‘ Disposition (Harry wurde als Zauberer geboren) und einer als natürlich etablierten Gemeinschaftszugehörigkeit auf, die dann auch zu einem der zentralen Konflikte der Romanreihe wird. Nicht nur die Welt der Muggels und der Zauberer: innen und Hexen begegnen sich, auch innerhalb dieser Gemeinschaften wird um Zugehörigkeit und Verständnis gerungen, sind Identitäten und Deutungshoheit über Zugehörigkeiten umkämpfte Felder. So leitet sich die rassistisch motivierte Unterscheidung zwischen soge‐ nannten ‚pureblood wizards‘ aus vollständig magischen Familien und jenen, die nicht-magische Elternteile oder Vorfahren haben, letztlich aus einer extremen Form des ‚Othering‘ ab. Die Romanreihe führt mit zunehmender Drastik die Konsequenzen dieses Denkens vor: Handelt es sich im ersten Band scheinbar nur um Vorurteile und elitäres Denken alteingesessener Familien wie der Malfoys („They’re just not the same, they’ve never been brought up to know our ways“, PS: 89), werden diese bereits im zweiten Band zur potenziell tödlichen Bedrohung, als der ‚Erbe‘ von Salazar Slytherin, der sich als das in einem Tagebuch eingesperrte Jugend-Ich von Lord Voldemort entpuppt, einen Basilisken in Hogwarts auf die Schüler: innen 2.3 Interkulturalität 165 <?page no="166"?> aus nicht-magischen Familien loslässt. Dieser Prozess kulminiert schließ‐ lich im tödlichen Hass der Todesser bzw. der Ideologie Voldemorts, die schließlich sogar die Gesetzgebung der magischen Welt korrumpiert. Im alternativen Zeitstrang, der in Harry Potter and the Cursed Child (2017) durch Albus Potter und Scorpius Malfoy und deren fehlgeleiteten Versuch, die Vergangenheit mittels einer Zeitreise zu verändern, aufgefächert wird, wird diese Entwicklung bis zu ihrem entsetzlichen Schluss geführt: In einer Welt, in der Voldemort unbesiegt herrscht, gibt es Horrorszenarien, die offenkundig an die Verbrechen des Nationalsozialismus angelehnt sind: „The ‚Mudblood‘ death camps, the torture, the burning alive of those that oppose [Voldemort].“ (Cursed Child: 178) Im Gegensatz zum tödlichen Fanatismus Voldemorts und seiner Anhänger steht z. B. die - mit weitgehender Ahnungslosigkeit verbundene - Begeis‐ terung von Arthur Weasley für alle Muggel-Artefakte, denen er begegnet. Insgesamt folgen die Romane dem Muster, dass positiv gezeichnete Figuren Fremdheitserfahrungen tendenziell mit Neugier begegnen, während die negativ gezeichneten Figuren mit Abwertung, Projektion und schließlich Hass reagieren (→ Band 3: II.2.5). Ähnlich verfahren die Filme der Fantastic Beasts-Reihe, wobei hier die Figur des Jacob Kowalski dazu dient, den ‚fremden‘ Blick auf die magische Welt zu repräsentieren. 2.3.2.1 Interkulturelle Begegnungen und stereotype Projektionen in The Goblet of Fire Im Kontrast zur offensiven Betonung des Wertes von Fremdverstehen und Toleranz stehen die teilweise stark klischierten Darstellungen interkultureller Begegnungen, vor allem im Rahmen des Wettstreits, des ‚Triwizard Tournaments‘, in Band vier. Wie sowohl in der Rezeption des Romans als auch seiner Verfilmung häufig festgestellt wurde, ist die Darstellung der magischen Schulen Beauxbatons und Durmstrang vor allem durch Klischees geprägt. Die französischen Schüler: innen reisen in einer gigantischen Kutsche an und die Ankunft von Madame Maxime ist als durch die schiere Größe der Schulleiterin komisch überzeichneter Auftritt einer verführerischen Femme Fatale inszeniert: A boy in pale blue robes jumped down from the carriage, bent forwards […] and unfolded a set of golden steps. Then Harry saw a shining, high-heeled black shoe 166 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="167"?> emerging from the inside of the carriage - a shoe the size of a child’s sled - followed, almost immediately, by the largest woman he had ever seen in his life. (GoF: 205) Auch Fleur Delacourt, die für ihre Schule im Wettbewerb antritt, zeichnet sich vor allem durch ihre erotische Wirkung und eine gewisse Arroganz gegenüber den britischen Gepflogenheiten aus. Und auch wenn sie sich schließlich als loyale Partnerin von Bill Weasley erweist, den sie trotz seiner schweren Verletzungen heiratet, verkörpert Fleur doch das Stereotyp der verführerischen, verwöhnten Französin, die ihren moralischen Wert erst durch einen Akt weiblich-aufopferungsvoller Liebe ‚beweisen‘ muss. Beauxbatons als Repräsentanz des magischen Frankreichs versammelt somit eine Reihe gängiger Klischees: Es ist weiblich, verführerisch, arrogant und von zumindest zweifelhafter Moral. Vielleicht noch problematischer ist die Überlagerung von Stereotypen in der Darstellung von Durmstrang, wie sie Marek Oziewicz zusammenfasst: A German-sounding institution, located somewhere in northernmost Scandina‐ via, led by the Russian-sounding headmaster Igor Karkaroff, and represented in the tournament by its Bulgarian champion Victor Krum, Durmstrang is a medley of scary stereotypes about what one can come across east of France. Given that it seems to be the only wizarding school available for wizards of nationalities other than the British and French, Durmstrang is a collective representation of the wild East. (2010: o.S.) Im Gegensatz zur überlebensgroßen Weiblichkeit einer Madame Maxime und ihren Schülerinnen (die in der Verfilmung, anders als im Roman, alle weiblich sind) wird Durmstrang bei dem Wettkampf ausschließlich durch männliche Vertreter repräsentiert, die sich vor allem durch Härte und Kampfeswillen, aber auch durch die Nähe zur schwarzen Magie auszeichnen. Die Verfilmung von Mike Newell verstärkt den Kontrast zwischen beiden Gastschulen ebenso wie die genderspezifische Stereopyisierung mit Be‐ zug auf die Herkunft der Schüler: innen. Die beiden Schulen werden hier ausdrücklich als Mädchenbzw. Jungenschulen eingeführt und angekündigt. Die „lovely ladies of Beauxbatons Academy of Magic“ (Goblet: 0: 16: 48) treten modisch gekleidet wie eine Gruppe von Catwalk-Models zu Geigenmusik auf und lassen mit einem kollektiven Seufzer und einer eleganten Handbe‐ wegung magische Vögel aus ihren blauen Uniformen fliegen. Die Wirkung dieses Auftritts wird an den Figuren Harry und Ron vorgeführt, wobei die Kamera nach einem Schnitt auf Ron und dessen Ausruf („Bloody hell! “) 2.3 Interkulturalität 167 <?page no="168"?> den jungen Frauen folgt und dabei die Köpfe abschneidet, um so dem Blick der adoleszenten Jungen (und der Zuschauenden) auf die Hinterteile der Beauxbatons-Schülerinnen nachzuzeichnen (ebd.: 0: 17: 08). Im Roman handelt es sich bei den Beauxbatons noch um „a dozen boys and girls - all, by the look of them, in their late teens“, die eher schüchtern und unvorbereitet auf ihre Umgebung wirken: „They were shivering, which was unsurprising, given that their robes seemed to be made of fine silk, and none of them were wearing cloaks. […] they were staring up at Hogwarts with apprehensive faces.“ (GoF: 206) Im Gegensatz zu diesem zwar distanzierten, aber doch nachvollziehbar gestalteten Auftreten einer Gruppe Jugendlicher sind die Schülerinnen der Newell-Verfilmung ein Kollektiv deutlich älter wirkender sirenenhaft-verführerischer junger Frauen. Diese Verführungskraft wird im Roman tatsächlich nur Fleur zugeschrieben, was damit erklärt wird, dass eine ihrer Vorfahrinnen eine Veela ist. Der Film überträgt die teilweise magische Verführungskraft jedoch auf alle Schülerinnen - und verstärkt durch diese Entindividualisierung die im Romantext angelegte Stereotypisierung. Auch der Auftritt von Durmstrang ist darauf angelegt, die Charakterisie‐ rung der Schüler als einschüchternd und kämpferisch zu verstärken. Die als ‚proud sons of Durmstrang‘ angekündigten jungen Männer marschieren zu rhythmischer Musik ein, schlagen im Takt kräftige Holzstäbe auf den Boden, die Flammen auflodern lassen, und stoßen dazu unartikulierte Rufe aus. Statt der elegant-tänzerischen Choreographie der Beauxbatons wirbeln die jungen Männer mit Holzstäben, führen akrobatische Sprünge und eine Art Kampfsportchoreographie vor und lassen schließlich eine große Feuerschlange durch den Saal fliegen. Sie tragen Pelzmäntel, die Haare sind militärisch kurz geschnitten und ihr Star-Schüler Viktor Krum erscheint hervorgehoben als Letzter vor dem ‚High Master‘ Igor Karkaroff (Goblet: 0: 17: 45-0: 18: 25), wodurch die hierarchische Struktur Durmstrangs und dessen martialischer Charakter betont werden. Diese Kennzeichnung ‚des Ostens‘ als männlich, kämpferisch und poten‐ ziell gefährlich folgt offensichtlich einer langen (literarischen) Tradition der Abgrenzung und Selbstversicherung des Westens und kann in der englischen Literatur auf Vorläufer wie Bram Stokers Dracula (1897) zurück‐ geführt werden. Damit weisen Roman und Film, die auf der Handlungsebene wiederholt um Verständnis für das zunächst fremd Erscheinende werben, eben jene „diskursive Verknüpfung von Fremdheit mit moralischer Unter‐ legenheit“ auf (Holdenried 2022: 40), die historisch gesehen zur Abwertung und Ausgrenzung anderer Kulturen gedient hat. 168 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="169"?> 23 Karkaroff ist ein ehemaliger Todesser und Madame Maxime lehnt Hagrids Avancen ab, da sie ihre Herkunft als Halbriesin verleugnet. Es ist bezeichnend, dass im Film beide Auftritte der Schulen als eine Art Einbruch des Fremden in die friedliche Festhalle von Hogwarts inszeniert sind. Dieser Eindruck wird durch Zwischenschnitte auf die Schüler: innen und Lehrer: innen und deren Reaktion bestätigt: Während der Auftritt der Beauxbatons eine gemischte Reaktion hervorruft - Begeisterung bei den Jungen, offenkundige Eifersucht und Distanziertheit bei Hermione und Ginny - zeigt sich das Publikum beim Einmarsch von Durmstrang überrascht und eingeschüchtert. Der Film inszeniert die interkulturelle Begegnung somit als Invasion - in einem Fall erotisch aufgeladen, im anderen kriegerisch - und unterläuft damit den Begegnungscharakter eines Schüleraustauschs, den der Roman zumindest in Teilen beibehält. Ebenso bemerkenswert ist die folgende Auseinandersetzung mit dem Fremden bzw. dessen teilweise ‚Auflösung‘ oder Integration durch eine Liebesbeziehung (oder im Fall von Hermione und Viktor Krum eher einen Flirt). Wie schon erwähnt, wird Fleur für die Lesenden zu einer nahbaren Figur, indem sie ihre Liebesfähigkeit beweist, zunächst für ihre kleine Schwester in der dritten Aufgabe des Wettbewerbs und später für Bill. Aber auch Viktor Krum wird von einem heroisierten Fremden zu einer ‚runden‘ Figur mit einer eigenen Entwicklung, indem er eine Beziehung zu Hermione aufbaut. Sicherlich unbeabsichtigt bestätigen die Texte jedoch hierdurch nur das, was auch in der Theorie des Begehrens als Strategie des Umgangs mit dem Fremden formuliert wird: Das Fremde wird hier um seiner Fremdheit willen begehrenswert, aber dennoch nicht vertraut. Auch die Beauxbatons und Durmstrangs sind am Ende von Goblet of Fire nicht weniger fremd als zu Beginn, zumal sich beide Schulleiter: innen auf unterschiedliche Weise als mit Hogwarts-Werten inkompatibel erwiesen haben. 23 Als interkulturelle Begegnung ist der Triwizard Tournament somit sowohl auf der Ebene der histoire als auch auf der des discours eindeutig ein Misserfolg. 2.3.3 Hybridität in Harry Potter Hybridität als das Zusammenfallen disparater Elemente in einem Ganzen ist gewissermaßen ein Kennzeichen der Fantastik an sich, aber sie spielt auch für die Figurenkonzeption der Wizarding World eine wichtige Rolle. So gibt es verschiedene Figuren, die die Grenzen zwischen Mensch, Tier und 2.3 Interkulturalität 169 <?page no="170"?> magischer Kreatur infrage stellen. Allerdings sind nicht alle als hybride Figuren gestaltet. So handelt es sich bei den Animagi um Menschen, die die Fähigkeit erlernen, sich in ein Tier zu verwandeln. Animagi sind jedoch keine hybriden Wesen im engeren Sinne, da die animalische Gestalt nur Ausdruck ihrer menschlichen Eigenschaften ist und sie nicht im eigentlichen Sinne zum Tier werden. Werwölfe wie Remus Lupin hingegen sind Menschen, die sich durch den Biss eines Werwolfs gegen ihren Willen zeitweilig in ein gefährliches dämonisches Tier verwandeln. Wie sehr Remus Lupin seine Verwandlung fürchtet und wie sehr sie ihm zugleich zur zweiten Natur geworden ist, wird deutlich, als sich der Boggart, ein Gestaltwandler, der die Form der größten Ängste seines Gegenübers annimmt, vor Lupin in einen Vollmond verwandelt: „They saw a silvery-white orb hanging in front of Lupin, who said, ‚Riddikulus! ‘ almost lazily.“ (PoA: 138) Werwölfe sind in den Harry Potter-Romanen und -Filmen zweifellos Wesen, denen das „Moment eines internen Widerspruchs“ (Mecklenburg 2009: 113) innewohnt. Ohne einen speziellen Trank verwandelt sich der verständnisvolle und sensible Lehrer in ein reißendes Tier, das für seine gesamte Umgebung eine tödliche Gefahr darstellt. Auch die magische Gemeinschaft hat eine zwiespältige Haltung gegenüber diesen hybriden Wesen: Lupin sieht sich nach seiner Enttarnung genötigt, die Schule zu verlassen und lehnt zunächst eine Liebesbeziehung mit Nymphadora Tonks ab, da er sich für zu gefährlich hält. Werwölfe sind eine marginalisierte Gruppe, die durch restriktive Gesetzgebungen Voldemort geradezu in die Arme getrieben wird, wobei jedoch die Nähe der Werwölfe zur schwarzen Magie u. a. durch die Figur des grausamen Fenrir Greyback bestätigt wird. Voldemort hingegen ist trotz seines schlangenhaften Äußeren nicht als hybride Figur zu verstehen. Bei seiner ‚Auferstehung‘ am Grab seines Vaters erscheint er stattdessen als kaum mehr menschliches Wesen, dessen groteske schlangenartige Physiognomie vor allem seine Unmenschlichkeit betont: Seine Gestalt wird beschrieben als „tall and skeletally thin“, das Gesicht „[w]hiter than a skull, with wide, livid scarlet eyes, and a nose that was as flat as a snake’s, with slits for nostrils“ (GoF: 541), seine Hände „unnaturally long-fingered“ (ebd.: 542). Auch sein Verhalten ist auf bedroh‐ liche Weise animalisch: „He put back his terrible face and sniffed, his slit-like nostrils widening.“ (Ebd.: 545) Voldemort erscheint als groteskes Monstrum und der Schrecken, den er verbreitet, ist unmittelbar mit seinem schlangenhaften Äußeren verknüpft. Mehr noch: Die Rekapitulation der 170 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="171"?> 24 Nach Hamad ist „the Dragon Lady [..] sexual and feminine, but deceptive, cunning and malicious: she uses her sexuality to get what she wants only to callously discard her prey when she is done.“ Die Verbindung von Nagini zu dem Stereotyp liegen laut Hamad auf der Hand: „East Asian characters are not exactly prolific on our screens, so when one of allmählichen Transformation des jungen Tom Riddle in Lord Voldemort wird als eine Geschichte der allmählichen Dehumanisierung erzählt, die sich im Zugewinn schlangenhafter Attribute äußert. Die äußere Form Lord Voldemorts ist somit nicht als das Zusammenfallen disparater Eigenschaften wie der Fähigkeit, Parsel und die menschliche Sprache zu sprechen, zu betrachten, sondern als unnatürliche Vermischung dieser Elemente. Damit ruft der Text tiefsitzende Ängste vor der Aufhebung der Grenze zwischen Humanen und Nicht-Humanen auf. Voldemort ist eine Monstrosität, die auch namentlich von seinem menschlichen Ich Tom Riddle getrennt wird. Im Gegensatz dazu tritt die in den Harry Potter-Romanen als Tier einge‐ führte Schlange Nagini in The Crimes of Grindelwald (2018), dem zweiten Teil der Fantastic Beasts-Filmreihe, als junge Frau in Erscheinung, die unter einem Fluch leidet. Nagini ist hier ein Maledictus, die Trägerin eines Fluches, der sie dazu zwingt, sich in eine Schlange zu verwandeln. Im Gegensatz zu Voldemort behält Nagini außerhalb ihrer Verwandlungsphasen ihre menschliche Gestalt, die explizit von dem skrupellosen Zirkusdirektor Skender, für den sie auftreten muss, als besonders schön hervorgehoben wird: „But look at her. So beautiful, yes? So desirable …“ (Crimes: 87) Die Unterschiede zwischen der Konzeption von Voldemort und Nagini verweisen nicht nur auf die diskursive Bedeutung klarer Grenzziehungen zwischen Mensch und Tier innerhalb der Storyworld und das Vorhandensein einer unterschwelligen Angst vor zu starker Vermischung, sondern auch auf die Bedeutung von ‚Race‘ und ‚Gender‘ für die Bewertung hybrider Identitäten. Nagini ist eine asiatische Frau, deren ebenso furchteinflößende wie begehrenswerte physische Natur durch einen weißen Mann ausgenutzt und zur Schau gestellt wird - textintern dem Publikum des Circus Arcanus, aber gleichzeitig auch dem Rezipient: innen des Films, deren Blick durch die Kameraführung in nicht weniger voyeuristischer Weise auf die Figur gelenkt wird. Dass dieses Zusammenfallen der Markierung einer asiatischen Frau als gefährlich und begehrenswert und ihrer optischen Zurschaustellung die verbreitete Stereotypisierung asiatischer Frauen über das Klischee der „Dra‐ gon Lady“ 24 repliziert, wurde folgerichtig schon vor der Veröffentlichung des Films zum Teil heftig kritisiert, wie etwa durch Liana E. Chow: 2.3 Interkulturalität 171 <?page no="172"?> them turns into a giant reptile before our eyes, the links to the Dragon Lady are glaring whether or not they were consciously intended by the author J. K. Rowling.“ (Hamad 2020) 25 Die Brüche zwischen der Konzeption Naginis in den Harry Potter-Romanen als dämoni‐ sches ‚Schoßtier‘ Voldemorts und ihrer Darstellung als hybride Figur in den Fantastic Beasts-Filmen verdienen eine ausführlichere Untersuchung, die an dieser Stelle entfallen muss. Die Behauptung J.K. Rowlings, sie habe das Geheimnis um Naginis Herkunft „[o]nly for about twenty years“ mit sich herumgetragen, Nagini also von Anfang an als ursprünglich menschlich konzipiert, sei hier - cum grano salis - ergänzt (vgl. Tweet vom 25.09.2018 https: / / twitter.com/ jk_rowling/ status/ 1044579634581401600/ ). The Nagini we know from the books is not just subservient, but a literal servant whose every tail flick is attuned to Voldemort’s will. She also harbors the coldness and aggression that mark a „Dragon Lady“ caricature when transferred onto an East Asian woman, and she renders literal the monster-human dichotomy that is usually a figurative description. Finally, the character seems to approximate the Asian woman prostitute caricature as well. (Chow 2018; vgl. auch Dang 2018, Yorio 2018) Jennifer Patrice Sims kommt zu dem Schluss, dass die Figurenzeichnung Na‐ ginis, die ihr weder eine Entwicklung noch einen biographischen Hintergrund einräumt (vgl. Sims 2017: 110), sowie die ungleiche Freundschaft zu Credence, die einzig seiner Weiterentwicklung dient, letztlich Teil eines kolonialen bzw. orientalistischen Diskurses sind. Die Darstellung Naginis sei somit „problema‐ tic because it perpetuates the colonial fantasy about a dominant masculine Occident and a submissive exotic Orient.“ (Sims 2017: 113) Ein interkultureller Ansatz kann hier helfen, nicht nur Stereotypisie‐ rungen zu erkennen, sondern die Überschneidung von Hybridität und Fremdheit in der rassialisierten Figur der Nagini zu analysieren. Nagini und Credence, die beiden Maledicti, mögen zwar dem Circus Arcanus entfliehen können, doch die zynische Aussage Skenders „All my freaks think they can go home“ (Crimes: 92) wird durch den Verlauf der Handlung bestätigt: Weder findet Credence seine Mutter, noch kann Nagini ihrem Schicksal entkommen. Schließlich wissen die Zuschauer: innen in der Regel schon bei der Erwähnung ihres Namens um ihr späteres Ende. 25 Credence Barebone ist eine weitere Figur, deren hybride Verfasstheit sie zu einer Gefahr für die Allgemeinheit macht. Er ist ein Obscurial, also ein Zauberer, der seine magischen Kräfte unterdrückt hat, wodurch sich diese zu einer unkontrollierbaren parasitären Kraft entwickelt haben. Der Obscurus ist „an unstable, uncontrollable dark force that busts out and - and attacks … and then vanishes …“ (Beasts: 151) und führt letztlich zum 172 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="173"?> 26 Obwohl naheliegend, wäre eine direkte Verbindung dieses Befunds mit den kontro‐ versen Einlassungen der Autorin Rowling zu Transidentitäten im Rahmen dieser begrenzten Analyse unzulässig verkürzend. Tode seines Trägers. Das Konzept des Obscurus taucht erstmals in den Fantastic Beasts-Filmen auf und markiert eine Neufassung der Konstruktion von magischen und nicht-magischen Figuren. Ist der Gegensatz zwischen Muggeln und magischen Figuren in den Romanen vor allem als kultureller Gegensatz inszeniert, dessen biologistische Interpretation in Form der pu‐ reblood-Ideologie ins Verderben führt, ist dieser nun eindeutig biologisch begründet und birgt die Gefahr pathologischer Fehlentwicklungen. So erklärt Newt dem verletzten Jacob Kowalski, dessen heftige Reaktion auf den Murtlap sei auf eine physiologische Differenz zurückzuführen: „See you’re a Muggle. So our physiologies are subtly different.“ (ebd.: 97) Die Filme verstärken somit die Grenzziehung zwischen magischer und nicht-magischer Welt und verweisen mit der Figur des Credence auf die Gefahren, die das Ignorieren der eigenen physiologischen Natur mit sich bringt. Im Obscurial sind die mondäne nicht-magische Existenz des Trägers und seine nur noch als unkontrollierbare parasitäre Kraft vorhandenen magischen Fähigkeiten auf gewaltsame Weise miteinander verbunden. Diese pathologische hybride Verbindung ist nicht auflösbar und unter Umständen tödlich. Insgesamt erscheint Hybridität in den Harry Potter-Romanen als ein zumindest potenziell gefährlicher Zustand. Figuren, die hybride Identitäten aufweisen, fügen sich nur schwer in die Ordnung ihrer Umgebung ein, sie sind oftmals gefährlich oder aus Sicht einiger Figuren verstörend, wenn nicht sogar abstoßend. Mit dem Konzept des Obscurials und der Etablierung eines physiologischen Gegensatzes zwischen magischen und nicht-magischen Figuren bewegt sich die Fantastic Beasts-Reihe fort von der eher ambivalenten Rolle des Hybriden zu einer tendenziell abwehrenden. 26 Diese ausschnitthafte Anwendung von Konzepten der interkulturellen Literaturwissenschaft auf die Harry Potter-Storyworld soll aufzeigen, wie zahlreich die Anknüpfungspunkte sind, die sich aus diesem theoretischen Ansatz ergeben. Auseinandersetzungen mit Fremdheit und Hybridität bil‐ den ein Kernthema der Storyworld, dessen theoretische Erfassung noch längst nicht abgeschlossen ist. 2.3 Interkulturalität 173 <?page no="174"?> Primärmedien Tiffany, John/ Thorne, Jack: Harry Potter and the Cursed Child. The Original Produc‐ tion Playscript. Based on an original story by J.K. Rowling. London, 2017. Harry Potter and the Goblet of Fire (Mike Newell GB/ USA 2005). Rowling, J.-K: Harry Potter and the Prisoner of Azkaban. New York, 1999. Rowling, J.-K: Harry Potter and the Philosopher’s Stone. London, 2000. Rowling, J.-K: Harry Potter and the Chamber of Secrets. London, 2000. Rowling, J.-K: Harry Potter and the Order of the Phoenix. London, 2003. Rowling, J.-K: Harry Potter and the Deathly Hallows. London, 2007. Rowling, J.-K: Harry Potter and the Goblet of Fire. London, 2014. Rowling, J.-K.: Fantastic Beasts and Where to Find Them. The Original Screenplay. London, 2018. Rowling, J.-K.: The Crimes of Grindelwald. The Original Screenplay. London, 2019. Sekundärliteratur Antor, Heinz (2017). Weiterentwicklung der anglophonen postkolonialen Theorie. In: Göttsche, Dirk/ Dunker, Axel/ Dürbeck, Gabriele (Hrsg.) Handbuch Postkoloni‐ alismus und Literatur. Stuttgart: Metzler, 26-37. Babka, Anna (2017). Gayatri C. Spivak. In: Göttsche, Dirk/ Dunker, Axel/ Dürbeck, Gabriele (Hrsg.) Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler, 21-26. Bell, Christopher E. (2013). Riddle Me This: The Moral Disengagement of Lord Voldemort. In: Ders. (Hrsg.) Legilimens! Perspectives in Harry Potter Studies. Newcastle Upon Tyne: Cambridge Scholars Publ., 43-66. Blumentrath, Hendrik/ Bodenburg, Julia/ Hillman, Roger/ Wagner-Egelhaaf, Martina (2007). Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film. Münster: Aschendorff Verlag. Chow, Liana E. (2018). What the Hell Happened: Voldemort’s Snake is Actually an Asian Woman. The Harvard Crimson. Abrufbar unter: https: / / www.thecrimson.c om/ article/ 2018/ 10/ 2/ nagini-asian-woman/ (Stand: 29/ 02/ 2024). Dang, Jacky (2018). Asian Stereotype of Dragon Lady Rises in Fantastic Beasts 2. AsAmNews. Abrufbar unter: https: / / asamnews.com/ 2018/ 11/ 21/ asian-stereotype -of-dragon-lady-rises-in-fantastic-beasts-2/ (Stand: 29/ 02/ 2024). Dawidowski, Christian (2015). Inter-, Transkulturalität und Literaturdidaktik. Ein‐ führender Forschungsüberblick. In: Dawidowski, Christian/ Hoffmann, Anna R./ Walter, Benjamin (Hrsg.) Interkulturalität und Transkulturalität in Drama, 174 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="175"?> Theater und Film. Literaturwissenschaftliche und -didaktische Perspektiven. Frank‐ furt am Main: Peter Lang, 17-41. Hamad, Ruby (2020). White Tears Brown Scars: How White Feminism Betrays Women of Color. New York: Catapult. Hofmann, Michael/ Patrut, Iulia-Karin (2015). Einführung in die interkulturelle Lite‐ ratur. Darmstadt: WBG. Holdenried, Michaela (2022). Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler. Langbehn, Volker (2017). Transkulturalität und Global Studies. In: Göttsche, Dirk/ Dunker, Axel/ Dürbeck, Gabriele (Hrsg.) Handbuch Postkolonialismus und Litera‐ tur. Stuttgart: Metzler, 121-126. Mecklenburg, Norbert (2009): Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkul‐ turelle Literaturwissenschaft. München: Iudicium. Oziewicz, Marek (2010). Representations of Eastern Europe in Philip Pullman’s His Dark Materials, Jonathan Stroud’s The Bartimaeus Trilogy, and J. K. Rowling’s Harry Potter Series. International Research in Children’s Literature 3: 1, 1-14. Rana, Marion (2009). Creating Magical Worlds. Otherness and Othering in Harry Potter. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Uerlings, Herbert (2017). Interkulturalität. In: Göttsche, Dirk/ Dunker, Axel/ Dürbeck, Gabriele (Hrsg.) Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler, 101-108. Rösch, Heidi (2013). Interkulturelle Literaturdidaktik im Spannungsfeld von Diffe‐ renz und Dominanz, Diversität und Hybridität. In: Josting, Petra/ Roeder, Caroline (Hrsg.) „Das ist bestimmt was Kulturelles“. Eigenes und Fremdes am Beispiel von Kinder- und Jugendmedien. München: kopaed, 21-32. Schäffter, Ortfried (1991). Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen: VS. Scherer, Gabriela/ Vach, Karin (2019). Interkulturelles Lernen mit Kinderliteratur. Unterrichtsvorschläge und Praxisbeispiele. Seelze: Klett. Schwarz, Thomas (2017). Hybridität/ Hybridisierung. In: Göttsche, Dirk/ Dunker, Axel/ Dürbeck, Gabriele (Hrsg.) Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stutt‐ gart: Metzler, 156-160. Sims, Jennifer Patrice (2017). When the Subaltern Speak Parseltongue. Orientalism, Racial Re-Presentation, and Claudia Kim as Nagini. In: Park Dahlen, Sarah/ Tho‐ mas, Ebony Elizabeth (Hrsg.) Harry Potter and the Other. Race, Justice, and Difference in the Wizarding World. Jackson: University Press of Mississippi, 105- 118. 2.3 Interkulturalität 175 <?page no="176"?> Spivak, Gayatri Chakravorty (1985). The Rani of Sirmur. In: Barker, Francis (Hrsg.) Europe and its others. Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature. Colchester: University of Essex. Welsch, Wolfgang (2000). Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partiku‐ larisierung. Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26, 327-351. Welsch, Wolfgang (2010). Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Darowska, Lu‐ cyna/ Lüttenberg, Thomas/ Machold, Claudia (Hrsg.) Hochschule als transkulturel‐ ler Raum? Beiträge zu Kultur, Bildung und Differenz. Bielefeld: transcript, 39-66. Welsch, Wolfgang (2020): Transkulturalität: Realität und Aufgabe. In: Giessen, Hans W./ Rink, Christian (Hrsg.) Migration, Diversität und kulturelle Identitäten. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Stuttgart/ Weimar: Metzler, 3-18. Wierlacher, Alois/ Bogner, Andrea (Hrsg.) (2003). Handbuch interkulturelle Germa‐ nistik. Stuttgart/ Weimar: Metzler. Yorio, Kara (2018). The Trouble with Nagini: Accusations of Racism in the New „Fantastic Beasts“. SLJ - School Library Journal. Abrufbar unter: https: / / www .slj.com/ story/ the-trouble-with-nagini-accusations-racism-new-fantastic-beasts (Stand: 29/ 02/ 2024). 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies: Subtexte, Leerstellen und Vieldeutigkeiten in der Wizarding World Jara Schmidt & Franziska Thiel Das 21. Jahrhundert ist u. a. von Vernetzung, einem stetigen Wandel ge‐ sellschaftlicher Paradigmen und von einem wachsenden Bewusstsein für Diversität geprägt. Es ist eine Zeit, die sich selbst als aufgeklärt begreift und in der gängige Konzepte von Geschlecht, Identität und sozialen Rollen, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte als selbstverständlich galten oder durchgesetzt wurden, nun zunehmend auf dem Prüfstand stehen. Tradierte Vorstellungen werden nicht mehr als unveränderliche Gegebenheiten be‐ trachtet, sondern als soziale Konstruktionen, die kritisch hinterfragt werden müssen. Diese Verhandlungen von Normen und Bedeutungen sind nicht nur Ausdruck des 21. Jahrhunderts, sondern auch eine Einladung, fest verankerte Denkmuster zu hinterfragen und Platz für neue Perspektiven und marginalisierte Stimmen zu schaffen. Die Gender Studies sowie die mit ihnen verwandten Queer Studies und Men’s Studies spielen dabei eine 176 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="177"?> Ausgangs‐ punkt Schlüsselrolle, indem sie gesellschaftliche und kulturelle Dynamiken von Macht, Normierung, Regulierung und Repräsentation analysieren, aufdecken und hinterfragen. Im Rahmen dieses Beitrags können sie nur schlaglichtartig mit Blick auf wenige zentrale Theorien und Zugriffe sowie einige wichtige Vertreter: innen beleuchtet werden. 2.4.1 Gender Studies Die Gender Studies - im deutschsprachigen Raum auch Geschlechterfor‐ schung genannt - sind ein interdisziplinäres wissenschaftliches Feld, das sich mit der Analyse von Geschlecht in seinen gesellschaftlichen, kultu‐ rellen, politischen und historischen Dimensionen beschäftigt. Geschlecht wird dabei als universelle Kategorie verstanden, die alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst und insbesondere dort zum Tragen kommt, wo Machtver‐ hältnisse greifen. Im Mittelpunkt der Gender Studies, die sich poststruktu‐ ralistischer Annahmen bedienen, steht die kritische Auseinandersetzung mit der sozialen Konstruktion von Geschlecht und mit Geschlechterrollen sowie den hierarchischen Verhältnissen von Geschlechtern und deren Wechsel‐ wirkungen mit anderen Kategorien sozialer Differenzierung, wie etwa Race, Klasse oder Alter (→-Band 3: I). Die zentrale Annahme ist, dass die Merkmale, Eigenschaften und Rollen, die ‚Frau‘ und ‚Mann‘, ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ definieren, nicht biologisch determiniert sind, sondern sozial konstruiert werden. Diese Konstruktionen sind veränderbar und unterliegen gesellschaftlichen Pro‐ zessen der Aushandlung und Neuformierung (vgl. Feldmann/ Schülting 2002: 143). Wesentlich ist dabei die von Gayle Rubin etablierte Unter‐ scheidung zwischen ‚sex‘ (anatomisches Geschlecht) und ‚gender‘ (soziales Geschlecht, also sozial und kulturell geprägte Geschlechterrol‐ len), die in den 1970er-Jahren die Naturalisierung und die vermeintlich selbstverständliche Zuschreibung von Geschlecht problematisiert, folglich die Annahme dekonstruiert, dass sich die Zuschreibungen des sozialen Geschlechts biologisch begründen lassen (vgl. Rubin 1975). Diese Unter‐ scheidung wird in den 1990er-Jahren von Judith Butler abermals proble‐ matisiert bzw. weiter dekonstruiert, insofern dey auch das anatomische Geschlecht als diskursiv erzeugt darlegt: 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 177 <?page no="178"?> Merkkasten: Doing Gender Im Kern von Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity (1990; dt. Ausgabe: Das Unbehagen der Geschlechter, 1991) geht es um die Performativität von Geschlecht: Butler argumentiert, dass nicht nur das soziale Geschlecht (‚gender‘) sozial konstruiert wird, sondern ebenso das anatomische Geschlecht (‚sex‘) diskursiv erzeugt wird. Denn auch die biologischen, vermeintlich natürlichen Zuschreibun‐ gen sind in soziale und kulturelle Kontexte eingebettet, die durch wissenschaftliche (Macht-)Diskurse geprägt sind. Durch das, was über Geschlecht gesagt, gedacht und wie es dargestellt wird, und durch die gesellschaftlichen Regeln und Normen, die bestimmen, was ‚männlich‘ bzw. ‚weiblich‘ ist, werden auch biologische Merkmale konstruiert. Ferner zeigen Abweichungen vom binär gedachten Sys‐ tem, etwa intergeschlechtliche Menschen, laut Butler die biologische Konstruiertheit auf. Geschlecht ist Butler zufolge in jeder Hinsicht ein performativer Akt (‚doing gender‘), der durch wiederholte Handlungen und Prakti‐ ken konstruiert und fortgeschrieben wird - aber durch diese reine Performanz auch das Potenzial besitzt, subvertiert zu werden. Die Ausführungen Butlers dekonstruieren also die tradierten binären Ge‐ schlechterkategorien und die Naturalisierung von Geschlecht. Gerade der performative Charakter von Geschlecht ist demzufolge für poli‐ tische und gesellschaftliche Veränderungen von Bedeutung: Indem Individuen und Gruppen die Normen von Geschlecht und Sexualität infrage stellen, eröffnet sich ihnen die Möglichkeit, bestehende Macht‐ strukturen zu stören und neue Formen der sozialen Gerechtigkeit zu etablieren (vgl. Butler 1991). Gender Studies hinterfragen traditionelle Geschlechterhierarchien, analy‐ sieren Machtstrukturen und untersuchen, wie Geschlecht in verschiedenen Gesellschaften definiert, repräsentiert und (binär/ heterosexuell) reguliert wird (vgl. Schößler/ Wille 2022: 2-3). Bereits hier lassen sich Überschneidun‐ gen respektive Gemeinsamkeiten mit Positionen und impliziten Forderun‐ gen des Poststrukturalismus erkennen (→ Band 3: II.1.2): Der Abgesang auf den westlichen Logozentrismus, die Kritik an binären Systemen (Mann-Frau, Wahrheit-Lüge, Normalität-Wahnsinn) (→ Band 3: II.1.3) 178 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="179"?> Akademi‐ sierung Geschlech‐ terfor‐ schung als ‚Kultur‐ kampf‘ Gender als interde‐ pendente Kategorie sowie das Infragestellen etablierter Identitätskonzepte und des aufkläre‐ rischen/ universellen (männlichen) Subjekts (vgl. Schößler/ Wille 2022: 4) zeichnen ebenso das poststrukturalistische Denken wie die Gender Studies aus. Beeinflusst von der US-amerikanischen Forschung wurden die Gender Studies seit Beginn der 1990er-Jahre auch im deutschsprachigen Raum akademisch institutionalisiert, sodass es zu einer deutlichen Theoretisierung von Geschlechterfragen kam (vgl. ebd.: 5). Das Studienfach Gender Studies ist stark interdisziplinär ausgerichtet und bezieht Methoden und Perspektiven aus verschiedenen Fachrichtungen wie der Soziologie, Geschichte, Politikwissenschaft, Psychologie, Literatur‐ wissenschaft und Philosophie; es zielt darauf ab, die normativen Vorstellun‐ gen von Geschlecht zu dekonstruieren und zu einer gerechteren, weniger ge‐ schlechterbasierten Gesellschaft beizutragen. Daher sind die Gender Studies auch von einer erkenntnisleitenden theoretischen und methodischen Vielfalt geprägt, die für Studierende der Gender Studies mitunter eine große Herausforderung darstellen kann, da sowohl Wissenschaft als auch Berufsperspektiven noch immer disziplinär geprägt sind (vgl. Brand/ Sabisch 2018: 1044). Da sich auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Gender verändert und intensiviert hat, geraten die Gender Studies „[t]rotz oder wegen ihrer Etablierung zunehmend in einen regelrechten Kulturkampf “, der auch „diagnostische Qualitäten“ für den Zustand einer Gesellschaft haben kann (Schößler/ Wille 2022: 10). So finden sich mittlerweile in aktuellen Einfüh‐ rungen in die Gender Studies explizite Ausführungen und Kapitel, die sich mit diesen Entwicklungen von Geschlechterforschung als ‚Kulturkampf ‘ auseinandersetzen (vgl. z. B. ebd.). Im Vergleich zum 20. Jahrhundert haben sich die Gender Studies im 21. Jahrhundert sowohl in der Theoriebildung als auch in den Forschungs‐ feldern weiterentwickelt: So hat sich der Begriff und das Konzept der Intersektionalität (→ Band 3: I) als Schlüsselkategorie etabliert. Die Idee, dass ‚Geschlecht‘ immer in Wechselwirkung mit anderen sozialen Kategorien wie Race, Klasse, Ethnizität, Sexualität oder Behinderung steht, wurde systematisch in die Geschlechterforschung integriert. So zeichnen sich die Gender Studies im 21. Jahrhundert vor allem durch internationale, interdisziplinäre und intersektionale Ansätze aus, die im Vergleich zum 20. Jahrhundert wesentlich diversifizierter und stärker glo‐ bal ausgerichtet sind und somit zur Ausdifferenzierung, Erweiterung und 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 179 <?page no="180"?> 27 Das Akronym LGBTQIA+ steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Inter‐ sexual, Asexual/ Agender und das angehängte Plus für alles dazwischen und darüber hinaus. 28 Angelehnt an den Begriff der Heteronormativität wurde in den frühen 1990er-Jahren auch der Begriff der Homonormativität geprägt, der meint, dass Geschlechternormen in schwulen und lesbischen Kontexten heteronormativ reproduziert würden. Auch der Wunsch nach Zugang zu Institutionen heteronormativer Bürgerlichkeit, wie der Pluralisierung von Diskursen und Bereichen führten (vgl. ebd.: 6-8). Im interdisziplinären Forschungsfeld, das Geschlecht als zentrales Element der sozialen, kulturellen und politischen Strukturen untersucht, geht es mittler‐ weile folglich nicht nur um das Verständnis von Geschlechterrollen und Identitäten sowie die damit einhergehenden Machtverhältnisse, sondern auch um die Dekonstruktion von Geschlechtern und die Verknüpfung von Geschlecht mit anderen Kategorien und (queeren) Theorien: Im Fokus stehen dabei Themen und Tendenzen wie bspw. globale Perspektiven oder dekoloniale und postkoloniale Ansätze (→ Band 3: II.2.2 und II.2.3), mit denen u. a. westliche, eurozentrische Konzepte von Geschlecht hinterfragt und beleuchtet werden. Auch neue soziale Bewegungen und (queer-)femi‐ nistischer Aktivismus haben Einfluss auf die Gender Studies und gesell‐ schaftliche Debatten, wie der Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt (Femizide, #metoo), reproduktive Rechte und Körperpolitik (Pro-Choicevs. Pro-Life-Bewegungen) sowie LGBTQIA+-Rechte. 27 Darüber hinaus kann im Kontext von Technologie und Digitalisierung z. B. der Einfluss von digitalen Medien auf Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und soziale Interaktionen thematisiert werden (→-Band 3: II.2.9). Besonders auf die (De-)Konstruktion von (binären, heterosexuellen) Ge‐ schlechtsvorstellungen soll im Folgenden anhand der Queer Studies und der Men’s Studies näher eingegangen werden. 2.4.1.1 Queer Studies und Queer Theory Die Queer Studies entstanden in den frühen 1990er-Jahren im anglophonen Raum und sind inzwischen ein etabliertes Forschungsgebiet, wenngleich dies in Deutschland länger gedauert hat und mit weniger Institutionalisie‐ rung verbunden war (vgl. Laufenberg 2022: 10). Die Queer Studies befassen sich mit dem Schrägen, Verqueren, das Heteronormativität hinterfragt und ‚queeren‘ (verqueren/ durchkreuzen) möchte (vgl. Schößler/ Wille 2022: 90). Heteronormativität 28 meint, dass Heterosexualität als soziale Norm 180 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="181"?> Ehe, wird damit kritisiert. Schwule und lesbische Kultur büße durch eine solche Homonormativität ihren politischen Charakter ein (vgl. Laufenberg/ Trott 2023: 72-73). 29 Dies zeigen u. a. die Arbeiten von Adrienne Rich und Gayle Rubin, die für eine queere Theoriebildung zentral waren (vgl. Laufenberg/ Trott 2023: 12). postuliert und von einer binären Geschlechterordnung ausgegangen wird, in welcher das anatomische/ biologische Geschlecht (‚sex‘) mit dem sozialen Geschlecht (‚gender‘) übereinstimmt und in der die sexuelle Orientierung jeweils gegengeschlechtlich ist. Es wird folglich davon ausgegangen, dass jede Person nur eins von zwei Geschlechtern hat, nämlich entweder männ‐ lich oder weiblich, und dass dieses Geschlecht schon bei der Geburt an den Genitalien abgelesen werden kann. Außerdem wird davon ausgegangen, dass diese Geschlechter sich grundlegend voneinander unterscheiden und sich sexuell und romantisch aufeinander beziehen. Zusätzlich gibt es die Erwartung, dass alle Menschen in monogamen, romantischen und sexuellen Beziehungen sind oder sein wollen. (Queer Lexikon 2024b) Das Infragestellen von Heteronormativität und -sexualität war bereits in den Debatten um die Unterdrückung von Frauen und um Sexualität, die im lesbischen Feminismus der 1970er- und 1980er-Jahre geführt wurden, zen‐ tral (vgl. Laufenberg 2022: 28). Diese Debatten boten Anknüpfungspunkte für die Queer Studies, die aus verschiedenen Forschungsfeldern hervorge‐ gangen sind: aus der Frauen- und Geschlechterforschung und aus den Gay and Lesbian Studies (vgl. Laufenberg/ Trott 2023: 10). Heute sind die Queer Studies stark ausdifferenziert und die Positionen nicht einheitlich. 29 Als Studienfach sind sie meist in die Gender Studies eingebettet, als theoretische Ansätze aber auch in vielen anderen Fächern verankert - bspw. in der Literatur-, Medien-, Sprach- und Kulturwissenschaft, in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, in der Geschichte und Philosophie, aber auch in den Naturwissenschaften. Mehr noch als das Forschungsgebiet sind also seine Theorien institutionell verankert (vgl. Laufenberg 2022: 12). Von den Randgruppen lesbischer und schwuler Communitys über die Mainstreampresse schaffte es der Begriff ‚queer‘ in den frühen 1990er-Jah‐ ren auch in akademische Diskurse. Die Literaturwissenschaftlerin Eve Kosofsky Sedgwick sprach damals vom Anbruch einer queeren Zeit (vgl. ebd.: 9). Laut Mike Laufenberg war ‚queer‘ in der Genese „die kompromiss‐ lose Bezeichnung für ein Denken, ein Begehren und eine Politik, die sich 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 181 <?page no="182"?> gegen das richteten, womit man am wenigsten zu schaffen haben wollte: das straighte Leben“ (ebd.: 10). Merkkasten: Zum Begriff ‚queer‘ Der Begriff ‚queer‘ dient heute als Sammelbegriff (‚umbrella term‘) für ein politisches Bündnis von Personen und Gruppen, die aufgrund ihrer Sexualität und/ oder ihres Genders marginalisiert werden, und war ursprünglich ein Schimpfwort für homosexuelle Personen, die damit als verquert oder seltsam gelabelt wurden. Die Beleidigung wurde sich jedoch von der LGBTQIA+-Community selbstermächti‐ gend angeeignet (vgl. Laufenberg/ Trott 2023: 21). Dem Begriff ist somit eine Geschichte von Ausschluss und Diskriminierung, aber auch von Selbstbehauptung und Angriff eingeschrieben (vgl. Jagose 2017: 13). Da viele Wünsche und Forderungen der queeren Community bis heute unerfüllt geblieben sind bzw. ganz allgemein „[e]ine radikale Umgestaltung der Gesellschaft, die darauf abzielt, queeres Leben in all seinen Erscheinungsformen aktiv zu befördern und auszuweiten“ (Laufenberg 2022: 11) weiterhin aussteht, hat der Begriff ‚queer‘ nicht an Aktualität verloren. ‚Queer‘ sträubt sich gegen eine klare Definition - zumal einige Wissenschaftler: innen der Meinung sind, dass die Queer Theory als zunehmend normative akademische Theorie den Anspruch, queer zu sein, ohnehin unglaubwürdiger mache. Argumentiert wird, dass Wis‐ sen und Kritik, die auf soziale und politische Kämpfe zurückzuführen sind, durch eine Institutionalisierung an Radikalität verlieren könnten. Die Bedeutung und der Nutzen des Begriffs sind daher nicht eindeutig festgelegt (vgl. Jagose 2017: 7-18, Laufenberg 2022: 12-13). Laufenberg weist darauf hin, dass diese Uneindeutigkeit und Unbestimmtheit im schlimmsten Fall auch dazu führen könnte, dass Theoretiker: innen sich nicht angreifbar machen oder Schwächen und Unverständliches übergehen (vgl. ebd.: 14). Die Queer Theory möchte Heteronormativität analysieren und destabi‐ lisieren und damit einhergehende kulturelle Konstruktionen und Macht‐ verhältnisse sichtbar machen. Ferner behandelt sie die Trennung und De‐ konstruktion von sozialem und anatomischem Geschlecht, macht sexuelle 182 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="183"?> Die Histori‐ sierung von Geschlecht Vielfalt sowie diverse Genderidentitäten und Intersektionen sichtbar und betrachtet Sexualität im historischen Wandel (vgl. Schößler/ Wille 2022: 90). Dem queertheoretischen Zugriff der Anfangszeit, der sexuelle und ge‐ schlechtliche Identität in den Mittelpunkt stellte, wurden schon damals gesellschaftstheoretische Defizite vorgeworfen. Er zeige außerdem eine zu starke Abstraktion von den konkreten Lebensrealitäten und den Kämpfen sexueller und anderer marginalisierter Gruppen sowie Versäumnisse in der Analyse von Rassismus, Klassenverhältnissen und Kapitalismus als materiellen Bedingungen, unter denen sich diskursive Verschiebungen ereignen und Sexua‐ litäts- und Geschlechternormen artikulieren. (Laufenberg 2022: 18) Auf diesen ersten Zugriff, der sexuelle und geschlechtliche Identität zen‐ trierte und insbesondere anhand der Differenz von Homo- und Heterosexua‐ lität bearbeitete, folgte eine Queer-of-Color-Kritik, die u. a. die Perspektiven von Schwarzen und People of Color, die Betrachtung von Klassenprivilegien und Kapitalismus sowie intersektionale Analysen ergänzte. Sexualität war hier neben Geschlecht, Race und Klasse ein Aspekt, aber nicht mehr der zentrale. Beide queertheoretischen Ausrichtungen entwickelten sich infolge in Relation zueinander (vgl. ebd.: 18-19). Die Queer Theory ist also eine kritische Theorie, die solidarisch aus‐ gerichtet ist und eine gesellschaftliche Veränderung vorantreiben möchte, weshalb Theorie und Praxis ineinandergreifen. Angesichts aktueller politi‐ scher Entwicklungen ist sie nicht weniger relevant geworden, denn wie schon in den frühen 1990er-Jahren, als Sedgwick eine queere Zeit ausrief, erleben wir auch heute einen gesellschaftlichen und politischen Backlash gegen queerfeministische, anti-rassistische Errungenschaften (vgl. ebd.: 20- 24). Ein wichtiger Zugriff der Queer Studies ist die Historisierung von Ge‐ schlecht, zu welcher der französische Philosoph und Historiker Michel Fou‐ cault mit Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen (1976) maßgeblich beitrug. Foucault untersucht darin die Trias Macht, Wissen und Sexualität (→ Band 3: II.1.3). Seine kritische Auseinandersetzung damit, wie Sexualität historisch und diskursiv konstruiert und dabei eng an Machtstrukturen geknüpft wurde, setzte für die Queer Theory wichtige Impulse. Foucault argumentiert, dass die westliche Gesellschaft eine komplexe Beziehung zur Sexualität entwickelt habe, die nicht nur durch Unterdrü‐ ckung, sondern seit dem 18. Jahrhundert durch zunehmende Thematisie‐ rung und seit dem 19. Jahrhundert durch regulierende (etwa medizinische, 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 183 <?page no="184"?