eJournals Vox Romanica 77/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
10.8357/VOX-2017-006
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2018
771 Kristol De Stefani

Zur Geschichte von bündnerromanisch prus ‘gut, rechtschaffen, fromm, brav, zahm …ʼ

121
2018
Ricarda  Liver
vox7710172
Ricarda Liver 172 Vox Romanica 77 (2018): 172-182 DOI 10.8357/ VOX-2017-006 Zur Geschichte von bündnerromanisch prus ‘gut, rechtschaffen, fromm, brav, zahm …ʼ Ricarda Liver (Lützelflüh/ Bern) Abstract: L’articolo propone una revisione della storia dell’aggettivo romancio prus ‘buono, onesto, pio …ʼ. In base all’inventario delle forme pro, pru sostantivo e aggettivo, prus aggettivo e dei rispettivi derivati e tenendo conto delle varie posizioni della ricerca, si mette in dubbio la derivazione di prus dal latino pro(r)sus proposta dai dizionari etimologici romanci. Sembra preferibile un’ipotesi che parte dal latino tardo prode per tutte le forme citate. Keywords: Etymology, History of Raeto-Romance in the Grisons, Review of research on the subject, Semantic aspects 1. Zielsetzung Im vorhergehenden Artikel zur Sprache von Gian Travers in seiner Chanzun da Müsch 1 habe ich ein Problem skizziert, auf dessen vertiefte Behandlung ich hier eingehen möchte. Es geht um das br. Adjektiv prus und dessen Verhältnis zum Substantiv pro ‘Nutzenʼ, in alter Sprache auch pru. Was meine Aufmerksamkeit auf das Problem gelenkt hat, ist die Tatsache, dass alle neueren Wörterbücher des Bündnerromanischen, die eine Etymologie angeben 2 , prus von pro trennen, indem sie diskussionslos für ersteres lat. prorsus, für letzteres spätlat. prode (von prodest) zum Etymon erklären. Meine Skepsis gegenüber dieser Auffassung beruht einerseits auf der nahen semantischen Verwandtschaft von pro und prus, andererseits auf einer Überprüfung der Geschichte dieser Interpretation. 1 VRom. 77: 129-71. 2 HWR, Decurtins 2001, LRC. 172 182 006 173 Vox Romanica 77 (2018): 172-182 DOI 10.2357/ VOX-2018-006 Zur Geschichte von bündnerromanisch prus 2. Bestandesaufnahme der einschlägigen Formen in den Wörterbüchern pro m. ‘Nutzen, Vorteilʼ, alt auch pru - S: LRC pro III m. ‘Nutzen, Vorteilʼ; a pro (da), per pro e nez ‘zum Vorteil, zu Nutz und Frommenʼ; far ni fretg ni pro ‘nichts nutzen, nichts frommenʼ; < lat. prodis, de ‘Vorteilʼ. - C: In den Wörterbüchern des Sutselvischen (Mani 1977, Eichenhofer 2002) nicht verzeichnet. - Surmiran: Sonder/ Grisch 1970 luvrar a pro da ‘zu Gunsten von j-m. sich einsetzenʼ 3 . - Bei Ebneter 1981 nicht verzeichnet. - E: Pallioppi 1895 prô m. ‘Nutzen, Vorteilʼ; < lat. prodesse ‘nützlich sein, nützenʼ; a prô ‘zum Vorteilʼ; fer bun prô ‘gut gedeihenʼ; bun prô fatscha! ‘Wohlbekomms! ʼ - Velleman 1929 prô m. ‘Nutzen, Vorteilʼ; bun prô fatscha! ‘Wohlbekomms! ʼ - Peer 1962: prô m. ‘Vorteil, Nutzenʼ; a prô da ‘zu Nutz und Frommenʼ; bun prô! ‘guten Appetit! ʼ - Ganzes Gebiet: HWR pro, prô m.; a pro da ‘zu Nutzen von, zum Vorteil vonʼ (S und surm.); ‘Nutzen, Vorteilʼ (E); bun prô ‘guten Appetit! ʼ (E); < prode ‘Vorteilʼ, ~ it. pro, afr. prout ‘Nutzen, Vorteilʼ. Alte Sprache: Neben pro auch pru (S, E) - S: Si’ eloquenza, tutt siʼ prudenza / Ei stada senza / Ni fritg ni pro (seine Beredsamkeit, all seine Klugheit hat nichts genützt, Consolaziun p. 31, XIX,6). Vus vagnits era girar ca vus leies … nez à pru, orfans a wieuwas a mintgin