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Behavioral Finance

Verhaltenswissenschaftliche Finanzmarktforschung im Lichte begrenzt rationaler Marktteilnehmer

0213
2017
978-3-7398-0073-8
978-3-8676-4696-3
UVK Verlag 
Rolf J. Daxhammer
Mate Facsar

Seit über 50 Jahren dominiert die neoklassische Kapitalmarkttheorie unser Verständnis für die Abläufe an Finanzmärkten. Sie hat eine Vielzahl von Theorien und Konzepten (z.B. Portfoliotheorie, Capital Asset Pricing Model oder Value-at-Risk) hervorgebracht und basiert auf der Annahme eines streng rationalen Homo Oeconomicus. Das vorliegende Buch möchte Praktikern die Türe öffnen zu einer neu entstehenden, verhaltenswissenschaftlichen Sicht auf die Finanzmärkte in der ein realitätsnäherer Homo Oeconomicus Humanus an den Märkten agiert. Er setzt bei der Entscheidungsfindung begrenzt rationale Heuristiken ein und lässt sich von emotionalen Einflüssen lenken. Die Autoren schlagen zunächst den Bogen von der neoklassischen Sicht der Finanzmärkte zur Behavioral Finance. Anschließend werden spekulative Blasen, von der Tulpenmanie bis zur Subprime Hypothekenblase, als Anzeichen für begrenzte Rationalität an Finanzmärkten ausführlich vorgestellt. Danach stehen die Heuristiken bei Anlageentscheidungen an Wertpapiermärkten im Vordergrund. Die dadurch ausgelösten Verzerrungen werden entsprechend ihrer Risiko-/Renditeschädlichkeit im Rahmen des RRS-Index® eingeordnet. Abschließend werden Beispiele für die Anwendung der Behavioral-Finance-Erkenntnisse im Wealth Management und Corporate Governance diskutiert und es wird ein Blick auf aktuelle Entwicklungen der Neuro-Finance und Emotional Finance geworfen. In dieser Auflage neu hinzugekommen ist Financial Nudging, einer besonders vielversprechenden Anwendung von Behavioral Finance-Erkenntnissen.

<?page no="2"?> Rolf J. Daxhammer Máté Facsar Behavioral Finance <?page no="3"?> Informationen und Zusatzmaterial finden Sie unter http: / / www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance <?page no="4"?> Rolf J. Daxhammer Máté Facsar Behavioral Finance Verhaltenswissenschaftliche Finanzmarktforschung im Lichte begrenzt rationaler Marktteilnehmer 2., überarbeitete und erweiterte Auflage UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="5"?> Prof. Dr. Rolf J. Daxhammer lehrt an der an der ESB Business School in Reutlingen. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Internationale Finanzmärkte, Investmentbanking, Private Wealth Management, Behavioral Finance und Europäische Integration. Máté Facsar ist als Institutional Sales Representative in der Market Data/ Financial Software Industry tätig. Die enge Zusammenarbeit mit zahlreichen Investment Professionals ermöglicht ihm die Anwendung der Behavioral Finance im Asset und Wealth Management zu verfolgen. Nach Ausbildung zum Bankkauffmann folgte ein Studium der internationalen Betriebswirtschaft an der ESB Business School in Reutlingen. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. ISBN: 978-3-86764-696-3 (Print) ISBN: 978-3-7398-0072-1 (E-PUB) ISBN: 978-3-7398-0073-8 (E-PDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2017 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Coverbild: © dell - Fotolia.com Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="6"?> Feedback: BehavioralFinance@uvk-lucius.de V Voorrwwoorrtt z zuurr z zwweeiit teenn" üübbeerraarrbbeeiitteetteenn uun ndd eerrwweeiit teerrtte enn AAuufflla aggee Dass die erste Auflage von „Behavioral Finance“ so viel Interesse aus unterschiedlicher Richtung erregen würde, hatten wir gehofft, aber nicht unbedingt erwartet. Zudem waren wir davon ausgegangen, dass das Thema primär eine akademische Leserschaft, insbesondere Studierende, ansprechen würde. Die vielen Rückmeldungen, die wir erhalten haben und für die wir uns ganz herzlich bedanken möchten, lassen allerdings darauf schließen, dass das Buch auch in Kreisen interessierter Praktiker und politischer Entscheidungsträger Anklang gefunden hat. Die vielen damit verbundenen Hinweise und Vorschläge (aus Vorlesungen, Workshops oder Vortragsveranstaltungen) finden ihren Niederschlag in der Überarbeitung und Erweiterung für diese zweite Auflage. Die zentrale Neuerung liegt darin, dass wir die Printversion und die E-Book-Version stärker auf unterschiedliche Zielgruppen ausrichten. So haben wir die „Lesbarkeit“ der Printversion für Praktiker und interessierte „Quereinsteiger“ nicht zuletzt dadurch erhöht, dass wir Übungsaufgaben, Exkurse und didaktische Zusammenfassungen den Lesern der Printversion über die buchbegleitende Webpage zugänglich machen. Und anstelle der QR-Codes wird in der Printversion ein „klassisches“ Glossar ans Ende gestellt. Die E-Book-Version wird noch stärker an den Bedürfnissen von Studierenden und akademisch Interessierten ausgerichtet. Dazu werden weitere Übungsaufgaben angeboten, der Online-Wissens-Check wird um eine dritte Ebene/ Anforderungsstufe ergänzt und zur Vertiefung der Prospect Theory sollen Rechenaufgaben dienen. Es freut uns auch, dass sich das Gebiet der Behavioral Finance in den letzten fünf Jahren inhaltlich dynamisch weiterentwickelt hat. Deshalb haben wir auch inhaltlich eine ganze Reihe von Ergänzungen vorgenommen. So wurden z.B. im Kapitel 5 weitere Spekulationsblasen analysiert. Völlig neu ist das Kapitel 12 zu Financial Nudging, einer besonders vielversprechenden Anwendung von Behavioral Finance-Erkenntnissen. In Kapitel 13 (vormals 12) wurden die aktuellen Erkenntnisfortschritte der Gehirnforschung berücksichtigt. Und die Literaturliste wurde um aktuelle Aufsätze und Bücher ergänzt. So hoffen wir, dass „Behavioral Finance“ auch in seiner zweiten Auflage einerseits den Einstieg in die Welt verhaltenswissenschaftlicher Finanzmarktforschung eröffnet; andererseits aber auch genug Vertiefungsmöglichkeiten für diejeningen anbietet, die bereits erste Schritte in die Welt der Behavioral Economics oder Finance getan haben. Rolf J. Daxhammer, Máté Facsar, ember 2016 VVoorrwwoorrtt zzuurr eerrsstteenn A Au ufflla aggee Seit über 50 Jahren dominiert die neoklassische Kapitalmarkttheorie unser Verständnis für die Abläufe an Finanzmärkten. Sie hat eine Vielzahl von Konzepten und Modellen (z.B. Portfoliotheorie, Capital-Asset-Pricing-Model, Black-Scholes Option Pricing oder <?page no="7"?> 6 Vorwort zur ersten Auflage www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Value-at-Risk) hervorgebracht und basiert ganz wesentlich auf der Annahme eines streng rational handelnden Homo Oeconomicus. Das vorliegende Lehrbuch möchte Studierenden und Praktikern die Türe öffnen zu einer neu entstehenden, verhaltenswissenschaftlichen Sicht auf die Finanzmärkte, in der ein realitätsnäherer Homo Oeconomicus Humanus an den Märkten agiert. Er setzt bei der Entscheidungsfindung begrenzt rationale Heuristiken ein und lässt sich von emotionalen Einflüssen lenken. Dabei geht es nicht darum, das Verhalten des Marktteilnehmers als richtig oder falsch zu werten. Vielmehr soll der Leser einen Eindruck gewinnen, dass unterschiedliche Blickwinkel auf das Geschehen an Finanzmärkten möglich sind. Welcher Blickwinkel in einer spezifischen Konstellation der Realität besser geeignet ist, diese Realität zu erfassen, dürfte für sich schon ein fruchtbares, neues Forschungsgebiet darstellen. Insofern geht es nicht darum, die neoklassische Kapitalmarkttheorie durch Behavioral Finance zu ersetzen, sondern vielmehr darum, sie in diese Richtung zu öffnen und die angestoßene Paradigmenerweiterung durch die Behavioral Finance vorzustellen. Im Ablauf des Studiums kann das Lehrbuch vorlesungsbegleitend zu einer Behavioral Finance-Veranstaltung im Undergraduate-Bereich im letzten Studienjahr und in der 2. Hälfte eines MBA-Programms eingesetzt werden. Statistische Vorkenntnisse und erste Einblicke in die neoklassische Kapitalmarktheorie sind für die Leser von Vorteil. Der Inhalt ist in zwölf ähnlich lange Kapitel eingeteilt, die z.B. im Wochenrhythmus erarbeitet werden können. Ein Wissens-Check zur Überprüfung der Lernfortschritte steht für die Studierenden als web-basierte Anwendung zur Verfügung. Dozenten erhalten Zugang zu einer begleitenden Vorlesungspräsentation. In vertiefenden Master-Programmen (MSc oder MA) eignet sich das Lehrbuch mit Hinweisen auf weiterführende Literatur als Einstieg in das Thema. Inhaltlich schlägt das Lehrbuch zunächst den Bogen von der neoklassischen Sicht der Finanzmärkte zur Behavioral Finance. Anschließend werden Spekulationsblasen, von der Tulpenmanie bis zur Subprime-Hypothekenblase, als Anzeichen für begrenzte Rationalität an Finanzmärkten ausführlich vorgestellt. Danach stehen die Heuristiken bei Anlageentscheidungen an Wertpapiermärkten im Vordergrund. Die dadurch ausgelösten Verzerrungen werden entsprechend ihrer Risiko-/ Renditeschädlichkeit im Rahmen des RRS-Index® eingeordnet. Abschließend werden Beispiele für die Anwendung der Behavioral-Finance-Erkenntnisse im Wealth Management und Corporate Governance diskutiert, und es wird ein Blick auf aktuelle Entwicklungen der Neuro-Finance und Emotional Finance geworfen. Anhand der Anwendungsbereiche der Behavioral Finance ist nachvollziehbar, dass der Erkenntnisprozess in vielen Bereichen erst ganz am Anfang steht. Insofern ist das Lehrbuch auch keine Sammlung bewährten, gut „abgehangenen“ Wissens, sondern der hoffentlich spannende Einblick in das Entstehen eines „jungen“, aufregenden Forschungsgebiets, der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung. Rolf J. Daxhammer, Máté Facsar, Juli 2012 <?page no="8"?> für Gela Daxhammer sowie für Josef Daxhammer und Katharina Daxhammer für Fanny Facsar und Gábor Facsar <?page no="10"?> www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance EEiinnlleeiittu unngg Tausende Business-School-Studierende lernen weltweit, mittels der Portfoliotheorie von Harry Markowitz oder des Capital-Asset-Pricing-Modells von William Sharpe die Risiken von Investments zu bewerten und die erwarteten Renditen zu errechnen. Das schwedische Nobelkomitee zeichnete die zugrunde liegenden wissenschaftlichen Errungenschaften vielfach aus und die Konzepte und Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie finden in der Praxis von Portfoliomanagern und Finanzvorständen breite Anwendung. Worauf basieren diese Modelle? Wie weit sind sie in der Lage, die Wirklichkeit abzubilden? Ist zu erwarten, dass die Marktteilnehmer (primär Anbieter und Nachfrager an den Finanzmärkten) den Konzepten und Modellen folgen und diese in Ihre Finanzentscheidung einbeziehen? Die Konzepte und Modelle der traditionellen Ökonomie verdeutlichen, was nach wie vor die Mehrheit der Ökonomen annimmt: nämlich die Existenz fundamental effizienter Märkte. Danach können, zumindest systematisch, keine Manien, Paniken oder Crashs am Kapitalmarkt entstehen, denn die Märkte sind effizient und bewirken volkswirtschaftlich die beste, paretoeffiziente Allokation der Ressourcen. Diese Sichtweise wird mit der Analyse von Spekulationsblasen im zweiten Abschnitt dieses Buches zunehmend in Frage gestellt. Die Finanzkrise ab 2008 als jüngstes Beispiel für spekulative Marktentwicklungen ist ein Exempel für die Existenz fundamental begrenzt rationaler Märkte. So entstanden im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Spekulationsblasen, weil die Marktteilnehmer der „Spekulation“ verfielen und z.B. auch dann noch kauften, als sie schon ahnen konnten, dass die Spekulationsobjekte deutlich überbewertet waren. Die verhaltenswissenschaftliche Forschung hat in den letzten 30 Jahren zahlreiche Ergebnisse hervorgebracht, wonach wir uns auch bei Finanzentscheidungen anstatt von streng rationalen Beweggründen vielmehr von unseren Emotionen oder vereinfachenden Faustregeln leiten lassen. Daniel Kahneman, einer der bekanntesten Forscher auf dem Gebiet der Behavioral Finance, erhielt den Nobelpreis für seine Erkenntnisse über Entscheidungen unter Unsicherheit. Es zeigte sich mit Hilfe von Kernspintomographen, dass bei Finanzentscheidungen oftmals das Kleinhirn der aktivste Teil des Gehirns ist - dieses ist mit Emotionen verknüpft und verbindet uns evolutionsgeschichtlich z.B. mit den Reptilien. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass unser Gehirn gelegentlich Abkürzungen in Kauf nimmt, um schneller eine Entscheidung fällen zu können. Die Behavioral Finance basiert auf der Erkenntnis, dass die Markteilnehmer aufgrund psychischer, mentaler und neuronaler Beschränkungen nur zu einem begrenzt rationalen Verhalten gemessen an der Erwartungsnutzentheorie fähig sind. Das Konzept der begrenzten Rationalität, ist zentraler Bestandteil und Ausgangspunkt der Behavioral-Finance-Forschung. Sie widerspricht auch der Annahme, dass die begrenzt rationalen Verhaltensweisen einzelner Individuen aufgrund der Heterogenität der Marktteilnehmer neutralisiert werden und sich folglich nicht im Marktergebnis niederschlagen. Vielmehr erwarten die Befürworter der Behavioral Finance eine Paradigmenerweiterung, welche die ökonomischen Konzepte und Prinzipien der neoklassischen Kapitalmarkttheorie um psychologische, soziologische und neurologische Aspekte ergänzt. <?page no="11"?> 10 Einleitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Der erste Abschnitt dieses Buches steht ganz im Zeichen der Verhaltensweisen, die im Rahmen der neoklassischen Theorie von den Marktteilnehmern erwartet werden. Das Studium der Annahmen, auf denen die einzelnen Konzepte und Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie gründen, ist entscheidend, um in den nachfolgenden Abschnitten die tatsächliche Verhaltensweise der Marktteilnehmer einordnen und interpretieren zu können. Der zweite Abschnitt greift überblickartig die Entwicklung der Behavioral Finance als neue Forschungsrichtung auf, um die Verhaltensweisen der Marktteilnehmer (primär Anbieter und Nachfrager an den Finanzmärkten) deuten und erklären zu können. Im Sinne der angesprochenen Paradigmenerweiterung mehren sich Zweifel, ob alleine mit dem klassischen Theoriegebäude die Verhaltensweisen der Marktteilnehmer erklärt werden können. Im dritten Abschnitt soll verdeutlicht werden, wie der Marktteilnehmer, in der Person des Anlegers aus der Sicht der Vermögensverwaltung, seine Entscheidung durch die Anwendung von Heuristiken vereinfacht. Zudem wird geklärt, welche zu suboptimalen Entscheidungen führenden Einflüsse im Prozess der Entscheidungsfindung auf den Anleger einwirken können. In diesem Kontext wird das begrenzt rationale Verhalten der Marktteilnehmer aus der Sicht des Wealth Managements (Finanzberatung für vermögende Privatkunden), und, wo es sich anbietet, aus der Perspektive des Private Equity Investitionsprozesses beleuchtet. Hierbei stehen die Phasen der Entscheidungsfindung im Vordergrund. Es wird aufgezeigt, welche Heuristiken die Anleger, aber auch die Anlageberater in den einzelnen Phasen der Entscheidungsfindung anwenden. Die angeführten Erklärungen haben zum Ziel, begrenzt rationales Verhalten durch Erkenntnisse zu belegen, die nach momentanem Stand der Forschung für das beobachtbare Verhalten der Marktteilnehmer verantwortlich sind. Dabei sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Behavioral-Finance-Forschung gerade in diesem Bereich fortlaufenden Weiterentwicklungen unterworfen ist. Im vierten und letzten Abschnitt steht die Anwendung der Erkenntnisse aus der Behavioral Finance in ausgewählten Themenbereichen im Vordergrund. Das Augenmerk ist hier auf die Anlageberatung im Wealth Management, die strategischen Entscheidungen von Unternehmenslenkern und das Financial Nudging gerichtet. Außerdem soll im vierten Abschnitt ein Ausblick auf künftige Forschungsrichtungen gegebenen werden bzw. neue, noch relativ junge Gebiete wie die Neuro-Finance und die Emotional Finance vorgestellt werden. Diese beiden Forschungsrichtungen haben bisher schon dazu beigetragen, die Ursachen für begrenzt rationale Verhaltensweisen zu erforschen und die bislang unbewusst ablaufenden Prozesse, wie Emotionen, Phantasien und Ängste, in den Mittelpunkt von Finanzmarktentscheidungen zu rücken. Das Buch ist in insgesamt dreizehn Kapitel aufgeteilt. Die nachfolgenden Informationen geben einen ersten Überblick über die behandelten Themengebiete und die vermittelten Inhalte. Im ersten Kapitel stehen die Entscheidungstheorien und Konzepte des rationalen Entscheidens im Vordergrund der Betrachtung. Nach Durcharbeiten des Kapitels werden Sie die Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweisen, angefangen von der klassischen Nationalökonomie bis hin zur Emotional Finance, kennenlernen. Im Rahmen des ersten Unterkapitels werden Sie die stark wechselnde Einbindung der Psychologie in die Wirtschaftswissenschaften verfolgen können. Neben der Betrachtung der <?page no="12"?> Einleitung 11 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance einzelnen Sichtweisen werden Sie die grundlegenden Entscheidungstheorien und Konzepte der neoklassischen Kapitalmarkttheorie kennenlernen. Hierbei liegt der Fokus auf dem Konzept des Homo Oeconomicus sowie auf den Verhaltensweisen, die auf Basis der neoklassischen Kapitalmarkttheorie postuliert werden. Sie werden beim Studium der Entscheidungstheorien und Konzepte deutliche Abweichungen vom tatsächlichen Verhalten der Marktteilnehmer erkennen, welche zunehmend als ein Anstoß für eine Paradigmenerweiterung durch die Behavioral Finance interpretiert werden können. Im zweiten Kapitel werden Sie die Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie kennenlernen, die für die Ermittlung der erwarteten Rendite sowie des Risikos von Wertpapieren genutzt werden. Darüber hinaus lernen Sie auf Basis der Fundamentalanalyse sowie der charttechnischen Analyse die Bewertungsansätze finanzwirtschaftlicher Entscheidungen kennen. Sie werden nach Durcharbeiten dieses Kapitels die zunehmende Kritik an den aufgeführten Modellen verstehen und erhalten zudem über die Beschreibung „Schwarzer Schwäne“ einen Einblick in reale Marktgegebenheiten, die sich mit der neoklassischen Kapitalmarkttheorie nur schwer in Einklang bringen lassen. Das dritte Kapitel steht ganz im Zeichen des Homo Oeconomicus Humanus - dem Markteilnehmer, der die Paradigmenerweiterung in Richtung Behavioral Finance symbolisiert. Sie werden beim Durcharbeiten dieses Kapitels zum einen die Zielsetzung und Entwicklung der Behavioral Finance kennenlernen. Zum anderen werden Sie den Marktteilnehmer als einen begrenzt rational handelnden Investor erleben. Im vierten Kapitel stehen die Spekulationsblasen als Anzeichen für wiederkehrende und anhaltende Marktanomalien im Fokus der Betrachtung. Sie werden neben der Entstehung und den Ursachen für die Bildung von Spekulationsblasen die unterschiedlichen Phasen und Arten von Spekulationsblasen kennenlernen. Darüber hinaus werden Sie die Rolle des Herdentriebs als Triebfeder von Spekulationsblasen in das Gefüge wiederkehrender Marktanomalien einordnen können. Schließlich werden Sie die bedeutendsten Kapitalmarktanomalien kennenlernen, die teilweise nur kurzfristig andauern, während andere mittelbis langfristig auf den Kapitalmärkten zu beobachten sind. Das fünfte Kapitel steht im Zeichen historischer Spekulationsblasen. Nach Durcharbeiten dieses Kapitels werden Sie die wichtigsten Spekulationsblasen in der Geschichte der Finanzmärkte kennen, und Sie verstehen typische Eigenschaften der Kapitalmärkte, die zu Turbulenzen führen können. Sie werden zudem in der Lage sein, die Entwicklung historischer Spekulationsblasen auf Basis des Fünf-Phasen-Modells von Kindleberger/ Minsky zu erklären und dieses auf aktuelle Spekulationsblasen anzuwenden. Nach Durcharbeiten des sechsten Kapitels kennen Sie die Grundlage des Informations- und Entscheidungsprozesses und Sie verstehen, welche Wahrnehmungsstörungen den Marktteilnehmer an der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen hindern können. Zudem lernen Sie die Grundlage der Entscheidungsfindung aus Sicht der Behavioral Finance kennen: Die Prospect Theory als Alternative zur traditionellen Erwartungsnutzentheorie. Sie werden verstehen, wie zum einen über die S-förmige Wertfunktion die Einstellung des Marktteilnehmers zum Risiko beschrieben wird, zum anderen über die Gewichtungsfunktion objektive Wahrscheinlichkeiten entsprechend subjektiver Ansichten transformiert werden. Diese beiden Ansatzpunkte werden Ihnen die Bewertung von Wertpapieren auf Basis der Prospect Theory verdeutlichen und die kognitiven Begrenzungen der Marktteilnehmer aufzeigen. <?page no="13"?> 12 Einleitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Das siebte Kapitel steht im Zeichen des Verhaltens der Marktteilnehmer während der Informationsaufnahme. Sie werden die kognitiven und emotionalen Heuristiken kennenlernen, die in dieser Phase des Informations- und Entscheidungsprozesses die Informationsaufnahme zwar erleichtern, den Marktteilnehmern jedoch die objektive Sichtweise auf den Kapitalmarkt erschweren. Sie werden zudem in diesem und in den Folgekapiteln 8 und 9 die Auswirkung der betrachteten Heuristiken auf die Verhaltensweise des Marktteilnehmers erkennen und die risiko-/ renditeschädliche Wirkung jeder einzelnen Heuristik einordnen können. Das achte Kapitel beschäftigt sich mit der zweiten Prozessstufe im Informations- und Entscheidungsprozess: Die Informationsverarbeitung. Auch in dieser Phase verwenden die Marktteilnehmer bestimmte Heuristiken, die zu begrenzt rationalen Verhaltensweisen führen können. Sie werden in diesem Kapitel die wichtigsten Heuristiken kennenlernen, die die Informationsverarbeitung und -bewertung für den Homo Oeconomicus Humanus erleichtern, aber auch verzerren. Im neunten Kapitel werden Sie die dritte und letzte Prozessstufe im Informations- und Entscheidungsprozess erkunden. Sie werden die wesentlichen Heuristiken, die während der Investitionsentscheidung zur Anwendung kommen, kennenlernen, und Sie können die begrenzt rationalen Verhaltensweisen des Homo Oeconomicus Humanus nachvollziehen. Im zehnten Kapitel werden Sie erkennen, in welcher Intensität beratene als auch beratende Marktteilnehmer in ihrer Entscheidungsfindung durch die Anwendung von Heuristiken beeinflusst werden können. Dabei werden Sie Möglichkeiten zur Begrenzung risiko-/ renditeschädlichen Verhaltens in Abhängigkeit des Vermögensstandes des Anlegers sowie des Ursprungs der Heuristik identifizieren. Im Weiteren werden in diesem Kapitel für jede einzelne Heuristik Maßnahmen vorgestellt, die zum einen die Erhöhung der Beratungsqualität (im Sinne einer kundengerechten Darstellung von Renditen und Risiken) und zum anderen die Steigerung des Produktabsatzes zum Ziel haben. Im elften Kapitel stehen begrenzt rationale Verhaltensweisen im Rahmen der Unternehmensführung im Mittelpunkt der Betrachtung. Sie werden die Treiber für begrenzt rationale Verhaltensweisen, wie z.B. die Selbstüberschätzung von Unternehmenslenkern, kennenlernen und können ihre Auswirkungen auf die Entwicklung der Gesamtrentabilität von Unternehmen einordnen. Zudem werden Sie bestimmte unternehmerische Aktivitäten aus der Sichtweise der Behavioral Finance betrachten und erkennen dadurch, wie stark sich psychologische Einflüsse auf Unternehmensentscheidungen auswirken können. Dabei wird neben der Dividendenpolitik und der Erstemission von Aktien auch die Auswirkung unterschiedlicher Entlohnungskonzepte im Rahmen der Corporate Governance betrachtet. Abgerundet wird das Kapitel mit einer Diskussion des „Equity Premium Puzzles“ aus Behavioral Finance Perspektive. Im zwölften Kapitel wird eine recht neue Anwendung der Behavioral Finance Erkenntnisse vorgestellt. Dabei geht es um die Identifizierung und Darstellung von Ansätzen, wie man aus wirtschaftspolitischer Sicht Menschen zu einem besseren Entscheidungsverhalten bei Finanzprodukten und -dienstleistungen bewegen kann. Hierfür werden sogenannte Nudges bei Krediten, Kreditkarten, Hypotheken, der Altersvorsorge und Aktien/ Anleihen erläutert. Der „Libertäre Paternalismus“ bildet hierfür den theoretischen Rahmen und wird daher im Kapitel ausführlich diskutiert. <?page no="14"?> Einleitung 13 Im dreizehnten und letzten Kapitel soll ein Ausblick hinsichtlich neuer Forschungsrichtungen innerhalb der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung gegeben werden. Neue Denkanstöße und entsprechend neue Forschungsergebnisse haben jetzt schon die bestehenden Grenzen der Behavioral Finance verschoben. In diesem Sinne führt das Kapitel an die erwähnten Grenzen und stellt anschließend zwei neue Forschungsrichtungen aus der verhaltenswissenschaftlichen Forschung vor. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Neuro-Finance, welche die Zielsetzung verfolgt, die Ursachen für begrenzt rationale Verhaltensweisen auf Basis der Hirnforschung zu ergründen. Darüber hinaus wird die Emotional Finance als neue Forschungsrichtung vorgestellt, in der unbewusst ablaufende, mentale Prozesse erforscht werden. <?page no="16"?> www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance IIn nhhaallttssvveer rzzeeiicchhnniiss Vorwort zur zweiten Auflage .................................................................................................... 5 Vorwort zur ersten Auflage ....................................................................................................... 5 Einleitung...................................................................................................................................... 9 ................... 1199 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens..................................................................................................................... 19 1.1 Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweisen ................................ 20 1.2 Entscheidungstheorien und Konzepte der Neoklassik .......................................... 26 1.2.1 Konzept des Homo Oeconomicus nach Adam Smith........................................... 26 1.2.2 Random Walk Theory nach Louis Bachelier ........................................................... 27 1.2.3 Erwartungsnutzentheorie von Morgenstern und von Neumann ......................... 32 1.2.4 Informationsverarbeitung nach Bayes....................................................................... 36 1.2.5 Effizienzmarkthypothese nach Eugene Fama ......................................................... 39 Zusammenfassung .................................................................................................................... 45 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie........................................... 47 Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie.................................................... 47 2.1.1 Portfolio Selection Theory nach Harry Markowitz................................................. 47 Capital-Asset-Pricing-Modell nach William Sharpe ................................................ 54 Arbitrage Pricing Theory als Alternative zum CAPM............................................ 59 Bewertungsansätze als Basis finanzwirtschaftlicher Entscheidungen.................. 61 2.2.1 Fundamentale Wertpapieranalyse .............................................................................. 61 2.2.2 Charttechnische Analyse.............................................................................................. 67 Alte vs. neue Realität - der Schwarze Schwan......................................................... 72 Zusammenfassung .................................................................................................................... 76 Schlussbetrachtung Abschnitt I .............................................................................................. 77 -- .......................................................................................... 7799 3 Das Investorenverhalten aus Sicht der Behavioral Finance ......................... 79 3.1 Ausgangspunkt und Zielsetzung der Behavioral Finance ...................................... 79 3.1.1 Begriff der Rationalität im Zuge der Paradigmenerweiterung .............................. 82 3.1.2 Abkehr von der Erwartungsnutzentheorie - Begrenzte Rationalität................... 86 3.2 Betrachtungswechsel im Rahmen der Behavioral Finance .................................... 89 3.2.1 Vergleich der neoklassischen mit der verhaltensorientierten Ökonomie........... 89 3.2.2 Untersuchungsmethoden der Behavioral Finance .................................................. 92 <?page no="17"?> 16 Inhaltsverzeichnis www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 3.2.3 Der Investor im Wandel der Zeit ...............................................................................96 Zusammenfassung.....................................................................................................................98 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien................................... 101 4.1 Ursachen für die Entstehung und Verstärkung von Spekulationsblasen ......... 101 4.1.1 Herdentrieb ................................................................................................................. 