> 30 1990 erschien auch Epistemology of the Closet von Eve Kosofsky Sedgwick, der neben Gender Trouble als Gründungtext der Queer Theory gilt - wenngleich in beiden Büchern nicht das Wort ‚queer‘ verwendet wird. Sedgwicks Studie wurde im deutschsprachigen Raum jedoch deutlich weniger rezipiert; bis heute wurde Epistemology of the Closet nicht vollständig ins Deutsche übersetzt (vgl. Laufenberg/ Trott 2023: 24). Körperlich‐ keit und Macht rechtliche oder psychologische) Diskurse gekennzeichnet war. Nicht eine sexuelle Repression habe hauptverantwortlich die sexuelle Freiheit einge‐ schränkt, vielmehr habe diese Repression zur Produktion eines umfangrei‐ chen Willens zum Wissen über Sexualität geführt. Dieses Wissen wiederum wurde nicht verbannt, sondern in spezifische Kanäle gelenkt und institu‐ tionalisiert (vgl. Foucault 2023). Die so institutionell und wissenschaftlich regulierte, einem bestimmten Machtinteresse dienende Sexualität resultierte in einer (Selbst-)Regulierung des Subjekts. In Folge werden Heteronormati‐ vität und Heterosexualität bis heute von vielen als die ‚natürliche‘ Form des Seins und Begehrens betrachtet. Die Queer Studies stellen Heterosexualität jedoch als Norm und Ursprüngliches sowie alternative Begehrensformen als Abweichungen infrage: „Die scheinbaren Abweichungen generieren Normalität, die damit nicht das Ursprüngliche, sondern das Nachträgliche ist.“ (Schößler/ Wille 2022: 93) Die in den Queer Studies ebenfalls zentrale Untersuchung unterschiedlicher Begehrensformen bezieht sich damit aus‐ drücklich nicht auf ein heterosexuelles System, sondern betrachtet alle Begehrensformen als autonome Praktiken (vgl. ebd.: 95). Judith Butlers Abhandlungen Gender Trouble (1990) und Bodies That Mat‐ ter. On the Discursive Limits of „Sex“ (1993; dt. Ausgabe: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, 1995) gehören zu den ersten genderbzw. queertheoretischen Schlüsseltexten, die im deutschsprachigen Raum breit rezipiert wurden und immer noch werden. 30 In Gender Trouble verweist der: die US-amerikanische Philosoph: in Butler nicht nur, wie oben bereits ausgeführt, auf die Performanz von Geschlecht, sondern hinterfragt zudem die Annahme eines einheitlichen weiblichen Subjekts in feministischen Diskursen und hebt die Vielfalt und Differenzen innerhalb der Frauenbewegung hervor. Butler plädiert für eine Diversität der Geschlechtsidentitäten und -erfahrungen, die über die binäre Kategorisierung hinausgehen. Im Kontext dieser konstruierten Binarität kritisiert dey auch den daran geknüpften gesellschaftlichen Zwang zur Heterosexualität, der sich nicht nur in sozialen Erwartungen, sondern auch in institutionellen Strukturen, die heterosexuelle Beziehungen privilegie‐ ren, manifestiert. Diese Strukturen können bspw. in der Ehe, im Rechts‐ 184 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="185"?> system oder in sozialen Praktiken sichtbar werden, die Heterosexualität als Standard festlegen und andere Orientierungen marginalisieren oder sogar pathologisieren. Eine Dekonstruktion heteronormativen Denkens ermögliche es, Individuen, Geschlecht und Sexualität auf unterschiedliche und pluralistische Weise zu erfahren (vgl. Butler 1991). In Körper von Gewicht geht es Butler vor allem darum, gesellschaftliche Konstruktionen von Körperlichkeit und damit verbundene Machtstruktu‐ ren zu hinterfragen. Dey untersucht die gesellschaftlichen Normen, die darüber bestimmen, welche Körper als akzeptabel oder wünschenswert gelten und welche marginalisiert werden. Insbesondere thematisiert Butler, wie Vorstellungen von Schönheit und Körperlichkeit durch kulturelle, soziale und ökonomische Faktoren geprägt sind. Diese Normen führen dazu, dass bestimmte Körper abgewertet oder diskriminiert werden, während andere privilegiert werden. Identität werde nicht nur durch individuelle Erfahrungen, sondern auch durch gesellschaftliche Machtverhältnisse ge‐ formt, die darüber entscheiden, welche Körper und Identitäten ‚legitim‘ sind. In diesem Zusammenhang verweist Butler auch auf die Notwendigkeit, intersektionale Dimensionen von Identität - wie Race, Klasse und Sexualität - zu berücksichtigen, da diese miteinander verflochten sind und die Erfahrungen von Körperlichkeit und Geschlechtsidentität beeinflussen (vgl. Butler 1995). An dieser Stelle sei beispielhaft auf die Intersektion der Queer Studies mit den Disability Studies (→ Band 3: II.2.5) hingewiesen. Letztere kritisieren, dass der weiße männliche, nicht-behinderte Körper als Norm konstruiert wird, und begreifen Behinderung als ein kulturelles, gesellschaftlich hervor‐ gebrachtes Phänomen. Sowohl Gender als auch Behinderung arbeiten sich an den Themen Körper, Identität und Sexualität ab; der idealisierte weibliche und der marginalisierte behinderte Körper werden beide als das ‚Andere‘ des männlich-normativen Körpers konstruiert (vgl. Schößler/ Wille 2022: 102- 104). Eine intersektionale Betrachtung an der Schnittstelle von Gender und Behinderung lässt aber eine Hierarchisierung der beiden sozialen Katego‐ rien deutlich werden, in der Geschlecht und Sexualität vermeintlich keine Rolle mehr spielen, wenn die Behinderung als dominant wahrgenommen wird (vgl. ebd.: 104-106). Um all dies, was durch Normen und Regulierungen unsichtbar gemacht oder marginalisiert wird, an die Oberfläche zu holen, ist für die Literatur- und Medienwissenschaft die Methode des Queer Reading etabliert worden, 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 185 <?page no="186"?> die im Folgenden kurz erläutert und anhand von Harry Potter exemplarisch vorgeführt wird. Merkkasten: Queer Reading In der Literaturwissenschaft wurde die Methode des Queer Reading geschaffen, um marginalisierten Perspektiven und Begehrensformen in kanonischen und neueren Texten nachzugehen: „Queeres Lesen ist Lesen quer zu Kategorisierungen, Normierungen und Ordnungen.“ (Babka/ Hochreiter 2008: 13) Dieses Lektürebzw. Relektüreverfahren ist folglich ein Lesen gegen den Strich, das Subtexte, die sich der heteronormativen Matrix widersetzen, an die Oberfläche holt (vgl. Schößler/ Wille 2022: 98-99). Es geht darum, sich beim Lesen eine queere Welt vorzustellen bzw. „ihre Existenz zu offenbaren“ (Babka/ Hochreiter 2008: 12). Sedgwick hat diese Methode u. a. in ihrer Monografie Novel Ga‐ zing. Queer Readings in Fiction (1997) hinsichtlich queerer Männlich‐ keitskonstruktionen in kanonischen Texten beispielhalft vorgeführt. Das Queer Reading ermöglicht durch Rückgriff auf poststrukturalis‐ tische, dekonstruktivistische, diskursanalytische und psychoanalyti‐ sche Theorien und Methoden Lesarten, welche die Konstruktion von binären Sexualitäts- und Geschlechtskonzepten de‐ couvrieren und zugleich Elemente von Widerständigkeit und Gegenläufig‐ keit erkennen lassen, die aufgrund der Konstruiertheit von ‚Männlichkeit‘, ‚Weiblichkeit‘, ‚Heterosexualität‘, ‚Homosexualität‘ mit eingeschrieben sind. (Babka/ Hochreiter 2008: 12, vgl. auch Kauer 2019, Kraß 2003) Die Kunst liegt folglich darin, das herauszulesen, was eigentlich nicht gemeint ist, was jenseits binärer Logiken stattfindet, wie etwa unerlaubtes Begehren (vgl. Babka/ Hochreiter 2008: 13). So ließe sich z. B. nach der Inszenierung von Geschlecht und Sexualität fragen und nach den Machtverhältnissen, innerhalb derer sie sich (nicht) entfalten dürfen. Interessant könnte auch sein, an welchen Stellen diese Machtverhältnisse ins Wanken kommen und ob alternative Allianzen entstehen. Zudem kann man den Blick auf die Rand- und Nebenfiguren lenken, auf die Leerstellen und Deutungsoffenheit, die ihre nicht auserzählten Geschichten den Leser: innen eröffnen. 186 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="187"?> 31 Die Trans Studies sind ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das sich mit Fragen zu Geschlecht, Identität und Erfahrungen von trans Personen beschäftigt. Sie untersuchen, wie Geschlechtsidentitäten in Abgrenzung zu und jenseits von Cisgeschlechtlichkeit konstruiert, erlebt und ausgedrückt werden. In den Trans Studies geht es um margina‐ lisierte Identitäten, die neben trans bspw. nicht-binär, genderqueer, fluide oder agender sein können. Mit ‚cis‘ ist das Gegenstück von ‚trans‘ gemeint, es wird verwendet, „um auszudrücken, dass eine Person das Geschlecht hat, [das ihr] bei der Geburt aufgrund der Genitalien zugewiesen wurde.“ (Queer Lexikon 2024a) Queere Realitäten und Frage‐ stellungen heute Dieses Lektüreverfahren ist ein transmediales, denn es arbeitet mit einem weiten Textbegriff, lässt sich also nicht nur auf Literatur, son‐ dern auch auf Filme oder andere soziale und kulturelle Erscheinungen, die sich zeichenhaft deuten lassen, anwenden (vgl. ebd.). Noch immer realisieren sich queere Lebensweisen und Räume als Gegen‐ öffentlichkeiten und Gegenkulturen, die - wie ihre Beforschung - kaum Institutionalisierung finden. Privates, das aus der dominanten Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, findet häufig aktivistisch oder künstlerisch Ausdruck. Persönliches, das für gewöhnlich in der häuslichen Sphäre verortet wird, wird so in die (Gegen-)Öffentlichkeit getragen - das Private, Intime wird politisch (vgl. Laufenberg/ Trott 2023: 59-61). Dies löst die bürgerliche Tren‐ nung des Privaten und Öffentlichen damit jedoch nicht auf, macht die häusliche Sphäre nicht weniger queer, denn für viele bleibt das Zuhause der einzige Ort „für die Ermöglichung queeren Begehrens und das Ausleben nichtkonformer Geschlechtlichkeit und Sexualität“ (ebd.: 61). Offene queertheoretische Fragen sind heutzutage etwa das Verhältnis der Queer Studies und Trans Studies, die sich im Schatten der Queertheorie ausbildeten, sich von ihr aber emanzipiert haben, 31 welches Ausmaß eroti‐ sche und sexuelle Praktiken im Fokus des Forschungsfeldes einnehmen sollten, das Verhältnis von Queer Studies und marxistischen/ materialis‐ tischen Traditionen (nicht zuletzt aufgrund zunehmender Prekarität), eine Entpolitisierung queerer Bewegungen durch einen konsumfreund‐ lichen ‚queeren Liberalismus‘, der Intersektionen mit anderen Ausschluss- und Unterdrückungsformen nicht berücksichtige, sowie die Frage, inwiefern die amerikanische Queertheorie sich global anwenden lässt bzw. ob die Queer Studies nicht globaler, dezentrierter werden müssen (vgl. ebd.: 86- 99). Diese von Mike Laufenberg und Ben Trott aufgeworfenen Fragen können an dieser Stelle nur knapp wiedergegeben werden, hinterlassen aber 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 187 <?page no="188"?> Dekon‐ struktion männlicher Neutralität Etablierung einen Eindruck der Breite des Forschungsfeldes und seines immer noch stark lebensweltlichen Bezugs. 2.4.1.2 Men’s Studies und Männlichkeit: en Auch die Men’s Studies sind in den Gender Studies verankert und bezie‐ hen theoretische Grundannahmen und Methoden aus der Geschlechterfor‐ schung und den Queer Studies. Es ist daher ein ebenfalls interdisziplinär geprägtes Forschungsfeld, das Erkenntnisgewinne und Diskurse aus Sozial-, Natur- und Geisteswissenschaften sowie der Kunst verbindet und unter verschiedenen Zuschreibungen und Benennungen wie Men’s Studies, Männerforschung, Masculinity Studies oder Männlichkeitsforschung ope‐ riert. Ausgangspunkt ist auch hier das kritische Hinterfragen und Aufbrechen von Geschlecht und Geschlechtlichkeit, was im Falle der Men’s Studies de‐ zidiert mit der Dekonstruktion der scheinbaren Neutralität männlicher Positionen einhergeht. Denn spätestens seit der europäischen Aufklärung ist das kollektive Denken (un)bewusst von der Annahme ‚(nur) Mann ist Mensch‘ geprägt, sodass es gemeinhin zur Verallgemeinerung von ‚Mann‘ zu ‚Mensch‘ kam (vgl. z. B. Schößler/ Wille 2022: 132). Hier setzt die Männer‐ forschung an: Sie kritisiert den „geschlechtslose[n] (Normal-)Menschen“ und markiert „Mannsein ausdrücklich als Geschlechtsrolle“, die ebenso wie Weiblichkeitsentwürfe von Erwartungen, Verhaltensregulierungen respek‐ tive Verboten und Identitätszwängen geprägt ist (ebd.). Ist ‚Geschlecht‘ ein historisches, kulturell und sozial konstruiertes und veränderbares Phäno‐ men, so trifft dies folglich auch auf ‚Mann‘ und ‚Männlichkeit‘ zu. „Ohne ‚Women’s Studies‘ keine ‚Men’s Studies‘“ (Martschukat/ Stieglitz 2008: 34), so ließe sich die Entwicklung der Akademisierung zusammenfas‐ sen. Denn im Zuge der zweiten Welle des westlichen Feminismus und der Neubetrachtung von Geschlechterbeziehungen haben sich Ende der 1960er-Jahre die Men’s Studies in den USA konstituiert und in den 1970er- und 1980er-Jahren an amerikanischen Hochschulen auch etabliert (vgl. Wedgwood/ Connell 2008: 116, Schößler/ Wille 2022: 132). Sowohl im US-ame‐ rikanischen als auch im europäischen Raum ist die Männerforschung poli‐ tisch orientiert respektive engagiert und entsteht als Reaktion auf die Neue Frauenbewegung. Somit sind auch die Men’s Studies - wie die Gender und Queer Studies - von einem politischen Aktivismus bis hin zum ‚Kultur‐ kampf ‘ geprägt: Bereits in den 1990er-Jahren findet sich ein weites Spektrum 188 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="189"?> Theorien und Kon‐ zepte von Männlich‐ keit: en unterschiedlicher Reaktionen von ‚westlichen Männern‘, an dessen Rändern sowohl anti-feministischer Backlash, ‚konkurrierende Opferdiskurse‘ und misogyne Auffassungen als auch pro-feministische und anti-sexistische Männerbewegungen stehen (vgl. Wedgwood/ Connell 2008: 116) - Reaktio‐ nen, die auch im 21. Jahrhundert Blicke auf Männlichkeiten prägen (vgl. bspw. Kaiser 2020). Bei dem Versuch, Theorien ‚des Mannes‘ und seiner Männlichkeit zu eta‐ blieren, gingen in den 1970er-Jahren neben den bereits genannten Konzep‐ ten der Gender und Queer Studies wichtige Impulse von der amerikanischen Psychologie und ihren Theorien der Geschlechterrollenidentität aus, in denen die Veränderungen der Geschlechterrollen eng mit der Evolution moderner Gesellschaften verbunden werden: Traditionell männliche Rollen seien durch die moderne Arbeitswelt entfunktionalisiert, was die männliche Geschlechtsrollenidentität belaste (vgl. Erhart 2016: 11-12). In den 1980er-Jahren konzentrierten sich dann vor allem soziologische Untersuchungen auf die Diskrepanzen zwischen traditionellen Rollenbil‐ dern und sich wandelnden Realitäten. Für die Männlichkeitsforschung sind daher theoretische Ansätze aus der Soziologie, besonders von Raewyn Connell (*1944) und Pierre Bourdieu (1930-2002), relevant, mit denen deut‐ lich wird, dass auch Männlichkeitsentwürfe Normierungen und Zwängen unterliegen. Als eine Art „‚Gründungstext‘ der sozialwissenschaftlichen Männlich‐ keitsforschung“ (Meuser/ Müller 2015: 10) fordert der Aufsatz Toward a New Sociology of Masculinity (1985) eine Neuausrichtung der Männerforschung und etabliert die Theorie der „hegemonic masculinity“ (Carrigan et al. 1985: 592). Die Soziolog: innen plädieren dafür, Männer nicht (mehr) als ho‐ mogene Kategorie zu betrachten, sondern diese vielmehr in ihren jeweiligen historischen Kontexten zu differenzieren, denn: It is, rather, a question of how particular groups of men inhabit positions of power and wealth, and how they legitimate and reproduce the social relationships that generate their dominance. An immediate consequence of this is that the culturally exalted form of masculinity, the hegemonic model so to speak, may only correspond to the actual characters of a small number of men. (Ebd.) Hegemonie bezieht sich dabei immer auf eine historische Situation, in der Macht erlangt und gefestigt wird. Sie entsteht nicht durch bereits bestehende Gruppen, sondern durch ihre Bildung. Um verschiedene Formen von Männ‐ lichkeit zu verstehen, müssen folglich Praktiken untersucht werden, die 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 189 <?page no="190"?> 32 Zur Kritik an Connells Konzept siehe neben Scholz 2017 auch den Überblick bei Meuser/ Müller 2015: 11. 33 Laut Tholen spielt Bourdieus Ansatz in der germanistischen Männlichkeitsforschung - anders als z. B. in Frankreich - bisher eine geringere Rolle als Connells Arbeiten. Dies liegt vermutlich daran, dass Männlichkeit in der Literatur eher differenziert nach Epochen und ästhetischen Darstellungsformen analysiert wird; sie wird als historisch wandelbare, dynamische Kategorie betrachtet, die durch rein herrschaftssoziologische Ansätze nicht ausreichend erfasst werden kann (vgl. Tholen 2016: 270). Hegemo‐ niale Männ‐ lichkeit Männlicher Habitus Hegemonie innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft schaffen oder anzweifeln (vgl. ebd.: 594). Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit wurde Mitte der 1990er-Jahre - besonders durch Connells Studie Masculinities (1993; dt. Ausgabe: Der gemachte Mann, 1995) - zur Leitkategorie der Männlichkeits‐ forschung. Hegemoniale Männlichkeit ist dabei „kein starr, über Zeit und Raum unveränderlicher Charakter“ (Connell 2015: 130), sondern kann und wird immer wieder infrage gestellt. Für die aktuelle westliche Geschlech‐ terordnung nennt Connell neben der Hegemonie weitere Formen: Unter‐ ordnung, Komplizenschaft, Marginalisierung (vgl. ebd.: 129-135) und als neue hegemoniale Form die „transnationale Business-Männlichkeit“ (ebd.: 41). Bereits im englischen Titel der Studie, Masculinities, findet sich der zentrale Ausgangspunkt der Betrachtung von Männlichkeit: der Plural. Ein plurales Verständnis von Männlichkeit stellt die traditionelle, ge‐ sellschaftlich verankerte binäre Geschlechterordnung infrage, sodass sich Verbindungen zu den Queer und Trans Studies sowie dem dekonstruktiven Feminismus herstellen lassen und folglich von Männlichkeit: en gesprochen werden kann. Da Connell Männlichkeit: en aus einer macht- und herrschafts‐ kritischen Perspektive analysiert, ist das Konzept besonders anschlussfähig an Prämissen der Gender und Queer Studies, nimmt jedoch „selbst einen hegemonialen Status der interdisziplinären Geschlechterforschung ein.“ (Scholz 2017: 420) 32 Darüber hinaus ist die europäische Männerforschung von Pierre Bour‐ dieus Theorie der ‚männlichen Herrschaft‘ geprägt: La domination masculine (1998). 33 Ausgehend von seinen Feldforschungen in Algerien und den zentralen Begriffen seiner Gesellschaftstheorie (symbolische Gewalt - Habitus - Körper) untersucht der Soziologe männliche Herrschaft als sym‐ bolische Gewalt und benennt diese als geschlechtsspezifischen Habitus (vgl. Bourdieu 2012: 8-11). Der männliche Habitus umfasst verinnerlichte und 190 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="191"?> Literatur‐ wissen‐ schaftliche Männlich‐ keitsfor‐ schung unbewusste Verhaltensweisen, Denkstrukturen und Körperhaltungen, die Männer in patriarchalen Gesellschaften prägen. Diese tragen dazu bei, ihre dominante Position gegenüber Frauen zu legitimieren, aufrechtzuerhalten und zu reproduzieren, wodurch Machtverhältnisse gefestigt werden (vgl. Jäger et al. 2012: 24-26). Die sozial konstruierten Ungleichheiten und Unter‐ schiede zwischen den Geschlechtern sind ‚in das Körperliche‘ eingegangen (vgl. Bourdieu 2012: 17) und lassen „die männliche Herrschaft natürlich und unvermeidlich erscheinen“ (Wedgwood/ Connell 2008: 118). Diese Ansätze teilen die grundlegende Gemeinsamkeit, dass Männlichkeit durch eine doppelte Struktur von Distinktion und Dominanz geprägt ist, die sich sowohl in heterosozialen als auch in homosozialen Beziehungen zeigt. Allerdings setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte: Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit betont vor allem die männliche Dominanz gegenüber Frauen als zentralen Rahmen der Konstruktion von Männlich‐ keit. Bourdieu hingegen rückt die homosoziale Dimension in den Vorder‐ grund; für ihn bilden die Wettbewerbe und Machtspiele unter Männern den entscheidenden Kontext, in dem Männlichkeit definiert und ausgehandelt wird (vgl. Meuser/ Müller 2015: 13). Diese Konzepte von Männlichkeiten als Konstrukt, das durch Macht und Abgrenzung funktioniert - mal gegenüber Frauen, mal im Vergleich mit anderen Männern - lassen sich auch im lite‐ rarischen System anwenden und können in eine literaturwissenschaftliche Männlichkeitsforschung einfließen. Um 2000 wird die Männlichkeitsforschung in germanistischen Gender‐ studien verstärkt thematisiert und findet sich zudem im Umfeld der Queer Studies, u. a. bei den bereits erwähnten Theoretiker: innen Butler, Foucault und Sedgwick. Mit der Methode des Queer Reading werden auch in der Männlichkeitsforschung literarische Texte aller Epochen analysiert. Denn bei der Lektüre und Analyse von Männlichkeiten erweisen sich, so der Literaturwissenschaftler Stefan Krammer, „dekonstruktive Verfahren als besonders nützlich, eröffnen sie doch ein Spiel mit Differenzen, bei dem Zu- und Festschreibungsprozesse reflektiert und deren Loslösung als Empowerment praktiziert werden.“ (Krammer 2018: 8) Mithilfe der De‐ konstruktion (→ Band 3: II.1.2) und einem ‚Wi(e)derlesen‘ im Sinne des ‚Erneut- und Gegenlesens‘ können multiple Männlichkeiten und verschie‐ 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 191 <?page no="192"?> 34 Krammer bezieht sich hier auf Bettine Menkes Definition des Wi(e)derlesens aus ihrer Studie Dekonstruktion der Geschlechteropposition - das Denken der Geschlechterdifferenz: Derrida (1995). dene Geschlechterarrangements sichtbar gemacht werden (vgl. ebd.: 9). 34 In den germanistischen Genderstudien legen vor allem die Arbeiten von Walter Erhart und Britta Herrmann (Wann ist der Mann ein Mann? , 1997) Grundlagen sowie Inge Stephans und Claudia Benthiens Männlichkeit als Maskerade (2003) - „im Sinne einer parodistischen Infragestellung einge‐ spielter Geschlechterrollen und Identitätsauffassungen“ (Stephan 2003: 21). Auch Männlichkeiten sind demnach ‚gemacht‘, eingeübt und angenommen, sodass neben dem ‚doing gender‘ respektive ‚doing masculinity‘ auch ein ‚performing gender‘ für die Analyse relevant wird (vgl. Krammer 2018: 9). Merkkasten: Arbeitsfelder und Entwicklungslinien literatur‐ wissenschaftlicher Männlichkeitsforschung Die Arbeitsfelder umfassen u. a. die Analyse männlicher Autorschaft, die Untersuchung geschlechtsspezifischer literarischer Sozialisation sowie Ansätze zur geschlechtersensiblen Leseförderung, literaturso‐ ziologische Untersuchungen zu männlichen Machtdispositionen im literarischen Feld (bspw. Kanonbildung) oder analytische Textarbeiten bzgl. der Konstruktionen des Männlichen (Männlichkeitsbilder als Selbst- und Fremdbilder). Zudem gehören Rezeptionsforschung und die Beschäftigung mit der Leser: innenschaft (‚männliche Leserschaf‐ ten‘) sowie Fragen der Theoriebildung in Zusammenhang mit femi‐ nistischen Positionen ebenfalls zu den etablierten Arbeitsfeldern (vgl. Krammer 2018: 10). Zentrale Entwicklungslinien der literaturwissen‐ schaftlichen Männlichkeitsforschung sind dabei vor allem folgende (vgl. Tholen 2016: 271-272): 1. Analyse von Frauen- und Männerbildern im Kontext verstärkter Männlichkeitsmarkierung (z. B. in Märchen oder epochenspezifi‐ schen Stereotypen), 2. narrative Herstellung von Männlichkeit abhängig von literari‐ schen Formen wie Textsorten, Genres und Erzählmodi, 3. homosexuelle Literaturwissenschaft, bspw. Motive der Männer‐ liebe, Homoerotik und Homosozialität oder die Bedeutung der Homosexualität der Autor: innen für die Textinterpretation, 192 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="193"?> 35 Vgl. hierzu bspw. auch Kerstin Böhm (2017): Archaisierung und Pinkifizierung. Mythen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Kinder- und Jugendliteratur. Bielefeld: trans‐ cript. Neue(re) Tendenzen der Männ‐ lichkeitsfor‐ schung 4. Kritik an hegemonialer Männlichkeit durch Analysen von Macht‐ formen männlicher Herrschaft, von männlichem Leiden sowie kulturellen Widersprüchen, Grenzen männlichen Begehrens und ‚unmännlicher Männlichkeit‘. Daran anknüpfend fragt Krammer auch nach Fiktionen des Männlichen (2018) im doppelten Sinne: Einerseits werden in der literaturwissenschaft‐ lichen Auseinandersetzung die Kategorien von Geschlecht, einschließlich des männlichen, als Konstrukte betrachtet, die nicht auf natürlichen Gege‐ benheiten beruhen. Andererseits geht es um literarische Texte, die bewusst fiktional gestaltet sind. Die Figuren in diesen Texten - und somit auch das ihnen zugeschriebene Geschlecht - sind ebenfalls erfunden. Männlichkeiten wirken daher stets als ein Produkt von Vorstellung und Fantasie (vgl. Krammer 2018: 8). Dies lässt sich auch auf die Kinder- und Jugendmedienfor‐ schung übertragen: In der (feministischen) Kinderliteraturforschung wurde der Darstellung weiblicher Figuren viel Beachtung geschenkt, was ebenfalls notwendig und von großer Bedeutung ist. Doch birgt eine ausschließliche Konzentration auf Frauen und Mädchen als zentrale Figuren und Themen der Geschlechterforschung in der Kinder- und Jugendliteratur die Gefahr, Männlichkeit als selbstverständlich zu betrachten. Dadurch könnte die An‐ nahme verstärkt werden, dass Mädchen in ihrer Geschlechterrolle definiert sind, während Jungen als ‚natürlich männlich‘ wahrgenommen werden (vgl. Wannamaker 2009: 122). 35 Haben sich die Men’s Studies Ende des 20. Jahrhunderts als eigenständiges Feld der Geschlechterforschung etabliert und eine Akademisierung erfah‐ ren, so finden sich auch im 21. Jahrhundert weitere respektive neue Denk‐ richtungen: Eurozentristische Forschungsarbeiten werden z. B. um Studien über Männer und die Vielfalt von Männlichkeiten aus postkolonialen Ländern, aus Lateinamerika, Asien oder Afrika erweitert, denn Ethnizität, soziale Herkunft und regionale Unterschiede haben Auswirkungen auf die Konstruktionen von Männlichkeit und führen zur Vielfalt in Bezug auf Sexualität, Gewalt, Identität oder Vaterschaft (vgl. Wedgwood/ Connell 2008: 119). Auch Männlichkeit und Nationalismus, Globalisierung und trans‐ 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 193 <?page no="194"?> nationale Männlichkeit prägen zeitgenössische Diskurse. Besonders seit den 2020er-Jahren erhalten diese gesteigerte Relevanz und öffentliches Interesse: Zum einen werden postmoderne und poststrukturalistische Zwei‐ fel am Konzept der ‚Männlichkeiten‘ aufgegriffen, die die hierarchischen Bipolaritäten innerhalb der Forschung kritisieren (vgl. ebd.: 117): Alte und überholte, normierte und binäre Männlichkeitsbilder und -rollen werden dekonstruiert, der ‚alte weiße Mann‘ angegriffen sowie ‚toxische Männlich‐ keit‘ offengelegt. Zum anderen bieten der anti-feministische Backlash, der offene, z. T. gesellschaftlich legitimierte Antifeminismus und die (un)sicht‐ bare Misogynie (vgl. bspw. Kaiser 2020) Anlass, Männer- und Männlichkeits‐ forschung neu/ weiter zu denken und bspw. gegenüber den Queer Studies zu öffnen. Denn verstärkt seit Beginn der 2000er-Jahre wird ein neuer Blick und Umgang mit Männlichkeit: en, Maskulinität und deren Bewertung sichtbar. So rücken in fachlichen Diskursen und in der Populärliteratur seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend alternative Vorstellungen von Männlichkeit: en in den Vordergrund und die Risiken sogenannter ‚toxi‐ scher Männlichkeit‘ werden diskutiert. Diese Debatten zielen darauf ab, traditionelle, oft schädliche Männlichkeitsnormen zu hinterfragen und neue, vielfältigere Rollenbilder zu fördern: Toxische Männlichkeit ist ein zentraler Begriff des gegenwärtigen Genderdiskur‐ ses, mit dem eine gesellschaftliche Vorstellung von hegemonialer Männlichkeit (als schädlich und destruktiv) bezeichnet wird. Dabei stehen sowohl Machtstruk‐ turen als auch männliches Verhalten und Selbstbilder im Fokus der Kritik. (Schößler/ Wille 2022: 133) Bereits diese konzisen Ausführungen machen deutlich, dass die Men’s Stu‐ dies von diversen Männlichkeitsidentitäten und -erfahrungen durchzogen sind. So stellt sich auch für die Herausgeber: innen des Handbuch Männlich‐ keit (2016) die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, die binäre Gegenüberstel‐ lung von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ aufzugeben. Stattdessen könnte/ sollte ‚Geschlecht‘ als performativer Akt betrachtet werden, der durch die wiederholte Ausführung und Übernahme geschlechtlich codierter Verhal‐ tensweisen und Erscheinungsformen fortwährend die Geschlechtsidentität und körperliche Geschlechtlichkeit der Akteur: innen mitkonstituiert (vgl. Horlacher et al. 2016: 2). In den Gender und Queer Studies sind diese von Butler geprägten Überlegungen bereits etabliert, doch werden diese in der Männlichkeitsforschung weitaus zögerlicher aufgenommen und mitge‐ dacht (vgl. ebd.). Es lässt sich dennoch festhalten, dass sich die Men’s 194 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="195"?> Studies im 21. Jahrhundert auf internationaler Ebene stark ausdifferenziert und intersektional ausgerichtet haben; auch Männlichkeit: en müssen als ‚Schnittstelle‘ verschiedener Differenzkategorien wie Race, Klasse, Alter, Religion, Sexualität, Ethnizität verstanden werden. Merkkasten: Zentrale Fragen aus gender- und queertheoreti‐ scher Perspektive 1. Geschlechterrollen und -identitäten • Welche Rollen und Eigenschaften werden den Geschlechtern zugewiesen? • Welche historischen oder kulturellen Einflüsse sind in der Darstellung von Geschlecht erkennbar? • Inwiefern entsprechen oder widersprechen die Darstellun‐ gen traditionellen oder kulturellen Geschlechtererwartun‐ gen? • Welche Konflikte oder Themen entstehen aufgrund von (sich verändernden) Geschlechterdynamiken? • Wie wird Gender performiert? (Kleidung, Frisur, Aufgaben‐ verteilung, Verhaltensweisen etc.) • Schreibt die Performanz eine Binarität fort oder durchbricht sie diese? Wie/ durch wen wird diese Dekonstruktion ge‐ schildert und wie wird sie bewertet? • Welche literarischen/ medialen Techniken und stilistischen wie narrativen Entscheidungen werden verwendet, um Ge‐ schlechterdynamiken zu behandeln? (z. B. Erzählperspek‐ tive, Sprache, Stilmittel) 2. Machtverhältnisse • Welche Machtstrukturen und Hierarchien werden deutlich? • Wie wird soziale oder materielle bzw. ökonomische Macht durch Geschlecht dargestellt? • (Wie) wird die Marginalisierung oder Unterdrückung be‐ stimmter Gruppen dargestellt und kritisiert? • Gibt es Haupt- oder Nebenfiguren, die mit der Norm bre‐ chen? Wird eine Gegenkultur (randständig oder zentriert) erzählt? • Werden die Abweichungen von der vermeintlichen Norm problematisiert oder als selbstverständlich dargestellt? 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 195 <?page no="196"?> • Gibt es im Kontext der Normierungen/ Regulierungen Antagonismen zwischen unterschiedlichen Lagern und/ oder Allianzen marginalisierter Figuren/ Gruppen? 3. Destabilisierung der heterosexuellen Matrix • Wie werden sexuelle Beziehungen und Wünsche beschrie‐ ben und welche gesellschaftlichen Normen spiegeln sich darin wider? • Gibt es eine Regulierung und Normierung von sexuellem Begehren und geschlechtlicher Identität? Wie bzw. durch wen oder was wird diese durchgesetzt? • Gibt es Figuren, die die heterosexuelle Matrix infrage stellen, durchbrechen, destabilisieren oder nicht erfüllen? • Wird diese Infragestellung explizit durch Figuren themati‐ siert, die eindeutig zur LGBTQIA+-Community gehören? • Werden alternative, nicht-heteronormative Formen von Ge‐ schlecht und Begehren implizit thematisiert bzw. wird ihnen durch Leerstellen/ Deutungsoffenheit Raum gegeben? 4. Geschlecht im Verhältnis zu anderen sozialen Kategorien • Gibt es Formen intersektionaler Diskriminierung und wie werden andere Identitäts- und Differenzkategorien in Ver‐ bindung mit Geschlecht dargestellt? (u. a. Race, Klasse, Be‐ hinderung, Alter) • Gibt es eine Hierarchisierung der Diskriminierungsformen? • Wird über Körperlichkeit Diskriminierung, Ausschluss, Le‐ gitimität oder Marginalisierung verhandelt? 2.4.2 Aparecium! ‚Sichtbarkeitszauber‘ durch ein Queer Reading von Harry Potters Storyworld Seit einigen Jahren macht J. K. Rowling vor allem durch transfeindliche Aussagen auf sich aufmerksam und ist für viele (ehemalige) Fans von Harry Potter gewissermaßen zu ‚she who must not be named‘ geworden - zu einer Autorin, die idealerweise keine Erwähnung mehr finden und keinen Profit mehr machen sollte. Nun gibt es seitens der Leser: innen zwei Möglichkeiten, sich dazu zu verhalten und konkret Einfluss zu nehmen: Die einen möchten mit der Harry Potter-Storyworld nichts mehr zu tun haben, die anderen eignen sie sich an. Letzteres ist vor allem durch ein Queer Reading möglich, 196 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="197"?> 36 Annette Wannamaker stellt in ihrem Aufsatz Men in Cloaks and High-heeled Boots, Men Wielding Pink Umbrellas: Witchy Masculinities in the Harry Potter Novels Diskus‐ sionen und Argumente zusammen, die gerade in der stereotypen und konventionellen Darstellung von Jungen und Männern den Erfolg der Harry Potter-Bände sehen (vgl. Wannamaker 2009: 124-127). das unter die Oberfläche schaut, den Text dekonstruiert und ihn gegen den Strich liest - eine Relektüre folglich, die vermutlich auch Rowling gegen den Strich gehen würde. Auch mit dieser Absicht, der ‚hate speech‘ der Autorin etwas entgegenzusetzen, aber vor allem, um die Methode des Queer Reading einmal exemplarisch vorzuführen, werden die Harry Potter-Bücher und -Filme im Folgenden auf unterschiedliche gender- und queertheoretische Aspekte hin durchleuchtet: Wie heteronormativ ist die erzählte Welt? Welche Rolle spielen Gender, insbesondere Männlichkeit: en, und Queerness? Welche Zuschreibungen erfahren unterschiedliche Körper, wie werden sie bewertet und hierarchisiert? 2.4.2.1 Macht und Männlichkeiten An der Oberfläche betrachtet gestaltet sich die Welt rund um Harry Potter und seine Freund: innen in einem heteronormativen Rahmen und mit geschlechterstereotypisierten Zuschreibungen: Ob bei den Dursleys, den Weasleys, den Grangers oder auch allen anderen Familien, die den Leser: innen begegnen - überall ist es eine traditionelle, meist durch die Ehe validierte, Familienform mit Mutter, Vater und Kind(ern), die präsentiert und als vermeintliche Norm bestätigt wird. 36 Auf den zweiten Blick fällt jedoch auf, dass alle Professor: innen in Hogwarts ohne Ehe- oder Lebenspartner: in‐ nen sind, wodurch sich eine vieldeutige Leerstelle in der vermeintlich heterosexuellen Matrix aufmacht (vgl. Hecke 2017: 199). Und betrachtet man bspw. Väter-Diskurse in der Wizarding World, dominieren zunächst ‚klassische‘ patriarchale Familienstrukturen sowie Relationen hegemonialer Männlichkeiten. Doch auch hier zeigt sich beim genaueren Hinsehen ein Abweichen vom Stereotyp, etwa durch die ‚Macht der Mutterschaft‘, die entscheidende Handlungen motiviert: Lily Potters Liebe für Harry über den Tod hinaus, Merope Gaunts fehlende Liebe für ihren Sohn Tom Riddle oder der Kampf zwischen Molly Weasley und der ‚Un-Mutter‘ Bellatrix Lestrange (→-Band 3: II.1.3). Die vordergründigen Machtstrukturen sind jedoch durchweg männlich respektive patriarchal geprägt. Im Sinne Connells lassen sich an den 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 197 <?page no="198"?> 37 Als dieser abgesetzt wird, kommt Dolores Umbridge mit ihrem Machtstreben und ihrer überzeichneten High-Femme-Performanz als Schulleiterin nach Hogwarts. Sie setzt ihren Anspruch auf Autorität ebenfalls mit Gewalt durch, bspw. mithilfe von Disziplinarstrafen (vgl. OoP). 38 Eine Ausnahme stellt Angelina Johnson dar, die sich als einzige Kapitänin jedoch den männlichen Habitus aneignet und den Sieg über das Wohl der Mannschaft stellt (vgl. OoP). verschiedenen heterosozialen Beziehungen, homosozialen Gemeinschaften und institutionellen Einrichtungen in Harry Potter vor allem hegemoniale Konzepte erkennen: So wird Hogwarts patriarchal von Albus Dumbledore geleitet, er ist zudem Gründer des Orden des Phönix und somit zentrales Oberhaupt. 37 Er ist der weise, vorausschauende und mächtige Zauberer, dessen Wort Gesetz ist. Mächtige Zauberer und Vorfahren sind in der Wizar‐ ding World allgemein überwiegend männlich (bspw. Salazar Slytherin oder Gellert Grindelwald). Auch das Zauberministerium wird in der Heptalogie ausschließlich von Männern geleitet, ebenso wie die Quidditch-Teams, an denen sich durch das kompetitive Verhalten und kämpferische Gebären der männliche Habitus nach Bourdieu zeigt: 38 Quidditch ist ein körperbetonter, wettkampforientierter Sport, auf den vor allem Männer zurückgreifen, um Emotionen abzubauen und zu kanalisieren (vgl. Sultan 2020: 177-178). Es fungiert somit als gesellschaftliches Spiel um männliche Existenz und symbolisches Kapital. Denn es ist eine große Auszeichnung und ein Traum vieler Hogwarts-Schüler: innen, Mitglied oder gar Kapitän: in einer Quid‐ ditch-Mannschaft zu sein, wie Rons Wunsch-Spiegelbild im magischen Spiegel Nergeheb zeigt (vgl. Stone: 1: 34: 25-1: 34: 40) (→-Band 3: II.1.4). Doch sind Team und Wettkampf nicht nur Privileg, sondern auch Bürde, da der männliche Habitus auch die Verpflichtung beinhaltet, sich selbst gegenüber stets würdig qua ‚männlich‘ zu sein. Die Anerkennung durch die anderen Spieler: innen ist entscheidend für die Entwicklung eines männlichen Habi‐ tus und je höher das symbolische Kapital des Gegners, desto größer ist die dadurch erlangte Anerkennung. Dieses Verständnis basiert auf dem Konzept der männlichen Ehre, die als Form symbolischer Anerkennung fungiert und maßgeblich zur Positionierung innerhalb männlicher Hierarchien beiträgt (vgl. Budde 2014: 84-86). Besonders deutlich werden das Konzept männlicher Ehre und die hege‐ monialen Machtstrukturen bei Lord Voldemort und seiner homosozialen Gemeinschaft, doch auch Dudley, Harrys Cousin, verkörpert eine Form von hegemonialer Männlichkeit: Er wird als dominant, gewalttätig und herrsch‐ 198 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="199"?> 39 Wannamaker konstatiert, dass Jungen häufig eine ‚Kultur der Grausamkeit‘ erleiden, in der sie physischem und psychischem Missbrauch durch andere Jungen ausgesetzt sind, Übergriffe jedoch selten an Erwachsene melden. Harrys zahlreiche Begegnungen mit Mobbern seien somit eine realistische Darstellung der Herausforderungen, denen Jungen in der heutigen Zeit ausgesetzt sind (vgl. Wannamaker 2009: 138). 40 Lord Voldemort hat in Harry Potter and the Cursed Child ein Kind mit Bellatrix Lestrange. süchtig dargestellt. Er versammelt zudem eine Jungenbande um sich, mit der er Harry schikaniert und erniedrigt (vgl. bspw. Order: 0: 01: 40-0: 02: 36). Solche rein männlichen Gruppen werden in Harry Potter vor allem als Gruppen von Mobbern dargestellt: „At school, Harry had no one. Everybody knew that Dudley’s gang hated that odd Harry Potter in his baggy old clothes and broken glasses, and nobody liked to disagree with Dudley’s gang.“ (PS: 27) In der Muggel-Welt sind es Dudley und seine Schlägerbande, in Hogwarts Malfoy, Crabbe und Goyle, die meist als übermäßig maskuline Tyrannen gezeichnet sind. 39 Bei Lord Voldemort und seinen Anhängern, den Death Eaters, die - bis auf Bellatrix Lestrange, die eine Sonderstellung einnimmt, - alle männlich sind, wird zudem die Beziehung von Hegemonie und Komplizenschaft deutlich: Da die Anzahl von Männern, die ein hegemoniales Muster rigoros und voll‐ ständig umsetzen oder praktizieren, relativ klein ist (vgl. Connell 2015: 133), profitiert die überwiegende Mehrzahl der Männer von der Vorherrschaft dieser Männlichkeitsform über ihre komplizenhafte Männlichkeit. So auch die Death Eaters, die von Voldemorts Herrschaft profitieren, da sie an der patriarchalen Dividende und Voldemorts Macht partizipieren. Vor und nach seinem Exil herrscht er als Dark Lord und verkörpert die hegemoniale Männlichkeit und Dominanz heterosexueller Männer. 40 Hier zeigt sich He‐ gemonie als historisch bewegliche Relation, da sich die Vorherrschaft ebenso wie seine ‚ver-körperte‘ Männlichkeit wandelt: zeitweise auf- und abgelöst wird, sich vom maskulinen Körper trennt, dann wieder als eigentümlich desexualisierte Männlichkeit manifestiert und erstarkt. Voldemorts Herrschaft als Hegemonie wird dabei auch immer wieder brüchig; bspw. wird seine bösartige Gestalt als groß, dürr und unnatürlich blass beschrieben, ohne jegliche körperliche Robustheit, die jedoch typischerweise mit Männlichkeit assoziiert wird. So rückt seine Erscheinung mit den langen, blassen Fingern und der hohen, kalten Stimme in die Tradition des Monströs-Weiblichen und ins unheimliche Androgyne (vgl. Vujin/ Krombholc 2019: 31-32). 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 199 <?page no="200"?> 41 Die Bezeichnung ‚in the closet‘ oder ‚closeted‘ wird im Englischen für homosexuelle Personen verwendet, die sich noch nicht geoutet haben. 2.4.2.2 Queering Masculinities Zwar hat Rowling nach Erscheinen des letzten Harry Potter-Bandes bekannt gegeben, dass Dumbledore schwul ist und in Grindelwald verliebt war (vgl. Roy 2017: 104-105), in den Harry Potter-Büchern und -Filmen findet Dumbledores Homosexualität jedoch keinerlei Umsetzung oder Erwähnung, nur in der Fantastic Beats-Reihe wird dies aufgegriffen, sodass die Autorin vielmehr ‚queerbaiting‘ betreibt. Damit ist eine Marketingstrategie gemeint, deren Ziel es ist, ein queeres Publikum anzulocken (engl. ‚bait‘ = Köder), ohne dass die Queerness letztlich ‚eingelöst‘ wird (vgl. Hecke 2017, Duggan 2019). Fans und Wissenschaftler: innen haben deshalb eigene queere Lesarten gefunden, mit denen sie sich die Romane subversiv aneignen. Anne Balay argumentiert in Rekurs auf Butler, dass Fantasyliteratur im Allgemeinen je‐ nes aufzeigt, was in der Realität ausgeschlossen wird, und dass gerade durch die häufige Abwesenheit von Sexualität eine Tür für queere Interpretationen geöffnet wird (vgl. Balay 2012: 923, 927). Die Literaturwissenschaftlerin Jen‐ nifer Duggan geht sogar so weit, die Harry Potter-Bände als ausgesprochen queer zu bezeichnen: „The Harry Potter texts, for all their surface-level heteronormativity, are nonetheless deeply queer in that they celebrate ‚the weird, the strange, and the nonnormative‘ over entrenched power structures and actors.“ (Duggan 2022: 154) Vor dem Hintergrund dessen, dass alles Abwesende und/ oder Merkwür‐ dige Interpretationsspielraum bietet, kann Harry, der anfangs buchstäblich ‚in the closet‘ 41 (unter der Treppe) lebt, strukturell betrachtet als Stellvertre‐ ter homosexueller und marginalisierter Menschen fungieren, selbst wenn er in den Büchern heterosexuell ist (vgl. Datta 2021: 5, Roy 2017: 108). Auch stehen Regelbrüche in den Harry Potter-Bänden an der Tagesordnung, was als ein Queeren des Alltags gedeutet werden kann (vgl. Cuntz-Leng 2017: 100). Zudem führt Hagrid Harry in eine neue Welt ein, so wie viele Homosexuelle durch eine erfahrenere Person in die queere Community eingeführt werden, und die Zauberwelt und ihre Bewohner: innen müssen vor den Muggels im Verborgenen bleiben, was als Analogie zu Queers gelesen werden kann. Die Angst der Dursleys vor Magie und dass sie Harry immer wieder als ‚anders‘ bezeichnen, lässt sich als Homophobie auslegen 200 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="201"?> (vgl. Pugh/ Wallace 2006: 265-266, Datta 2021: 5-6). Regelmäßig ermahnen sie Harry, sich normal zu verhalten und nicht aufzufallen oder sich zu verstecken, was sich wie eine an queere Personen gerichtete Mahnung lesen lässt (vgl. Roy 2017: 108): Harry fought to keep his face straight as he emerged. „I’ll be in my room, making no noise and pretending I’m not there,“ he said. „Too right you will,“ said Uncle Vernon forcefully. „The Masons don’t know anything about you and it’s going to stay that way.“ (CoS: 11) Marge doesn’t know anything about your abnormality, I don’t want any - any funny stuff while she’s here. You behave yourself, got me? (PoA: 20) Insbesondere da ‚straight‘ im Englischen synonymisch für ‚heterosexuell‘ verwendet wird, drängt sich hier ein Queer Reading geradezu auf: Harry bemüht sich, heterosexuell zu wirken und sich zum Verschwinden zu brin‐ gen, damit niemand seine ‚Abnormalität‘ (Homosexualität) bemerkt. Doch fern der Dursleys verhält es sich anders: In Hogwarts darf Harry er selbst sein. Seine Ausbildung zum Zauberer lässt sich somit als Coming-out deuten (vgl. Cuntz-Leng 2017: 92) - und die Tatsache, dass gerade der Titelheld der Bücher zum Homosexuellen bzw. zum Stellvertreter Homosexueller ernannt wird, impliziert eine Ermächtigung und Zentrierung sonst Marginalisierter. Viele Leser: innen kaufen Harry seine Heterosexualität auch nicht ab: So‐ wohl in seiner Beziehung zu Cho Chang als auch später mit Ginny Weasley verweisen sie auf einen Mangel an sexuellem Begehren (vgl. ebd.: 97-98). Die Vorstellung, mit Cho allein Zeit zu verbringen, löst bei Harry vielmehr negative Gefühle aus (vgl. Mignogna 2017: 1): „Hermione’s words opened up a whole new vista of frightening possibilities. He tried to imagine […] being alone with her [Cho] for hours at a time. […] [T]he thought made his stomach clench painfully.“ (OoP: 406) Auch wird auf einen ausbleibenden Körperkontakt in den Kussszenen der Verfilmungen hingewiesen; ähnlich verhält es sich bei Remus Lupin und seiner Frau Tonks (vgl. Cuntz-Leng 2017: 97-98). Ferner kann die heroische Aufopferung (als männliches Ideal), die sowohl Dobby als auch Colin Creevey für Harry bringen, als Deckmantel von „same sex passion“ (Roy 2017: 110) gelesen werden. Als deutliches Beispiel für Homophobie kann der Werwolf Fenrir Grey‐ back angeführt werden, der im Dienst von Lord Voldemort agiert. Über ihn heißt es, dass er bevorzugt Kinder beißt, um sie zu infizieren und so zu Werwölfen zu machen: 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 201 <?page no="202"?> 42 Bspw. gegenüber Hermione, als sie erkennt, unglücklich in Ron verliebt zu sein, dieser jedoch unter einem fremden Liebeszauber steht und lange nicht begreift, dass sie in ihn verliebt ist (vgl. Prince). Dies macht zugleich ein klassisches Geschlechterrollenver‐ ständnis bei der Kontaktaufnahme deutlich: Die Jungen müssen die Initiative ergreifen, während die Mädchen den abwartenden Part einnehmen (vgl. Rana 2013: 49). „Greyback specialises in children … bite them young, he says, and raise them away from their parents, raise them to hate normal wizards. Voldemort has threatened to unleash him upon people’s sons and daughters; it is a threat that usually produces good results.