tier il siu defendar a schurmigiar (ihr werdet auch schwören, dass ihr Nutz und Frommen, Weisen und Witwen und einen jeden in seinem Recht verteidigen und beschützen wollet, Fuormas dils saraments, RC 4: 19,17). - E: Aquel chi ho tuottas chioses schkiafieu & hurdanô, … aquel benedescha eir à nus nossa spaisa, chella fatscha à nus prû à l’horma & alg chioerp (Der alle Dinge geschaffen und geordnet hat, der segne auch uns unsere Speise, dass sie uns an der Seele und am Leib zum Wohl gereiche, Bifrun, Taefla, AnSR 128: 50). prus, -a adj. ‘gut, rechtschaffen, brav, zahm …ʼ - S: LRC prus adj. 1. ‘ehrlich, redlich, rechtschaffen, treu, fleissigʼ. 2.a ‘sanft, frommʼ; b (von Tieren) ‘zahmʼ. - Furer 2002 prus adj 1. ‘honnête, intègre, probe, droit; loyal; braveʼ; 2. ‘doux, gentil, aimable, bonʼ. - Spescha 1994 prus (-a) ‘rechtschaffenʼ. - C: suts. Mani 1971 prus adj. 1. ‘artig, sanft, gutmütigʼ. 2. ‘fromm, demütigʼ. - Eichenhofer 2002 prus adj. ‘bieder, brav, friedlich, fromm, gutmütig, harmlos, zutraulichʼ. - Surm. Sonder/ Grisch 1970 prous adj. ‘artig, brav, sanftʼ. 3 Im gleichen Eintrag verzeichnetes eir a pro ‘übereinstimmenʼ hat einen anderen Ursprung. Nach HWR s. prau < pratum. Ricarda Liver 174 Vox Romanica 77 (2018): 172-182 DOI 10.8357/ VOX-2017-006 - Bei Ebneter 1981 nicht verzeichnet. - E: Pallioppi 1895 prus-a adj. ‘fromm, gutmütig, liebreich, sanft, treuʼ; ein alter Nominativ (prod+s), wo das s später zum Stamm gerechnet wurde (Ulr., Sus. pag. 114). - Velleman 1929 prus-a ‘fromm, gutmütigʼ. - Peer 1962 prus adj. ‘gutartig, zahm, sanftʼ (nam. von Tieren). - Arquint 1980 prus (-a) ‘gutartig, zahmʼ. - Ganzes Gebiet: HWR prus (S und E) adj. ‘artig, bravʼ, ‘sanft, frommʼ (allg.), ‘zahmʼ (Tiere) (E); surm prous, sts prus; RG prus. pruamein, prusamein adv. ‘mit Hingabe, getreulich …ʼ - S: LRC pruamein adv. ‘mit Hingabe, getreulich; fleissig, emsigʼ; zu prodis, e ‘wackerʼ mittels -amein. - Furer 2002 pruamein adv, 1. ‘fidèlement, avec attachement/ dévouementʼ; 2. ‘avec constance/ persévérance, sans se lasserʼ; 3. ‘avec applicationʼ; 4. ‘avec ardeur, avec animationʼ; 5. ‘avec insistanceʼ. - prusamein adv, ‘honnêtement, avec honnêteté, loyalement, bravementʼ. - Bei Spescha 1994 nicht verzeichnet. - C: suts. Mani 1977 pruameing ‘getreulich, unverdrossenʼ. Unter prusameing Verweis auf pruameing. - Bei Eichenhofer 2002 nicht verzeichnet. - Surm. kein Eintrag. - E: Pallioppi 1895 prusamaing adv. ‘in aller Treue, treu, getreulichʼ; verstärkt prus-e fidelmaing. - Bei Velleman 1929 und Peer 1962 nicht verzeichnet. pruglieud, pruaglieud f., substantivische Fügung ‘gute, rechtschaffene Leuteʼ - S: LRC pruaglieud* f. ‘gute, wohlgesinnte, rechtschaffene, wackere Leuteʼ, Sy: prusa glieud. - E: Pallioppi 1895 +pruglieudt f. ‘wackere fromme Leute, prusa glieudʼ. - Velleman 1929 = Pallioppi 1895. - Jeweils als der alten Sprache angehörend markiert. Travers verwendet pru glieud, pruglieud in der Chianzun da Müsch und im Drama vom Verlorenen Sohn: Lg Seguond di d Favrêr … Fen la pru glieud dir messa et oratiun / Chia Dieu nun l’s laschies in l’g bandun (am 2. Februar liessen die guten/ frommen Leute Messe lesen und beteten, dass Gott sie nicht verlasse) Travers, Müsch V. 205-08. Im Filg pertz werden die Zuschauer mit pruglieud angesprochen: huossa guardo aqui, tuotta pruglieud, ko eau stun (jetzt schaut her, all ihr lieben Leute, wie es mir geht) RC 5 : 85 V. 1491. Auch 5: 99 V. 2054. 