104 4.1.2 Grenzen der Arbitrage .............................................................................................. 107 4.2 Anatomie von Spekulationsblasen nach Kindleberger/ Minsky ......................... 111 4.3 Detailbetrachtung Spekulationsblasen und Kapitalmarktanomalien................. 115 4.3.1 Bedeutung von Spekulationsblasen für Volkswirtschaften................................. 116 4.3.2 Arten von Spekulationsblasen.................................................................................. 117 4.3.3 Arten von Kapitalmarktanomalien.......................................................................... 120 Zusammenfassung.................................................................................................................. 127 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick................................................ 129 5.1 Markteigenschaften als Auslöser von Spekulationsblasen .................................. 130 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen ........................................................ 132 5.2.1 Die Tulpenmanie von 1636 ...................................................................................... 133 5.2.2 Die John-Law-Spekulationsblase von 1716 ........................................................... 136 5.2.3 Die Südseespekulationsblase von 1720 .................................................................. 138 5.2.4 Der Börsenboom und -crash von 1929.................................................................. 142 5.2.5 Die Dotcom-Spekulationsblase ab 1997 ................................................................ 144 5.2.6 Die US-Subprime-Kreditkrise ab 2007................................................................... 147 5.2.7 Multiple Spekulationsblasen nach der Subprime Kreditkrise (ab 2012) ........... 152 5.3 Hinweise auf Spekulationsblasen im Private Equity ............................................ 160 Zusammenfassung.................................................................................................................. 167 Schlussbetrachtung Abschnitt II.......................................................................................... 168 A Abbssc chhnniitttt IIIIII -- cc nn i icc ss nn ss ii IInn ttii nnss-nn nnttsscchh ii nn ss ssss ............................................................................. 116699 6 Phasen der Entscheidungsfindung .................................................................... 169 6.1 Der Informations- und Entscheidungsprozess im Überblick ............................ 169 6.1.1 Informationswahrnehmung...................................................................................... 171 6.1.2 Informationsverarbeitung/ -bewertung .................................................................. 175 6.1.3 Investitionsentscheidung .......................................................................................... 177 6.2 Basis der Entscheidungsfindung aus Sicht der Behavioral Finance .................. 179 6.2.1 Entscheidungsfindung auf Basis der Prospect Theory ........................................ 179 6.2.2 Merkmale der Bewertungsfunktionen .................................................................... 183 6.2.3 Bewertung von Wertpapieren auf Basis der Prospect Theory ........................... 187 Zusammenfassung.................................................................................................................. 192 <?page no="18"?> Inhaltsverzeichnis 17 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 7 Begrenzte Rationalität bei der Informationswahrnehmung ...................... 193 7.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs ........................................................................... 196 7.1.1 Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeiten (u.a. Verfügbarkeits-heuristik) ...196 7.1.2 Fehleinschätzung von Informationen (u.a. selektive Wahrnehmung) ...............203 7.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs - Herdenverhalten .....................................209 7.3 Einschätzung der Risiko-/ Renditeschädlichkeit betrachteter Heuristiken .......211 Zusammenfassung .................................................................................................................. 213 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung.......................... 215 8.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs ........................................................................... 216 8.1.1 Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeiten (u.a. Ambiguitätsaversion) .........217 8.1.2 Fehleinschätzung von Informationen ...................................224 8.1.3 Fehleinschätzung der objektiven Realität (u.a. mentale Buchführung)...............227 8.1.4 Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten (u.a. Selbstüberschätzung)..............232 8.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs - Umkehr der Risikobereitschaft ............238 8.3 Einschätzung der Risiko-/ Renditeschädlichkeit betrachteter Heuristiken .......240 Zusammenfassung .................................................................................................................. 242 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung...........................245 9.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs ........................................................................... 246 9.1.1 Fehleinschätzung der objektiven Realität - Selektive Entscheidung .................246 9.1.2 Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten (u.a. Selbstattribution).....................248 9.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs........................................................................251 9.2.1 Fehleinschätzung der objektiven Realität (u.a. Reueaversion) ............................251 9.2.2 Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten (u.a. Reueaversion) ..........................261 9.3 Einschätzung der Risiko-/ Renditeschädlichkeit betrachteter Heuristiken .......267 9.4 Überblick im Informations- und Entscheidungsprozess betrachteter Heuristiken................................................................................................................... 269 Zusammenfassung .................................................................................................................. 271 Schlussbetrachtung Abschnitt III.........................................................................................273 A Abbssc chhnniitttt IIVV -- AAnn nn nn ssb b iicchh nn iitt n ntt i icc nn hh ii iinn nncc ..................................................................................................... 227755 10 Anwendung der Behavioral Finance in der Anlageberatung .....................275 10.1 Überblick über begrenzt rationales Verhalten in der Anlageberatung...............277 10.2 Umgang mit Heuristiken in der Anlageberatung...................................................282 10.2.1 Heuristiken während der Informationswahrnehmung ......................................... 284 10.2.2 Heuristiken während der Informationsverarbeitung/ -bewertung......................287 10.2.3 Heuristiken während der Investitionsentscheidung.............................................. 290 Zusammenfassung .................................................................................................................. 294 <?page no="19"?> 18 Inhaltsverzeichnis 11 Anwendung der Behavioral Finance in der Unternehmensführung....... 295 11.1 Overconfidence bei unternehmerischen Investitionsentscheidungen .............. 295 11.2 Ausschüttungspolitik aus Sicht der Behavioral Finance ...................................... 301 11.3 Initial Public Offerings aus Sicht der Behavioral Finance................................... 306 11.4 Corporate Governance aus Sicht der Behavioral Finance .................................. 309 11.5 Equity Premium Puzzle............................................................................................. 314 Zusammenfassung.................................................................................................................. 315 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze für bessere Finanzentscheidungen.......................................................................................... 317 12.1 Libertärer Paternalismus.......................................................................................... 317 12.1.1 Entscheidungsarchitektur........................................................................................ 318 12.1.2 Wahlfreiheit & Paternalismus................................................................................. 319 12.1.3 Arten und Merkmale des Nudging ........................................................................ 320 12.1.4 Kritik am libertären Paternalismus ........................................................................ 325 12.2 Financial Nudging/ Finanzielle Nudgingansätze ................................................. 328 12.2.1 Verhaltenswissenschaftliche Grundlagen des Financial Nudging.................... 329 12.2.2 Kredite........................................................................................................................ 330 12.2.3 Kreditkarten .............................................................................................................. 332 12.2.4 Hypotheken ............................................................................................................... 334 12.2.5 Altersvorsorge ........................................................................................................... 335 12.2.6 Aktien und Anleihen ................................................................................................ 339 Zusammenfassung.................................................................................................................. 342 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft ...... 343 13.1 Grenzen der Behavioral Finance ........................................................................... 343 13.2 Entstehung der Neuro-Finance/ Neuroökonomie ............................................. 345 13.2.1 Erforschung des menschlichen Gehirns .............................................................. 347 13.2.2 Entscheidungsprozesse aus Sicht der Neuro-Finance ....................................... 351 13.3 Entstehung der Emotional Finance ...................................................................... 358 13.3.1 Emotionen als Grundlage für Investitionsentscheidungen............................... 359 13.3.2 Interpretation von Marktbewegungen aus Sicht der Emotional Finance ....... 364 Zusammenfassung.................................................................................................................. 369 Schlussbetrachtung Abschnitt IV ........................................................................................ 370 Glossar...................................................................................................................................... 371 Literaturverzeichnis ............................................................................................................ 383 Abbildungsverzeichnis....................................................................................................... 403 Personen- und Sachverzeichnis....................................................................................... 407 <?page no="20"?> 2.11.1 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance AAbbsscchhn niitttt I I DDeerr HHoommoo O Oeeccoonnoommiiccuuss iimm ZZeennttrruumm d deerr NNeeookkllaassssiikk 11 DDi ie e nne eook kl la as sssiis scchhe e KKa ap pi itta al lm maarrk ktttth heeoor ri ie e aal ls s GGr ru un nd dl laaggee rra attiio on na alleen n VVeerrh haalltte enns s Nach Durcharbeiten des Kapitels werden Sie die Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweisen, angefangen von der klassischen Nationalökonomie bis hin zur Emotional Finance, kennenlernen. Im Rahmen des ersten Unterkapitels werden Sie die stark wechselnde Einbindung der Psychologie in die Wirtschaftswissenschaften verfolgen können. Neben der Betrachtung der einzelnen Sichtweisen werden Sie die grundlegenden Entscheidungstheorien und Konzepte der neoklassischen Kapitalmarkttheorie kennenlernen. Hierbei liegt der Fokus auf dem Konzept des Homo Oeconomicus sowie auf den Verhaltensweisen, die auf Basis der neoklassischen Kapitalmarkttheorie postuliert werden. Sie werden beim Studium der Entscheidungstheorien und Konzepte deutliche Abweichungen der Realität vom angenommenen Verhalten der Marktteilnehmer erkennen, welche zunehmend als ein Anstoß für eine Paradigmenerweiterung durch die Behavioral Finance interpretiert werden können. Auf der Bühne der Investitionsentscheidungen an Finanzmärkten sehen die Befürworter der traditionellen Ökonomie eine Schar von rational agierenden Akteuren; der emotionale Homo Sapiens (oder auch später als Homo Oeconomicus Humanus bezeichnet) kommt in ihrem Bühnenstück nicht vor. Vielmehr verkörpert der Homo Oeconomicus den Marktteilnehmer, der perfekt rationale Entscheidungen trifft, unlimitierte Analysekapazitäten für jegliche Informationsmenge bereithält und seine Präferenzen entsprechend der Erwartungsnutzentheorie ausrichtet. Die Anhänger der Behavioral-Finance-Forschung versuchen, das Bühnenstück realistischer zu gestalten und den Homo Oeconomicus durch einen der Wirklichkeit eher entsprechenden Marktteilnehmer zu ersetzen. Richard Thaler, einer der zentralen Protagonisten der Behavioral Finance, hielt den schwelenden Konflikt um den wahren Marktteilnehmer auf einer Konferenz des National Bureau of Economic Research (NBER) mit Robert Barro, Befürworter der traditionellen Sichtweise, wie folgt fest: „The difference between us is that you assume people are as smart as you are, while I assume people are as dumb as I am.“ (vgl. Thaler zit. nach Robert Bloomfield, 2010, S. 23) In Anlehnung an das obige Zitat ist es die Zielsetzung der ersten beiden Kapitel dieses Buches, den Leser durch die Debatte über die fundamentalen Annahmen bezüglich der Verhaltensweisen der Marktteilnehmer zu leiten und gleichzeitig mögliche Ansatzpunkte für Anpassungen im Grundgerüst der neoklassischen Kapitalmarkttheorie vorzuschlagen. <?page no="21"?> 20 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1 1..11 EEnnttwwiic ckkllu un ngg d deer r wwiir rttsscchhaaffttsswwiis ssseen nsscchhaaffttlliicchheen n SSiic chhttwweei is seen n Die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften (vgl. Abb. 1) sowie ihrer grundlegenden Annahmen wurde von den Sichtweisen einzelner bedeutender Wissenschaftler geprägt. In Abhängigkeit von der vorherrschenden Meinung wurden menschliche Einflüsse auf die Entscheidungsfindung der Marktteilnehmer mit unterschiedlicher Intensität verfolgt. So spielten psychologische Einflüsse im Zeitalter der klassischen Nationalökonomie eine bedeutende Rolle, sie sollten allerdings bis zur Entstehung der Behavioral Finance weitestgehend zurückgedrängt werden. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass sich der theoretische Rahmen rationalen Verhaltens in der Epoche der neoklassischen Kapitalmarkttheorie entwickelte und auch heute noch in den angewendeten Konzepten und Modellen Beachtung findet. Entwicklung der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung Abb. 1: Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweisen Zeitalter der klassischen Nationalökonomie In der Mitte des 18. Jahrhunderts, im Zeitalter der klassischen Nationalökonomie, begannen Wirtschaftswissenschaftler, die menschlichen Einflüsse auf die Entscheidungsfindung zu analysieren. Diese Anfänge bildeten die Grundlage für die Entstehung der verhaltensorientierten Kapitalmarktforschung. Man versuchte, den ökonomischen Nutzen des Konsums mit psychologischen Ansätzen zu verbinden. Adam Smith prägte seinerzeit die Entwicklung der klassischen Nationalökonomie. Er beschrieb in dem vielbeachteten Aufsatz „The Theory of Moral Sentiments“ von 1759 die psychologischen Prinzipien des individuellen Verhaltens. Sein grundlegendes Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ von 1776 wird heute mit dem Beginn der klassischen Nationalökonomie gleichgesetzt. Smith vertrat die Ansicht, dass die Märkte am besten frei von staatlichen Einflüssen sein sollten und von einer unsichtbaren Hand geleitet werden. Die Selbstregulierung <?page no="22"?> 1.1 Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweisen 21 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance der Marktkräfte sollte quasi automatisch Gleichgewicht und Vollbeschäftigung herbeiführen. Grundlage dieser Denkweise war das menschliche Handeln, welches sich allein aus ökonomischen Motiven und rationalen Überlegungen speist. Die Psychologie erlebte im 19. Jahrhundert ihren Aufschwung, als die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise in der Psychologie Einzug hielt. So führte Hermann Ebbinghaus experimentelle Methoden in die Psychologie ein und leistete herausragende Beiträge zur Erforschung von Lernen und Gedächtnis. Er zeigte, dass Erinnerungen unterschiedliche Lebenszyklen haben. Einige sind kurzlebig, andere wiederum überdauern Tage oder auch Wochen. Erinnerungen, die Tage und Wochen überdauern, werden schließlich widerstandsfähig gegen Störungen und bleiben damit im Gedächtnis gespeichert. Mitte des 19. Jahrhunderts folgte dann die weit verbreitete Beobachtung von Tierverhalten auf Basis der Vermutung von Charles Darwin, dass geistige Merkmale von Säugetieren untereinander ähnlich sind. Zeitalter der neoklassischen Ökonomie Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die klassische Nationalökonomie von der neoklassischen Ökonomie abgelöst. In der Folge wurde das Bestreben, das Marktverhalten durch die Psychologie zu erklären, weitestgehend zurückgedrängt. Zentrale Annahme der neoklassischen Ökonomie war das Modell des Homo Oeconomicus, das den Marktteilnehmer als ein rationales, nutzenorientiertes und vollständig informiertes Individuum darstellt (vgl. Kap. 1.2.1). Die professionelle Geldanlage wurde allerdings zunächst nicht unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet, sondern vielmehr als Kunst angesehen. Selbst John M. Keynes sah die Investition in Aktien in erster Linie als Spekulation an und verglich den Aktienmarkt mit einem Schönheitswettbewerb. „It is not a case of choosing those [faces] that, to the best of one’s judgment, are really the prettiest, nor even those that average opinion genuinely thinks the prettiest. We have reached the third degree where we devote our intelligences to anticipating what average opinion expects the average opinion to be. And there are some, I believe, who practice the fourth, fifth and higher degrees.“ (Keynes, zit. nach Montier, 2007, S. 91) Der Beginn der Entwicklung der neoklassischen Kapitalmarkttheorie wird in der Regel mit der Doktorarbeit von Louis Bachelier im Jahre 1900 in Verbindung gebracht. Bachelier formulierte erste Erkenntnisse, die sich mit der Art und Weise, wie sich Aktienkurse entwickeln, befassten. Seine Erkenntnis, dass Aktienkursbewegungen mittels stochastischer Prozesse modellierbar sind und die statistische Eigenschaft eines reinen Zufallsprozesses aufweisen, war die Grundlage für die Random Walk Theory (vgl. Kap. 1.2.2); jene Theorie, wonach sich Aktienkurse ohne „Gedächtnis“, d.h. unabhängig von den vorher realisierten Kursen nach oben oder nach unten bewegen (vgl. Gehrig & Zimmermann, 1999. S. 5). Die meisten der verwendeten Entscheidungstheorien und Konzepte als Grundlage rationalen Verhaltens entwickelten sich zeitlich im Rahmen der Weltwirtschaftskrise 1929. <?page no="23"?> 22 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance So entwickelte sich die Theorie effizienter Kapitalmärkte, als sich Alfred Cowles in den 1930er-Jahren erstmals systematisch mit der Vorhersagbarkeit von Aktienkursen beschäftigte. Die Hypothese, dass Aktienkurse nach der Random Walk Theory nicht vorhersagbar sind, wurde schließlich von Holbrook Working in den 1940er-Jahren operationalisiert und empirisch überprüft. Im Jahr 1936 wurde ein weiterer Versuch der Einbindung psychologischer Einflüsse in die Entscheidungsfindung der Marktteilnehmer sichtbar. John M. Keynes 1 vertrat in seinem Werk „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ von 1936 den Ansatz, dass die Wirtschaft nicht alleine von rationalen Marktteilnehmern, die wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt ökonomische Vorteile verfolgen, beherrscht wird. Er räumte zwar ein, dass das wirtschaftliche Handeln größtenteils von ökonomischen Motiven bestimmt wird, setzte dem aber entgegen, dass es häufig auch von Instinkten beeinflusst wird. Diese Instinkte, die er als Animal Spirits bezeichnete, seien eine wichtige Ursache für Schwankungen der Konjunktur und für unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Keynes war der Überzeugung, dass kapitalistische Volkswirtschaften, die sich selbst überlassen bleiben, zu Exzessen neigen. Es kommt zu Manien, die wiederum in Ausbrüchen von Panik münden. Er vertrat die Ansicht, dass der Staat eine angemessene Rolle in der Regulierung der Märkte einnehmen sollte. Der Staat sollte Exzessen entgegenwirken, die durch die Animal Spirits hervorgerufen werden. Zeitalter des Keynesianismus In der Folgezeit, und insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren, wurde die Allgemeine Theorie von Keynes auch insofern „postkeynesianisiert“, als dass die Animal Spirits fast gänzlich entfernt wurden. Als Resultat entstand eine Theorie, die die Unterschiede zwischen der Allgemeinen Theorie und den Standardaussagen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie soweit einengte, dass kaum noch Raum für instinktives Handeln übrig blieb. Die Neoklassiker der 1960er Jahre waren der Meinung, dass instinktives Handeln aus der Wirtschaftstheorie komplett ausgeblendet werden sollte. Die neoklassische Kapitalmarkttheorie erlebte eine Renaissance (vgl. Shiller 2009 S. 8 ff.). Basierend auf den Erkenntnissen von Louis Bachelier entwickelte Eugene Fama in den 1960er-Jahren die Effizienzmarkthypothese (vgl. Kap. 1.2.5). Sie beschreibt einen Markt als effizient, wenn die Wertpapierkurse alle vorhandenen Informationen komplett widerspiegeln (vgl. Garz, Günther & Moriabadi, 2002, S. 82). Die Rationalität von Individuen wurde allerdings gleichzeitig durch die Experimente von Maurice Allais (1953) und Daniel Elsberg (1961) zunehmend in Frage gestellt. Die Experimente verdeutlichten, dass Individuen gegen die zuvor in den 1940er-Jahren von John von Neumann und Oskar Morgenstern entwickelten Axiome (vgl. Kap. 1.2.3) zur Fundierung des Bernoulli-Prinzips rationaler Investoren verstoßen. Diese ersten Ergebnisse aus den Experimenten von Allais und Elsberg gelten als Basis für die verhaltenswissenschaftliche Kapitalmarktforschung. 1 Bei der Zuordnung der genannten Protagonisten steht der zeitliche Aspekt im Vordergrund und nicht unbedingt die inhaltliche Zuordnung, wie es z.B. bei John M. Keynes ganz offensichtlich der Fall ist. <?page no="24"?> 1.1 Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweisen 23 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Im Bereich des kollektiven Rationalverhaltens ist der Beitrag von John Muth hervorzuheben, der die Theorie der rationalen Erwartungen Anfang der 1960er Jahre entwickelt hat. Die Theorie besagt, dass die Marktteilnehmer alle verfügbaren Informationen bei ihrer Erwartungsbildung nutzen und aus ihren Erwartungsfehlern lernen. Erwartungen entstehen, indem Informationen fortwährend aktualisiert und neu interpretiert werden. Als Meilenstein für die Entwicklung von Modellen in der neoklassischen Kapitalmarkttheorie wurde die von Harry Markowitz 1952 entwickelte Portfoliotheorie gewürdigt (vgl. Kap. 2.1.1). Sie bietet klare Richtlinien für das effiziente Investieren. Kerngedanke der Theorie ist die Entwicklung effizienter Portfolios unter Berücksichtigung der Korrelation der Renditen einzelner Wertpapiere (vgl. Karlen, 2004, S. 13). Die Theorie von Markowitz war jedoch erst der Anfang einer Entwicklung weg von einer rein deskriptiven hin zu einer theoretisch normativen kapitalmarktorientierten Finanzierungslehre. Aufbauend auf die Portfoliotheorie von Markowitz entwickelten in den 1960er-Jahren William Sharpe, John Lintner und Jan Mossin unabhängig voneinander das Capital-Asset-Pricing-Modell (vgl. Kap. 2.1.2; im Weiteren als CAPM bezeichnet). Hierdurch wurde es möglich, die Effizienz des Kapitalmarktes auf risikoadjustierter Basis zu testen. Wenn auch methodische Schwierigkeiten die Tests erschweren, revolutionierte das CAPM das Portfoliomanagement, da nun die unterschiedlichen Risiken von Investitionen auf einen leicht verständlichen, linearen Zusammenhang zurückgeführt werden konnten (vgl. Garz, Günther & Moriabadi, 2002, S. 17 ff.). Als Hauptherausforderer des CAPM entwickelte Stephen A. Ross 1976 die Arbitrage Pricing Theory (vgl. Kap. 2.1.3). Sie berücksichtigt im Gegensatz zum CAPM multiple Risikofaktoren systematischer Art und gleicht sich damit mehr der realen Welt an. Entsprechend der Begriffsbezeichnung werden Preisinformationen aus Arbitragemöglichkeiten abgeleitet (vgl. Bank & Gerke, 2005, S. 4 ff.). Ein weiterer Meilenstein waren die Arbeiten von Franco Modigliani und Merton Miller im Bereich der Theorie der Unternehmensfinanzierung im Jahre 1958. Sie zeigten, dass unter der Annahme eines effizienten und vollkommenen Kapitalmarktes die Finanzierungsstruktur aus Eigen- und Fremdkapital für die Höhe der Kapitalkosten irrelevant ist. Der Grund für die Irrelevanz liegt in den konstanten Gesamtkapitalkosten, die sich unabhängig von der Höhe des Fremdkapitals in einem vollkommenen und effizienten Markt nicht verändern. Bei einem höheren Verschuldungsgrad steigen zwar die Eigenkapitalkosten an, diese beziehen sich jedoch nur auf einen kleineren Kapitalanteil. Gleichzeitig steigt der Fremdkapitalanteil an, und die gegenüber dem Eigenkapital niedrigeren und konstanten Fremdkapitalkosten beziehen sich auf einen höheren Kapitalanteil und gleichen dadurch die höheren Eigenkapitalkosten vollständig aus. Die jeweiligen Eigen- und Fremdkapitalkosten sowie deren Anteile verändern sich genau in der Weise, dass sich die Effekte kompensieren und somit in einem effizienten und vollkommenen Markt keinen Einfluss auf die Höhe der Gesamtkapitalkosten haben. Schließlich erfolgte eine bahnbrechende Innovation im Bereich der Derivatebewertung durch die Entwicklung der Optionspreisformel durch Fischer Black, Myron Scholes und Robert C. Merton Anfang der 1970er Jahre. Die drei Wissenschaftler gründeten ihre Erkenntnisse auf den Forschungsergebnissen von Markowitz, Modigliani und Miller, indem sie ein risikoloses Portfolio bestehend aus Optionen und zugrunde liegenden Aktien konstruierten. <?page no="25"?> 24 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Zeitalter der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung Ab etwa 1980 entwickelte sich die Verhaltensökonomie als ein Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaften. Diese Richtung, auch als Behavioral Economics bezeichnet, führte maßgeblich dazu, dass naturwissenschaftliche und psychologische Aspekte in die Wirtschafswissenschaften zunehmend eingebaut wurden. Die Verhaltensökonomie untersucht Verhaltensweisen der Marktteilnehmer, die mit dem Konzept des Homo Oeconomicus nicht übereinstimmen - so zum Beispiel die Abkehr von der rationalen Nutzenmaximierung. Die zunehmende Erforschung emotional und kognitiv bestimmter Verhaltensweisen führte schließlich fast zeitgleich zur Entstehung der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung, zumeist als Behavioral Finance bezeichnet. Diese neue Forschungsrichtung, die vereinzelt in der wissenschaftlichen Literatur auch in der Schreibweise „Behavio(u)ral Finance“ gefunden werden kann, versucht, das Geschehen auf den Finanzmärkten unter Einbezug menschlicher Verhaltensweisen zu erklären (vgl. Kap. 6-9). Es wird untersucht, welche Faktoren zu einer unterschiedlichen Bewertung von Informationen und folglich zu einer unterschiedlichen Entscheidungsfindung bei Marktteilnehmern führen. Mit Hilfe der gewonnenen Erkenntnisse versucht die Behavioral Finance, u.a. Prognosen über das zukünftige Verhalten von Marktteilnehmern zu treffen. Vorreiter und Begründer dieser neuen Forschungsrichtung sind die Psychologen Daniel Kahneman, Vernon L. Smith und der bereits 1996 verstorbene Amos Tversky (vgl. Blechschmidt, 2007, S. 11 ff.). Bereits um 1960 hatten sich zwei neue Felder der wissenschaftlichen Untersuchung entwickelt, die als dominierende Grundlage der Behavioral Finance gelten. Zum einen begannen Wissenschaftler im Bereich der kognitiven Psychologie, mentale Prozesse zu analysieren, die für das menschliche Verhalten verantwortlich schienen. Zum anderen wurde die Entscheidungsfindung unter Unsicherheit durch die Entwicklung der PPrrooss- ppe ecct t TThhe eoorry y (1979, 1992) als die intellektuelle Grundlage der Behavioral Finance von Amos Tversky und Daniel Kahneman vorangetrieben (vgl. Pompian, 2006, S. 20 ff.). Die beiden Psychologen versuchten mit ihren Experimenten, die vorher nicht erklärbaren Abweichungen vom Idealbild des Homo Oeconomicus einzuordnen. Ein weiterer bedeutender Wissenschaftler im Bereich der Behavioral Finance ist Richard Thaler. Sein Hauptinteresse lag in der Erforschung von Entscheidungsanomalien, die als systematische Abweichungen vom rationalen Verhalten interpretiert wurden (vgl. Wahren, 2009, S. 45). Die operante Konditionierung, bei der der Lernprozess durch Versuch und Irrtum bewerkstelligt wird, resultierte aus den Forschungsergebnissen des amerikanischen Psychologen Edward L. Thorndike und bildete eine weitere Grundlage der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung. Die auf diesen Experimenten beruhende Lernpsychologie entwickelte sich mit der Zeit zum Behaviorismus. Dieser erlaubte andere Zugänge bei der Erforschung des Gedächtnisses, da menschliches und tierisches Verhalten mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden konnte (vgl. Schriek, 2009, S. 20 ff.). <?page no="26"?