“ (HBP: 314) Greyback, über dessen Sexualität explizit nichts gesagt wird, werden stig‐ matisierende, perfide Vorurteile gegenüber Schwulen angehaftet, denn die Bevorzugung von Kindern lässt sich als Pädophilie (der Biss quasi als Pene‐ tration mit den Zähnen) und die Infizierung des Blutes als HIV-Anspielung deuten. Werwölfe können demnach bei Rowling als Metapher für schwule, mit HIV infizierte Männer interpretiert werden (vgl. Pugh/ Wallace 2006: 267-268, Mignogna 2017: 1, vgl. auch Bernhardt-House 2008). Das Queer Reading bringt hier folglich auch ein Wertungssystem an die Oberfläche, das Homosexualität mit dem Bösen und Kranken in Verbindung setzt. Als Figur queerer Männlichkeit kann Harry aber auch in dem Sinne gedeutet werden, dass er sich im Spannungsfeld zwischen hegemonialer und untergeordneter Männlichkeit bewegt. Auf der einen Seite erfüllt er viele Aspekte des traditionellen Heldenbildes (vgl. bspw. Berndt/ Steveker 2016): Er ist der ‚Auserwählte‘, mutig, entschlossen und bereit, Verantwortung zu übernehmen. Auf der anderen Seite wird er jedoch häufig als emotional ver‐ letzlich und abweichend von klassischen Männlichkeitsnormen dargestellt, was sich auch in seinem Erscheinungsbild manifestiert: Er wird stets als schmächtig beschrieben, kann ohne seine Brille kaum sehen und hat eine bezeichnende Narbe. Harry zeigt seine emotionale Verletzlichkeit insbeson‐ dere im Umgang mit Verlusten, durch Empathie sowie Mitgefühl 42 und ist bereit, Hilfe von anderen anzunehmen - Eigenschaften, die in traditionel‐ len Männlichkeitsbildern als eher ‚schwach‘ gelten. Karley Adney merkt daher an, dass Harrys Heldentransformation auf einer Balance zwischen stereotypen maskulinen und femininen Eigenschaften beruht, die er durch seine Begegnungen mit Dumbledore, Snape und Voldemort entwickelt (vgl. Adney 2016: 177). Diese Männer zeigen und verstärken Aspekte traditionell männlicher Geschlechterrollen sowie implizit auch deren Dysfunktionalitä‐ ten: Dumbledore verkörpert Individualismus und Ehrgeiz, fördert aber auch 202 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="203"?> Harrys Mitgefühl und Verständnis, indem er ihm Voldemorts Vergangenheit offenbart. Severus Snape hingegen zeigt Aggressivität und ein Festhalten an seinen Überzeugungen und Voldemort verkörpert eine toxische Form hegemonialer Männlichkeit. Durch den Einfluss dieser männlichen Figuren wird Harry zu einem ‚psychologisch androgynen Helden‘, so Adney; die Fähigkeit zur Anpassung und Balance wird als entscheidender Faktor für seinen Erfolg dargestellt: Harry constantly finds himself in ‚unfixed, mutating‘ situations, and he survives because his mentality and skills are also unfixed and mutating, shifting between both masculine and feminine responses. […] Because Harry possesses the flexibi‐ lity of manoeuvring between masculine and feminine traits, he ultimately undoes the greatest dark wizard in history (ebd.: 190). Durch diese Flexibilität und das Oszillieren zwischen geschlechtlichen Zuschreibungen werden auch traditionelle Geschlechterrollen und Er‐ wartungshaltungen aufgebrochen. Weitere dissonante Darstellungen von Männlichkeit finden sich u. a. bei Severus Snape oder Rubeus Hagrid. Äußerlich entspricht Hagrid bspw. dem traditionellen Bild ‚rustikaler Männlichkeit‘: körperlich enorm, stark behaart und ‚wild‘ (vgl. Camacci 2016: 32). Doch werden die mit solch einem Erscheinungsbild einhergehen‐ den Stereotype und erwarteten Männlichkeitskonstruktionen unterwan‐ dert. Zwischenmenschlich ist er nämlich fürsorglich, sensibel und herzlich. Seine ambivalente Geschlechterdarstellung zeigt sich zudem in seinen traditionell weiblichen Handarbeiten, wie Stricken und Backen, sowie in seiner Sorgearbeit/ Care-Arbeit für Tiere; so spricht er von sich selbst als „Mommy“ (Stone: 1: 40: 53). Wannamaker hält diesbezüglich fest, dass gerade die scheinbar widersprüchliche Kombination aus traditionell männlichen und unkonventionellen Eigenschaften einen Großteil von Hagrids Wirkung auf die Lesenden ausmacht, besonders Jungen können sich mit einem Mann identifizieren, der weder als ‚verweichlicht‘ noch als übermäßig maskulin wahrgenommen wird, sondern auf natürliche Weise unterschiedliche Fa‐ cetten männlicher Eigenschaften verkörpert (vgl. Wannamaker 2009: 137). Wenn Hagrid fürsorglich oder emotional ist, ist das somit keine feminisierte Darstellung, sondern Ausdruck einer Männlichkeit, die mit hegemonialen Normen kollidiert und von diesen marginalisiert wird. Bei Snape hingegen lassen sich weibliche Codierungen erkennen, die seine Darstellung als ‚Archetyp‘ des Bösen und des Gestaltwandlers bedin‐ gen: Er wird als Gegenspieler und bösartiger Lehrer eingeführt, stets mit län‐ 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 203 <?page no="204"?> 43 Die Schüler: innen begegnen in Hogwarts der ‚Hegemonie der Geschlechterprägung‘, also der Idee, dass die Gesellschaft Jungen und Mädchen in vorgeschriebene Geschlech‐ terrollen einweist, um Ordnung und Hierarchie aufrechtzuerhalten (vgl. Camacci 2016: 29). geren, fettigen Haaren und im schwarzen Gewand (vgl. bspw. Stone: 0: 51: 20- 0: 52: 07). Bis zum finalen Band bleibt seine Figur rätselhaft, er wandelt zwischen Antagonist, Schatten, dunklem Mentor und Anti-Held (vgl. Vu‐ jin/ Krombholc 2019: 33). Kaum eine andere Figur hat bei den Lesenden so viele Fragen aufgeworfen und hat sich so stark einer klaren Zuweisung und Zugehörigkeit entzogen. Er steht stets an den Rändern und Schwellen der Macht und genießt das Vertrauen von Dumbledore sowie Voldemort. Diese liminale Position lässt sich, wie Vujin und Krombholc konstatieren, auch auf seine Gender-Performanz übertragen: Er präferiert die Magie der Tränke, stellt „the beauty of the softly simmering cauldron with its shimmering fumes“ (PS: 102) über das Schwingen des Zauberstabs und somit das Yonische über das Phallische, das Weibliche über das Männliche, was sich ebenfalls in seinem femininen Patronum, der Hirschkuh, sowie seiner unerschütter‐ lichen Loyalität gegenüber Lily spiegelt (vgl. Vujin/ Krombholc 2019: 35-36). Doch ist dieses Aufbrechen der Geschlechtsidentität in der Figur Snape als Prinzip zum Scheitern verurteilt, denn er wird von Nagini getötet und stirbt mit ‚Tränen der Erinnerung‘ (vgl. Hallows2: 1: 09: 14-1: 11: 10), die im Denkarium seine Identität und tiefe Liebe enthüllen (vgl. ebd.: 1: 15: 30- 1: 23: 04). Dadurch werden auch stereotype Zuschreibungen, gemäß derer ein durch Emotionen geleitetes Handeln weiblich codiert ist, dekonstruiert und die dissonante Darstellung von Männlichkeit unterstrichen. Geschlechterrollen werden u. a. durch bestimmte Verhaltensweisen und äußere Codes aufrechterhalten. Dazu gehört in einem binär gedachten Sys‐ tem etwa eine geschlechtsspezifische Kleidungsart für Männer und Frauen. Diese wird in der Welt um Harry Potter unter den Muggels zwar beibehalten und auch bei den Schüler: innen in Hogwarts findet über und durch die Schuluniform mit Rock und Hose eine Disziplinierung der Geschlechter, ein erlerntes ‚doing gender‘, statt, 43 die fertig ausgebildeten Hexen und Zauberer jedoch tragen alle Roben, die keine Genderspezifik erkennen lassen. Das Unverständnis der zaubernden Bevölkerung für Muggel-Kleidung zeigt sich besonders im vierten Band beim World-Cup-Finale des Quid‐ ditch-Turniers. Dort tragen die Hexen und Zauberer Muggel-Kleidung, um sich zu tarnen und ihr Zusammenkommen unauffällig zu gestalten. Als einer 204 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="205"?> 44 In dieser Art ‚Witzen‘ über Männer in Frauenkleidern offenbart sich Rowlings binärer Blick auf Geschlecht - und es ist besonders reizvoll, solche Textstellen, die ihr essenzialistisches Denken offenbaren, queer zu lesen. der Zauberer darauf angesprochen wird, dass er Frauenkleider trägt, wird das Konzept des ‚doing gender‘ bzw. ‚performing gender‘ deutlich, denn er weigert sich, seinen Kleidungsstil als falsch anzuerkennen, und stellt so die menschengemachte geschlechtliche Codierung von Kleidung als konstruiert aus und infrage: Harry, Ron and Hermione joined it [the queue], right behind a pair of men who were having a heated argument. One of them was a very old wizard who was wearing a long flowery night-gown. The other was clearly a Ministry wizard; he was holding out a pair of pinstriped trousers and almost crying with exasperation. „Just put them on, Archie, there’s a good chap, you can’t walk around like that, the Muggle on the gate’s already getting suspicious -“ „I bought this in a Muggle shop,“ said the old wizard stubbornly. „Muggles wear them.“ „Muggle women wear them, Archie, not the men, they wear these,“ said the Ministry wizard, and he brandished the pinstriped trousers. „I’m not putting them on,“ said old Archie in indignation. „I like a healthy breeze round my privates, thanks.“ (GoF: 95-96) 44 Auch Gilderoy Lockhart, der eigentlich Autor und in The Chamber of Secrets vorübergehend Professor in Hogwarts ist, fällt durch seinen Klei‐ dungsstil auf. Als erfolgreicher Schriftsteller, Schönling und ‚Schwarm‘ vieler weiblicher Figuren (vgl. Chamber: 0: 18: 29-0: 19: 50) betreibt er zudem Mansplaining, u. a. gegenüber der Pflanzen- und Kräuterexpertin Professor Sprout, und erscheint als Vertreter hegemonialer Männlichkeit: „Oh, hello there! “ Lockhard called, beaming around at the assembled students. „Just been showing Professor Sprout the right way to doctor a Whomping Willow! But I don’t want you running away with the idea that I’m better at Herbology than she is! I just happen to have met several of these exotic plants on my travels …“ (CoS: 70) Doch kann Lockhart als Figur gequeerter Männlichkeit und Karikatur hege‐ monialer Männlichkeit gelesen werden. Als ‚queered masculinities‘ können unterdrückte und marginalisierte Männlichkeiten verstanden werden, die aufgrund von Abweichungen vom Ideal nicht den klassischen Normen entsprechen, denen aber das Potenzial zugesprochen wird, dominante bis toxische Männlichkeiten zu entlarven oder zu konterkarieren. Bei Lockhart 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 205 <?page no="206"?> etwa scheinen Kleidungsstil und Charakter feminin codiert und dadurch lächerlich gemacht zu werden. Er trägt in den Büchern meist Lila oder Rosa und in der Verfilmung stets ein perfekt gestyltes Ensemble mit vielen Rüschen und Ornamenten - eine klare Symbolik für Weiblichkeit -, hat eine Vorliebe für Kosmetika, ist selbstverliebt, eitel und ein Blender: „Even the name ‚Gilderoy‘ has roots in the word ‚gilded‘, which means something that looks flashy or expensive but is actually worthless, like a plastic watch with gold paint over it.“ (Camacci 2016: 32) Lockharts Unfähigkeit wird letztlich aufgedeckt und bestraft, denn er landet durch seinen eigenen fehlgeleiteten Zauberspruch dauerhaft in einer psychiatrischen Einrichtung. Implizit scheint seine Unfähigkeit mit einer ‚Verweiblichung‘ in Verbindung gebracht und seine Männlichkeit so infrage gestellt zu werden. Auch der mehrmalige Verlust seines Zauberstabes durch eigenes Unvermögen - einmal abgenommen von einem kleinen magischen Pixie (vgl. Chamber: 0: 37: 30) und später von Harry und Ron (ebd.: 1: 56: 44) - als symbolischer Phallusverlust ist hierfür zentral. Letztlich scheint er einer untergeordneten Männlichkeit zugehörig, da seine Fassade dominanter Männlichkeit mehrfach als schwach und falsch entlarvt wird: „We’ll leave it to you, then, Gilderoy,“ said Professor McGonagall. „Tonight will be an excellent time to do it. We’ll make sure everyone’s out of your way. You’ll be able to tackle the monster all by yourself. A free rein at last.“ Lockhart gazed desperately around him, but nobody came to the rescue. He didn’t look remotely handsome any more. His lip was trembling, and in the absence of his usually toothy grin he looked weak-chinned and weedy. (CoS: 218) Untergeordnete Männlichkeit steht in direktem Gegensatz zur hegemonialen und wird aktiv sozial abgewertet. Dies betrifft vor allem Männer, die als ‚unmännlich‘ oder ‚schwach‘ wahrgenommen werden. Schwule Männlichkeit ist laut Connell die auffallendste, aber nicht die einzige Form untergeordne‐ ter Männlichkeit (vgl. Connell 2015: 132). Auch heterosexuelle Männer und Jungen können von der gesellschaftlich anerkannten Norm männlicher Zuge‐ hörigkeit ausgeschlossen werden. Dieser Ausschluss wird häufig durch ein breites Spektrum an abwertenden Bezeichnungen begleitet, wie beispielsweise ‚Schwächling‘, ‚Feigling‘, ‚Brillenschlange‘ usw. Auch hier ist die symbolische Nähe zum Weiblichen offensichtlich (vgl. ebd.). Innerhalb der Zauberwelt sind von dieser Unterordnung neben Harry vor allem die heranwachsenden Jungen Ron Weasley und Neville Longbottom betroffen: Neville wird in Hogwarts oft das Ziel von Spott. Besonders Draco Malfoy und Professor Snape verwenden 206 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="207"?> herabsetzende Kommentare. Neville wird häufig als ängstlich, tollpatschig, unfähig und unsicher dargestellt: „the boy who kept losing the toad“ (PS: 83), „fat little cry bab[y]“ (ebd.: 110). Seine Unsicherheit wird als Schwäche gedeutet, die in der Zaubererwelt negativ konnotiert ist. Zudem kann seine Körperfülle als ‚verweiblichend‘ gelesen werden, denn während Männlichkeit mit Härte und Festigkeit assoziiert wird, steht das Weiche/ Schwache, das klassischer‐ weise mit fülliger Körperlichkeit verbunden wird, eher für Weiblichkeit. Eine symbolische Nähe zum Weiblichen lässt sich ferner darin erkennen, dass Neville als emotional und empfindsam in die Wizarding World eingeführt wird. Trotz anfänglicher Unsicherheiten wächst er jedoch im Verlauf der Handlung über seine untergeordnete Männlichkeit hinaus und zeigt insbesondere im finalen Kampf, als er Voldemorts Schlange Nagini mit dem Schwert von Godric Gryffindor - einem klassischen Phallussymbol - köpft, Aspekte des traditionellen Heldenmuts. In der Darstellung von Ron lassen sich zudem Verschränkungen von Männlichkeit und Klassismus erkennen, was sich besonders im Gegensatz‐ paar Draco aus wohlhabender Familie vs. Ron aus armer Mehrkindfamilie zeigt: Draco betont wie sein Vater stets Klassenunterschiede, provoziert Ron und schikaniert ihn immer wieder wegen seiner (ab)getragenen Kleidung (vgl. Stone: 0: 40: 49-0: 41: 01). Ron leidet unter seinem Status als finanziell benachteiligtes und unsicheres Familienmitglied: „Ron speared a roast potato on the end of his fork, glaring at it. Then he said, ‚I hate being poor.‘“ (GoF: 593) Zudem fühlt er sich oft minderwertig, besonders im Vergleich zu seinen älteren Brüdern oder gegenüber Harry (vgl. Goblet: 0: 38: 15-0: 39: 06). Dies wird final in Harry Potter and the Deathly Hallows. Part 1 deutlich, wenn Rons Eifersucht und Wut durch das Tragen des Horkrux hervortreten und er das bis dato unverwundbare Dreierbündnis mit Harry und Hermione zeitweilig verlässt. Als er später im Film den Horkrux zerstören soll, fanta‐ siert und inszeniert der Horkrux Rons größte Angst: seine marginalisierte Männlichkeit gegenüber Harry als Held. In der wohl sexualisiertesten Szene der gesamten Reihe küssen sich Harry und Hermione, nachdem sie Ron als Sohn, Freund und Mann verbal vollkommen degradiert haben (vgl. Hallows1: 1: 41: 15-1: 42: 09). Doch zerstört Ron den Horkrux und somit auch die überholten, klischierten/ stereotypen Männlichkeitsfantasien wie Neville mit dem Schwert von Gryffindor. Beide Figuren reifen in Harry Potter somit eher konventionell schematisch von unsicheren, untergeordneten Jungen zu starken, ‚heldenhaften‘ Männern, die durch traditionell männliches Agieren Erfolg haben. Unkonventionelle Männlichkeit bleibt somit der traditionel‐ 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 207 <?page no="208"?> len Männlichkeit untergeordnet, wobei die männlichen Figuren, die nicht den hegemonialen Normen entsprechen, eine Transformation durchlaufen, die ihnen ermöglicht, ein ‚angemessenes‘ Gleichgewicht männlicher Aus‐ drucksformen zu finden (vgl. Camacci 2016: 42). Diese Wandlung erfolgt häufig durch die Interaktion mit anderen Männern, somit verdeutlichen die männlichen Figuren bei Rowling das Konzept der Homosozialität: Jungen werden durch andere Männer zu ‚echten Männern‘ geformt. Väter, Brüder, Freunde oder Mentoren überwachen und kontrollieren dabei gezielt die Einhaltung der Normen ‚richtiger‘ männlicher Performanz. In der Verbindung von männlicher Jugend und Unterordnung finden sich zuweilen auch Aspekte des Adultismus, wodurch die Hierarchie des Alters deutlich wird (→ Band 3: I): Snape bezeichnet die jungen Zauberschüler: in‐ nen bspw. als „bunch of dunderheads“ (PS: 102). Das Alter als Grenze wird in Harry Potter immer betont und dient der Unterordnung. So können Zauberer und Hexen bspw. erst mit der Volljährigkeit dem Orden des Phönix beitreten, dürfen eigentlich erst dann am Trimagischen Turnier teilnehmen oder außerhalb der Schule zaubern. Doch wird diese ‚age line‘ oft von Harry - mal ungewollt, mal freiwillig - durchbrochen bzw. überschritten: So wird er jüngster Spieler im Quidditch-Team und überquert als Minderjähriger bei der Wahl für das Trimagische Turnier die magische Altersschwelle. Mit und durch sein ‚Co‐ ming-out‘ als Zauberer und seine Adoleszenz wird auch die Verschränkung von Alter und Männlichkeit sichtbar, was sich in Harry Potter and the Deathly Hallows in Dumbledores Bewertung: „You wonderful boy. You brave, brave man“ (Hallows2: 1: 32: 18-1: 32: 22) kristallisiert. Nachdem Voldemort Harry im Verbotenen Wald tötet, erwacht dieser in einer Art Zwischenwelt, die wie King’s Cross Station aussieht (vgl. ebd.: 1: 32: 50-1: 33: 07). Dieser Schwellenort bzw. dieses Schwellenmoment markiert den Übergang vom Jungen zum Mann; filmisch wird dies durch die farbliche Kongruenz der Kleidung von Harry und Dumbledore sowie durch Harrys fehlende Brille unterstrichen - er ist nun kein junger Zauberschüler mehr, sondern ein ‚sehender‘ Mann. Die Geschlechterforscherin Sharon Bird stellt fest, dass Jungen und Männer, die sich mit der Anpassung an hegemoniale Normen schwertun, dies oft lediglich als ‚private Unzufriedenheit‘ wahrnehmen, ohne dabei die soziale Konstruktion von Geschlecht grundsätzlich zu hinterfragen (vgl. Wannamaker 2009: 144). Die unterschiedlichen Darstellungen von Männlichkeiten und männlichen Figuren in der Wizarding World verweisen jedoch darauf, dass unkonventionelle Formen von Männlichkeit nicht nur 208 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="209"?> verbreitet sind, sondern auch über individuelle Unzufriedenheit hinausge‐ hen. Sie erweitern Definitionen von Männlichkeiten und schaffen Raum, um etablierte Geschlechterrollen kritisch zu hinterfragen. 2.4.2.3 Performierte Weiblichkeiten und fluide Körperlichkeit Mit Blick auf die Performanz von Weiblichkeit fällt insbesondere eine Hyperfemininität ins Auge, die artifiziell wirkt und stets mit Antipathie verknüpft wird. Eine solche Hyperfemininität legen vor allem Prof. Dolores Umbridge und die Journalistin Rita Skeeter an den Tag. Beide werden von Anfang an als unsympathisch beschrieben: „Her [Umbridge’s] voice was high-pitched, breathy and little-girlish and, again, Harry felt a powerful rush of dislike that he could not explain to himself; all he knew was that he loathed everything about her, from her stupid voice to her fluffy pink cardigan.“ (OoP: 191) Sowohl Umbridge als auch Skeeter werden implizit einer Gender-Transgres‐ sion beschuldigt, da sie zu feminin sind. Ihre Hyperfemininität ist scheinbar nicht gegengeschlechtlich ausgerichtet und wird deshalb mit Boshaftigkeit verknüpft und negativ bewertet. Im Fall von Umbridge lässt sich die unnatürlich wirkende Hyperfemini‐ nität in einer queeren Lesart als ‚high femme‘ auslegen. Diese Bezeichnung ist auf die lesbischen Geschlechtsidentitäten ‚femme‘ (feminin) und ‚butch‘ (maskulin) zurückzuführen. Nicht nur zeichnet sich Umbridge während ihrer Zeit in Hogwarts durch eine ausgesprochene Strenge und Grausamkeit aus und missbraucht wiederholt ihre Machtposition, auch scheint ihre Femininität nicht in einem patriarchalen System und männlichen Begehren aufzugehen: Während alle anderen um Harrys Gunst buhlen, zeigt Um‐ bridge keinerlei Interesse daran, ihn für sich zu gewinnen. Ihre Femininität ist offenbar nicht auf andere Männer ausgerichtet, sonder auf sich selbst - oder auf andere Frauen. Auch Skeeter wird negativ gezeichnet: Sie spielt falsch und agiert hinter‐ listig, um an Informationen zu kommen, die sie dann in Falschmeldungen und Klatschreportagen missbräuchlich verwendet. Ihr betont feminines Äußeres suggeriert eine Harmlosigkeit, die über einen schlechten Charakter hinwegtäuschen soll. Die Hyperfemininität erfährt also ebenfalls negative Assoziationen und wird als täuschendes, unnatürliches, überzeichnetes Konstrukt enttarnt. Nun ließe sich argumentieren, dass der Charakter, 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 209 <?page no="210"?> 45 Der Geschlechtsausdruck von ‚High Femmes‘ kann in seiner Überzeichnung in die Nähe von Drag rücken, dabei die Konstruktion von Gender betonen und sowohl von cis als auch von trans Frauen performiert werden (vgl. z. B. Albrecht-Samarasinha 2013). den Skeeter hinter ihrem femininen Äußeren verbergen möchte, stereo‐ typerweise ‚männliche‘ Eigenschaften aufweist: eine auf Öffentlichkeit ausgerichtete Wirksamkeit (keine Häuslichkeit), ein gewaltvolles Streben nach Macht bzw. Ruhm und Rationalität (im Gegensatz zu Emotionalität) (vgl. Hausen 2012). In einem Queer Reading wird die Hyperfemininität 45 von Skeeter jedoch häufig als transident ausgelegt und dabei mit einigen transphoben bis -feindlichen Stereotypen in Verbindung gebracht (vgl. Bar‐ row/ Siefert 2020). Wiederholt wird in den Büchern auf ihre langen lackierten Fingernägel hingewiesen, die sich an „large, mannish hands“ (GoF: 336) befinden - ein körperliches Merkmal, an dem trans Frauen vermeintlich einfach zu erkennen sind: Her hair was set in elaborate and curiously rigid curls that contrasted oddly with her heavy-jawed face. She wore jewelled spectacles. The thick fingers clutching her crocodile-skin handbag ended in two-inch nails, painted crimson. (Ebd.: 332) Auch ihr Gesicht scheint auf eine ‚verdeckte Männlichkeit‘ hinzuweisen, ebenso wie ihre körperliche Stärke, die durch einen „surprisingly strong grip“ (ebd.: 333) ausgestellt wird. Dass sie ein nicht registrierter Animagus ist, belegt zum einen ihre physische Wandlungsfähigkeit und referiert zum anderen auf transfeindliche Annahmen: Denn in ihrer verwandelten Form ist sie nicht nur ein Käfer, ein Insekt und damit Ungeziefer, sondern nutzt diese Form auch aus, um sich unerlaubten Zutritt zu den Schultoiletten zu verschaffen, auf denen sie Hogwarts-Schüler: innen belauscht. Dies kann als Anspielung darauf gedeutet werden, dass trans Frauen - vermeintliche Männer - sich unrechtmäßig Zugang zu Frauentoiletten verschaffen würden. Eine andere Fan-Theorie ist jedoch, dass Rita Skeeter die Spiegelfigur der Autorin Rowling ist, denn nicht nur schreiben sie beide, sie schreiben auch noch beide über Harry Potter (vgl. Quora o. D.). Denkt man beide Theorien zusammen - Skeeter als trans und als Rowling -, ergibt sich eine gleich doppelt subversive Lesart, in der die transfeindliche Rowling quasi sich selbst torpediert. Die Konstruktion von Geschlecht wird zudem an weiteren Figuren auf‐ gezeigt, die zur Verwandlung fähig sind: Während die Trennung von Hexen und Zauberern an der Oberfläche ein binäres Denken offenbart, zeigen 210 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="211"?> 46 Einzig Neville fällt hier etwas aus dem Rahmen: Er ist zwar dick und ungeschickt, aber eine sonst positiv besetzte Figur. Werwölfe, Animagi und Zaubertränke, die die Verwandlung in eine andere Figur bewirken, dass Körper und Gender fluid, uneindeutig und/ oder trans sein können (vgl. Cuntz-Leng 2017: 99, Duggan 2022: 153). Allerdings wird die Wirkung des Zaubertranks Polyjuice Potion als unangenehm geschil‐ dert, sowohl hinsichtlich des schmerzhaften Verwandlungsprozesses in eine andere Figur als auch aufgrund des Daseins in einem veränderten Körper: „‚Bah,‘ said Fleur, checking herself in the microwave door, ‚Bill, don’t look at me - I’m ’ideous.‘“ (DH: 49) Es lässt sich folglich eine Fluidität, aber auch eine Kritik an selbiger herauslesen. 2.4.2.4 Hierarchisierung von Körpern Trotz dieses im Subtext fluiden Körperbildes, wird insgesamt ein eher starrer und überholter Blick auf Körper deutlich, mit dem eine klare Wer‐ tung verbunden ist. Schon aus den Märchen der Brüder Grimm aus dem 19. Jahrhundert ist die Verbindung von äußerer und innerer Schönheit bzw. Hässlichkeit bekannt: Die schönen Figuren sind die Guten, die hässlichen Figuren (etwa Hexen) die Bösen. Bei Rowling sind Hexen zwar überwiegend positiv besetzt, jedoch werden viele der gemeinen bis bösen Figuren als dick oder fett beschrieben: angefangen bei Dudley und Onkel Vernon über Crabbe und Goyle bis hin zu Dolores Umbridge und Peter Pettigrew; häufig werden sie zudem als ungeschickt dargestellt. 46 Auch Tiervergleiche - etwa Dudley als „pig“ (OoP: 17) oder Umbridge als „large, pale toad“ (ebd.: 134) - fallen in dieser körperlichen Abwertung auf. Die Beschreibungen der Figuren machen deutlich, dass die Adjektive ‚dick‘ und ‚fett‘ nicht rein deskriptiv verwendet werden, sondern mit einer negativen Wertung verbunden sind: No matter how much Aunt Petunia wailed that Dudley was big-boned, and that his poundage was really puppy-fat, and that he was a growing boy who needed plenty of food, the fact remained that the school outfitters didn’t stock knickerbockers big enough for him any more. The school nurse had seen what Aunt Petunia’s eyes - so sharp when it came to spotting fingerprints on her gleaming walls, and in observing the comings and goings of neighbours - simply refused to see: that, 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 211 <?page no="212"?> far from needing extra nourishment, Dudley had reached roughly the size and weight of a young killer whale. (GoF: 35) Zwar betrachtet Dudleys Tante Marge ihn als einen „healthy-sized boy“ (PoA: 26) - ganz im Gegensatz zu Harry, der stets als schmächtig beschrieben wird, -, wodurch sie Männlichkeit stereotyperweise mit Stärke assoziiert, da sie jedoch selbst aus dem normschönen Rahmen fällt, ist ihre Meinung - anders als ihre Statur - nicht sehr gewichtig. Marge ist nicht nur dick, sie hat auch einen Damenbart, also eine vermeintlich männliche Behaarung, wodurch sie das klassische Frauenbild ‚stört‘: „She was very like Uncle Vernon; large, beefy and purple-faced, she even had a moustache, though not as bushy as his.“ (Ebd.: 22) Diese Störung kann man im Sinne eines Queering von Geschlecht und Schönheitsidealen zwar positiv lesen, die Bewertung der Figur innerhalb der Geschichte gibt oberflächlich jedoch eine negative Lesart an die Hand. An der Schnittstelle von Disability und Queerness lässt sich die Figur Luna Lovegood verorten, denn nicht nur trägt sie einen sprechenden Name (engl. ‚lunatic‘ = der: die Irre), die anderen Figuren nehmen ihr Verhalten zudem häufig als merkwürdig bis verrückt war. Auch bei ihr spiegelt sich der Charakter im Äußeren wider, insbesondere in merkwürdigen Outfits. Sie lässt sich somit als neurodivers und gendernonkonform deuten. Hinzu kommt, dass ihr Vater der Herausgeber des Quibbler ist, einer alternativen Boulevardzeitung, die sich nicht den dominanten Narrativen beugt, und Luna diese stets über Kopf liest. So exerziert sie durch Praxis (über Kopf) und Inhalt (kritische Berichterstattung) eine gleich doppelt kontrapunktische Lesart - quasi ein Queer Reading innerhalb der Geschichte. 2.4.2.5 Ausblick: Fan Fiction als Queer Writing Fan Fiction ist eine weitere - schreibende, nicht lesende - Form der Aneig‐ nung von Geschichten und sie kann ebenfalls so eingesetzt werden, dass eine Binarität aufgelöst oder das Genderspektrum erweitert wird. Dies geschieht insbesondere im Genre der Slash-Fanfiction, die „für ein breites Spektrum nichtheteronormativer Relektüren und homoerotischer Reorientierungen“ (Cuntz-Leng 2017: 91) steht und ihren Ursprung in den 1960er-Jahren hat. So suchen Fans sich Figuren aus der Wizarding World aus, um deren Geschichten weiterund/ oder umzuschreiben (vgl. Mignogna 2017) - etwa von cisgender zu transgender Figuren oder indem sie Romanzen, die sie im 212 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="213"?> Subtext ausgemacht haben, ausschmücken. Beliebt sind hier die Paarungen Harry und Draco (Drarry), Remus Lupin und Sirius Black (Puppylove) sowie Harry und Snape (Snarry) (vgl. Cuntz-Leng 2017: 93). Remus Lupin und Sirius Black bspw. sind nicht nur in menschlicher, sondern auch in tierischer Form sexuell kompatibel. Zudem ist Sirius bei Rowling an keine Frau gebunden und Remus hat Probleme, sich in seiner Beziehung mit Tonks in der Rolle als Ehemann und Vater zurechtzufinden (vgl. ebd.: 100). Die Snarry-Geschichten wiederum knüpfen häufig an die Interpretation an, dass sich Snapes Liebe für Lily Potter auf ihren Sohn, der die gleichen Augen hat, überträgt (vgl. Roy 2017: 109). Das hier präsentierte Queer Reading (und Writing) der Wizarding World rund um Harry Potter hat beispielhaft aufgezeigt, wie mithilfe von gender- und queertheoretischen Zugriffen Texte gegen den Strich gelesen werden können, um einerseits geschlechtsspezifische Machtverhältnisse und Nor‐ mierungen sowie andererseits gegenläufige Subtexte und marginalisierte Perspektiven sichtbar zu machen: Aparecium! Primärmedien Harry Potter and the Philosopher’s Stone (Chris Columbus, GB/ USA 2001). Harry Potter and the Chamber of Secrets (Chris Columbus, GB/ USA 2001). Harry Potter and the Goblet of Fire (Mike Newell, GB/ USA 2005). Harry Potter and the Order of the Phoenix (David Yates, GB/ USA 2007). Harry Potter and the Deathly Hallows. Part 1 (David Yates, GB/ USA 2010). Harry Potter and the Deathly Hallows. Part 2 (David Yates, GB/ USA 2011). Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Philosopher’s Stone. London, 1997. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets. London, 1999a. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Prisoner of Azkaban. London, 1999b. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Goblet of Fire. London, 2001. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Order of the Phoenix. London, 2003. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Half-Blood Prince. London, 2005. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Deathly Hallows. London, 2007. Sekundärliteratur Adney, Karley (2016). The influence of Gender on Harry Potter’s Heroic (Trans)For‐ mation. In: Berndt, Katrin/ Steveker, Lena (Hrsg.) Heroism in the Harry Potter Series. London/ New York: Routledge, 177-191. 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 213 <?page no="214"?> Albrecht-Samarasinha, Leah Lilith [1997] (2013). Gender Warriors: An Interview with Amber Hollibaugh. In: Harris, Laura/ Crocker, Elizabeth (Hrsg.) Femme. Feminists, Lesbians, and Bad Girls. London/ New York: Routledge, 210-222. Babka, Anna/ Hochreiter, Susanne (2008). Einleitung. In: Dies. (Hrsg.) Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen. Wien: University Press, 11-19. Balay, Anne (2012). „Incloseto Putbacko“: Queerness in Adolescent Fantasy Fiction. Journal of Popular Culture 45: 5, 923-942. Barrow, Kasey/ Siefert, Eliza (2020). What is a TERF and Why is J. K. Rowling Under Fire? Her Campus. Abrufbar unter: https: / / www.hercampus.com/ school/ wvu/ wh at-terf-and-why-jk-rowling-under-fire/ (Stand 12/ 01/ 2025). Berndt, Katrin/ Steveker, Lena (Hrsg.) (2016). Heroism in the Harry Potter Series. London/ New York: Routledge. Bernhardt-House, Phillip A. (2008). The Werewolf as Queer, the Queer as Werewolf, and Queer Werewolves. In: Giffney, Noreen/ Hird, Myra J. (Hrsg.) Queering the Non/ Human. Aldershot/ Burlington: Ashgate, 159-183. Böhm, Kerstin (2017). Archaisierung und Pinkifizierung. Mythen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Kinder- und Jugendliteratur. Bielefeld: transcript. Bourdieu, Pierre (2012). Die männliche Herrschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brand, Maximiliane/ Sabisch, Katja (2018). Gender Studies: Geschichte, Etablie‐ rung und Praxisperspektiven des Studienfachs. In: Kortendiek, Beate/ Riegraf, Birgit/ Sabisch, Katja (Hrsg.) Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden: Springer, 1043-1051. Budde, Jürgen (2014). Das Konzept des männlichen Habitus. Möglichkeiten und Grenzen für die Analyse von Unterrichtspraktiken von Schülern. In: Helsper, Werner (Hrsg.) Schülerhabitus. Studien zur Schul- und Bildungsforschung. Wies‐ baden: Springer, 82-98. Butler, Judith (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt-a. M.: Suhrkamp. Butler, Judith (1995). Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin-Verlag. Camacci, Lauren R. (2016). The Prisoner of Gender: Masculinity in the Potter Books. In: Bell, Christopher E. (Hrsg.) Wizards vs. Muggles. Essays on Identity and the Harry Potter Universe. North Carolina: McFarland & Company,-27-48. Carrigan, Tim/ Connell, Bob/ Lee, John (1985). Toward a New Sociology of Masculi‐ nity. Theory and Society 14: 5, 551-604. Connell, Raewyn (2015). Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlich‐ keiten. Wiesbaden: Springer. 214 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="215"?> Cuntz-Leng, Vera (2017). Queering Harry, Slashing Potter: Between Latent Meanings and Resistant Readings. GENDER - Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesell‐ schaft 9: 2, 91-105. doi: https: / / doi.org/ 10.3224/ gender.v9i2.07. Datta, Souvik (2021). Hijacking the Hysteria: Reading Heteronormativity, Homo‐ phobia and a Narrative of Queerness into J.-K. Rowling’s Harry Potter Novels. Lapis Lazuli. An International Literary Journal 11: 1, 1-12. Duggan, Jennifer (2022). Transformative Readings. Harry Potter Fan Fiction, Trans/ Queer Reader Response, and J.-K. Rowling. Children’s Literature in Education 53, 147-168. doi: https: / / doi.org/ 10.1007/ s10583-021-09446-9. Duggan, Jennifer (2019). „Watch This Space“. Queer Promises and Lacunae in Rowling’s Harry Potter Texts, or, Harry Potter and the Curse of Queerbaiting. In: Brennan, Joseph (Hrsg.) Queerbaiting and Fandom. Teasing Fans through Homoerotic Possibilities. Iowa: University Press,-95-106. Erhart, Walter (2016). Deutschsprachige Männlichkeitsforschung. In: Horlacher, Stefan/ Jansen, Bettina/ Schwanebeck, Wieland (Hrsg.) Männlichkeit. Ein interdis‐ ziplinäres Handbuch. Stuttgart: J.-B. Metzler, 11-25. Feldmann, Doris/ Schülting, Sabine (2002). Gender Studies / Gender-Forschung. In: Kroll, Renate (Hrsg.) Metzler Lexikon Gender Studies. Geschlechterforschung. Stuttgart: J.-B. Metzler, 143-145. Foucault, Michel [1976] (2023). Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Band-1. Frankfurt-a. M.: Suhrkamp. Hausen, Karin [1976] (2012). Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Dies.: Geschlech‐ tergeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Göttingen/ Oakville: Vandenhoeck & Ru‐ precht, 19-49. Hecke, Marthe-Siobhán (2017). Queerbaiting in the Harry Potter Series and in Harry Potter and the Cursed Child? In: Gymnich, Marion/ Birk, Hanne/ Burkhard, Denise (Hrsg.) „Harry - yer a wizard“. Exploring J.-K. Rowling’s Harry Potter Universe. Baden-Baden: Tectum,-193-204. Horlacher, Stefan/ Jansen, Bettina/ Schwanebeck, Wieland (2016) (Hrsg.) Männlich‐ keit. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J.-B. Metzler. Jäger, Ulle/ König, Tomke/ Maihofer, Andrea (2021). Pierre Bourdieu: Die Theorie männlicher Herrschaft als Schlussstein seiner Gesellschaftstheorie. In: Kahlert, Heike/ Weinbach, Christine (Hrsg.) Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung. Einladung zum Dialog. Wiesbaden: Springer, 15-36. Jagose, Annamarie [2001] (2017). Queer Theory. Eine Einführung. Berlin: Querverlag. Kaiser, Susanne (2020). Politische Männlichkeit. Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen. Berlin: Suhrkamp. 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 215 <?page no="216"?> Kauer, Katja (2019). Queer lesen. Einführung in eine Literaturwissenschaft jenseits des Heteronormativen. Tübingen: Narr. Krammer, Stefan (2018). Fiktionen des Männlichen. Männlichkeitsforschung in der Literaturwissenschaft. Wien: facultas. Kraß, Andreas (2003) (Hrsg.) Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität. Frankfurt-a. M.: Suhrkamp. Laufenberg, Mike (2022). Queere Theorien. Zur Einführung. Hamburg: Junius. Laufenberg, Mike/ Trott, Ben (2023). Queer Studies: Genealogien, Normativitäten, Multidimensionalität. In: Dies. (Hrsg.) Queer Studies. Schlüsseltexte. Berlin: Suhr‐ kamp, 7-99. Martschukat, Jürgen/ Stieglitz, Olaf (2008). Geschichte der Männlichkeiten. Frank‐ furt-a. M.: Campus. Menke, Bettine (1995). Dekonstruktion der Geschlechteropposition - das Denken der Geschlechterdifferenz: Derrida. In: Haas, Erika (Hrsg.) Verwirrung der Ge‐ schlechter. Dekonstruktion und Feminismus. München: Profil, 35-71. Meuser, Michael/ Müller, Ursula (2015). Männlichkeiten in Gesellschaft. Zum Geleit. In: Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlich‐ keiten. Wiesbaden: Springer, 9-20. Mignogna, Tianna K. (2017). Harry Potter is Gay: An Investigation of Queer Fan Culture. Inquiries Journal 9: 3, 1-2. Abrufbar unter: http: / / www.inquiriesjour nal.com/ articles/ 1549/ harry-potter-is-gay-an-investigation-of-queer-fan-culture (Stand 12/ 01/ 2025). Pugh, Tison/ Wallace, David L. (2006). Heteronormative Heroism and Queering the School Story in J.-K. Rowling’s Harry Potter Series. Children’s Literature Association Quarterly 31: 3, 260-281. doi: https: / / doi.org/ 10.1353/ chq.2006.0053. Queer Lexikon (2024a). Glossar: Cis. In: Queer Lexikon. Abrufbar unter: https: / / que er-lexikon.net/ 2017/ 06/ 15/ cis/ (Stand: 30/ 12/ 2024). Queer Lexikon (2024b). Glossar: Heteronormativität. In: Queer Lexikon. Abruf‐ bar unter: https: / / queer-lexikon.net/ 2017/ 06/ 15/ heteronormativitaet/ (Stand: 29/ 12/ 2024). Quora (o. D.). What is the Theory that J. K. Rowling is Actually Rita Skeeter? Quora. Abrufbar unter: https: / / www.quora.com/ What-is-the-theory-that-J-K-Rowling-i s-actually-Rita-Skeeter (Stand: 12/ 01/ 2025). Rana, Marion (2013). Sexualität und Macht. Sexuelle Handlungsgewalt in der aktuellen Jugendliteratur. kids+media. Zeitschrift für Kinder- und Jugendmedien‐ forschung-3: 2, 44-57. 216 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="217"?> Roy, Oindri (2017). ‚The Boy who Lived‘ in the Cupboard: ‚Queer Readings‘ and Rowling’s Harry Potter Series. Rupkatha Journal on Interdisciplinary Studies in Humanities 9: 1, 103-111. doi: https: / / dx.doi.org/ 10.21659/ rupkatha.v9n1.11. Rubin, Gayle (1975): The Traffic in Women. Notes on the ‚Political Economy‘ of Sex. In: Reiter, Rayna (Hrsg.) Toward an Anthropology of Women. New York: Monthly Review Press, 157-210. Scholz, Sylka (2018). Männlichkeitsforschung: Die Hegemonie des Konzeptes „he‐ gemoniale Männlichkeit“. In: Kortendiek, Beate/ Riegraf, Birgit/ Sabisch, Katja (Hrsg.) Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden: Springer, 419-429. Schößler, Franziska/ Wille, Lisa (2022). Einführung in die Gender Studies. Berlin/ Bos‐ ton: de Gruyter. Sedgwick, Eve Kosofsky (1990). Epistemology of the Closet. New York/ London u. a.: Harvester Wheatsheaf. Sedgwick, Eve Kosofsky (1997). Novel Gazing. Queer Readings in Fiction. Durham: Duke University Press. Stephan, Inge (2003). Im toten Winkel. Die Neuentdeckung des ‚ersten Geschlechts‘ durch men’s studies und Männlichkeitsforschung. In: Benthien, Claudia/ Stephan, Inge (Hrsg.) Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln: Böhlau, 11-35. Sultan, Shrouk Yasser Mohamed Abdelhalim (2020). The Dominant Male in the Light of Traditional Masculinity in J.-K. Rowling’s Harry Potter. Journal of the Faculty of Arts Mansoura University 67, 165-181. Tholen, Toni (2016). Deutschsprachige Literatur. In: Horlacher, Stefan/ Jansen, Bettina/ Schwanebeck, Wieland (Hrsg.) Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Hand‐ buch. Stuttgart: J.-B. Metzler, 270-286. Vujin, Bojana S./ Krombholc, Viktorija E. (2019). High-voiced Dark Lords and Boggarts in Drag: Feminin-coded Villainy in the Harry Potter Series. Zbornik radova Filozofskog fakulteta u Prištini 49: 3, 23-41. doi: https: / / doi.org/ 10.5937/ ZR FFP49-23058. Wannamaker, Annette (2009). Boys in Children’s Literature and Popular Culture: Masculinity, Abjection and the Fictional Child. London/ New York: Routledge. Wedgwood, Nikki/ Connell, RW (2008). Männlichkeitsforschung: Männer und Männlichkeiten im internationalen Forschungskontext. In: Becker, Ruth/ Kor‐ tendiek, Beate (Hrsg.) Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methode, Empirie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialforschung, 116-125. 2.4 Gender, Queer und Men’s Studies 217 <?page no="218"?> Grundla‐ gen, An‐ sätze und Modelle 2.5 Literary Disability Studies: Inszenierung und Funktionalisierung von Behinderung in der Wizarding World Maren Conrad „Disability is everywhere in literature“, stellen Stuart Murray und Clare Barker (2017: 1) in ihrer Einführung des Cambridge Companion to Literature and Disa‐ bility fest - darauf fußt die Entstehung und Entwicklung der Literary Disability Studies. Ganz ähnlich den Gender (→-Band 3: II.2.4) und Postcolonial Studies (→ Band 3: II.2.2), geht den Disability Studies eine gesamtgesellschaftliche Bewegung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts voraus. Diese nehmen die marginalisierte Gruppe der Menschen mit Behinderung in den Blick, die weltweit circa 15 % der Gesamtbevölkerung ausmacht. Etabliert haben diese sich spätestens seit den 1980er- und 1990er-Jahren, wobei im deutsch‐ sprachigen Raum erst seit der Jahrtausendwende erste Forschungsarbeiten und Institutionen sichtbar sind. Abermals analog zu Ansätzen der Gender, Queer (→ Band 3: II.2.4) und Postcolonial Studies werden Ansätze der Disability Studies zunehmend auf bestimmte thematische Kernbereiche konzentriert (vgl. Hall 2016: 19-29). Im deutschsprachigen Raum wäre das beispielsweise neben der Konzentration auf soziologische Modelle (vgl. Waldschmidt 2020) der Bereich der Inklusionsforschung, der insbesondere in der Pädagogik und (Hoch-)Schullehre eine große Rolle spielt (vgl. Fickel & Kagelmann 2017). Unter dem Stichwort der Intersektionalität (→-Band 3: I) werden zudem in der For‐ schung zunehmend Verbindungen zu weiteren Differenzmerkmalen gezogen (vgl. Kaufmann 2020). Auch aktivistisch-menschenrechtliche Perspektiven mit Forderungen nach Empowerment und Inklusion sind hier als ein weiterer Forschungsschwerpunkt zu nennen. Die mit dem Begriff von Behinderung verbundenen Modelle und Konzepte unterliegen in ihrer gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Geschichte einer beständigen Veränderung (vgl. Egen 2020). Im gegenwärtigen Diskurs sind die aktuell wichtigsten Unterscheidun‐ gen die zwischen dem individuell-medizinischen, dem sozialen und dem kulturellen Modell von Behinderung (vgl. Waldschmidt 2020: 86ff). 218 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="219"?> Medizini‐ sches Modell Soziales Modell 2.5.1 Modelle von Disability Das medizinische Modell basiert auf einer seit der Mitte des 19. Jahrhunderts etablierten medizinisch-psychologischen Sichtweise auf Behinderung und versteht unter Behinderung • eine durch Beeinträchtigung des eigenen Körpers bedingte, individuelle Abweichung von einer gesellschaftlich konstruierten Norm (vgl. Wald‐ schmidt 2020: 94). • funktionale Beeinträchtigungen, die durch medizinische und therapeu‐ tische Behandlungen individuell ‚bewältigt‘ werden sollen. Dieses Modell ist die Repräsentation einer exkludierenden und entspre‐ chend negativ konnotierten Fokussierung auf Behinderung, „das hege‐ moniale Modell, an welchem sich im Prinzip unser Hilfesystem ausrichtet und das auch bedeutenden Einfluss auf ein Alltagsverständnis von Behin‐ derung gefunden hat. Dadurch gilt es als das Kontrastmodell der Disability Studies“ (Hartwig 2020: 22). Das soziale Modell von Behinderung bildet den Kern der (frühen) sozio‐ logischen Disability Studies seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Es definiert Behinderung nicht als ein rein physiologisches Phänomen (‚behindert ist man‘), sondern als ein soziokulturelles (‚behindert wird man‘). Im Zentrum des sozialen Modells stehen: • die Forderung nach Barrierefreiheit • die kritische Auseinandersetzung mit einem gesamtgesellschaftlichen Ableismus als „ein ideologischer Diskurs, der nichtbehinderte Nor‐ malität, Autonomie und Nützlichkeit ganz grundsätzlich voraussetzt und einfordert, und der tief in gesellschaftliche Strukturen und in die Subjektivität aller eingelassen ist. Dieser Diskurs lässt sich nicht etwa durch eine Änderung einer ‚feindlichen‘ Haltung einfach auflösen.“ (Maskos 2023). • die gesamtgesellschaftliche Entwicklungsaufgabe einer selbstverständ‐ lichen Inklusion in alle sozialen Strukturen, Ebenen und Institutionen (vgl. Bogner 2017) • die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention, die Gleichstellung, konkret unter anderem „Nichtdiskriminierung“ und „volle und wirk‐ same Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ für Menschen mit Behinderung versprechen 2.5 Literary Disability Studies 219 <?page no="220"?> Kulturelles Modell Literary Disability Studies • die Frage nach sozialer Ungleichheit auf Grund von gesellschaftlicher Positioniertheit des Individuums und gesellschaftlicher Zuschreibungen (vgl. Maskos 2015) • Opposition zum medizinischen Modell Das kulturelle Modell etabliert seit dem 21. Jahrhundert das geistesbzw. kulturwissenschaftlich geprägte Forschungsfeld der Disability Studies. Es analysiert Formen der Inszenierung und Realisierung von Behinderung, die aus institutionellen, sozialen und kulturellen Praktiken hervorgehen. Im Fokus der Analyse stehen: • die kritische Reflexion der Anwendung von medizinischem und sozialem Modell in der Gesellschaft • die daraus resultierende Analyse von Interdependenzen von Kultur und Behinderung • die Anwendung der Normalismustheorie nach Jürgen Link (2009) • die Anwendung des ‚Trilemmas der Inklusion‘ nach Boger (2017) • die Dekonstruktion von Stereotypen und Exklusionen und die Frage nach Potenzialen für Inklusion, Normalisierung und Empowerment Zentrales Paradox dieses Modells ist die Tatsache, dass Figuren mit Be‐ hinderung identifiziert werden (medizinisches Modell) und kulturell oft stark stigmatisierende Kategorien und Ableismen erkannt werden (soziales Modell) müssen. Die (eigentlich unmögliche) Trennung der Modelle muss daher kritisch reflektiert werden. Eine auf literaturwissenschaftlichen Theorien basierende Entwicklung einer Analysemethode der Literary Disability Studies, die auf den theoretischen Prämissen der Disability Studies aufbaut und Analysekate‐ gorien und Herangehensweisen für ein kinder- und jugendliterarisches Korpus erarbeiten könnte, ist aktuell im deutschsprachigen Raum noch ein Forschungsdesiderat (vgl. Conrad 2022). 2.5.2 Behinderung in Harry Potter Im Folgenden soll skizziert werden, wie alle drei Modelle und die Normalismustheorie nach Jürgen Link zum Einsatz kommen können, um die Harry Potter-Romane zu analysieren. 220 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="221"?