175 Vox Romanica 77 (2018): 172-182 DOI 10.2357/ VOX-2018-006 3. Positionen der Forschung zur Geschichte von prus Die alternativlose Zuordnung von br. prus zu lat. pro(r)sus durch die etymologischen Wörterbücher des Bündnerromanischen irritiert. Dass es auch andere Positionen in dieser Frage gibt, zeigt die Sichtung früherer Stellungnahmen zum Problem. Es scheint, dass Wendelin Foerster 1891: 526s. als Erster den Vorschlag, prus von pro(r)sus abzuleiten, in die Diskussion einbrachte. Er verwirft die Möglichkeit, s im afr. Adjektiv pros als Nominativ-s zu erklären, das zum Stamm getreten wäre. Sein Argument: es gebe keine älteren Parallelen für einen solchen Vorgang. Die Formulierung «wenn auch der Vorschlag prorsus vielleicht nur eine geteilte Aufmerksamkeit finden dürfte» lässt jedoch vermuten, dass Foerster selbst nicht restlos von seiner Interpretation überzeugt war. Meyer Lübke übernimmt im REW (Nr. 6785) die von Foerster vorgeschlagene Etymologie. Er schränkt allerdings ein: «begrifflich schwierig». Als Argument für die Herleitung von br. prus, afr. prous, prov. pros von prorsus sieht er den Umstand, «dass im Prov. das Fem. zunächst auch pros, erst später proza lautet». Eine Herleitung aus prode hält er nur unter der Voraussetzung für möglich, «dass prov. pro, eng. *pru in die Analogie der Adjektiva auf osus hinübergeglitten seien», was ihm «namentlich im Engad.» schwierig scheint. In den alten Monographien zum Bündnerromanischen kommt prus nur selten zur Sprache. Chasper Pult erwähnt prus in seiner Darstellung des Dialekts von Sent (Pult 1897) mehrmals, immer mit der Etymologie *prodis. Aus §329 p. 117 geht hervor, dass Pult das s als aus dem Latein erhalten ansieht. Luzi 1904 nennt in seiner Lautlehre der Subselvischen Dialekte prode + s als etymologische Basis für prus 4 . Diese Interpretation dürfte auf den Vorschlag von Jakob Ulrich in seiner Ausgabe des oberengadinischen Dramas Susanna aus dem 16. Jahrhundert zurückgehen, der auch von Pallioppi in seinem Wörterbuch übernommen wurde 5 . Nicht ganz klar ist die Position von Huonder 1900: 115, der für pruamein eine Basis proba mente in Betracht zieht, in N2 allerdings diese Hypothese wieder in Frage stellt: «Aber das Wort wird doch kaum von eng. pro (fer bun pro ‘gut gedeihenʼ) ganz zu trennen sein». Dieses wiederum gehört für ihn offensichtlich, wie auch prus, zu einem Stamm prod-. Von prorsus ist bei ihm, wie auch bei Pult und Luzi, nicht die Rede. Lange gibt es keine Äusserungen mehr zum Problem. Gerne wüsste man, was Jakob Jud dazu dachte. Aus dem «bloc etimologic» des DRG, der mehrheitlich aus Zetteln mit Juds handschriftlichen Einträgen besteht, die nur für paläographisch besonders Begabte lesbar sind, geht nur hervor, dass er wohl zunächst an prode dachte, daneben 4 Luzi 1904: 32, §55. 