> 1.1 Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweisen 25 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Zeitalter der Neuroökonomie Zunehmende Impulse zur Erforschung des tatsächlichen Verhaltens von Marktteilnehmern geben die technologischen Entwicklungen der Hirnforschung. Im Umfeld bildgebender Verfahren können zur Erklärung von Entscheidungsverhalten neuronale Abläufe im Gehirn des Marktteilnehmers herangezogen werden. Die zunehmende Erforschung des menschlichen Entscheidungsverhaltens mittels der Computertomographie führte zur Entwicklung der Neuroökonomie (vgl. Kap. 13.2). Sowohl die Neuroökonomie als auch die spezifische Richtung Neuro-Finance versuchen unter Einbezug der Erkenntnisse der Psychologie, der Behavioral Economics sowie der Behavioral Finance die neuronale Basis für Entscheidungen und menschliches Verhalten zu entschlüsseln. Mittels zahlreicher Spielversuche, wie das Diktator- oder Ultimatumspiel, wurde das Konzept des rationalen Homo Oeconomicus relativiert. Es entstanden vielmehr zahlreiche Facetten eines emotionalen Homo Oeconomicus Humanus, wie der faire, der vertrauende oder der wertende Homo Oeconomicus (vgl. Elger & Schwarz, 2009, S. 36). Zeitalter der Emotional Finance Erste Ansätze zur Erforschung unbewusst ablaufender Prozesse als zentrales Element der Emotional Finance wurden durch die Beschreibung der animal spirits von Keynes sichtbar. Weitergehende Forschungsergebnisse stellten sich jedoch erst ab 2009 mit der Entwicklung der Emotional Finance durch Richard Tuffler und David Tucket ein. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf dem Wirken von Phantasien und Ängsten (vgl. Kap. 13.3). Zielsetzung dieser jüngsten Forschungsrichtung ist die Erforschung der Folgen unbewusst und höchst komplex ablaufender Prozesse, die den Marktteilnehmer zu emotional getriebenen Verhaltensweisen führen. Unbewusst ablaufende Prozesse sollen im Rahmen praktischer Anwendungen ins Bewusstsein gerückt werden, um daraus Strategien für den Umgang mit emotionalen Phänomenen zu entwickeln (vgl. Richard Taffler & David Tuckett „Emotional Finance: The Role of the Unconscious in Financial Decisions“ in Baker/ Nofsinger, 2010, S. 95 f.). Die neoklassische Ökonomie stellt den Marktteilnehmer als ein rationales Individuum dar. Die Behavioural Finance untersucht dagegen das Geschehen auf den Finanzmärkten unter Einbezug menschlicher Verhaltensweisen. Die Neuroökonomie nutzt schließlich Erkenntnisse, um die neuronale Basis von Entscheidungen und von menschlichem Verhalten aufgrund von Abläufen im Gehirn zu entschlüsseln. 2 2 Merkpunkte oder zentrale Kernaussagen sind grau umrandet. <?page no="27"?> 26 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 11..22 EEnnttsscchheei id duun nggsstthheeo orriie enn u un ndd K Koonnzzeep pttee ddeerr N Ne eo okklla asss siik k Die neoklassische Kapitalmarkttheorie entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts aus der alten Finanzmarktlehre, bei der die Rechnungslegung und die Fundamentalanalyse im Vordergrund standen. In der neoklassischen Kapitalmarkttheorie werden die Prämissen der vollkommenen Rationalität der Marktteilnehmer sowie der vollkommenen Finanzmärkte verarbeitet. Die entwickelten Gleichgewichtstheorien basieren auf rationalen und zugleich risikoaversen Marktteilnehmern. Die Maximierung ihres Endvermögens im Sinne der Erwartungsnutzentheorie stellt deren Hauptanliegen dar (vgl. Karlen, 2004, S. 12 f.). In diesem Sinne verkörpern die Verarbeitung von Informationen nach dem Bayes-Theorem sowie die Entscheidungsfindung im Rahmen der Erwartungsnutzentheorie wichtige Kernelemente der neoklassischen Kapitalmarkttheorie. Neben diesen beiden Theorien wird die neoklassische Kapitalmarkttheorie entscheidend von der Effizienzmarkthypothese geprägt. Nachfolgend werden die zentralen Entscheidungstheorien und Konzepte als Grundlage rationalen Verhaltens beleuchtet. In diesem Sinne erfolgt die Betrachtung des Konzepts des Homo Oeconomicus nach Smith (vgl. Kap. 1.2.1), die Random-Walk-Theorie von Bachelier (vgl. Kap. 1.2.2), die Erwartungsnutzentheorie von Morgenstern und von Neumann (vgl. Kap. 1.2.3), die Informationsverarbeitung nach Bayes (vgl. Kap. 1.2.4) sowie die Effizienzmarkthypothese von Fama (vgl. Kap. 1.2.5). 11..2 2..1 1 KKoonnz zeep ptt ddeess HHoommoo OOeeccoonno ommiiccuuss nna acchh AAddaamm SSmmiitth h Das Konzept des Homo Oeconomicus, des wirtschaftlich rational denkenden und handelnden Menschen, bildet die Grundlage für die in Kapitel 1.1 erwähnte neoklassische Kapitalmarkttheorie. Man kann davon ausgehen, dass der Ursprung dieses Konzepts auf die Denker des 18. Jahrhunderts zur Zeit der klassischen Nationalökonomie zurückgeht. Als deren Begründer gilt Adam Smith, der mit nachfolgendem Zitat das absolute Eigeninteresse als eines von drei grundlegenden Prinzipien des Homo Oeconomicus herausstellte: „It is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker that we expect our dinner, but from their regard to their own interest.“ (A. Smith, The Wealth of Nations, 1776) Die Bezeichnung des Homo Oeconomicus mag zwar überspitzt klingen, jedoch lassen die einzelnen Konzepte und Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie kaum eine andere Auffassung über die erwartete Verhaltensweise der Marktteilnehmer zu. Im Grunde impliziert die Betrachtung des Marktteilnehmers als Homo Oeconomicus ein positives Verhaltensmodell (oder Menschenbild) mit dem Ziel, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären und vorherzusagen. Es handelt sich um ein einfaches menschliches Modell wirtschaftlichen Verhaltens, das bei jeglicher wirtschaftlichen Entscheidung auf drei grundlegenden Prinzipien beruht: Absolutes Eigeninteresse, wobei die eigenen Ziele und Vorstellungen im Vordergrund des Handelns stehen. Fähigkeit zu völlig rational begründeten Entscheidungen, die eine optimale Umsetzung der Vorstellungen erlauben, bei der nutzenmaximierendes Verhalten mit knappen Gütern angestrebt wird. <?page no="28"?> 1.2 Entscheidungstheorien und Konzepte der Neoklassik 27 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Nutzung vollständiger Informationen, da weder Informationsasymmetrien noch Transaktionskosten existieren. Aufgrund dieser Vereinfachungen und der extrem hohen Abstraktion der diesen Prinzipien zugrunde liegenden Modelle lässt sich die neoklassische Kapitalmarktheorie sehr elegant durch mathematische Gleichungen darstellen (vgl. Bank & Gerke, 2005, S. 2). Die ökonomische Analyse des menschlichen Verhaltens wird durch das Konzept des Homo Oeconomicus bedeutend vereinfacht, wobei die wissenschaftlichen Ergebnisse auch quantifiziert werden können. Die Annahme der genannten Prinzipien lässt zu, dass das menschliche Verhalten ebenfalls bewertet/ quantifiziert werden kann (vgl. Pompian, 2006, S. 15). Neben den Vorteilen dieses Konzepts ist die starke Vernachlässigung der Realität und der Komplexität des einzelnen Menschen als Individuum erkennbar. Aspekte menschlichen Verhaltens, die nicht unmittelbar das Ziel haben, wirtschaftliches Handeln zu erklären, werden kaum beachtet. Ebenso werden nicht-rationale Beweggründe für wirtschaftliches Verhalten ignoriert. So zeigen ehrenamtliche Tätigkeiten, dass die Marktteilnehmer zum Teil weit weniger nur an sich denken als dies vom eigennutzenorientierten Konzept des Homo Oeconomicus angenommen wird. Die unübersichtlich breit gefächerten Wissensgebiete in der Wirtschaftswissenschaft lassen im Weiteren vermuten, dass kein Marktteilnehmer sich über alle Aspekte informieren kann, um dadurch ständig die richtigen wirtschaftlichen Entscheidungen treffen zu können. Trotz dieser starken Vereinfachung der Realität ist das Konzept in Teilbereichen durchaus geeignet, systematisch die Reaktionen auf Veränderungen der Umwelt zu analysieren. Ungeachtet weitreichender Bedenken bzgl. der Annahmen dieses Konzepts ähnelt das Verhalten der Marktteilnehmer ansatzweise dem des Homo Oeconomicus, indem sie ebenfalls systematisch auf Veränderungen in ihrer Umgebung reagieren (vgl. Mazanek, 2006, S. 14 ff.). Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, inwiefern der Marktteilnehmer sich von den Annahmen des rational agierenden Homo Oeconomicus unterscheidet. Im Kapitel 3.2.3 liegt der Fokus explizit auf den beobachtbaren Unterschieden zum Homo Oeconomicus Humanus, dessen Handlungen zu wiederkehrenden Spekulationsblasen (vgl. Kap. 4) und zu begrenzt rationalen Entscheidungen führen (vgl. Kap. 7 bis 9). Das Konzept des Homo Oeconomicus ist ein positives Verhaltensmodell (oder Menschenbild) mit dem Ziel, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären und vorherzusagen. 11..2 2..2 2 RRaannd doomm WWaallkk TThheeo orryy nna ac chh LLoouuiiss BBaacchheelliieerr Die Entwicklung der Random Walk Theory begann, als Louis Bachelier am 19. März 1900 seine Dissertation mit dem Titel „Théorie de la Spéculation“ verteidigte. Bachelier behauptete in seiner Arbeit, dass die an der Pariser Börse des 19. Jahrhunderts notierten Terminkurse für Staatsanleihen einem zufälligen Muster folgten und dem Spekulanten aus diesem Grund keine systematischen Gewinne ermöglichen würden (vgl. Schredelseker, 2002, S. 407 ff.). Zu dieser Zeit spielten die Fundamentalanalyse und die wachsende Bedeutung der Chart-Analyse eine zentrale Rolle. <?page no="29"?> 28 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Grundgedanke der Random Walk Theory Der Grundgedanke der Random Walk Theory basiert auf der Wahrnehmung, dass sich die Wertpapierkurse immer mit der gleichen Wahrscheinlichkeit verändern - analog zu der Wahrscheinlichkeit, die für einen Münzwurf gilt („Kopf“ bzw. „Zahl“). Die Stärke der Kursänderung ist dabei messbar. Die meisten Kursänderungen der Wertpapiere - 68 Prozent - sind nach der Random Walk Theory relativ kleine Bewegungen innerhalb einer „Standardabweichung“ vom Mittelwert. In der Finanzmarkttheorie verdeutlicht die Standardabweichung die Volatilität einer Anlage um ihren Mittelwert. Die Messung der Renditevolatilität spielt bei der Beurteilung von Risiken eine bedeutende Rolle. Die Standardabweichung wird als die Quadratwurzel der Renditevarianz definiert. Innerhalb plus/ minus zwei Standardabweichungen würde man 95 Prozent aller Kursänderungen antreffen und innerhalb von plus/ minus drei Standardabweichungen lägen 98 Prozent aller Kursänderungen. Einige wenige Kursänderungen - die verbleibenden 2 Prozent - stellen besonders große Abweichungen dar und sind daher nach der Theorie sehr unwahrscheinlich. In der Praxis kommen diese an sich unwahrscheinlichen Kursveränderungen jedoch öfter vor als von der Theorie postuliert. Zum Beispiel wurden die Marktteilnehmer Ende September 2014 von einer Reihe sukzessiver Kurseinbrüche von mehreren Prozent am Tag überrascht. Innerhalb einer Woche verlor der Deutsche Aktienindex (DAX) 12,5 Prozent seines Wertes - eine Entwicklung, die nach der Normalverteilung keine realistische Wahrscheinlichkeit aufweisen würde (vgl. Kap. 2.3). Verteilung der Kursbewegungen nach der Normalverteilung Abb. 2: Anteil der Wertpapierkursänderungen nach Standardabweichungen Werden die Kursbewegungen aufgereiht, so ergeben diese die Form einer Glockenkurve (vgl. Abb. 2). Die Vielzahl kleiner Kursbewegungen befindet sich in der Mitte, die seltenen großen Kursbewegungen an den beiden Enden der Glockenkurve. Die hier beschriebene Verteilung von Kursbewegungen entspricht der weit bekannten Normalverteilung von Carl Friedrich Gauß - auch Gaußsche Verteilung genannt. <?page no="30"?> 1.2 Entscheidungstheorien und Konzepte der Neoklassik 29 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Unabhängig von ihrer umstrittenen Anwendbarkeit auf Wertpapierkurse, da diese sich nicht exakt nach der von der Random Walk Theory postulierten Verteilung entwickeln (vgl. Kap. 2.3), sondern, wie oben erwähnt, zu bestimmten Zeiten gravierende Ausreißer an den äußeren Enden der Glockenkurve anzutreffen sind, gewannen die Erkenntnisse von Carl Friedrich Gauß große Beachtung im Bereich der Finanzmärkte. Die Bedeutung der Glockenkurve ist auch in den Wahrscheinlichkeitsprozessen der Natur (z.B. Intelligenzquotient) derart tief verwurzelt, dass die früheren Zehn-DM-Banknoten der Bundesrepublik Deutschland unter anderem das Abbild von Gauß sowie die Glockenkurve zeigten. (vgl. Abb. 3). Abb. 3: Zehn-DM-Banknote mit Glockenkurve Formal lässt sich ein Random-Walk darstellen als: P t+1 = P t + t oder E[P t+1 ] = P t P steht für den Preis des Wertpapiers zu den Zeitpunkten t bzw. t+1. t stellt einen Zufallsterm dar, der auf Basis der getroffenen Annahme die Form des Random-Walk bestimmt. Die strengste Form des Random-Walk würde sich ergeben, wenn angenommen wird, t einer Normalverteilung unterliegt, von der Vergangenheit unabhängig ist und einen Erwartungswert von Null aufweist (vgl. Mandelbrot & Hudson, 2004, S. 9 ff.). Dies würde bedeuten, dass die „gestrige“ Kursänderung keine Auswirkung auf die „heutige“ hat und die „heutige“ Kursänderung keine Auswirkung auf die „morgige“. Normalverteilung als Basis der Random Walk Theory Aufgrund der zentralen Annahme, dass die Kursänderungen und damit auch die Renditen von Wertpapieren mittels der Normalverteilung (vgl. Abb. 4) annähernd beschrieben werden können, ist es wichtig, die Eigenschaften der Normalverteilung zu betrachten, die sich wie folgt auflisten lassen (vgl. Mandelbrot & Hudson, 2004, S. 35 ff.): Die Fläche unter der Häufigkeitsfunktion beträgt immer 100 Prozent. Die Höhe der Glockenkurve verdeutlicht die am häufigsten eintreffende Rendite - diese Rendite wird auch als Mittelwert der Renditen bezeichnet. <?page no="31"?> 30 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Normalverteilung ist symmetrisch, sieht links wie rechts vom Mittelwert gleich aus. Die Wahrscheinlichkeit für höhere Renditen nimmt rechts vom Mittelwert immer mehr ab, ebenso wie für niedrigere Renditen links vom Mittelwert. Die Normalverteilung wird durch den Mittelwert der Rendite dardabweichung in Form der Volatilität Abb. 4: Beispielhafte Wertpapierentwicklung auf Basis der Normalverteilung In Abhängigkeit vom Mittelwert und der Standardabweichung kann die Normalverteilung unterschiedliche Formen annehmen, die zugleich die erwartete Rendite und auch die Volatilität angeben (vgl. Abb. 5). Abb. 5: Ausprägungsformen der Normalverteilung In Abb. 5 sind drei Verteilungen erkennbar (A, B und C). Die Verteilungen A und B weisen den gleichen Mittelwert auf und befinden sich - gemessen am Mittelwert - am selben Ort. Die Verteilung C hat einen höheren Mittelwert und befindet sich dementsprechend weiter rechts auf der x-Achse. Hinsichtlich der Volatilität sind die Verteilungen A und C gleich volatil. Die Verteilung B dagegen zeigt eine höhere Volatilität. Dies ist daran erkennbar, dass die Verteilung <?page no="32"?> 1.2 Entscheidungstheorien und Konzepte der Neoklassik 31 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance flacher ist als die beiden anderen. In den Verteilungen A und C liegen weit mehr Wahrscheinlichkeiten nahe am Mittelwert, während bei der Verteilung B mehr Wahrscheinlichkeiten an extremeren Werten liegen. Je flacher also eine Verteilung ist, desto höher liegt gemessen als Standardabweichung das Risiko. Bereits mit diesem grundlegenden Konzept der neoklassischen Kapitalmarkttheorie zeigt sich eines der Hauptprobleme dieser wirtschaftswissenschaftlichen Stoßrichtung; nämlich, dass die Schlussfolgerungen aus empirischen Tests ggf. nicht valide sind, da sich die getroffenen Annahmen von vornherein als falsifizierbar erweisen (vgl. Beispiel 1.1). Beispiel 1.1: Fehlende Validität empirischer Tests Die nachfolgende Abbildung des deutschen Aktienindexes (DAX), verdeutlicht im Zeitraum von 2001 bis 2016 extreme Kursentwicklungen, die nicht den Annahmen der Random Walk Theory entsprechen (vgl. Kap. 2.3). So läuft ein Anleger Gefahr, erhebliche Verluste zu erleiden, wenn er unter der Annahme der Random Walk Theory auf moderate Kursschwankungen innerhalb einer Standardabweichung setzt. Starke Kursschwankungen treten durch unerwartete Ereignisse auf und führen dazu, dass die Häufigkeit von Kursbewegungen, die an den äußeren Rändern der Dichtefunktion zu finden sind, häufiger auftreten, als dies nach Annahme der Random Walk Theory zu erwarten wäre. So können allerdings neben erheblichen Verlusten auch enorme Gewinne verbucht werden, wenn der Anleger entsprechend Glück hat. Extreme Kursbewegungen zwischen 2001 und 2016 am Beispiel des DAX Abb. 6: Kursentwicklung DAX 2000 2016 (Performanceindex); FactSet <?page no="33"?> 32 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Biographie von Louis Bachelier Louis Jean-Baptiste Alphonse Bachelier wurde am 11. März 1870 in der französischen Hafenstadt Le Havre geboren. Mit 22 Jahren begann er das Mathematikstudium an der Sorbonne. Sein Doktorvater war Henri Poincaré, bei dem Bachelier im Jahr 1900 mit der Arbeit „Théorie de la Spéculation“ promovierte, worin er einen probabilistischen Zugang zu den Bewegungen der Aktienkurse suchte. Bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges finanzierte Bachelier seinen Unterhalt durch Stipendien und als Dozent an der Sorbonne. Nach dem Krieg hatte er eine Lehrstuhlvertretung in Besançon, danach in Rennes. Ab 1927 hatte er die Professur in Besançon inne. Der damals renommierte Paul Lévy von der École Polytechnique warf ihm, ohne seine Arbeit gelesen zu haben, schwere Fehler vor, was Bacheliers Berufung an die Universität Dijon vereitelte. Seine Arbeit wurde von den Wirtschaftswissenschaftlern seiner Zeit so gut wie nicht wahrgenommen. Erst nach seinem Tod wurde die Bedeutung seiner Theorie erkannt. Bachelier gilt als Begründer der Finanzmathematik und als einer der Wegbereiter der Theorie der stochastischen Prozesse im Bereich der Finanzmärkte. Er starb am 26. April 1946 in St-Servan-sur-Mer, Frankreich (vgl. Mandelbrot & Hudson, 2004, S. 47 ff.). 1 1..2 2..3 3 EErrwwaar rttuunng gssnnu uttzzeennt thheeo orriiee vvoonn MMoorrggeenns stte errnn uunnd d vvoonn NNe euummaannn n Die neoklassische Kapitalmarkttheorie beschreibt einen Marktteilnehmer als „rational“, wenn er realistische Erwartungen formuliert und diese entsprechend der Erwartungsnutzentheorie umsetzt. Im Gegensatz zu dieser Sichtweise kann es in der Realität geschehen, dass ein verhaltensorientierter Marktteilnehmer unrealistische Erwartungen hegt und auf die Beachtung der nachfolgend erläuterten Erwartungsnutzentheorie verzichtet. Die Erwartungsnutzentheorie hat die Zielsetzung, rationales Verhalten unter Berücksichtigung von Risiken (Unsicherheit) zu analysieren (vgl. Bank & Gerke, 2005, S. 35 ff.). Dabei steht ein Entscheidungsträger im Mittelpunkt, der zwischen verschiedenen Handlungen wählen muss, deren Ergebnisse/ Konsequenzen jedoch ungewiss sind. Die Erwartungsnutzentheorie bildet gemeinsam mit dem Bayes-Theorem (siehe Unterkapitel 1.2.4) der Informationsverarbeitung die Grundlage für die Effizienzmarkthypothese. Bei der Erwartungsnutzentheorie sind zwei Ausprägungen zu unterscheiden: Objektive Erwartungsnutzentheorie von Morgenstern/ von Neumann (1947) - die Verteilungsfunktion möglicher Konsequenzen ist bekannt. Subjektive Erwartungsnutzentheorie von Savage (1954) - die Verteilungsfunktion der Konsequenzen ist unbekannt; der Entscheidungsträger muss in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit der Konsequenzen durch subjektive Schätzung festlegen. Im Zentrum dieses Unterkapitels steht die objektive Erwartungsnutzentheorie von Morgenstern/ von Neumann. Für die beiden Wissenschaftler war die Erwartungsnutzentheorie ein normativer Ansatz, bei dem die Entscheidungsfindung rational agierender Indi- <?page no="34"?> 1.2 Entscheidungstheorien und Konzepte der Neoklassik 33 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance viduen dargestellt werden sollte (vgl. Forbes, 2009, S. 28). Die Theorie wird durch bestimmte Axiome verankert, die jedoch bei Betrachtung der tatsächlichen Verhaltensweise der Marktteilnehmer in der Realität oft verletzt werden. Im Rahmen der Behavioral Finance wurde als Alternative zur hier aufgeführten normativen Theorie die Prospect Theory (vgl. Kap. 6.2) als deskriptive Theorie entwickelt. Diese von den Psychologen Kahneman und Tversky entwickelte Theorie nimmt an, dass die Marktteilnehmer ihre Ergebnisse relativ zu einem Referenzpunkt beurteilen, anstatt ihr Endvermögen zu betrachten. Daher können die Ergebnisse je nach Referenzpunkt als positive (Gewinne) oder negative Entwicklungen (Verluste) angesehen werden. Grundgedanke der objektiven Erwartungsnutzentheorie Zentrales Element der von Morgenstern und von Neumann entwickelten Theorie ist eine Nutzenfunktion u, über deren Erwartungswert Präferenzen abgebildet werden können. Bei der Berechnung des erwarteten Nutzens EU spielt die Ermittlung des Erwartungswerts eine besondere Rolle. Formal lässt sich die Nutzenfunktion wie folgt darstellen: EU(a) = p i * u(a i ) Der Term u(a i ) stellt den Nutzen der Ausprägung des Zustandes i der Alternative a dar. p i ist die entsprechende Eintrittswahrscheinlichkeit für das Auftreten dieser Ausprägung. Die Summe der Eintrittswahrscheinlichkeiten p i beträgt dabei 1. Nun ergeben sich zwei Alternativen a und b. Sofern a einen höheren Erwartungsnutzen aufweist als b, wird die Alternative a der Alternative b vorgezogen, d.h. a > b, wenn EU(a) > EU(b). Der Erwartungsnutzen einer Alternative ist dementsprechend die entscheidende Grundlage einer rationalen Entscheidung, wobei ein rationaler Marktteilnehmer sich für die Alternative entscheidet, welche den höchsten Erwartungsnutzen aufweist (vgl. Kottke, 2005, S. 8). Axiome für rationales Verhalten Damit die jeweiligen Präferenzaussagen (Alternative a gegenüber Alternative b) rationales Verhalten nach sich ziehen können, müssen die Präferenzen drei entscheidende Axiome erfüllen. Die Forschungserkenntnisse der Behavioral Finance zeigen jedoch, dass diese Axiome unter realen Bedingungen nicht immer erfüllt werden. Vollständige Ordnung Das Axiom „Vollständige Ordnung“ besteht aus zwei Teilaxiomen - Vollständigkeit und Transitivität. Beide Eigenschaften müssen innerhalb des Axioms „vollständige Ordnung“ erfüllt sein. Vollständigkeit bedeutet, dass alle Alternativen bei einer Entscheidung berücksichtigt werden. Für jede Alternative muss dementsprechend gelten, dass a > b oder b > a ist. Transitivität ist die Eigenschaft, die dann vorliegt, wenn alle Alternativen die Bedingung erfüllen, dass wenn a > b und b > c, dann ist auch a > c. n i=1 n i=1 <?page no="35"?> 34 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Verletzung dieses Axiomes und damit die Abkehr von der rationalen Verhaltensweise des Marktteilnehmers kann durch diverse Biases (= Faustregeln bzw. Verzerrungen) aus der Behavioral Finance erklärt werden. Diese reduzieren zwar den Komplexitätsgrad der Entscheidung, liefern aber auch verzerrte oder unpräzise Ergebnisse, da sie die Entscheidungsalternativen einschränken. So kann die Bandbreite der Alternativen eingeschränkt werden, wenn der Marktteilnehmer dem Home Bias unterliegt. In diesem Fall werden inländische Anlagen ausländischen bevorzugt, da mit inländischen eine höhere Sicherheit assoziiert wird. Stetigkeit Das Axiom „Stetigkeit“ ist dann erfüllt, wenn die Alternativen a, b, c sich so zu einander verhalten, dass a > b > c und eine Wahrscheinlichkeit p [p 0,1] sicherstellt, dass für p * a + (1-p) * c = b gilt. Das Stetigkeitsaxiom fordert demnach, dass eine Indifferenz zwischen der Alternative b und einer Kombination von a und c hergestellt werden kann. Allgemein formuliert heißt das, dass eine ursprüngliche Präferenz zwischen zwei Alternativen sich nicht verändern soll, wenn beide Alternativen um dieselbe dritte Alternative erweitert werden. Kann sich nun im Rahmen der Behavioral Finance ein Markteilnehmer eine Alternative eher vorstellen als eine andere, so wird diese mit einer höheren Wahrscheinlichkeit belegt, als Alternativen, die dem Marktteilenehmer weniger bekannt sind. Dieses als Verfügbarkeitsheuristik (Availability Bias) bekannte Phänomen kann zu einer Verzerrung der subjektiven Wahrnehmung der objektiven Eintrittswahrscheinlichkeit der besagten Alternative führen. Unabhängigkeit Das Axiom „Unabhängigkeit“ formuliert die Bedingung, dass eine ursprüngliche Präferenz zwischen zwei Alternativen nicht verändert wird, wenn weitere Entscheidungsmöglichkeiten ins Spiel gebracht werden. Geht man von a > b aus und werden die beiden Alternativen durch die Alternative c ergänzt, dann erfüllt sich das Unabhängigkeitsaxiom, wenn für alle Wahrscheinlichkeiten p [p 0,1] gilt: p * a + (1-p) * c > p * b + (1-p) * c Eine weitere Eigenschaft des Unabhängigkeitsaxioms ist die Substitutionsmöglichkeit einer Alternative durch eine andere, wenn der Entscheider gegenüber den beiden Alternativen indifferent ist. Die Substitution darf jedoch keine Auswirkung auf die Präferenz des Entscheiders haben. Betrachtet man nun die Entscheidungsfindung unter psychologischen Aspekten, so wird ersichtlich, dass der Marktteilnehmer bei der Wahl zwischen zwei Alternativen auch emotionales Unbehagen verspüren kann. Diese Situation entsteht, wenn die nicht gewählte Alternative oder eine zusätzlich wählbare Alternative (in diesem Fall Alternative c) Eigenschaften besitzt, die im Gegensatz zu den vorhandenen Wertvorstellungen und Entscheidungen des Investors stehen. In diesem Fall entsteht nach der Theorie der kognitiven Dissonanz (vgl. Kap. 6.1.3) von Leon Festinger ein emotionales Ungleichgewicht, welches durch die Verdrängung negativer Informationen zu einer Anlageentscheidung und Hervorhebung positiver Informationen abgebaut werden kann. Der <?page no="36"?> 1.2 Entscheidungstheorien und Konzepte der Neoklassik 35 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Marktteilnehmer fängt an, durch selektive Wahrnehmung (vgl. Kap. 7.1.2) den Umfang der zur Verfügung stehenden Informationen zu begrenzen. Ist eine Entscheidung bereits getroffen, wird versucht, durch selektive Entscheidung (vgl. Kap. 9.1.1) die Fortführung der Anlageentscheidung zu gewährleisten. Zielsetzung der Erwartungsnutzentheorie ist, rationales Verhalten unter Unsicherheit zu analysieren. Zentraler Gegenstand der Betrachtung ist das Treffen von Entscheidungen, ohne dass deren Ergebnisse/ Konsequenzen bekannt sind. Biographien von Morgenstern und von Neumann Oskar Morgenstern wurde am 24. Januar 1902 in Görlitz geboren. 1925 promovierte er an der Universität Wien in Politischen Wissenschaften. Kurz darauf erhielt er ein Stipendium der Rockefeller Foundation. 1929 kehrte er aus den USA nach Wien zurück und nahm eine Professur an der Universität Wien an. Während seiner Tätigkeit an der Universität gehörte er zum so genannten „Österreichischen Kreis“, eine Gruppe von österreichischen Wirtschaftswissenschaftlern. 1938 emigrierte er in die USA und wurde Professor an der Princeton University, wo er mit von Neumann die Spieltheorie entwickelte. Neben der Spieltheorie entwickelten sie auch die Erwartungsnutzentheorie als eine Methode, um Entscheidungen unter Unsicherheit zu bewerten. Morgenstern wurde von der New York University zum Distinguished Professor of Game Theory and Mathematical Economics ernannt. Er starb am 26. Juli 1977 in Princeton. John von Neumann wurde am 28. Dezember 1903 in Budapest geboren. Seine hohe Intelligenz zeigte sich schon im Kindesalter, indem er als Sechsjähriger blitzartig achtstellige Zahlen im Kopf dividieren konnte. Nach dem Abitur besuchte er verschiedene Universitäten in Europa, sein Diplom machte er an der ETH Zürich. Daneben studierte er Mathematik und erwarb 1926 den Doktorgrad an der Universität Budapest. 1928 habilitierte er sich an der Universität Berlin mit der Arbeit Allgemeine Eigenwerttheorie symmetrischer Funktionaloperatoren. 