> Merkkasten: Normalismustheorie Jürgen Link (2009) unterscheidet zwischen einerseits einem für das medizinische Modell essenziellen Protonormalismus, der stabile und enge Normalitätsgrenzen setzt, während andererseits im sozialen und kulturellen Modell mit den entsprechenden Inklusionsstrategien Konzepte des flexiblen Normalismus bzw. Transnormalismus relevant werden, die den Bereich des Normalen ausweiten. Eine zentrale Rolle spielt dabei das protonormalistisch geprägte, kulturge‐ schichtlich etablierte Verständnis von ‚gesund‘ und ‚krank/ behindert‘ bzw. Behinderung und Nicht-Behinderung oder - mit dem Protonormalismus nach Link (2009) - die Dichotomie von ‚Normal‘ vs. ‚Nicht-Normal/ An‐ ders‘. Aus der Perspektive des sozialen Modells heraus und mit Methoden der (Literary) Disability Studies soll die narrative Struktur und Weltstruktur (Diegese) (→ Band 1: II.3.2.3) im Hinblick auf ihre Inszenierung von Behinderung kritisch in den Blick genommen werden. Zugleich können „Vorstellungen von Normalität* dekonstruktiv“ angegangen werden (Boger 2017). Im Zentrum der Textanalyse stehen u. a. die Fragen: • Wie werden formal und inhaltlich, implizit und explizit Exklusion und Inklusion inszeniert? • Gibt es Orte/ Figuren der (A-)Normalität? • Welche Rolle spielen gesellschaftliche Strukturen? Gibt es klar markierte gesellschaftliche und räumliche Barrieren/ Grenzen für Figuren mit Behinderung und ‚anormale‘ Figuren? • Gibt es Elemente/ Momente der Barrierefreiheit? Wann, wo und wie wird vermeintlich Ausgeschlossenes inkludiert? • Welche Figuren ‚mit Behinderung‘ oder ‚Störung‘ erfahren von Anfang bis Ende eine Transition? Und wie wird diese von der Erzählinstanz/ den anderen Figuren bewertet? Wie unterscheiden sich Anfangs- und End‐ zustand bezüglich der Exklusion/ Inklusion von Figuren? • Was sagen die Analyseergebnisse über implizit und explizit inszenierte (gesellschaftliche/ moralische) Werte in der Wizarding World aus? 2.5 Literary Disability Studies 221 <?page no="222"?> 2.5.2.1 (Un-)Sichtbare Behinderungen, stereotype Figurenkonzepte und die Wertewelt des Protonormalismus - Perspektiven des medizinischen Modells Aus Sicht eines medizinischen Modells scheint die Wertewelt der Wizarding World bereits auf den ersten Blick elitär protonormalistisch strukturiert zu sein, was zunächst bei der vertiefenden Analyse der Raumstruktur (→ Band 3: II.1.2) deutlich wird: Insbesondere der Hauptschauplatz Hog‐ warts ist als Schule primär ein Ort der physischen und psychischen Norma‐ lität, Schönheit und Gesundheit. Eine selbstverständliche Repräsentation von Behinderung, Figuren im Rollstuhl, Gebärdensprache, Figuren mit einer starken Seh- oder Sprachbehinderung, oder ein medizinisch neutraler, nicht-diskriminierender und nicht-marginalisierender Umgang mit Merk‐ malen geistiger Behinderung oder psychischer Krankheit findet sich in den Romanen nicht. Figuren, insbesondere Schüler: innen in Hogwarts wären in den wenig barrierefreien Architekturen, Schulfächern und Anforderungen auch hoffnungslos verloren. Figuren mit Behinderung, die tatsächlich Teil ihrer Individualität und ihres Körpers sind, ohne reines Stigma zu sein, sind entsprechend kein selbstverständlicher Teil der dargestellten Welt, im Gegenteil: Mithin reproduzieren die Romane das im 19. Jahrhundert bereits fest etablierte Diskriminierungsmuster des ‚Freaks‘ für Figuren mit nicht-normalen Körpern (sichtbaren Behinderungen) oder nicht-normalen intellektuellen Fähigkeiten (unsichtbaren Behinderungen). Diese werden in der Tradition von ‚Freak-Shows‘ für einen Effekt von Komik explizit als Abweichung inszeniert und durch ein Zuschaustellen und Lächerlich‐ machen beleidigt (vgl. Garland-Thomson 1996). Besonders problematisch in der Harry Potter-Reihe ist zudem, dass dieses Zurschaustellen nicht ‚nur‘ als Dynamik zwischen Figuren stattfindet, sondern auch auf der Ebene der (eigentlich neutral/ extrabzw. heterodiegetischen, aber konträr zur vermeintlichen Erzähldistanz extrem abwertend-subjektiven) Erzählinstanz (→ Band 1: II.3.2.6.1) immer wieder zur Erzeugung von Komik eingesetzt wird. Eine Sensibilität für diese nicht angemessene Form von Diskriminie‐ rung war also bei Autorin und Lektorat offensichtlich nicht vorhanden. Die Figuren in der Welt von Harry Potter lassen sich aus Sicht eines medizi‐ nischen Modells nach binären Zuordnungen von ‚normal‘ und ‚abwei‐ chend‘ unterteilen, um beispielsweise in einem ersten Schritt sichtbare und unsichtbare Behinderungen zu differenzieren und diese anschließend nach ihrer Funktion für die dargestellte Welt und die jeweiligen Figuren zu kate‐ 222 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="223"?> gorisieren und zu analysieren. Als Orientierung liefert die Studie von Becvar (2012), die mit einem offenen Behinderungsbegriff „acht Behinderungs‐ arten“ (2012: 180) aufzeigt, erste Grundlagen: „Mangelwesen, psychische Behinderungen, geistige Behinderungen, Körperbehinderungen, Sinnesbe‐ hinderungen, Sprachbehinderungen, Altersbehinderungen, Verhaltensauf‐ fälligkeiten“ (2012: 179-180). Schon bei einer ersten vergleichenden Lektüre fällt dabei auf, dass keine der Behinderungen, die Becvar hier nachweist, für die Handlung eine zentrale Rolle spielen. Sie sind eher ‚dekorativer‘ und ‚invektiver‘ Art, markieren mithin also Charakterzüge von Figuren nach den Kategorien Backofens als Kategorie A) Held oder Kategorie B) Tyrann. Am medizinischen Modell orientiert ist das Modell der „Strickmuster“ von Ulrike Backofen, die 1987 acht Stereotype in der „Darstellungen von Personen und Verarbeitungsmuster […], die im Leben behinderter Menschen vielleicht selten, in der Kinderliteratur umso häufiger vorkommen“ (Back‐ ofen 1987: 18). Diese durchgängig diskriminierenden Stereotype halten sich in der deutschen Kinderliteratur ebenso wie in ihrer Erforschung hart‐ näckig (vgl. Rana 2017: 39) und können hier bei einer ersten Kategorisierung helfen, allerdings nur unter der Prämisse, dass diese Inszenierungsform und ihr Einsatz innerhalb der Erzählung anschließend kritisch hinterfragt wird. Hinzu kommt als dritte Kategorie C) die Gruppe der Freaks/ Clowns für Figuren, deren nicht-normaler Körper oder nicht-normales Auftreten zwar als Behinderung lesbar ist, die aber in einer ableistischen Erzähltradition stehend offensichtlich als ‚markierter Körper‘ vor allem dafür da sind, einen Effekt von Komik/ Absurdität zu erzeugen (vgl. Garland-Thomson 1996). So erscheinen etwa mit u. a. Tom Riddle/ Lord Voldemort oder der Mau‐ lenden Myrte besonders absurde und absonderliche Figuren in Becvars Kategorie „Psychische Behinderungen“ (Becvar 2012: 127-132). Unter „Geis‐ tige Behinderungen, Einfalt, Dummheit“ (ebd.: 133-138) zählt sie mit Dudley, Hagrid u. a. primär Figuren auf, die nicht durch eine Behinderung, sondern durch ihre Eigenschaft als ‚peinlich-komisch‘ bis hin zu ‚liebenswert-dumm‘ charakterisiert sind. Die gesellschaftlich tief verankerten Stereotype, die ‚Dummheit‘, ‚Häss‐ lichkeit‘ und ‚Mehrgewichtigkeit‘ gleichsetzen, sind dabei eine beständige Trope in Rowlings Werk und die stete Kombination der Kategorien B und C, auch etwa im Fall von den zentralen Antagonisten verstärken diesen Effekt. Gleiches gilt für das Stereotyp der Kategorie A, denn die wenigen klar sichtbaren erworbenen Körperbehinderungen sind zumeist Markierungen von Heroismus, da sie als Zeichen vergangener Kämpfe fungieren. „Fehlende 2.5 Literary Disability Studies 223 <?page no="224"?> Körperteile“ (Becvar 2012: 139-143) greifen hier auf das Kollektivsymbol für Heroismus zurück, wie diese bei George Weasley, (Mad-Eye) Moody, Albus Dumbledore u. a. zu finden sind. Auch heroisch konnotierte Entstellungen wie bei Bill Weasley zählen dazu. Angeborene sichtbare Behinderungen, wie etwa ‚Kleinwuchs‘ sind wiederum klar in der Kategorie C offensichtlich für Figuren reserviert, die zwar auch tyrannisch, aber zugleich besonders lächerlich in ihrer Autorität wirken sollen und werden zumeist auch mit der Beschreibung ‚lächerlicher‘ Körpermerkmale, etwa besonders hoher Stimmen oder Hässlichkeit kombiniert (Flitwick, Umbridge, Zwerge u. a. [vgl. Becvar 2012: 144-145]). Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass diese körperlichen Merkmale vor allem vermeintlich komische oder bedroh‐ lich-abjekte Effekte erzeugen sollen, die stereotyp korreliert werden mit der Inszenierung einer subjektiven Hässlichkeit von Körpern, die einem protonormalistischem Verständnis von ‚schön‘ und ‚normal‘ als ‚das Andere‘ gegenüberstehen. Bereits diese erste Annäherung an eine medizinisch-protonormalistische Lesart, in der Stereotype wieder stereotypen Figurengruppen zugeordnet werden, zeigt, wie unbefriedigend und zugleich problematisch eine medizi‐ nisch-protonormalistische Perspektive ist. Sie greift an vielen Stellen viel zu kurz und macht Behinderung eher unsichtbar, weil sie diese nur auf Elemente der Charakterisierung reduziert. Besonders deutlich wird die Problematik einer medizinisch-protonorma‐ listisch geleiteten Lektüre in Bezug auf unsichtbare Behinderungen und ‚nicht-normale‘ Helden: Als „Mangelwesen“ und ‚nicht-normale‘ Figuren mit Behinderung liest Becvar viele (Anti-)Helden der Geschichte, so auch die zentralen Figuren Harry Potter, Neville Longbottom oder Severus Snape. Spätestens hier wird deutlich, dass das, was in der klassischen Dramentheorie als ‚habitueller Fehler‘ von Figuren gilt und ein zentrales Element einer Heldenfigur ist, mit der Perspektive des medizinischen Models als ‚Mangel‘ im Sinne einer Behinderung interpretiert werden kann. Dabei wird zudem stark auf gesellschaftliche Stereotype zurückge‐ griffen: So wäre Harry Potter in dieser Lesart dreifach behindert: körperlich, aufgrund a) seiner vermeintlichen Kleinwüchsigkeit und b) seiner Brille sowie c) psychisch als ‚Mangelwesen‘ aufgrund seiner Markierung als ‚nicht-normal‘ in der Muggel-Welt. Nicht berücksichtigt wird hingegen seine in den ersten Bänden beständige, durch Trauma und/ oder Narbe induzierte Migräne und die damit verbundenen Wahrnehmungsstörungen, die in der Logik des medizinischen Modells eigentlich auch in die Katego‐ 224 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="225"?> risierung einer chronischen Krankheit/ unsichtbaren Behinderung fallen müsste. Interessanterweise werden unsichtbare/ psychische Behinderungen in Perspektiven des medizinischen Modells vollkommen ignoriert (vgl. Becvar 2012). Hier wird deutlich, dass eine auf das medizinische Modell gestützte Lektüre unter anderem oft auch deshalb nicht funktioniert, weil die Suche nach Symptomen gemäß medizinischer und interdiskursiver Wissensbestände nicht konsequent genug umgesetzt wird, sondern auf sichtbare Oberflächenphänomene fokussiert. Auf der Textoberfläche erscheinen damit subjektive ‚Wahrheiten‘ über Figuren zur Sympathie- oder Antipathie-Erzeugung als wesentlich wichtiger als qua Informati‐ onslage des Textes tatsächlich gegebene individuelle Merkmale der Figuren. Dieses Gefälle in der Bewertung der Figuren entsteht vor allem durch eine stark subjektivierende Inszenierungsstrategie und daraus resultie‐ rende explizite Sympathie- und Leser: innenlenkung (→-Band 3: II.2.8). Die im Rahmen des medizinischen Modells offensichtlichen Symptome vieler Figuren werden durch die Erzählinstanz marginalisiert, während nicht-be‐ hindernde Merkmale der Hauptfiguren als Behinderung lesbar gemacht werden, die aber eigentlich für die Figur keine Rolle spielen und keine Be‐ hinderung darstellen. So wird die ikonische Brille und die damit angedeutete Sehschwäche Harry Potters zwar zum Moment der Identifikation für viele Leser: innen mit Brille, aber kaum zu einem behindernden Moment innerhalb der narrativen Ereignisstruktur. Während - paradoxerweise - dieses Vorgehen zur Identifikation von Figuren mit Behinderung ein Instrument der kritischen Lektüre sein kann (s. o. zum Trilemma), verstößt diese Lesart zugleich gegen eine Maxime der Literaturwissenschaft, literarische Figuren nicht zu psychologisieren und zu ‚diagnostizieren‘. Auch die Reflexion dieses Dilemmas sollte stets mit in die Analyse einfließen. 2.5.2.2 Behinderung, (Nicht-)Normalität und Gesellschaftsstrukturen - Perspektive des sozialen Modells Wie die Analyse aus Perspektive des medizinischen Modells bereits gezeigt hat, dienen als Behinderungen lesbare Markierungen in Harry Potter grund‐ sätzlich der Semantisierung von Figuren, um diese einer bestimmten Ge‐ sellschafts- und Figurengruppe zuzuordnen. Diese sind zugleich rhetorisch mit spezifischen und umfangreich vorhandenen Wortfeldern der Normalität bzw. Anormalität verknüpft. 2.5 Literary Disability Studies 225 <?page no="226"?> Sprachliche Konstruktionen um Behinderung fungieren im Wort‐ feld von Normalität und Abweichung als Tertium Comparationis für eine größere gesellschaftsstrukturelle Metapher. Ihre Funktion ist es, Figu‐ rengruppen zu bilden, die stellvertretend für bestimmte exkludierte oder inkludierte Gesellschaftsgruppen stehen. Diese positive wie negative Dis‐ kriminierung von Gruppen erscheint in der protonormalistischen Logik der Weltstruktur konsequent, insofern die magische Gesellschaft in ihrer Unterteilung in magische Sekundärwelt und nicht-magische Primärwelt als eine konsequente Allegorie auf eine Kultur der Exklusion lesbar ist. Der Raum der ‚normalen‘ und magischen Sekundärwelt lässt sich zudem binnendifferenzieren in ‚gut‘ und ‚böse‘: Er unterscheidet sich in den Bereich der positiv semantisierten, protonormalistisch normalen Magiewirkenden, den ‚guten‘ Figuren und den Bereich der nicht-normalen, ins Extreme abweichende, mithin supernormalen ‚bösen‘ Magiewirkenden. Als dritte anormal ‚banale‘ Gruppe sind die Muggel zu nennen. 1 Muggel: Das anormal Banale Muggel, als nicht-magische Wesen im ‚abnormalen‘ Raum der nicht-magi‐ schen Primärwelt (→ Band 1: I.1.2 Merkkasten zu den Darstellungsformen ‚realistisch‘ vs. ‚fantastisch‘), sind in dieser erweiterten Weltstruktur durch‐ gängig codiert als Wesen, die aus Sicht der Magiewirkenden im Sinne des sozialen Modells ‚Menschen mit Behinderung‘ sind. Muggel sind also durch 226 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="227"?> das Fehlen von Fähigkeiten als eine Gruppe von Menschen mit - und diese Unterscheidung ist essenziell - unsichtbaren Behinderungen lesbar. Ihre Unfähigkeit, Magie zu wirken, kompensieren sie aus Sicht der Sekundärwelt durch - für Magiewirkende unnötige - Erfindungen. Technische Apparate und Erfindungen, wie Telefone, Autos oder Elektrizität, fungieren damit als Hilfsmittel der Muggel, sind mithin ‚Prothesen‘ für die fehlende Magie. Zudem sind die Muggel durch entsprechende architektonisch und magisch klar markierte Grenzen, Portale und Barrieren klar aus großen Teilen der existierenden Welt ausgeschlossen. Die magische Sekundärwelt besteht auf ihre Barriere zu diesem Nicht-Ort, Raum der Anormalität, nichtmagischen Langeweile und Inkompetenz. Al‐ lerdings verzichtet der Text auf diskriminierende Rhetorik und entscheidet sich schlicht dafür, das Nicht-Magische jenseits der Darstellung der Dursleys als Leerstelle zu inszenieren: Hogwarts bietet daher konsequent keinen Pflichtkurs zu nichtmagischer Kultur an, vielmehr kann dieser ab dem dritten Schuljahr freiwillig belegt werden und offenbart dann inhärente ab‐ leistische Strukturen, wenn in den ‚Muggle Studies‘ etwa Aufsätze darüber geschrieben werden, warum Muggel Elektrizität als Hilfsmittel brauchen (vgl. PoA: 185). Auch das Ministerium, das eigentlich als Hauptaufgabe die Verwaltung der Beziehungen zwischen magischen und nichtmagischen Menschen innehat, beweist regelmäßig eine vollkommene Ahnungslosig‐ keit, was die Muggelwelt betrifft und Mr. Weasley erscheint in seiner Faszi‐ nation für Muggeltechnik als Teil des oben skizzierten ‚Freak‘-Stereotyps, der sich als Stigma auf die gesamte Familie überträgt. Wenig zufällig ist die Familie Dursley als die einzige Repräsentanz der anormalen Gruppe der Muggel karikaturhaft negativ-lächerlich. Potenziell sympathische Mug‐ gel, wie Hermines oder Lillys Eltern hingegen, werden niemals explizit inszeniert. Jegliche Möglichkeit, Sympathie oder Identifikation für nicht‐ magische Figuren zu erzeugen und diese so als ‚normal‘ wahrzunehmen, wird durch diese konsequente Textstrategie der Leerstellenpolitik in den Romanen klar vermieden. Diese Exkludierung, Exotisierung, Infantilisierung und der Paternalismus, wie auch die beständige implizite Lebensbedrohung, die die Muggel entsprechend durch die magische Welt erfahren, werden in den Harry Potter-Romanen nur selten problematisiert. Die Verhandlung von Normalität und Anomalität ist entsprechend dieser Programmatik auch sprachlich und narrativ in den Romananfängen ein zentrales Paradigma. Schon das erste Buch beginnt mit der Verteidigung eines (falschen) Verständnisses von Normalität durch die Dursleys, die das 2.5 Literary Disability Studies 227 <?page no="228"?> Magische als Anormal wahrnehmen und denen damit die vermeintliche Anormalität der Wizarding World entgegensteht. Harry Potter wird entspre‐ chend dieser Textstrategie zu Beginn jeden Buches immer wieder als aus Sicht der Muggel-Normalität ‚nicht-normal‘ markiert. So heißt es auch zu Beginn von Harry Potter und die Kammer des Schreckens klar, Harry „wasn’t a normal boy. As a matter of fact, he was as not normal as it is possible to be.“ (CoS: 8) und dasselbe Stigma findet sich auch ganz explizit zu Beginn von Band 3, wenn seine vermeintliche „abnormality“ (PoA: 20) klar benannt und auch seine Kleinwüchsigkeit markiert wird. Tante Magda bezeichnet dieses als „mean, runty look“ (ebd.: 26). Das ist für routinierte Leser: innen ein irritierendes Detail, wird dieses doch nur hier und aus Muggel-Sicht als Beleidigung eingesetzt, ebenso wie die Markierung von Hogwarts als „that freak place“ (CoS: 12). Mithin wird das Merkmal ‚magisch‘ also innerhalb der nicht-magischen Primärwelt von Harrys Verwandtschaft als ein Zeichen einer Abnormalität gelesen, die ähnlich einer Behinderung zu behandeln und zu bewerten ist, bis hin zu der drastischen Forderung, man müsse Harry ertränken wie einen fehlgezüchteten Hund (vgl. PoA: 26). Aus Sicht des medizinischen Modells jedoch erscheinen Harrys kleine Auffälligkeiten nicht als Behinderung, im Gegenteil. Betrachtet man die Dursleys als Prototypen der nicht-magischen Men‐ schen und damit als Menschen mit Behinderung, entsteht hier ein dras‐ tischer Ableismus: Den Dursleys als Witzfiguren und Karikaturen schlechter Menschen und prototypische Muggel wird qua ihrer nicht-ma‐ gischen Genetik unterstellt, emotional, geistig und körperlich unfähig zu sein, Magie auf irgendeine Weise zu tolerieren. Ihnen wird gleich zu Beginn der Romanreihe jegliche Kapazität abgesprochen, die komplexe Weltstruk‐ tur einer zweigeteilten Welt in nicht-magische Primär- und magische Sekun‐ därwelt überhaupt zu begreifen, was codiert wird mit einer entsprechenden, im Jargon klar ableistischen, Ignoranz der Familie (s. o.). Inszeniert wird diese Unfähigkeit in dem scheinbar irrationalen Hass der Dursleys gegen die magische Welt. In einer ironischen Verkehrung sind es die Dursleys als prototypische Stellvertreter ihrer Gesellschaftsgruppe, die der Welt der Magier mit Diskriminierung und ableistischer Rhetorik begegnen und dadurch als engstirnig charakterisiert werden. Wird Hogwarts als „freak school“ (OoP: 18) markiert, erzeugt diese Negativzeichnung der Dursleys eine Kippfigur: Harry und die magische Gemeinschaft werden zusammen mit den Lesenden und der magischen Welt der Romane als positiv abweichend, quasi hypernormal und kompetent, mehrwissend und mehrkönnend semantisiert, 228 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="229"?> während die Alltags- und Primärwelt, die die Dursleys verkörpern, als banal und ignorant anormal, langweilig und inkompetent, ahnungs- und machtlos erscheint. 2 ‚Todesser‘ (Death Eaters): Das hypernormal Böse In der Gesellschaftsstruktur der Wizarding World gibt es eine weitere Binnendifferenzierung, die innerhalb der fantastischen Sekundärwelt diffe‐ renziert zwischen dem ‚Normalen‘ und ‚Guten‘ und dem ‚Unnormalen‘ und ‚Bösen‘. Die Differenzierung wird von Anfang an klar als Teil der Welt- und Gesellschaftsordnung etabliert und mit den Merkmalen ‚Sagbar‘ und ‚Unsagbar‘ kombiniert. Die Exposition der Handlung ist von diesem Binarismus von Anfang an dominiert, indem die Handlung eingeleitet wird von einem die Wizarding World transformierenden Metaereignis, dem Kampf der Potters gegen Voldemort. Ihr Tod markiert die zweite Form von Nicht-Normalität innerhalb der Diegese, die sich in pervertiert böser Magie realisiert. Innerhalb der Sekundärwelt gibt es damit, entsprechend der Annahme Links, dass protonomalistische Grenzziehungen immer zwei Seiten der Gesellschaft betreffen und so eine enge Zone der Normalität erzeugen, auch zwei Seiten des Anormalen. Die zweite Seite ist im Gegensatz zu den omnipräsenten aber stark marginalisierten Muggel zwar versteckt, aber zugleich hypersichtbar: ‚Das Böse‘. Es ist zudem ein existenziell bedrohliches ‚Extrem‘, und ebenfalls ausgeschlossen aus der magischen Kerngesellschaft. Dies gilt für die Gemeinschaft um Voldemort, die zu Beginn der Romanreihe eine Randexistenz fristen oder ihre Zugehörigkeit zu den ‚Todessern‘ als Teil einer vermeintlich abgeschlossenen Vergangen‐ heit verbergen. Trotzdem erscheinen sie stigmatisiert, sind als magisch ‚anormal‘ und ‚pervertiert‘ inszeniert und bewertet. Bis zum Finale bilden sie eine klare gesellschaftliche Opposition. Die ‚dunkle Seite‘ der Sekundärwelt ist mithin klar als semantischer Raum codiert, dessen Betre‐ ten und Angehören mit physischen, psychischen und emotionalen Anormalitäten oder Schäden einhergeht. Besonders deutlich wird dies in der von Ableismus geprägten Beschreibung Voldemorts als extremer Repräsentant dieser semantischen Opposition: Seine frühe Existenz wird als „something ugly, slimy, and blind“ (GoF: 693) beschrieben. Seine Anhänger pflegen und füttern ihn, agieren dabei aber mit Ekel und Abscheu, bis eine ‚Heilung‘ als Rückkehr zur ursprünglichen Gestalt gelingt. Die Extremfigur der hypernormal bösen Abweichung ist also eine zu pflegende Figur, die 2.5 Literary Disability Studies 229 <?page no="230"?> Markierungen von Behinderung, Deformation und Deregulation trägt. Die ‚Machtergreifung‘ Voldemorts, die ihn als totalitären Herrscher inszeniert, verstärkt diesen Effekt paradox. Sein Machtanspruch und seine Visionen von einer besseren Welt sind in rassistischen Argumentationen begründet. Seine Propaganda gegen nichtmagische Menschen und ‚Halbblü‐ ter‘ nutzt einen darwinistischen Biologismus und reicht bis zu Forderungen von Versklavung und Genozid. Voldemorts Argumentation funktioniert dabei zwar vor allem mit rassistischen Klischees, ist im Kern aber geprägt von einem ableistischen Biologismus, der die ‚richtige‘ Art von Blutlinie als genetisch prädestiniert annimmt. Hier installiert die Romanreihe als Weltregel problematische historische Argumentationsmuster, wie sie Kolo‐ nialismus und totalitäre Regime installieren. 2.5.2.3 Grenzfiguren: Squibs und Schlammblüter - Perspektiven des kulturellen Modells Besonders deutlich wird der implizite Ableismus der Gesellschafts‐ struktur der Wizarding World in der Beurteilung von Kindern, die als ‚Reinblüter‘, ‚Halbblüter‘, ‚Schlammblüter‘ (im Original: Mudblood) oder ‚Squib‘ (Deutsch ‚Knallfrosch‘ oder ‚Reinfall‘) zur Welt kommen, oder sich bis zu ihrem zehnten Lebensjahr als solche ‚herausstellen‘. Auf einer frühen Homepage-Version von Rowling heißt es zu letzteren: A Squib is almost the opposite of a Muggle-born wizard: he or she is a non-magical person born to at least one magical parent. Squibs are rare; magic is a dominant and resilient gene. Squibs would not be able to attend Hogwarts as students. They are often doomed to a rather sad kind of half-life […] they will be exposed to, if not immersed in, the wizarding community, but can never truly join it. (The Rowling Library 8.2.2012) Damit verkörpern sie ganz klar Exklusion und (genetische wie gesell‐ schaftliche) Störung. Die ableistische Komponente der Bewertung dieser vermeintlichen Genommutation als ‚Defekt‘ wird mit der abwertenden Na‐ mensgebung explizit. Squibs erscheinen so als extreme Sonderform: Ähnlich dem Phänomen magischer Kinder nichtmagischer Eltern (‚Schlammblüter‘) sind sie nichtmagische Kinder magischer Eltern. In der ideologiegekoppelten Terminologie der Wizarding World stehen diese Kinder damit dem Begriff ‚rein‘ (im Original: ‚pure‘) für magische Kinder zweier magischer Eltern oppositionell gegenüber. Das beschwört erneut eine Eugenik herauf, die 230 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="231"?> nicht nur Teil einer propagandistischen Rassenlehre bei Voldemort ist, son‐ dern ein Kernelement der Schulwie Weltordnung. Besonders innerhalb der Internatsumgebung ist die Diskriminierung von Squibs ein Handlungs- und Komikelement, das den Alltag der Hauptfiguren prägt und problematische historische Kontexte heraufbeschwört, ohne diese zu problematisieren, im Gegenteil: Die strukturelle Unterdrückung von Squibs ist eine gesell‐ schaftlich, ja sogar juristisch etablierte und auch auf Ebene der Erzählinstanz legitimierte soziale Praxis. Die Figuren, die als Squibs identifiziert werden, erfahren eine entspre‐ chende Marginalisierung. Innerhalb von Hogwarts sind hier exemplarisch zwei Figuren zu nennen: der Hausmeister Filch und Neville Longbottom. Filch erscheint dabei als das klassische Stereotyp des Bösewichts oder Tyranns nach Backofen, der als verbittert, zynisch, unfreundlich, launisch, aggressiv und hinterlistig inszeniert wird und seine Umwelt tyrannisiert. Filchs sadistische Lust an der Verfolgung und Folterung der Schüler: innen von Hogwarts wird dabei - insbesondere in Harry Potter und der Orden des Phönix - ebenso explizit dargestellt wie die ständige Ausgrenzung und Diskriminierung des Hausmeisters durch alle Bewohner: innen des Internats. So erscheint Hogwarts als exkludierende Schulstruktur, in der es weder ein barrierefreies Unterrichtsangebot noch Inklusion gibt, sondern elitäre und ableistische Regeln gelten, ganz entsprechend der im sozialen Modell bereits zitierten Feststellung, dass Squibs hier in ihrer potenziellen Teilhabe eigentlich nicht behindert sind, sondern aktiv behindert und ausgeschlossen werden. Im Gegensatz dazu findet sich im Fall von Neville Longbottom ein Heilungsnarrativ, wie es die Literatur schon seit dem 19. Jahrhundert, spätestens seit der Heilung von Klara in Johanna Spyris Heidi kann brau‐ chen, was es gelernt hat (1881) kennt: Im Gegensatz zur Vollwaise Harry haben Nevilles Eltern den Angriff Voldemorts überlebt, dabei jedoch so schwerwiegende psychische Schäden davongetragen, dass sie auf der Lang‐ zeitstation für Fluchgeschädigte im St.-Mungo-Hospital leben. Neville wird daher von seiner Großmutter aufgezogen, entwickelt jedoch erst mit acht Jahren erste Anzeichen für magische Fähigkeiten. Seine ‚Spätentwicklung‘ als Zauberer ließe sich - eine entwicklungspsychologische Perspektive zugrunde gelegt - mit seinem frühkindlichen Trauma durchaus begründen. Stattdessen aber ist Neville in der leistungsorientierten Magierwelt mit der Diagnose, wahrscheinlich ein ‚Squib‘ zu sein, aufgewachsen. Er bestreitet seine Schulzeit mit einer internalisierten „Denormalisierungsangst“ 2.5 Literary Disability Studies 231 <?page no="232"?> ( Jäger 2014: 28) vor dieser Diagnose und einem entsprechenden gegen sich gerichteten internalisierten wie externen Ableismus. Dabei lässt sich in einer textimmanenten Analyse herausarbeiten, wie Nevilles Angst durch Erzählinstanz und Außenwelt beständig gefestigt wird. In den ersten beiden Büchern tritt Neville primär als komische Figur in Erscheinung, zumeist durch von Slytherin ausgelöste Momente von Fatshaming, Exklusion und Erniedrigung. Neville wird aber auch aus der Erzählperspektive als „a round-faced and accident-prone boy with the worst memory of anyone Harry had ever met.“ (CoS: 68) beschrieben, der es „sogar“ schafft, „Neville managed to have an extraordinary number of accidents even with both feet on the ground“ (PS: 108) Das ebenfalls nicht kommentierte oder kritisierte Mobbing, das sich daraus ergibt, wird besonders im ersten Band deutlich, in dem Neville beleidigt wird als „great lump“ (ebd.: 110) und „fat little cry babies“ (ebd.). Diese Invektive ziehen sich auch durch Band 4, in dem niemand mit Neville zum Schulball geht („She just didn’t want to go with Neville … I mean, who would? “ (GoF: 436)) und auch in Band 5 „Predictably, Neville was left partnerless.“ (OoP: 348). Kleine Momente des Empowerments, und erste Lernprozesse bei seinen Mitschüler: innen gibt es in Szenen, wenn Neville die letzten für den Hauspokal entscheidenden Punkte holt, weil er sich seinen Freund: innen in den Weg stellt, was laut Dumbledore Mut erfordert. Auch verändert sich Harrys Perspektive auf Neville, als er vom Schicksal seiner Eltern erfährt. Entsprechend dieses Heilungsnarrativs arbeitet sich Neville über die Schuljahre hinweg langsam aus seiner Marginalisierung heraus und wird ‚geheilt‘ von dem Stigma des ‚Squibs‘, indem er seine magischen Fähigkeiten zunehmend und vor allem im Kampf gegen das Böse unter Beweis stellt. Er wird schließlich Anführer des Widerstandes, widerlegt also zum Ende seiner Entwicklung den Verdacht seiner magischen Behinderung und zerstört sogar den letzten Horkrux. Damit durchwandert Neville in seiner Trans‐ formation von Band 1 zu Band 8 alle positiv semantisierten Stereotype, die die Jugendliteratur für eine Held: innenfigur mit Behinderung kennt: Vom ‚Opfer‘ über den ‚Musterkrüppel‘ bis hin zum vom Status des ‚Squib‘ geheilten Helden, der seine eigenen Unfähigkeiten durch den Glauben an das Gute überwindet. Besonders markant wird sein Kampf um Integration in den Narben sichtbar, die er ab dem Training mit Dumbledores Armee trägt. Diese markieren nicht nur seine Kampfausbildung, sie können auch als Spuren der zahlreichen traumatischen psychischen Verletzungen, des Mobbings und der Ausgrenzung in den ersten Schuljahren gelesen werden, 232 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="233"?> auf deren Sichtbarwerden seine Mitschüler: innen, die ihn bis dahin kaum angesehen und beachtet haben, nun schockiert reagieren (vgl. HBP: 585). Auch seine biographischen Parallelen zu Harry Potter spielen für diese sukzessive Heilung eine zentrale Rolle: Neville wird anfangs als möglicher Kandidat für die Prophezeiung in Betracht gezogen, die dann aber, nicht zuletzt aufgrund der aus dem medizinischen und sozialen Modell heraus erzeugten Urteile über Nevilles vermeintliche Unfähigkeit zur Magie, als für Harry geltend identifiziert wird. Auch Voldemort selbst, als zentrale Klassifikatorinstanz des Textes, verwirft Neville als Gefahr und bewertet ihn als unfähig. Diese Bewertung Voldemorts ist erneut ein Hinweis darauf, dass Voldemorts Rassismus nur Propaganda zu sein scheint, immerhin ist Harry Potter ‚nur‘ ein Halbblut, Neville aber ‚Reinblut‘ nach den Defi‐ nitionen Voldemorts. Nach dieser Logik müsste Neville die größere magi‐ sche Gefahr darstellen. Dementsprechend wäre Voldemorts vordergründige Diskriminierung nach Stammbaum also nur Mittel zum Zweck, während sein tatsächlicher Diskriminierungsmechanismus auf einem internalisierten Ableismus basiert. 2.5.3 Der Protonormalismus der Wizarding World - vergleichende Perspektiven der Literary Disability Studies Mit Hilfe der Literary Disability Studies wird deutlich, dass Behinderung in Harry Potter verschiedene Inszenierungsformen aufweist: Auf der Textober‐ fläche sind Eigenschaften, die als Behinderung im Sinne eines medizinischen Modells klassifiziert werden können, vor allem funktionalisierend und cha‐ rakterisierend. Ihre Kernfunktion ist die Markierung der Heldenhaftigkeit oder Hässlichkeit einer Figur, wobei letzteres als Semantisierung für Dumm‐ heit/ Boshaftigkeit und/ oder Komik zum Einsatz kommt. Diese Inszenierung kann als eindeutig ableistisch kritisiert werden. Auch die Raum- und Gesellschaftskonzeption in Harry Potter wiederholt und vertieft, wie gezeigt, diese Wertewelten. Orte des flexiblen Normalismus oder zumindest Orte des Eskapismus vor diesen strengen Grenzziehun‐ gen, wie sie die Kinderliteratur üblicherweise als Ort der Freiheit von den strikten Regeln der Erwachsenenwelt oder der Dekonstruktion von protonomalistischen Gesellschaftsmodellen von Behinderung oder Abwei‐ chung etabliert, gibt es in Harry Potter nicht. Das erscheint schon deshalb bemerkenswert, weil sogar kanonische Texte des 19. und 20. Jahrhunderts 2.5 Literary Disability Studies 233 <?page no="234"?> solche flexibel-normalistischen Orte immer mit aufweisen. Darin zeigt sich das klar elitäre Programm der Buchreihe, die nur spezifische, oft stark leistungsorientiert und heteronormativ ausgerichtete Ereignisse, ge‐ sellschaftliche Konstellationen und charakterliche Dispositive als ‚gut‘ und ‚richtig‘ inszeniert und bewertet. Momente völliger Freiheit und ohne Leistungskampf, in denen ‚freies‘ Spiel möglich und gesellschaftliche Er‐ wartung aufgelöst wird, gibt es ironischerweise maximal in den kurzen Weihnachtsszenen der Reihe, mithin innerhalb eines westlich-christlichen Wertekontextes. Mit Blick auf die literaturgeschichtlichen Dimensionen wird hier erneut deutlich, dass die Texte eigentlich auf in der modernen Kinder- und Jugendliteratur kaum mehr aktuellen, mithin also historischen sozialen Implikationen und (Inklusionswie Exklusions-)Modellen fußen und eine stark ableistische Tendenz aufweisen. Das erscheint auch deshalb überraschend, weil die Inszenierungs- und Diskursstrategien der Reihe diese Tendenzen erfolgreich zu chiffrieren und in einer impliziten Tiefenstruktur zu ‚verstecken‘ verstehen. Es lässt sich vermuten, dass die Hypersichtbarkeit des Magischen und die Betonung des Kampfes Gut gegen Böse (→ Band 3: I) eine Schwarz-Weiß Zeichnung der Diegese erzeugt, die die Wahrnehmung auf Momente der Diskriminierung und des Ableismus ‚verstellt‘. Zudem sind aktuelle Kinderliteraturen oft noch so selbstverständlich dominiert von der Perspektive der ‚normalen‘ und ‚gesunden‘ Figuren, dass unsere symbolisch-kulturelle Ordnung eben doch oft noch ableistisch argumentiert, ohne dass wir die Diskriminierungsstrukturen wahrnehmen, solange sie nicht dezidiertes Thema der Texte sind. Das Anliegen des hier im Rahmen der Literary Disability Studies mit‐ gedachten, weiten Inklusionsbegriffes schließt an das Anliegen von Judith Butler an, einen „Kampf darum“ zu führen, „die Normen zu verändern, durch die Körper erfahren werden“ (Butler 2011: 52). Der Kinderliteratur kann in diesem Kontext eine Sonderrolle zukommen, denn sie muss nicht unbedingt - wie bei Harry Potter gezeigt - gesellschaftliche Stereotype reproduzieren. Stattdessen kann sie, und das besonders im Genre der fantastischen Lite‐ ratur, im flexibel-normalistischen Raum der Kindheit auch neue Utopien für die Gesellschaft entwerfen. Dass dies in Harry Potter nicht nur nicht geschieht, sondern aktiv unterlaufen wird, ist sicherlich programmatisch für die ideologischen Tiefenstrukturen der Reihe und leider mehr als nur verschenktes Potenzial für die Inszenierung von Identifikation, Inklusion, Vielfalt und Weltoffenheit. 234 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="235"?> Primärmedien Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Philosopher’s Stone. London, 1997. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets. London, 1998. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Prisoner of Azkaban. London, 1999. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Goblet of Fire. London, 2000. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Order of the Phoenix. London, 2003. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Half-Blood Prince. London, 2005. Sekundärliteratur Backofen, Ulrike (1987). Musterkrüppel, Tyrann, Held… Musterkrüppel, Tyrann, Held… und andere Strickmuster. In: Ammann, Wiebke/ Backofen, Ulrike/ Klatten‐ hoff, Klaus (Hrsg.) Sorgenkinder - Kindersorgen. Behindert-werden, Behindert-sein als Thema in Kinder- und Jugendbüchern. Oldenburg: Bibliotheks- und Informa‐ tionssystem der Universität Oldenburg, 18-23. Barker, Clare/ Murray, Stuart (Hrsg.) (2017). The Cambridge Companion to Literature and Disability. Cambridge: Cambridge University Press. Becvar, Sophia (2012). Eine schreckliche Mischung aus Mitleid und Abscheu - wie be‐ hindert ist Harry Potter? Einstellungen zu und Umgang mit dem Thema Behinderung in aktueller phantastischer Kinder- und Jugendliteratur am Beispiel der Erfolgsreihe Harry Potter. Wien: Diplomarbeit. Abrufbar unter: https./ / phaidra.univie.ac.at/ open/ o.1287161 (Stand: 20/ 12/ 2023). Boger, Mai-Ann (2017). Theorien der Inklusion - eine Übersicht. Zeitschrift für Inklusion, (1). Abrufbar unter: https: / / www.inklusion-online.net/ index.php/ inklu sion-online/ article/ view/ 413 (Stand: 05/ 06/ 2025). Butler, Judith (2011). Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Mensch‐ lichen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Conrad, Maren (2022). Rezension zu Sierck, Udo: Bösewicht, Sorgenkind, Alltags‐ held. 120 Jahre Behindertenbilder in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Glas‐ enapp, Gabriele von/ Lötscher, Christine/ O’Sullivan, Emer/ Roeder, Caroline/ Tom‐ kowiak, Ingrid (Hrsg.) „Natur schreiben“ Jahrbuch der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung, 244-245. doi: https: / / doi.org/ 10.21248/ gkjf-jb.100 Egen, Christoph (2020). Was ist Behinderung? Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen vom Mittelalter bis zur Postmoderne. Bielefeld: Transcript. 2.5 Literary Disability Studies 235 <?page no="236"?> Garland-Thomson, Rosemarie (1996). Introduction. From Wonder to Error - A Genealogy of Freak Discourse in Modernity. In: Dies. (Hrsg.) Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. New York: Columbia University Press, 1-22. Hall, Alice (2016). Literature and Disability. London: Routledge. Hartwig, Susanne (Hrsg.) (2020). Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Berlin: Metzler. Jäger, Margarete (2014). Rassismus und Normalität im Alltagsdiskurs. Anmerkun‐ gen zu einem paradoxen Verhältnis. In: Broden, Anne/ Mecheril, Paul (Hrsg.) Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Sub‐ jektivierung in der Migrationsgesellschaft. Bielefeld: transcript, 27-39. Kaufmann, Margrit E. (2020). Intersektionalität und Diversität. In: Hartwig, Susanne (Hrsg.) Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Berlin: Metzler, 255-258. Link, Jürgen (2009). Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Maskos, Rebecca (2023). Ableismus und Behindertenfeindlichkeit. In: Bundeszentrale für politische Bildung. Abrufbar unter: https: / / www.bpb.de/ themen/ inklusion-tei lhabe/ behinderungen/ 539319/ ableismus-und-behindertenfeindlichkeit/ #node-co ntent-title-1 (Stand: 20/ 09/ 204). Mürner, Christian (2010). Erfundene Behinderungen. Bibliothek behinderter Figuren. München: Spak. Rana, Marion (2017). Disability in Children’s Literature. Tropes, Trends, and The‐ mes. interjuli. Zeitschrift zur Kinder- und Jugendliteraturforschung 1, 26-45. Reese, Ingeborg (2010). Strickmuster und Stereotypen. Die Darstellung von Behin‐ dert-Werden und Behindert-Sein, von Integration und Inklusion im Kinder- und Jugendbuch - ein Spiegelbild der Zeitepochen? JuLit 1, 3-8. Waldschmidt, Anne (2020). Disability Studies zur Einführung. Hamburg: Junius. Internetquellen The Rowling Library. Squibs. Abrufbar unter: https./ / therowlinglibrary.com/ jkrowl ing.com/ textonly/ de/ extrastuff_view_id=19.html (Stand: 20/ 12/ 2023). 236 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="237"?> Anfänge und Ge‐ schichte 2.6 Ecocriticism und Harry Potter: Von verbotenen Wäldern und magischen Wesen Benjamin Bühler Im Jahr 1972 erschienen gleich zwei Bücher im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, in deren Zentrum die Zerstörung der Natur steht und die zu Klassikern werden sollten: In Luis Murschetz’ Kinderbuch Maulwurf Grabowski vertreiben Städteplaner einen Maulwurf von seiner idyllischen Wiese, weshalb er sich auf die Suche nach einem neuen Zuhause machen muss, und in Richard Adams’ Jugendroman Watership Down, eine politische Parabel über einen totalitären Staat, muss eine Gruppe von Kaninchen vor der Zerstörung ihrer Heimat fliehen. Diese Bücher erscheinen in einer Zeit, die sich als ‚ökologische Epochenschwelle‘ umschreiben lässt, einer Peri‐ ode, in der es zur Ausbreitung, Ausdifferenzierung und Institutionalisierung des ökologischen Denkens kommt. Konkret festmachen kann man diesen Befund an unzähligen Beispielen wie der Gründung des Club of Rome 1968 oder dem Earth Day am 22. April 1970 (vgl. dazu das Zeitfenster in Radkau 2011: 124-133). Der Begriff ‚Epochenschwelle‘ beschreibt die regelrechte Explosion öko‐ logischer Debatten, Bewegungen, Praktiken und Organisationen - ebenso wie deren verstärkte Präsenz in Literatur und Film. Während Serien wie Heinz Sielmanns Expeditionen ins Tierreich oder Bernhard Grzimeks Ein Platz für Tiere das Bild einer sich im Gleichge‐ wicht befindenden, jedoch vom Menschen bzw. von Industrie und Politik bedrohten Natur in die deutschen Wohnzimmer brachten, setzten Filme wie Richard Fleischers Soylent Green (1973) die im Bericht Limits of Growth (1972) prognostizierte Zukunft ins Szene: Durch den Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung aufgrund des Bevölkerungswachstums kommt es zu einem industrialisierten Kannibalismus. 2.6.1 Ökologie und Philologie In dieser Periode nehmen auch die Geisteswissenschaften zunehmend die Natur bzw. Umwelt in den Blick, wobei allerdings die Literaturwissen‐ schaften zu den Nachzüglern zählen. Zwar regen in den USA der Kampf für Bürgerrechte oder der Feminismus neue Theoriebildungen an, an der Umweltbewegung zeigt man aber nur wenig Interesse. Dabei vollziehen 2.6 Ecocriticism und Harry Potter 237 <?page no="238"?> Akademi‐ sche Veran‐ kerung Disziplinen wie Geschichte, Philosophie, Recht, Soziologie oder Religion, so Cheryl Glotfelty (vgl. 1996: xvi), seit den 1970er-Jahren ein regelrechtes „greening“. In den Literaturwissenschaften gab es zwar einige Vorläufer, aber zu einer Verankerung in der Disziplin selbst kam es erst um 1990: Seit 1989 publiziert der American Nature Writing Newsletter kleinere Essays, Rezensionen u.ä. zu Werken über Natur und Umwelt, verschiedene Zeitschriften veröffent‐ lichten zwischen 1986 und 1994 Hefte zu Themen wie Nature Writing oder Öko-Feminismus, Universitäten integrierten zunehmend literarische Kurse in das Fach environmental studies, und einige Abteilungen für Englische Literatur boten environmental literature als Nebenfach an (vgl. ebd.: xvii). Schließlich erhielt Cheryll Glotfelty die erste Professur mit der Denomina‐ tion Literature and Environment an der Universität von Nevada, Reno im Jahr 1990. Von großer Bedeutung war ebenfalls im Jahr 1990 die Gründung der Organisation Association for the Study of Literature and Environment (ASLE), die bis heute eine zentrale Struktur bietet (http: / / www.asle.org). Dabei handelt es sich beim Ecocriticism um keine Methode oder eine kon‐ zeptuell klar umrissene Theorie, unter sein Dach passen motivgeschichtli‐ che Untersuchungen genauso wie dekonstruktivistische, diskursanalytische oder postkoloniale. Ecocriticism ist insofern als „umbrella term“ zu verste‐ hen, der einen Rahmen bietet, unter dem sich die unterschiedlichsten, selbst sich widersprechende Konzepte versammeln können (vgl. Buell 2005: viii). Merkkasten: Vielfältige Begriffsbestimmungen „Simply put, Ecocriticism is the study of the relationship between literature and the physical environment. Just as feminist criticism exa‐ mines language and literature from a gender-conscious perspective, and Marxist criticism brings an awareness of modes of production and economic class to its reading of texts, Ecocriticism takes an earth-centered approach to literary studies. […] Ecocriticism takes as its subject the interconnection between nature and culture, specifically the cultural artifacts of language and litera‐ ture. As a critical stance, it has one foot in literature and the other on land; as a theoretical discourse, it negotiates between the human and nonhuman.“ (Glotfelty 1996: xviii) 238 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="239"?> ‚first wave‘ ‚second wave‘ „Ökologisch orientierte Literaturkritik sucht einen Beitrag zur Über‐ windung der Kluft zwischen Natur und Kultur zu leisten, indem sie Prosa und Lyrik, aber auch Essayistik, Reisebeschreibungen und Autobiographik vor dem Hintergrund der sich ändernden natürlichen Umwelt kritisch beleuchtet. Mit einer Analyse der Mängel von ver‐ gangenen und gegenwärtigen Naturauffassungen anfangend, erstrebt sie eine Bilanz alternativer Aspekte der kulturellen Tradition, und ein Abklopfen mythisch-antiker, exotischer bzw. utopischer Entwürfe nach Brauchbarem.“ (Goodbody 1998: 28) „Ecocriticism gathers itself around a commitment to environmentality from whatever critical vantage point.“ (Buell 2005: 11) „Literature and environment studies - commonly called ‚Ecocriticism‘ or ‚environmental studies‘ in analogy to the more general term literary criticism - comprise an eclectic, pluriform, and cross-disciplinary initiative that aims to explore the environmental dimensions of lite‐ rature and other creative media in a spirit of environmental concern not limited to any one method or commitment.“ (Buell/ Heise/ Thornber 2011: 418) Wie diese Definitionen bereits andeuten, hat der Ecocriticism seit seiner Entstehung eine Reihe verschiedener Phasen durchgemacht (zum Folgenden mit weiteren Literaturangaben: Bühler 2016: 43-48). In der sogenannten ‚first wave‘ findet sich eine bunte Allianz von Literatur‐ wissenschaftler: innen, Künstler: innen und Umweltaktivist: innen, denen es weniger um literaturtheoretische Fragen oder Analysen als um politisch konkrete Fragen ging. Eine Schwerpunktsetzung lag auf dem Genre Nature Writing und damit auch auf einer klaren Unterscheidung von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘. Gerade hier setzte die ‚second wave‘ ein, nämlich an der Problematisie‐ rung der Gegenüberstellung von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘, mit der nun auch der Anschluss an avancierte Theoretiker: innen wie Gregory Bateson, Bruno Latour oder Donna Haraway einhergeht. Damit erweitert der Ecocriticsm auch seinen Gegenstandsbereich, man beschäftigt sich nicht mehr nur mit Nature Writing, sondern nimmt ein größeres Spektrum von Texten in den Blick. 2.6 Ecocriticism und Harry Potter 239 <?page no="240"?