5 Ulrich 1888: 114: «ein alter Nominativ ist prus (prod + s), wo das s später zum Stamm gerechnet wurde, Fem. prusa». Cf. auch ibid. p. 138 Glossar zu pruglieud. Pallioppi 1895 s. prus. Cf. oben p. 139, 165s. Zur Geschichte von bündnerromanisch prus Ricarda Liver 176 Vox Romanica 77 (2018): 172-182 DOI 10.8357/ VOX-2017-006 aber auch prorsus in Betracht zog. Argumente für die eine oder die andere Lösung sucht man vergeblich 6 . Eine Begründung für die Bevorzugung von prorsus bleiben auch die späteren Lexikographen (HWR, Decurtins 2001, LRC) schuldig. prode wird in den entsprechenden Einträgen überhaupt nicht erwähnt. HWR verweist auf gadertalisch prós ‘bravʼ und EWD 5: 400, wo die Etymologie pro(r)sus ebenso diskussionslos präsentiert wird. Gegen die Auffassung von Foerster und Meyer-Lübke spricht sich FEW 9: 420 mit N44 (p. 422) dezidiert aus. Die Trennung von it. prode, piem. prou als Resultate von prode, br. prus dagegen als Abkömmling von prorsus, wird als «sicher abwegig» bezeichnet. Auch Ernout/ Meillet lehnen im Dictionnaire étymologique de la langue latine (1951: 956) die prorsus-These, wie sie in REW 6785 zum Ausdruck kommt, aus semantischen Überlegungen ab: «Les formes romanes qu’on a voulu en faire dériver se concilient mal avec le sens de prorsus». 4. Überlegungen zur Geschichte von br. prus Im Folgenden fassen wir unsere Überlegungen zu einer möglichen Geschichte des Adjektivs prus im Bündnerromanischen zusammen, die sich aus der Zusammenschau der überlieferten Fakten und aus der Wertung der referierten Positionen der Forschung ergeben. Der Blick auf die Verhältnisse in anderen romanischen Sprachen soll zu einem breiter abgestützten Urteil beitragen. Lautlich ist gegen eine Herleitung des Adjektivs prus von pro(r)sus nichts einzuwenden. Auch dass es für eine Übertragung der Bedeutung von prorsus ‘vorwärtsgerichtetʼ in den Bereich moralischen Verhaltens (‘rechtschaffen, tapfer …ʼ) keine Belege gibt, ist kein zwingendes Argument gegen diese Etymologie. Allerdings muss der zitierte Einwand der gewieften Etymologen Ernout und Meillet, wonach in semantischer Hinsicht eine solche Übertragung schwierig wäre, durchaus ernst genommen werden. Was zusätzlich stutzig macht, ist die Aufteilung von inhaltlich eindeutig zusammengehörigen Formen, wie sie in der obigen Bestandesaufnahme aufgelistet sind, auf zwei unterschiedliche etymologische Basen. Nach den Verfechtern der prorsus-These sollte das Adjektiv prus auf lat. prorsus (adv. und adj.) zurückgehen, das surs. Adverb pruamein, synonym mit (weniger geläufigem) prusamein, dagegen auf prode, ebenso die Zusammenrückungen pruglieud (eng.) und pruaglieud (surs.), die der alten Sprache angehören. Das LRC führt prusa glieud als Synonym von pruaglieud an. 6 Aus einem Zettel im «bloc etimologic» geht hervor, dass Martin Lutta in den Materialien zu seiner Monographie über den Dialekt von Bergün (Lutta 1923) die prorsus-Hypothese für prus in Betracht zog oder jedenfalls kannte. In der Druckfassung kommt das Lemma aber nicht zur Sprache. 177 Vox Romanica 77 (2018): 172-182 DOI 10.2357/ VOX-2018-006 Dass pro ‘Nutzen, Vorteilʼ zu prode gehört, wird von niemandem bezweifelt. Die Tatsache, dass neben dem heute noch in den meisten Teilen Romanischbündens vitalen pro, prô in alten Texten auch die Form pru bezeugt ist, legt die Vermutung nahe, dass letzteres das autochthone Resultat von prode sei 7 , pro dagegen eine Entlehnung aus dem Italienischen, was für die Interjektion eng. bun prô! ‘guten Appetit! ʼ auch von HWR s. pro angenommen wird. Eine ältere Lautung pru für br. Resultate von prode weisen auch die Zusammenrückungen eng. pruglieud, surs. pruaglieud auf. Das erste Element dieser Syntagmen ist zweifellos ein Adjektiv. Leider ist die Beleglage zu mager, als dass man daraus gültige Schlüsse für die Geschichte des Adjektivs ziehen könnte, das heute prus lautet. Immerhin könnte man die folgende Chronologie als eine mögliche Hypothese aufstellen: 1. pru (eingeschlechtiges Adjektiv). 