1933 wurde er Professor für Mathematik am neugegründeten Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey. 1933 wurde von Neumann Mitherausgeber der Annals of Mathematics und 1935 der Compositio Mathematica. Zusammen mit Oskar Morgenstern (1902- 1977) schrieb er 1944 The Theory of Games and Economic Behavior, womit er zum Begründer der Spieltheorie wurde. Außerdem schrieb er ein Buch über Quantenmechanik und beteiligte sich an der Entwicklung der axiomatischen Mengentheorie. Im 2. Weltkrieg war von Neumann Berater der US-Armee. Ab 1943 arbeitete er am Manhattan-Projekt in Los Alamos zur Entwicklung von Atombomben. <?page no="37"?> 36 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance John von Neumann erhielt für seine wissenschaftlichen Verdienste zahlreiche Ehrungen, darunter das Medal of Merit, das Medal for Freedom und den Albert Einstein Commemorative Award. Darüber hinaus wurde das John von Neumann Institute for Computing in Jülich nach ihm benannt. John von Neumann starb am 8. Februar 1957 in Washington D.C. 11..22..44 IInnffoorrmmaattiioonnssvveerraarrbbeeiittuunngg nnaacchh BBaayyeess Das von Thomas Bayes erarbeitete und nach seinem Tod von Richard Price im Jahre 1763 veröffentlichte Theorem ist eine weitere wesentliche Grundannahme rationalen Verhaltens. Grundgedanke der Informationsverarbeitung nach Bayes Wie in der Erwartungsnutzentheorie sind auch im Bayes-Theorem die verschiedenen Entscheidungsalternativen und deren - a priori - Eintrittswahrscheinlichkeiten bekannt. Kommt es zur Veränderung der Informationslage, so sollten sich die ursprünglichen Eintrittswahrscheinlichkeiten - a posteriori - an die neue Informationslage anpassen. Wird jedoch die notwendige Anpassung nicht vorgenommen, sind die Entscheider nicht in der Lage, die optimale (rationale) Entscheidung zu treffen. Nachfolgend beschreibt das Bayes-Theorem den Übergang von A-priori-Wahrscheinlichkeiten p(s 1 ), p(s 2 ), …, p(s n ) für die unsicheren Zustände s 1 , s 2 , …, s n zu A-posteriori- Wahrscheinlichkeiten. Dies erfolgt für den Fall, dass eine neue Information aus der Informationsmenge Y = {y 1 , y 2 , …, y m } die ursprüngliche Informationslage verändert. Die Verarbeitung der neuen Informationslage führt schließlich zur A-posteriori-Wahrscheinlichkeit in der Form: Die bedingten Wahrscheinlichkeiten p(y j |s i ) erhalten in diesem Zusammenhang die Bezeichnung likelihoods. Für den Eintritt des Zustandes s i und der Information y j wird die bedingte Wahrscheinlichkeit p(s i |y j ) dadurch ermittelt, dass das entsprechende likelihood mit der A-priori-Wahrscheinlichkeit multipliziert wird und schließlich durch die entsprechende Gesamtwahrscheinlichkeit dividiert wird. Die Division erfolgt für den Fall, dass ein Signal y j empfangen wird (vgl. Kottke, 2005, S. 11 ff.). Das Bayes-Theorem verdeutlicht, wie sich die Wahrscheinlichkeitseinschätzung eines Marktteilnehmers verändern sollte, wenn neue Informationen empfangen werden. Dabei erfolgt die Anpassung von A-priori-Wahrscheinlichkeiten zu A-posteriori-Wahrscheinlichkeiten. Im nachfolgenden Beispiel soll verdeutlicht werden, inwiefern Marktteilnehmer ihre ursprüngliche Einschätzung hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung einer Aktie aufgrund von Analysteneinschätzungen verändern sollten. Nach dem Bayes-Theorem wäre zu erwarten, dass die Marktteilnehmer die zukünftige Entwicklung ihrer Aktie aufgrund zusätzlicher Information neu bewerten. p(s i ) * p(y j |s i ) i p(s i ) * p(y j |s i ) p(s i |y j ) = <?page no="38"?> 1.2 Entscheidungstheorien und Konzepte der Neoklassik 37 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Beispiel 1.2: Anpassung der Wahrscheinlichkeitseinschätzung auf Basis des Bayes- Theorems Die Art der möglichen Empfehlung (Kaufen 1 , Halten 2 oder Verkaufen 3 ) steht für die unsicheren Zustände s 1 , s 2 oder s 3. Die Wahrscheinlichkeit einer Kaufempfehlung wird für dieses Beispiel mit 60 Prozent, für Halten mit 30 Prozent und für Verkaufsempfehlungen mit 10 Prozent angenommen. Die A-priori-Wahrscheinlichkeit, also vor Verarbeitung einer Empfehlung, dass eine beliebige Aktie steigt, wird mit 50 Prozent angenommen. Zunächst einmal bedarf es der Ermittlung der A-posteriori-Wahrscheinlichkeit, mit der die jeweilige Empfehlungsart mit steigenden Kursen gleichgesetzt wird p(s i |y j ) als p(Empfehlung i |Gewinner). Nun muss eine weitere Annahme getroffen werden: die geschätzte Wahrscheinlichkeit, dass eine Empfehlung tatsächlich zu steigenden Kursen führt. Wir nehmen also an, eine Kaufempfehlung führt in 70 Prozent aller Fälle zu steigenden Kursen [p(Gewinner|kaufen) = 0,7], ein Halten führt in 25 Prozent aller Fälle zu steigenden Kursen [p(Gewinner|halten) = 0,25] und eine Verkaufsempfehlung führt immer noch mit 5 Prozent zu steigenden Kursen [p(Gewinner|verkaufen) = 0,05]. p(Empfehlung i |Gewinner) = p(Empfehlung i ) * p(Gewinner|Empfehlung i ) i p(Empfehlung i ) * p(Gewinner|Empfehlung i ) p(Kaufen|Gewinner) = 0,6 x 0,7 (0,6 x 0,7) + (0,3 x 0,25) + (0,1 x 0,05) = 0,42 (0,42) + (0,075) + (0,005) 0,42 0,5 = = 0,84 p(Halten|Gewinner) = 0,3 x 0,25 (0,6 x 0,7) + (0,3 x 0,25) + (0,1 x 0,05) = 0,15 p(Verkaufen|Gewinner) 0,1 x 0,05 (0,6 x 0,7) + (0,3 x 0,25) + (0,1 x 0,05) = 0,01 = p(s i |y j ) = p(s i ) * p(y j |s i ) i p(s i ) * p(y j |s i ) <?page no="39"?> 38 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Das soeben berechnete Beispiel verdeutlicht die Veränderung der Wahrscheinlichkeitseinschätzung aufgrund der getroffenen Empfehlung von Analysten. Die ursprüngliche Wahrscheinlichkeit, dass die Aktie steigt (50 Prozent), ist durch eine Kaufempfehlung auf 84 Prozent gestiegen. Erfolgt jedoch eine Halteempfehlung, sinkt die A-posteriori-Wahrscheinlichkeit, dass die Aktie dennoch steigt, auf 15 Prozent. Bei einer Verkaufsempfehlung sinkt diese Wahrscheinlichkeit auf gerade mal 1 Prozent. Würde man nun die getroffenen Empfehlungen wiederholen, so würde die Wahrscheinlichkeitseinschätzung, dass die Aktie bei sukzessiven Kaufempfehlungen steigt, immer höhere Werte erreichen. Bei sechs nacheinander veröffentlichten Kaufempfehlungen könnten die Marktteilnehmer mit fast 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit mit tatsächlich steigenden Kursen rechnen. Im Falle der Halte- oder Verkaufsempfehlungen würde die Wahrscheinlichkeitseinschätzung auf steigende Notierungen jedoch immer weiter sinken, bis sie nach gerade mal drei veröffentlichten Halteempfehlungen bereits fast 0 Prozent erreicht (vgl. Forbes, 2009, S. 65 ff.). Auf den Kapitalmärkten ergibt sich bei Beobachtung der Marktteilnehmer ein differenziertes Bild. Nach Untersuchungen von Jürgen Bernhard (1993) wird ersichtlich, dass z.B. Analysten ihre Einschätzungen den gegebenen Informationen nicht zeitnah anpassen. Daher werden Handlungsempfehlungen erst mit Verzögerung an die neuen Informationen angepasst, wodurch Marktteilnehmer eine Überrendite erwirtschaften können, sofern sie diesen Zeithorizont ausnutzen. Bernhard bezeichnete diesen Zusammenhang als Gewinnankündigungsdrift (vgl. Kap. 4.4.3) und führte aus, dass ein Wertpapier bei positiven Meldungen weitere Gewinne und bei negativen Meldungen weitere Verluste erfahren kann. Die Ursache für diese Kursentwicklung kann darin gesehen werden, dass die zuvor kommunizierten Analysteneinschätzungen aufgrund der neuen Information schrittweise angepasst werden. Der Gewinnankündigungsdrift zeigt ein weiteres Mal deutlich, dass der Homo Oeconomicus Humanus nicht in der Lage ist, alle Informationen zeitgenau in die Bewertung der Wertpapierkurse einfließen zu lassen. Als Ursache hierfür gelten bestimmte kognitive und emotionale Beschränkungen, die ab Kapitel 6 ausführlich dargestellt werden. Biographie von Thomas Bayes Bayes wurde im Jahre 1702 in London geboren. Er war das älteste von sieben Kindern. 1719 immatrikulierte sich Bayes an der Universität Edinburgh für Logik und Theologie. Nach seinem Studium wurde er, wie sein Vater, zum presbyterianischen Geistlichen ordiniert und arbeitete zunächst mit seinem Vater zusammen. Seine Wahrscheinlichkeitstheorie „Essay towards solving a problem in the doctrine of chances“ wurde 1763 posthum in den Philosophical Transactions veröffentlicht. Seine Überlegungen wurden zunächst 1781 von Pierre Simon Laplace übernommen, von Marie-Jean Condorcet neuentdeckt und blieben unangefochten, bis George Boole sie in seinen Laws of Thought kritisch hinterfragte und in ihre heutige Form weiterentwickelte. <?page no="40"?> 1.2 Entscheidungstheorien und Konzepte der Neoklassik 39 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1742 wurde Bayes als Fellow in die Royal Society gewählt, obwohl er keinerlei mathematische Veröffentlichung unter seinem Namen vorzuweisen hatte. Er starb am 17. April 1761 in Tunbridge Wells, England. 1 1..22..5 5 EEffffiizziieennzzmmaarrkktthhy yppootthheessee nnaacchh EEuuggeenne e FFaammaa Als letzten Gliederungspunkt innerhalb dieses Unterkapitels wird die Effizienzmarkthypothese als wichtiger Bestandteil der neoklassischen Kapitalmarkttheorie aufgegriffen. Sie beruht hauptsächlich auf der Annahme eines rationalen Informationsverarbeitungs- und Entscheidungsverhaltens der Marktteilnehmer. Grundlage für die Effizienzmarkthypothese bildet das Treffen von Entscheidungen auf Basis der Erwartungsnutzentheorie (vgl. Kap. 1.2.3) sowie die Verarbeitung von Informationen im Sinne des Bayes-Theorems (vgl. Kap. 1.2.4). Grundgedanke der Effizienzmarkthypothese Ausgangspunkt für die Effizienzmarkthypothese ist die Überlegung, dass wenn es möglich wäre, aus vergangenen Preisentwicklungen die künftige Entwicklung vorherzusagen, bestände die Möglichkeit, eine Überrendite zu erzielen. Die Überrendite wäre jedoch schnell neutralisiert, da viele Marktteilnehmer versuchen würden, dies ebenfalls für sich auszunutzen. Die Kurse würden auf diese Weise schnell ihr „richtiges“ Niveau erreichen. Folglich würden die neuen Informationen sich nicht erst in zukünftigen, sondern bereits in den heutigen Kursen widerspiegeln. Auf Basis dieser Entwicklung müsste davon ausgegangen werden, dass die Kurse einem Random Walk folgen. Dies ist der Fall, wenn besagte Informationen neu sind und dementsprechend direkte Auswirkung auf die Kursentwicklung haben. Entsprechend der beschriebenen Theorie von Bachelier lassen sich also aus der Beobachtung vergangener Kurse keine Überrenditen erzielen (vgl. Karlen, 2003, S. 15 ff.). Von dieser Überlegung ließ sich auch Eugene Fama inspirieren, als er 1970 die Effizienzmarkthypothese entwickelte. Die Hypothese beschreibt einen Markt als effizient, wenn die Wertpapierkurse alle vorhandenen Informationen komplett widerspiegeln: „A market in which prices always „fully reflect“ available information is called „efficient“.“ (Fama, 1970, S. 383) Diese Feststellung impliziert, dass die Investoren keinen Informationsvorsprung für sich erarbeiten können, um daraus erhöhten Gewinn zu generieren (vgl. Garz, Günther & Moriabadi, 2002, S. 82). Ein informationseffizienter Markt kann durch die drei nachfolgenden Charakteristiken beschrieben werden (vgl. Rau, 2010, S. 334 f.): [1] Alle Marktteilnehmer sind rational. Sie bewerten ein Wertpapier auf Basis der abdiskontierten künftigen Dividenden bzw. Cashflows. Sie nutzen alle Informationen, um den Fundamentalwert des Wertpapiers zu ermitteln. Liegt dieser Wert über dem gegenwärtigen Preis, so steigt die Nachfrage der Marktteilnehmer nach dem Wertpapier. Im umgekehrten Fall verkaufen die Marktteilnehmer die Wertpapiere bzw. nutzen die Möglichkeit des Leerverkaufs. [2] Einige Marktteilnehmer sind irrational. Ihre unkorrelierten Fehlbewertungen neutralisieren sich. Empfindet ein „Optimist“, dass das Wertpapier zu niedrig bewertet ist, ein „Pessimist“ dagegen, dass das Wertpapier zu hoch bewertet ist, so <?page no="41"?> 40 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance werden diese beiden Marktteilnehmer ihre Fehlbewertung untereinander neutralisieren. Der Kurs des Wertpapiers bliebe unverändert. [3] Arbitrage ist unbegrenzt. Arbitrageure sind Marktteilnehmer mit „unbegrenzter“ Liquidität. Sofern sich eine Fehlbewertung kurzfristig ergibt, gleichen sie diese durch den Handel einer großen Anzahl der entsprechenden Wertpapiere aus. Sogar wenn Marktteilnehmer systematisch irrational sind, können Arbitrageure in großer Zahl so die Rückkehr zur Fundamentalbewertung erreichen. Wie im Punkt 3 bereits angedeutet, kann der Einfluss irrationaler Marktteilnehmer auf die Preisbildung durch zwei Mechanismen ausgeglichen werden (vgl. Shleifer, 2000, S. 2 ff.): Arbitrage durch rational handelnde Marktteilnehmer. Das Konzept der Arbitrage basiert auf dem zeitgleichen Kauf und Verkauf eines Wertpapiers oder Wertpapiers ähnlicher Art (gleiche Branche, ähnliche Finanzkennzahlen) an zwei verschiedenen Märkten bei gleichzeitiger Ausnutzung von Preisunterschieden. Durch die Transaktionen der Arbitrageure werden die Bewertungen den fundamentalen Werten wieder angeglichen. Beispiel 1.3: Arbitrage als Möglichkeit zur Begrenzung irrationalen Marktverhaltens Angenommen, die Stammaktien der Bayerischen Motorenwerke AG werden zum gleichen Zeitpunkt in München zu einem Kurs von 43,30 Euro und an der Frankfurter Börse zu 45,60 Euro gehandelt. Die Kursdifferenz beträgt also 2,30 Euro. Wird die gleichzeitige Kauf- und Verkauf-Order von beispielsweise 1000 Aktien ausgeführt, hat der Käufer einen Gewinn von 2.300 Euro erzielt. Der Kaufpreis für 1000 Aktien beträgt in diesem Beispiel aber immerhin 43.300 Euro zuzüglich der Kaufspesen und Gebühren. Durch diese Transaktion würden sich die Notierungen einander angleichen und in Folge die Auswirkungen irrationalen Marktverhaltens ausgeglichen werden. Meist sind die Orderkosten jedoch so hoch, dass der Gewinn aus dem Arbitrage- Geschäft diese Kosten nicht decken kann. In der Praxis können nur große Finanzinstitute oder Hedgefunds Arbitragemöglichkeiten nutzen. Für andere Marktteilnehmer sind die Transaktionskosten zu hoch. Zudem sind die Zinsdifferenzen zwischen Kredit- und Guthabenzinsen zu hoch, sodass sich eine kreditfinanzierte Arbitrage nicht lohnt. Natürliche Selektion durch die Marktkräfte. Dieser Mechanismus beruht auf den Vermögensverlusten durch den Kauf überbewerteter Wertpapiere und den anschließenden Verkauf, wenn die Wertpapiere im Laufe der Zeit wieder richtig bewertet sind. Folglich sind die Erträge dieser Investoren geringer und sie werden laut Aussage des amerikanischen Nobelpreisträgers Friedman mit der Zeit aus dem Markt gedrängt: „They must become much less wealthy and eventually disappear from the market.“ (Friedman, zit. nach Shleifer, 2000, S. 4) Die Effizienzmarkthypothese impliziert keinerlei Unter- und Überreaktionen auf Nachrichten, ebenso wie die Nutzlosigkeit der Interpretation von Nachrichten, die keine relevanten Informationen (z.B. Gerüchte über die Entwicklung einer Aktie) beinhalten. <?page no="42"?> 1.2 Entscheidungstheorien und Konzepte der Neoklassik 41 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Darüber hinaus betrachtet Fama Informationen, die bereits auf dem Markt vorhanden sind, als „alte, nutzlose“ Informationen. Er definiert drei Arten von unbrauchbaren Informationen, die dann zu den drei bekannten Formen der Effizienzmarkthypothese führen (vgl. Shleifer, 2000, S. 5). Inwieweit die Arbitrageure tatsächlich in der Lage sind, die Auswirkungen „irratonal“ handelnder Marktteilnehmer auszugleichen, wird in Kapitel 4.1.2 erörtert. Zahlreiche Hindernisse erschweren oder verhindern das Eingreifen von Arbitrageuren in Form der institutionellen Anleger. Neben bestimmten Risiken führen auch die Kosten der Arbitrage dazu, dass die institutionellen Investoren nicht immer eingreifen. Mehr noch, teilweise sind die institutionellen Investoren nicht daran interessiert, Preise an die Fundamentalbewertung zurückzuführen. Vielmehr liegt ihnen u.U. daran, von der Fehlbewertung zu profitieren (vgl. Kap. 4.1.2). Drei-Stufen-Konzept der Effizienzmarkthypothese Im Drei-Stufen-Konzept unterscheidet Fama zwischen der schwachen, der mittelstrengen und der strengen Form der Markteffizienz (vgl. Schredelsker, 2002, S. 418): Die schwache Form der Marktffizienz kennzeichnet einen Markt, in dem die Preishistorien der gehandelten Titel in den gegenwärtigen Preisen enthalten sind. Im Kern entspricht diese Form der Effizienz der Random Walk Theory von Bachelier. Das bedeutet, dass die Information über vergangene Preise zu keinerlei Überrendite führt und dadurch die charttechnische Analyse (vgl. Kap. 2.2.2) jeder Grundlage entbehrt. Beispiel 1.4: Schwache Form der Markteffizienz Entdeckt ein Charttechniker, dass die Kurse im Januar steigen, so versucht er, durch Käufe im Dezember von den Kursteigerungen im Januar zu profitieren. Dieses Phänomen wird jedoch auch von anderen Marktteilnehmern beobachtet, die ebenso auf steigende Kurse im Januar setzen. Die Kurse steigen somit aufgrund der Nachfrage der Charttechniker bereits im Dezember ohne zusätzliche Steigerungen im Januar - die Entdeckung mittels der Chartanalyse zerstört somit die antizipierte Überrendite von selbst. Die charttechnische Analyse wird dennoch von einem Teil der Marktteilnehmer zur Entscheidungsfindung herangezogen. Insofern verdeutlicht das Vertrauen in diese Form der Finanzmarktanalyse die begrenzte Rationalität unter den Marktteilnehmern. Die Forschungsergebnisse der Behavioral Finance sind in der Lage, die psychologischen Ursachen für das bestehende Vertrauen in die Chartanalyse zu erklären. So gibt es Hinweise darauf, dass bestimmte Heuristiken (= Faustregeln) dazu führen, dass die Kenntnisse über vergangene Preise durchaus zur Erzielung einer Überrendite genutzt werden können. So haben die Ökonomen Werner de Bondt und Richard Thaler (1985) darauf hingewiesen, dass die zukünftige, langfristige Entwicklung von Wertpapieren aus der Betrachtung der vergangenen Entwicklung z.T. vorhersagbar ist. Dieses als Winner-Loser-Effekt bekannte Phänomen wird in Kapitel 4.3.3 näher beschrieben. <?page no="43"?> 42 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die mittelstrenge Form der Markteffizienz beruht auf dem Gedanken, dass auch alle sonstigen, öffentlich verfügbaren Informationen in den Kursen der Wertpapiere eingepreist sind. Ist ein Markt im mittelstrengen Sinne informationseffizient, so führt die fundamentale Wertpapieranalyse auf Basis öffentlicher Informationen (Zeitungsberichte, Jahresabschlüsse etc.) zu keinerlei Überrendite. Beispiel 1.5: Mittelstrenge Form der Markteffizienz Entdeckt ein Analyst im Geschäftsbericht der Deutschen Bank, dass die Unternehmensverschuldung zu hoch ist, könnte er durch die Erkenntnis eine Überrendite erreichen. In einem effizienten Markt jedoch wird die Entwicklung der Unternehmensverschuldung auch von anderen Analysten bemerkt - der Kurs fällt sofort, da die Information in kürzester Zeit in die Wertpapierkurse eingepreist wird. Neben der schwachen Form wird auch die mittelstrenge Form der Markteffizienz empirisch angezweifelt. So lässt sich eine zunächst zurückhaltende Einstellung gegenüber Ergebnismeldungen der Unternehmen beobachten. In Folge entstehen wie im Unterkapitel 1.2.4 bereits angemerkt, weitere Zugewinne bei positiven Meldungen und weitere Verluste bei negativen Informationen mit schrittweiser Anpassung der zuvor vorsichtigen Einschätzungen. Dieser Gewinnankündigungsdrift verdeutlicht die Möglichkeit, potenziell eine Überrendite durch Kenntnis aller öffentlichen Informationen zu erlangen (vgl. Shefrin, 2000, S. 96). Die strenge Form der Markteffizienz schließt die korrekte Verarbeitung aller erdenklichen Informationen in die Wertpapierkurse ein (neben Preishistorien und allen öffentlich verfügbaren Informationen auch die nicht öffentlichen Insiderinformationen). Ist der Markt im strengen Sinne informationseffizient, können nicht einmal Insider aus ihrem Informationsvorsprung eine Überrendite erzielen. Beispiel 1.6: Strenge Form der Markteffizienz Verkauft nun ein Vorstand der Deutschen Bank große Aktienpakete, da er über die zunehmende Verschuldung besorgt ist, so werden in einem effizienten Markt die Insiderverkäufe auch von anderen Investoren bemerkt - in Folge sinkt der Kurs in kürzester Zeit und Überrenditen sind nicht möglich. Auch die strenge Form der Markteffizienz wird durch die Behavioral Finance angezweifelt. So ergaben die Forschungsergebnisse Seyhuns (1986), dass Unternehmensinsider Überrenditen erreichen, indem sie ihre Wertpapiere erst nach Einpreisen positiver Informationen verkaufen und erst nach Bekanntgabe negativer Informationen erwerben. Dieses Verhalten stellt im Zusammenhang der genannten Beispiele die unzureichende Informationsverarbeitung durch die Marktteilnehmer dar, mit der Folge, dass die Insider Übertreibungen zu ihren Gunsten ausnutzen können. In diesem Kontext ist auf die unterschiedliche Bedeutung der Begrifflichkeiten „effizienter Kapitalmarkt“ und „vollkommener Kapitalmarkt“ hinzuweisen. Dies ist notwendig, da es sich um zwei unterschiedliche Konzepte handelt, wobei die beiden Begriffe nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Ein vollkommener Markt zeichnet sich durch die folgenden Kriterien aus: keinerlei Transaktionskosten (Gebühren, Steuern, Provisionen) im Markt, <?page no="44"?> 1.2 Entscheidungstheorien und Konzepte der Neoklassik 43 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Wertpapiere sind unendlich teilbar, vollkommene Konkurrenz (alle Marktteilnehmer sind Preisnehmer), Marktteilnehmer haben gleichen, kostenlosen Zugang zu Informationen, Marktteilnehmer sind rational handelnde Individuen mit dem Ziel der Erwartungsnutzenmaximierung. Im Gegensatz zu einem vollkommenen Markt kann ein informationseffizienter Markt auch dann effizient sein, wenn Transaktionskosten bestehen, die Wertpapiere nicht teilbar sind oder wenn die Marktteilnehmer nicht über die gleichen Informationen verfügen. Bei der Markteffizienz wird nur auf die Verarbeitung von Informationen Bezug genommen. Die Effizienzmarkthypothese beschreibt einen Markt als effizient, wenn die Wertpapierkurse alle vorhandenen Informationen komplett widerspiegeln. Es werden drei Arten von Informationen unterschieden, die zu den drei bekannten Formen der Effizienzmarkthypothese führen. Bedingungen für effiziente Märkte als Erweiterung der Markteffizienz nach Fama Die nachfolgend aufgeführten Bedingungen (vgl. Garz, Günther & Moriabadi, 2002, S. 80 ff.) für effiziente Märkte verdeutlichen auf gesamtwirtschaftlicher Ebene die Lenkungsfunktion der Preise, in welche die Effizienzmarkthypothese nach Fama eingebettet ist. Die Preise sollten in einem effizienten Markt, der nicht unbedingt vollkommen sein muss, Signale senden, die dafür sorgen, dass das Kapital den volkswirtschaftlich besten Verwendungsmöglichkeiten zugeführt wird. Operationelle Effizienz Die operationelle Effizienz besagt, dass die Marktpreise nicht durch die in der Realität existierenden Unvollkommenheiten wie Steuern oder Transaktionskosten systematisch verzerrt werden dürfen. Drei Faktoren spielen eine bedeutende Rolle in der Beurteilung der operationellen Effizienz, die allesamt die Erhöhung der Handelsbereitschaft aller Marktteilnehmer verfolgen: Damit die operationelle Effizienz gewährleistet werden kann, muss die Marktorganisation in einem Wertpapiermarkt jederzeit für eine ausreichende Liquidität in den gehandelten Wertpapieren sorgen. Die Marktstruktur muss jedoch auch in der Lage sein, die Transaktionskosten zu minimieren. Hierzu gehören einerseits die direkten Transaktionskosten wie Börsenumsatzsteuer, Provisionen; andererseits die indirekten Transaktionskosten, resultierend aus dem Blockhandel großer Aktienpakete. Die indirekten Kosten führen dazu, dass die Aktienpakete nur durch Inkaufnahme eines signifikanten Preisabschlags/ -aufschlags ver- oder gekauft werden können. <?page no="45"?> 44 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Im weiteren Sinne müssen auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen betrachtet werden. In diesem Kontext geht es hauptsächlich um den Schutz der Marktteilnehmer vor den negativen Auswirkungen von Insidergeschäften. Informationseffizienz Neben der operationellen Effizienz dominiert auch die Diskussion um die Informationseffizienz bei der inhaltlichen Abgrenzung eines allokationseffizienten Marktes. Entsprechend der Grundannahme der Effizienzmarkthypothese gilt ein Markt als informationseffizient, wenn sämtliche Informationen, die den Wert einer Kapitalanlage betreffen, unverzüglich in ihrem Marktpreis verarbeitet werden. Dies würde jedoch bedeuten, dass ein Marktteilnehmer im Sinne der strengen Form der Informationseffizienz keinerlei Anreize hätte, Informationen zu sammeln und auszuwerten. Wenn dies jedoch nicht geschieht, ist die Verarbeitung sämtlicher Informationen in den Wertpapierkursen in Frage zu stellen. Aus diesem Grund ist auch die Allokationseffizienz in Frage zu stellen, denn wenn sich alle Marktteilnehmer nach der Maxime der Informationseffizienz verhalten würden, dann gäbe es keine Anreize, Informationen zu beschaffen. Wenn dies der Fall wäre, dann würde niemand mehr auf neue Informationen reagieren. Folglich muss zumindest kurzfristig ein Anreiz zur Beschaffung und Auswertung von Informationen gegeben sein, um durch deren Verwertung eine Überrendite zu generieren. Bewertungseffizienz Als hierarchisches Konzept stellt die Bewertungseffizienz eines Kapitalmarktes im Effizienzkonzept die oberste Stufe dar. Sowohl die operationelle Effizienz als auch die Informationseffizienz sind zwar notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für einen bewertungseffizienten Markt. Damit die Preise in einem Markt schlussendlich eine Lenkungsfunktion übernehmen können, müssen sie sich schnell und ohne Reibungsverluste an die veränderten Informationslagen anpassen - sie müssen die Informationen richtig verarbeiten. Das bedeutet, dass die fundamentalen Werte von Unternehmen in den an den Kapitalmärkten bezahlten Preisen unverzerrt zum Ausdruck kommen müssen. Möglichkeiten zur Bewertung der Investitionen bieten die Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie (insbesondere das CAPM und die APT - vgl. Kap. 2.1.2 und 2.1.3). Biographie von Eugene Fama, Nobelpreisträger 2013 Eugene F. Fama wurde am 14. Februar 1939 in Boston geboren. Er ist als Mitbegründer der neoklassischen Kapitalmarkttheorie bekannt und wird sehr stark mit der Erforschung ökonomischer Marktmechnismen in Verbindung gebracht. Insbesondere seine Effizienzmarkthypothese hat weltweit Anerkennung gefunden. Fama erhielt für seine wissenschaftliche Forschungsarbeit zahlreiche Auszeichnungen: 2013 wurde er gemeinsam mit Robert Shiller und Lars Peter Hansen für die empirische Anlayse von <?page no="46"?> Zusammenfassung 45 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Wertpapierpreisen mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Hierbei wurden insbesondere seine Analysen rund um die Effizienzmarkthypothese aus den 60er Jahren gewürdigt. Weitere Auszeichnungen beinhalten den Fred Arditti Innovation Award im Jahr 2007, den Deutsche Bank Price in Financial Economics im Jahr 2005, den Morgan Stanley American Finance Association Award for Excellence in Finance im Jahr 2007 und den Onassis Prize in Finance im Jahr 2009. Nach seinem Bachelor Studium an der Tufts University 1960 erhielt er 1964 seinen PhD an der University of Chicago Booth School of Business. Sein Doktorvater war Benoit Mandelbrot, der wegweisende Arbeiten zur fraktalen Geometrie und Chaosforschung verfasste. Famas Doktorarbeit, die zur Schlussfolgerung führte, dass Aktienpreise unvorhersagbar sind und einem Random Walk folgen, wurde 1965 im Journal of Finance veröffentlicht. Seit 1963 ist er Professor an der Chicago Booth School of Business. Z Zuussaammmmeennffaassssuunngg Die neoklassische Kapitalmarkttheorie ist heute eine eigenständige und anerkannte Disziplin innerhalb der Wirtschaftswissenschaften. Sie entwickelte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts, dessen geistesgeschichtliche Strömungen das Konzept des Homo Oeconomicus formten. Der Startpunkt der neoklassischen Kapitalmarkttheorie wird in der Regel mit der Doktorarbeit von Louis Bachelier im Jahre 1900 in Verbindung gebracht. Seine Erkenntnis, dass Aktienkursbewegungen mittels stochastischer Prozesse modellierbar sind und infolgedessen die statistische Eigenschaft eines reinen Zufallsprozesses aufweisen, formte die Random Walk Theory. Jene Theorie, wonach sich Aktienkurse ohne „Gedächtnis“, d.h. unabhängig von den vorher realisierten Kursen nach oben oder nach unten bewegen. Die Entscheidungstheorien und Konzepte der neoklassischen Kapitalmarkttheorie lassen sich wie folgt zusammenfassen. Das Konzept des Homo Oeconomicus wird akzeptiert als ein positives Verhaltensmodell mit der Zielsetzung, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären und vorherzusagen. Das Konzept erlaubt die modelltheoretische Vereinfachung der ökonomischen Analyse des menschlichen Verhaltens. Nach der Random Walk Theory ist es möglich, die Häufigkeit der Kursänderung von Wertpapieren auf Basis der Normalverteilung einzuordnen. Demnach befinden sich 68 Prozent der Kursänderungen innerhalb plus/ minus einer Standardabweichung um den Mittelwert und rund 95 Prozent innerhalb von zwei Standardabweichungen. Die Erwartungsnutzentheorie hat die Zielsetzung, rationales Verhalten unter Berücksichtigung von Risiken (Unsicherheit) zu analysieren. Dabei spielt der Entscheidungsträger eine wichtige Rolle, der zwischen verschiedenen Handlungen wählen muss, dessen Ergebnisse/ Konsequenzen jedoch ungewiss sind. Die Erwartungsnutzentheorie bildet gemeinsam mit dem Bayes-Theorem der Informationsverarbeitung die Grundlage für die Effizienzmarkthypothese. Das <?page no="47"?