> ‚third wave‘ Kritik am Anthropo‐ zentrismus Im US-amerikanischen Kontext ist damit die Einbeziehung der bisher vom Ecocriticism weitgehend vernachlässigten Literatur von Afro-Amerika‐ ner: innen und Native Americans, die Einbeziehung anderer Literaturen so‐ wie auch die Berücksichtigung der städtischen Umwelt gemeint. Zum Bei‐ spiel führt Joni Adamson aus, dass die bloße Thematisierung von ‚Natur‘ und ‚Wildnis‘ einen entscheidenden Aspekt verfehle, nämlich die Ver‐ schlechterung der Umweltbedingungen in Gebieten, in denen Arme, Natives und Afro-Amerikaner: innen wohnen - dort herrsche „environmental ra‐ cism“ (Adamson 2001: xv-xvif.): Die dort ansässigen Menschen unterliegen durch Lagerung von Giftmüll, Verschmutzungen oder den Ausschluss der Bewohner: innen von Entscheidungen einem höheren Gesundheitsrisiko als weiße Amerikaner: innen. Mit Blick auf solche Ausdehnungen des Ge‐ genstandsbereichs hat Scott Slovic von einer „third wave“ gesprochen, worunter er die transnationale und transkulturelle Ausrichtung, die Span‐ nung zwischen globalen und lokalen Gegebenheiten, eine ausgeprägte kom‐ paratistische Perspektive oder Anregungen durch Richtungen wie animal studies oder postcolonial studies versteht (vgl. Slovic 2010: 7) (→ Band 3: II.2.2 und II.2.7). 2.6.1.1 Problemstellungen Den Rahmen für die vielfältigen und heterogenen Ansätze des Ecocriti‐ cism bilden ähnliche Problemstellungen. Dazu gehört die Frage nach der Geschichte und dem Begriff von ‚Natur‘ und ‚Umwelt‘ ebenso wie die Geschichte und Logik der Opposition Natur/ Kultur, die eine ganze Reihe weiterer Oppositionen bildet: Natur/ Technik, Frau/ Mann, Tier/ Mensch, Wildheit/ Domestikation, Eigen/ Fremd, Unreinheit/ Reinheit usw. Die Einbettung des Menschen in die ‚Natur‘ und damit die Kritik an der Zentralstellung des Menschen bildet eine zentrale Grundannahme des Ecocriticism. Ihre Begründung liegt in der Ökologie selbst, die sich als Wissenschaft von den Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt versteht. Der Mensch erscheint hier erstens als ein Faktor, ein Organismus neben anderen, denn er ist über Nahrungsnetze und Stoffkreis‐ läufe in die ökologischen Beziehungsgefüge eingebettet. Zweitens verändert der Mensch die Umwelt in einem außergewöhnlichen Maß, er ist zu einem geologischen Faktor geworden, weshalb heute der Begriff ‚Anthropozän‘ als Bezeichnung unserer gegenwärtigen geochronologischen Epoche disku‐ tiert wird. Konsequent verabschiedet der Literaturwissenschaftler Timothy 240 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="241"?> Morton daher den Begriff ‚Natur‘, der ein historisches und rhetorisches Konstrukt sei (vgl. Morton 2007). Für den Ecocriticism ergibt sich daraus zum einen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Anthropozentrismus, der häufig auch ein Ethnozentrismus ist, zum anderen die systematische Einbeziehung nicht-menschlicher Entitäten als Akteur: innen. Zum Beispiel bringen Fossilien eine eigene Zeitlichkeit ins Spiel, die als Tiefenzeit seit der Roman‐ tik menschliche Zeitlogiken durchkreuzt, überhaupt konstituieren Tiere, wie Lena Kugler in Die Zeit der Tiere (2021) aufzeigt, eine eigene Zeitlichkeit und ein eigenes Zeitwissen, weshalb die Polychronie der Moderne und die Biodiversität Hand in Hand gehen. Pflanzen initiieren die Dynamik zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘, was Inselgeschichten wie Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) und seine vielen Nachfolger (Borgards/ Kleese/ Kling 2016) oder Richard Powers monumentaler Roman The Overstory (2018) vorführen. Und schließlich kennt die Literatur, man denke an Erzählungen E.T.A. Hoffmanns oder Franz Kafkas, eine Vielfalt an Tieren - von Läusen über Mäuse, Hunde und Katzen bis zu Menschenaffen -, die dem Menschen seine eigene Bedingtheit vorführen, an denen aber genauso die menschliche Geschichte als Geschichte der Domestikation und Vernichtung aufgezeigt wird - während etwa der ‚Hund‘ in Marie von Ebner-Eschenbachs Erzäh‐ lung Krambambuli (1883) oder Thomas Manns Herr und Hund (1919) als treuer Begleiter des Menschen auftritt, berichtet Upton Sinclair in The Jungle (1906) aus den Schlachthöfen Chicagos und John Williams’ Roman Butcher’s Crossing (1960) erzählt von einem regelrechten Massaker an einer Büffelherde. Merkkasten: Aspekte des Ecocriticism Auch wenn somit der Ecocriticism keine Theorie oder Methode ist, sondern als ‚umbrella term‘ verschiedene Strömungen vereinigt, teilen diese doch eine Reihe von Problemstellungen, wie die Auseinander‐ setzung mit • den Geschichten, historischen Transformationen und kulturell unterschiedlichen Konzeptionen von Natur, • der Dezentrierung der menschlichen Perspektive auf die Umwelt, • nicht-menschlichen Akteur: innen als handlungstragenden Ele‐ menten, 2.6 Ecocriticism und Harry Potter 241 <?page no="242"?> Literatur und soziale Wirklichkeit • den Konzeptionen und Zurichtungen der Umwelt durch Technik und Naturwissenschaft, • den ökologisch-ethischen Aspekten des Umgangs mit Umwelt, • der Betrachtung der Umwelt als Medium und von Medien als Umwelt, • der Reflexion eines Sprechens-für-die-Natur, • der literarischen, bildlichen, filmischen oder virtuellen Gestaltung von Umwelten und Räumen, • dominanten und weniger dominanten Narrativen, • rhetorischen Gestaltungsformen wie Metaphern, • Gattungen wie Robinsonade oder Nature Writing. 2.6.1.2 Literatur und Gesellschaft Zwar ist der Ecocriticism seit seiner ‚second wave‘ nicht mehr ausdrücklich aktivistisch angelegt, doch die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Gesellschaft und hier insbesondere diejenige nach der Wirkung von Literatur bleibt entscheidend. Denn die politische Ausrichtung ist und bleibt ein konstitutives Element. Von Anfang an zog der Ecocriticism seine Wirkkraft aus dem Anliegen, über Literatur einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Denn, so die von dem Doyen des Ecocriticism Lawrence Buell formulierte These, die Umweltkrise ist eine Krise der Imagination der ‚Natur‘ und der Beziehungen zwischen Mensch und ‚Natur‘, und die Literatur setzt genau auf der Ebene der Imagination an (vgl. Buell 1995: 2). Dabei geht es nicht nur um die Krise, sondern überhaupt darum, dass, wie Axel Goodbody ausführt, ‚Natur‘ und ‚Umwelt‘ „kulturell bedingte Konstrukte [sind], an deren Konstituierung ‚schöne‘ Literatur in der Vergangenheit wesentlichen Anteil gehabt hat und die sie heute noch beeinflussen kann“ (Goodbody 1998: 25). Dieses Verständ‐ nis von Literatur ist für den Ecocriticism fundamental: Würde Literatur nicht unsere soziale Wirklichkeit mitorganisieren, dann wäre die Beschäf‐ tigung mit dem Verhältnis von Literatur und Umwelt politisch irrelevant. So aber legitimieren die Thesen der kulturellen Konstruktion von ‚Natur‘ und ‚Umwelt‘ und der Beteiligung der Literatur an diesen Konstruktionen den Ecocriticism als ‚relevanten‘ Theorie-Rahmen. Aus diesen Gründen kommt der pädagogischen Dimension eine besonders wichtige Rolle zu: An Schulen und Universitäten soll die ökologisch orientierte Lektüre 242 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="243"?> Natur und Kinder- und Jugendlite‐ ratur von Texten dazu ermutigen, das eigene Naturverhältnis zu hinterfragen, alternative Lebensformen zu diskutieren und politisches Engagement zu entwickeln. Auf der einen Seite überschätzt man damit sicher die mögliche Wirkkraft von Literatur und Literaturwissenschaft. Auf der anderen Seite modellie‐ ren Mythen, Erzählungen, Bilder, Visionen oder allgemein ausgedrückt Zeichen-Systeme die Wirklichkeit (vgl. z. B. Berger/ Luckmann 1969 oder Lefort 1981). In diesem Sinn ist Buells These so zu verstehen, dass die Fiktionen und Imaginationen, die Ideen und Begriffe, mit denen wir ‚Natur‘ und ‚Umwelt‘ konstruieren, Anteil haben an der Art und Weise, wie unser Handeln konstituiert, strukturiert und organisiert wird. Folgerichtig sind Bildungseinrichtungen, vor allem Schulen und Universitäten, ein wichtiges Feld des Ecocriticism. Merkkasten: Ökologische Pädagogik und Didaktik • Eine erste Definition des Begriffs ‚environmental education‘ for‐ muliert 1970 William Stapp, Professor an der School of Natural Resources & Environment. • Eine neue Organisation des Unterrichts und der Schule fordert 1970 der Kommunikationswissenschaftler Neil Postman auf der Grundlage seines Konzepts ‚media ecology‘. • Die Forderung, Literaturwissenschaft müsse sich mit relevanten Themen beschäftigen, geht auf William Rueckert zurück, der den Begriff Ecocriticism prägte. • Einen Überblick zur aktuellen Forschung und zum Konzept einer ecological literacy bietet Sebastian Sustecks Band Der Deutsch‐ unterricht und die ökologische Krise. Literatur und Medien im Anthropozän (2025). In der Kinder- und Jugendliteratur sind ‚Natur‘ und Umwelt ohnehin bereits in ihren Anfängen präsent, so etwa in der Robinson Crusoe-Adaptation Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder (1779) des Pädagogen Johann Heinrich Campe, der darin das Pro‐ gramm des Philanthropismus literarisch umsetzt (siehe: Richartz 1981), oder in David Friedrich Weinlands Rulaman. Naturgeschichtliche Erzählung aus der Zeit des Höhlenmenschen und Höhlenbären (1878), dem ersten prä‐ 2.6 Ecocriticism und Harry Potter 243 <?page no="244"?> historischen Jugendroman. Ergänzen ließen sich Romane und Erzählungen von Selma Lagerlöf, Felix Salten, Robert Louis Stevenson, Astrid Lindgren, Otfried Preußler, Michael Ende u. a. Seit den 1970er-Jahren rücken dann explizit Themen wie Naturzerstörung, Klimawandel oder Artenschutz in den Vordergrund, dazu zählt etwa Richard Adams bereits erwähnter Roman Watership Down (1972), aber auch The Plague Dogs (1977), in dem zwei Hunde aus einem Versuchslabor fliehen. Zu den Gefahren eines Krieges mit Atombomben sowie den Folgen eines Unfalls in einem Atomkraftwerk hat Gudrun Pausewang mit Die letzten Kinder von Schewenborn (1983) und Die Wolke (1987) zwei Romane vorgelegt, die die Folgen radioaktiver Verseuchung eindringlich schildern. Und seit den 2000er-Jahren ist auch der Klimawandel Gegenstand der KJL, exemplarisch genannt seien Dry (2018) von Jarrod und Neal Shusterman, in dem es um Wasserknappheit in Kalifornien geht, und Nicky Singers Dystopie The Survival Game (2018), das das bloße Überleben in der Zukunft und daraus entstehende ethische Dilemmata behandelt. Damit ein Werk zum Gegenstand einer Lektüre im Sinne des Ecocriti‐ cism werden kann, muss es keineswegs dezidiert Natur oder Umweltver‐ schmutzung thematisieren, jedes Werk operiert in irgendeiner Art und Weise mit ‚Natur‘ und dem Umgang mit ihr, daher können auch die Harry Potter-Romane, die bekanntlich nicht explizit ökologische Probleme behandeln, aus der Perspektive des Ecocriticism gelesen werden, was auch bereits unternommen wurde, insbesondere ausgehend von Prinzipien der ‚Deep Ecology‘, ergänzt um die Aspekte des Anthropozentrismus und des Umgangs mit Objekten und Tieren (Dawson 2012; Kavitha/ Sudhalakshmi 2022). Im Folgenden sollen anhand der Kategorien Orte und Räume, Wissen und Figuren und Dezentrierung des Menschen Anwendungsfelder des Ecocriticism erläutert werden. 2.6.2 Ecocriticism und Harry Potter 2.6.2.1 Orte und Räume Kaum eine Kategorie ist im Ecocriticism so zentral wie die des Ortes und Raumes. Zuerst einmal verweist die Kategorie ‚Ort‘ bzw. ‚place‘ auf eine lokal feststellbare, wahrnehmbare Lokalität, was relevant ist für die Öko-Phänomenologie, so entwickelt der Philosoph Gernot Böhme ausge‐ hend vom Begriff der ‚Atmosphäre‘ in seinem Buch Für eine ökologische 244 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="245"?> Naturästhetik (1989) eine ökologische Ästhetik. Spezifische Lokalitäten kön‐ nen aber auch als Ausgangspunkt schreibdidaktischer Ansätze dienen, so lautet das erste Kapitel in Isabel Galleymores Buch Teaching Environmental Writing (2020): „Where you are: Place Writing“. Doch Orte fungieren auch als Ausgangspunkt für ideologisch aufgeladene Raumkonzepte wie ‚Heimat‘, ‚Wildnis‘ oder ‚Landschaft‘ (vgl. z. B. Kirchhoff/ Trepl 2015) (→ Band 3: II.1.2). Der Begriff ‚wilderness‘ bildet in der ersten ‚Welle‘ des amerikani‐ schen Ecocriticism, vor allem aber in der amerikanischen Umweltbewegung, ein Leitkonzept. Seine Karriere tritt diese Idealisierung der ‚Natur‘ mit dem nationalen Mythos der ‚frontier‘ an, ‚Wildnis‘ erscheint in diesem Rahmen als ein (vorgeblich) von Menschen unberührter Raum, der von weißen Siedler: innen zivilisiert wird, was dann auch zu einer Legitimation von Naturparks wird (vgl. Cronon 1995). Die Konsequenzen dieser kulturellen Konstruktion sind für die Menschen, die in der vermeintlich unbewohnten ‚Wildnis‘ wohnen, verheerend - und zwar bis heute, wie das Agieren von Organisationen in Naturschutz-Projekten etwa in Afrika zeigen. ‚Wildnis‘ bewegt sich somit auch in dem Gemengefeld der Unterschei‐ dung von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ und ihren diversen Semantisierungen - von der ‚Mutter Natur‘ über die ‚gefahrvolle Natur‘ bis hin zur ‚eroberten Natur‘, die jeweils im Gegensatz steht zur menschlichen ‚Kultur‘. Auch in der Storyworld von Harry Potter findet sich dieser Dualismus, und zwar keineswegs in der Unterscheidung der Welt der Muggel und derjenigen der Zauber: innen, sondern vielmehr wird die letztere selbst wieder unterteilt in einen ‚Natur‘- und einen ‚Kultur‘-Raum. Der hierfür wohl wichtigste Raum ist der Verbotene Wald, der in fast allen sieben Teilen eine zentrale Rolle spielt. Im ersten Band trifft Harry im Verbotenen Wald auf Voldemort, der Einhornblut trinkt, was angesichts der Reinheit der Einhörner als besonders verwerflich gilt. Auch im zweiten Band bildet der Wald Außenseiter: innen einen Fluchtort: Zum einen dem verzauberten Auto, das sich dort versteckt, zum anderen Aragog und seiner Spinnenkolonie - Hagrid versteckte ihn dort, nachdem man ihn als vermeintliches Monster aus der Kammer des Schreckens töten wollte. Im Wald verbergen Hermione und Harry den Hippogreif Buckbeak (vgl. PoA: 426-428), die Organisator: innen des Tri‐ magischen Turniers die Drachen (vgl. GoF: 275-276) und Hagrid seinen Halbbruder, den Riesen Grawp (vgl. OoP: 608-616). Und schließlich wartet Voldemort im letzten Teil mit seinen Todessern im Verbotenen Wald auf 2.6 Ecocriticism und Harry Potter 245 <?page no="246"?> Harry, um ihn endgültig zu töten, die Kapitelüberschrift lautet: „The Forest Again“ (DH: 554-564). Der Wald erscheint erstens als ein Raum, in dem andere Regeln als in der restlichen Welt gelten. Zum Beispiel ist nur Hagrid vor den Riesenspinnen geschützt, nicht aber Harry und Ron. Und die Zentauren sehen sich selbst als Herrscher des Waldes, so wollen sie Hagrid verbieten, ihn weiterhin zu betreten. Zweitens ist es ein Ort für ‚unzivilisierte‘ Wesen wie das verzauberte Auto, das hier seine Freiheit im Wortsinn erfährt (CoS: 79 + 296), oder Grawp, der den Prozess der Zivilisierung erst noch durchlaufen muss: Hagrid versucht ihm grundlegende Manieren beizubringen, lehrt ihn die englische Sprache und sorgt für soziale Kontakte (vgl. OoP: 609). Und drittens ist er ein Ort des Grauens: Als Harry und Malfoy sehen, wie eine vermummte Gestalt Blut aus dem getöteten Einhorn trinkt, stehen sie zuerst wie erstarrt, dann stößt Malfoy einen „terrible scream“ aus (PS: 275). Auch in der Schlussszene, in der Harry freiwillig seinem Tod entgegengeht, ist es zuerst einmal ein Ort der Gewalt. Und schließlich verbirgt sich der körperlose Voldemort nirgendwo anders als in den Wäldern Albaniens: „a place, deep in an Albanian forest“ (GoF: 551). Diesen Erscheinungsformen des Waldes im Allgemeinen und des Ver‐ botenen Waldes im Speziellen lassen sich weitere Orte als Gegenorte der Zivilisation zuordnen, so etwa der See. Für die zweite Aufgabe des Trimagischen Turniers verwendet Harry Gillyweed, wodurch ihm Kiemen und Schwimmhäute wachsen (ebd.: 416-417), wobei sich damit auch seine Wahrnehmungen verändern: Während ihn Stille umgibt, schwimmt er über eine „strange, dark foggy landscape“ (ebd.: 417), was geradezu an die Erfahrungen des notorischen Schwimmers Roger Deakin erinnert, die er in seinem dem Genre des Nature Writing zuzuordnenden Buch Waterlog (1999) beschreibt (vgl. Bühler 2023: 16-18). Doch im Fall Harry Potters geht es vor allem um den spannungsvollen Handlungsaufbau, zuerst wird er von Grindylows nach unten gezogen, danach zeigt ihm Moaning Myrtle als klassische Helferfigur die Richtung, in die er schwimmen muss (vgl. GoF: 419). So wie es unter Wasser darum geht, dass sich Harry als guter Retter beweisen kann, geht es auch in der Höhle, in der Voldemort einst zwei Kinder gequält hat und in der Dumbledore mit Harry nach einem Horkrux sucht, um die Bewährung in großer Gefahr. Auch diese Höhle ist ein abgehobener Ort, denn wie Dumbledore ausführt, ist sie vom Meer aus wegen der Klippen und Strömungen unzugänglich, und zu Fuß sei sie wegen der Steigung ohne Seile nur schwer zu erreichen, Voldemort habe damals wohl Magie eingesetzt 246 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="247"?> (vgl. OoP: 519-520). Die Höhle wird in mehrfacher Hinsicht zu einem Ort des Schreckens, den Rowling in einer Klimax inszeniert: Um sie zu betreten, muss man Blut abgeben, ein Boot muss gefunden werden, Harry muss Dumbledore zwingen, einen Zaubertrank zu sich zu nehmen, der Schmerzen verursacht, und schließlich ist der See voller Inferi, lebender Leichen, die Harry unter Wasser ziehen - dennoch ist am Ende alles umsonst, da der Horkrux nicht mehr da ist. In dem Kapitel The Cave verdichten sich damit eine Fülle von Motiven: entscheidende Stationen in der Biografie Voldemorts sowie seine außergewöhnlichen magischen Fähigkeiten, aber auch seine Bösartigkeit, die Opferbereitschaft Dumbledores, die Harry später ebenfalls leisten muss, die durchaus nicht unkomplizierte Beziehung zwischen Dumbledore und Harry, die Notwendigkeit, sich auf Verbündete verlassen zu können, die Suche und das Scheitern der Suche usw. Die Semantisierung des Waldes, des Sees oder der Höhle als Gegenorte zur Zivilisation hat in der Literatur eine lange Tradition. Während er jedoch häufig als Ort des Ungesetzlichen, des Unheimlichen, der Gesetzeslosigkeit inszeniert wird, hat er im Ecocriticism eine andere Bedeutung, wie Henry David Thoreaus diskursbegründendes Buch Walden; or, Life in the Woods (1854) zeigt, das zum Wegbereiter des Nature Writing und überhaupt des ökologischen Bewusstseins werden sollte. Bei Thoreau ist der Wald nicht Ort der Gefahr, sondern Ausgangspunkt einer Naturerfahrung, die die Natur zum schützenswerten Raum und zum Vorbild menschlichen Lebens erklärt. Mit einem solchen positiven Blick auf die ‚Natur‘ bzw. Umwelt hat die Storyworld um Harry Potter wenig zu tun. Von Naturräumen wie dem Wald, dem See oder der Höhle geht trotz aller Freiheitsoptionen stets eine Gefahr aus, nur wenige wie Hagrid oder Dumbledore begeben sich freiwillig dorthin. Insofern schreibt sich die Storyworld von HP in eine Tradition der Opposition von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ bzw. Zivilisation ein und imaginiert Naturräume vor allem als Orte der Gefahr, in denen die sonst geltenden Regeln weitgehend aufgehoben sind. 2.6.2.2 Wissen und Figuren Wissen spielt innerhalb des Ecocriticism in verschiedenen Hinsichten eine zentrale Rolle: Erstens besteht ein Interesse an der Geschichte des Wissens, insbesondere daran, mit welchen Theorien, Konzepten, Begriffen, Praktiken ‚Natur‘ bzw. ‚Umwelt‘ zum Gegenstand von Wissenschaften gemacht wor‐ den ist, aber auch, wie Objekte wie Fossilien, Bakterien oder Instrumente 2.6 Ecocriticism und Harry Potter 247 <?page no="248"?> Wissen generieren und formieren. Einen Hinweis auf den Wandel von Vorstellungen der ‚Natur‘ gibt Hartmut Böhmes Unterscheidung von fünf kulturellen Leitbildern, in denen „epochentypisch die Wahrnehmungs- und Deutungsperspektiven von Natur geprägt“ worden seien (Böhme 2000: 123). Das wären, verkürzt gesagt: das antike Modell der ‚Natur‘ als Kosmos, das hermeneutische Bild der ‚Natur‘ als Buch, das technisch-instrumentelle Projekt, das die ‚Natur‘ beherrschen möchte, das ökologische Modell, das die ‚Natur‘ repariere und balanciere, und schließlich das kulturelle Projekt, das ‚Natur‘ gestalte, aber nicht beherrsche (vgl. Böhme 2000: 123-131). Wie zu zeigen sein wird, findet sich in der Storyworld von HP vor allem das technisch-instrumentelle Projekt, was nicht zuletzt anknüpft an ein europäisch-mittelalterliches Verständnis von Magie, wie es etwa in der entsprechenden Sagengestalt des Faust deutlich wird (natürlich ohne den Teufelspakt). Zweitens ist die literarische Form dieses Wissens Gegenstand des Ecocriticism, so findet sich ökologisches Wissen in der Literatur in unterschiedlichen Variationen: in Form von Narrativen (z. B. Fortschritt vs. ‚Zurück zur Natur‘), Metaphern (‚Natur‘ als Maschine oder Organismus) oder auch verkörpert in Figuren, die über spezifisches Wissen verfügen, ob über Pflanzen, Wetter, chemische Stoffe oder den Klimawandel. In der Harry Potter-Reihe sind vor allem die Lehrer: innen zu nennen, die die verschiedenen Fächer unterrichten wie Kräuterkunde, Pflege magischer Geschöpfe, Verwandlung, Zaubertränke oder Muggelkunde. Für die Welt der Pflanzen zuständig ist die Lehrerin für Botanik, Professor Sprout, die sich für den pragmatischen Gebrauch der Pflanzen interessiert. Dass Sprout immer den Nutzen der Pflanzen im Blick hat, zeigt sich schon in der ersten Stunde zur Herbologie: Man lerne „how to take care of all the strange plants and fungi and found out what they were used for.“ (PS: 142) Und auch im weiteren Verlauf wird insbesondere der Nutzen der verschiedenen Pflanzen vor Augen geführt: Ob die Rede von „Devil’s Dare“ ist, mit denen Sprout den Weg zum Stein der Weisen schützt (vgl. ebd.: 297-298), die aber auch als Mordinstrument fungieren können (OoP: 453 + 482-483), von „Mandrakes“, die diejenigen heilen, die vom Blick des Basilisken versteinert wurden (CoS: 96), oder von „Bubotubers“, deren „pus“ Akne heilt (GoF: 164-165). Dabei erfahren die Leser: innen nicht bei allen Pflanzen von ihrem genauen Nutzen, unklar bleibt er beispielsweise im Falle der gefährlichen „Venomous Tentacula“ (OoP: 205) oder der „Snargaluff “ (vgl. HBP: 261-265), die sich mit stachligen Ranken wehrt, wenn man an ihren Kokon will, um ihn auszudrücken. In Sprouts Gewächshaus, in dem der 248 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="249"?> Unterricht stattfindet, geht es demnach zum einen darum, den Umgang mit gefährlichen pflanzlichen Wesen zu erlernen, zum anderen um diverse Nutzanwendungen der Pflanzen, ihrer Teile und ihrer Absonderungen. Dagegen geht es in Hagrids Unterrichtsstunden zur Pflege magischer Geschöpfe wohl weniger um praktische Anwendungen, sondern eher um die Neugier auf ungewöhnliche und besonders gefährliche Wesen wie das „Monster Book of Monsters“ (PoA: 118-119) oder die „Blast-Ended Skrewts“ (GoF: 166), die Hagrid wahrscheinlich selbst gezüchtet hat, was gegen das Gesetz verstößt. Auf Malfoys Frage, wer Haustiere haben wolle, „that can burn, sting and bite all at once“, verweist Hermione in Analogie zu Drachenblut auf einen möglichen, aber noch unbekannten Nutzen dieser Tiere (vgl. ebd.: 167). Zwar hat Hagrid laut seiner Stellvertreterin Professor Grubbly-Plank die wesentlichen Inhalte für die bevorstehenden Prüfungen zum OWL durchgenommen, aber sein Unterricht beschränkt sich weitge‐ hend auf die Eigenschaften und Verhaltensweisen dieser Tiere sowie den richtigen Umgang mit ihnen, es geht jedoch nicht um ihre natürlichen Lebensräume oder ihre Beziehungen zu anderen Wesen. So bleibt auch unklar, weshalb man Thestrale nur sehen kann, wenn man bereits einen toten Menschen sah - wichtig ist, dass sie Kutschen ziehen und man auf ihnen reiten kann. Nicht nur der Blick auf Pflanzen, sondern auch der auf Tiere ist demnach vor allem ein instrumenteller (wozu in gewisser Weise auch ihr Unterhal‐ tungswert bzw. das Stillen von Neugier zählt): In der Regel geht es um ihren Nutzwert, also darum, ob sie von Flüchen heilen, Gefährte ziehen, als Flug‐ objekte dienen oder ob ihre Bestandteile genutzt werden können. Berühmt wurde Professor Dumbledore so unter anderem durch die Entdeckung der zwölf verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten von Drachenblut (vgl. PS: 109). Mit Blick auf den zunehmend als Problem erkannten Speziesismus zeigt sich hier, dass die Welt der Zauberei eben keine ‚bessere‘ ist, es ist eine andere Welt, die jedoch, zumindest in Hinsicht auf das Bild der ‚Natur‘ und den Umgang mit ihr, strukturell analog zu der der Muggel ist. Mit Dumbledore findet sich zwar ein Gegenmodell zu einer durch Voldemort verkörperten Magie, der es nur um Macht und Herrschaft geht, doch seine Idee der ‚Liebe‘ bezieht sich vor allem auf soziale ‚menschliche Beziehungen‘, nicht auf die Beziehungen zwischen Mensch und ‚Natur‘. 2.6 Ecocriticism und Harry Potter 249 <?page no="250"?> 2.6.2.3 Dezentrierung des Menschen und andere Seinsformen Die Einbettung des Menschen in die ‚Natur‘ und damit die Kritik an der Zentralstellung des Menschen (Anthropozentrismus) bildet eine zentrale Grundannahme des Ecocriticism. Ihre Begründung liegt in der Ökologie selbst, denn der Mensch erscheint hier als ein Faktor, ein Organismus neben anderen, der über Nahrungsnetze und Stoffkreisläufe in die ökologischen Beziehungsgefüge eingebettet ist. Folglich kommt im Ecocriticism der nicht-menschlichen Welt eine zen‐ trale Bedeutung zu, wobei es nicht nur um die Dezentrierung des Menschen geht, sondern ebenso darum, inwiefern Dinge, Steine, Pflanzen oder Tiere auch als Akteur: innen betrachtet werden können. Damit ist keine Psycholo‐ gisierung oder gar Beseelung nicht-menschlicher Objekte gemeint, vielmehr kommt, mit Hartmut Böhme formuliert, Artefakten insofern Handlungs‐ macht zu, als sie über „inkorporierte Handlungsschemata“ verfügen (Böhme 2006: 82). So veranlassen Bodenschwellen Autofahrer: innen dazu, langsamer zu fahren. Doch auch Wissensformationen bilden sich über Objekte, so konstituieren etwa Fossilien das Modell der Tiefenzeit und schlafende Vögel die Theorie der endogenen Uhr (vgl. Kugler 2021). Die Integration nicht-menschlicher Wesen ist nicht nur für eine Ge‐ schichte des Wissens von Interesse, sondern verändert auch die Ethik, in der Positionen des Bio- oder gar Physiozentrismus entwickelt werden. Während im Biozentrismus allem Lebendigen ein Wert zukommt (hier gibt es weitere Differenzierungen), schreibt der Physiozentrismus der gesamten ‚Natur‘ einen Wert an sich zu. Politisch relevant sind diese Überlegungen, seitdem physische Objekte Rechtsstatus erlangt haben. Bereits 1972 formu‐ liert der Rechtsprofessor Christopher Stone die Idee, physische Objekte als juristische Personen anzusehen, in seinem Artikel mit dem prägnanten Titel Should trees have standing? Towards legal rights for natural objects. Mittler‐ weile sind Flüsse in Neuseeland oder Indien zu Rechtssubjekten geworden, seit 2008 ist die ‚Natur‘ in die Verfassung Ecuadors aufgenommen, und auch in Deutschland finden sich inzwischen entsprechende Bestrebungen (vgl. hierzu die Wikipedia-Artikel „Rights of nature“ und „Recht der Natur“). Nun ist es geradezu ein Kennzeichen der Storyworld von Harry Potter, dass viele und mitunter äußerst unterschiedliche Objekte und Seinsformen in Erscheinung treten, wobei die dominante Seinsform diejenige der Zaube‐ rer und Hexen ist. Es gibt eine ganze Reihe an Objekten, die als Akteur: innen erscheinen, so etwa der Sprechende Hut, der nicht nur die Schüler: innen 250 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="251"?> einteilt, sondern auch zur rechten Zeit ein Schwert bereitstellt. Ganz grund‐ sätzlich sind die Zauberstäbe Objekte mit Eigenmacht, schließlich wählen sie sich die Zauber: innen aus, nicht umgekehrt. Melanie Dawson spricht von einer regelrechten „landscape of conscious objects“ (Dawson 2012: 80). Während die Objekte Individualitäten sind, findet sich im Fall der leben‐ den Wesen ein Blick auf eine Gruppe als Ganzes und auf einzelne Individuen dieser Gruppe. So gibt es ‚die Riesen und Riesinnen‘ und Grawp bzw. Hagrid; ‚die Elfen‘ und Dobby sowie Winky; die ‚Werwölfe‘ und Lupin; ‚die Zentauren‘ und Firenze usw. Bei allen Unterschieden zwischen diesen verschiedenen Wesen: Auf diese Weise werden sowohl ihre Eigenschaften als Gattungswesen als auch die Grenzen und Übergänge dieser Gattungen thematisiert. Was all diese Grenzfiguren teilen ist, dass sie für sich Anerkennung einfordern, und zwar in einem sozialen, ethischen und juristischen Sinn, und gleichwohl zu Objekten der Diskriminierung und des Rassismus werden (→ Band 3: II.2.2). Hier ist der Elf Dobby sicher eine der außergewöhnlichs‐ ten Figuren der Romane, der sich gegen die für seine Gattungen geltenden Regeln aufmacht, um Harry Potter zu warnen, wofür dieser ihm die Freiheit zurückgibt (vgl. CoS: 357). Der Freiheitsgedanke zeigt sich im vierten Band der Romanreihe aber noch in anderer Form, nämlich in einer Parodie von ökologisch motivierten Aktivist: innen. Hermione gründet mit großem Enthusiasmus S.P.E.W., was für „Stands for the Society for the Promotion of Elfish Welfare“ steht, wobei sie zuerst an den Namen „Stop the Outrageous Abuse of Our Fellow Magical Creatures and Campaign for a Change in Their Legal Status“ denkt, der ihr dann aber zu kompliziert ist (GoF: 188-189). Hermione verfasst ein Manifest, gründet eine Gruppe, für die Mitglieder ak‐ quiriert werden sollen, und stellt Anstecker her. Dabei gerät ihr Projekt zur Parodie des Öko-Aktivismus, wenn Ron es als „House-Elf Liberation Front“ bezeichnet (ebd.: 316). Denn diese Bezeichnung verweist auf ELF - Earth Liberation Front, eine radikale Gruppe von Aktivist: innen, die sich im Jahr 1992 gründete und deren Ziel es war, gegen die Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt und ihrer Bewohner: innen zu kämpfen. Rons Bemerkung ist zwar nur ein Witz, überführt den Öko-Aktivismus gleichwohl ad absurdum, zumal die Elfen in Hogwarts von Hermione nicht befreit werden wollen: Als sie Kleider auslegt, damit die Elfen befreit werden, möchte kein Elf mehr in den Gryffindor-Turm, weshalb Dobby diese Arbeiten übernimmt und alle Kleider einsammelt (OoP: 230-231 und 341-315). 2.6 Ecocriticism und Harry Potter 251 <?page no="252"?> Während auf der kollektiven Ebene Aktivismus parodiert wird, findet sich auf der individuellen Ebene durchaus ein anderer Umgang mit Elfen, was an der Figur Kreacher deutlich wird: Laut Dumbledore hat Kreacher seinen Herrn Sirius wohl auch deshalb verraten, weil sich Sirius nie etwas aus ihm gemacht habe, dabei sei er das, „what he has been made by wizards.“ (OoP: 733). Dass er sich in Kreacher getäuscht hat, erfährt auch Harry: Nachdem er ihm die Nachahmung des Medaillons mit dem Zeichen von Slytherim schenkt, ändert sich sein Verhalten grundlegend (vgl. DH: 164- 165), in der letzten Schlacht wird er sogar die Elfen in den Kampf gegen Voldemort führen (vgl. ebd.: 588). Am Beispiel von Dobby und Kreacher wird deutlich, dass es in den Romanen nicht um die Auseinandersetzung mit ‚dem‘ Anthropozentrismus geht, nicht um die Gattung, sondern um den konkreten Einzelnen. Sie entwickeln eine individuelle Ethik, deren Grundlage die Anerkennung des Anderen in seinem Anderssein ist, ob es sich um Elfen, Ries: innen oder Zentauren handelt. Leitfigur dieser Ethik ist Dumbledore, und Harry als sein Schüler erweist sich als sein Nachfolger. So ehrenwert dieser Ansatz auch sein mag, Hermiones Forderung zielt auf eine andere Form der Beziehung zwischen den verschiedenen Spezies oder Gattungen, sie fordert die Durch‐ setzung fairer Löhne und Arbeitsbedingungen sowie die Selbstbestimmung, indem Elfen in das „Department for the Regulation and Control of Magical Creatures“ (GoF: 189) aufgenommen werden, sie also den Zauberern und Hexen rechtlich gleichgestellt und als Rechtssubjekte anerkannt werden. 2.6.3 Schluss Auch wenn die Storyworld von Harry Potter nicht explizit ökologische The‐ men und Probleme behandelt, ist die Perspektive des Ecocriticism ergiebig. Das gilt für die Semantik der Orte und des Raumes, für Wissensformen und -praktiken sowie die Gestaltung der Beziehungen zwischen menschlichen und nicht menschlichen Akteur: innen. Darüber hinaus gilt das auch für die Erzählwelt als Ganzes. Denn die literarische Behandlung einzelner Aspekte ist eine Sache, eine andere die Schaffung einer eigenen fiktiven Welt mit Figuren, die auf je spezifische Weise an eine fiktive Umwelt angepasst sind. Daher ist auch die oft gezogene Verbindung von ökologischen Erzählweisen mit denjenigen der Science-Fiction Literatur von Anfang an naheliegend, geht es in ihr, ob in Kurd Laßwitz Auf zwei Planeten (1897), Alfred Döblins mehre Jahrhunderte umspannenden Roman Berge Meere Giganten (1924) 252 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="253"?> oder Frank Schätzings Thriller Der Schwarm (2004), doch immer um die anschauliche, nachvollziehbare und sachlich fundierte Darstellung ganzer Welten. Auch in der Fantasy-Literatur ist die Gestaltung der Welt ein zentrales Moment, man denke an die langen Landschaftsbeschreibungen in J.R.R. Tolkiens The Hobbit or There and Back Again (1937) und The Lord of the Rings (1954 und 1955) oder in Ursula K. Le Guins Earthsea-Zyklus (1964ff.), nicht zuletzt erhalten diese Werke aus der detaillierten Beschrei‐ bung der Umgebung ihre Überzeugungskraft. Dabei geht es nicht nur um das Verfassen und Darstellen, sondern ebenso um das Lesen, wie die neuere Science-Fiction Forschung nahelegt. SF sei, so der Literaturwissenschaftler Samuel Delany, auch ein „reading protocol“, demnach müssen Sätze in solchen Texten buchstäblich gelesen werden: Wenn die Rede davon sei, dass eine Tür sich weitete, dann tut sie dies auch, was von den Lerser: innen einfordert, dass sie sich die Beschaffenheit einer solchen sich weitenden Tür vorstellen müssen (hier nach Fink 2021: 145-146). Das gilt genauso für die Storyworld von Harry Potter: Wenn Hagrid an eine Mauer klopft und es heißt „The brick he had touched quivered - it wriggled - in the middle, a small hole appeared“ (PS: 76), dann müssen dies die Leser: innen ‚buchstäblich‘ verstehen, womit sie gemeinsam mit Harry in eine Welt eingeführt werden, in der andere Regeln und Gesetzmäßigkeiten gelten, was wiederum Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten in Frage stellt. Die Harry Potter-Reihe ist zwar weitaus mehr als die Werke von Tolkien und LeGuin auf Handlung und Dialog ausgelegt, aber auch sie ‚lebt‘ von der außergewöhnlichen Beschaffenheit dieser Welt, die die Leser: innen für sich imaginieren müssen, ob es um die sich ständig verändernden Treppen in Hogwarts geht, die eigenwillige Whomping Willow, die Ausflüge in den Verbotenen Wald oder zu den Seen, Wasserfällen und Drachen in den unterirdischen Gewölben von Gringotts. Primärmedien Rowling, J.-K. Harry Potter and the Philosopher’s Stone. London, 2014. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets. London, 2014. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Prisoner of Azkaban. London, 2014. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Goblet of Fire. London, 2014. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Order of the Phoenix, 2003. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Half-blood Prince. London, 2005. Rowling, J.-K.: Harry Potter and the Deathly Hallows. London, 2007. 2.6 Ecocriticism und Harry Potter 253 <?page no="254"?> Sekundärliteratur Adamson, Joni/ Evans, Mei Mei/ Stein, Rachel (Hrsg.) (2002). The Environmental Justice Reader. Politics, Poetics & Pedagogy. Tucson: Univ. of Arizona Press. Böhme, Hartmut/ Matussek, Peter/ Müller, Lothar (2000). Orientierung Kulturwissen‐ schaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Böhme, Hartmut (2006). Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Borgards, Roland/ Klesse, Marc/ Kling, Alexander (Hrsg.) (2016). Robinsons Tiere. Animal Studies. Freiburg: Rombach. Branch, Michael P./ Slovic, Scott (2003). Introduction: Surveying the emergence of Ecocriticism. In: Branch, Michael P./ Slovic, Scott (Hrsg.) The Isle Reader. Ecocriticism 1993-2003. Athens: Univ. of Georgia Press, xiii-xxiii. Bühler, Benjamin (2016). Ecocriticism. Grundlagen - Theorien - Interpretationen. Stuttgart: Metzler. Bühler, Benjamin (2023). Wer spricht? - Nature Writing als Lernszenario. In: van Hoorn, Tanja/ Fischer, Ludwig (Hrsg.) Welche Natur? Und welche Literatur? Traditionen, Wandlungen und Perspektiven des Nature Writing. Berlin: Metzler, 9-26. Buell, Lawrence (1995). The Environmental Imagination. Thoreau, Nature Writing, and the Formation of American Culture. Cambridge, Mass.: Belknap Press. Buell, Lawrence (2005). The Future of Environmental Criticism. Environmental Crisis and Literary Imagination. Malden, MA u. a.: Blackwell Publishing. Buell, Lawrence/ Heise, Ursula K./ Thornber, Karen (2011). Literature and environ‐ ment. Annual Review of Environment and Resources 36, 417-440. Cronon, William (1995). The trouble with wilderness; or, getting back to the wrong nature. In: ders. (Hrsg.) Uncommon Ground. Toward Reinventing Nature. New York: Norton, 69-90. Dawson, Melanie (2012). Sugared Violets and Conscious Wands: Deep Ecology in the Harry Potter Series. In: Baratta, Chris (Hrsg.) Environmentalism in the Realm of Science Fiction and Fantasy Literature. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars, 69-89. Fink, Dagmar (2021). Cyborg werden. Möglichkeitshorizonte in feministischen Theo‐ rien und Science Fictions. Bielefeld: Transcript. Glotfelty, Cheryll (1996). Introduction. Literary studies in an age of environmental crisis. In: Dies./ Fromm, Harold (Hg.). The Ecocriticism Reader. Landmarks in Literary Ecology. Athens: Univ. of Georgia Press, xv-xxxvii. 254 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="255"?> Goodbody, Axel (1998). Literatur und Ökologie: Zur Einführung. In: ders. (Hrsg.) Literatur und Ökologie (=-Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 43). Amsterdam 1998, 11-40. Kavitha, M./ Sudhalakshmi, P. (2022). Anthropocentrism in J.K. Rowling’s Harry Potter and The Philosopher’s Stone. Literature & Aesthetics 31: 1, 80-90. Kirchhoff, Thomas/ Trepl, Ludwig (Hrsg.) (2015). Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene. Bielefeld: Transcript. Kugler, Lena (2021). Die Zeit der Tiere. Zur Polychronie und Biodiversität der Moderne. Konstanz: Konstanz University Press. Liddick, Donald (2006.) Ecoterrorism. Radical Environmental and Animal Liberation Movements. Westport, Connecticut/ London: Praeger. Rueckert, William L. (1978). Literature and ecology: An experiment in Ecocriticism. Iowa Review 9, 71-86. Susteck, Sebastian (2025). Der Deutschunterricht und die ökologische Krise. Literatur und Medien im Anthropozän. Ditzingen: Reclam. Internetquellen Slovic, Scott (2010). The Third Wave of Ecocriticism. North American Reflections on the Current Phase of the Discipline Ecozone@ 1. Abrufbar unter: https: / / ecoz ona.eu/ article/ view/ 312 (Stand: 01/ 11/ 2024). Wikipedia: Recht der Natur. Abrufbar unter: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Recht_d er_Natur (Stand: 01/ 11/ 2024). Wikipedia: Rights of Nature. Abrufbar unter: https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Rights_ of_nature (Stand: 01/ 11/ 2024). 2.6 Ecocriticism und Harry Potter 255 <?page no="256"?> Einführung in das For‐ schungs‐ feld 2.7 Tier und Mensch: ein Animal Reading der Wizarding World Alexandra Böhm Die Cultural and Literary Animal Studies (CLAS) haben sich im vergangenen Jahrzehnt aus dem multidisziplinären Feld der Human Animal Studies (HAS) als Methode entwickelt, mit der kulturelle - sowohl fiktionale als auch nicht-fiktionale - Repräsentationen von nichtmenschlichen Tie‐ ren und ihren Beziehungen zur menschlichen Welt analysiert und hinterfragt werden. Die spezifisch kultur- und literaturwissenschaftlichen Fragestellungen und Schlüsselbegriffe sowie Analysekategorien der CLAS entwickeln die zentralen Thesen der HAS für die Disziplin der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften weiter. Damit partizipieren die CLAS an dem Paradigmenwechsel, den die HAS im angloamerikanischen Raum spätestens seit Mitte der 1980er-Jahre ein‐ geleitet haben. Tiere werden im Verständnis der HAS nicht länger als bloße Ressource ‚für‘ den Menschen verstanden. Wegweisend hierfür waren die Tierrechtsbewegung, die durch die Arbeiten von Peter Singer und Tom Regan angestoßen wurde, und der Ecofeminism (Ökofeminismus) mit Pio‐ nierinnen wie Carol J. Adams, Marti Kheel und Greta Gaard. Sie kritisieren das westliche anthropozentrische Weltbild, das die Sonderstellung des Menschen gegenüber der mehr als menschlichen Welt durch materielle und diskursive Praktiken bekräftigt (→ Band 3: II.2.6). Für Singer und Regan ist die Tatsache, dass Tiere leiden können (siehe Singer 1975) und Subjekte eines Lebens (siehe Regan 1983) sind, das zentrale Argument für ihre moralische Berücksichtigung, die etwa in der Forderung von Rechten für Tiere ihre Anwendung findet. Ökofeministische Positionen wiederum problematisieren Konstruktionen des Humanen, die auf Grenzziehun‐ gen zwischen dem Humanen und dem Animalen, zwischen Kultur und Natur, zwischen aktivem (männlichem) Subjekt und passivem (weiblichem) Objekt (siehe Gaard 1993; Kheel 1985/ 2008), zwischen Logos und Emotion basieren und Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen legitimieren (vgl. Adams 1990; Adams 1996). Merkkasten: Vordenker: innen und Wegbereiter: innen Für die amerikanische Tierethik und den Ökofeminismus der 1970erbis 1990er-Jahre sind vor allem folgende Theoretiker: innen zentral: 256 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="257"?> Mensch-Tier- Verhält‐ nisse Peter Singer, Tom Regan, Carol J. Adams, Greta Gaard, Marti Kheel, Josephine Donovan und Lori Gruen. Die englischen HAS, vor allem der 1980er-Jahre, sind von Harriet Ritvos The Animal Estate. The English and Other Creatures in the Victorian Age (1987) und John Bergers Why Look at Animals? (1980) geprägt. Für die poststrukturale, dekonstruktivistische Tiertheorie (1990-2010er) sind Jacques Derridas L’Animal que donc je suis (à suivre) (1997; zuerst veröffentlicht 1999) und Donna Haraways Companion Species Manifesto (2003) sowie When Species Meet (2008) zentral; und die CLAS in der deutschsprachigen Literatur- und Kulturwissenschaft seit 2015 sind verbunden mit den Arbeiten von Roland Borgards, Alexander Kling, Esther Köhring, Frederike Middelhoff und Alexandra Böhm. 2.7.1 Tiere ‚sehen‘ Die Frage, warum wir Tiere ansehen, stellte John Berger bereits 1977 in seinem berühmten Essay Why Look at Animals? Er kommt zum Ergebnis, dass der Blick zwischen ‚Tier‘ und ‚Mensch‘, den er für die Herausbildung der menschlichen Gesellschaft als entscheidend betrachtet, in der Moderne ausgelöscht wurde (vgl. Berger 2009: 37). Der interspezifische Blick ist auch Ausgangspunkt von Jacques Der‐ ridas für die HAS grundlegendem Essay, L’animal que donc je suis (à suivre), den er 1999 erstmals veröffentlichte. In seiner philosophischen Kritik an der westlichen Metaphysik und deren Konstruktion des Mensch-Tier-Verhält‐ nisses konfrontiert Derrida die Leser: innen mit dem Blick eines Tiers, vor dem sich der nackte und sich seiner eigenen Animalität bewusst werdende Autor Derrida schämt, denn der Blick seiner Katze - einer wirklichen Katze, keiner Allegorie oder Fabelfigur - bringt ihn in Verlegenheit. Für die Human-Animal Studies ist diese Situation in zweierlei Hinsicht bemer‐ kenswert. Die Aufmerksamkeit des Philosophen für die Begegnung mit einem konkreten Tier, das ihn anblickt, steht in Kontrast zur Praxis des ‚Übersehens‘ in der abendländischen Philosophiegeschichte von Aristoteles zu Descartes bis Lévinas und Lacan, die Tiere in Theoreme verwandelt, etwas Gesehenes und nicht Sehendes (Derrida 2010: 34). Bereits Berger stellte fest, dass in der menschlichen Kultur Tiere immer die Beobachteten, also Objekte des Wissens sind - während die Tatsache, dass sie auch Menschen 2.7 Tier und Mensch: ein Animal Reading der Wizarding World 257 <?page no="258"?> Animalität - die Rede von dem Tier beobachten können, jede Bedeutung verloren habe: „They are the objects of our ever-extending knowledge“ (Berger 2009: 27). Merkkasten: Anthropozentrismus Anthropozentrismus kommt vom griechischen Wort anthropos und bezeichnet eine Denkweise, die den Menschen als Zentrum betrachtet. Besonders der normative Anthropozentrismus betont den mensch‐ lichen Exzeptionalismus und die Überlegenheit über alle anderen Wesen der mehr-als-menschlichen Welt. Aus dieser Haltung heraus sind Tiere immer defizitär - denn der Mensch definiert sich schon seit der Antike als das Tier plus x (vgl. Wild 2016: 47-48). Die diffe‐ rentia specifica, also das Kriterium, nach dem sich Menschen von Tieren unterscheiden, variiert historisch zwischen Sprache, Vernunft, Rationalität, Gefühlen, Selbstbewusstsein etc. Die Grenze zwischen Tieren und Menschen wird immer wieder neu definiert, um durch die anthropologische Differenz das Humane hervorzubringen (vgl. Agamben 2006). Das ‚Übersehen‘ von Tieren ist auch ein Merkmal der Motiv- und Gat‐ tungsgeschichte, die sich methodisch meist durch einen unhinterfragten Anthropozentrismus auszeichnet - d. h. Tiere werden in ihrer Materialität entwertet und besitzen lediglich einen semiotischen Bedeutungsgehalt für Menschen (vgl. Borgards 2015: 227). In konventionellen Analysen gehen literarische Tiere also häufig ‚verloren‘, indem sie zu Metaphern, Allegorien und Symbolen werden oder - wie in der Fabel - immer schon als maskierte Menschen auftreten (vgl. McHugh 2012: 29). Verdrängt wird dabei, dass Tiere fühlende - und insofern auch leidensfä‐ hige Wesen sind -, sowie dass sie eine eigene Perspektive haben - sie blicken Menschen an, wie Derrida in der epiphanischen Begegnung mit seiner Katze feststellt. Durch die Umkehrung der üblichen anthropozentrischen Perspektive, die das tierliche Gegenüber als passives Objekt, als Ressource begreift, die Menschen sich aneignen können, erhalten Tiere Subjektivität und Handlungsmacht (agency), die mit ihrem vorausgesetzten Un-Vermö‐ gen [non-pouvoir] zu sprechen, zu denken, zu fühlen etc. (Tier = Mensch - x) kontrastiert (Derrida 2010: 52-53). 258 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="259"?> Interspezi‐ fische Theorie des gemeinsa‐ men Wer‐ dens Mit dem Neologismus animot (vgl. Derrida 2010: 70) weist Derrida darauf hin, dass mit dem Generalsingular ‚Tier‘ über eine nicht reduzierbare Mannigfaltigkeit von Tieren gesprochen wird (vgl. ebd.: 47, 79). Mit der Rede von ‚dem‘ Tier positioniert sich der Mensch gegenüber einer Pluralität lebender Kreaturen und zieht dabei eine einzige, untrennbare Grenze zwi‐ schen sich und der Animalität. Die binäre Opposition Mensch - Tier wird dekonstruiert zugunsten einer „Limitrophie“ (ebd.: 55), die den Versuch darstellt, nicht die Grenze zwischen Mensch und Tier auszulöschen (etwa durch die Annahme eines biologischen Kontinuums), sondern sie - abyssal - zu vervielfältigen. „Jenseits des sogenannten menschlichen Randes, jenseits von ihm, aber keineswegs an einem einzigen gegenüberliegenden Rande, and der Stelle von ‚Dem Tier‘ oder ‚Dem-Tierlichen-Leben‘ gibt es, bereits da, eine heterogene Vielfalt von Lebenden […].