2. pru, prua (Angleichung an die übliche Form des Adjektivs mit formal unterschiedenem m./ f.). 3. prus, prusa (Herkunft des s zu diskutieren). Jedenfalls lassen das Adverb pruamein und die substantivische Fügung pruaglieud im Surselvischen auf eine Phase schliessen, in der das Adjektiv m. pru, f. prua lautete. Die folgenden Fakten sprechen für die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklung, wie sie in der obigen Hypothese skizziert ist. It. prode ist eingeschlechtiges Adjektiv, so auch die Kurzform pro, die im Mittelalter ebenfalls als Adjektiv belegt ist 8 . Eingeschlechtig ist das entsprechende Adjektiv auch im älteren Galloromanischen, so afr. prod ‘vaillant, bonʼ, aprov. pro. Das hält FEW 9: 421 N15 ausdrücklich fest 9 . Auch in gewissen Verbindungen von Adjektiv und Substantiv im mittelalterlichen Galloromanischen, die in ihrer Bildung dem bei Travers belegten pruglieud entsprechen, ist das mit einem femininen Substantiv verbundene Adjektiv eingeschlechtig, formal (noch) nicht an das Substantiv angeglichen: so in afr. profeme (hapax 13. Jh.), aprov. profemna (Gévaudan 13. Jh.; Montauban 14. Jh.), prosfemna (Tarn) 10 . Ebenso in den häufiger bezeugten Beispielen für pro mit maskulinem Substantiv: adauph. proomen, aprov. prohome 11 , span. prohombre, kat. prohom, akat. prom 12 . Angesichts der Verhältnisse im Galloromanischen erscheinen die postulierten Entwicklungsphasen 1 und 2 (vom eingeschlechtigen zum zweigeschlechtigen Adjektiv) plausibel. Bleibt die Frage nach der Herkunft des s. Hier muss wohl im Bündnerro- 7 Cf. surs./ eng. cua < coda, surs. nua, eng. inua < in-ubi, Eichenhofer 1999: 137 § 170. Die Lautung prú für prò findet sich allerdings auch in Dialekten der italienischen Schweiz. Cf. LSI 4: 149 s. prò 2 . 8 Cf. DEI s. prò. Im Splanamento de li Proverbii di Salamone rät Girard Pateg (13. Jahrhundert) dem Vater einer schlechten Tochter: «Ananz q’el po, la dea ad om savi e pro» (Monaci/ Arese 1955: 139 [60.I,159]). 9 «Bis ins 14. Jh. ist das wort eingeschlechtig». 10 FEW 9: 419. 11 FEW 9: 419. N25 und 26 halten fest, dass in diesen Fällen die Zusammensetzung nicht mit der Präposition de gebildet ist. Ob die Interpretation von fr. prud’homme als eine Fügung von Adjektiv + de + homme richtig ist, wie FEW annimmt, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. 12 FEW 9: 422 N45. Zur Geschichte von bündnerromanisch prus Ricarda Liver 178 Vox Romanica 77 (2018): 172-182 DOI 10.8357/ VOX-2017-006 manischen von einer Situation ausgegangen werden, die sich von der galloromanischen unterscheidet. Ob im Französischen für proz, prod von einem hypothetischen *prodis auszugehen ist, wage ich nicht zu entscheiden. Im Bündnerromanischen steht nach der dargestellten Beleglage am Anfang eine Form ohne s (pru eingeschlechtig, später pru, prua), was vielleicht auf eine Entlehnung aus dem Oberitalienischen (pro, pru) hinweist. Auf diesem Hintergrund erscheint die zitierte Position von Pult (prus < *prodis mit erhaltenem s) 13 wenig überzeugend. Bedenkenswert scheint mir dagegen der Vorschlag von Ulrich in seiner Ausgabe der oberengadinischen Susanna: «ein alter Nominativ ist prus [prod + s], wo das s später zum Stamm gerechnet wurde, Fem. prusa») 