> 46 1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens Bayes-Theorem verdeutlicht, wie sich die Wahrscheinlichkeitseinschätzung eines Marktteilnehmers verändern sollte, wenn neue Informationen empfangen werden. Die Effizienzmarkthypothese ist ein weiterer Baustein im Konzept rationalen Verhaltens. Sie beschreibt einen Markt als effizient, wenn die Wertpapierkurse alle vorhandenen Informationen komplett widerspiegeln. Dabei wird der Einfluss irrationaler Marktteilnehmer durch das Konzept der Arbitrage und durch die natürliche Selektion neutralisiert. <?page no="48"?> 2.1 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 22 GGrre ennzzeenn ddeerr nneeookkllaassssiisscchheenn KKaappiitta allmmaarrk kttt th heeoorri iee Im zweiten Kapitel werden Sie die Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie kennenlernen, die für die Ermittlung der erwarteten Rendite sowie des Risikos von Wertpapieren genutzt werden. Darüber hinaus lernen Sie auf Basis der Fundamentalanalyse sowie der charttechnischen Analyse Bewertungsansätze finanzwirtschaftlicher Entscheidungen kennen. Sie werden nach Durcharbeiten dieses Kapitels die zunehmende Kritik an den aufgeführten Modellen verstehen und erhalten zudem über die Beschreibung „Schwarzer Schwäne“ einen Einblick in reale Marktgegebenheiten, die sich mit der neoklassischen Kapitalmarkttheorie nur schwer in Einklang bringen lassen. MMo oddeelllle e ddeerr nneeo okkllaas sssiisscchheenn KKaap piittaal lmmaar rkktttthheeoorriiee Die moderne Finanzwirtschaft baut auf die Konzepte der neoklassischen Kapitalmarkttheorie auf. Dabei wird die Funktionalität der Kapitalmärkte mit Hilfe von Modellen beschrieben, in denen rational agierende Marktteilnehmer die Hauptrolle spielen. Die nachfolgend aufgeführten Modelle haben die Zielsetzung, die Realität so weit wie möglich vereinfacht darzustellen. Sie berufen sich dabei auf abstrahierende Annahmen statt auf reale Bedingungen. Bei der Betrachtung der aufgeführten Modelle ist der Grundgedanke der neoklassischen Kapitalmarkttheorie als normative Entscheidungstheorie klar ersichtlich: Sie zeigt, wie Investoren sich verhalten sollten, und nicht unbedingt, wie sie sich in Wirklichkeit verhalten (vgl. Pompian, 2006, S. 10). Daher soll im Folgenden ebenfalls verdeutlicht werden, wie Marktteilnehmer, abweichend zu den postulierten Annahmen, sich im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung verhalten. Dieser Grundgedanke spielt in den folgenden Kapiteln eine zentrale Rolle. 22..11..11 PPoorrttffoolliioo SSeelleecct tiioonn TThheeoorryy nnaacchh HHa arrrryy MMaarrkkoowwiittzz Eine alte Börsenweisheit besagt, dass man lieber auf mehrere Aktien statt nur auf eine einzelne setzen sollte. Diese Verhaltensweise wird auch als naive Diversifikation bezeichnet. Ein rational handelnder Marktteilnehmer, der nur auf die Rendite fokussiert ist, müsste alleine auf dasjenige Wertpapier setzen, das die höchste Rendite verspricht. Die Diskrepanz zwischen diesem zu erwartenden und dem tatsächlich zu beobachtenden Verhalten inspirierte Harry M. Markowitz 1952 dazu, die Portfolio Selection Theory 3 zu entwickeln. Markowitz gelangte schon als Doktorand zu der Einsicht, dass neben der erwarteten Rendite einer Anlage auch das dazugehörige Risiko betrachtet werden muss: „It seemed obvious that investors are concerned with risk and return, and that these should be measured for the portfolio as a whole.“ (Markowitz, 1991, S. 470) 3 Im Weiteren auch als Portfoliotheorie bezeichnet. <?page no="49"?> 48 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Markowitz führte den so genannten Zwei-Parameter-Ansatz ein, der durch den Erwartungswert und die Standardabweichung die zukünftige Rendite von Investitionen zu beschreiben vermag. Die Portfoliotheorie war jedoch nicht nur imstande, die erwartete Rendite einer Aktienanlage zu beschreiben, sondern mit ihr kann über die Berücksichtigung der Korrelation mehrerer Aktienanlagen der Erwartungswert und die Standardabweichung der Rendite eines Portfolios ermittelt werden. Grundgedanke der Portfolio Selection Theory Wie dem obigen Zitat von Markowitz zu entnehmen ist, ging er davon aus, dass Investoren bei ihren Entscheidungen neben der erwarteten Rendite auch das Risiko des Wertpapiers berücksichtigen. Die Überlegungen beziehen sich dabei vornehmlich auf Aktien, sind aber auch auf andere Wertpapiere übertragbar. Aufgrund dieser Einschätzung ergeben sich im Weiteren folgende theoretische Modellannahmen über Marktcharakteristika und die erwarteten Verhaltensweisen der Marktteilnehmer: Es wird unterstellt, dass die erwartete Rendite einem stochastischen Zufallsprozess im Sinne der Normalverteilung unterliegt. Auf diese Weise kann das Risiko als Abweichung von der erwarteten Rendite definiert und als Standardabweichung gemessen werden. Eine weitere Annahme ist der Planungshorizont von einer Periode, bei der ein Wertpapier in t 0 gekauft und in t 1 verkauft wird. Der Kapitalbetrag wird dabei vollständig in risikobehafteten Wertpapieren investiert, wobei man von einem vollkommenen Markt mit beliebiger Teilbarkeit von Wertpapieren ausgeht. Die Präferenz der Investoren bezieht sich ausschließlich auf das Endperiodenvermögen. Das Modell zeichnet sich außerdem durch risikoaverse sowie rationale Marktteilnehmer aus, die für die Übernahme eines größeren Risikos höhere Renditen fordern bzw. bei gegebener Rendite stets das Wertpapier mit dem geringsten Risiko wählen - folglich sind die einzigen Zielgrößen die Rendite sowie die Renditevarianz (vgl. Karlen, 2004, S. 13). Darüber hinaus impliziert das Modell die Entscheidungsfindung unter Risiko über zukünftige Renditen einer Anlage. Die Darstellung des Entscheidungsproblems auf Basis der erwarteten Rendite (μ) sowie vornehmlich darin, diese Werte zu ermitteln. Da es sich bei diesen Werten jedoch nicht um unmittelbar bekannte Werte handelt, müssen sie in einem ersten Schritt geschätzt werden. Hierzu werden aus einer Stichprobe von bereits in der Vergangenheit realisierten Renditewerten sowohl der Stichprobenmittelwert als auch die Stichprobenstandardabweichung berechnet. Die Portfoliotheorie basiert auf dem Zwei-Parameter-Ansatz, der durch den Erwartungswert und die Standardabweichung die zukünftige Rendite von Investitionen zu beschreiben vermag. <?page no="50"?> 2.1 Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie 49 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Bildung effizienter Portfolios Entsprechend der dargestellten Annahmen verhalten sich die Marktteilnehmer risikoavers. Auf Basis dieser Einstellung würden sie Minimum-Varianz-Portfolios (MVP) auswählen, die durch die folgenden Effizienzkriterien gekennzeichnet sind: Für ein effizientes Portfolio existiert bei gegebener Rendite kein anderes Portfolio mit geringerem Risiko. Für ein effizientes Portfolio existiert bei gegebenem Risiko kein anderes Portfolio mit höherer erwarteter Rendite. Für ein effizientes Portfolio existiert kein Portfolio mit geringerem Risiko und gleichzeitig höherer erwarteter Rendite. Das risikominimale Portfolio M (vgl. Abb. 7) trennt die Menge der MVP in effiziente und ineffiziente Portfolios. Die Portfolios, die die erwähnten Effizienzkriterien erfüllen, befinden sich auf dem äußeren (aufstrebenden) Rand (positive Steigung) der Effizienzkurve. Diese Portfolios sind effizient und haben ein optimales Ertrag-Risiko- Austauschverhältnis. Das bedeutet, dass das jeweilige Portfolio ein geringeres Risiko aufweist als das Wertpapier mit dem geringsten Risiko und dabei eine höhere erwartete Rendite erzielt. Ein nicht vollständiger Gleichlauf von Wertpapierrenditen führt zum so genannten Diversifikationseffekt: Die Portfoliovarianz sinkt dabei unter das arithmetische Mittel der Einzelrisiken (vgl. Garz, Günther & Moriabadi, 2002, S. 32). Der wesentliche Nutzen für die Diversifikation in mehrere Anlagen liegt laut Markowitz darin, dass durch die Diversifikation das Risiko reduziert werden kann (vgl. Markowitz, 1991, S. 469 f.). Die beiden Parameter der Zielgrößen werden zum einen durch den Erwartungswert (μ) und zum anderen durch die Varianz bzw. die Standardabweigeht, dass die Renditen am Kapitalmarkt - wie durch Bachelier beschrieben - der Normalverteilung folgen, welche sich durch die genannten Parameter beschreiben lässt. Der Diversifikationsvorteil beruht auf der Andersartigkeit der Unternehmen. Sie ist maßgeblich vom Korrelationskoeffizienten der betrachteten Wertpapiere abhängig. Der maximale Diversifikationseffekt entsteht dann, wenn die Geschäftstätigkeiten der Unternehmen negativ miteinander korrelieren. Abbildung 7 zeigt die Diversifikation durch drei Wertpapiere (A, B, C). Die Berücksichtigung sämtlicher Kombinationen, die der Investor in seinem Entscheidungskalkül berücksichtigen kann, wird durch den Umhüllungseffekt (Kurve AMC) verdeutlicht. Die Kurven AB, AC sowie BC stellen unterschiedliche Kombinationen der einzelnen Wertpapiere dar. Die Kurve AMC kann alle drei Wertpapiere enthalten. <?page no="51"?> 50 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 7: Risiko-Rendite-Diagramm mit Umhüllungseffekt Die Bedeutung unterschiedlicher Korrelationskoeffizienten wird nachfolgend aufgeführt: Perfekt positive Korrelation (Korrelation gleich 1): Die Rendite beider Anlagen steht in einem streng linear positiven Zusammenhang. Beide Anlagen sind von genau den gleichen systematischen Risikofaktoren abhängig und von keinerlei spezifischen (siehe unten). Damit bewegen sich die Renditen beider Anlagen stets in die gleiche Richtung (z.B. gestrichelte Linie zwischen A und B in Abb. 7). Positive Korrelation (Korrelation zwischen 0 und 1): Die beiden Anlagen haben eine Vielzahl gemeinsamer, systematischer Risikofaktoren, jedoch auch viele spezifische. Damit bewegen sich die Renditen beider Anlagen tendenziell in die gleiche Richtung. Unabhängigkeit (Korrelation gleich 0): Die beiden Anlagen haben keinerlei gemeinsame Risikofaktoren und schwanken in ihrer Rendite nur aufgrund von spezifischen Einflüssen. Die Renditeentwicklungen der beiden Anlagen lassen keinen Zusammenhang erkennen. Negative Korrelation (Korrelation zwischen -1 und 0): Die beiden Anlagen haben eine Vielzahl gemeinsamer, systematischer Risikofaktoren, die jedoch jeweils in ihrer Wirkungsrichtung entgegengesetzt sind. Die Renditebewegungen der beiden Anlagen tendieren in entgegengesetzte Richtungen. Perfekt negative Korrelation (Korrelation gleich -1): Beide Anlagen sind von den gleichen systematischen Risikofaktoren, jedoch von keinerlei spezifischen abhängig. Der Einfluss der systematischen Faktoren ist immer entgegengesetzt. Die Renditebewegungen der beiden Anlagen gehen stets in die umgekehrte Richtung. Eine perfekt negative Korrelation ist in der Realität kaum zu erwarten. Verantwortlich dafür sind renditebestimmende Faktoren, die zwar in unterschiedlicher Intensität, jedoch auf alle Aktien, Anleihen und alle weiteren Anlageklassen in ähnlicher Weise ein- <?page no="52"?> 2.1 Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie 51 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance wirken. Diese Schwankungen sind auf eine Vielzahl von Einflussfaktoren zurückzuführen, die sich in zwei Klassen aufteilen lassen (vgl. Gehrig & Zimmermann, 1999, S. 46): [1] Systematische Risikofaktoren (Marktrisiko, nicht diversifizierbar) Faktoren, die alle Aktien beeinflussen und eine leicht positive Korrelation der Renditen verursachen. Diese Faktoren lassen sich auch durch breite Portfolios nicht wegdiversifizieren. Das systematische Risiko ist von jedem Anleger zu tragen und wird durch eine entsprechende Risikoprämie entschädigt. Beispiele hierzu sind das Zinsniveau, Wechselkurse, Konjunkturverlauf, globale politische Ereignisse, Naturkatastrophen usw. [2] Unsystematische Risikofaktoren (spezifische Risiken, diversifizierbar) Sie beeinflussen lediglich einen einzelnen Titel. Diese Risiken müssen ohne Entschädigung getragen werden, da sie durch eine entsprechend große Portfolioauswahl weitgehend wegdiversifiziert werden können. Beispiele hierzu sind u.a. das Produktportfolio des Unternehmens, Managemententscheidungen, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Unternehmens sowie die Analysteneinschätzungen zum Unternehmen. Die Vorteile der Diversifikation waren bereits Generationen vor Markowitz bekannt, so äußerte sich der bekannte Mathematiker Daniel Bernoulli: „... it is advisable to divide goods which are exposed to some small danger into several portions rather than to risk them all together.“ (vgl. Bernoulli, zit. nach Chapados, 2011, S. 2 ) Die Möglichkeit der Reduktion spezifischer systematischer Risiken ist in Abb. 8 ersichtlich. Mit steigender Anzahl an Anlagen im Portfolio nähert sich das Gesamtrisiko immer mehr an das Risiko des Marktportfolios an, also demjenigen Portfolio, welches sämtliche Assets am Markt beinhaltet. Aktienportfolios mit 10 bis 15 verschiedenen, zufällig ausgewählten Titeln weisen bereits einen hohen Diversifikationseffekt auf (vgl. Garz, Günther & Moriabadi, 2002, S. 41). Abb. 8: Reduktion spezifischer, systematischer Risiken <?page no="53"?> 52 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Der Diversifikationseffekt basiert auf der Andersartigkeit von Unternehmen, die im Ergebnis das Portfoliorisiko unter das arithmetische Mittel der Einzelrisiken (Varianz) senken, sobald ein Portfolio aus mehreren Wertpapieren besteht. Der Diversifikationseffekt wird durch die Korrelation der betrachteten Wertpapiere verursacht und durch den Korrelatonskoeffizenten beschrieben. Durch die Portfoliotheorie wurde die eindimensionale Betrachtungsweise von Anlagen durch eine zweidimensionale Betrachtungsweise abgelöst. Dadurch wird nicht nur die erwartete Rendite, sondern auch das entsprechende Risiko mit einbezogen. Das vorgestellte System verhilft dem rationalen Investor dazu, sich in Ungewissheit entweder für eine gegebene Rendite mit kleinstmöglichem Risiko oder für ein gegebenes Risiko mit maximalem Ertrag zu entscheiden (vgl. Gehrig & Zimmermann, 1999, S. 39). In diesem Zusammenhang sei bereits auf das Konzept des Lending & Borrowing verwiesen. Dabei sei es möglich, unbegrenzt und zu einem risikolosem Zinssatz Vermögen zu verleihen bzw. Kapital zu leihen, um die Rendite des eigenen Portfolios anzupassen. Der Verleiher (lender) tut dies, um einen Teil des Vermögens in die risikolose Anlage zu investieren und dadurch das Gesamtrisiko seiner Anlagen zu verringern. Der Leiher (borrower) auf der Gegenseite versucht durch das geliehene Kapital den Ertrag seines Vermögens im Sinne des Leverage-Effekts zu erhöhen. Dadurch entsteht ein Anreiz für alle Marktteilnehmer, nur das Marktportfolio zu halten und über Lending & Borrowing an seine Risikopräferenz anzupassen. Die empirische Bestätigung der erwarteten Risikoreduktion durch die Zusammenstellung eines Wertpapierportfolios hat zur starken Verbreitung der Portfoliotheorie in der Praxis beigetragen. Die Übertragung der Portfoliotheorie in die Praxis ist jedoch auch als problematisch anzusehen. Unter anderem muss über die erwartete Rendite und das Risiko Datensicherheit herrschen. Historische Datenreihen lassen zwar auf die beiden Parameter schließen, es ist jedoch fraglich, inwieweit die Daten auch in der Zukunft Gültigkeit besitzen und sich dadurch ex ante ein effizientes Portfolio ermitteln lässt. Darüber hinaus sind die Vorteile der Portfoliotheorie, wie oben angemerkt, nur nutzbar, wenn das entsprechende Portfolio die notwendige Anzahl an Wertpapieren enthält. Ein Privatanleger wird kaum die Möglichkeit besitzen, seine Investitionen derart zu streuen, dass diese den Vorgaben der Portfoliotheorie entsprechen. 4 Folglich kann die Theorie vornehmlich von institutionellen Investoren in Betracht gezogen werden. Selbst Markowitz konnte sich den Zwängen der emotionalen Folgen der Anlageentscheidungen nicht entziehen und investierte seine Beiträge in die private Altersvorsorge wie die Mehrheit der Anleger: „My intention was to minimize my future regret. So I split my contributions fifty-fifty between bonds and equities.“ (Markowitz, zit. nach Shefrin 2000, S. 31) Selbst Portfolios mit einer relativ geringeren Anzahl an Wertpapieren können mittlerweile ebenfalls optimiert werden. So bietet z.B. FactSet ein Asset Allocationsmodell an, 4 Auf die Möglichkeit, z.B. in Investmentfonds zu investieren, werden wir in den Kapiteln 10 und 12 weiter eingehen. <?page no="54"?> 2.1 Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie 53 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance welches durch Vermögensverwaltungen und Banken in der Beratung vermögender Kunden eingesetzt wird. Das Asset Allocation Tool basiert auf der Portfolio Theory, wobei ein Mean-Variance Optimierungsmodel zur Anwendung kommt. Mit Hilfe des Tools kann die Portfoliozusammensetzung mit Blick auf die gewünschte Zielrendite optimiert werden. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, die eigene Einschätzung über die Renditeentwicklung einzelner Assetklassen in die Portfoliogewichtung einfließen zu lassen. Dies geschieht auf Basis des Black-Litterman Editors, welchem das Bayes-Theorem aus Kapitel 1.2.4 zugrunde liegt. Hierbei werden unterschiedliche Einschätzungen verwendet (basierend auf historischen Daten oder Gleichgewichtsannahmen), um eine überarbeitete Einschätzung zu erhalten. Das resultierende „gemischte Einschätzungsmodell“ wurde zwar 1960 von Henri Theil entwickelt, jedoch erst Anfang der 1990er Jahre durch Fischer Black und Robert Litterman auf die Analyse von Finanzdaten angewendet. 5 In der nachfolgenden Darstellung (Abb. 9) ist das Optimerungsergebnis vom bestehendem Portfolio (dunkelgraues x mit annualisiert 10,18 Prozent Rendite und 5,40 Prozent Risiko) zum optimalem Portfolio (hellgraues x mit annualisiert 13,00 Prozent Zielrendite und 5,25 Prozent korrespondierendem Risiko) sichtbar. Zudem werden die Return-/ Risikoprofile der verwendeten Assetklassen und Regionen gelistet (z.B Developed Europe mit annualisiert 14,16 Prozent Return und 9,80 Prozent Risiko. Asset Allocation Optimazation - Efficient Frontier Abb. 9: Portfoliooptimierung durch Asset Allocation Optimization; FactSet 5 http: / / www.blacklitterman.org/ index.html <?page no="55"?> 54 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Biographie von Harry Markowitz, Nobelpreisträger 1990 Harry M. Markowitz wurde am 24. August 1927 in Chicago, Illinois, geboren. Während des Studiums an der University of Chicago wurde er Mitglied der namhaften Forschungsgruppe Cowles Commission for Research Economics, die unter anderem ökonomische Denkweisen vorgab und prägte. Im Jahre 1952 begann Markowitz für die RAND Corporation zu arbeiten. Während dieser Zeit lernte der erst 25-jährige Markowitz William F. Sharpe kennen. Markowitz startete mit Sharpe die Entwicklung der Portfoliotheorie. 1952 wurde in dem renommierten Journal of Finance der Artikel „Portfolio Selection“ veröffentlicht, welcher als Meilenstein in der neoklassischen Kapitalmarkttheorie angesehen wird. Der Artikel wurde zu einer der wichtigsten wirtschaftswissenschaftlichen Fachpublikationen. Für die Klassifikation von Portfolios beschäftigte sich Markowitz in der Folgezeit mit der Weiterentwicklung computergestützter Berechnungsmethoden. Er entwickelte hierfür eigens die so genannte SIMSCRIPT Programmiersprache. Markowitz erhielt im Jahre 1990 - im Alter von 63 Jahren - gemeinsam mit William Sharpe und Merton Howard Miller für seine Arbeit auf dem Gebiet der Portfoliotheorie den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis in Wirtschaftswissenschaften. CCaappiittaall--A Asssse ett--P Prriicciinng g--M Mooddeellll nna acchh WWiilllliiaamm SShhaarrppee Aufbauend auf die Portfoliotheorie entwickelten in den 1960er Jahren William Sharpe, John Lintner und Jan Mossin unabhängig voneinander das Capital-Asset-Pricing-Modell. Für seine Erkenntnisse erhielt William Sharpe 1990 den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften. Grundgedanke des Capital-Asset-Pricing-Modells (CAPM) Das CAPM ermöglicht die Quantifizierung und Bewertung von Einzelwertrisiken. Es übersetzt die von der Portfoliotheorie festgelegten Anlageverhältnisse für ein effizientes Marktportfolio in eine klare Vorhersage über die Beziehung zwischen Rendite und Risiko. Zur Identifizierung eines effizienten Portfolios wurde die Portfoliotheorie um zwei weitere, theoretische Modellannahmen erweitert (vgl. Fama & French, 2004, S. 26): Zum einen wird davon ausgegangen, dass alle Marktteilnehmer bestrebt sind, im Sinne der Portfoliotheorie effiziente Portfolios zu halten. Zum anderen wird ein Markt im Gleichgewicht vorausgesetzt, der zur kompletten Marktbereinigung führt. Der Ausgangspunkt des CAPM ist die Security-Market-Linie (SML - siehe Abbildung 10). Sie beschreibt die erwartete Rendite einzelner risikobehafteter Einzeltitel im Marktportfolio. Die wesentlichen Annahmen zur Generierung der Security-Market-Linie werden nachfolgend aufgeführt (vgl. Garz, Günther & Moriabadi, 2002, S. 65): <?page no="56"?> 2.1 Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie 55 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Es wird ein vollkommener Kapitalmarkt vorausgesetzt, in dem keine Steuern oder Transaktionsgebühren existieren. Investoren haben vollständige und homogene Erwartungen. In diesem Sinne fließen alle Anlagealternativen in die Entscheidungsfindung der Marktteilnehmer ein. Zudem stimmen sie in ihrer Einschätzung der Erwartungswerte und Varianzen überein. Im Weiteren impliziert das Modell, dass alle Marktteilnehmer gleich gut informiert sind. Das CAPM lässt damit keine Informationsvorsprünge Einzelner zu. Es existiert eine risikolose Anlage. Und die Marktteilnehmer können zu einem risikolosen Zinssatz Geld anlegen oder aufnehmen. (vgl. Lending & Borrowing in Kap. 2.1.1) Aus den Annahmen, dass alle Marktteilnehmer bestrebt sind, effiziente Portfolios zu halten, sowie dass es eine risikolose Anlage gibt, bei der Lending & Borrowing angewendet werden kann, ergibt sich die Möglichkeit, dass ein identisches Marktportfolio für alle Marktteilnehmer ermittelbar ist. Die aufgeführten Annahmen verdeutlichen im Übrigen einen starken modelltheoretischen Bezug. Abweichende Verhaltensweisen auf den Kapitalmärkten und damit wiederkehrende Abweichung vom Fundamentalwert der Wertpapiere sind daher nicht überraschend. Die Aussagekraft des Regressionskoeffizienten ß i Die zu erwartende Rendite gliedert sich in eine risikolose Verzinsung und in eine Marktrisikoprämie, die das systematische, nicht-diversifizierbare Marktrisiko entschädigt. Aus der Portfoliotheorie ist ersichtlich, dass die Diversifikation unsystematische Risiken einzelner Wertpapiere reduziert. Die vom Marktteilnehmer übernommenen Risiken des Kapitalmarktes werden durch das Beta ß i der Anlage ausgedrückt. Der Beta-Faktor drückt das systematische Risiko relativ zum Markt aus und kann mittels linearer Regression geschätzt werden. Sie zeigt nicht an, wie eng der Zusammenhang zwischen Wertpapierrendite und Marktrendite ist, sondern gibt lediglich die Richtung der Abhängigkeit an. Es handelt sich folglich um ein Sensitivitätsmaß für die Rendite einer Anlage bezüglich der Veränderungen der Marktrendite. Der Beta-Faktor kann wie folgt interpretiert werden (vgl. Jokisch & Mayer, 2002, S. 146 ff.): Er gibt an, wie stark die Rendite eines Wertpapiers i im Durchschnitt von seinem Erwartungswert abweicht, wenn die Marktrendite um eine Einheit von ihrem Erwartungswert abweicht. Dieses Verhalten wird als Reagibilität bezeichnet. Ein Portfolio mit einem Beta-Faktor von 1,5 hat eine erwartete Rendite, deren Risikoprämie 1,5-mal so groß ist wie die des Marktes. Ein Portfolio, dessen Wertpapiere durch hohe Beta-Faktoren gekennzeichnet sind, ist risikoreicher als ein Portfolio mit Wertpapieren, deren Beta-Faktoren gering sind. Das Portfolio ist dennoch risikoärmer als die einzelnen Wertpapiere im Portfolio. Ein Aktien-Beta von 1,5 verdeutlicht dementsprechend, dass wenn die Rendite des Aktienmarktes um 1 Prozent steigt, die Rendite der Aktie um durchschnittlich 1,5 Prozent steigt. Die Höhe der Beta-Faktoren gibt Aufschluss über die erwartete Rendite einer Wertpapieranlage im Vergleich zur Marktrendite: <?page no="57"?> 56 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Ein Beta > 1 bedeutet, dass die Aktienrendite im Durchschnitt stärker steigt (fällt) als die Marktrendite. Ein Beta < 1 bedeutet, dass die Aktienrendite im Durchschnitt weniger stark reagiert als die Marktrendite. Ein Beta = 1 bedeutet, dass die Aktienrendite bei existierenden Marktrisiken eine dem Gesamtmarkt entsprechende Rendite ist. Ein Beta = 0 bedeutet, dass die Aktienrendite unabhängig vom Marktrisiko ist. Sie entspricht dem risikolosen Zinssatz. Das Portfolio aller Wertpapiere hat als Marktportfolio einen Beta-Faktor von 1. Je größer der Beta-Faktor, desto höher die Renditeforderung der Investoren, da es das systematische, unternehmensbezogene Risiko beschreibt, das durch Diversifikation nicht eliminiert werden kann. Neben der Risikoprämie kann der Investor zusätzlich eine Zeitwertprämie erwarten. Dieser risikolose Zinssatz ist nichts anderes als eine Entschädigung für den temporären Konsumverzicht. Der lineare Zusammenhang zwischen dem übernommenen Marktrisiko sowie der dafür erwarteten Rendite wird an der nachfolgenden Abb. 10 sichtbar. Nach dem CAPM sind alle Anlagen (Portfolios wie auch Einzeltitel) auf der Security- Market-Linie (Schaubild) zu finden. Abb. 10: Security-Market-Linie mit Marktportfolio R M - R f = R i - R f | * i 1 i (R M - R f ) * i = R i - R f |+ R f CAPM: R i = R f + i * (R M - R f ) Ermittlung der Rendite R i eines beliebigen Wertpapiers mithilfe von Steigungsdreiecken. <?page no="58"?> 2.1 Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie 57 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die erwartete Rendite i ) erfasst. E(R M ) symbolisiert die erwartete Rendite für das Marktportfolio. Die Verzinsung der risikolosen Festgeldanlage ist durch R f gekennzeichnet. Der Beta-Faktor errechnet sich aus der Auswertung historischer Renditeentwicklungen und kann durch die folgende Formel berechnet werden. Sie wird definiert als der Quotient aus der Kovarianz der Renditeerwartungen des Wertpapiers i mit den Renditeerwartungen des Marktportfolios M zu der Varianz des Marktportfolios M. Die erwartete Rendite entspricht dem risikolosen Zinssatz und einer Risikoprämie. Die Höhe dieser Prämie wird durch den Beta-Faktor und die Marktrisikoprämie bestimmt. Bedeutung der Security-Market-Linie Die Beziehung zwischen dem Beta-Faktor und der geforderten Rendite wird durch die Security-Market-Line (Wertpapiermarktlinie) repräsentiert. Sie beschreibt die Rendite einzelner risikobehafteter Einzeltitel im Marktportfolio. Da der Beta-Faktor bzw. das systematische Risiko neben der ohnehin für alle Anlagen relevanten risikolosen Verzinsung der einzige Bestimmungsfaktor ist, müssen alle Anlagen - ob Portfolio oder Einzeltitel - immer zwingend auf der Security-Market-Linie liegen. Das CAPM definiert die vom Markt aus gesehene, richtige Risikoprämie (R i - R f ) für Einzeltitel. Die erwartete/ geforderte Risikoprämie (Rendite) einer Anlage errechnet sich auf gut funktionierenden Finanzmärkten durch den Beta-Faktor einer Investition. Zur Verdeutlichung seien die empirischen Größen aus dem Zeitraum zwischen 1926 und 1981 angeführt. In dieser Zeit betrug die risikolose Verzinsung (R f ) im Durchschnitt 3,1 Prozent, die durchschnittliche Rendite des Marktportfolios (R M ) betrug 11,4 Prozent. Die durchschnittliche Prämie für übernommenes Risiko (R M - R f ) betrug damit 8,3 Prozent (vgl. Jokisch & Mayer, 2002, S. 148). Das CAPM ermöglicht eine klare Vorhersage über die Beziehung zwischen Risiko und Rendite. Die zu erwartende Rendite gliedert sich in eine risikolose Verzinsung und in eine Marktrisikoprämie. Die vom Marktteilnehmer übernommenen Risiken werden durch den Beta-Faktor der Anlage ausgedrückt. Kritik an der Anwendbarkeit des CAPM Grundlegende Kritik an der Anwendbarkeit des CAPM basiert auf seinen theoretischen Modellannahmen. Das Modell geht von einem Markt im Gleichgewicht aus. Die Realität lässt vermuten, dass Wertpapiere nicht beliebig teilbar sind, und dass Steuern und Transaktionskosten am Markt existieren. Darüber hinaus ist die empirische Überprüfbarkeit COV (r i , r M ) VAR (r M ) <?page no="59"?