“ (ebd.: 57) In Derridas Theorie ist die ethische Dimension des Mensch-Tier-Verhältnisses eng an das Sehen geknüpft, denn aus diesem kann erst die Bereitschaft erwachsen, dem Tier zu antworten - als Ver-antwortung (response-ability). Auch bei Donna Haraway steht das Sehen des nichtmenschlichen Ande‐ ren im Zentrum ihrer interspezifischen Theorie, die sie in When Species Meet von 2008 ausführt. In der Begegnung (encounter), die sich durch Respekt, Aufmerksamkeit und Respons auszeichnet, entstehen Haraway zufolge „companion species“ (Haraway 2008: 15), die sich von ‚companion animals‘ (Haustiere) durch die Reziprozität und Ko-Konstitution der Beziehung fundamental voneinander unterscheiden. Ihre Wortneuschöpfung für den Modus dieser Relation ist „becoming-with“, das gemeinsame Werden, das sie der neuzeitlichen Subjektvorstellung des Selbst-identischen, autonomen Ichs gegenüberstellt. „The partners do not precede their relating; all that is, is the fruit of becoming with: those are the mantras of companion species.“ (ebd.: 17) Mit dem Begriff des ‚entanglement‘ (Verwobenheit, Verstrickung) verweist sie auf die Unhaltbarkeit von historischen Grenzen, die zwischen den vermeintlich scharf markierten Oppositionen Natur und Kultur oder menschlich und nichtmenschlich verlaufen. Diese Demarkationslinien wer‐ den behauptet, um das irdische, ‚schlammige‘ („mud“, Haraway 2008: 3) An‐ dere aus dem transzendenten, unantastbaren Eigenen auszuschließen. Denn das Andere jenseits der Grenze der Vernunft - „gods, machines, animals, monsters, creepy crawlies, women, servants and slaves, and noncitizens in general“ (ebd.: 10) -, beunruhigt und bedroht den Kern des selbstgewissen, normativen Ichs. 2.7 Tier und Mensch: ein Animal Reading der Wizarding World 259 <?page no="260"?> Literari‐ sche Tiere Semioti‐ sche Tiere Diegeti‐ sche Tiere Spre‐ chende Tiere Haraways Theorie ist für tiertheoretische Fragestellungen zentral, weil sie dekonstruktive, neumaterialistische und posthumanistische Positionen miteinander verbindet, um einen Gegenentwurf zur anthropozentrischen Perspektive des exzeptionalistischen Ichs auf das nichtmenschliche Andere zu formulieren. Tiere sind in der Literatur allgegenwärtig (McHugh 2012: 29). Die Prä‐ senz nichtmenschlicher Tiere in literarischen Fiktionen reicht zeitlich bis in die Antike zurück und zeigt sich besonders offensichtlich anhand von Genres wie der Tierfabel, dem Tierepos oder dem Tiergedicht. Auch in anthropologischen Gattungen wie Märchen, Mythen und Sagen spielen Tiere oft eine zentrale Rolle. Nichtmenschliche Tiere sind hier Stellver‐ treter des Menschen, anhand derer wichtige Fragen des menschlichen Lebens verhandelt werden. Insofern können sie innerhalb einer Typologie literarischer Tiere als semiotische Tiere bezeichnet werden (vgl. Borgards 2015; 2016). Semiotische Tiere fungieren als Metapher, Symbol, Vergleich; oder sie erscheinen in Redewendungen oder sprechenden Namen. Entsprechend hat sich in der Literaturwissenschaft die Gattungs- und Motivgeschichte mit der Analyse und Interpretation semiotischer Tiere im Hinblick auf ihre Bedeutung für den Menschen auseinandergesetzt oder die literarische Tradition eines Motivs wie z. B. der Katze untersucht. Tiere sind allerdings auch ganz häufig nicht nur Zeichen in Texten, sondern auch Lebewesen in einer Storyworld. Insofern spricht Roland Borgards hier von diegetischen Tieren (siehe Borgards 2015; 2016). In der erzählten Welt können sich Tiere wiederum in gleicher Weise verhalten wie in der wirklichen Welt - sie können dann als realistische Tiere bezeichnet werden. Der fiktionale Erzählkosmos bietet allerdings auch die Möglichkeit, Tiere in phantastischer Weise auszugestalten - etwa in der Gestalt neuer (Misch-)Wesen - und sie mit befähigenden Eigenschaften auszustatten, die sie in der realen Welt nicht besitzen. Was als realistisch bzw. phantastisch gelten kann, ist stark an den historischen und kulturellen Kontext gebunden - erfordert also eine mitunter sorgfältige Kontextualisierung. Die Befähigung von Tieren mit einem Charakteristikum, das Menschen vorbehalten ist, erfährt in der Forschung besondere Aufmerksamkeit: das narratologische Verfahren, Tiere mit menschlicher Sprache auszustatten, wie das etwa in Tierautobiographien oder Autozoographien prominent der Fall ist (Herman 2018; Armbruster 2015; Middelhoff 2019). 260 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="261"?> Animal Reading Merkkasten: Sprechende Tiere in der Literatur David Herman und Karla Armbruster identifizieren unterschiedliche narrative Funktionen sprechender Tiere, deren Tradition bis in die Antike zurückreicht. Innerhalb eines anthropozentrischen Bezugs‐ rahmens sprechen Tiere in literarischen Texten entweder für Men‐ schen - d. h. sie fungieren als Sprachrohr für menschliche Bedürfnisse - oder sie sprechen in einem biozentrischen Bezugsrahmen für sich selbst und können ihre spezifische Subjektivität ausdrücken, ohne in einer anthropomorphisierenden Logik des Gleichen vereinnahmt zu werden (vgl. Herman 2018: 173). Das Sprechen für andere, nicht‐ menschliche Protagonist: innen berge Armbruster zufolge immer die Gefahr der falschen Repräsentation, der Auslöschung der Differenz tierlichen Lebens (vgl. Armbruster 2015). Herman bezeichnet diese Form des Sprechens als „butting in“ (einmischen), welches das Streben nach Autonomie und Unabhängigkeit des anderen ignoriert. Diesem Modus stellt er das solidarische „chipping in“ (beisteuern) gegenüber - eine verantwortungsvolle Repräsentation tierlichen Lebens, die dessen Eigenheiten respektiert (Herman 2016). Was zeichnet nun ein Animal Reading fiktionaler Narrative aus? Ein Animal Reading betrachtet Texttiere als eigenständige materielle Elemente des fik‐ tionalen Texts, die im Zusammenspiel mit semiotischen Bedeutungen stehen können. Wissensgeschichtliche Ansätze betonen die notwendige Kon‐ textualisierung in zeitgenössischen Diskursen für ein adäquates Verständnis von Tieren in Texten. Hierbei sind alle Wissensdiskurse und -formen relevant (z. B. Zoologie, Anatomie, Biologie, Philosophie, politische Theorie, Jagd, Ernährung, Zoologische Gärten etc.). Tierethische Positionen der CLAS wiederum fokussieren Fragen, inwiefern Tiere in fiktionalen Texten anthropozentrisch oder biozentrisch dargestellt werden. • Vertiefen literarische Repräsentationen die Speziesgrenze oder hinter‐ fragen sie diese? • Erzeugen die Texte Empathie für das nichtmenschliche Andere oder werden sie in den Geschichten objektifiziert und für menschliche Zwe‐ cke verwendet? 2.7 Tier und Mensch: ein Animal Reading der Wizarding World 261 <?page no="262"?> Diese Kriterien sind entscheidend dafür, ob Tiere als Akteure mit eigenen Interessen, Wünschen und Bedürfnissen - also in ihrer Subjektivität - wahr‐ genommen werden können. Gemeinsam ist beiden methodischen Ansätzen die Berücksichtigung formaler Eigenheiten der fiktionalen Texte. Nicht nur das ‚Was‘ (Ebene des Dargestellten), sondern auch das ‚Wie‘ (Ebene der Darstellung) ist bei der Analyse der Texte zentral (→ Band 1: II.3.1). Dazu gehören etwa die Bedeutung von Gattungen, rhetorischen Sprechweisen, der Erzählsituation sowie die Konstruktion der Figuren und des Raums. Der tierkulturwissenschaftlich geschulte Blick ist für den Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft von enormer Bedeutung, da die fiktionalen Darstellungsweisen nicht nur das kulturelle Wissen einer Zeit repräsen‐ tieren, sondern unsere Wahrnehmung der mehr-als-menschlichen Welt entscheidend prägen. Biozentrische Narrative, die das Verhältnis zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren umformen, neugestalten und anders formulieren, tragen entscheidend zur Formierung des gesellschaftli‐ chen Diskurses und der menschlichen Wahrnehmung von Tieren bei. 2.7.2 Mehr-als-menschliche Welten in der Wizarding World Im Folgenden soll ein Animal Reading der Harry Potter-Bücher die Ambi‐ valenz der Beziehungen zur mehr-als-menschlichen Welt verdeutlichen, die zwischen der Affirmation klarer Hierarchien und deren Subversion changiert. 2.7.2.1 Grenzziehungen in der Welt der Muggel Grenzziehungen, die zur Identitätskonstruktion dienen, prägen von Beginn an die Storyworld der Harry Potter-Romane. Bereits der erste Absatz des ersten Romans, Harry Potter and the Philosopher’s Stone (1997), verdeutlicht dieses Verfahren: „Mr and Mrs Dursley, of number four, Privet Drive, were proud to say that they were perfectly normal, thank you very much.“ (PS: 7) Ohne weiteres Vorwissen wird hier für die Leser: innen mit der Familie der Dursleys eine Norm geschaffen, deren Gegenpol das Seltsame und Myste‐ riöse darstellt, das in ihrem gewöhnlichen Leben keinen Platz hat - „they just didn’t hold with such nonsense“ (ebd.) (→ Band 3: II.2.5). Die programma‐ tische Opposition normal/ abweichend, die den Tenor für die Entwicklung der Storyworld setzt, erfährt zudem eine hierarchisierende Wertung durch Begriffe wie „proud“, „perfectly“ auf der einen und „nonsense“ auf der an‐ 262 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="263"?> deren Seite. Aus der Perspektive der Dursleyschen ‚Muggel‘-Welt erscheint ‚Otherness‘ (→ Band 3: II.2.3) nicht nur in Gestalt des Magischen, sondern vor allem auch von Animalität. Beides kennzeichnet Harrys Charakter, den sein Onkel und seine Tante mit aller Macht zu unterdrücken suchen. Um den Einbruch des Magischen in Gestalt der wachsenden Zahl von Eulen abzuwehren, die Harrys Einladung an die Magierschule in Hogwarts überbringen wollen, ist Mr Dursley bereit, sein Haus mit Brettern zu vernageln und in letzter Konsequenz sogar die Flucht anzutreten. Die enge Verknüpfung von Magie und Animalität, die eine Gefährdung der normalen ‚Muggel-Welt‘ darstellt, zeigt sich besonders eindringlich an einem Ort, der der menschlichen Identitätskonstitution durch die Markierung klarer Grenzen dient: dem Zoo. Gemeinhin bestätigt ein Zoobesuch den Menschen, die die dort ausgestellten Tiere als passive Objekte des Wissens betrachten, ihre Überlegenheit und anthropologische Differenz. Eine Begegnung mit tierlicher ‚Otherness‘, die zu einer Veränderung der anthropozentrischen Perspektive führen könnte, ist weder beabsichtigt, noch findet sie statt (vgl. Berger 2009: 37; Steen 2019: 272). Vielmehr geht es um Macht, Unterwerfung und Beherrschung des Animalen. Der gemeinsame Zoobesuch der Dursleys mit Harry an Dudleys Geburtstag reproduziert zunächst dieses Muster. Dudley und sein Freund Piers sind im Reptilienhaus von der schlafenden Boa Constrictor enttäuscht. Dudleys Befehl, sein Vater solle sie durch Klopfen an die Scheibe aufwecken, drückt das aneignende Verhalten der Zoobesucher: innen aus, die das tierliche Andere als verfügbares Objekt für sich betrachten (vgl. Steen 2019: 262-268). Diese Ordnung des Zoos stellt Harry auf den Kopf - nicht nur durch seine magischen Kräfte, sondern auch mit seiner Affinität zum Animalen. Harry fokussiert die Boa mit einem aufmerksamen Blick und fühlt sich in ihre erniedrigende Situation ein, die er mit seiner bei den Dursleys vergleicht. Und plötzlich kommt es zwischen den beiden zu einer epiphanischen Begegnung: Im Zuzwinkern schreiben sie sich gegenseitig Du-Evidenz zu, erkennen die Subjektivität des anderen an, wie Harrys Frage nach der Herkunft der gefangenen Schlange verdeutlicht (vgl. Geiger 1931: 297; Böhm 2024). Dieser interspezifische Austausch einer tatsächlichen Begegnung mit dem Anderen wird jäh unterbrochen durch Dudley, der mit einer Dominanzgebärde Harry grob zu Boden wirft. Im gleichen Moment verschwindet das Sicherungsglas des Schlangenbeckens, was zu panischer Aufregung der Zoobesucher: innen führt - denn nun haben sich die Hierarchien verkehrt. Die Boa erhält durch ihre frisch gewonnene Freiheit Agency, mit der sie sich ihrer Unterwerfung durch die Menschen 2.7 Tier und Mensch: ein Animal Reading der Wizarding World 263 <?page no="264"?> widersetzen kann und vom verfügbaren Objekt der neugierigen Blicke zur bedrohlichen Akteurin wird. Exemplarisch zeigt diese Analyse den prekären Status der Grenzziehun‐ gen zwischen dem Normalen und dem Abnormalen, zwischen Menschen und Tieren, zwischen Subjekten und Objekten, der ontologisch fixiert werden soll. Vor allem in der Figur Harrys wird grenzüberschreitende Hybridität und Fluidität zwischen verschiedenen Seinsformen vorgeführt (so etwa seine Fähigkeit, mit Schlangen zu sprechen, die Wahrnehmung der unsichtbaren Pferde in The Order of the Phoenix oder seine Transformation in ein humanoides Fischwesen in The Goblet of Fire). Diese Eigenschaften sind mitentscheidend für seine Rolle als Grenzgänger und Vermittler zwischen den Welten. 2.7.2.2 Die Limitrophie der magischen Welt Hierarchisierende Grenzziehungen, welche die eigene Identität hervorbrin‐ gen, sind aber nicht nur in der Muggel-Welt omnipräsent, sondern auch in der fantastischen Welt der Zauberer, Hexen und magischen Kreaturen. Der Halb-Riese Rubeus Hagrid, „Keeper of Keys and Grounds at Hogwarts“ (PS: 57), der magische Tiere und insbesondere gefährliche Drachen liebt, grenzt sich immer wieder herablassend von der Welt der Muggel ab, die er als lächerlich empfindet (z. B. vgl. ebd.: 62). Diese Abgrenzungen zwischen der potenten magischen Welt und der hilflosen Muggel-Welt sorgen in den Romanen immer wieder für Komik. Allerdings gibt es auch rassistische Exklusionen des Anderen bestimmter Gruppierungen von Zauber: innen, die ihre ‚Reinblütigkeit‘ (Pureblood) als Zeichen der Überlegenheit verstehen und gegenüber den anderen - Halbblütigen oder Muggelgeborenen - eine Vormachtstellung behaupten (→ Band 3: II.2.2). Aber auch bei den magischen Kreaturen gibt es Bestrebungen sich abzugrenzen - etwa von den Menschen. Vom Torso abwärts Pferd, fühlen sich die stolzen mythischen Wesen der Zentauren, die das Mittel der Divination beherrschen, den begriffsstutzigen Menschen überlegen, mit denen sie im Allgemeinen den Umgang verweigern (vgl. PS: 278-281). Firenze, der Harry bereits im ersten Band im verbotenen Wald gerettet hat, wird in The Order of the Phoenix von seiner Herde verbannt, weil er eingewilligt hat, Dumbledore zu helfen - denn „Centaurs are not the servants or the playthings of humans“ (OoP: 555). Auch wenn Peter Dendle zurecht darauf hinweist, dass die Gemeinschaft der Zauberer niedere Kreaturen an vielen Stellen in den Romanen syste‐ 264 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="265"?> matisch ausbeutet, benutzt und banalisiert (vgl. Dendle 2009: 166), kann dennoch festgestellt werden, dass nicht eine unteilbare Grenze zwischen den menschlichen Zauberern auf der einen und den magischen Tieren auf der anderen Seite verläuft. Ganz im Sinne Derridascher Limitrophie werden Grenzen umspielt, etwa durch die posthumane Fluidität und Durchlässigkeit zwischen Pflanze - Tier - Mensch (vgl. Batty 2015), aber nicht zugunsten eines bruchlosen Kontinuums aufgehoben. Vielmehr vervielfältigen sich die Grenzen durch die kaum zu bändigende Mannigfaltigkeit der Kreaturen, die zudem auch das Reich des Immateriellen, der ‚spirits‘, miteinschließt. Zwischen den diversen Spezies der magischen Welt herrschen multiple ag‐ gressive, gefährliche, dienstbare, aber auch freundschaftliche Beziehungen, die zwischen Handlungsmacht und Ohnmacht der fantastischen Kreaturen aufgespannt sind. ‚Das Tier‘ im Generalsingular („l’animal“) existiert nicht - nur eine Vielzahl verschiedenster Tiere und Kreaturen, die in immer wieder neuen Varianten vom ‚Normalen‘ abweichen und dabei dessen Normativität problematisieren. Eine hierarchisch gegliederte ‚Scala Naturae‘ (Stufenleiter der Natur), die von der niedersten zur höchsten Organisationsform reicht, existiert in der magischen Welt nicht explizit. Auch die scheinbar klare Differenzierung zwischen guten und bösen Kreaturen ist an vielen Stellen der Romane fragwürdig. So ist Remus Lupin ein ‚guter‘ Werwolf und Severus Snape, der Harry insgeheim beschützt, gehörte zu den Anhängern von Voldemort. Der Versuch, ein Ordnungssystem der magischen Welt zu erschaffen, ist nicht nur Gegenstand innerhalb der diegetischen Welt der Harry Potter-Romane, sondern kennzeichnet auch den 2001 von Rowling veröffentlichten Paratext Fantastic Beasts and Where to Find Them des Zauberers Newt Scamander - ein Buch, das in der innerdiegetischen Welt auf Harrys Besorgungsliste für sein erstes Jahr in Hogwarts steht (vgl. PS: 77). Scamanders Einleitung bemüht sich um eine hierarchische Gliederung der magischen Welt, die an Parvati Patils Unterscheidung zwischen „proper creatures“ (GoF: 371), zu denen etwa Einhörner zählten, aber keine Monster, in The Goblet of Fire erinnert. Scamanders Einleitung zu seinem Bestiarium, die sich wie eine implizite Replik auf die Geschichte der abendländischen rationalistischen Philosophie und deren Suche nach immer neuen Kriterien zur Konstitution des Humanen liest, widmet sich der grundlegenden Frage: „What is a Beast? “ (Scamander/ Rowling 2017: xi) Scamander nennt drei Typen magischer We‐ sen - Werwölfe, Zentauren und Trolle - und fragt: „We now ask ourselves: which of these creatures is a ‚being‘ - that is to say, a creature worthy of 2.7 Tier und Mensch: ein Animal Reading der Wizarding World 265 <?page no="266"?> legal rights and a voice in the governance of the magical world - and which is a ‚beast‘? “ (ebd.) Von Scamander erfahren die Leser: innen, dass frühe Versuche einer Abgrenzung noch sehr undurchdacht und grob waren. Burdock Muldoons Kriterium des Gangs auf zwei Beinen erwies sich ebenso als unzureichend wie der Vorschlag von Elfrida Clagg, ‚Wesen‘ seien all jene, die die mensch‐ liche Sprache sprechen können. Erst im Jahr 1811 konnte sich die magische Gemeinschaft darauf einigen, „that a ‚being‘ was ‚any creature that has suf‐ ficient intelligence to understand the laws of the magical community and to bear part of the responsibility in shaping those laws.‘“ (Scamander/ Rowling 2017: xii) J.K. Rowling schreibt ihren ordnenden, philosophischen Metakommentar zur magischen Welt von Harry Potter, der zeitlich nach The Goblet of Fire veröffentlicht wurde, ihrer fiktionalen Figur Newt Scamander zu. Insofern bleibt es fraglich, ob damit ein autoritatives Klassifikationsmodell in die Storyworld eingeführt oder dieses ironisierend als Methode vorgeführt wird, die analog zur realen Welt Abgrenzungen und diskriminierende Hierarchien schafft, mit denen (vor allem durch die enge Kopplung von Rationalität und Rechten) Praktiken der Ausbeutung, Unterdrückung und Objektifizierung gerechtfertigt wurden und werden. Darauf könnte der abschließende Ver‐ weis auf die zahlreichen Ausnahmen deuten, die im Text und den Fußnoten erläutert werden (vgl. ebd.). Obwohl hochintelligent, werden Acromantulas und Mantikoren aus der Ordnung der „beings“ ausgeschlossen - „because they are incapable of overcoming their own brutal natures. Acromantulas and Manticores are capable of intelligent speech but will attempt to devour any human that goes near them“ (ebd.: xii-xiii). Intelligenz allein scheint also kein ausreichendes Merkmal zu sein, um ein ‚being‘ zu konstituieren. Es fehlt hier offenbar die Triebkontrolle und ein moralisches System des Handelns. 2.7.2.3 Tierethische Fragestellungen in der Wizarding World Tierethische Fragestellungen sind in Bezug auf die Harry Potter-Romane in zwei verschiedenen Bereichen relevant: auf der Ebene der dargestellten Welt sowie auf der Ebene der Darstellung. 266 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="267"?> 1 Empathie mit den Kreaturen oder Rechte für magische Tiere? Hagrid, der enge, väterliche Freund von Harry, Ron und Hermione, ist wie kein anderer der Hauptcharaktere mit magischen Kreaturen assoziiert. Seine Sorge für und Zuneigung zu außergewöhnlichen und auch gefährlichen Tieren wie Drachen, Spinnen und Hippogreifen bringen ihn immer wieder in Schwierigkeiten - wie die Aufzucht der gigantischen Spinne Aragog, durch die er sich den Verweis von der Schule zuzog, da sie für die unheimlichen At‐ tacken auf Schüler: innen verantwortlich gemacht wurde. Als Hegemeister und Professor für das Fach ‚Care of Magical Creatures‘ ist er auf vielfältige Weise mit den magischen Kreaturen verbunden, für die er große Empathie empfindet, und die ihm aufgrund seiner Aufmerksamkeit und Achtung ihrer Subjektivität und Differenz wiederum Respekt entgegenbringen. Hagrid, der auch mit den magischen Kreaturen des verbotenen Waldes in engem Kontakt steht, habe, so der Zentaur Firenze zu Harry, „long since earned my respect for the care he shows all living creatures“ (OoP: 558). Seine gutmütige Tollpatschigkeit, die mit seiner äußeren riesenhaften Erschei‐ nung kontrastiert, und seine Liebe zu den magischen Kreaturen lenken die Sympathie der Leser: innen. Besonders deutlich wird dies in der Handlung um Seidenschnabel (Buckbeak), der getötet werden soll, weil er nach einer Provokation von Draco Malfoy den Jungen angegriffen hatte. Harry, Ron und Hermione finden Hagrid völlig aufgelöst schluchzend in seiner Hütte, nachdem er einen Brief vom Committee for the Disposal of Dangerous Creatures erhalten hatte. Das Komitee verfügt darin, dass der Hippogreif bis zu seiner Verurteilung „should be kept tethered and isolated“ (PoA: 231). In seinem Mitgefühl für die arme Kreatur nimmt Hagrid Seidenschnabel in seiner Hütte auf: „‚I couldn’ leave him tied up out there in the snow! ‘“ choked Hagrid. ‚All on his own! At Christmas! ‘“ (ebd.) Auch hier zeigt sich wieder, dass Hagrid weiß, dass seine Sorge um die magischen Kreaturen ihn in Schwierigkeiten bringen kann, aber sein emotionaler Handlungsimpuls ist stärker als jede rationale Überlegung. Während sich Verantwortung für die Tiere bei Hagrid in Empathie ausdrückt und seine Handlungen emotional geprägt sind (vgl. ebd.: 234), ist Hermione seine Gegenspielerin. Auch sie empfindet den magischen Kreaturen gegenüber eine moralische Pflicht. Aber im Unterschied zu Hagrid ist ihre Reaktion auf das Schicksal von Seidenschnabel, in alten Schriften nach Vergleichsfällen zu suchen, die seine Freilassung bewirken können (vgl. PoA: 232) Hermione wird seit ihrem ersten Auftritt in The 2.7 Tier und Mensch: ein Animal Reading der Wizarding World 267 <?page no="268"?> Philosopher’s Stone als Figur eingeführt, die sich auf Regeln, Recht und Gesetz beruft. Wie u. a. der Vorfall mit Seidenschnabel zeigt, argumentiert Hermione rationalistisch und beruft sich auf Rechtsprechungen innerhalb des existierenden Rechtssystems - „‚You’ll have to put up a good strong defence, Hagrid‘, said Hermione, sitting down and laying a hand on Hagrid’s massive forearm. ‚I’m sure you can prove Buckbeak is safe‘“ (PoA: 231). Insofern ist die Figurenentwicklung von Hermione konsequent, die in The Goblet of Fire eine Gesellschaft gründet, die die Rechte von Hauselfen befördern soll, die ihrer Recherche zufolge seit Jahrhunderten versklavt werden. Der Name für ihre Kampagne ist S.P.E.W. - „Stands for the Society for the Promotion of Elfish Welfare“ (GoF: 189). Der Name erinnert an die 1824 gegründete Society for the Prevention of Cruelty to Animals, die sich nach dem Vorbild der Antisklaverei-Bewegung des 19. Jahrhunderts entworfen hat (vgl. Shevelow 2009). Sie setzt sich für eine verlässliche Bezahlung und sichere Arbeitsbedingungen ein und möchte den Rechtsstatus der Elfen ändern sowie ihre Interessen durch einen Repräsentanten im Department for the Regulation and Control of Magical Creatures sichern. Hier wird die intersektionelle Verschränkung (→ Band 3: I) zwischen der Ausbeutung von Tieren mit anderen Ausgrenzungs- und Unterdrückungsmechanismen offensichtlich. Die ‚Otherness‘ der Elfen zeigt sich schon anhand ihrer Sprache - wie Diener: innen im kolonialen Diskurs sprechen sie in gebro‐ chenem Englisch über sich in der dritten Person -, wobei ihre Exklusion aus der moralischen Gemeinschaft der magischen Kreaturen durch stereotype Vorurteile gerechtfertigt wird: „‚Hermione - open your ears‘, said Ron loudly. ‚They. Like. It. They like being enslaved.‘“ (GoF: 189) Die exemplarische Gegenüberstellung der beiden Figuren Hagrid und Hermione zeigt, dass sie im Umgang mit den magischen Kreaturen jeweils den Fokus auf Empathie bzw. auf Rechte legen, um ihnen im Fall ihrer Unterdrückung oder Ausbeutung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In dieser Figurenkonstellation, so sollte deutlich werden, spiegelt sich die komplexe Debatte zwischen der Forderung von Rechten für Tiere (Singer 1975; Regan 1983) bzw. von Empathie als Möglichkeit des respektvollen Miteinanders mit nichtmenschlichen Tieren (vgl. z. B. Adams 1990, 1996; Kheel 1985, 2008; Gruen 2009, 2015) innerhalb der tierethischen Philosophie, die bis in die 1970er-Jahre zurückreicht und auch heute in den Human Animal Studies anhält. 268 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="269"?> 2 Tierethik und Narratologie David Herman betont in seinen Untersuchungen zur Narratologie der mehr-als-menschlichen Welt, dass das Sprechen für Andere grundsätzlich problematisch sein kann und sich zwischen Solidarität und Paternalismus bewege (vgl. Herman 2016). Unter Rückgriff auf die ‚Politeness Theory‘ von Penelope Brown und Stephen Levinson, die Erving Goffmans positives und negatives ‚Face‘ aufgreift, unterscheidet Herman zwischen einem Sprechen im Modus des ‚chipping in‘ und ‚butting in‘ (ebd.). Den beiden fiktionalen Figuren Hagrid und Hermione repräsentieren je‐ weils den Modus des ‚chipping in‘ und des ‚butting in‘. Auch wenn Hermione den Hauselfen zu einem besseren Leben verhelfen will, ist ihr Verhalten von Ignoranz gegenüber der Situation der Elfen geprägt. Allein ihre Befreiung - wie vor allem das Kapitel The House-Elf Liberation Front verdeutlicht - führt für Dobby und Winky nicht zwangsläufig zu einem glücklicheren Leben (GoF: 307-324). Hermione projiziert auf die Elfen Gedanken und Gefühle, die sie für sich selbst in Anspruch nimmt. Vom Text wird Hermiones Position zudem ad absurdum geführt, weil der Begriff S.P.E.W. zugleich ‚spucken‘ oder ‚ausspeien‘ bedeutet, was ihr Anliegen also von vornherein lächerlich macht. Hagrid, der sich weigert, Mitglied ihrer Gesellschaft zu werden, erklärt ihr ganz im Sinne des negativen ‚Face‘: „‚It’d be doin’ ’em an unkindness, Hermione, he said gravely, […] ‚It’s in their nature ter look after humans, that’s what they like, see? Yeh’d be makin’ ’em unhappy ter take away their work, an insultin’ ’em if yeh tried ter pay ’em.‘“ (Ebd.: 223) Auch wenn Hagrid hier in der innerdiegetischen Handlung versucht, die Alterität der Elfen zu respektieren, ist die Argumentation im Hinblick auf die Rechtfertigung und Perpetuierung von Ausbeutung und Unterdrückung des tierlichen und kolonialen Anderen zutiefst problematisch (→ Band 3: II.2.2). Hier zeigen sich bereits Ambivalenzen und Brüche in der Storyworld, die im Folgenden noch kurz umrissen werden sollen. Inwiefern lässt sich für die Wizarding World davon sprechen, dass Alte‐ rität in der Repräsentation des Anderen respektiert wird? Verwenden die Romane einen biozentrischen Bezugsrahmen, der Hierarchien zwischen den Spezies nicht bestätigt und in Kraft setzt? Diese Fragen sind schwierig zu beantworten, denn das fiktionale Sprechen über Tiere steht laut Herman nicht nur im Modus des Irrealen, also in einem hypothetischen, nicht falsifizierbaren Kontext, sondern zugleich sind die magischen Kreaturen aus der Storyworld zwar diegetische, aber eben auch fantastische Tiere, 2.7 Tier und Mensch: ein Animal Reading der Wizarding World 269 <?page no="270"?> deren tatsächliche Bedürfnisse sich nur innerhalb des fiktionalen Kosmos erschließen lassen (vgl. Herman 2018: 4). Annika Hugosson stellt in ihrem Beitrag The ‚Care‘ of Magical Creatures? A Moral Critique of the Animal Lover Trope in ‚Harry Potter‘ die Frage, ob Hag‐ rid wirklich der empathische Tierliebhaber ist, für den ihn seine Leser: innen halten. Sie verweist auf den grausamen Umgang mit den Drachen bei dem Triwizard Tournament, an dem sich Hagrid als dezidierter Drachenliebhaber nicht stört, oder die gedankenlose Verwendung niederer Kreaturen als Ressourcen im Unterricht wie etwa die Flobberworms, die aufgrund ihrer inadäquaten Versorgung gestorben sind (PoA: 233). Dieser Aspekt trifft auf viele Tiere zu, deren Körperteile als Ressourcen für Magie verwendet werden oder die als Objekte in Professor McGonagalls Transfigurationsunterricht herhalten müssen und deren Schmerz oder Tod fraglos in Kauf genommen wird. Wenn Hugosson aber als Beispiel für Hagrids zweifelhafte Tierliebe Fluffy anführt, den er in einem dunklen Raum auf indefinite Zeit einsperren lässt - „devoid of enrichment“ (Hugosson 2021: 66) -, dann legt sie Maßstäbe aus der realen Welt an, die sie nicht aus der Storyworld herleiten kann. Allgemein lässt sich feststellen, dass Anthropomorphisierungen von Tieren im Sinne einer Projektion anthropozentrischer Bezugsrahmen, mit denen die Alterität des tierlichen Anderen banalisiert wird, in der Wizarding World kaum zu finden sind. Statt die magischen Kreaturen zu Sprachrohren des Menschen zu machen, werden die Besonderheiten der Erfahrungswelt der einzelnen magischen Kreaturen an vielen Stellen beachtet. Ihre Subjekti‐ vität und Agency basiert nicht auf der Zuschreibung menschlicher Sprache, ihre Handlungen gleichen nicht denen von Menschen. Für ein umfassendes Bild tierethischer Fragestellungen ist es allerdings nötig, nicht nur die magischen Kreaturen zu berücksichtigen. Innerhalb des Erzähluniversums gibt es verschiedene Kategorien von Tie‐ ren: neben den fantastisch-diegetischen Tieren gibt es auch realistisch-die‐ getische Tiere sowie semiotische Tiere. Diejenigen Tiere, die nicht magisch sind, erfahren scheinbar generell keine moralische Berücksichtigung. Be‐ sonders auffällig ist das in Bezug auf den Verzehr von Fleisch in Hogwarts. Bereits bei Harrys großem Willkommensdinner in The Philosopher’s Stone werden die ungeheuren Mengen an Fleisch, die auf den Tisch gebracht werden, positiv konnotiert, indem dieser Überfluss dem Mangel an gutem Essen bei den Dursleys gegenübergestellt wird - „He had never seen so many things he liked to eat on one table: roast beef, roast chicken, pork chops and lamb chops, sausages, bacon and steak“ (PS: 135). Vegetarismus 270 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="271"?> spielt an keiner Stelle der Romane eine Rolle - sogenannte Nutztiere werden durch ihre Transformation in Fleisch zu Konsumobjekten, die nicht mehr als Lebewesen sichtbar sind (vgl. Adams 1990, 1996; Böhm 2023). Die Verwendung von Tieren für Essen, Kleidung, Unterhaltung oder als Haustiere in der Welt der Zauberer gleicht dem objektifizierenden Gebrauch tierlicher Ressourcen in der realen Welt (vgl. Dendle 2009: 166-168). Semio‐ tische Tiere tauchen wiederum in pejorativen Metaphern auf: Haus- und Nutztiere werden zur abwertenden Charakterisierung bestimmter Figuren herangezogen - über Mr Dursley heißt es, „He was a big, beefy man“ (PS: 7), Dudley wiederum „looked like a pig in a wig“ (ebd.: 28) und sein Freund Piers „was a scrawny boy with a face like a rat“ (ebd.: 31). Auch wenn die Metaphern dazu eingesetzt werden, um zu verdeutlichen, dass das Andere, Animalische, sich im Kern der ‚normalen‘ Welt der Muggel, und vor allem der Familie der Dursleys, befindet, wird durch die intersektionelle Animalisierung der Muggel eine spezifische Tiergruppe instrumentalisiert und zugleich herabgesetzt. 2.7.3 Fazit In Bezug auf die Wizarding World lässt sich festhalten, dass die Omniprä‐ senz und Bedeutung der magischen Kreaturen für die fantastische Welt Fragestellungen der CLAS besonders relevant werden lassen. Posthumane Fluidität, etwa im vorherrschenden Motiv der Transformation (siehe Batty 2015; Harrison 2018), stellt das Humane als ontologische Kategorie in Frage und dezentriert das überlegene menschliche Subjekt, das vielmehr in einem relationalen Netz der Bezüge zu anderen nichtmenschlichen Lebewesen steht. Neben diesem biozentrischen Bezugsrahmen, auf den die Storyworld rekurriert, so wurde gezeigt, gibt es aber auch Brüche, in denen anthropozentrische Erzähltraditionen aufscheinen. Insofern kann konstatiert werden, dass die Repräsentation der mehr-als-menschlichen Welt in den Harry Potter-Romanen nicht eindeutig als affirmativ oder subversiv beschrieben werden kann, sondern zwischen biozentrischen und anthropozentrischen Bezugsrahmen oszilliert. Das bedeutet, dass für jede Einzelanalyse von Tierkontexten in der Wizarding World der jeweilige Referenzrahmen sorgfältig zu erschließen ist. 2.7 Tier und Mensch: ein Animal Reading der Wizarding World 271 <?page no="272"?> Primärmedien Rowling, J.K.: Harry Potter and the Philosopher’s Stone. London, 2000 [1997]. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets. London, 2000 [1998]. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Prisoner of Azkaban. London, 2014 [1999]. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Goblet of Fire. London, 2014 [2000]. Rowling, J.K.: Harry Potter and the Order of the Phoenix. London, 2014 [2003]. Scamander, Newt/ Rowling, J.K.: Fantastic Beasts and Where to Find Them. London, 2017. Sekundärliteratur Adams, Carol J. (1990). The Sexual Politics of Meat. A Feminist-Vegetarian Critical Theory. New York: Continuum. Adams, Carol J. (1996). Caring about Suffering: A Feminist Exploration. In: Donovan, Josephine/ Adams, Carol J. (Hrsg.) Beyond Animal Rights. A Feminist Caring Ethic for the Treatment of Animals. London/ New York: Continuum, 170-197. Adams, Carol J./ Donovan, Josephine (1996). Beyond Animal Rights. A Feminist Caring Ethic for the Treatment of Animals. London/ New York: Continuum. Agamben, Giorgio (2006). Das Offene. Der Mensch und das Tier. Aus dem Italienischen von Davide Giuriato. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Armbruster, Karla (2015). What Do We Want from Talking Animals? Reflections on Literary Representations of Animal Voices and Minds. In: DeMello, Margo (Hrsg.) Speaking for Animals. Animal Autobiographical Writing. London: Routledge, 17- 33. Batty, Holly (2015). Harry Potter and the (Post)human Animal Body. Bookbird 53: 1, 25-37. Berger, John (2009). Why Look at Animals. London: Penguin, 12-37. Böhm, Alexandra/ Ullrich, Jessica (Hrsg.) (2019a). Animal Encounters: Kontakt, Inter‐ aktion, und Relationalität. Berlin: Metzler. Böhm, Alexandra/ Ullrich, Jessica (2019b). Introduction - Animal Encounters: Con‐ tact, Interaction and Relationality. In: Dies. (Hrsg.) Animal Encounters: Kontakt, Interaktion, und Relationalität. Berlin: Metzler, 1-21. Böhm, Alexandra (2023). ‚Species Trouble‘: Verunsicherungen der Mensch-Tier-Grenze in veganen Narrativen der Gegenwartsliteratur ( J.M. Coet‐ zees The Lives of Animals, Han Kangs Die Vegetarierin und Jakob Heins Wurst und Wahn. Ein Geständnis. In: Böhm, Alexandra/ Steen, Pamela (Hrsg.) Mehrdeutigkeit und Unsicherheit in Tier-Mensch-Begegnungen. Linguistische und literaturwissen‐ 272 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="273"?> schaftliche Zugänge. LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 53: 2, 233-258. Böhm, Alexandra (2024). Empathie und Prekarität - Praktiken der Interspezies‐ begegnung bei Gruen, Cortázar, Rilke und Tawada. In: Rettig, Heike/ Steen, Pamela (Hrsg.) Mensch-Tier-Praktiken aus interdisziplinärer Perspektive. Empathie, Emotion, Agency. Berlin: Metzler, 235-257. Borgards, Roland (2015). Literatur. In: Ferrari, Arianna/ Petrus, Klaus (Hrsg.) Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen. Bielefeld: transcript , 225-229. Borgards, Roland (2016). Tiere und Literatur. In: Ders. (Hrsg.) Tiere. Kulturwissen‐ schaftliches Handbuch. Stuttgart: Metzler, 225-244. Braidotti, Rosi (2013). The Posthuman. Cambridge: Polity. Dendle, John (2009). Monsters, Creatures, and Pets at Hogwarts. Animal Stewardship in the World of Harry Potter. In: Heilman, Elizabeth E. (Hrsg.) Critical Perspectives on Harry Potter (2. Aufl.), London: Routledge, 163-176. Derrida, Jacques (2010). Das Tier, das ich also bin. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, hrsg v. Engelmann, Peter. Wien: Passagen. Donovan, Josephine (2007): Attention to Suffering. Sympathy as a Basis for Ethical Treatment of Animals. In: Adams, Carol J./ Donovan, Josephine (Hrsg.) The Feminist Care Tradition in Animal Ethics. New York: Columbia UP, 174-197. Gaard, Greta (Hrsg.) (1993): Ecofeminism: Women, Animals, Nature. Philadelphia: Temple UP. Geiger, Theodor (1931). Das Tier als geselliges Subjekt. In: Thurnwald, Richard (Hrsg.) Arbeiten zur biologischen Grundlegung der Soziologie. Leipzig: Hirschfeld, 283-307. Gruen, Lori (2009). Attending to Nature. Empathetic Engagement with the More Than Human World. Ethics and the Environment 14, 23-38. Gruen, Lori (2015). Entangled Empathy. An Alternative Ethic for Our Relationships with Animals. New York: Lantern. Harrison, Jen (2018). Posthuman Power: The Magic of Hybridity in the Harry Potter Series. Children’s Literature Association Quarterly 43: 3, 325-343. Herman, David (2016). Animal Autobiography; Or, Narration beyond the Human. Humanities 5: 82. doi: https: / / doi.org/ 10.3390/ h5040082. Herman, David (2018). Narratology Beyond the Human. Oxford: Oxford UP. Hugosson, Annika (2021). The „Care“ of Magical Creatures? A Moral Critique of the Animal Lover Trope in Harry Potter. Journal of Animal Ethics 11: 2, 60-72. Kheel, Marti (1985). The Liberation of Nature: A Circular Affair. Environmental Ethics 7, 135-149. 2.7 Tier und Mensch: ein Animal Reading der Wizarding World 273 <?page no="274"?> Kheel, Marti (2008). Nature Ethics: An Ecofeminist Perspective. Lanham u. a.: Rowman & Littlefield. McHugh, Susan (2012). Coming to Animal Studies. In: DeMello, Margo (Hrsg.) Ani‐ mals and Society. An Introduction to Human-Animal Studies. New York: Columbia UP, 29-31. Middelhoff, Frederike (2020). Literarische Autozoographien. Figurationen des autobio‐ graphischen Tieres im langen 19.-Jahrhundert. Berlin: Metzler. Regan, Tom (1983). The Case for Animal Rights. Berkeley: University of California Press. Ritvo, Harriet (1987): The Animal Estate. The English and Other Creatures in the Victorian Age. Cambridge, Mass.: Harvard UP. Singer, Peter (1975): Animal Liberation. A New Ethics for Our Treatment of Animals. New York: Avon. Shevelow, Kathryn (2009). For the Love of Animals. The Rise of the Animal Protection Movement. New York: Henry Holt and Company. Steen, Pamela (2019): Kontaktzone Zoo: Die kommunikative Aneignung von Zoo‐ tieren. In: Böhm, Alexandra/ Ullrich Jessica (Hrsg.) Animal Encounters. Kontakt, Interaktion, und Relationalität. Berlin: Metzler, 257-275. Wild, Markus (2016). Anthropologische Differenz. In: Borgards, Roland (Hrsg.) Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart: Metzler, 47-59. 2.8 Erzähl- und Kognitionsforschung: Überraschung und Schemamodifizierung in Harry Potter und der Stein der Weisen Márta Horvath Bis heute beschäftigt die Fachwelt die Frage, was den überwältigenden Erfolg der Harry Potter-Reihe bei einer breiten Leser: innenschaft erklären könnte (→ Band 3: II.2.1). Die kognitive Narratologie kann sich dieser Frage aus einer besonderen Perspektive nähern, denn ihr Forschungsinteresse gilt den mentalen Prozessen, die beim Verstehen eines fiktionalen Erzähltex‐ tes funktional sind. Sie bietet eine Antwort auf die Frage, welche kognitiven Fähigkeiten und welche Emotionen bei Leser: innen aufgrund welcher narra‐ tiver Strategien aktiviert werden und welches subjektive Erleben mit diesen verbunden werden kann. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf ein Bündel von kognitiv-emotionalen Mechanismen, die typischerweise als 274 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="275"?> 47 Im Artikel wird in Komposita und Konzepten, die sich auf ‚Leser‘ beziehen, konsequent das generische Maskulinum verwendet. Zielsetzung und Methode Leerstellen und Ergän‐ zungsar‐ beit ästhetischer Genuss erlebt werden und daher wesentlich zur Beliebtheit eines literarischen Werkes beitragen können. 2.8.1 Grundlagen der kognitiven Narratologie Die kognitive Narratologie ist eine verhältnismäßig junge Disziplin, deren Anfänge bis in die 1990er-Jahre zurückreichen. Ihre zentrale Fragestellung ist, wie Leser: innen fiktionale Erzähltexte verstehen, sie konzentriert sich also auf ihre Verarbeitungsprozesse. Ihr Grundansatz geht auf ein kogni‐ tionswissenschaftliches Konzept von Philip Johnson-Laird zurück, nach dem Verstehen durch die Bildung mentaler Modelle erfolgt (vgl. John‐ son-Laird 1995), wie David Herman formuliert: „storyworlds are mental models of the situations and events being recounted“ (Herman 2009: 73). Ein mentales Modell ist eine Repräsentation, die das Individuum von seiner Umwelt im Gehirn aufbaut, ein kohärentes Ganzes, das auf der Basis von Weltwissen und durch Inferenz konstruiert wird (vgl. Kintsch 1998: 93). Worauf das Individuum reagiert, ist also nicht die Realität, sondern das über die Realität gebildete mentale Modell - beim Denken werden diese Modelle bearbeitet, Emotionen werden durch sie evoziert und Bewertungen basieren ebenfalls auf ihnen. Dabei ist es unerheblich, ob mentale Modelle auf der Basis unmittelbar wahrgenommener empirischer Sachverhalte oder sprach‐ lich vermittelter Welten konstruiert werden, sie können sogar „unabhängig von äußeren Sinneseindrücken generiert werden und aus imaginierten Repräsentationen bestehen“ (Wege 2013: 143). Als leserorientierte 47 Theorie baut die kognitive Narratologie wesent‐ lich auf rezeptionsästhetischen Ansätzen auf und teilt vor allem die Einsicht Wolfgang Isers und Roman Ingardens, dass Erzähltexte von Natur aus unvollständig sind und zahlreiche Unbestimmtheitsstellen (Ingarden 1931) und Leerstellen (Iser 1984) aufweisen, die von den Leser: innen ergänzt werden müssen. Diese Ergänzungsarbeit wird im Wesentlichen von drei Prinzipien geleitet: • Erstens sind sie subjektiv, da die persönlichen Erfahrungen, Erinne‐ rungen und Vorlieben der Leser: innen eine große Rolle im Leseprozess spielen und für die individuelle Lesart verantwortlich sind. 2.8 Erzähl- und Kognitionsforschung 275 <?page no="276"?> Kognitive Narratolo‐ gie der zweiten Ge‐ neration • Zweitens sind sie kulturell, da sie wesentlich auf im Gedächtnis gespei‐ chertem kulturellem Wissen, auf Schemata, Skripten und Stereotypen beruhen. • Drittens sind sie universell, weil unsere Ergänzungen oft auf kogniti‐ ven Mechanismen beruhen, die evolutionären Ursprungs sind und daher dem menschlichen Denken gemeinsam sind. Merkkasten: Rezeptionsästhetik Die Rezeptionsästhetik erhebt den Anspruch, den Akzent von werk‐ immanenten und produktionsästhetischen Fragestellungen auf die Wirkung des Textes zu verschieben und stellt die Voraussetzungen, Bedingungen und den Prozess der Rezeption ins Zentrum der Untersu‐ chung. Ein wichtiger Vertreter der Rezeptionsästhetik war Hans-Ro‐ bert Jauss, der davon ausgeht, dass ein literarisches Kunstwerk nicht als geschlossene Form, sondern im offenen Prozess der Rezeption beschrieben werden kann. Ein anderer bedeutender Theoretiker war Wolfgang Iser, nach dem der Text bestimmte Wahrnehmungsformen und Deutungsansätze nahelegt und durch Leerstellen in ständiger Kommunikation mit dem Rezipienten ist. Literatur: Hans-Robert Jauss: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970; Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. Fink: München 1972. Weiterführende Literatur: Horst Turk: Wirkungsästhetik. Theorie und Interpretation der literarischen Wirkung. edition text: München 1976; Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. Übers. Heinz-Georg Held, München: Carl Hanser 1987. Die kognitive Narratologie zweiter Generation seit den 2000er-Jahren be‐ fasst sich vor allem mit Letzterem und konzentriert sich auf die Frage, welche universellen kognitiven Mechanismen am Aufbau eines kohärenten mentalen Bildes der Geschichte beteiligt sind und durch welche Textstimuli sie aktiviert werden. Sie ist dem Konzept des ‚Embodiment‘ verpflichtet und geht davon aus, dass Textverstehen nicht auf der Basis computergestützter Informationsverarbeitung modelliert werden kann, wie frühere Theorien annahmen, sondern der Körperlichkeit des Lesens gerecht werden muss. 276 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="277"?> Kognitive Mechanis‐ men Denn Lesen ist nicht nur die Verarbeitung von Informationen nach linguis‐ tisch-logischen Regeln, sondern ein Prozess, an dem der ganze Körper des Menschen beteiligt ist: sein gesamter kognitiver Apparat, so wie Wahrneh‐ mung, Kategorisierung, Aufmerksamkeit, Problemlösung, Gedächtnis etc. und seine Emotionen. Dennoch spielen Konzepte der klassischen Kogniti‐ onswissenschaften, insbesondere die Konzepte des Schemas und des Skripts, eine wesentliche Rolle bei der Erklärung von Textverstehensprozessen. Merkkasten: Embodiment - Körperlichkeit des Lesens In der kognitiven Poetik hat sich Ende der neunziger Jahre ein Paradig‐ menwechsel vollzogen, der mit einer grundlegenden konzeptionellen Veränderung des Begriffs des ‚Lesers‘ einherging. Während in den 1990er-Jahren das Konzept des ‚Lesers‘ auf einer computergestützten Konzeption beruhte, nach der die Prozesse des Lesens literarischer Texte in Analogie zur Computerverarbeitung adäquat modelliert werden konnten, bricht die postklassische Konzep‐ tion mit dem computergestützten Ansatz und betont die Bedeutung der körperlichen Einbettung des Lesens. Sie basiert auf der Einsicht, dass die Funktionsweise des menschlichen Geistes und damit auch die Leseprozesse weitgehend durch den Körper bestimmt werden und dass bestimmte Aspekte der Kognition, wie z. B. Konzepte und Kategorien, durch bestimmte Aspekte des Körpers geprägt werden. Die kognitive Narratologie geht davon aus, dass Erzählen ein universelles menschliches Verhalten ist (→ Band 1: I.1), das als grundlegendes Mittel der Erkenntnis fungiert (vgl. Boyd 2009, Gottschall 2012, Mellmann 2012a, Sugiyama 2005). Daher sind beim Verstehen literarischer Erzähltexte die gleichen kogni‐ tiven Mechanismen am Werk wie in alltäglichen Lebenssituationen. Ein wichtiger kognitiver Mechanismus, der beim Verstehen literarischer Erzäh‐ lungen eine wesentliche Rolle spielt, ist das kausale Denken. Kausales Denken gehört zur kognitiven Grundausstattung des Menschen, denn das Erkennen von Kausalzusammenhängen hat einen leicht nachvollziehbaren evolutionären Vorteil: Es macht zukünftige Ereignisse vorhersehbar, ermög‐ licht so die Vorbereitung angemessenen Handelns und schneller Reaktion und erhöht damit die Überlebenschancen. 2.8 Erzähl- und Kognitionsforschung 277 <?page no="278"?