14 . Dass er von einer Anpassung einer älteren Form pru an die häufigen Adjektive auf s und nicht von einer Form *prodis ausging, zeigt auch die Bemerkung zu pruglieudt im Glossar p. 138: «pruglieudt (prod + leute, pru hier noch ohne das ursprünglich nominativische s [+ a]) wackere, fromme Leute» 15 . Ob die Verhältnisse im Bündnerromanischen auch ein Licht auf die Geschichte des gadertalischen pros, prossa ‘brav, artig, nett, gehorsam, frommʼ 16 werfen können, werden die Spezialisten des Dolomitenladinischen entscheiden 17 . 5. Zur Semantik Das Ziel dieses Beitrags ist die kritische Prüfung der Vorschläge zur Etymologie von br. prus: prode oder prorsus? Überlegungen zur Semantik haben bisher keine entscheidende Rolle gespielt. Abschliessend soll auch dieser Aspekt kurz beleuchtet werden. A. L. Boysen geht in ihrer Dissertation von 1941 Über den Begriff preu im Französischen der Geschichte des Adjektivs in der französischen Literatur seit dem Beginn der nationalen Epik nach. Sie verfolgt den Wandel in der Bedeutung des Begriffs, die sich je nach literarischer Gattung und der Gesellschaftsschicht, deren Ideale dieser ausdrückt, verändert. Die Situation im Bündnerromanischen ist natürlich völlig verschieden von derjenigen in Frankreich. Der späte Beginn der Schriftlichkeit und die starke Verankerung der ältesten Literatur im religiösen Bereich schaffen hier völlig andere Voraussetzungen. 13 Pult 1897: 117. 14 Ulrich 1888: 114. Cf. oben p. 175 mit N5. 15 Ulrich 1888: 138. Ob das -s, das in chertens, culponz, parenz, vengonz aus der häufigen prädikativen Verwendung dieser Adjektive zum Stamm getreten ist (f. jeweils -enza, -onza; cf. DRG 4: 467), als Stütze dieser These herbeigezogen werden darf, ist zweifelhaft. Die Erscheinung ist möglicherweise auf die Adjektive beschränkt, die auf Präsenspartizipien zurückgehen. 16 Videsott/ Plangg 1998 s.v. 17 Otto Gsell teilt mir mit, dass er nichts hält von einer etymologischen Basis prorsus. Wie er das Problem in Bezug auf gadertal. pros einschätzt, wird man wohl erfahren, wenn die Resultate seiner Kontrolle der Etymologien im Vocabolar dl Ladin leterar von Paul Videsott publiziert werden. 179 Vox Romanica 77 (2018): 172-182 DOI 10.2357/ VOX-2018-006 Der auffälligste Unterschied zwischen der Semantik von fr. preux und br. prus liegt darin, dass in prus die Bedeutung ‘Tapferkeit’ (die auch it. prode, prodezza eignet), gänzlich fehlt. Während im mittelalterlichen Frankreich prou, prouesse zu den zentralen Tugenden des Ritters gehört, bezeichnet br. prus seit dem 16. Jahrhundert das ethisch korrekte Verhalten des Menschen jeglichen Standes (‘anständig, rechtschaffen, gutʼ). Gemäss einem Ausgangspunkt prode ‘Nutzen, Vorteilʼ, wie er in zahlreichen spätantiken und mittellateinischen Bildungen belegt ist (prode esse, prodefacere etc.) 18 , kann man eine Bedeutungsentwicklung von ‘nützlich, tauglich’ zu deutlich positiv wertendem ‘gut, tugendhaftʼ annehmen, wie sie auch im älteren Deutschen im Adjektiv fromm vorliegt 19 . Die Durchsicht der zahlreichen Belege für prus, prusa in der Rätoromanischen Chrestomathie zeigt, dass das Adjektiv eine Art gemeinsamer Nenner für alle Arten moralisch guten Verhaltens ist (oder mindestens in alter Sprache war). Es erscheint auffällig häufig in Reihungen von parallelen, oft mit e, a ‘undʼ verbundenen Adjektiven, die spezifischere