> 58 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance nahezu ausgeschlossen, da diese auf eine Ex-post-Betrachtung hinausläuft, die sich nicht auf eine Ex-ante-Betrachtung übertragen lässt. Die Aussagekraft der Beta-Faktoren ist besonders abhängig vom ausgewählten Zeitintervall der historischen Renditewerte. Durch die hohe Auswirkung der Zeitkomponente auf die Beta-Faktoren ist die genaue Dokumentation des Ermittlungsverfahrens für die spätere Interpretation unerlässlich (vgl. Gehrig & Zimmermann, 1999, S. 82 ff.). Ein weiterer Kritikpunkt an der Aussagekraft der ermittelten langfristigen Anlage liegt in der Eindimensionalität des Modells. So spielen lediglich historische Renditeentwicklungen bei der Berechnung des Markt-Betas eine Rolle. Zusätzliche Faktoren wie die Unternehmensgröße, das Markt-Buchwert-Verhältnis einer Aktie oder die Price Earnings Ratio könnten die Aussagekraft wesentlich erhöhen (vgl. Gehrig & Zimmermann, 1999, S. 92). Die Anwendung des CAPM durch die Finanzvorstände der größten US-amerikanischen Konzerne beweist die hohe Bedeutung für die Ermittlung von Kapitalkosten als Grundlage für Investitionsentscheidungen. 1999 wurde von der Duke University eine Umfrage mit Finanzvorständen durchgeführt, bei der sich ca. 400 Personen beteiligten. 73,5 Prozent der Befragten gaben an, das CAPM in ihre Entscheidung einzubeziehen. Eine weitere Befragung 2001 mit europäischen Finanzvorständen kam mit 77 Prozent zu einem ähnlichen Ergebnis (vgl. Mandelbrot, 2004, S. 60 ff.). Diese hohe Nutzungsquote wurde durch eine weitere Umfrage 2012, durchgeführt von ESCP Europe, mit 80% bestätigt. Befragt wurden 412 Personen. Die hohe Anwendungsquote verdeutlicht neben der geäußerten Kritik, dass das CAPM einen ersten wichtigen Anhaltspunkt über die Risiken von Wertpapieren liefert. Es verdeutlicht die Risikoaversion der Anleger und unterscheidet zwischen systematischen und unsystematischen Risiken einer Anlage (vgl. Brealey, Myers, Allen, 2005, S. 16). Biographie von William Sharpe, Nobelpreisträger 1990 William F. Sharpe wurde am 16. Juni 1934 in Boston geboren. 1952 begann er sein Betriebswirtschaftsstudium an der University of California in Los Angeles. Nach seiner Graduierung 1956 begann seine berufliche Laufbahn in der RAND Corporation, wo auch Markowitz arbeitete. Markowitz fungierte als inoffizieller Mentor während Sharpes Dissertation. 1961 erhielt er seinen Doktor für die Erarbeitung eines Einfaktor-Modells zur Bepreisung von Wertpapieranlagen. Das CAPM wurde von ihm während seiner Lehrtätigkeit an der University of Washington vervollständigt. Sharpe wurde die Veröffentlichung seines Modells 1962 im Journal of Finance verwehrt und er musste bis 1964 warten, bis es veröffentlicht wurde. In der gleichen Zeit hatten John Lintner und Jack Treynor ebenfalls das CAPM erarbeitet. Von 1970 bis 1998 war Sharpe Professor an der Stanford University. In dieser Zeit beriet er zahlreiche Wertpapierhäuser. Darüber hinaus entwickelte er unter anderem die Sharpe-Ratio zum Vergleich von Portfoliomanagementleistungen sowie die Binominalmethode für die Optionsbewertung. <?page no="60"?> 2.1 Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie 59 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1986 gründete Sharpe die Sharpe-Russel Research Company (heute firmierend als William F. Sharpe Associates) mit Fokus auf der Beratung von Pensionskassen bei der Vermögensverwaltung. Sharpe erhielt, neben zahlreichen Ehrendoktortiteln, 1990 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis in Wirtschaftswissenschaften. AArrbbiittrraag gee PPrriicciinng g TThheeoorryy aallss AAlltte errnna atti ivvee zzuumm CCAAPPMM Die Arbitrage Pricing Theory wurde 1976 von Stephen A. Ross als zentrales, alternatives Bewertungsmodell zum CAPM entwickelt. Grundgedanke der Arbitrage Pricing Theory (APT) Das Mehrfaktorenmodell von Ross passt sich den realen Marktbedingungen in der Weise an, dass es in Abgrenzung zum CAPM nicht auf einem Nutzenoptimierungskalkül der Marktteilnehmer basiert, bei dem effiziente Portfolios favorisiert werden. Es basiert vielmehr einzig auf dem Argument der Arbitragefreiheit auf dem Kapitalmarkt, d.h. der Kapitalmarkt bietet nach Ausnutzung sämtlicher Arbitragemöglichkeiten keine weiteren Möglichkeiten für risikolose Gewinne. Die notwendigen Annahmen des Modells lassen sich wie folgt zusammenfassen (vgl. Bank & Gerke, 2005, 189 ff.): Marktteilnehmer streben einen Vermögenszuwachs an, bei dem Arbitragemöglichkeiten ausgenutzt werden. Sie verhalten sich dabei risikoavers. Darüber hinaus setzt auch die APT einen vollkommenen Markt voraus, indem alle Marktteilnehmer sich als Preisnehmer verhalten. Eine maßgebliche Einschränkung erfährt das Modell durch die Tatsache, dass die Arbitrage als Maßnahme zur Behebung systematisch auftretender Abweichungen in der Fundamentalbewertung von Wertpapieren durch bestimmte Faktoren begrenzt ist. Diese als „Grenzen der Arbitrage“ bezeichneten Faktoren werden im Unterkapitel 4.1.2 im Fokus der Betrachtung stehen. Die APT berücksichtigt multiple Risikofaktoren systematischer Art und gleicht sich damit mehr der realen Welt an. Dieses Mehrfaktorenmodell kann in folgender Form verdeutlicht werden: E(R i,t ) = i + i,1 * F 1,t + i,2 · F 2,t + + i,K * F K,t + i,t Im Gegensatz zum CAPM werden die Risikofaktoren beim APT nicht nur mittels einer Variablen wie dem Beta-Faktor erfasst, sondern sie werden als separate Risikofaktoren F j (j = 1, … K) gekennzeichnet. Diese Faktoren haben zwar einen mikro- und makroökonomischen Hintergrund, die Theorie gibt jedoch keine Auskunft über ihre konkrete Art und über die inhaltliche Interpretation (vgl. Jokisch & Mayer, 2002, S. 149). Lediglich die Begrenzung auf systematische, d.h. nicht diversifizierbare, Faktoren wird hervorgehoben. Diese Faktoren haben Einfluss auf die Renditen aller am Markt gehandelten Wertpapiere. Die unsystematischen Risiken werden im Mehrfaktormodell des APT durch das Residuum i,t ausgedrückt. Die Arbitrage Pricing Theory zeichnet sich gegenüber dem CAPM durch die Berücksichtigung multipler, systematischer Risikofaktoren aus. Informationen über die konkrete Art der Risikofaktoren werden allerdings nicht vermittelt. <?page no="61"?> 60 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Vor- und Nachteile der APT im Vergleich zum CAPM Vorteile des APT im Vergleich zum CAPM (vgl. Garz, Günther & Moriabadi, 2002, S. 77): Das APT zeichnet sich durch die Mehrdimensionalität der Risikofaktoren aus. Dies erlaubt eine flexiblere Modellierung sowie einen differenzierteren Einblick in die Risikostrukturen von Kapitalanlagen. Bessere ökonomische Interpretierbarkeit der Ergebnisse, sofern im Vorfeld der Bewertung die Risikofaktoren spezifiziert werden. In der Vergangenheit haben sich die folgenden Faktoren als geeignet erwiesen: Spanne zwischen lang- und kurzfristigem Zinssatz Erwartete Inflation Industrieproduktion Renditedifferenz zwischen Schuldverschreibungen mit einem hohem und einem niedrigen Rating (Credit Spread) Bessere empirische Testbarkeit der Ergebnisse (vgl. Bessler und Opfer, 2003). Im APT Modell spielt das Marktportfolio keine Rolle, dessen Nicht-Beobachtbarkeit in der Realität die empirische Überprüfung des CAPM erschwert. Das Modell liefert zudem insgesamt bessere empirische Testergebnisse aufgrund des höheren Erklärungsgehaltes und vermag es zudem, Renditeeffekte zu erklären, an denen der CAPM zuvor gescheitert war. Nachteile des APT im Vergleich zum CAPM (vgl. Rau, 2004, S. 58 f.): Unklarheit über die Art der Risikofaktoren. Es erfolgt keine genaue Festlegung, welche Risikofaktoren (Inflationserwartung, Industrieproduktion etc.) für die Bewertung herangezogen werden. Das bedeutet zwar einen hohen Grad an Flexibilität, jedoch birgt die Unspezifiziertheit die Gefahr von Scheinzusammenhängen. Die praktische Anwendung des APT kann durch einen erheblich höheren Schätzaufwand bei der Ermittlung der Risikofaktoren beeinträchtigt werden. Biographie von Stephen Ross Stephen A. Ross wurde 1943 in den USA geboren. Ross erhielt seinen Bachelor an der CalTech in Physik im Jahre 1965. Im Anschluss setzte er sein Promotionsstudium in Wirtschaft an der Harvard Business School fort, wo er 1970 seinen Doktor erhielt. Ross ist gegenwärtig Professor für Finanzökonomie an der MIT Sloan School of Management. Vor seinem Wechsel zum MIT war er Professor an der Yale University sowie der Wharton School an der University of Pennsylvania. Ross entwickelte neben der Arbitrage Pricing Theory auch mit die Grundlagen der Theory of Agency. Ross erhielt für seine Erkenntnisse zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Graham und Dodd Award sowie in 2015 den Deutsch Bank Prize für die Entwicklung von Modellen zur Bewertung der Preise von Optionen und anderen Wertpapierklassen in den vergangenen 30 Jahren. <?page no="62"?> 2.2 Bewertungsans tze als Basis finanzwirtschaftlicher Entscheidungen 61 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance BBeew weer rttuun nggssaannssäättzzee a alls s B Baassiis s ffiin naannzzwwiirrttsscchhaaffttlli ic chheer r EEnnttsscchheei i-dduun nggeen n Zielsetzung der Finanzmarktforschung ist es, neben Aussagen über die Vorteilhaftigkeit des Erwerbs oder der Veräußerung von Wertpapieren, die Beweggründe für das beobachtbare Verhalten der Markteilnehmer zu gewinnen. Die älteste Art der Finanzmarktforschung ist die theoretische Finanzmarktforschung basierend auf der fundamentalen Wertpapieranalyse sowie der empirischen Forschung. Die fundamentale Wertpapieranalyse ermöglicht, durch das Heranziehen von Unternehmenskennziffern (sog. Multiples wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV)), die wirtschaftliche Lage eines Unternehmens zu bestimmen. Sie sieht ihre Funktion in der Abwägung für oder gegen ein Engagement in einem bestimmten Wertpapier basierend auf der Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung des betroffenen Unternehmens. Mittels der empirischen Forschung entstanden im Laufe der Zeit zudem die bereits betrachteten Modelle und Theorien der neoklassischen Kapitalmarkttheorie. Sie wurden auf mehr oder weniger plausiblen Annahmen entwickelt und mathematisch abgebildet. Zudem basieren sie auf dem Grundgerüst des rational denkenden und handelnden Homo Oeconomicus. In den vorherigen Ausführungen über die beobachtbare Verhaltensweise der Marktteilnehmer ließ sich bereits ableiten, dass sie sich nicht immer konform zu den Annahmen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie verhalten. Diese Einschätzung gewinnt zunehmend an Bedeutung, wenn die Anzahl und Intensität historischer wie kürzlich erlebter Spekulationsblasen in der Finanzmarktgeschichte (vgl. Kap. 5) betrachtet werden. Diese lassen vermuten, dass die Marktteilnehmer nicht vollkommen rational handeln. Ein weiteres Beispiel dafür ist ihr Vertrauen in die zweitälteste Form der Finanzmarktforschung - die charttechnische Finanzmarktforschung. Sie basiert auf der Beobachtung der Kursverläufe, um aus deren Entwicklung Rückschlüsse auf steigende oder fallende Kurse zu ziehen. Die charttechnische Finanzmarktforschung sieht ihre Funktion in der bestmöglichen Bestimmung des Zeitpunktes zum Kauf und/ oder Verkauf einer Anlage - dem Timing. Diese Art der Risikoanalyse lässt sich auch mit den Mitteln der Psychologie erklären. In diesem Sinne entstand in den letzten 30 Jahren die dritte Forschungsrichtung, nämlich die verhaltenswissenschaftliche Finanzmarktforschung. Diese zumeist als Behavioral Finance bezeichnete Forschungsrichtung geht nicht mehr vom rational handelnden Homo Oeconomicus aus, sondern vielmehr von einem begrenzt rational handelnden Homo Oeconomicus Humanus (vgl. Weber, 2007, S. 11 ff.). Wie die Wissenschaft der Realität Rechnung tragenden Zügen der Marktteilnehmer auf die Schliche kam, wird dann im dritten Abschnitt im Zentrum der Betrachtung stehen. 22..2 2..1 1 FFuunnd daammeennt ta allee WWeerrttppaap piieerraannaallyys see Seit Beginn der Beschäftigung mit Finanzmärkten bedeutete die fundamentale Wertpapieranalyse nicht viel mehr, als lediglich den Grund steigender oder fallender Aktienkurse zu erklären. Das Wort „weil“ ist hier der Schlüssel zur Erkenntnis. Eine Aktie, Währung oder Anleihe steigt, „weil“ eine bestimmte wirtschaftliche oder geopolitische Entwicklung Einfluss auf die Kursentwicklung hat. Der Weizenpreis steigt, weil eine Jahrhunderthitze über Kansas den Anbau zerstört. Der USD sinkt, weil eine militärische <?page no="63"?> 62 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Auseinandersetzung im Nahen Osten bevorsteht. Kennt man den Grund, kennt man die mögliche Auswirkung auf die Finanzmärkte. Diese Sichtweise ist jedoch keineswegs so eindeutig, wie sie hier geschildert wird. In vielen Fällen sind die Hintergründe weder voll erfassbar noch richtig interpretierbar. Der Marktmechanismus, der zum einen die Nachrichten mit der Preisentwicklung und zum anderen den Grund einer Entwicklung mit der tatsächlichen Auswirkung verbindet, ist oftmals inkonsistent. Zudem haben des Öfteren nicht die Nachrichten Auswirkung auf die Kursentwicklung, sondern die Kursentwicklungen bestimmen die Nachrichten (vgl. Mandelbrot, 2004, S. 7 ff.). Die automatische Suche nach kausalen Verknüpfungen kann durch eine Erzählung in Nassim Talebs „Der Schwarze Schwan“ veranschaulicht werden: „Die Kurse von US-Anleihen seien an dem Tag gestiegen, an dem Saddam Hussein in seinem Versteck im Irak aufgespürt worden sei. Offenbar suchten die Marktteilnehmer an jenem Morgen des 13. Dezembers 2003 sicherere Anlagen, und Bloomberg News brachte die folgende Schlagzeile: „Kurse von US-Schatzwechseln steigen, Festnahme von Hussein wird den Terrorismus vermutlich nicht eindämmen“. Eine halbe Stunde später sanken die Anleihekurse wieder, und die korrigierte Schlagzeile lautete: „Kurse von US-Schatzwechseln sinken; Festnahme von Hussein steigert die Anzieungskraft risikobehafteter Anlagen.“ Offensichtlich war Husseins Festnahme das wichtigste Ereignis des Tages, und weil die automatische Suche nach Ursachen das Denken beeinflußt, war dieses Ereignis die bevorzugte Erklärung für alles, was an jenem Tag am Markt geschah. (vgl. Kahnemann, 2015, S. 100f.) Die fundamentale Wertpapieranalyse, auch als Fundamentalanalyse bezeichnet, beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der Erklärung der Kursentwicklung auf Basis der Nachrichtenlage. Sie hat zudem die Zielsetzung, Aktiengesellschaften anhand von Unternehmenskennziffern zu bewerten und daraus Chancen auf Kursgewinne abzuleiten. Die am meisten verwendeten Analyseformen sind hierbei das auf Aktien beschränkte Dividend-Discount-Modell (DDM) sowie die weit umfassendere Discounted-Cashflow-Analyse (DCF). Diese Analysen sind jedoch entsprechend der Effizienzmarkthypothese nur dann vorteilhaft und erfolgversprechend, wenn Informationen einfließen, die am Markt weitestgehend noch unbeachtet sind. Solche Informationen wären z.B. Produktneuheiten, die in Zukunft auf dem Markt kommen könnten und dementsprechend zusätzlichen Cashflow generieren würden (bspw. Medikamente von Biotechnologieunternehmen). Grundgedanke der Fundamentalanalyse Die Fundamentalanalyse geht davon aus, dass sich die Wertpapierkurse langfristig auf Basis der Unternehmenskennziffern entwickeln. Diese Kennzahlen verhelfen zur Prognose der möglichen Kursentwicklung der Aktiengesellschaften und ermöglichen folglich, den fairen Kurswert einer Aktie zu ermitteln (vgl. Kitzmann, 2009, S. 64). Nachfolgend werden die wichtigsten Kennziffern aufgeführt und kurz erläutert: <?page no="64"?> 2.2 Bewertungsansätze als Basis finanzwirtschaftlicher Entscheidungen 63 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Gewinn pro Aktie (Earnings per Share, EPS): Der Reingewinn einer Gesellschaft wird durch die gewichtete, durchschnittliche Aktienanzahl dividiert. Da der Gewinn während des ganzen Geschäftsjahres und nicht nur am Bilanzstichtag verdient wird, muss ein gewichteter Durchschnitt der ausstehenden Aktien zur Berechnung verwendet werden. Gewinn pro Aktie = Dividende pro Aktie (Dividends per Share, DPS): Die Berechnung erfolgt hier ähnlich wie bei dem Gewinn pro Aktie. Der zur Ausschüttung zur Verfügung stehende Betrag wird durch die Anzahl der Aktien dividiert. In diesem Fall wird aber kein gewichteter Durchschnitt der Aktien berechnet, sondern die Anzahl verwendet, die am Bilanzstichtag aussteht und damit dividendenberechtigt ist. Dividende pro Aktie = Buchwert pro Aktie (Book Value per Share): Zu dessen Berechnung wird das Eigenkapital des Unternehmens durch die Gesamtzahl der ausstehenden Aktien geteilt. Buchwert pro Aktie = Diese so ermittelten Kennzahlen können im Weiteren für die relative Bewertung von Unternehmen verwendet werden. Relativ, da eine Überbzw. Unterbewertung einer Aktie durch den Vergleich mit einem Benchmark identifiziert werden kann. Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV, Price-to-Book Value Ratio): Diese Kennzahl misst den Buchwert pro Aktie, d.h. den Anteil einer Aktie am Eigenkapital eines Unternehmens. Vergleicht man zwei Aktien mit ansonsten gleichen Faktoren miteinander, ist diejenige Aktie mit dem niedrigeren Kurs-Buchwert-Verhältnis attraktiver, da weniger für einen bestimmten Buchwert bezahlt werden muss. Kurs-Buchwert-Verhältnis = Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV, Price-to-Earnings Ratio, P/ E): Sie vergleicht den Marktwert des Unternehmens (gemessen am aktuellen Aktienkurs) mit dem prognostizierten Gewinn (EPS). Vergleicht man zwei Aktien mit ansonsten gleichen Faktoren miteinander, ist die Aktie mit dem niedrigeren Kurs-Gewinn-Verhältnis attraktiver, da weniger für einen bestimmten Gewinn bezahlt werden muss. Kurs-Gewinn-Verhältnis = Rein gewinn Ø Anzahl ausstehender Aktien Dividendenbetrag Anzahl ausstehender Aktien Eigenkapital Anzahl ausstehender Aktien Aktienkurs Buchwert pro Aktie Aktienkurs Prognostizierter Gewinn pro Aktie (EPS) <?page no="65"?> 64 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Der zentrale Begriff der Fundamentalanalyse ist der des „inneren Wertes“ („fairen Wertes“), den ein Homo Oeconomicus aufgrund der Verfügbarkeit sämtlicher bewertungsrelevanter Informationen der Aktie beimessen würde. Gelingt es, den inneren Wert einer Aktie durch die Analyse aller bewertungsrelevanten Faktoren (künftige Dividenden, ihre mutmaßliche Wachstumsrate sowie risikoangepasster Diskontierungssätze) einzuschätzen, so kann aus der Gegenüberstellung mit dem Börsenkurs eine unmittelbare Handlungsempfehlung generiert werden: Liegt der innere Wert einer Aktie über dem Börsenkurs, so gilt sie als unterbewertet und sollte gekauft werden. Liegt der innere Wert jedoch unter dem Börsenkurs, so gilt sie als überbewertet, und die Aktie sollte verkauft werden. Die Fundamentalanalyse wird folglich der normativen Entscheidungstheorie der neoklassischen Sichtweise in dem Sinne gerecht, dass aus dem Analyseergebnis eine unmittelbare Handlungsempfehlung folgt. (vgl. Beispiel 2.1). Hierbei arbeiten Researchanalysten mit einer ganzen Bandbreite an Multiples (EPS, KGV, KBV etc.) um den „fairen Wert“ einer Aktie zu ermitteln und eine Handlungsempfehlung zu generieren. Das nachfolgende Beispiel 2.1 in Abbildung 11 zeigt ein Street Takeaway von FactSet StreetAccount Market Intelligence, in dem ex-Investment Professionals im Zuge der Berichterstattung von Unternehmen einen kurzen Überblick (Overview) über das Unternehmensereignis geben sowie ausgewählte Analystenkommentare zur Darstellung der „Marktmeinung“ aufführen. Die Zielsetzung dieser Street Takeaways ist es das Grundrauschen oder „Noise“ aus den Nachrichten herauszufiltern und durch leicht lesbare bullet-points die Informationsüberflutung einzugrenzen. Portfolio Manager und Analysten können sich in kürzester Zeit über die Handlungsempfehlungen von Researchanalysten über die von ihnen verfolgten Wertpapiere informieren. Annahmen der Fundamentalanalyse Aktienkurse und ihre inneren Werte stimmen regelmäßig nicht überein. Aktienkurse tendieren immer wieder zu ihrem inneren Wert und gleichen somit eine Über- oder Unterbewertung aus. Es sollte möglich sein, die inneren Werte mit hinreichender Genauigkeit abzuschätzen, sonst wäre die Fundamentalanalyse überflüssig. Die exakte Bestimmung des inneren Wertes gestaltet sich allerdings in dem Sinne als schwierig, da es kein objektives Wissen über die wertbestimmenden Faktoren sowie deren Kriterien gibt, die uns sagen, wie diese Faktoren im Einzelfall bewertet und gewichtet werden sollen (vgl. Schredelseker, 2002, S. 300 ff.). Um jedoch gehaltvolle Aussagen über den „fairen“ Wert einer Aktie oder eines Unternehmens treffen zu können, benötigt man Bewertungsmodelle, die zukünftige Erträge abdiskontieren. Der Wert einer Aktie aus der Sicht des Investors kann im Folgenden als die Summe der Barwerte aller zukünftig erwarteten Dividenden, die ihm zufließen, interpretiert werden. Dieser auf dem Dividend-Discount-Modell (DDM) basierendem Bewertungsansatz spiegelt jedoch nur einen Teil eines weiter gefassten Ansatzes der Anlagebewertung wider. Aus diesem Grund ist auch die Cashflow-Diskontierung als Möglichkeit zur Bewertung des Gesamtunternehmens im Rahmen einer Discounted-Cashflow-Analyse (DCF-Analy- <?page no="66"?> 2.2 Bewertungsansätze als Basis finanzwirtschaftlicher Entscheidungen 65 Beispiel 2.1: Analystenempfehlungen nach Quartalsergebnis von Amazon im Oktober 2016 Abb. 11: Street Takeaway von FactSet StreetAccount Market Intelligence www.streetaccount.com www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance <?page no="67"?> 66 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance se) in Betracht zu ziehen. Im Rahmen einer DCF-Analyse wird die Analyse auf sämtliche Kapitalgeber, also auch der Fremdkapitalgeber ausgeweitet. Die DCF-Analyse ermöglicht dadurch, Unternehmen als Ganzes zu bewerten, auch wenn sie keine Dividenden zahlen und folglich nicht durch das DDM bewertet werden können. Nachfolgend werden beide Bewertungsverfahren im Ansatz dargestellt, um den Bezug zur Anwendung des CAPM zu verdeutlichen. Sowohl das DDM als auch der DCF werden von zwei Parametern bestimmt. Zum einen von den Cashflows, die für die Bestimmung des Unternehmenswertes notwendig sind, und zum anderen durch den Abdiskontierungsfaktor (u.a. CAPM), mit dessen Hilfe die Cashflows bzw. die Dividenden (DDM) abdiskontiert werden. Für die Herleitung der DDM-Formel gehen wir von einer Halteperiode der gewählten Aktie von einem Jahr aus. Da heute weder der zukünftige Preis der Aktie noch die Dividende am Ende des Jahres bekannt ist, wird die Rendite als Erwartungswert E(R) beschrieben: Die Formel verdeutlicht, dass die Rendite einer Aktie aus zwei Quellen stammt. Zum einen aus der Dividendenrendite E(d 1 )/ P 0 und zum anderen aus der Kapitalgewinnrendite E(P 1 )-P 0 / P 0 . Um nun zum „inneren“ Wert, dem „fairen“ Wert einer Aktie zu gelangen, wird die obige Formel nach P 0 aufgelöst: Der heutige Preis einer Aktie P 0 ist folglich die Summe aus dem Barwert der Dividende und des Aktienpreises am Ende des Jahres P 1 . Beide Erträge werden mit dem für den Marktteilnehmer relevanten Diskontierungsfaktor diskontiert. Dieser ergibt sich aus den Eigenkapitalkosten, welche die erwartete bzw. die geforderte Rendite im Sinne des CAPM oder APT (vgl. Kap. 2.1.2/ 2.1.3) abbilden. Im Falle der DCF-Analyse wird nun die Analyse auf sämtliche Kapitalgeber ausgeweitet, mit der Folge, dass nun die Unternehmens-Cashflows mit den Gesamtkapitalkosten abdiskontiert werden. Der Diskontierungsfaktor wird durch die Berechnung der gewichteten Gesamtkapitalkosten WACC ermittelt (Weighted Average Cost of Capital). Die Bestimmung des gewichteten Gesamtkapitalkostensatzes erfolgt auf Basis der Bewertung der Kosten des Fremdkapitals (FK) und des Eigenkapitals (EK) gemäß ihren Anteilen an der Bilanz nach Marktwerten. Während Gewinne der Unternehmenssteuer unterliegen und diese berechnet wird, bevor die entsprechende Zahlung an die Aktionäre E(R) = E(d 1 ) E(P 1 ) - P 0 P 0 P 0 + Erwartete Dividendenrendite Erwartete Kapitalgewinnrendite E(R) = E(d 1 ) + E(P 1 ) - P 0 P 0 = E(d 1 ) + E(P 1 ) P 0 -1 E(d 1 ) + E(P 1 ) 1+E(R ) bzw. P 0 = <?page no="68"?> 2.2 Bewertungsansätze als Basis finanzwirtschaftlicher Entscheidungen 67 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance ausgeschüttet wird, können Fremdkapitalkosten noch vor der Steuerberechnung abgezogen werden. Folglich reduzieren sich die Fremdkapitalkosten, da entsprechend des Unternehmenssteuersatzes ein bestimmter Betrag an Steuern eingespart wird. Wird dieser Steuervorteil berücksichtigt und der Unternehmenssteuersatz als t c bezeichnet, dann ergibt sich für die WACC: Dabei entspricht E(R FK ) der erwarteten Verzinsung des Fremdkapitals FK, d.h. den durchschnittlichen Kosten des Fremdkapitals. E(R EK ) entspricht hingegen den bereits für die Dividendendiskontierung verwendeten Eigenkapitalkosten (CAPM). FK und EK stellen jeweils den Marktwert des Fremdkapitals bzw. des Eigenkapitals dar. Der Unternehmenswert wird auf Basis der kurzfristigen (z.B. fünf Jahre) wie auch langfristigen Cashflows (g ewige Rente als konstanter Steigerungswert der künftigen Cashflows nach der kurzfristigen Berechnungsperiode) des Unternehmens bestimmt. Die Cashflows werden durch den Free Cash Flow to the Firm (FCFF) ermittelt und mit den WACC auf den heutigen Tag abdiskontiert. Der FCFF errechnet sich auf Basis des E- BITDA (Earnings Before Interest, Taxes, Depreciation and Amortization). Nach Abzug der Abschreibungen und Steuern erhält man den operativen Cashflow. Bereinigt um die Investitionen in das Umlaufvermögen und das Anlagevermögen erhält man schließlich den freien Cashflow des Unternehmens (FCFF). Zieht man vom ermittelten Unternehmenswert den Marktwert des Fremdkapitals ab und dividiert das resultierende Eigenkapital durch die Anzahl der Aktien, so erhält man den Wert einer Aktie abdiskontiert auf den heutigen Tag. Zentraler Ansatzpunkt der Fundamentalanalyse ist die Bestimmung des „inneren Wertes“ einer Aktie. Dies kann u.a. auch als die Summe der Barwerte aller zukünftig erwarteten Dividenden interpretiert werden oder im Rahmen der DCF-Analyse durch die Diskontierung der gesamten Unternehmens-Cashflows und nachfolgendem Abzug der Fremdkapitalkosten ermittelt werden. 22..2 2..2 2 CChhaarrttt te ecchhnni issc chhee AAnna al lyyssee Die charttechnische Finanzmarktforschung oder auch charttechnische Wertpapieranalyse ist das Studium von Marktbewegungen, um zukünftige Kurstrends vorherzusagen. Die Informationsquellen zur Deutung der Marktbewegungen werden aus den Wertpapierkursen und aus den Umsätzen mit dem jeweiligen Wertpapier bezogen. Diese Art der Wertpapieranalyse beinhaltet eine Vielzahl von Regeln und Strategien, mit denen der Marktteilnehmer den historischen Verlauf von Wertpapieren sowie Indizes WACC = FK FK + EK EK FK + EK P 0 = P kurz + P lang = T t=1 FCFF t (1 +WACC) t + 1 (1 +WACC) T * FCFF t * (1+g) (WACC g) * E(R FK ) * (1-tc) + * E(R EK ) <?page no="69"?> 68 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance beobachtet, um daraus Schlüsse über deren zukünftige Entwicklung zu ziehen. Die Anhänger dieser Analyseform, auch Chartisten genannt, interessieren sich vordergründig nicht für das Unternehmen selbst, sondern allein für die vergangene Kursentwicklung. Folglich spielt bei dieser Analyseform die Fundamentalanalyse keine Rolle, da sie dem Chartisten den Blick auf das Marktgeschehen nehmen würde. Die Anwendung der „Chart-Analyse“ findet innerhalb der professionellen Anleger weit weniger Beachtung als die Fundamentalanalyse. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 90 Prozent der professionellen Anleger sich im Rahmen der Wertpapieranalyse mit der Fundamentalanalyse beschäftigen. Die Chart-Analyse genießt eher bei Privatanlegern erhöhte Bedeutung, da dieser Marktteilnehmergruppe die zeit- und kostenintensiven Fundamentalanalysen weitestgehend verschlossen sind. Den Chartisten erreichen die Unternehmensinformationen sozusagen als Letzten in der Kette der Marktteilnehmer. Sie glauben jedoch, sich der Signale bedienen zu können, welche die besser Informierten durch ihre Aktionen im Markt hinterlassen. Während im Bereich der Fundamentalanalyse gefragt wird, „ob“ ein Investment eingegangen werden soll, steht bei der Chart-Analyse die Frage nach dem „wann“ das Investment getätigt werden soll im Vordergrund. Außerdem besteht ein zusätzlicher Unterschied bei den Analyseformen in der Fristigkeit. Die Fundamentalanalyse ist eher an den langfristig orientierten Anleger adressiert, während die Chart-Analyse für den Kurzfristanleger von Bedeutung ist. Die zentrale Annahme der technischen Wertpapieranalyse besteht darin, dass die Aktienkurse in typischen Diagramm-Mustern so genannten „Trends“ verlaufen (vgl. Beispiel 2.2). Diese Kernannahme basiert auch auf durch die Behavioral Finance analysierten Verhaltensformen von Anlegern, welche z.B. als Herdenverhalten gekennzeichnet sind. So ist oftmals zu beobachten, dass steigende Kurse weiter steigende Kurse hervorrufen, da Anleger in der Hoffnung steigender Kurse mit auf den „fahrenden Zug“ aufspringen. „Die Hausse nährt die Hausse“ ist hierbei ein oft verwendetes Sprichwort. Dieser selbstverstärkende Mechanismus ist sowohl bei steigenden als auch bei fallenden Kursen zu beobachten. Die Behavioral Finance untersucht im Kontext des Herdentriebs die Auslöser, die zur Bildung von Spekulationsblasen führen. Die Thematik der Spekulationsblasen ist zentraler Gegenstand des zweiten Abschnitts dieses Buches. Beispiel 2.2: Diagramm-Muster Eines der populärsten Kursdiagramm-Muster ist die „Schulter-Kopf-Schulter“-Formation. Es handelt sich um ein Umkehrungsmuster, das anzeigt, dass der Kurs sich wahrscheinlich bald gegen seinen momentanen Trend entwickeln wird. Es tritt in zwei Formen auf: <?page no="70"?