> Kausalattri‐ butionen Kausaler‐ wartungen Da literarische Erzählungen in der Regel die kausalen Zusammenhänge zwischen den dargestellten Ereignissen nicht explizieren, bleibt es den Leser: innen überlassen, die kausalen Lücken in der Erzählung zu füllen und durch Kausalattributionen das mentale Bild einer vollständigen Geschichte zu konstruieren. Welche Kausalbeziehungen Leser: innen herstellen, hängt stark davon ab, wie der Text die Ereignisse darstellt. So wie wir eine Farbe auf einem Bild unterschiedlich wahrnehmen, je nachdem, in welchem Kontext sie uns erscheint, so kann auch ein Ereignis je nach seiner Anordnung im Text ganz unterschiedliche Funktionen innerhalb der Handlung haben. Mit anderen Worten: Die Art der Erzählung (des Diskurses) (→ Band 1: II.3.1) beeinflusst die Kausalketten, die wir in einem narrativen Text wahrnehmen (vgl. Kafalenos 2006). Da Leser: innen Erzählungen mit der Erwartung lesen, eine zusammen‐ hängende Geschichte vermittelt zu bekommen, hegen sie kausale Erwar‐ tungen, die ebenfalls Folgen kausalen Denkens sind (vgl. Rossholm 2017). Wenn zum Beispiel eine Figur in einem Kriminalroman eine Waffe zieht, erwarten die Lesenden, dass dies Konsequenzen hat und die Figur bald jemanden erschießt. Aber nicht nur Gründe, sondern auch Erklärungen werden erwartet und antizipiert: Wenn beispielsweise eine Figur bespitzelt wird, erwarten wir im Text einen Hinweis darauf zu bekommen, wer sie bespitzelt und warum. Die Quelle der Kausalattributionen und Kausalerwartungen speist sich aus der Vorerfahrung der Leser: innen, die als strukturiertes Wissen in Form von Schemata und Skripten im Gedächtnis gespeichert ist (vgl. Schank & Abelson 1977). Das Verstehen ist letztlich das Ergebnis eines dynami‐ schen Zusammenspiels zwischen dem Weltwissen der Leser: innen und dem Text, einer wechselseitigen Bewegung, bei der die Verarbei‐ tung von Texthinweisen und die Aktivierung von Vorwissen (Bottom-up- und Top-down-Prozesse) gleichzeitig und abwechselnd erfolgen. Wenn bei‐ spielsweise eine Figur das Badezimmer betritt und den Duschhahn aufdreht, assoziiert man instinktiv den Vorgang des Duschens damit. Der/ Die Autor: in muss also nicht den gesamten Duschvorgang mit allen Details darstellen, denn durch das Aufrufen eines relevanten Elements aktiviert er/ sie das Duschszenario im Gedächtnis der Leser: innen, auf dessen Grundlage sie die fehlenden Details der Situation ergänzen. Bei der Lektüre literarischer Erzähltexte ist das literarische Vorwissen von besonderer Bedeutung, da es u. a. die Erwartungen an die Erzählsituation, die Figuren, die Handlung oder das Genre bestimmt. So weckt z. B. die Schilderung des Verlustes einer/ s na‐ 278 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="279"?> Psychologi‐ sche Moti‐ vationen hen Angehörigen als erste Szene einer romantischen Komödie ganz andere Erwartungen als die erste Szene eines Kriminalromans, denn während man im ersten Fall z. B. eine anrührende Liebesgeschichte erwartet, antizipiert man im zweiten Fall einen heimtückischen Mord. Kausalität nimmt im narrativen Verständnis viele Formen an. Nach der Kategorisierung von Tom Trabasso und seinen Mitarbeitern gehört dazu unter anderem auch die psychologische Motivation (vgl. Trabasso et al. 1989). Man könnte sogar behaupten, dass psychologische Motivation in li‐ terarischen Erzähltexten, die menschliches Handeln darstellen, eine weitaus wichtigere Quelle für Kohärenz ist als Kausalität im herkömmlichen Sinne. Wenn Leser: innen den Sinnzusammenhang von Ereignissen verstehen wol‐ len, fragen sie eher nach der Intention, die als Ursache einer Handlung angesehen werden kann, als nach physischen Gründen. Die Zuschreibung von Intentionen, Wünschen, Zielen etc. (Mentalisierung) gilt daher als ein grundlegender kognitiver Mechanismus, der für das Verstehen fiktionaler Erzähltexte konstitutiv ist. Merkkasten: Mentalisierung Mentalisierung ist die kognitive Fähigkeit, Vorstellungen über die mentalen Zustände anderer Menschen zu bilden und deren Verhalten auf der Grundlage dieser Vorstellungen zu erklären (vgl. Baron-Cohen 1995). Wenn wir z. B. sehen, dass das Gesicht unseres Kindes rot wird, wenn wir mit ihm wegen einer schlechten Note schimpfen, dann führen wir das Erröten des Gesichts nicht auf äußere Ursachen, beispielsweise auf starke Sonneneinstrahlung, zurück, sondern erklä‐ ren es mit einem mentalen Zustand, etwa Scham. Vielleicht ist die aufgestellte Theorie über den mentalen Inhalt des anderen falsch, und das Kind schämt sich in Wirklichkeit nicht, sondern ist etwa wütend, aber aus kognitionspsychologischer Sicht ist das irrelevant, weil es nicht auf den Inhalt der Vorstellung ankommt, sondern nur auf die Tatsache, dass wir in der Lage sind, anderen Menschen mentale Zustände zuzuschreiben, und zu verstehen, dass sich deren mentale Zustände von unseren eigenen unterscheiden können. Mentalisierung ist auch für das Verständnis fiktionaler Erzählungen von zentraler Bedeutung und ist auf mehreren Ebenen der Erzählung konstitutiv. 2.8 Erzähl- und Kognitionsforschung 279 <?page no="280"?> Emotions‐ forschung Ihre grundlegendste Funktion besteht darin, das mentale Bild der Figuren zu konstruieren (→ Band 1: II.3.2.2). Die kognitive Narratologie geht davon aus, dass wir die in fiktionalen Texten dargestellten Figuren wie unsere Mitmenschen verstehen: Wir erklären ihr Verhalten, indem wir ihnen aufgrund der dargestellten Verhaltensweise mentale Inhalte, Gefühle, Wünsche und Absichten zuschreiben. Auf der Grundlage einiger weniger Informationsfragmente schreiben wir der Figur eine vollständige Psyche zu und stellen uns sogar vor, dass die Figur selbst ein ‚Mindreader‘ ist, der andere Figuren versteht, indem er ihnen mentale Zustände zuschreibt und ihr Verhalten mit diesen Zuständen erklärt (vgl. Zunshine 2006). Intentionszuschreibungen erfolgen ähnlich wie Kausalattributionen auf der Basis des Vorwissens der Leser: innen. Eine bedeutende Erkenntnis der kognitiven Narratologie der zweiten Generation war, dass die Textverarbeitung nicht von der emotionalen Wir‐ kung getrennt werden kann, da die Inferenzen, aufgrund derer das mentale Modell der Geschichte entsteht, eng mit den vom Text evozierten Emotionen verbunden sind und sich beide in wechselseitiger Abhängigkeit vonein‐ ander entwickeln (vgl. Velleman 2003, Kovács 2011). Aus diesem Grund ist die Analyse der Leser: innenemotionen in den Fokus der Forschung gerückt. Ein Grundansatz der kognitiven Narratologie ist, dass beim Lesen von literarischen Erzähltexten dieselben Emotionen hervorgerufen werden (wenngleich oft in weniger intensiver Form), die auch beim Verstehen von Alltagsereignissen evoziert werden. Leseremotionen sind also nicht als imaginierte Emotionen zu verstehen, wie es frühere Theoretiker wie z. B. Jerold Levinson (vgl. Levinson 1997), getan haben, sondern als reale Emotionen, die als ein körperlich wahrnehmbares Gefühl erlebt werden. In diesem Verständnis funktionieren Texte ähnlich wie Attrappen in der Verhaltensforschung: Sie sind Träger von Merkmalen, die mit Eigenschaften realer Gegenstände und Situationen, die einen Schlüsselreiz für bestimmte Emotionen bedeuten, übereinstimmen (vgl. Mellmann 2006a, 2006b). Wenn z. B. der Text das mentale Bild einer wegen ihrer Verlassenheit weinenden Frau hervorruft, werden wir genauso Mitleid für sie empfinden, als ob wir eine reale Frau uns gegenüber weinen sähen. Bei der Analyse von Leseremotionen geht es also darum, solche Textstrukturen zu identifizieren, die eine Schemakongruenz mit realen Situationen aufweisen, die nach emotionspsychologischen Theorien Schlüsselreize für eine bestimmte Emo‐ tion sind (vgl. Mellmann 2012b, Horváth 2022). 280 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="281"?> Leser: in- Konzepte Die kognitive Narratologie stützt sich auf zwei Leser: in-Konzepte. Grund‐ legend bezieht sie sich auf eine: n Modell-Leser: in, der/ die über „die Kenntnis aller einschlägigen Codes und auch über alle notwendigen Kom‐ petenzen verfügt, um die vom Text erforderten Operationen erfolgreich durchzuführen“ ( Jannidis 2004: 31) - anders formuliert: auf eine: n Leser: in, der/ die über alle kognitiven Fähigkeiten verfügt, mit denen die Evolution den Menschen ausgerüstet hat. Dies ist ein abstraktes Konstrukt, dessen hypothetische Reaktionen in einer realen Lesesituation sowohl durch indi‐ viduelle als auch durch kulturelle Faktoren beeinflusst werden, von denen deshalb die Reaktionen empirischer Leser: innen abweichen können. Zwar gibt es bereits Versuche, individuelle Präferenzen und individuelle psychologische Eigenschaften in den Untersuchungen zu berücksichtigen (vgl. Rapp & Gerrig 2006, Bálint & Kovács 2012), diese sind aber mehr für therapeutische Zwecke und personalpsychologische Forschungen als für literaturwissenschaftliche Untersuchungen von Relevanz. Die kognitive Narratologie interessiert sich für die literaturwissenschaftliche Fragestel‐ lung, wie bestimmte Textstrukturen auf Leser: innen wirken, bzw. welche Textstrukturen erzielte Effekte auslösen können. Die Aussagen über die Leserreaktionen sind daher immer als Feststellungen über das Potenzial von Textstrukturen, bestimmte Reaktionen bei Lesenden auszulösen, zu verstehen. In den Argumentationen werden auch Ergebnisse empirischer For‐ schungen verwendet, die sich auf gemessene Reaktionen realer Leser: innen stützen. Diese sind natürlich auch nur statistisch signifikante Ergebnisse, von denen individuelle Response abweichen können, jedoch empirisch veri‐ fizierte Befunde, die Stichhaltiges über den zeitgenössischen Leser aussagen. 2.8.2 Überraschung beim Lesen von Harry Potter und der Stein der Weisen Der erste Band der Harry Potter-Reihe gehört zu den Erzähltexten, die in besonderer Weise geeignet sind, Überraschung bei Lesern und Leserinnen zu erzeugen, und zwar auf eine intensive Weise, weil die Überraschung im Roman in der Regel emotional durch ein Spannungsbogen vorbereitet wird. Der Text treibt auf mehreren Ebenen der Erzählung ein Spiel mit den Lesererwartungen: Einerseits präsentiert er immer wieder Inhalte, die nicht in die Schemata und Skripte der Leser: innen passen und damit ihren Erwartungen widersprechen, z. B. wenn Schlüssel durch den Raum fliegen 2.8 Erzähl- und Kognitionsforschung 281 <?page no="282"?> 48 Vgl. hierfür auch die anderen Modell-Interpretationen des Bandes, die diese vermeint‐ liche Binarität thematisieren wie Lückl/ Lexe, Henning-Mohr, Conrad. oder Bücher beim Öffnen schreien, und überrascht sie damit. Andererseits wird die Erfüllung kausaler Erwartungen, bzw. das Füllen kausaler Lücken verzögert, um das Überraschungsmoment durch einen Spannungsbogen vorzubereiten. Da diese beiden Reaktionen das kognitive Profil der Harry Potter-Romane stark prägen, werde ich mich im Folgenden auf sie kon‐ zentrieren. Es ist jedoch zu beachten, dass Spannung und Überraschung, da ihre wichtigsten Quellen die Lesererwartungen sind, stark mit der Leseerfahrung und der Realitätserfahrung zusammenhängen und daher nicht nach allgemeinen Prinzipien beschrieben werden können. Vor allem ist davon auszugehen, dass jugendliche Leser: innen, die Fantasy-Romane sehr gern und in großen Mengen konsumieren, beim Lesen phantastischer Inhalte weniger Überraschung erleben als Erwachsene, deren Erinnerun‐ gen an die Zauberwelt der Märchen vielleicht schon verblasst sind. Bei empirischen Untersuchungen zum Überraschungseffekt beim Lesen der Harry Potter-Romane wurden sogar besondere Vorkehrungen getroffen, um eine Konditionierung auf magische Inhalte zu vermeiden (vgl. Hsu et al. 2015). In diesem Sinne ist noch einmal festzuhalten, dass Aussagen zur emotionalen Wirkung immer als Wirkungspotenziale des Textes zu verstehen sind, deren Realisierung bei den einzelnen Lesern und Leserinnen von vielen individuellen und kulturellen Faktoren sowie von dem Alter und Erfahrungsstand abhängt. Trotz dieser Einschränkungen kann man konstatieren, dass es eine unverhohlene Absicht des ersten Bandes ist, seine Leser: innen mit „merk‐ würdigen“ („strange) und „geheimnisvollen“ („mysterious“) (PS: 1) Inhalten zu konfrontieren und sie dadurch zu überraschen. Bereits im ersten Satz etabliert die Erzählinstanz einen Gegensatz zwischen dem „Normalen“ und dem „Nicht-Normalen“ (1), der sich durch den gesamten Roman zieht und als Interpretationsrahmen erhalten bleibt. 48 Schon die ersten Ereignisse sollen verwundern: Die Katze, die in den Straßen einer Kleinstadt eine Karte studiert und später ein Straßenschild liest, die Menschen in smaragdgrünen Umhängen oder die Eulen, die am helllichten Tag hin- und herfliegen, werden als seltsame und ungewöhnliche Phänomene dargestellt, die selbst Passanten ‚mit offenen Mündern‘ verfolgen. Für die Rezipient: innen, die nach Ed Tans Definition die Geschehnisse in der fiktionalen Welt als außenstehende Zeug: innen aus einer dem staunenden Passanten analogen 282 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="283"?> Position beobachten (vgl. Tan 1994), bietet der Text den gleichen Interpre‐ tationsrahmen und macht, unabhängig davon, wie sehr er die Grenzen individueller Schemata überschreitet, durch explizite Aussagen deutlich, dass die phantastischen Ereignisse den Lesererwartungen widersprechen sollen. Dies wird auch durch die Haltung der Hauptfigur Harry unterstützt, der ab dem zweiten Kapitel des Romans zur dominanten Reflektorfigur wird (die Ereignisse werden aus seiner Perspektive präsentiert) und seine erste Begegnung mit der Zauberwelt selbst als eine Reihe von Überraschungen erlebt: Ihm stockt der Atem, als die Glasscheibe des Terrariums unerwartet verschwindet, und er stellt verblüfft fest, dass Dumbledores Gesicht auf der Karte plötzlich fehlt. Die größte Überraschung kommt jedoch in einer frühen Wendung der Handlung, die mit einer Anagnorisis, einer Wiedererkennung, verbundenen ist, als er seine wahre Identität erkennt: Er stammelt vor Überraschung und vergisst, seinen Mund zu schließen, als Hagrid ihm seine Identität als Zauberer offenbart (vgl. PS: 57). Der Roman überlässt es also nicht dem Zufall, dass die Leser: innen das Überraschende an den phantastischen Wesen und Ereignissen erkennen, sondern macht es ihnen einerseits durch den erzählerischen Diskurs explizit, andererseits durch die Erzählperspektive zugänglich. Für kontinuierliche Spannung und Überraschung sorgt auch die Art und Weise, wie die Leser: innen in die Storyworld des Romans eingeführt werden. Entgegen den Lesererwartungen werden nämlich in den meisten Fällen nicht, wie es den Regeln der Weltkonstruktion entspricht, detaillierte Informationen über Figuren und Ereignisse gegeben, sondern im Gegenteil: Das Auftreten einer neuen Figur oder die Darstellung eines Ereignisses werfen meist eine Reihe offener Fragen auf, die erst in späteren Kapiteln des Romans beantwortet werden und bis dahin eine Lücke in der Kausalkette der Handlung hinterlassen. Bereits im ersten Kapitel entsteht eine Reihe von Lü‐ cken, wenn z. B. die die Karte studierende Katze oder die seltsamen Gestalten in smaragdgrünen Umhängen auftauchen, deren Identität nicht verraten wird, aber auch die Nennung des Namens von Albus Dumbledore ermöglicht es den Leser: innen nicht, sich ein mentales Bild von ihm zu machen, da keine entsprechenden Informationen zu seiner Person zur Verfügung stehen. Das erste Kapitel von Harry Potter und der Stein der Weisen erfüllt somit nicht die Funktion einer klassischen Exposition, weil die Leser: innen das zum Einstieg in die Romanhandlung nötige Hintergrundwissen nicht vermittelt bekommen. Anstatt die Ausgangssituation zu erläutern und die Vorgeschichte der zentralen Figuren darzustellen, wird eine Reihe von 2.8 Erzähl- und Kognitionsforschung 283 <?page no="284"?> 49 Mit Ausnahme des ersten Kapitels, in dem die Geschichte hauptsächlich aus der Perspektive von Mr. Dursley erzählt wird. Leerstellen und Unbestimmtheitsstellen eröffnet, die Fragen zu den zentralen Figuren und Ereignissen aufwerfen: Wer ist Dumbledore? Wer feiert auf den Straßen und warum? Wer ist Du-weißt-schon-wer und warum darf sein Name nicht ausgesprochen werden? Was war der große Angriff, den Harry überlebt hat? Da die Antworten auf diese Fragen erst in späteren Kapiteln gegeben werden, werden Neugier und Spannung der Leser: innen bereits hier begründet. Zur Steigerung der Intensität von Spannung und Überraschung trägt auch die Erzählperspektive wesentlich bei. Es ist eine grundlegende Erkenntnis der kognitiven Narratologie, dass die Erzählperspektive eine wichtige Rolle für die empathische Haltung des Lesers und der Leserin spielt. Während Gérard Genette in der strukturalistischen Narratologie mit Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (1982) die narrative Distanz (den Grad der Mittelbarkeit) und die Fokalisierung im Hinblick auf die Beziehung zwischen Erzähler: in (Erzählung) und Geschichte bestimmt hat (vgl. auch Genette 1990 sowie → Band 1: II.3.2.6), hat die lesepsychologische Forschung gezeigt, dass sie auch für die Beziehung zwischen Figur und Leser: in eine wesentliche Rolle spielen. Denn je direkter die Erzählweise ist, desto näher fühlen sich Lesende der Figur, was eine Reihe von Konsequenzen für die Interpretation hat und sich unter anderem auf die empathische Haltung der Leser: innen auswirkt (van Peer & Maat 1996, van Peer & Maat 2001). In Texten mit interner Fokalisierung haben Leser: innen nämlich den Eindruck, mehr Informationen über die Figur zu haben als in Erzählungen mit externer Fokalisierung, und beurteilen ihr Verhalten daher als rationaler und transparenter (Hakemulder & Koopman 2010). Da sie einen direkteren Zugang zur Innenwelt der Figur haben, haben sie das Gefühl, die Figur besser zu kennen, und können daher eine empathischere Beziehung zu ihr entwickeln. In Harry Potter und der Stein der Weisen dominiert die interne Fokali‐ sierung, da die Reflektorfigur im größten Teil des Romans die Hauptfigur Harry ist. 49 Die Leser: innen haben kontinuierlich Einblick in seine mentalen Inhalte, und auch ihr Wissensstand ist mit dem Wissensstand von Harry kongruent. Dadurch können sie einen ähnlichen emotionalen Zustand wie die Hauptfigur erleben: Die offenen Fragen, die durch die merkwürdi‐ gen, aber ungeklärten Ereignisse aufgeworfen werden, erzeugen bei den 284 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="285"?> Leser: innen ebenso wie bei Harry Neugier und Spannung und involvieren sie somit stark in die Geschichte. Ähnlich wie in Detektivgeschichten können sie parallel zu den Detektivfiguren (hier Harry und seine Freund: innen Ron und Hermione) die Ermittlungen verfolgen, und die Spannung der Suche miterleben. Besonders deutlich wird dies im achten Kapitel, in dem das erste Rätsel um den Stein der Weisen, der Einbruch in Gringotts, erzählt wird, denn das Kapitel endet mit einer Reihe von expliziten Fragen, die Harry (und wohl auch der Leser und die Leserin) stellt: „Had Hagrid collected that package just in time? Where was it now? And did Hagrid know something about Snape that he didn’t want to tell Harry? “ (PS: 152). Spannung beim Lesen von literarischen Erzähltexten ist jedoch nicht nur als ein intensives Gefühl relevant, das die Lektüre unterhaltsam macht, sondern hat auch wichtige kognitive Funktionen. Sie wird grundsätzlich definiert als „ein Ensemble bestimmter psychisch-behavioraler Begleiter‐ scheinungen verschiedener Emotionen“ (Mellmann 2007: 245), die mit einem Körpergefühl von Anspannung und Unruhe einhergehen, wobei sich die Muskeln anspannen, die Atmung vertieft, das Herz schneller schlägt und die Schmerztoleranz erhöht ist. Diese physiologischen Veränderungen haben die Funktion, den Körper auf die entsprechende Verhaltensreaktion vorzu‐ bereiten und beispielsweise den Kampf- oder Fluchtinstinkt zu stimulieren. Beim Lesen literarischer Fiktionen läuft das Spannungsprogramm jedoch anders als in realen Situationen ab und da „die tatsächliche motorische Aktivität unangemessen erscheint“ (ebd.: 250), reagieren Leser: innen mit einer verstärkten perzeptiven und kognitiven Aktivierung. Der allge‐ meine psychische Aktivitätszustand (Arousal) äußert sich vor allem in einer Fokussierung und Intensivierung der Aufmerksamkeit: Details, die auf einen möglichen Handlungsverlauf hinweisen könnten, werden verstärkt beachtet, unwichtig erscheinende Details werden ausgeblendet und es werden Theorien über den weiteren Handlungsverlauf entwickelt. Die aufmerksamkeitserregende und -lenkende Funktion von Spannung wird im ersten Band der Reihe mehrfach ausgenutzt. Zum einen wird die Aufmerksamkeit der Leser: innen häufig so gelenkt, dass ihnen wichtige Details entgehen sollen, um die Lösung von Rätseln hin‐ auszuzögern und damit den Spannungszustand zu verlängern und den Überraschungseffekt bei der Enthüllung der Wahrheit zu intensivieren. So wird beispielsweise eine wichtige Information zur Lösung des zentralen Rätsels, die Frage nach der Identität von Nicolas Flamel, dem Verbünde‐ ten von Dumbledore, den Leser: innen (ebenso wie Harry) zwar bekannt 2.8 Erzähl- und Kognitionsforschung 285 <?page no="286"?> gemacht, im Erzählkontinuum jedoch in einem Kontext erwähnt, in dem diese Information verloren geht. Wenn nämlich Harry auf der Reise nach Hogwarts die in den Schokoladenfrosch eingewickelte Karte mit dem Porträt Dumbledores liest, richtet sich die Aufmerksamkeit der Leser: innen (so wie die von Harry) aufgrund der zuvor gestellten offenen Frage nach der Iden‐ tität Dumbledores auf den Direktor der Zauberschule, und die sich später als wichtig erweisende Information über Flamel erscheint als unwichtiges Detail, weshalb sie ausgeblendet und nicht im Gedächtnis gespeichert wird. Das Ausfiltern der Information über Flamel wird durch ein weiteres narratives Ablenkungsmanöver abgesichert: Als Harry die Karte wieder umdreht, ist das Porträt von Dumbledore verschwunden. Die Tatsache, dass sich die auf den Bildern dargestellten Figuren in der Zauberwelt hin- und herbewegen können, löst bei den Leser: innen höchstwahrscheinlich Über‐ raschung aus (wie es auch bei Harry der Fall ist), was ihre Aufmerksamkeit auf das phantastische Element lenkt und sie von anderen Details ablenkt. Dies ermöglicht das spätere Einfügen weiterer Abenteuer, wie die Suche nach Flamels Identität, und schafft neue Spannungsbögen, die zu intensiven Überraschungen führen. Eine weitere Methode der Aufmerksamkeitslenkung ist das Verleiten der Leser: innen (sowie von Harry) zu falschen Kausalattributionen. Diese Technik dient unter anderem dazu, die Auflösung des zentralen Rätsels, der Frage nach der Identität von Voldemorts Helfer, hinauszuzögern und dadurch für Überraschung zu sorgen. Im siebten Kapitel, beim Abendessen nach der Verteilung der Kinder auf die vier Häuser, bemerkt Harry, dass „Professor Quirrell, in his absurd turban, was talking to a teacher with greasy black hair, a hooked nose, and sallow skin“ und dass dieser „hook-nosed teacher looked past Quirrell’s turban straight into Harry’s eyes - and a sharp, hot pain shot across the scar on Harry’s forehead“ (PS: 134). Harry schließt sofort, dass der Schmerz durch den Blick des hakennasigen Lehrers verursacht wurde, und diese falsche Kausalattribution bestimmt seine Hal‐ tung gegenüber Snape im weiteren Verlauf der Geschichte. Von dieser Szene an wird das falsche Bild von Snape durch zahlreiche weitere irreführende Informationen verstärkt und bis zur abschließenden Anagnorisis aufrecht‐ erhalten: Immer wieder gerät er in verdächtige Situationen, so z. B. scheint er einen Troll auf die Kinder losgelassen zu haben, zu versuchen, den drei‐ köpfigen Hund unschädlich zu machen oder während des Quidditch-Spiels Harry in tödliche Gefahr zu bringen. Durch diese Erzählweise wird die abschließende Anagnorisis emotional so vorbereitet, dass sie eine intensive 286 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="287"?> Überraschung hervorrufen kann. Gleichzeitig werden jedoch auch Hinweise gegeben, die den Leser: innen im Nachhinein das Gefühl vermitteln, man hätte die Lösung vorhersehen können und dass die unerwartete Wendung nicht im Widerspruch zu den vorangegangenen Ereignissen steht, sondern ihren Platz in der kausalen Ordnung der Geschichte hat. Dass Kinder und auch Erwachsene den Roman mit Begeisterung lesen, kann unter anderem darauf zurückgeführt werden, dass das Interesse nicht nur durch das zentrale Rätsel, sondern durch eine Reihe von Rätseln aufrechterhalten wird. Sobald eine offene Frage beantwortet ist, taucht die nächste auf, so dass die Handlung nie zum Stillstand kommt und als Geschichte voller Action erlebt wird. Auch für die Haupthandlung weniger relevante Details oder Figuren werden so in die Storyworld eingeführt, dass sie neue Fragen aufwerfen, anstatt Klarheit über bestimmte Details zu schaffen. Als beispielsweise Peeves im siebten Kapitel zum ersten Mal auftaucht, werden keine Details über seine Identität verraten, lediglich in einem kurzen Gespräch wird darauf hingewiesen, dass man sich vor ihm hüten sollte, da er die Geister in Verruf bringt (PS: 123). Dieser Mangel an Informationen lässt die Leser: innen verschiedene Möglichkeiten erwägen, um die Lücke zu füllen, und hält sie in Spannung, bis die Antwort einige Seiten später kommt und die Leser: innen über Peeves’ Identität aufgeklärt werden. Die so begründete Reihe von Überraschungen, die man beim Lesen des Romans erleben kann, dient jedoch - ähnlich wie die Spannungserzeu‐ gung - nicht nur der Unterhaltung, sondern hat eine wichtige kognitive Funktion. Nach manchen Auffassungen ist Überraschung nicht einmal eine Emotion, weil sie sich zum einen nicht eindeutig als positiv oder negativ kategorisieren lässt, wie es sonst bei Emotionen der Fall ist, und weil zum anderen in ihrem Zentrum nicht Affekte, sondern unser Wissen und unsere Überzeugungen stehen (Reisenzein 2000). Überraschung wird nämlich durch Reize ausgelöst, die uns mit der Tatsache konfrontieren, dass unsere bishe‐ rigen Schemata nicht funktionieren. Ein unerwartetes Ereignis veranlasst das Individuum dazu, die Schemata, die seinen Werturteilen zugrunde liegen, neu zu bewerten und sein bisheriges Weltbild zu reorganisieren. Ihre adaptive Funktion besteht darin, das Individuum dazu zu motivieren, seine Schemata und Überzeugungssysteme ständig zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren (vgl. Reisenzein 2000). Je intensiver und negativer der Überraschungseffekt nach dem unerwarteten Ereignis ist, desto stärker ist die Motivation des Individuums, seine Schemata, die sich 2.8 Erzähl- und Kognitionsforschung 287 <?page no="288"?> als falsch erwiesen haben, zu korrigieren. Daher wird ihm auch eine große Bedeutung für das Lernen zugeschrieben, da das durch das unerwartete Ereignis ausgelöste Wissen über einen längeren Zeitraum im Gedächtnis gespeichert wird (vgl. Foster & Keane 2019). Harry Potter und der Stein der Weisen macht intensiven Gebrauch von dieser kognitiven Funktion der Überraschung und motiviert seine Leser: in‐ nen zur Überprüfung und Modifikation von Schemata. Der Roman zielt auf typische Vorurteile und Stereotype ab, die auf äußeren Merkmalen, Ver‐ haltensweisen, Gruppenzugehörigkeiten oder sozialen Schichten beruhen. Der Text aktiviert durch einige Hinweise ein bestimmtes Schema, dessen Gültigkeit aber durch die nachfolgenden Ereignisse nicht bestätigt, sondern durch unerwartete Vorfälle geradezu widerlegt wird. So ruft beispielsweise die Beschreibung von Hagrid (→ Band 3: II.1.3 und II.2.4) bei seinem ersten Auftritt das Bild des furchteinflößenden Riesen hervor: If the motorbike was huge, it was nothing to the man sitting astride it. He was almost twice as tall as a normal man and at least five times as wide. He looked simply too big to be allowed, and so wild - long tangles of bushy black hair and beard hid most of his face, he had hands the size of dustbin lids, and his feet in their leather boots were like baby dolphins. In his vast, muscular arms he was holding a bundle of blankets. (PS: 15) Seine erste Handlung widerspricht aber gleich diesem Schema, denn er „gave him [Harry] what must have been a very scratchy, whiskery kiss“ (ebd.: 16) und weint dann aus Sorge um das Kind. Auch Harry erlebt ihn zuerst als einen furchterregenden Riesen, als er in der Hütte erscheint: „the door was hit with such force that it swung clean off its hinges and with a deafening crash landed flat on the floor“ (ebd.: 50), was die Dudleys tatsächlich erschreckt, aber anstatt die Familie zu überfallen, schenkt er Harry einen Geburtstagskuchen. Ebenso entpuppen sich die Geister und Monster trotz ihres furchterregenden Aussehens meist als harmlose, oft sogar lustige und freundliche Wesen, von denen keine Gefahr ausgeht, wie z. B. der Fast Kopflose Nick oder Hagrids Hund Fang. Die wohl wirkungsvollste, weil am besten vorbereitete Überraschung, ist die Enthüllung des Antagonisten am Ende des ersten Bandes. Der Text appelliert bis zum Schluss stark an die Mentalisierungsfähigkeit der Leser: in‐ nen, indem er keine expliziten Hinweise gibt, wer Voldemorts Komplize ist, sondern Verhaltensweisen beschreibt, welche die Leser: innen zu Inten‐ tionszuschreibungen anregen. Diese Beschreibungen sind allerdings so 288 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="289"?> konzipiert, dass sie nicht die richtigen Schlussfolgerungen unterstützen, sondern im Gegenteil die Leser: innen auf falsche Fährten führen. Sie greifen auf Stereotypen von Gut und Böse zurück, und mobilisieren bewährte Schemata. So wird Snape als ein unfreundlicher, strenger und ungerechter Mensch dargestellt, der eine Abneigung gegen Harry hegt und sich seinen Untergang wünscht. Im Gegensatz dazu wird Quirrell als ein schüchterner und ängstlicher, aber talentierter Professor dargestellt, der keine ehrgeizigen Pläne hat und es vorzieht, im Hintergrund zu bleiben. Diese verfehlten Intentionszuschreibungen tragen ebenso zu verkehrten Kausalattributionen bei wie die gezielte Aufmerksamkeitslenkung und lenken den Verdacht der Lesenden auf die falsche Figur. Die Reihe irrtümlicher Schlussfolge‐ rungen, die von Beginn des Romans an gefördert werden, führt zu einer umso größeren Überraschung, wenn die wahre Identität von Voldemorts Komplizen enthüllt wird. Die Reihe solcher überraschenden Momente ließe sich noch lange fort‐ setzen, was eine bestimmte Richtung in Harrys Entwicklung abzeichnet: Während der Zeit in der Zauberschule, die ja traditionell der Ort des Lernens ist, und als prototypischer Schauplatz von Entwicklungsgeschich‐ ten funktioniert, findet Harry seinen Platz in einer Welt, die nicht nach den herkömmlichen Schemata, vor allem nicht nach den Regeln der Durs‐ leys funktioniert, sondern ein umgekehrtes Wertesystem vertritt und eine subversive, karnevaleske Welt darstellt (vgl. Nikolajeva 2009). Politische und sozialkritische Interpretationen lenken die Aufmerksamkeit auf dieses Potenzial der Roman-Reihe, wenn sie z. B. das Hinterfragen konventioneller Konstruktionen von Geschlecht und Geschlechterrollen (vgl. Gallardo C. & Smith 2003), Stereotypen über soziale Klassen (vgl. Rangwala 2009, Chappel 2008, Schanoes 2003) oder ethnischer Vorurteile (vgl. Horne 2022, Strimel 2004, Carey 2003) hervorheben. Da den Leser: innen durch die interne Foka‐ lisierung Harrys Perspektive angeboten wird, können sie durch die Lektüre wie Harry ohne didaktische Untertöne für diese Probleme sensibilisiert werden. Das emotionale Profil der folgenden Bände ändert sich jedoch stark, und die Dominanz der Überraschung und damit die Sensibilisierung für soziale Fragen nimmt in den Folgebänden ab (→ Band 3: II.2.5, II.2.2 und II.2.3). Primärmedien Rowling, J.-K. (2014). Harry Potter and the Philosopher’s Stone. London, 2014. 2.8 Erzähl- und Kognitionsforschung 289 <?page no="290"?> Sekundärliteratur Bálint, Katalin/ Kovács, András Bálint (2012). Fokalizáció és kötődés. A narratív és pszichológiai tényezők interakciójának vizsgálata a filmszereplő által kiváltott nézői válaszokban. Pszichológia 32: 3, 271-291. Baron-Cohen, Simon (1995). Mindblindness. An Essay on Autism and Theory of Mind. Cambridge/ London: MIT Press/ Bradford Books. Boyd, Brian (2009). On the Origin of Stories. Evolution, Cognition, and Fiction. Cambridge/ London: Harvard University Press. Carey, Brycchan (2003). Hermione and the House-Elves: The Literary and Historical Contexts of J. K. Rowling’s Antislavery Campaign. In: Anatol, Giselle Liza (Hrsg.) Reading Harry Potter: critical essays. Westport: Praeger Publ., 103-116. Chappel, Drew (2008). Sneaking Out After Dark: Resistance, Agency, and the Postmodern Child in JK Rowling’s Harry Potter Series. Children’s Literature in Education 39: 1, 281-293. Foster, Meadhbh I./ Keane, Mark T. (2019). The Role of Surprise in Learning: Different Surprising Outcomes Affect Memorability Differentially. Topics in Cognitive Science 11: 1, 75-87. Gallardo C., Ximena/ Smith, C. Jason (2003). Cinderella: J.K. Rowling’s Wily Web of Gender. In: Anatol, Giselle Liza (Hrsg.) Reading Harry Potter: critical essays. Westport: Praeger Publ., 191-205. Genette, Gérard (1990). Narrative Discourse: An Essay in Method. Ithaca: Cornell University Press. Gottschall, Jonathan (2012). The storytelling animal: how stories make us human. Boston: Houghton Mifflin Harcourt. Hakemulder, Frank (2004). Foregrounding and Its Effect on Readers’ Perception. Discourse Processes 38: 2, 193-218. Hakemulder, Jemeljan/ Koopman, Emy (2010). Readers Closing in on Immoral Cha‐ racters’ Consciousness. Effects of Free Indirect Discourse on Response to Literary Narratives. JLT 4: 1, 41-62. Herman, David (2009). Narrative Ways of Worldmaking. In: Heinen, Sandra/ Som‐ mer, Roy (Hrsg.) Narratology in the Age of Cross-Disciplinary Narrative Research. Berlin/ New York: de Gruyter, 71-87. Horne, Jackie C. (2022). Harry and the Other: Multicultural and Social Justice Anti-Racism in J. K. Rowling’s Harry Potter Series. In: Dahlen, Sarah Park/ Thomas, Ebony Elizabeth (Hrsg.) Harry Potter and the Other: Race, Justice, and Difference in the Wizarding World. Mississippi: University Press of Mississippi, 17-50. 290 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="291"?> Horváth, Márta (2022). Felt versus Perceived Emotions: Fear and Empathy While Reading Poe’s „The Pit and the Pendulum“. In: Dies./ Simon, Gábor: Negative Emotions in the Reception of Fictional Narratives. Paderborn: Brill | mentis, 21-42. Hsu, Chun-Ting/ Jacobs, Arthur M./ Altmann, Ulrike/ Conrad, Markus (2015). The Magical Activation of Left Amygdala when Reading Harry Potter: An fMRI Study on How Descriptions of Supra-Natural Events Entertain and Enchant. PLOS ONE 10: 2. Ingarden, Roman (1931). Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft. Halle: Niemeyer. Iser, Wolfgang (1984). Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Wilhelm Fink. Jannidis, Fotis (2004). Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin/ New York: de Gruyter. Johnson-Laird, Philip Nicholas (1995). Mental Models: Towards a Cognitive Science of Language, Inference, and Consciousness. Cambridge: Harvard Univ. Press. Kafalenos, Emma (2006). Narrative Causalities. Columbus: The Ohio University Press. Kintsch, Walter (1998). Comprehension: a paradigm for cognition. Cambridge/ New York: Cambridge University Press. Kovács, András Bálint (2011). Causal Understanding and Narration. Projections 5: 1, 51-68. Levinson, Jerold (1997). Emotion in Response to Art. In: Hjort, Mette/ Laver, Sue (Hrsg.) Emotion and the arts. New York: Oxford University Press, 20-34. Mellmann, Katja (2006a). Emotionalisierung - Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepo‐ che. Paderborn: Mentis. Mellmann, Katja (2006b). Literatur als emotionale Attrappe. Eine evolutionspsycho‐ logische Lösung des „paradox of fiction“. In: Klein, Uta/ Mellmann, Katja/ Metzger, Stefanie (Hrsg.) Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspekti‐ ven auf Literatur. Paderborn: Mentis, 145-166. Mellmann, Katja (2007). Vorschlag zu einer emotionspsychologischen Bestimmung von ‚Spannung‘. In: Eibl, Karl/ Mellmannn, Katja/ Zymner, Rüdiger (Hrsg.) Im Rücken der Kulturen. Paderborn: Mentis, 241-268. Mellmann, Katja (2012a). Is Storytelling a Biological Adaptation? Preliminary Thoughts on How to Pose this Question. In: Gansel, Carsten/ Vanderbeke, Dirk (Hrsg.) Telling Stories. Literature and Evolution. Berlin/ New York: de Gruyter, 30-49. 2.8 Erzähl- und Kognitionsforschung 291 <?page no="292"?> Mellmann, Katja (2012b). Schemakongruenz. Zur emotionalen Auslösequalität filmi‐ scher und literarischer Attrappen. In: Poppe, Sandra (Hrsg.) Emotionen in Literatur und Film. Würzburg: Königshausen & Neumann, 109-125. Nikolajeva, Maria (2009). Harry Potter and the Secrets of Children’s Literature. In: Heilman, Elizabeth E. (Hrsg.) Critical perspectives on Harry Potter. New York: Routledge, 225-241. Peer, Willie Van/ Maat, Henk Pander (1996). Perspectivation and Sympathy. Effects of Narrative Point of View. In: Kreuz, Roger J./ MacNealy, Marie Sue (Hrsg.) Empirical Approaches to Literature and Aesthetics. New York: Ablex Publishing Corporation, 143-156. Peer, Willie van/ Maat, Henk Pander (2001). Narrative perspective and the interpre‐ tation of characters’ motives. Language and Literature: International Journal of Stylistics 10: 3, 229-241. Rangwala, Shama (2009). A Marxist Inquiry into J.K. Rowling’s Harry Potter Series. In: Anatol, Giselle Liza (Hrsg.) Reading Harry Potter again: new critical essays. Santa Barbara/ Calif: Praeger, 127-142. Rapp, David N./ Gerrig, Richard J. (2006). Predilections for narrative outcomes. The impact of story contexts and reader preferences. Journal of Memory and Language 54: 1, 54-67. Reisenzein, Rainer (2000). The Subjective Experience of Surprise. In: Bless, Her‐ bert/ Forgas, Joseph P. (Hrsg.) The Message Within: The Role of Subjective Experi‐ ence In Social Cognition And Behavior. Philadelphia: Psychology Press, 262-279. Rossholm, Göran (2017). Causal Expectation. In: Hansen, Per Krogh/ Pier, John/ Rous‐ sin, Philippe/ Schmid, Wolf (Hrsg.) Emerging Vectors of Narratology. Berlin/ Boston: de Gruyter, 207-228. Schank, Roger C./ Abelson, Robert P. (1977). Scripts, Plans, Goals and Understanding: an Inquiry into Human Knowledge Structures. Hillsdale, NJ: L. Erlbaum. Schanoes, Veronica L. (2003). Cruel Heroes and Treacherous Texts: Educating the Reader in Moral Complexity and Critical Reading in J. K. Rowling’s Harry Potter Books. In: Anatol, Giselle Liza (Hrsg.) Reading Harry Potter: critical essays. Westport: Praeger Publ., 131-146. Strimel, Courtney B. (2004). The Politics of Terror: Rereading Harry Potter. Children’s Literature in Education 35: 1, 35-52. Sugiyama, Michelle Scalise (2005). Reverse-Engineering Narrative: Evidence of Special Design. In: Gottschall, Jonathan/ Wilson, David Sloan (Hrsg.) The literary animal. Evolution and the nature of narrative. Evanston: Northwestern University Press, 177-198. Tan, Ed (1994). Film-induced affect as a wittness emotion. Poetics 23: 1-2, 7-32. 292 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="293"?> Digitale literaturwissenschaftliche Netzwerk‐ analyse (dliNA) Trabasso, Tom/ van den Broek, Paul/ Suh, So Young (1989). Logical Necessity and Transitivity of Causal Relations in Stories. Discourse Processes 12: 1, 1-25. Velleman, David J. (2003). Narrative Explanation. The Philosophical Review 112: 1, 1-25. Wege, Sophia (2013). Wahrnehmung, Wiederholung, Vertikalität. Zur Theorie und Praxis der Kognitiven Literaturwissenschaft. Bielefeld: Aisthesis. Zunshine, Lisa (2006). Why we read fiction. Theory of mind and the novel. Columbus: The Ohio State University Press. 2.9 Digitalisierung und Netzwerk: Eine gendersensible digitale literaturwissenschaftliche Netzwerkanalyse der Wizarding World Mareike Schumacher Netzwerke sind als vereinfachende Darstellungen sozialer Gefüge in Form von Knoten (Nodes) und Kanten oder Relationen (Edges) ein ideales Hilfs‐ mittel zur Analyse des Figurenarsenals literarischer Texte. Darum verwun‐ dert es auch nicht, dass netzwerkanalytische Zugänge in den Literaturwis‐ senschaften keine Neuheit sind, sondern in zahlreichen grundlegenden Bereichen verankert, wie z. B. in der Figurenanalyse, der Forschung zu Brief-Korrespondenzen oder in der Intertextualitätsforschung (vgl. Schu‐ macher 2018). Dennoch stellt die vermehrte Nutzung sozialer Netzwerka‐ nalysen (SNA) einen Methodenimport aus den empirischen Sozialwissen‐ schaften dar, der erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts seinen Niederschlag in literaturwissenschaftlichen Arbeiten findet (vgl. Trilcke 2013, S. 219). Neu ist vor allem der Fokus auf quantitative Aspekte (vgl. Trilcke 2013), der es erlaubt, entweder mehr Einheiten eines Typs (z. B. Figuren) oder mehr Parameter (z. B. sowohl Figuren als auch deren Beschreibungen) zu berücksichtigen. Netzwerke können manuell (vgl. z. B. Moretti 2011) oder digital erstellt werden (vgl. z. B. Agarwal et al. 2012, Algee-Hewitt et al. 2017, Fischer & Skorinkin 2021). Werden digitale Tools eingesetzt, um Netzwerke zu erstellen, so bringen diese u. a. den Vorteil mit sich, Algorithmen für die räumliche Organisation der Netzwerkdaten zu nutzen. Wie auch einige andere Methoden in den digitalen Geisteswissenschaften - besonders prominent derzeit bspw. die Erstellung großer Sprachmodelle wie GPT basierend auf der Umrechnung von Wörtern in Vektoren - kann die Netzwerkanalyse dazu eingesetzt werden, bestimmte mathematische 2.9 Digitalisierung und Netzwerk 293 <?page no="294"?> Knoten und Kanten Prinzipien auf Merkmale von Storyworlds anzuwenden. Gerade in trans‐ medial angelegten und/ oder gewachsenen Storyworlds wie der Wizarding World oder dem Multiversum der Marvel-Comics, in denen Strukturen vielfältig und darum nicht immer unbedingt offenbar angelegt sind, kann eine (digitale) literaturwissenschaftliche Netzwerkanalyse - nach Trilcke (2013) liNA oder dliNA abgekürzt - verborgene Muster sichtbar machen. 2.9.1 Grundlagen der dliNA Die Basis eines jeden Netzwerkes sind Knoten (Nodes) und Kanten (Edges). Jede Art von konkretem Untersuchungsobjekt kann als Knoten definiert werden: Figuren, Orte, Beschreibungen usw. (vgl. Moretti 2011). Da in mul‐ tidimensionalen Netzwerken (Graphen) auch mehr als ein Untersuchungs‐ objekt betrachtet werden kann, können für die Knoten unterschiedliche Typen angelegt werden. In unserer Beispielanalyse werden drei Knotentypen berücksichtigt, nämlich Figuren, Beschreibungen und Genderrollen. Die Kanten sind die Beziehungen zwischen den einzelnen Knoten. Auch hier ist es möglich, zwischen unterschiedlichen Typen zu unterscheiden. Die grundlegendste Unterscheidung ist die zwischen gerichteten und ungerichteten Relatio‐ nen. In Korrespondenznetzwerken gibt es z. B. immer einen Sendenden und einen Empfangenden und damit eine Richtung. Zeigt ein Netzwerk dagegen Kopräsenzen zweier Akteure in einem (Bühnen-)Raum wie z. B. häufig in der Dramennetzwerkanalyse, so ist die Relation eine ungerichtete. Es ist aber auch möglich, den Relationen qualitative Kategorien zuzuweisen, Trilcke (2013: 213) nennt das Relationsinhalte oder ‚Types of Ties‘. Wiedmer, Pagel und Reiter (2020) unterscheiden z. B. zwischen familiären, romantischen und beruflichen Beziehungen von Figuren. Schließlich können Kanten auch noch gewichtet werden. Komplexe Graphen können Zehntausende einzelner Knoten unterschiedlicher Typen aufweisen, die durch potenziell kategorisierte und gewichtete Kanten miteinander verknüpft sind. Die dliNA erreicht allerdings nicht oft diese Dimensionen. Eine Netzwerkana‐ lyse wird selten als ausschließliche Methode einer Untersuchung genutzt und ist eher dazu gedacht, andere qualitative oder quantitative Ansätze zu ergänzen (vgl. Fischer und Skoronkin 2021: 517). 294 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="295"?> 50 Die digitale Netzwerkanalyse ist eine Methode, die in den Digital Humanities weit verbreitet ist. Die meisten der hier genannten Vor- und Nachteile gelten nicht spezifisch für die liNA, sondern auch für andere Kultur- und Geisteswissenschaften. Da wir uns hier aber auf die Literaturwissenschaften konzentrieren, fokussiere ich dieses Einsatzgebiet. 51 Eine Übersicht über unterschiedliche Netzwerk-Algorithmen und ihre Grundfunkti‐ onsprinzipien ist zu finden in Schumacher (2024). Einsatz in den Litera‐ turwissen‐ schaften Netzwerk- Algorith‐ mus Digital erstellte Netzwerke oder Graphen haben einen dreifachen Mehr‐ wert für literaturwissenschaftliche Analysen 50 : 1. Netzwerke oder Graphen sind Visualisierungen, die bestimmte Aspekte literarischer Texte verdeutlichen können. 2. Mithilfe einer algorithmisch umgesetzten physikalischen Simulation können soziale Strukturen sichtbar gemacht werden. 3. Auf Basis der Anzahl von Relationen können unterschiedliche Netz‐ werk-Metriken berechnet werden. Grundsätzlich ist es bei einer Methode wie der Netzwerkanalyse, für die Visualisierungen zentral sind, aber auch wichtig zu betonen, dass deren Interpretation immer auf Basis eines Grundverständnisses der technischen Spezifika vorgenommen werden sollte. Das Lesen und Interpretieren von Netzwerkgraphen erfordert darum eine gewisse Data Literacy, d. h. die Datengrundlage einer solchen Studie muss eingeordnet werden können. 2.9.1.1 Parameter der digitalen Netzwerkanalyse Die Position eines Knotens innerhalb des Netzwerkes zeigt dessen Nähe oder Ferne zu anderen Knoten. Eine der großen Stärken der dliNA ist, dass sie nicht nur die unmittelbaren Beziehungen eines Knotens berücksichtigt, sondern alle im Netzwerk vorhandenen Beziehungen. Die algorithmische Erstellung von Netzwerken folgt dem Grundgedanken, dass Knoten einan‐ der anziehen wie Magnete und dass Kanten diese auseinanderdrücken wie Sprungfedern. Der gängigste Netzwerkanalyse-Algorithmus, der auf diesem Prinzip beruht, und der auch hier zum Einsatz kommt, heißt Force Atlas 2. 51 Ein Netzwerk-Algorithmus (auch Layout genannt) ist darauf ausgerichtet, das Equilibrium zwischen der Anziehungskraft der Knoten und der Absto‐ ßung der Kanten zu finden. Dieser Idealzustand eines Kräftegleichgewichts kann jedoch nicht erreicht werden. Dies ist einer der Gründe, warum eine Visualisierung als Netzwerk immer nur eine Perspektive auf einen Datensatz zeigt. Bei der Netzwerkanalyse werden oft viele der verfügbaren visuel‐ 2.9 Digitalisierung und Netzwerk 295 <?page no="296"?> Visualisie‐ rungspara‐ meter len Variablen (Knotengröße, -form und -farbe, Kantendicke und -farbe) und Gestaltgesetze (Nähe, Verbundenheit, gemeinsame Regionen etc.) (vgl. Horstmann und Stange 2024) zur Informationsvisualisierung genutzt. Andere optische Informationen, wie z. B. die Ausrichtung des Netzwerks, vermitteln keine Information, sodass es z. B. unbedeutend ist, ob ein Knoten oben oder unten in einem Graphen erscheint. 