Aspekte positiver menschlicher Eigenschaften bezeichnen: prus e sabi, gest, sogn, cartent, fideivel, ludeivel, undreivel 20 . Wo das Adjektiv ein Substantiv begleitet, steht es oft für die an der betreffenden Person besonders geschätzte Eigenschaft, so in prus fumegl ‘treuer Dienerʼ oder als Epitheton einer idealen Gattin bei dunna oder spusa wie im Hochzeitsgedicht in der Philomela des Johannes Martinus (1684): «Usche ha ʼna tala Spusa / Noss Sr. Spus surgni ʼn la lai / Bella, scorta, castʼ e prusa» (so hat unser Herr Bräutigam eine solche Braut zur Ehe erhalten, eine schöne, kluge, züchtige und gute) 21 . Unter den Verbindungen von prus adj. mit einem Substantiv ist vor allem in den frühen Jahrhunderten ils/ nos prus vegls ‘die/ unsere guten Vorfahren (wörtlich: Alten)ʼ eine stehende Wendung. Daneben sind auch prus cartents ‘gute Gläubigeʼ, prus fumegls ‘gute Dienerʼ, prus fidels ‘gute Getreueʼ und weitere Syntagmen derselben Struktur belegt. Die religiöse Komponente von prus, die in den zitierten Verbindungen mit sogn und cartent zum Ausdruck kommt, wird deutlich in der antonymischen Gegenüberstellung von prus mit dem alten Germanismus gotlos (cf. DRG 7: 649s.), so in einer Predigt von 1658, wo es heisst: «La mortt schanegia à nagin, ne velgs e giuvens, ne richs ne paupers, ne prus ne gottlos» (der Tod verschont niemanden, weder Alte noch Junge, weder Reiche noch Arme, weder Fromme noch Gottlose) 22 . Im Rahmen der bisher beschriebenen Semantik von prus liegt auch der adverbiale Ausdruck da prus, der bedeutet, dass eine Handlung «in der Art eines Guten, Aufrichtigen …» erfolgt. Am häufigsten ist die Verbindung mit dem Verb dir: dir da prus ‘aufrichtig, ehrlich sagenʼ, so zuerst bei Gian Travers in seiner Chanzun da Müsch 18 Souter 1949, Blaise 1954, Niermeyer 1976, Stotz 2000: 400. 19 Cf. Kluge 1989 s.v. In beiden Sprachen finden sich auch Doppelungen wie dt. zu Nutz und Frommen, surs. per pro e nez. 20 Die Adjektive werden hier in der Orthographie des heutigen Surselvischen angeführt. 21 RC 6: 628. 22 RC 4: 154,5. Ähnlich RC 4: 378,12. Zur Geschichte von bündnerromanisch prus Ricarda Liver 180 Vox Romanica 77 (2018): 172-182 DOI 10.8357/ VOX-2017-006 V. 702: «Craiem que tuots, eau sʼdi da prûs» (glaubt mir das alle, ich sage es euch ehrlich). Im geistlichen Drama Spill co ilg Filg da Dieu ais naschieu (ebenfalls 16. Jahrhundert) ist das Verb far/ fer: «Ô Povels, Lodô et glorfichiôo Dieu! / Ch’el ho fatt uschea da prus, / Ch’el seis filg hô tramiss à nus» (ihr Völker, lobt und preist Gott, da er so gütig war, uns seinen Sohn zu schicken) 23 . Die von verschiedenen neueren Wörterbüchern als vorherrschend angegebene Bedeutung ‘sanft, zahm, bravʼ, vorwiegend auf das Verhalten von Tieren bezogen (cf. oben p. 173s.) ist unter den Beispielen für prus in der Rätoromanischen Chrestomathie sehr viel seltener belegt als die bisher besprochenen, welche Eigenschaften des Menschen betreffen. Ein Beispiel aus einem engadinischen Volkslied verbindet die beiden Bereiche, wenn von der Geliebten gesagt wird: «S-chʼ ün colomb ais ella prusa, Innozainta s-ch’ ün agnè» (sie ist sanft wie eine Taube, unschuldig wie ein Lamm) 24 . Den Wandel von einer Bedeutung, die ethische Vollkommenheit beschreibt, zum Ausdruck eines Verhaltens, das zu keiner Kritik Anlass gibt, kann man wohl als Pejorisierung verstehen. Es ist ein