> 2.2 Bewertungsansätze als Basis finanzwirtschaftlicher Entscheidungen 69 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die linke Darstellung signalisiert fallende Kurse, nachdem der Kurs nicht in der Lage war, den absoluten Hochpunkt (Kopf) zu überwinden. Sobald die Unterstützungslinie (Halsausschnitt) unterschritten wird, geht man von fallenden Kursen aus. Die rechte Darstellung signalisiert dagegen steigende Kurse. Dies ist der Fall, wenn die Kursentwicklung nach mehrmaligen Tiefs die Widerstandslinie (Halsausschnitt) überwindet. Technische Analysten verwenden diese Muster zur Analyse von Hoch- und Tiefpunkten und handeln dann dementsprechend. Überblick Charttypen Chartisten nutzen in der Wertpapieranalyse überwiegend graphisch aufbereitete Kursinformationen. In Abhängigkeit des gewählten Zeithorizonts werden Kurzfristcharts (Intraday Charts), Mittelfristcharts von bis zu sechs Monaten oder Langfristcharts von bis zu zehn Jahren verwendet. Auf der horizontalen Achse befindet sich der Zeitverlauf, auf der vertikalen dagegen sind die Kurse abgetragen. Nach ihrer formalen Darstellung unterscheidet man drei Grundtypen von Charts (vgl. Murphy, 2001, S. 51 ff.). Diese werden in den nachfolgenden Darstellungen erläutert: Balkencharts, als die meistverwendete Abbildungsform in der technischen Analyse. Diese Chartform (vgl. Abb. 12) verdeutlicht die Schwankungsbreite eines jeweiligen Tages durch einen senkrechten Balken. Aus dieser Chartdarstellung lässt sich der Eröffnungskurs, der Tageshöchstsowie der Tagestiefstkurs ablesen. Der Schlusskurs wird dabei durch einen kleinen waagerechten Strich rechts des Balkens gekennzeichnet. Der Eröffnungskurs wird hingegen durch einen Strich auf der linken Seite des Balkens gekennzeichnet. Diese Art von Charts vermittelt einen Eindruck vom Ausmaß der Kursschwankungen in der gewählten Periode sowie von der generellen Kursdynamik. <?page no="71"?> 70 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 12: Balkenchart der Aktie von Siemens (6 Monate, 2016); FactSet Die japanische Form der Balkencharts sind die Kerzencharts. Diese sind in den letzten zehn Jahren in Europa sehr populär geworden. Der einzige Unterschied zu den Balken- Balken besteht in der grafischen Darstellung. Beim Kerzenchart zeigt eine dünne Linie (Schatten) die tägliche Schwankungsbreite vom Höchstzum Tiefstkurs. Ein breiter Teil des Balkens (Körper) misst den Abstand zwischen Eröffnungs- und Schlusskurs. Ist der Schlusskurs höher als der Eröffnungskurs, so ist der Körper weiß, im umgekehrten Fall dagegen schwarz. Diese Darstellungsart hebt die Beziehung zwischen Eröffnungs- und Schlusskurs am besten hervor. Abb. 13: Kerzenchart der Aktie von Siemens (6 Monate, 2016); FactSet <?page no="72"?> 2.2 Bewertungsansätze als Basis finanzwirtschaftlicher Entscheidungen 71 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Liniencharts, bei denen nur der jeweilige Schlusskurs eines Tages eingezeichnet und mit den vergangenen Schlusskursen verbunden wird. Diese Chartform wird häufig bei Tagescharts (mit nur einem Kurs pro Tag) und bei Langfristcharts verwendet. Viele Chartisten glauben, dass diese Darstellungsform am besten für die Chartanalyse geeignet ist, da der Schlusskurs der wichtigste Kurs eines Handelstages ist. Abb. 14: Linienchart des Dax 30 (Performanceindex) mit rezessiver Periode (grau); FactSet Kritik an der technischen Wertpapieranalyse Es gibt zahlreiche Gründe (vgl. Schredelseker, 2002, S. 394), weshalb die Chart-Analyse wenig Anerkennung im Rahmen der Wertpapieranalyse findet: Man bemängelt, dass dieser Analyseform keine wissenschaftliche Theorie zugrunde liegt, sondern sie sich eher auf eine Reihe von Ad-hoc-Erklärungen stützt. Die technische Analyse wäre, sofern sie von einer Mehrzahl an Investoren genutzt wird, selbsterfüllend. Behavioral Finance untersucht den Herdentrieb als Ursache für die Bewegung von Massen, die dazu führt, dass die Anleger in ihrer Entscheidung beeinflusst werden. Würden beispielsweise Investoren eine Aktie kaufen, da sie kurz vor einer Widerstandslinie steht und bei Durchbruch weitere Zugewinne zu erwarten wären, dann würde die Aktie dadurch in der Folge höhere Notierungen erreichen. Handelsregeln auf Basis der technischen Analyse sind teils sehr vage formuliert, wodurch die Anwendbarkeit in Frage gestellt werden muss. Insbesondere wird nur ex-post klar, wann ein Trend tatsächlich zu einem geworden ist oder wann eine Kursformation die vorhergesagte Entwicklung angenommen hat. Es fehlen klare Vorhersagen, wie lange ein Trend nach Generierung entsprechender Kurssignale auch tatsächlich andauern wird. <?page no="73"?> 72 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die zentrale Annahme der technischen Wertpapieranalyse besteht darin, dass die Aktienkurse in Trends verlaufen. Diese Annahme basiert auf dem Verhalten von Anlegern, welches aus der Sicht der Chartisten oft durch den Herdentrieb gekennzeichnet ist. A Allttee vvss.. nneeuuee RReea al liittäät t -- ddeerr SScch hwwaarrzzee SScchhwwaan n Zoologisch ein Kuriosum, aus der Perspektive der Risikosteuerung jedoch eine Katastrophe - Schwarze Schwäne. Sie sind eine Metapher, die nach Nassim Taleb durch drei grundlegende Attribute charakterisiert wird: [1] Sie liegen außerhalb der regulären Erwartungen, da nichts auf ihre Existenz in der Vergangenheit hinwies. [2] Sie haben enorme Auswirkungen auf die Zukunft, und sie sind rückblickend vorhersagbar. [3] Letzteres beruht auf Erklärungen, die im Nachhinein konstruiert werden. Schwarze Schwäne verändern traditionelle Investmentparadigmen und etablieren neue Denkansätze: Das „Long-only“-Prinzip bei der Kapitalanlage scheint nicht die einzige Ultima Ratio mehr zu sein. Gemessen am amerikanischen S&P 500 Index erlitten die Marktteilnehmer im Zeitraum 1999 bis März 2009 Verluste von 7 Prozent p.a. (vgl. Abb. 15). Diese außergewöhnlich negative Performance ist die niedrigste Zehn-Jahres-Performance des zurückgerechneten S&P 500 seit knapp 200 Jahren. Außergewöhnliche Kursentwicklungen am Beispiel des S&P 500 Abb. 15: Performance S&P 500 seit 1814; Allianz Global Investors Kapitalmarktanalyse 2010 <?page no="74"?> 2.3 Alte vs. neue Realität - der Schwarze Schwan 73 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Traditionelle Risikomodelle können Risiken nicht adäquat abbilden Klassische finanzmathematische Risikomodelle und Bewertungstools wie die Portfoliotheorie nach Markowitz helfen den Marktteilnehmern zwar, Zusammenhänge besser verstehen zu können, die realen Risiken bilden sie allerdings nicht adäquat ab. Extremrisiken, wie diese im Zuge der Finanzkrise offensichtlich wurden, werden aufgrund der Annahmen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie systematisch unterschätzt. Diversifikation hat im Zuge der Finanzkrise Schwächen gezeigt Eine Analyse von Allianz Global Investors (2010) mit Daten von risklab zeigte auf, dass die Diversifikation in Krisenzeiten, wenn niedrige oder negative Korrelationen benötigt werden, nicht die erwartete Risikominderung mit sich bringt. Der erwünschte Diversifikationseffekt lässt in Krisenzeiten nach, da sich Korrelationen unerwartet ändern. Nicht erst mit Blick auf die Aktienkursentwicklungen z.B. 2007-2009 ist ersichtlich, dass die Random Walk Theory auf Basis der Normalverteilung erheblichen Zweifeln unterliegt. Wiederkehrende Finanzmarktkrisen stehen für den eingangs beschriebenen Schwarzen Schwan. Er tritt häufiger auf, als die Normalverteilung nach Gauß dies vermuten lassen würde. So kann die Annahme traditioneller Risikomodelle, dass Kursveränderungen normalverteilt sind, dem Praxistest nicht standhalten. In der Realität weisen die Renditeschwankungen bei Wertpapieren nicht das Muster einer Glockenkurve auf, sondern schwanken ungleichmäßig. Folglich wird durch die Normalverteilung nach Gauß das sog. Fat Tail Risk (extreme Kurswertrisiken außerhalb drei Standardabweichungen) weitestgehend nicht berücksichtigt. Die Vernachlässigung von extremen Kurswertrisiken erweist sich, wie dies aus der Vergangenheit ersichtlich ist, als besonders schädlich für die Portfolioperformance. Bei der Klassifizierung vergangener Kursstürze ist allerdings nicht nur auf die Kursveränderung zu achten, sondern es ist auch die sich drastisch erhöhende Volatilität einzubeziehen. Die Volatilität kennzeichnet hierbei die Schwankungsbreite von Kursbewegungen. So misst der VDAX, als Volatilitätsindex für den Deutschen Aktienindex, die Schwankungsbreite der Kursveränderungen im DAX gelisteter Unternehmen. Eine hohe Volatilität tritt in der Regel für kurze Zeit auf und flacht ebenso schnell wieder ab. Die Volatilität in einem Aktienindex drückt die Nervosität der Marktteilnehmer aus. Sind diese aufgrund erhöhter Unsicherheit über die zu erwartenden Marktbewegungen nervös, so verkaufen sie ihre Wertpapiere, sobald neue Informationen den Wertpapiermarkt erreichen. Erhöhte Volatilität ist insofern auch ein Zeichen für das Herdenverhalten (vgl. Unterkapitel 4.1.1) der Marktteilnehmer, die aufgrund eines bestimmten Ereignisses versuchen, ihre Handlungen an die Masse der Marktteilnehmer anzugleichen, um auf diese Weise kognitive Dissonanzen (vgl. Kapitel 6.1.3) abzubauen oder zu vermeiden. Die Volatilität sinkt erst wieder, wenn die Marktteilnehmer sich an die neue Informationslage gewöhnt haben. Ab diesem Zeitpunkt sind die Kursschwankungen weniger stark und die Marktteilnehmer beginnen, die neuen Informationen sorgfältig abwägend in den Wertpapierkursen einzupreisen. Als klassische Beispiele für Schwarze Schwäne gelten der Beginn der großen Depression 1929, der Black Monday 1987 sowie der 11. September 2001. <?page no="75"?> 74 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Entwicklung eines Schwarzen Schwans kann auch an der Russlandkrise im August 1998 studiert werden: Während der 1990er Jahre schien der herrschende „Bullenmarkt“ mit steigenden Wertpapierkursen an seine Grenzen zu stoßen. Es gab vereinzelte Sorgen, die sich mit der Rezession in Japan, einer möglichen Abwertung des chinesischen Yuan oder der Amtsenthebung des 42. US-amerikanischen Präsidenten Bill Clinton beschäftigten. Wirklich bedeutende Probleme gab es jedoch nicht. Plötzlich tauchten aus Russland besorgniserregende Nachrichten auf. Eine Region, die noch zwei Jahre zuvor als aufstrebender Markt galt, steckte nun in einem Liquiditätsproblem. Westliche Banken liefen Gefahr, schwere Verluste zu erleiden, und, wie im Nachhinein bekannt wurde, waren einige Markteilnehmer bereits dem Ruin nahe. Am 4. August 1998 reagierte der Dow Jones auf die Nachrichten aus Russland mit einem Tagesverlust von 3,5 Prozent. Drei Wochen später, als die Nachrichten aus Moskau schlimmer wurden, fiel der Dow-Jones-Index um weitere 4,4 Prozent, um schließlich am 31. August 1998 zusätzlich 6,8 Prozent abzugeben. Andere Märkte, wie die der Anleihen, wurden ebenfalls hart getroffen. Manche Bankenanleihen verloren ein Drittel ihres Wertes. Für viele Marktteilnehmernur schwer nachvollziehbar. Es herrschte eine scheinbar irrationale und unvorhergesehene Panik. Wie wir heute wissen, wurde die Russlandkrise schnell vom Internationalen Währungsfond IWF aufgefangen. Die Wall Street beruhigte sich nach Stützungsaktionen der amerikanischen Notenbank FED 6 , worauf der Bullenmarkt bis in das Frühjahr 2001 andauerte. Nach der neoklassischen Kapitalmarkttheorie hätte es dieses Ereignis, wie auch aktuelle Ereignisse rund um die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008, so gut wie nie geben dürfen. Die neoklassischen Finanzmarkttheorien, die fester Bestandteil des Lehrplans an heutigen Business Schools sind, betrachten die Wahrscheinlichkeit eines derartigen Ereignisses wie das am 31. August 1998 basierend auf der Normalverteilung mit 1 zu 20 Millionen. Ein Ereignis, welches selbst dann gerade einmal zu erwarten wäre, wenn man im Zeitabschnitt von 100.000 Jahren jeden Tag auf dem Kapitalmarkt handeln würde. Dies verwundert nicht, denn diese wissenschaftlichen Ansätze basieren, wie oben erwähnt, auf der Glockenkurve, in der extreme Kursschwankungen äußerst selten vorkommen. In der Realität allerdings lassen sich diese Marktreaktionen öfter beobachten, als man erwarten würde. Ein Jahr vor der Russlandkrise, in der Asienkrise 1997, fiel der Dow an einem Tag um 7,7 Prozent - Wahrscheinlichkeitsszenario: 1 zu 500 Milliarden. Im Juli 2002 verzeichnete der Dow gleich drei starke Verlusttage innerhalb von sieben Handelstagen - Wahrscheinlichkeitsszenario: 1 zu 4 Billionen. Die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses wie das am 19. Oktober 1987, als der Dow um 29,2 Prozent fiel, ist dermaßen gering, dass dies in den Berechnungen keine Relevanz aufweist: 1 zu 10 50 . Diese Ereignisse verdeutlichen: Die Kapitalmärkte sind riskant, und sie werden durch die Gaußsche Normalverteilung nicht vollumfänglich erfasst. Betrachtet man die tägliche Kursentwicklung des Dow Jones zwischen 1916 und 2003, so fällt auf, dass die Kursentwicklungen an den beiden Enden der Normalverteilung unerwartet hoch ausfallen. Die Theorie besagt, dass es in dieser Zeit 58 Tage mit Kursveränderungen von mehr als 3,4 Prozent geben sollte. In Wirklichkeit ergaben sich derartige Veränderungen im betrachteten Zeitabschnitt jedoch 1.001-mal. Kursänderungen von über 4,5 Prozent 6 FED - Federal Reserve Bank (system) <?page no="76"?> 2.3 Alte vs. neue Realität - der Schwarze Schwan 75 sollten an sechs Tagen vorkommen, in Wirklichkeit waren es 366 Tage. Kursveränderungen von über 7 Prozent sollten einmal in 300 000 Jahren erfolgen, in Wirklichkeit gab es jedoch 48 solcher Tage zwischen 1916 und 2003 (vgl. Mandelbrot & Hudson, 2004, S. 3 ff.). Alleine im Herbst/ Winter 2008 gab es fünf Tage, an denen der Dow Jones sich um + / - 7 Prozent bewegte. Die statistisch schwere Fassbarkeit der Kapitalmärkte ist im Weiteren an der Anzahl der Tage ersichtlich, die für die Hälfte aller Profite an den Finanzmärkten verantwortlich waren: 10 Tage in 50 Jahren (vgl. Taleb, 2008, S. 331). Ökonomen versuchen seit einem Jahrhundert, das Risiko zu analysieren, zu bewerten, zu erklären und schlussendlich davon zu profitieren. Im Rahmen dieser Versuche sind die realen Wahrscheinlichkeiten extremer Kursveränderungen jedoch bisher so gut wie nie ausreichend in Betracht gezogen worden. Schwarze Schwäne ereignen sich unvorhersehbar, haben eine enorme Auswirkung auf die Zukunft und erscheinen rückblickend als vorhersagbar. <?page no="77"?> 76 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Z Zuussaammmmeennffaassssuunngg Die Portfolio Selection Theory basiert auf einem Zwei-Parameter-Ansatz, bei dem die erwartete Rendite einer Anlage auf Basis des Erwartungswertes und der Varianz beschrieben wird. Unter Berücksichtigung der Korrelation zwischen mehreren Aktien werden der Erwartungswert und die Varianz eines Portfolios ermittelt. Das Capital-Asset-Pricing-Modell übersetzt die von der Portfoliotheorie festgelegten Anlageverhältnisse für ein effizientes Portfolio in eine klare Vorhersage über die Beziehung zwischen Risiko und Ertrag. Die zu erwartende Rendite gliedert sich in eine risikolose Verzinsung und in eine Risikoprämie, die das systematische, nicht-diversifizierbare Risiko entschädigt. Die vom Marktteilnehmer übernommenen Risiken des Kapitalmarktes werden durch den Beta-Faktor der Anlage ausgedrückt. Die Arbitrage Pricing Theory gilt als zentrales, alternatives Bewertungsmodell zum CAPM. Die APT berücksichtigt im Gegensatz zum CAPM multiple Risikofaktoren systematischer Art und gleicht sich damit eher der realen Welt an. Die Risikofaktoren haben zwar einen mikro- und makroökonomischen Hintergrund, über ihre konkrete Art und inhaltliche Interpretation vermittelt die Theorie keine Informationen. Die Stoßrichtungen der Finanzmarktforschung umfassen in der Reihenfolge ihres Entstehens die theoretische, die charttechnische und die verhaltenswissenschaftliche Finanzmarktforschung. Die theoretische Finanzmarktforschung setzt sich aus der fundamentalen Wertpapieranalyse sowie der empirischen Forschung zusammen. Sie dienen der Ermittlung von Unternehmenskennziffern zur Ermittlung des „fairen“ Wertes eines Wertpapiers oder Unternehmens. Zentraler Ansatzpunkt der Fundamentalanalyse ist die Bestimmung des „inneren Wertes“ einer Aktie. Dies kann u.a. auch als die Summe der Barwerte aller zukünftig erwarteten Dividenden interpretiert werden oder im Rahmen der DCF- Analyse durch die Diskontierung der gesamten Unternehmens-Cashflows und nachfolgendem Abzug der Fremdkapitalkosten ermittelt werden. Die charttechnische Finanzmarktforschung basiert auf der Beobachtung der Kursverläufe, um aus deren Entwicklung Rückschlüsse auf steigende oder fallende Kurse zu ziehen. Zur Bestimmung möglicher Ein- oder Ausstiegszeitpunkte werden je nach Bedarf Balkencharts, Liniencharts oder Kerzencharts verwendet. Gegenüber der fundamentalen Analyse, in der die Frage beantwortet werden soll, „ob“ ein Investment lukrativ ist, stellt sich bei der technischen Analyse die Frage, „wann“ das Investment getätigt werden soll. Plötzliche und unerwartete Kurseinbrüche kennzeichnen das Auftreten von Schwarzen Schwänen. Diese Erscheinung ist ein Indiz dafür, dass die Kapitalmärkte nicht vollumfänglich durch die Gaußsche Normalverteilung erfasst werden können. Vielmehr wird deutlich, dass Kursveränderungen viel öfter an den äußeren Enden der Normalverteilung auftreten, als dies von der Theorie postuliert wird (Fat Tail Risk). <?page no="78"?> Schlussbetrachtung Abschnitt I 77 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance SSc chhl luussssbbeettrra acchht tuunngg AAbbsscchhnniitttt II Im ersten Abschnitt stand die Verhaltensweise des Marktteilnehmers nach dem Konzept des in der neoklassischen Theorie beheimateten Homo Oeconomicus im Fokus der Betrachtung. Die einzelnen Konzepte und Modelle, die in diesem Abschnitt erörtert wurden, sind Beispiele für die Art und Weise, wie sich ein Marktteilnehmer entsprechend der theoretischen Modellannahmen verhalten sollte. Es stellt sich die Frage, wie diese Modelle, die dem Anschein nach nicht in der Lage sind, realitätsnahe Prognosen abzugeben, überhaupt zu solcher Bedeutung gelangen konnten. Eine Antwort könnte die Schwedische Reichsbank liefern, die zu Ehren von Alfred Nobel den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften stiftet. Der Preis ging in der Vergangenheit, neben empirischen Psychologen wie Daniel Kahneman oder dem Volkswirtschaftler Friedrich August von Hayek, auch an US-Ökonomen wie Harry Markowitz und William Sharpe, die auf Basis der Normalverteilung Modelle entwickelt haben, die heute als die Moderne Portfoliotheorie bezeichnet werden. 1997 erhielten zudem Myron Scholes und Robert C. Merton für ein Optionsbewertungsmodell die höchste akademische Ehrung. So ist zumindest denkbar, dass die Bedeutungszunahme wissenschaftlicher Modelle auf Basis der Gaußschen Normalverteilung in beachtlichem Umfang der Nobelpreisverleihung zu verdanken ist. 2013 wurden weitere Wissenschaftler ausgezeichnet, die sich um die Analyse von Vermögenspreisen verdient gemacht haben. So hat Eugene Fama für seine Erkenntnisse rund um die Effizienzhypothese den Nobelpreis erhalten. 7 Die Normalverteilung zieht sich durch die Wirtschaftswissenschaften wie ein roter Faden und brennt die Begriffe wie Sigma, Varianz, Standardabweichung und Korrelation in die Gedächtnisse von Wirtschaftsstudenten und Finanzfachleuten. Doch inwieweit finden diese Modelle im Handeln des auf den Kapitalmärkten beobachtbaren Homo Oeconomicus Humanus tatsächlich ihre Anwendung? Die neoklassischen Modelle werden trotz der umfassenden Dokumentation ihrer rein theoretischen Annahmen als praxisrelevant gelehrt und umgesetzt. Sie wurden zwar nach dem Crash am 19. Oktober 1987 immer wieder angepasst, um den Vorwurf der Realitätsferne abzubauen. Die gegenwärtige Anwendung der Modelle ist jedoch auch dem Umstand geschuldet, dass es keine relevanten Alternativen gibt, mit deren Hilfe Finanzmarktteilnehmer ihre erwartete Rendite und die korrespondierenden Risiken quantifizieren könnten. Es wird in diesem Zusammenhang argumentiert, dass die Modelle bei „normalen“ Handelsbewegungen gut funktionieren würden. Die Risikovorsorge bei Banken, basierend auf der Normalverteilung, mündete 1998 in der Eigenkapitalrichtlinie Basel II - mittlerweile in Reaktion auf die Finanzmarktkrise als Basel III reformiert. Demnach müssen Banken bei der Kreditvergabe mehr Eigenkapital hinterlegen, als es vor der neuen Regelung erforderlich war. Dies als Reaktion darauf, dass auf normalverteilungsbasierte Risikomanagement-Ansätze (z.B. Value at Risk) mit Schwächen behaftet sind. Dieser regulatorische Versuch vermag zwar die Folgen zukünftiger Finanzdesaster abzuschwächen, eine Maßnahme, die direkt die 7 Bemerkenswerterweise wurde allerdings mit Robert Shiller gleichzeitig auch ein Wissenschaftler geehrt, der eben diese Effizienzmarkthypthese in Zweifel zieht. <?page no="79"?> 78 2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie Ursachen der Fehleinschätzungen bekämpft, bleibt weiterhin reines Wunschdenken. Vielmehr sind die wiederkehrenden Spekulationsblasen, die im zweiten Abschnitt betrachtet werden, Ausdruck für die begrenzte Rationalität der Marktteilnehmer - Akteure, die von den Annahmen eines Homo Oeconomicus weit entfernt sind. <?page no="80"?> www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance AAbbsscchhn niitttt IIII W Wiieeddeerrkkeeh hr re ennddee SSp peekkuullaattiioonnssbbllaasseenn -- aauussggeellöösstt vvoomm HHoommoo OOeeccoonnoommiiccuuss H Huummaannuuss 33 DDa as s IIn nv veesstto orre en nv veerrh ha al lt teenn aau us s SSi ic chht t dde err BBeehhaavviio orra all FFiinnaannccee Das dritte Kapitel steht ganz im Zeichen des Homo Oeconomicus Humanus - dem Markteilnehmer, der die Paradigmenerweiterung symbolisiert. Sie werden beim Durcharbeiten dieses Kapitels zum einen die Zielsetzung und Entwicklung der Behavioral Finance kennenlernen, zum anderen den Marktteilnehmer als einen begrenzt rational handelnden Investor erleben. Im ersten Abschnitt stand die neoklassische Sicht der erwarteten Verhaltensweisen des Homo Oeconomicus im Vordergrund. Die weiterhin vielfach verwendeten Konzepte und Modelle standen im Mittelpunkt der Betrachtung, wobei die Abweichungen gegenüber den realen Marktbedingungen Schritt für Schritt hervorgehoben wurden. Im zweiten Abschnitt gehen wir einen Schritt weiter und untersuchen, wie sich der Betrachtungswande Homo Oeconomicus Humanus vollzieht. In diesem Sinne rückt die Entwicklung der Behavioral Finance in den Blickpunkt, die im Rahmen einer beginnenden Paradigmenverschiebung innerhalb der Wirtschaftswissenschaften erläutert wird (vgl. Kap. 3). Darüber hinaus wird in diesem Abschnitt die Entstehung von Spekulationsblasen (vgl. Kap. 4) als Folge begrenzt rationalen Verhaltens untersucht, und es werden ausgewählte Spekulationsblasen (vgl. Kap. 5) im Detail betrachtet. 33..1 1 AAuussggaannggssppuunnkktt uunndd ZZiieells seettzzuunngg d deerr BBeehhaavviioorraal l FFiinnaanncce e Behavioral Finance ist zwar ein relativ junges, aber stark wachsendes Wissenschaftsgebiet. Die Zielsetzung besteht vornehmlich darin, Erklärungsansätze für die real beobachtbaren Entscheidungen der Marktteilnehmer zu bieten. Diese Erklärungsansätze basieren auf der Zusammenführung der verhaltenswissenschaftlichen/ kognitiven Psychologie mit den bekannten Modellen und Prinzipien der traditionellen Ökonomie. Die Schwierigkeit, empirische Beobachtungen des Verhaltens von Marktteilnehmern auf Ba- Erwartungsnutzentheorie innerhalb eines effizienten Marktes zu deuten, führte zur Entwicklung der Behavioral-Finance-Forschung. Sie soll u.a. durch die Beobachtung des Individual- und des Gruppenverhaltens der Marktteilnehmer beobachtbare Inkonsistenzen erklären (vgl. Baker/ Nofsinger, 2010, S. 3). Generell lässt sich diese Forschungsrichtung als verhaltenswissenschaftlich fundierte Finanzmarkttheorie definieren. Sie versucht, kapitalmarkttheoretische Ansätze mit verhaltenstheoretischen Ansätzen zu verbinden. Die Behavioral Finance beinhaltet die folgenden Zielsetzungen: <?page no="81"?> 80 3 Das Investorenverhalten aus Sicht der Behavioral Finance www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Es soll geklärt werden, warum scheinbar rational denkende Anleger auf den Finanzmärkten immer wieder begrenzt rationale Entscheidungen treffen und allgemein zu begrenzt rationalem Verhalten neigen. Sie will das tatsächliche, beobachtbare Anlegerverhalten und andere Phänomene an den Kapitalmärkten erklären. Mit Hilfe der Erkenntnisse sollen, wo möglich, wiederkehrende Fehler vermieden werden. Darüber hinaus will sie dazu beitragen, bestehende Modelle an solchen Stellen zu ergänzen, an denen sich bisher Schwachstellen gezeigt haben. Diese betreffen u.a. die Annahmen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie, die in der Realität so nicht gegeben sind (vgl. Abschnitt 1, Kap. 2). Zentralen Bestandteil und Ausgangspunkt der Behavioral-Finance-Forschung bildet die Theorie der begrenzten Rationalität (Bounded Rationality) von Herbert Simon ab Mitte der 1950er Jahre. Demnach sind Marktteilnehmer nur zu einem beschränkt rationalem Verhalten in der Lage. Während die neoklassische Kapitalmarkttheorie von einem rational handelnden Marktteilnehmer ausgeht, der praktisch ausschließlich auf eine Maximierung der Rendite ausgerichtet ist, analysiert Behavioral Finance die emotionalen Beweggründe, die den Marktteilnehmer bei seinen finanziellen Entscheidungen leiten. Die Praxis hat gezeigt, dass der rationale Homo Oeconomicus, der kühl und objektiv entscheidet, ohnehin nur in der Theorie existiert. Vielmehr kristallisiert sich ein Homo Oeconomicus Humanus (siehe Abschnitt 3) heraus, der häufig durch kognitive und emotionale Verzerrungen beeinflusst wird. Zudem haben empirische Untersuchungen (vgl. Fama, 1991) gezeigt, dass allein unter Zuhilfenahme der Konzepte und Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie bei Weitem nicht alle Bewegungen am Kapitalmarkt erklärt werden können. So unterliegt eine der Grundannahmen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie, die Normalverteilungshypothese, erheblichen Zweifeln. Selbst Eugene Fama und Harry Markowitz kommen zu dem Ergebnis, dass die Normalverteilung nicht unbedingt anwendbar ist. So zeigte sich, dass die normative Entscheidungstheorie um die deskriptive Komponente, also die Beobachtung des tatsächlichen Anlegerverhaltens, erweitert werden sollte (vgl. Westphal & Horstkotte, 2002, S. 210 ff.). Im Rahmen dieser Erkenntnisse entwickelten Kahneman und Tversky 1978 die Prospect Theory als die bedeutendste deskriptive Entscheidungstheorie in der Behavioral-Finance- Forschung. Die Theorie wurde als Alternative und Verallgemeinerung der Erwartungsnutzentheorie entwickelt. Die Prospect Theory, die im dritten Abschnitt eine zentrale Rolle spielen wird, spiegelt eine Entscheidungsfindung unter Ungewissheit wider, bei der zwischen zwei Handlungsalternativen entschieden wird. Diese Alternativen sind über Wahrscheinlichkeiten (prospects) miteinander verbunden (vgl. Blechschmidt, 2007, S. 11 ff.). Die eigentliche Stärke der Behavioral Finance zeigt sich u.a. durch die Verdeutlichung, dass die begrenzte Rationalität an den Märkten zu substanzieller und lang anhaltender Abweichung vom Fundamentalwert der Wertpapiere führen kann. Hiermit beschäftigt sich das 4. Kapitel im Rahmen der Analyse spekulativer Blasen. <?page no="82"?> 3.1 Ausgangspunkt und Zielsetzung der Behavioral Finance 81 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Ansätze der Behavioral Finance führen damit zu einer besseren Erklärbarkeit von Aktienrenditen aufgrund der Erkenntnisse über Verhaltensweisen von Investoren (vgl. Garz, Günter & Moriabadi, 2002, S. 103). Somit kann die Behavioral Finance ihre Existenzgrundlage in der Analyse von Problemen sehen, die unter Verwendung von Modellen, wie die Prospect Theory, das scheinbar irrationale Verhalten der Marktteilnehmer und deren Folgen erklären. Die fortschreitende Entwicklung der Behavioral Finance führte z.B. zur konkreten Un- Heuristiken, die zur Informationsbewältigung angewandt werden (vgl. Barberis & Thaler, 2005, S. 1 ff.). Behavioral Finance basiert auf der Erkenntnis, dass Marktteilnehmer nur zu einem begrenzt rationalen Verhalten in der Lage sind. Es kristallisiert sich ein Homo Oeconomicus Humanus heraus, der häufig durch kognitive und emotionale Aspekte beeinflusst wird. Biographie von Herbert Simon, Nobelpreisträger 1978 Herbert A. Simon wurde am 15. Juni 1916 in Milwaukee, Wisconsin geboren. Er starb am 9. Febrauar 2001 Simon studierte Sozialwissenschaften an der Universität von Chicago. Eines der dort belegten Nebenfächer entwickelte sich zu seinem Haupttätigkeitsfeld: Entscheidungsfindungsprozesse in Organisationen. Ab 1942 begann er, an der Universätität von Chicago Vorlesungen in Wirtschaftswissenschaften zu besuchen und Kontakte zu Ökonomen zu knüpfen (u.a. Milton Friedman). Zudem war er Mitgleid der Kommission, die für die Koordination des Marshall-Plans verantwortlich war. Er prägte den Begriff „begrenzte Rationalität“, welcher sich als zentraler Bestandteil und Ausgangspunkt der Behavioral-Finance-Forschung entwickelte. Demnach akzeptieren Marktteilnehmer befriedigende Lösungen und streben nicht immer nach Gewinn-/ Nutzen-maximierenden Lösungen. 