2.9.1.2 Netzwerke interpretieren Nicht zuletzt durch die Nutzung grundlegender Visualisierungsparameter werden viele Informationen im Netzwerk sichtbar (vgl. Moretti 2011: 11). Dabei spielt der Raum eine zentrale Rolle. Netzwerke zeigen räumlich, was sich in Dramen oder Narrativen zeitlich entwickelt. Dadurch werden Figurenräume sichtbar (vgl. Moretti 2011: 3-4), ebenso wie der Einfluss, den eine Figur im sozialen Gefüge hat. Es ist z. B. sofort erkenn‐ bar, welcher Knoten im Netzwerk derjenige ist, der am stärksten vernetzt ist. Die größte Stärke der dliNA besteht jedoch in der mathematischen Präzision mithilfe derer Relationen beschrieben und quantifiziert werden können (vgl. Algee-Hewitt 2017: 752). Einige zentrale Netzwerkmetriken und ihre Berechnungsweisen werden darum hier kurz erklärt: Merkkasten: Netzwerkmetriken • Größe: Anzahl der im Netzwerk enthaltenen Knoten • Dichte: Verhältnis aller im Netzwerk vorhandener Relationen zu allen Relationen, die in einem Netzwerk der entsprechenden Größe möglich wären Knotenspezifische Metriken • Degree: Summe der direkten Beziehungen, die ein Knoten aufweist • Betweenness-Centrality: die Anzahl der kürzesten Wege von einem Knoten zu einem anderen, die durch diesen Knoten hin‐ durchführen, ist besonders hoch (der Knoten verbindet ansonsten unverbundene Areale des Netzwerkes) • Eigenvektorzentralität: Gewichtung eines Knoten, bei der verbun‐ dene Knoten höher bewertet werden, die selbst viele Verbindun‐ gen aufweisen 296 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="297"?> Filterfunkti‐ onen und Clustering Netzwerkanalyse-Software wie die gängige Software Gephi (Bastian et al.) macht es möglich, mit den Strukturdaten von Storyworlds zu experimen‐ tieren (vgl. Moretti 2011: 5). Fragen, denen wir mithilfe solcher Software nachgehen können, sind z. B.: Was passiert mit dem sozialen Gefüge der Wizarding World, wenn wir Harry Potter herausrechnen? Was würde von der Wizarding World übrig bleiben, wenn wir alle männlichen Charaktere herausnehmen? Wie sieht ein Ego-Netzwerk (vgl. Trilcke 2013: 215) von Lord Voldemort aus, das seine soziale Integration oder Desintegration deutlich macht? Solchen Fragen können wir mithilfe von gefilterten Netzwerken nachgehen und somit zeigen, welche strukturelle Bedeutung bestimmte Charaktere im sozialen Gefüge haben. Neben der Filterfunktion ist Clus‐ tering eine etablierte Methode der dliNA. Hierbei werden Regionen im Netzwerk fokussiert, deren Knoten besonders viele Dreieckskonstellationen (Triaden) aufweisen (vgl. ebd.). Grundlage des Clusterings ist die Annahme, dass, wenn A und B eine Relation verbindet und A und C, es besonders wahrscheinlich ist, dass es auch eine Beziehung zwischen B und C gibt (vgl. Moretti 2011: 6). Je besser die Knoten untereinander vernetzt sind - je höher ihr ‚Cluster Koeffizient‘ ist - desto ähnlicher bleibt das Netzwerk, wenn ein einzelner Knoten entfernt wird. Die dliNA ist eine Methode aus dem Spektrum der Distant-Reading-An‐ sätze. Dabei wird gewissermaßen aus dem Text herausgezoomt, um eine Struktur zu betrachten, die zwar aus dem Text gewonnen wurde, die aber nicht mehr dem (gesamten) Text entspricht. Betrachtet werden statt des gesamten Textes nur einzelne aus dem Text gewonnene Aspekte. Merkkasten: Distant Reading Distant Reading ist eine Forschungsmethode, die in Abgrenzung zum Close Reading (→ Band 3: II.1.3) entwickelt wurde. Franco Moretti (2013) folgend, ist es eine Technik des Nicht-Lesens von Texten, die dazu dient, statt einzelner Texte Textkorpora in den Blick zu nehmen. Dieses Nicht-Lesen kann unterschiedlich ausgeführt werden, in den digitalen Geisteswissenschaften ist aber die Auswertung von Texten mithilfe von Computerprogrammen die gängigste Form. Beim Distant-Reading wird nicht direkt am Text gearbeitet, sondern der Text häufig als Grundlage für Datenerhebungen (in diesem Falle Netzwerkdaten) genutzt. Werden diese Daten dann analysiert und in‐ terpretiert, so wird in der Regel statt einer Referenz zu jeder einzelnen 2.9 Digitalisierung und Netzwerk 297 <?page no="298"?> 52 Eine umfassende vergleichende Analyse solcher Ansätze liefern Labatut und Bost (2019). Textstelle ein Datenzitat gemacht. (In dieser Einführung werden sol‐ che Datenreferenzen nicht gemacht, da die erhobenen Netzwerkdaten mehr als 10 % von urheberrechtlich geschützten Texten umfassen und somit nicht publiziert werden dürfen.) Das Spektrum der dliNA umfasst sowohl die Betrachtung einzelner Texte (vgl. z. B. Moretti 2011, Agarwal et al. 2012), als auch kleiner (z. B. Ryd‐ berg-Cox 2011) und großer Korpora. Im Rahmen dramenanalytischer Zu‐ gänge wurden mittels Netzwerkanalysen bereits diachrone Betrachtungen über mehrere Jahrhunderte hinweg sowohl für den deutsch- (Fischer et al. 2018) als auch für den englischsprachigen Kulturraum (Algee-Hewitt 2017) durchgeführt. Aufgrund der hohen Strukturierung (Gliederung in einzelne Szenen und Akte, Markierung der Redebeiträge durch Voranstellung der sprechenden Figuren) ist die automatisierte Erstellung von Netzwerken für die Dramenanalyse einfacher umsetzbar als für narrative Texte. Dennoch wurden bereits Workflows für die automatisierungsgestützte Erstellung von Netzwerken für einzelne Texte (vgl. Blessing et al. 2021) und mittelgroße Korpora (vgl. Elson et al. 2010) vorgestellt. 52 Die Betrachtung eines Netzwerkes oder Graphen eines einzelnen Textes ist zwar dazu geeignet, grobe Einschätzungen über das soziale Gefüge einer Storyworld hervorzubringen und Hypothesen zu generieren. Allerdings ist sie, wie Trilcke und Fischer (2018) es ausdrücken, „nur […] bedingt forschungsrelevant“ und „lohnen nicht der Anstrengung“. Interessant wird es, wenn ein Korpus, bestehend aus mehreren Texten, betrachtet wird. Da das Forschungsinteresse nicht dem Text als solchem gilt, sondern einer Abstraktion davon, kommen wir der Storyworld im Sinne Ryans, als „imagined totality that evolves according to the events in the story“ (Ryan 2015: 13) ein wenig näher. Dies ist mit Sicherheit einer der Gründe dafür, dass vor allem transmediale Storyworlds wie das Marvel-Multiversum (z. B. Alberich & Rosello 2002) bereits zur Grundlage netzwerkanalytischer Forschungsansätze wurden. 298 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="299"?> 53 Aus Gründen der Einheitlichkeit nutze ich die Abkürzungen der englischen Titel. Die Analyse fußt aber auf den deutschen Übersetzungen. 2.9.2 Netzwerkanalytische Vermessung der Wizarding World Im Folgenden wird die Wizarding World netzwerkanalytisch betrachtet, wobei das Hauptinteresse auf der Charakterisierung von Figuren, inkl. der Darstellung von Gender (→ Band 3: II.2.4) liegt. Die dliNA wird zur Beant‐ wortung der Frage genutzt, ob es genderspezifische Figurendarstellungen in der Wizarding World gibt und ob diese sich verändern. Als Ausgangspunkt (Baseline) dient Harry Potter und der Stein der Weisen (PS  53 ). Figurenanalysen der Wizarding World liegen bereits in großer Zahl vor. Auch Betrachtungen der Darstellung von Identität wurden bereits durchgeführt. In Bezug auf Genderdarstellungen wurde als Spannungsfeld erkannt, dass die primäre Lesart der Harry Potter-Romane stark heteronormativ ist, dass aber gleichzeitig eine Fülle von Fanfictions die Wizarding World in queerer Weise (→ Band 3: II.2.4) fortschreibt und umdeutet (vgl. Cuntz-Leng 2017: 92). Cuntz-Leng schlussfolgert, dass eine gewisse Offenheit und Am‐ biguität in der Charakterisierung von Figuren der Wizarding World die Basis für die zahlreichen (queeren) Umdeutungen bildet (vgl. ebd.: 94). Da eine Grundlage dieser Offenheit die Erzähltechnik der Auslassung ist (vgl. ebd.: 96), bietet sich eine digitale Netzwerkanalyse, die mit dem operiert, was an der Textoberfläche in Form von Wortindikatoren sichtbar ist, nicht an, um alternative Lesarten zu entwickeln. Stattdessen kann sie aber umfassend zusammenführen, was im Text offen dargestellt wird und darüber hinaus verborgene Muster ausfindig machen, die bei einer manuell durchgeführten Studie aufgrund der Beispielhaftigkeit des Vorgehens unsichtbar bleiben. Die sieben Harry Potter-Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und wirken so auf unterschiedliche Kulturräume. Das betrifft unter anderem die Darstellung von Gender, die ausgesprochen tief in den jeweiligen sprach‐ lichen Charakteristika verankert ist. Im deutschen Sprachraum zeigen die un‐ tersuchten Genderrollen linguistische Gendermarker. So wird z. B. zwischen Freund und Freundin unterschieden. Die meist adjektivischen Beschreibun‐ gen zeigen hingegen keine Gendermarker (was in romanischen Sprachen anders ist). Die hier durchgeführten Analysen sind damit kulturraumspezi‐ fisch und können weder global verallgemeinert noch für die englische Sprache reproduziert werden. Die gezeigte sprachspezifische Analyse kann allerdings 2.9 Digitalisierung und Netzwerk 299 <?page no="300"?> 54 Obwohl es denkbar wäre, große Teile der oder sogar die gesamte Wizarding World mithilfe von dliNA zu vermessen, liegt der Fokus hier aufgrund der Beispielhaftigkeit der vorliegenden Analyse auf einer textbasierten Untersuchung der ersten drei Romane. einen Teil dazu beitragen, die Wizarding World aus unterschiedlichen kultur- und wirkungsraumspezifischen Perspektiven zu betrachten. 2.9.2.1 Methodisches Vorgehen Die drei ersten Harry Potter-Romane wurden zunächst teilautomatisch im Hinblick auf Genderrollen und Figurenbeschreibungen annotiert. 54 Für die Klassifizierung von Genderrollen wurde der auf Machine Learning beru‐ hende Gender-Classifier (Schumacher 2021) genutzt. Dieser Classifier er‐ kennt Frauen- (z. B. ‚Freundin‘), Männer- (z. B. ‚Lehrer‘) und genderneutrale (z. B. ‚Person‘) Rollen. Das Modell wurde mit manuellen Annotationen aus dem ersten Harry Potter-Band einem Finetuning unterzogen und so auf eine Erkennungsgenauigkeit von rund 90 % gebracht. Die automatisch erstellten Annotationen wurden anschließend manuell verbessert. Im gleichen Zuge wurden Figurenbeschreibungen annotiert. Die Beschreibungen wurden kategorisiert in Beschreibungen der Figur (Label: Eigenschaften) und Be‐ schreibungen ihrer Kleidung (Label: Kleidung). Die aus den Daten erstellten Netzwerke weisen folgende Knotentypen auf: Figuren, Genderrollen, Eigen‐ schaften, Kleidung. Der Knotentyp Genderrollen wurde mit den Properties ‚weiblich‘, ‚männlich‘ und ‚neutral‘ untergliedert. Die Kanten wurden als ungerichtete Relationen angelegt. Direkte Verbindungen zwischen Figuren gibt es nicht, d. h. Nähe zwischen Figuren kann nur durch dieselben Genderrollen, Eigenschaften und Kleidung entstehen. Dieser Ansatz konterka‐ riert zwar die Grundidee der sozialen Netzwerkanalyse, dass gerade nicht Eigenschaften sozialer Akteure, sondern nur ihre Beziehung zueinander im Zentrum stehen (vgl. Trilcke 2013: 209). Dafür führt der hier gewählte Zugang die praxeologischen Aspekte der Methodik mit dem literaturwis‐ senschaftlichen Kerninteresse der Figurencharakterisierung (→ Band 1: II.3.2.2) zusammen. Gleichzeitig ist es möglich, Genderdarstellungen in ihrer Vielfalt zu betrachten, statt einzelnen Charakteren von vornherein eine Genderzugehörigkeit zuzuweisen. 300 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="301"?> 2.9.2.2 Die Baseline: Netzwerk des ersten Harry Potter-Romans Die Netzwerkdarstellung von Harry Potter and the Philosopher’s Stone (PS) (vgl. Abb. 1) weist insgesamt 880 Knoten und 1120 Kanten auf. Von den 880 Knoten sind 110 Figuren, 553 Eigenschaften, 76 Kleidung und 159 Genderrollen. Von den insgesamt 159 Genderrollen sind 54 % männlich (87). Es kommen 49 weibliche Genderrollen vor (30 %) und 23 genderneutrale (14 %). Jeder Knoten weist im Durchschnitt 2,5 Kanten auf, die Kantendichte liegt bei 0,003 und es gibt 22 verbundene Komponenten. Diese Metriken sagen erst einmal nicht viel, denn erst der Vergleich mit den anderen Netzwerken im Korpus ermöglicht eine quantitative Einschätzung (s. o.). Abb. 1: Netzwerkvisualisierung PS. Farbschema: Figuren - dunkelblau, Eigenschaften - hell‐ blau, Kleidung - Orange, Genderrollen weiblich - grün, männlich - rot, neutral - mittelblau. Interessanter ist die Gestaltung der Cluster: Das Netzwerk zeigt klare räum‐ liche Zuordnungen bestimmter Charaktere zueinander. Die Professoren 2.9 Digitalisierung und Netzwerk 301 <?page no="302"?> Dumbledore, McGonagall und Quirrel stehen dicht beieinander, während Professor Snape abseits zu finden ist. Es gibt eine Region, die ein Feld der Zauberer-Familie zeigt und die zwei Untergebiete aufweist. In einem sind die Brüder Rons zu finden - einander z. B. über die flammend roten Haare und ihre Rolle als Treiber beim Quidditch ähnlich charakterisiert - in dem anderen Mutter- und Vater-Figuren wie Molly und Arthur Weasley, Lily und James Potter. Die antagonistischen Figuren Draco Malfoy und Lord Voldemort sind randständig in ihrer Charakterisierung. Auch die Familie Dursley befindet sich am Rande des Netzwerks, wo sie ein eigenes Cluster bildet. Die negativ gezeichneten Charaktere werden über ihre Beschreibungen also sozial isoliert dargestellt; sie teilen nur wenige Züge mit anderen Figuren. Abb. 2: Areale im PS-Netzwerk und einzelne, randständige Figuren Werden die Figuren Voldemort oder Draco aus dem Netzwerk heraus gerech‐ net, so verändert sich dieses in seiner Struktur nur minimal. Auf der anderen Seite ist Harry sozial so gut eingebunden, dass es ebenfalls nur eine kleine 302 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="303"?> Veränderung am Netzwerk auslöst, wenn er herausgerechnet wird. Was die Visualisierung graphisch abbildet, legen auch die mathematisch errechneten Werte nahe: Harry, der die höchstmögliche Eigenvektorzentralität (1) erreicht, ist sozial so gut eingebunden, dass die Cluster, in denen er sich bewegt, auch ohne ihn gut vernetzt sind. Da er umgeben ist von anderen hochvernetzten Figuren, wird er - für das Netzwerk - nahezu verzichtbar. Voldemort weist hingegen nur eine Eigenvektorzentralität von 0,072 auf, Draco nur einen leicht besseren Wert von 0,099. Beide tendieren also Richtung Nullwert. Sie sind nicht nur deutlich weniger vernetzt als Harry, die Verbindungen, die sie zeigen, sind im Sinne der Eigenvektorzentralität auch weniger wert, da die Figuren, mit denen sie verbunden sind, selbst nur wenige Verbindungen aufweisen (vgl. Abb. 3). Abb. 3: PS-Netzwerkvisualisierungen, in denen jeweils ein Charakter herausgerechnet wurde Die hohe Vernetzung Harrys mit anderen Figuren bedeutet, dass er sehr viele Merkmale mit anderen teilt. Er ist eher eine Art ‚primus inter pares‘ als ein Star. Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch die Tatsache, dass der erste Band nicht den Netzwerktypen eines Star-Netzwerks, sondern ein Multi-Protagonist: innen-Setup ausbildet (vgl. Schumacher und Flüh 2023). Genauer ausgedrückt, handelt es sich um ein Dreiecks-Setup mit den drei Protagonist: innen Harry, Ron und Hermine. Ergänzend ist aber zu sagen, dass in diesem ersten Band auch Neville Longbottom eine große Nähe zum Protagonist: innen-Kreis aufweist. Auffällig sind außerdem die Rollen von Hagrid und Ron. Diese beiden Figuren zeigen, abgesehen von Harry, die meisten Beschreibungen und Genderrollen in ihrem Profil. Mit einem Degree von 93 (Ron) und 84 (Hagrid) weisen sie zwar deutlich weniger Charakterisierungen auf als Harry (150), aber auch deutlich mehr als die rangnächste Figur Hermine (58). Beide Figuren zeigen eine hohe Between‐ 2.9 Digitalisierung und Netzwerk 303 <?page no="304"?> 55 Ich folge hier einer in früherer Forschung entwickelten Begrifflichkeit von Figurengender: als weiblich werden Figuren definiert, die überwiegend mit weiblichen Genderrollen bezeichnet werden; männlich ist eine Figur, wenn sie mit überwiegend männlichen Genderrollen bezeichnet wird; eine neutrale Figur ist eine Figur, die überwiegend mit neutralen Rollen bezeichnet wird. Divers ist eine Figur, wenn sie in relativ ausgewogener Weise mit männli‐ chen, weiblichen und neutralen Rollen bezeichnet wird. (vgl. Schumacher & Flüh 2023) ness-Zentralität (Ron: 85544, Hagrid: 59084): Sie tragen maßgeblich zur Verknüpfung bestimmter Areale des Netzwerkes bei. Darum wirkt es sich deutlich auf die Struktur des Netzwerkes aus, wenn Ron oder Hagrid aus dem Netzwerk herausgerechnet werden. Ron stellt die Verbindung zu dem Teil des Netzwerks her, in dem Figuren zu finden sind, die für die magischen Familien stehen. Rons Bedeutung für das soziale Gefüge fußt also auf seiner Bedeutung als Familienmensch und vor allem als Link zu den Weasleys als der Figurengruppe, die Bürvenich (2011: 74) als Harrys „Wahlfamilie“ bezeichnet. Hagrids Figurenprofil weist hingegen eine besonders große Heterogenität der Eigenschaften auf. Hagrid hat z. B. schwarze Augen wie Snape, ist vergnügt wie Dumbledore, spricht mit zorniger Stimme wie Draco, hat aber auch einen finsteren Blick wie Onkel Vernon und schreibt sich - in Bezug auf den Drachen Norbert - selbst die Rolle der ‚Mami‘ zu, was ihn mit Molly Weasley verbindet. Hagrids Rolle zeichnet sich also durch Vielfalt und einen gewissen Überraschungsfaktor aus. Durch diese vielfältigen Ähnlichkeitsrelationen verbindet Hagrid Bereiche des Netzwerkes, die sonst weit voneinander entfernt stehen würden (vgl. Abb. 4). Abb. 4: PS-Netzwerkvisualisierungen, in denen jeweils ein Charakter herausgerechnet wurde In Bezug auf die Gendersphäre fällt im PS-Netzwerk auf, dass weibliche Figuren 55 kein eigenes Cluster bilden (vgl. Abb 1). Insgesamt zeigt sich eine 304 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="305"?> 56 Das Nachbarschaftsnetzwerk hat dann eine Tiefe von 2, da sowohl Knoten enthalten sind, die in direkter Verbindung mit weiblichen Genderrollen stehen (Figuren) als auch Knoten, die indirekt mit Genderrollen verbunden sind, nämlich über die ersten Nachbarn (Eigenschaften). starke Dominanz männlich charakterisierter Figuren: Wenn ein ‚Nachbar‐ schaftsnetzwerk‘ erstellt wird, das Figuren und deren Eigenschaften 56 zeigt, die in Verbindung mit weiblichen Genderrollen stehen, so ist dieses Netzwerk vergleichsweise klein. Von 110 Figuren-Knoten im gesamten Netzwerk bleiben nach Einsatz dieses Filters nur 24 übrig, von denen 22 tatsächlich für weibliche Figuren stehen. Zwei männliche Figuren verbleiben im Netzwerk, da sie neben überwiegend männlichen Genderrollen auch jeweils eine weibliche Rolle in ihrem Profil aufweisen. Hagrid bezeichnet sich selbst, wie bereits erwähnt, als ‚Mami‘ des Drachen Norbert; Neville Longbottom wird ‚Heulsuse‘ genannt. Auffallend ist außerdem, dass die Figuren in diesem Netzwerk eher lose miteinander verbunden sind, da es nicht viele Eigenschaften gibt, die von mehreren Figuren geteilt werden. Die am häufigsten geteilte Eigenschaft ‚klein‘ wird lediglich zur Charakterisierung von vier Figuren genutzt. Abb. 5: PS-Nachbarschaftsnetzwerk von Figuren mit weiblichen Genderrollen 2.9 Digitalisierung und Netzwerk 305 <?page no="306"?> Wird das Gesamtnetzwerk so gefiltert, dass nur die Nachbarschaft (mit einer Tiefe von 2) von Knoten angezeigt wird, die für männliche Rollen stehen, so bleibt ein Netzwerk übrig, in dem insgesamt 55 Figuren zu sehen sind. Davon sind 5 Figuren weiblich. Professor McGonagall wird als ‚Lehrer‘, Katie Bell als ‚Jäger‘ und Hermine, Molly und Ginny als ‚Zauberer‘ bezeichnet. Dass die Bezeichnung ‚Zauberer‘ genutzt wird, zeigt eine gewisse Inkonsequenz der ansonsten genderspezifischen Bezeichnung von Figuren als entweder Zauberer (männlich) oder Hexe (weiblich). Im Gegensatz zum weiblichen Nachbarschaftsnetzwerk ähnelt das männliche in seiner Form dem Gesamt‐ netzwerk stark. Das Herausfiltern der 18 weiblichen Charaktere, die sich in diesem Nachbarschaftsnetzwerk nicht zeigen, hat fast keine Konsequenz für das soziale Gefüge der Figuren. Abb. 6: PS-Nachbarschaftsnetzwerk von Figuren mit männlichen Genderrollen 306 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="307"?> Im Vergleich mit früheren Arbeiten zu genderspezifischer Figurencharakte‐ risierung (vgl. Schumacher und Flüh 2023) zeigt sich, dass die Figuren in PS jeweils relativ wenige Genderrollen in ihrem Profil aufweisen. Die Charak‐ terisierung wird viel stärker über Eigenschaften und Kleidung durchgeführt. Dass Genderrollen vergleichsweise geringe quantitative Bedeutung haben, lässt zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder ist Gender im ersten Band von Harry Potter, der ‚Keimzelle‘ der Wizarding World, kein bedeutsames Thema. Oder aber die mangelnde Determiniertheit von Genderrollen ist Ansatzpunkt für Lesarten, die von der Heteronormativität der Oberfläche abweichen, so wie es Cuntz-Leng (vgl. 2011: 98) beschrieben hat. Des Weite‐ ren lässt sich festhalten, dass die Baseline eine stark männlich dominierte soziale Welt zeigt, ein Befund der datenbasiert und damit auf ganz andere Weise Thesen stützt, die auch in nicht-digitaler Forschung zur Wizarding World bereits eine wichtige Rolle eingenommen haben wie z. B. in der Analyse der Zauberstab-Symbolik von O’Brien (vgl. 2013: 67). 2.9.2.3 Die Entfaltung der Wizarding World: Netzwerk von Harry Potter and the Chamber of Secrets und Harry Potter and the Prisoner of Azkaban Um einen Vergleich der Folgebände exemplarisch anzudeuten, werden die Me‐ triken der Gesamtnetzwerke der ersten drei Harry Potter-Romane im Vergleich (vgl. Tabelle 1) betrachtet. Die Netzwerkgröße nimmt ständig zu, was aber dadurch relativiert wird, dass auch der Umfang der Romane zunimmt. Auffällig ist, dass die Anzahl der Knoten, die für Figuren stehen, mit 110, 112 und 115 nahezu gleich bleibt. Die Anzahl der genannten Genderrollen steigt hingegen deutlich an, wobei auch hier der wachsende Umfang der Romane berücksichtigt werden muss. Besonders interessant ist nun die prozentuale Verteilung der Genderrollen auf die Kategorien ‚männlich‘, ‚weiblich‘ und ‚neutral‘. Während der Anteil der männlichen Genderrollen stetig abnimmt (insgesamt um rund 5 %), nehmen neutrale und weibliche Rollen zu (neutral insgesamt rund 2 %, weiblich rund 4 %). Mit diesen Zahlenwerten kann die These untermauert werden, dass weibliche Rollen im Verlauf der Romanserie bedeutsamer werden (vgl. Heilmann und Donaldson 2008: 143). Der mittlere Vernetzungsgrad und die Dichte bleiben in allen drei Netzwerken nahezu gleich niedrig. Diese Zahlenwerte spiegeln eine Be‐ obachtung wider, die wir in früherer Forschung schon gemacht haben (vgl. Schumacher & Flüh 2023): Literarische Figuren werden stärker über 2.9 Digitalisierung und Netzwerk 307 <?page no="308"?> individuelle Merkmale charakterisiert als über geteilte. Schließlich zeigt der Vergleich einiger zentraler Metriken, dass die Anzahl der verbundenen Komponenten in den Netzwerken der ersten drei Harry Potter-Romane sinkt. Das heißt, es bilden sich weniger soziale Gruppen. Netzwerkmetrik PS (Baseline) CoS 02 PoA 03 Knotenzahl 880 1424 1637 Figuren 110 112 115 Genderrollen 159 231 294 männlich 87 (54,7 %) 116 (50,43 %) 146 (49,66 %) neutral 49 (30,82 %) 75 (32,62 %) 94 (31,97 %) weiblich 23 (14,47 %) 39 (16,96 %) 54 (18,37 %) Eigenschaften 553 964 1101 Kleidung 76 116 127 Kantenzahl 1120 1921 2298 Mittlerer Grad 2,5 2,7 2,8 Kantendichte 0,003 0,002 0,002 Verbundene Komponenten 22 15 15 Tabelle 1: Netzwerkmetriken der ersten drei Harry Potter-Romane Vergleicht man alle drei Gesamtnetzwerke (vgl. Abb. 7), so fällt zunächst die relativ stabile zentrale Position des Protagonisten auf. Gestützt wird dieser Eindruck von den Netzwerkmetriken: Harry weist immer die höchsten Werte bei den Zentralitätsmaßen Eigenvektor-Centrality und Between‐ ness-Centrality auf. Auch Ron und Hermine stehen immer an einer ähnlichen Position nahe Harry. 308 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="309"?> 57 Zur Erinnerung: Im Nachbarschaftsnetzwerk, das nach weiblichen Rollen gefiltert wird, befinden sich auch männliche Figuren, denen eine weibliche Genderrolle zugeschrieben wird wie Hagrid und Neville. Abb. 7: Netzwerke der Figuren, ihrer Genderrollen, Eigenschaften und Kleider in den ersten drei Harry Potter-Romanen Werden die Netzwerke so gefiltert, dass sich ein Nachbarschaftsnetzwerk weiblicher Genderrollen mit einer Tiefe von zwei zeigt, so wird sichtbar, dass so etwas wie ein weiblicher Part der Gendersphäre marginal bleibt (vgl. Abb. 8). Heilmann und Donaldson (2008) betonen in ihrer Analyse der weiblichen Figuren der Wizarding World deren Andersartigkeit im Vergleich zu den männlichen Figuren; eine Lesart, die von diesem datenbasierten Befund nicht gestützt werden kann. Die femininen Figuren heben sich im Gegenteil nicht besonders stark von den männlichen ab, wenn man alle Merkmale ihrer Charakterisierung in Relation setzt. Merkmale, die viele weibliche Figuren untereinander verbinden, gibt es nur wenige. Im ersten Teil ist es die Eigenschaft ‚klein‘, die von vier Figuren geteilt wird (s. o.). Dasselbe Merkmal ist im zweiten Teil mit sechs Figuren aus dem Nachbar‐ schaftsnetzwerk weiblicher Rollen verbunden. Im dritten Teil zeigen dann jeweils vier Figuren des gefilterten Netzwerks die folgenden Eigenschaften: laut, klein, zornig, wütend, nachdenklich, empört. Die Eigenschaft, die in den ersten drei Bänden die meisten weiblichen Figuren miteinander verbindet (‚klein‘) ist aber keineswegs genderspezifisch: Im ersten Teil ist diese Eigen‐ schaft z. B. mit insgesamt 12 Figuren verbunden und nur drei davon sind weiblich 57 . Außerdem kann eine Feststellung wie die, dass Hermine im ersten Band im Gegensatz zu ihren männlichen Freunden Nervosität zeige (vgl. Heilmann & Donaldson 2008: 146), durch eine systematische, datenbasierte 2.9 Digitalisierung und Netzwerk 309 <?page no="310"?> Analyse widerlegt werden. Das Merkmal ‚nervös‘ ist im Netzwerk des ersten Bandes mit sieben Figuren verbunden, Hermine ist neben Harry, Ron, Hagrid, Neville, Professor Quirell und dem Zentauren Ronan darunter die einzige weibliche Figur. In den ersten drei Bänden zeigen insgesamt 14 Figuren Nervosität, davon sind vier weiblich und zehn männlich. Abb. 8: Nachbarschaftsnetzwerke mit einer Tiefe von zwei der weiblichen Genderrollen in den ersten drei Harry Potter-Romanen Von den 110-115 Figuren der ersten drei Romane sind nur 21 Figuren im ersten, 26 im zweiten und 24 im dritten Teil weiblich. Der prozentuale Anteil schwankt zwischen 19 % und 23 %. In den Nachbarschaftsnetzwerken weib‐ licher Genderrollen fällt außerdem auf, dass immer auch nicht-weibliche Figuren im Netzwerk verbleiben, da sie mit weiblichen Rollen belegt werden. Im zweiten Band verbleiben eine Figurengruppe und der Hauself Dobby im Netzwerk, der als ‚große hässliche Puppe‘ bezeichnet wird. Im dritten Band bleibt der eigentlich neutrale Irrwicht im Netzwerk, der mithilfe seiner Fähigkeit der Gestaltwandlung Rollen als ‚Todesfee‘ und ‚Frau‘ einnimmt. Während sich die Netzwerke der Romane radikal ändern, wenn all diejeni‐ gen Figuren herausgerechnet werden, die nicht mit weiblichen Genderrollen verbunden sind, verändert sich die Struktur nur wenig, wenn die Figuren herausgerechnet werden, die nicht mit männlichen Genderrollen verbunden sind. Eine wichtige Schlüsselposition nimmt Hermine Granger ein: Sie verbleibt in allen drei Teilen im Netzwerk, da sie als ‚Zauberer‘ (PS und PoA), ‚Jahresbester‘ (CoS) und Teil einer Gruppe von ‚Spitzbuben‘ bezeichnet wird. Außerdem teilt sie eine nicht unerhebliche Anzahl an Merkmalen mit ihren männlichen Freunden. 310 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="311"?> Bei der Analyse der PS-Netzwerke wurde die These aufgestellt, dass Harry Potter so stark über geteilte Eigenschaften, Genderrollen und Kleider beschrieben wird, dass er zu einem Primus inter pares wird. Im Verlauf der ersten drei Bände verfestigt sich dieses Muster, wie eine Gegenüberstellung der ‚Ego-Netzwerke‘ mit einer Tiefe von zwei des Hauptprotagonisten zeigt (vgl. Abb. 9). Abb. 9: Ego-Netzwerke mit einer Tiefe von zwei der Figur Harrys, d. h. es zeigen sich Eigenschaften, Genderrollen und Kleider, die ihm zugeschrieben werden und die Figuren, mit denen er diese teilt. Am stärksten ausgeprägt ist die Ähnlichkeit zu Ron. Er ist in allen drei Netzwerken die Figur, die Harry am nächsten steht, es handelt sich also um ein stabiles Phänomen. Hermine hingegen wird im ersten Teil noch nicht in einer ähnlichen Intensität mit denselben Merkmalen belegt wie Harry. Die Ähnlichkeit wächst aber von Band zu Band und in PoA ist ihre Position im ‚Ego-Netzwerk‘ der von Ron sehr nah. Der Vergleich der ‚Ego-Netzwerke‘ zeigt aber auch, dass immer mehr Figuren als Harry ähnlich charakterisiert werden. Im ersten Band zeichnen sich fünf Figuren durch besondere Nähe zu Harry aus (Ron, Neville, Hermine, Oliver Wood und Hagrid), im zweiten sind es sechs (Ron, Gilderoy Lockhart, Hermine, Molly Weasley, Oliver Wood und Tom Riddle) und im dritten neun (Ron, Hermine, die Klasse, Professor McGonagall, Professor Dumbledore, Cornelius Fudge, Professor Lupin, Hagrid und Sirius Black). Außerdem nehmen auch die nur marginal mit Harry verbundenen Figuren zu. Im Vergleich mit einer Serie von ‚Ego-Netzwerken‘ des Antagonisten Voldemort tritt noch deutlicher hervor, wie sehr Harry über geteilte Merk‐ male mit anderen Figuren vernetzt ist. Lord Voldemort hingegen teilt nur wenig mit anderen Figuren (vgl. Abb. 10). 2.9 Digitalisierung und Netzwerk 311 <?page no="312"?> Abb. 10: Ego-Netzwerke von Voldemort mit einer Tiefe von zwei Hauptsächlich ist er über die Rolle des ‚Zauberers‘ und die Eigenschaft ‚groß‘ (im Zusammenhang mit seiner Zauberkraft) mit anderen verknüpft. In PoA teilt er die Eigenschaft ‚alt‘ mit den Dementoren und einem anderen Zaube‐ rer. Besonders interessant ist die Konstellation des zweiten Teils: Voldemort ist hier noch nicht einmal der Mittelpunkt seines eigenen ‚Ego-Netzwerkes‘. Das ist sein früheres Ich Tom Riddle. Tom teilt weit mehr Merkmale mit anderen als Voldemort. Er zeigt z. B. Merkmalsähnlichkeiten zu Harry, Ron und Hermine, aber auch zu Dumbledore oder Lockhart. Anders als sein späteres Ich birgt Tom das Potenzial, Gruppen mit ähnlichen Figuren zu bilden. Natürlich bleibt das ungenutzt, was dazu führt, dass Voldemort in einer Position endet, in der er als ultimativ andersartige Figur lediglich Gefolgsleute (und auch das mit abnehmender Tendenz), aber keine Freunde haben kann. 2.9.3 Zusammenfassung der Ergebnisse Die Frage nach der Gestaltung der Gendersphäre der betrachteten Harry Potter-Romane führte eher zu einer Negativeinsicht: Die Texte zeigen keine besonders stark ausgeprägte Gendersphäre. Die Wizarding World ist insgesamt stark männlich geprägt, die weiblichen Figuren teilen zu wenig Eigenschaften, Rollen und Kleider miteinander, um eigene Cluster zu besetzen. Es zeigen sich keine ungewöhnlichen Rollenmuster, die auf non-binäre Charaktere hinweisen könnten. Zwar zeigt Hermine in ihrem Rollenprofil auch mal mehr als eine männliche Rolle, das kann aber noch nicht als Bruch mit einer binären Genderklassifikation gewertet werden. In Anbetracht der Tatsache, dass die Anzahl der zur Charakterisierung der Figuren genutzten Genderrollen insgesamt nicht sehr hoch ist, liegt die 312 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="313"?> Schlussfolgerung nahe, dass Gender oder genauer eine ungewöhnliche Dar‐ stellung von Gender kein besonders wichtiges Thema im Zusammenhang mit der Figurencharakterisierung der ersten drei Harry Potter-Romane ist. Stattdessen zeigt sich eine Gegenüberstellung eines sozial sehr gut einge‐ bundenen Protagonisten mit einem sozial isolierten Antagonisten. Die hohe Anzahl geteilter Eigenschaften zeigt, dass Harry eher als gewöhnlich und vergleichsweise wenig individuell charakterisiert wird. Diese Gewöhnlich‐ keit, die ihn mit so vielen anderen verbindet, ist aber in der Wizarding World keine Schwäche, sondern eine Stärke. Stark ausgeprägte Einzigartigkeit, wie sie Tom Riddle alias Voldemort aufweist, führt zwar kurzfristig zu großer Macht, ist aber langfristig keine Erfolgsstrategie. Wie die Gegenüberstellung des gewöhnlichen Protagonisten, der aber buchstäblich mit anderen unter einer Decke (bzw. einem Tarnumhang) steckt, und eines außergewöhnlichen Antagonisten in der Figurencharakterisierung angelegt ist, zeigt sich ganz deutlich in den hier dargelegten netzwerkanalytischen Zugängen. Natürlich wurde hier nur beispielhaft gearbeitet, was viel Raum für anschließende Un‐ tersuchungen lässt. Die Tatsache, dass in den ersten drei Bänden von Harry Potter zunehmend weibliche Rollenbilder erwähnt werden, verlangt z. B. danach, in den Folgebänden zu schauen, ob sich diese Entwicklung fortsetzt. Interessant wäre auch eine Analyse der neutral oder genderoffen angelegten Figuren wie z. B. der Dementoren oder Irrwichte. Der hier gewählte Zugang hat auch offengelegt, dass die Charakterisierung des Hauselfen Dobby zunächst vollkommen genderoffen funktioniert, bis in einem späteren Band Erwähnung findet, dass es auch weibliche Hauselfen gibt. Ein Vergleich der frühen Wizarding World mit der späten wäre notwendig, um zu schauen, ob diese zunehmend gegendert erscheint. Netzwerkanalytische Ansätze wären eine gute Möglichkeit, solche Anschlussfragen zu untersuchen. Primärmedien Rowling, J.-K. (2015). Harry Potter und der Stein der Weisen. Pottermore limited, htt ps: / / www.pottermorepublishing.com/ publications/ 9781781100769-1-harry-potte r-und-der-stein-der-weisen/ [27.9.2024]. Rowling, J.-K. (2015). Harry Potter und die Kammer des Schreckens. Pottermore limi‐ ted, https: / / www.pottermorepublishing.com/ publications/ 9781781100776-1-harr y-potter-und-die-kammer-des-schreckens/ [27.9.2024]. 2.9 Digitalisierung und Netzwerk 313 <?page no="314"?> Rowling, J. K. (2015). Harry Potter und der Gefangene von Askaban. Pottermore limi‐ ted, https: / / www.pottermorepublishing.com/ publications/ 9781781100783-1-harr y-potter-und-der-gefangene-von-askaban/ [27.9.2024]. Sekundärliteratur Agarwal, A. et al. (2012). Social Network Analysis of Alice in Wonderland. Abrufbar unter: https: / / aclanthology.org/ W12-2513/ (Stand: 05/ 06/ 2025). Alberich, R./ Miro-Julia, J./ Rossello, F. (2002). Marvel Universe looks almost like a real social network. arXiv. Abrufbar unter: https: / / doi.org/ 10.48550/ arXiv.cond-mat/ 0 202174 (Stand: 05/ 06/ 2025). Algee-Hewitt, M. (2017). Distributed Character: Quantitative Models of the English Stage, 1550-1900. New Literary History 48: 4, 751-782. doi: https: / / doi.org/ 10.135 3/ nlh.2017.0038. Bainczyk-Crescentini, M. et al. (Hrsg.) (2015). Identitäten / Identities: Interdisziplinäre Perspektiven. Heidelberg: Universitätsbibliothek Heidelberg. doi: https: / / doi.org/ 10.11588/ heidok.00018089. Bastian, Mathieu/ Heymann, Sebastien/ Jacomy, Mathieu (2009). Gephi: An Open Source Software for Exploring and Manipulating Networks. Third International ICWSM Conference, 361-362. Blessing, A. et al. (2017). An End-to-end Environment for Research Question-Driven Entity Extraction and Network Analysis. In: Proceedings of the Joint SIGHUM Workshop on Computational Linguistics for Cultural Heritage, Social Sciences, Hu‐ manities and Literature. Proceedings of the Joint SIGHUM Workshop on Computa‐ tional Linguistics for Cultural Heritage, Social Sciences, Humanities and Literature. Vancouver: Association for Computational Linguistics, 57-67. doi: https: / / doi.or g/ 10.18653/ v1/ W17-2208. Bürvenich, Paul (2021). Der Zauber des Harry Potter. Abrufbar unter: https: / / www.p eterlang.com/ document/ 1092570 (Stand: 22/ 05/ 2023). Cuntz-Leng, Vera (2017). Queering Harry, slashing Potter: Between latent meanings and resistant readings. GENDER - Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesell‐ schaft 9: 2. Abrufbar unter: https: / / www.budrich-journals.de/ index.php/ gender/ a rticle/ view/ 28018 (Stand: 22/ 05/ 2023). Elson, David/ Dames, Nicholas/ McKeown, Kathleen (2010). Extracting Social Net‐ works from Literary Fiction. In: Hajič, Jan et al. (Hrsg.) Proceedings of the 48th Annual Meeting of the Association for Computational Linguistics. ACL 2010. Uppsala: Association for Computational Linguistics, 138-147. Abrufbar unter: h ttps: / / aclanthology.org/ P10-1015 (11/ 12/ 2023). 314 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="315"?> Fischer, Frank et al. (2018). Distant-Reading Showcase: 465 German-Language Dramas at a Glance. #DHd2016 poster contribution). doi: https: / / doi.org/ 10.6084/ m9.figs hare.3101203.v2. Fischer, Frank/ Skorinkin, Daniil (2021). Social Network Analysis in Russian Literary Studies. In: Gritsenko, Daria/ Wijermars, Mariëlle/ Kopotev, Mikhail (Hrsg). The Palgrave Handbook of Digital Russia Studies. London: Palgrave Macmillan Cham, 517-536. doi: https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-030-42855-6_29 Flegar, Željka (2013). The Power of Mother: Archetype and Symbolism in the Harry Potter series. In: Ciolfi, Luigina/ O’Brien, Gráinne (Hrsg.) Magic Is Might 2012: Proceedings of the International Conference, 123-133. Gallardo-C., Ximena/ Smith, C. Jason (2003). Cinderfella: J.K. Rowling’s Wily Web of Gender. In: Anatol, Giselle Liza (Hrsg.) Reading Harry Potter: critical essays (= Contributions to the study of popular culture 78). Westport, Conn: Praeger, 191-206. doi: https: / / doi.org/ 10.5040/ 9798216005377.ch-014 Heilmann, Elizabeth E./ Donaldson, Trevor (2008). From Sexist to (sort-of) Feminist: Representations of Gender in the Harry Potter Series. In: Heilmann, E. (Hrsg.) Critical Perspectives on Harry Potter. New York: Routledge, 139-161. doi: https: / / doi.org/ 10.4324/ 9780203892817 Horstmann, Jan/ Stange, Jan-Erik (2024). Methodenbeitrag: Textvisualisierung.-for- TEXT Hefte-1: 5. doi: -https: / / doi.org/ 10.48694/ fortext.3772 Labatut, Vincent/ Bost, Xavier (2019). Extraction and Analysis of Fictional Character Networks: A Survey. ACM Computing Surveys. 52: 5, 1-40. doi: https: / / doi.org/ 10 .1145/ 3344548. Moretti, Franco (2011). Network Theory, Plot Analysis. Stanford Literary Lab Pam‐ phlets 2 [Preprint]. Abrufbar unter: https: / / litlab.stanford.edu/ LiteraryLabPamp hlet2.pdf (Stand: 10/ 10/ 2018). Nakajima, M. (2018) Rowling and Feminism; An Analysis of Her Female Characters in Harry Potter and Other Works. Kobe University. Abrufbar unter: https: / / da.lib.ko be-u.ac.jp/ da/ kernel/ D1007064/ (Stand: 09/ 05/ 2025). O’Brien, Gráinne (2013). Why Queers Never Prosper in the Wizarding World: Phallocentricism, Heteronormativity and Wandlore in the Harry Potter Series. Ciolfi, Luigina/ O’Brien, Gráinne (Hrsg.) Magic Is Might 2012: Proceedings of the International Conference, 67-73. Renzel, Svenja (2017). Double, Double Toil and (Gender) Trouble: The Gaunt Family. In: Gymnich, Marion/ Birk, Hanne/ Burkhard, Denise (Hrsg.) ‚Harry - yer a wizard‘: Exploring J.K. Rowling’s Harry Potter Universe. Baden-Baden: Tectum Wissenschaftsverlag, 85-93. Abrufbar unter: https: / / library.oapen.org/ handle/ 20 .500.12657/ 45365 (Stand: 04/ 05/ 2023). 2.9 Digitalisierung und Netzwerk 315 <?page no="316"?> Ryan, Marie-Laure (2015). Text, Worlds, Stories. Narrative Worlds as Cognitive and Ontological Concept. In: Dies. (Hrsg.) Narrative Worlds as Cognitive and Ontological Concept. New York: Routledge, 11-18. Rydberg-Cox, Jeff (2011). Social Networks and the Language of Greek Tragedy. Journal of the Chicago Colloquium on Digital Humanities and Computer Science 1: 3, 1-11. Schumacher, Mareike (2024). Methodenbeitrag: Netzwerkanalyse. forTEXT Hefte 1: 6. doi: -https: / / doi.org/ 10.48694/ fortext.3759. Schumacher, Mareike (2024). Lerneinheit: Netzwerkanalyse mit Gephi.-forTEXT Hefte-1: 6. doi: -https: / / doi.org/ 10.48694/ fortext.3779. Schumacher, Mareike (2021). StanfordNER Gender-Classifier’. Zenodo. doi: https: / / d oi.org/ 10.5281/ zenodo.5555952. Schumacher, Mareike/ Flüh, Marie (2023). Made to Be a Woman: A case study on the categorization of gender using an individuation-based approach in the analysis of literary texts. Digital Humanities Quarterly 17: 3. Gerstorfer, Dominik/ Gius, Evelyn/ Jacke, Janina (Hrsg.) Categories in Digital Huma‐ nities. Digital Humanities Quarterly 17: 3. Abrufbar unter: https: / / www.digitalhu manities.org/ dhq/ vol/ 17/ 3/ 000728/ 000728.html (Stand: 16/ 12/ 2023). Trilcke, Peer (2013). Social Network Analysis (SNA) als Methode einer textempi‐ rischen Literaturwissenschaft. In: Ajouri, Philip/ Mellmann, Katja/ Rauen, Chris‐ toph (Hrsg.) Empirie in der Literaturwissenschaft. Paderborn: Brill | mentis, 201- 247. doi: https: / / doi.org/ 10.30965/ 9783957439710_012. Trilcke, Peer/ Fischer, Frank (2018). Literaturwissenschaft als Hackathon. Zur Pra‐ xeologie der Digital Literary Studies und ihren epistemischen Dingen. In: Huber, Martin/ Krämer, Sybille (Hrsg.) Wie Digitalität die Geisteswissenschaften verändert: Neue Forschungsgegenstände und Methoden. (= Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, 3). doi: https: / / doi.org/ 10.17175/ sb003_003. Wiedmer, Nathalie/ Pagel, Janis/ Reiter, Nils (2020). Romeo, Freund des Mercutio: Semi-Automatische Extraktion von Beziehungen zwischen dramatischen Figuren. Zenodo. https: / / doi.org/ 10.5281/ zenodo.4621778 316 2 Grenzgänger: innen - über den disziplinären Tellerrand geschaut <?page no="317"?> Autor: innen Alexandra Böhm, PD Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ger‐ manischen Nationalmuseum in Nürnberg und Privatdozentin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur mit komparatistischem Schwerpunkt an der Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Environmental Humanities (Ecocriticism, Human-Animal Studies, Empathie, Ökofeminis‐ mus, Rechte der Natur). Benjamin Bühler, PD Dr. phil., Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: u. a. literarische Prognostik, Ecocriticism, politische Ökologie und deutschsprachige Litera‐ tur nach 1945. Maren Conrad, Prof. Dr., Professorin für Kinder und Jugendliteratur und ihre Didaktik und Leiterin der Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedien‐ forschung (ALEKI) am Institut für deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Inklusion und Diversität, Moderne Märchen, Prekäre Literatur, Fantastik und Gender Studies. Astrid Henning-Mohr, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am In‐ stitut für Jugendbuchforschung an der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. Forschungsschwerpunkte: Literarische Mehrsprachigkeit, schwedische Kin‐ der- und Jugendliteratur, kulturwissenschaftliche Zugänge zur Kinder- und Jugendliteratur. Márta Horváth, Dr. Habil., Assistenzprofessorin am Institut für Öster‐ reichische Literatur und Kultur an der Universität Szeged, Leiterin der Forschungsgruppe für Kognitive Poetik und Chefredakteurin der Open-Ac‐ cess-Online-Zeitschrift nCognito. Forschungsinteresse: Österreichische Li‐ teratur um die Jahrhundertwende und zwischen den beiden Weltkriegen, kognitive Narratologie. Stefanie Jakobi, Dr. phil., Lektorin am Arbeitsbereich Kinder- und Jugend‐ literatur/ medien der Universität Bremen. Aktuell: Vertretungsprofessorin für Kinder- und Jugendliteratur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: transmediales und transgenerisches Erzählen in den Kinder- und Jugendmedien, intersektionale Fragestellungen. <?page no="318"?> Magdalena Kißling, Jun.-Prof. Dr., Juniorprofessorin an der Universität Paderborn für Literatur- und Mediendidaktik. Forschungsschwerpunkte: literar- und medienästhetisches Lernen in kulturwissenschaftlicher Aus‐ richtung, sprach- und diversitätssensibler Literaturunterricht, Serialitätsdi‐ daktik und literarische Mehrsprachigkeitsdidaktik. Tobias Kurwinkel, Dr. phil., Professor für Neuere Deutsche Literatur, insbesondere Literatur und Kinder- und Jugendkulturen an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Motivik der Kinder- und Jugendmedien, im Besonderen Bilderbuch, Kinder- und Jugendfilm, Theorie und Theorien des Medienverbunds, Intertextualität, Intermedialität und Transmedialität Heidi Lexe, Dr. phil., Leiterin der STUBE - Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur - in Wien sowie Lehrbeauftragte für Kinder- und Jugendliteratur am Institut für Germanistik der Universität Wien. For‐ schungsschwerpunkte: Österreichische KJL, Märchen- und Motivforschung im Kontext intermedialer Austauschprozesse und Literarische Soundtracks. Julia Lückl, MA, hat Germanistik und Psychologie studiert und ist seit 2023 Universitätsassistentin (Prae-Doc) am Institut für Germanistik der Universität Wien. Ihr Dissertationsprojekt widmet sich der Literatur- und Diskursgeschichte des ,Kreativen‘. Weitere Forschungsschwerpunkte: Ge‐ genwartskultur, Jugend- und Populärliteratur sowie Performativität. Christine Magerski, Dr. phil., Professorin für neuere deutsche Literatur- und Kulturgeschichte an der Germanistischen Abteilung der Universität Za‐ greb. Arbeitsschwerpunkte: Literatursoziologie, die Geschichte und Theorie der modernen Literatur und Kunst sowie die Wissenschaftsgeschichte.- Jara Schmidt, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: postmi‐ grantische und postkoloniale Diskurse in Literatur und Kultur, Gender Studies, Queer Studies und Hexenforschung. Mareike Schumacher, Jun.-Prof. Dr., Juniorprofessorin für Digital Huma‐ nities an der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Narratologie und digitale Gender Studies. Im Projekt m*w erforscht sie literarische Darstellungen von Gender, um zu analysieren, welche Stereotype es gibt und wie diese aufgebrochen werden. 318 Autor: innen <?page no="319"?> Hadassah Stichnothe, Dr. phil., vertritt derzeit eine Gastprofessur für Kinder- und Jugendliteratur in Texten und digitalen Medien an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: transmediales Storytelling, Adoleszenz, jüdische Kinder- und Jugendliteratur, Fantastik und postmi‐ grantische Positionen in der KJL. Franziska Thiel, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der germanistischen Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Kinder- und Jugendliteratur und -medien, Di‐ versitätsforschung und Gender Studies, insbesondere historische Ge‐ schlechterforschung und Men’s Studies sowie Interkulturelle Literaturwis‐ senschaft und Komparatistik. Autor: innen 319 <?page no="320"?> Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de Jakobi | Kurwinkel | Ritter | Schmerheim | Thiel (Hg.) Einführung in die Kinder- und Jugendmedien Bd. 3: Methoden und Theorien Kinder- und Jugendmedien sind für das Lehramtsstudium eine zentrale Bezugsgröße. Diese Einführung stellt aktuelle Diskurse rund um Medien für Kinder und Jugendliche vor und bietet Orientierung für alle, die professionell damit befasst sind. Die drei Bände bedienen jeweils die fachdidaktische oder die fachwissenschaftliche Perspektive. Über Verweise miteinander verbunden und dennoch in sich abgeschlossen, führen sie in die Grundlagen, Didaktik sowie Theorien und Methoden der Kinder- und Jugendmedien ein. Band 3 verbindet Theorie und Praxis: Zentrale literatur-, kultur- und medienwissenschaftliche Ansätze werden vorgestellt und am Beispiel der Wizarding World von Harry Potter erprobt. Dazu zählen klassische Ansätze wie Diskursanalyse oder Motivforschung, aber auch solche des 21. Jahrhunderts, darunter postkoloniale und interkulturelle Perspektiven, Gender-, Queer- und Men’s Studies sowie Ecocriticism. Literaturwissenschaft | Literaturtheorie Kinder- und Jugendmedien Bd. 3 Methoden und Theorien QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem T itel ISBN 978-3-8252-6415-4 Jakobi | Kurwinkel | Ritter | Schmerheim | Thiel (Hg.) 6415-4_Jakobi_Thiel_M_6415_PRINT.indd Alle Seiten 6415-4_Jakobi_Thiel_M_6415_PRINT.indd Alle Seiten 05.09.25 10: 32 05.09.25 10: 32