Schritt auf dem Weg zum Untergang eines Begriffs, der in früherer Zeit für einen hohen gesellschaftlichen Wert stand. Dass das Adjektiv prus heute aus der rätoromanischen Alltagssprache verschwunden ist, bestätigen Sprecher aus verschiedenen Regionen. Es wird höchstens noch ironisch, sozusagen als Zitat einer veralteten Redeweise, oder in festen Fügungen verwendet, so im Engadin, wenn von einem Menschen mit bescheidenen geistigen Fähigkeiten gesagt wird, er sei «prus sco ün charbesch» (sanft wie ein Schaf), oder in der Surselva, eine Frau sei «ina prusʼ e luvrusa» (fleissig und arbeitsam). Dass die Wörterbücher diese Situation eher verschleiern, belegt die Richtigkeit der Aussage von Eugenio Coseriu: «Wörterbücher sind … bisweilen verspätete Register der Norm» 25 . Bibliographie 1. Wörterbücher Arquint 1980 = Arquint, J. C.: Vocabulari fundamental [rumantsch-ladin], Cuoira Blaise 1954 = Blaise, A.: Dictionnaire latin - français des auteurs chrétiens, Turnhout Decurtins 2001 = Decurtins, A.: Niev vocabulari romontsch sursilvan - tudestg, Chur DEI =Battisti, C./ Alessio, G. 3 1968: Dizionario etimologico italiano, 5 vol., Firenze Ebneter 1981 = Ebneter, Th.: Wörterbuch des Romanischen von Obervaz Lenzerheide Valbella. Romanisch - Deutsch. Deutsch - Romanisch, Disentis/ Muster Eichenhofer 2002 = Eichenhofer, W.: Pledari sutsilvan - tudestg, Chur 23 RC 5: 343, V. 680-82. 24 RC 9: 64. 25 Coseriu 1973: 41. - Zum Schluss sei allen Freunden und Kollegen gedankt, die mich mit Diskussionen und mannigfacher Hilfe unterstützt haben, namentlich Matthias Grünert, Otto Gsell, Florentin Lutz, Clà Riatsch, Paul Videsott, Peter Wunderli und dem Team des Dicziunari rumantsch grischun. 181 Vox Romanica 77 (2018): 172-182 DOI 10.2357/ VOX-2018-006 Ernout/ Meillet = Ernout, A./ Meillet, A. 3 1951: Dictionnaire étymologique de la langue latine, Paris EWD = Kramer, J. 1988-98: Etymologisches Wörterbuch des Dolomitenladinischen, 8 vol., Hamburg Furer 2002 = Furer, J.-J.: Vocabulari romontsch sursilvan - franzos, Glion HWR = Bernardi, R. et al. 1994: Handwörterbuch des Rätoromanischen. Wortschatz aller Schriftsprachen, einschliesslich Rumantsch Grischun, mit Angaben zur Verbreitung und Herkunft, 3 vol., Zürich Kluge 1989 = Kluge, F. 22 1989: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/ New York LRC = Decurtins, A. 2012: Lexicon romontsch cumparativ. Sursilvan - tudestg, Cuera Mani 1977 = Mani, C: Pledari sutsilvan. Rumàntsch - tudestg. Tudestg - rumàntsch, Tusàn Niermeyer 1976 = Niermeyer, J. 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Hier zitiert nach der Separatausgabe, Erlangen 1900 Zur Geschichte von bündnerromanisch prus Ricarda Liver 182 Vox Romanica 77 (2018): 172-182 DOI 10.8357/ VOX-2017-006 Liver, R. 2018: «Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers in der Sprachgeschichte des Bündnerromanischen», VRom. 77: 129-71 Luzi, J. 1904: Lautlehre der Subselvischen Dialekte, Erlangen Lutta, M. 1923: Der Dialekt von Bergün und seine Stellung innerhalb der rätoromanischen Mundarten Graubündens, Halle Pult, G. 1897: Le parler de Sent, Lausanne Stotz, P. 2000: Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters, vol. 2: Bedeutungswandel und Wortbildung, München Ulrich, J. (ed.) 1888: Susanna. Ein oberengadinisches Drama des XVI. Jahrhunderts. Mit Anmerkungen, Grammatik und Glossar, Frauenfeld