1975 wurde er mit dem A.M. Turning Award (höchste Auszeichnung im Bereich Computer Sciences) für seinen Beitrag zu künstlicher Intelligenz und der Psychologie menschlicher Entscheidungsfindung ausgezeichnet. 1986 erhielt er die U.S. National Medal of Science und 1988 den John-von-Neumann Theoriepreis. Die höchste akademische Ehrung in Form des Gedächtsnispreises an Alfred Nobel erhielt er 1978 für seine Erforschung der Entscheidungsprozesse in Wirtschaftsorganisationen. Biographie von Daniel Kahneman, Nobelpreisträger 2002 Geboren 5. März 1934 in Tel Aviv Kahneman studierte Psychologie und Mathematik an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie an der University of California, Berkeley. Nach Abschluss seines Studiums <?page no="83"?> 82 3 Das Investorenverhalten aus Sicht der Behavioral Finance www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance arbeitete er als Berater der israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Von 1961 bis 1978 lehrte er an der Hebräischen Universität Jerusalem und von 1978 bis 1986 an der University of British Columbia; von 1986 bis 1994 war er Professor an der University of California, Berkeley. Seit 1994 wirkt Daniel Kahnemann an der Princeton University. In zusammenarbeit mit Amos Tversky entwickelte er die neue Entscheidungstheorie bekannt als Prospect Theory. Internationale Bekanntheit erwarb er sich durch seine experimentelle Forschung mit Amos Tversky an Urteilsheurisitiken und kognitiven Verzerrungen. Neben zahlreichen Auszeichnungen wurde er neben Vernon L. Smith 2002 mit dem Gedächtsnispreis für Alfred Nobel ausgezeichnet. Er erhielt den Preis für seinen Beitrag zur Entscheidungsfindung unter Unsicherheit, welchen er mit Amos Tversky entwickelte: Basierened auf ihren Erkenntnissen handeln Marktteilnehmer folglich nicht wie dies ökonomische Modelannahmen erwarten lassen, sondern sie machen wiederholt Fehler, die nachweisbar und vorhersagbar sind. 2013 erhielt er die Presidential Medal of Freedom. Biographie von Amos Tversky Geboren 16. März 1937 in Haifa, Palästina; gestorben 2. Juni 1996 in Stanford, Kalifornien Tversky entwickelte mit Kahnemann die Prospect Theory, um menschliche Entscheidungsfindung unter Ungewissheit darzustellen. 1965 wurde er an der University of Michigan promoviert und lehrte danach an der Hebräischen Universität Jerusalem, bevor er zur Stanford University wechselte. Er hat maßgebend die psychologische Untersuchung von Heuristiken, kognitiven Verzerrungen und Entscheidungen unter Risiko geprägt. Der gemeinsam mit Kahnemann veröffentlichte Aufsatz in Econometrica über Entscheidungsfindung unter Unsicherheit (1979) ist eines der meistzitierten Dokumente in den Wirtschaftswissenschaften. 1980 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences aufgenommen. 1985 erfolgte die Aufnahme in die National Academy of Sciences der Vereinigten Staaten. 33..1 1..1 1 BBeeggrriiffff ddeerr RRaatti ioonna alliittä ätt iimm ZZuuggee ddeer r PPaarraaddiiggmmeenne errwweei itteerruunng g Seit Bestehen der klassischen Nationalökonomie bestimmt die Existenz des Homo Oeconomicus das Bild in den Wirtschaftstheorien. Trotz der immer stärker werdenden Einwände ist diese Vorstellung weiterhin Teil der zentralen Annahmen. Der Marktteilnehmer verhält sich demnach in seiner Präferenzbildung wie dies in der Erwartungsnutzentheorie durch die Axiome gefordert wird. Das bedeutet, der Marktteilnehmer verhält sich konform zum Axiom 0 - wonach die Kapitalbildung im Vordergrund des Handelns steht („more money is not worse then less money“), <?page no="84"?> 3.1 Ausgangspunkt und Zielsetzung der Behavioral Finance 83 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance beachtet die vollständige Ordnung - wonach alle Alternativen bei einer Entscheidung berücksichtig werden, und beachtet die Unabhängigkeit - wonach eine ursprüngliche Präferenz zwischen zwei Alternativen nicht verändert wird, wenn weitere Entscheidungsmöglichkeiten ins Spiel gebracht werden („only money matters“). Die Annahme streng rationaler Verhaltensweisen im Sinne der Erwartungsnutzentheorie hat sich in der Zwischenzeit jedoch insofern sukzessive gelockert, als man davon ausgeht, dass die Marktteilnehmer nicht streng rational, sondern begrenzt rational handeln (vgl. Wahren, 2009, S. 64). Diese Einsicht folgt als Ergebnis von Befragungen, Experimenten, Hirnmessungen und Simulationen, die zu der Erkenntnis führen, dass die Menschen sich nicht annähernd so verhalten, wie dies von der neoklassischen Kapitalmarkttheorie erwartet wird. Sie weichen auch nicht zufällig und daher unvorhersagbar von den Vorgaben der neoklassischen Ökonomie ab, sondern tun dies systematisch. Es kann als erwiesen gelten, dass die Markteilnehmer eigenen Verhaltensmustern folgen, die sich lediglich situationsbedingt erklären lassen. Handeln die Markteilnehmer daher irrational oder können sie sich einfach nicht anders verhalten? In Anbetracht der komplexen Zusammenhänge auf den Kapitalmärkten ist vielmehr davon auszugehen, dass die Marktteilnehmer nicht irrational handeln, sondern lediglich versuchen, mit den unterschiedlichsten, komplexen Bedingungen zurechtzukommen. Dazu zählt auch, dass Marktteilnehmer nicht nur komplexe Entscheidungen bzgl. der Wertpapiermärkte treffen müssen, sondern auch in anderen Lebensbereichen fortwährend Entscheidungen unter Unsicherheit treffen müssen, die u.U. auch eine höhere Priorität haben als Wertpapierentscheidungen. Der Kapitalmarkt zeichnet sich dabei durch folgende Eigenschaften aus: Informationsflut auf sämtlichen medialen Kanälen Wenige und unklare Signale, die eine schnelle Entscheidung erfordern Vielzahl von Optionen Unsicherheit hinsichtlich der zu erwartenden Renditen/ Risiken … Die enorme Komplexität auf den Kapitalmärkten erlaubt es den Marktteilnehmern, nicht nur ihre Entscheidungen zu treffen, sondern auch andere zu beeinflussen sowie sich selbst von anderen beeinflussen zu lassen, ohne die eigene Orientierung zu verlieren. Dafür verzichtet der Marktteilnehmer auf komplexe Berechnungen und macht sich vielmehr tief im Gehirn verankerte Faustregeln (Heuristiken) zunutze, um mit der Fülle von Informationen klarzukommen. Sie ermöglichen, dass der Marktteilnehmer eine Entscheidung treffen kann, auch wenn nur wenige Informationen verarbeitet werden können und stehen für Abkürzungen im Gehirn, die Teil einer ganz eigenen Rationalität sind und dem Marktteilnehmern erlauben, in unterschiedlichsten Wirtschafssituationen funktionsfähig zu bleiben. Das auf Heuristiken basierende Wahrnehmungsverhalten der Markteilnehmer kann also nicht per se als irrational bezeichnet werden. Vielmehr ist es ein effizientes Verfahren, um die Informationsflut zu bewältigen. Die diesen Verhaltensweisen zugrunde liegenden <?page no="85"?> 84 3 Das Investorenverhalten aus Sicht der Behavioral Finance www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Muster sind sozusagen Teil der übergeordneten Rationalität eines jeden Marktteilnehmers (vgl. Heuser, 2008, S. 35 ff.). Formen der Rationalität nach Oswald Neuberger Der Psychologe Oswald Neuberger hat im Zusammenhang mit der mangelnden Beachtung irrationalen Handelns in der Kapitalmarkttheorie folgende drei Rationalitätsbegriffe entwickelt (vgl. Wahren, 2009, S. 66 ff.): Technisch-instrumentelle Rationalität - setzt folgende Annahmen für das rationale Verhalten des Marktteilnehmers voraus: Er hat ein Ziel bzw. eine Präferenz. Er überblickt die Situation und kennt alle Handlungsalternativen. Er weiß, welche Handlungen mit welcher Wahrscheinlichkeit zu welchem Ergebnis führen. Er hat eine Entscheidungsregel, die ihm erlaubt, zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen. Er ist in der Entscheidungsfindung unendlich schnell. Er verfügt über alle nötigen Informationen. Die oben aufgeführten Annahmen lassen vermuten, dass die Marktteilnehmer in diesem Sinne nicht rational agieren können. Das Menschenbild, das diesem Rationalitätsbegriff zugrunde liegt, entspricht im weitesten Sinne dem des Homo Oeconomicus. Im Weiteren unterscheidet Neuberger zwischen der normativen und der reflexiven Rationalität: Normative Rationalität - beschäftigt sich mit der allgemeinen Bewertung einer Handlung: Wie sind die Ergebnisse einer Handlung einzuschätzen? Was ist der Nutzen einer Handlung? Sind Ergebnis und Nutzen sozial anerkannt? Reflexive Rationalität - beschäftigt sich damit, wie der Marktteilnehmer selbst seine Handlung bewertet: Wie beurteilt er das Erreichte im Spiegel seiner Vorstellungen, die nur er kennt? Stellt er fest, dass er das, was er wollte, erreicht hat, so handelte er im persönlichen Sinne rational. Entscheidend ist, wer die Rationalität beurteilt. Unterschiedliche Beobachter würden so bei der Bewertung einer Handlung zu verschiedenen Urteilen kommen können. Begriffsklärung „Rationalität vs. Irrationalität“ An dieser Stelle ist es angebracht, die Begriffsbezeichnung „Irrationalität“, mit der die Marktteilnehmer in der Literatur bei sub-optimalen Entscheidungen klassifiziert werden, näher zu beleuchten. Bei der Charakterisierung einer Handlung als irrational ist es wichtig, dass die Perspektive, aus der die Charakterisierung erfolgt, genau beachtet wird. In den nachfolgenden <?page no="86"?> 3.1 Ausgangspunkt und Zielsetzung der Behavioral Finance 85 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Beispielen sollen einzelne Sachverhalte die Bedeutung von rational vs. irrational veranschaulichen: Handelt ein Anleger, der auf Investitionen in Aktien verzichtet und dadurch eine geringere Renditeperformance in Kauf nimmt, irrational - oder aus seiner subjektiven Sicht eher rational, weil er Risiken, die er nicht überblicken kann, vermeiden möchte? Handelt ein Fondsmanager, der in Erwartung rückläufiger Kurse seine Barbestände aufstockt, irrational - oder eher rational im Sinne der Anleger, auch wenn man davon ausgehen kann, dass die Aktienkurse sich langfristig positiv entwickeln? Handelt ein Professor (und insbesondere auch Markowitz selbst), der seinen Studierenden die Portfoliotheorie lehrt, gleichzeitig jedoch auf eine entsprechend optimale Diversifikation verzichtet, irrational - oder eher rational, da er es vorzieht, sein Bedürfnis nach Spekulation auf diese Art und Weise auszuleben? Im Lichte dieser Beispiele erfasst die Aussage von Niklas Luhmann 8 die Problematik der Begriffsbezeichnung besonders griffig: „Ist es bei der Anlage von Kapital überhaupt rational, sich rational zu verhalten“? (Luhmann, zit. nach Wahren, 2007, S. 68) Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass die Grenze zwischen Rationalität und Irrationalität in Bezug auf die Geldanlage schwer zu ziehen ist. Der Standpunkt des Beobachters spielt bei der Beurteilung eine entscheidende Rolle. Der deutsche Psychologe Gerd Gigerenzer 9 bemängelt in diesem Zusammenhang, dass auch Psychologen Gefahr laufen, die Psychologie für die reine Logik ökonomisch-rationalen Denkens aufzugeben: „Generationen von Studenten der Sozialwissenschaften haben unterhaltsamen Vorlesungen gelauscht, in denen dargelegt wurde, wie dumm die restliche Menschheit sei, da sie ständig vom Pfad der Logik abweiche und sich im Nebel der Intuition verirre. Doch logische Normen sind blind für Inhalt und Kultur, lassen evolvierte Fähigkeiten und Umweltstrukturen außer Acht. Häufig erweist sich das, was vom rein logischen Standpunkt wie ein Denkfehler aussieht, in der wirklichen Welt als intelligentes soziales Urteil.“ (Gigerenzer, zit. nach Wahren, 2007, S. 68) Herbert Simon bietet auf die Frage: „Was ist rational? “ folgende Abgrenzung des Begriffes an (Simon, zit. nach Wahren, 2007, S. 66): „Am besten wird man das Wort „rational“ nur zusammen mit passenden Adverbien gebrauchen: Eine Entscheidung … … kann objektiv rational sein, wenn sie tatsächlich das richtige Verhalten zur Maximierung gegebener Werte in einer gegebenen Situation ist, 8 Niklas Luhmann (geboren 1927, gestorben 1998) war deutscher Soziologe, Philosoph und Gesellschaftstheoretiker. Er galt als Mitbegründer der soziologischen Systemtheorie und als transdisziplinärer Sozialwissenschaftler. 9 Gerd Gigerenzer (geboren 1947) ist Direktor des Center for Adaptive Behavior and Cognition am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. <?page no="87"?> 86 3 Das Investorenverhalten aus Sicht der Behavioral Finance www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance … kann subjektiv rational sein, wenn sie die Zielerreichung in Bezug auf das aktuelle Wissen der handelnden Person maximiert, … ist bewusst rational in dem Maß, in dem die Anpassung der Mittel an die Zwecke ein bewusster Vorgang ist, … ist überlegt rational in dem Maß, in dem die Anpassung der Mittel an die Zwecke überlegt herbeigeführt worden ist und … ist individuell rational, wenn sie nach den Zielen des Individuums bestimmt ist.“ Die soeben aufgeführten Erläuterungen zeigen, in welchem Maße die Feststellung, ob ein bestimmtes Verhalten rational ist, von der Perspektive und den Intentionen des jeweiligen Entscheiders abhängt. Als Konsequenz ist der Begriff „irrational“ nur in solchen Fällen zu verwenden, in denen bei Kenntnis der Rahmenbedingungen, unter denen der Entscheider zu einer Entscheidung gelangt, diese ganz offensichtlich gegen jede Vernunft gerichtet ist. Das Wahrnehmungsverhalten der Markteilnehmer kann nicht per se als irrational bezeichnet werden. Die diesen Verhaltensweisen zugrunde liegenden Muster gelten als Teil der Rationalität eines jeden Marktteilnehmers. Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass die Grenze zwischen Rationalität und Irrationalität in Bezug auf die Geldanlage schwer zu ziehen ist. 33..1 1..2 2 AAbbkkeehhr r vvoonn ddeerr EErrwwaar rttuunng gssnnu uttzzeennt thheeoorriiee -- BBe eggrreen nz zttee RRaattiioonna alliittäätt Mit dem Konzept der begrenzten Rationalität, welches Mitte der 1950er Jahre von Herbert Simon eingeführt wurde, begann die schrittweise Abkehr von der Erwartungsnutzentheorie. In dieser Zeit befanden sich die Ökonomen in einer Zwickmühle. Einerseits erkannte man, dass die Modelle auf rationalen Entscheidungen gründeten, die mit der Wirklichkeit jedoch kaum kompatibel waren. Andererseits erwiesen sich die damaligen psychologischen Erkenntnisse ebenfalls kaum kompatibel mit den ökonomischen Lehransätzen der begrenzten Rationalität. Nach dem Konzept treffen die Marktteilnehmer Entscheidungen, die zwar schlechter sind als diese unter theoretischen Bedingungen möglich wären. Sie sind jedoch nach der Maxime des begrenzt rationalen Verhaltens genügend gut, um die Suche nach Alternativen dann zu beenden, wenn man eine Lösung gefunden hat, die einen zufrieden stellt (vgl. Elger & Schwarz, 2009, S. 49 ff.). Im Rahmen der Entscheidungsfindung weichen die Marktteilnehmer folglich systematisch von den Axiomen der Erwartungsnutzentheorie ab. Die Ursache hierfür kann in der Beschaffenheit der Kapitalmärkte gesehen werden. Unter den genannten Bedingungen übersteigt es die kognitiven Fähigkeiten der Marktteilnehmer, den künftigen Erwartungsnutzen aller Alternativen zu kalkulieren. Folglich sind sie nicht in der Lage, die Alternative mit dem höchsten Erwartungswert zu identifizieren. <?page no="88"?> 3.1 Ausgangspunkt und Zielsetzung der Behavioral Finance 87 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Diese Einschränkung impliziert jedoch nicht von vornherein, dass die Marktteilnehmer sich grundsätzlich fehlerhaft entscheiden und verhalten müssen. Vielmehr ist bei der Beurteilung der Rationalität, wie im Unterkapitel 3.1.1 bereits erläutert wurde, das Umfeld, in dem die Entscheidung getroffen wird, zu beachten. Das Konzept lässt zudem subjektiv rationale Entscheidungen zu. Daher ist aus dieser Sicht der Entscheidungsprozess immer dann als rational anzusehen, wenn er zielgerecht und bewusst verläuft. Er muss, sozusagen, im Einklang mit dem eingeschränkten individuellen Wissensstand und den begrenzten kognitiven Verarbeitungsfähigkeiten des Marktteilnehmers stehen (vgl. Blechschmidt, 2007, S. 13 ff.). Der Entscheidungsprozess wird im Rahmen der begrenzten Rationalität durch zwei ineinandergreifenden und interagierenden Komponenten gesteuert, die im Sinne eines Schlüssel-Schloss-Prinzips miteinander verbunden sind und zu genügend guten Entscheidungen führen: Auf der einen Seite stehen die internen Beschränkungen des menschlichen Gehirns. Auf der anderen Seite steht die Informationsstruktur der externen Umweltbedingungen, in welcher der Entscheider agiert. Genügend gute Entscheidungen werden in Anbetracht der Informationsstruktur/ -menge auf den Kapitalmärkten durch folgende Methoden erleichtert: Wiedererkennungs-, Erkenntnis- und Reflektionsprozesse, die eine (auch zukünftige) Informationssuche verringern, Heuristiken, die die Informationssuche steuern und ihr Ende bestimmen, einfache Entscheidungsregel, welche die verfügbaren, gefundenen Informationen nutzt. Ein Beispiel, welches die Auswirkungen der begrenzten Rationalität verdeutlicht, ist der Geldanlage-/ aufnahmeprozess im Rahmen der Kundenberatung bei Kreditinstituten. Nachfolgend wird die Auswirkung am Beispiel eines Privatkunden erläutert (vgl. Brost & Neske, 2008, S. 72 ff.). Beispiel 3.1: Begrenzte Rationalität im Geldanlageprozess Der Geldanlageprozess verdeutlicht eindrucksvoll sowohl die Auswirkungen der begrenzten Rationalität als auch der begrenzten Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazität. Ausgehend von der Komplexität der Informations- und Entscheidungssituationen, besteht seitens der Anleger ein hohes Informationsdefizit in der Bedarfsanalyse und bei der Produktempfehlung. Zusätzlich zum Informationsbedarf ist das menschliche Entscheidungsverhalten durch begrenzt rationale Verhaltensweisen gekennzeichnet, die dergestalt auftreten, dass die erwähnten Methoden zur Bestimmung genügend guter Entscheidungen auf Situationen angewandt werden, zu denen sie nicht (mehr) passen. So reagieren manche Anleger auf kürzlich erlebte Gewinne (z.B. im Bereich der Anlage in Wertpapierfonds/ Aktien) mit einer zunehmenden Risikobereitschaft, welche jedoch nicht durch sachliche Faktoren begründet ist. In Kombination mit dieser Verhaltensweise sug Kontrollillusion dem Anleger, dass seine Fähigkeiten <?page no="89"?> 88 3 Das Investorenverhalten aus Sicht der Behavioral Finance www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance für eine weitaus bessere Performance in Frage kommen. Ebenso trifft diese Verhaltensweise u.U. auf den Anleger zu, wenn Verluste erlitten wurden. In diesem Fall steigt die Risikobereitschaft, um die erlittenen Verluste wieder ausgleichen zu können. Eine dritte Verhaltensweise verdeutlicht zusätzlich die schädlichen Auswirkungen bei unvorteilhafter Anwendung der begrenzten Rationalität. Anleger unterliegen oftmals unabhängig vom Erfahrungshintergrund einer Kurzsichtigkeit (Myopie). Dies zeigt sich jedoch nicht nur bei verfrühter Realisierung von Gewinnen, sondern auch bei der voreiligen Realisierung von Verlusten, die mit Anlagen für die Altersvorsorge getätigt wurden. Es erfolgt eine Überbewertung zwischenzeitlicher Tiefs, die dazu führt, dass die Risikoeinschätzung gegenüber langfristig möglicherweise geeigneten Produkten verändert wird. Das Konzept der begrenzten Rationalität zeichnet sich durch die nachfolgend aufgeführten Attribute aus: Der Entscheidungsprozess basiert nicht mehr auf nutzenmaximierendem, sondern auf satisfazierendem Verhalten der Marktteilnehmer. Die Annahme, nach stabilen, vollständigen und konsistenten Präferenzen auf Basis der Erwartungsnutzentheorie zu entscheiden, wird zunehmend fraglich. Das Konzept unterstellt vielmehr, dass nicht mehr alle, sondern nur noch ein Teil der möglichen Alternativen für die Entscheidungsfindung herangezogen wird: Dieses Verhalten ermöglicht es dem Marktteilnehmer, Alternativen unterschiedlicher Dimensionen miteinander zu vergleichen - in der Folge wird nicht mehr die optimale Alternative ausgewählt, sondern diejenige, die als Erstes dem gesetzten Anspruch genügt. Es wird somit nicht mehr nach den globalen Optima, sondern nach einem lokalen Optimum gesucht. Eine weitere Eigenschaft des Konzepts ist die Aufspaltung des Entscheidungsprozesses in Teilsequenzen bzw. in überschaubare Teilprobleme anstelle der simultanen Bewertung aller möglichen Alternativen. Auf Basis dieser Annahme - auch als Sequenzialisierung bezeichnet - erhält der Marktteilnehmer die Möglichkeit zur Rückkopplung von Entscheidungsfolgen im Entscheidungsprozess. Dadurch wird adaptives Lernen ermöglicht. Mit Einführung des Konzepts der begrenzten Rationalität wurde zum einen vollständig rationales Verhalten von den Ökonomen als unmöglich anerkannt, zum anderen ließen sich durch das Konzept der begrenzten Rationalität Entscheidungsprozesse besser beschreiben, als es mit dem Modell des Homo Oeconomicus möglich war (vgl. Beispiel 3.1). Im Rahmen der begrenzten Rationalität treffen Marktteilnehmer Entscheidungen, die schlechter sind, als es unter theoretischen Bedingungen möglich wäre. Sie sind jedoch nach der Maxime des begrenzt rationalen Verhaltens genügend gut, um die Suche nach Alternativen zu beenden, wenn man eine zufriedenstellende Lösung gefunden hat. Mit diesem Konzept sind subjektiv rationale Entscheidungen möglich, und ein vollständig rationales Verhalten wird äußerst unwahrscheinlich. <?page no="90"?> 3.2 Betrachtungswechsel im Rahmen der Behavioral Finance 89 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 33..22 BBeet trraacchhttuun nggsswweec chhsseel l i im m R Raahhmmeen n d deer r BBeeh haavvi io orraall F Fiin naannccee Behavioral Finance versucht, die Finanzmarktforschung auf Basis des beobachtbaren Verhaltens der Marktteilnehmer neu zu modellieren. Im Zuge der Entwicklung der Behavioral Finance, und ganz besonders aufgrund der Finanzmarktkrise ab 2007, werden Rufe nach einer Revision der bislang postulierten neoklassischen Kapitalmarkttheorie laut. Die Grundlage für die Diskussion über eine Paradigmenerweiterung um die Erkenntnisse der verhaltensorientierten Kapitalmarkttheorie basiert auf der Art und Weise, wie die Marktteilnehmer ihre Entscheidungen treffen. Um Entscheidungen bewerten zu können, ist ein Grundgerüst notwendig, welches bestimmte Annahmen über das Verhalten der Marktteilnehmer impliziert (vgl. Shefrin, 2008, S. 1 ff.). Die Diskussion über eine mögliche Paradigmenerweiterung setzt an diesem Punkt an - sollten die Annahmen ausschließlich auf Basis der neoklassischen Kapitalmarkttheorie getroffen werden oder durch die Erkenntnisse der verhaltensorientierten Kapitalmarkttheorie im Sinne der Behavioral Finance erweitert werden? 33..2 2..1 1 VVeerrgglleeiicchh ddeer r nne eookkllaasss si isscchheenn mmiitt ddeerr vveerrhhaalltteenns so orriieennt ti ieerrtte enn ÖÖkkoonno ommiiee Nachfolgend werden die unterschiedlichen Sichtweisen und Grundlagen der neoklassischen Ökonomie mit denen der Behavioral Finance verglichen (vgl. Abb. 16). Beschreibung der Kapitalmarktheorien Im Grunde unterscheiden sich beide Kapitalmarkttheorien zum einen in der Verhaltensweise, die den Marktteilnehmern zugestanden wird, und zum anderen im Ausmaß der Rationalität der Marktteilnehmer. Die neoklassische Kapitalmarkttheorie geht hierbei vom Homo Oeconomicus aus, welcher auf Basis restriktiver Annahmen (vgl. Kap. 1.2.1) seine Entscheidungen trifft. Hauptkennzeichnend ist hierbei die vollumfängliche Rationalität bei der Entscheidungsfindung in der Regel völlig homogener Marktteilnehmer. Die verhaltensorientierte Kapitalmarkttheorie weicht von den postulierten Annahmen des Homo Oeconomicus ab und analysiert mit Hilfe der Psychologie, Soziologie sowie zunehmend der Neurologie das beobachtbare Verhalten zum Teil völlig heterogener Investoren. Diese zeichnen sich durch begrenzte Rationalität aus, welche sowohl aufgrund der kognitiven Begrenzungen des Menschen als auch aufgrund der Informationsstruktur im Kapitalmarkt hervorgerufen wird. Basis für Entscheidungen In der neoklassischen Kapitalmarkttheorie beruhen Entscheidungen auf der von Morgenstern und von Neumann entwickelten Erwartungsnutzentheorie (vgl. Kap. 1.2.3). Die Marktteilnehmer agieren entsprechend der postulierten Axiome in Anbetracht der Unsicherheit hinsichtlich der Renditeerwartung. Dabei werden entsprechend des Bayes- Theorems die Wahrscheinlichkeitseinschätzungen bei Änderung der Informationslage immer wieder aufs Neue angepasst. <?page no="91"?> 90 3 Das Investorenverhalten aus Sicht der Behavioral Finance www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Nun argumentieren Psychologen, dass die Marktteilnehmer sich weder an die Axiome der Erwartungsnutzentheorie von Morgenstern und von Neumann halten, noch die Wahrscheinlichkeitseinschätzungen auf Basis des Bayes-Theorems anpassen. Viel- Prospect Theory von Tversky und Kahneman (vgl. Kapitel 6.2) als Gegenstück zur Erwartungsnutzentheorie. Die Entscheidungsfindung unter Unsicherheit auf Basis der Prospect Theory gilt als die intellektuelle Grundlage der Behavioral Finance (vgl. Pompian, 2006, S. 20 ff.). U.a. die amerikanischen Ökonomen Richard Thaler und Robert Shiller befassten sich mit den treibenden Kräften hinter den Entscheidungen der Investoren. In zahlreichen Studien standen die Folgen von Feedback-Modellen sowie die Beeinträchtigung von Arbitrage im Vordergrund. Die Feedback-Theorie befasst sich mit der spekulativen Blasenbildung als Folge ungezügelten, sich gegenseitig beeinflussenden Handels von Marktteilnehmern (vgl. Shiller, 2003, S. 90 f.). Forschungsergebnisse zeigen, dass der Marktteilnehmer seine Entscheidungsfindung auf Basis von Faustregeln (Heuristiken) (vgl. Kap. 7, 8 und 9) und Emotionen (vgl. Kap. 13.3) anstelle des Bayes-Theorems trifft. Heuristiken können in zwei Gruppen unterteilt werden. So gibt es Heuristiken kognitiven Ursprungs, die sich dadurch auszeichnen, dass es für sie eines höheren Aufwands bedarf und der Einsatz während des Informations- und Entscheidungsprozesses höher ist. Daneben gibt es Heuristiken emotionalen Ursprungs, die genutzt werden, um schnelle Entscheidungen zu treffen. Die Anzahl dieser Heuristiken ist gegenüber den Heuristiken kognitiven Ursprungs geringer. Heuristiken werden überwiegend angewandt, wenn der Entscheidungsträger die Wahrscheinlichkeitsverteilung der möglichen Ereignisse und die Zuverlässigkeit dieser Verteilung beurteilt. Die fortschreitende Entwicklung der Behavioral Finance führte zur Unterscheidung unterschiedlicher Faustregeln, die zur Informationsbewältigung angewandt werden. So stellt die Veröffentlichung von Pompian (2006) „Behavioral Finance and Wealth Management“ wichtige Erkenntnisse über die Kundenberatung mittels der Behavioral Finance zusammen (vgl. Pompian, 2006, S. 33 ff.). Dort wird z.B. argumentiert, dass es in Abhängigkeit von der Höhe des Vermögens u.U. nicht förderlich ist, bestimmte Heuristiken zu korrigieren. Diese sollten toleriert werden, da sie keine Gefahr für das Vermögen des Anlegers darstellen. Andere Heuristiken müssen wiederum korrigiert werden, damit das Vermögen des Anlegers über die Jahre nicht gefährdet wird. Eine genaue Beschreibung dieser Erkenntnisse ist in Kapitel 10 zu finden. Marktteilnehmer basieren ihre Entscheidungen neben Heuristiken auch auf Emotionen. Emotionen beeinflussen den Entscheidungsprozess, indem sie helfen, die Vertagung von Entscheidungen zu vermeiden. Emotionen unterstützen die Entscheidungsfindung, indem sie durch ihr Wirken eine Entscheidung hervorrufen. Es wird vermutet, dass Emotionen und grundlegende Vernunft zusammen bessere Ergebnisse erzielen, als Entscheidungen die nur auf rationalen Abwägungen basieren (vgl. Elster, 1998, S. 59). Marktcharakteristika Ein weiterer Unterscheidungspunkt zwischen den beiden Theorieansätzen ist die Marktpreisbildung. Die Anhänger der neoklassischen Ökonomie betrachten die Renditeverteilung entlang einer Normalverteilung. In diesem Sinne sind die Wahrscheinlichkeiten von <?page no="92"?> 3.2 Betrachtungswechsel im Rahmen der Behavioral Finance 91 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance einzelnen Kursentwicklungen unabhängig und identisch voneinander verteilt. Diese Annahme basiert a Random Walk Theory von Bachelier (vgl. Kap. 1.2.2). Die Anhänger der Behavioral Finance lehnen diese Art der Renditeentwicklung ab und argumentieren in Richtung einer starken Abhängigkeit innerhalb des Preisbildungsprozesses („Preise haben ein Gedächtnis“). Im Bereich der Informationsverteilung manifestiert sich ein weiterer Unterschied im Be- Effizienzmarkthypothese, wonach alle Informationen in den jeweiligen Kursen enthalten sind und darüber hinaus auch allen Marktteilnehmern im gleichen Umfang zur Verfügung stehen. Die Verhaltensökonomen stellen dagegen klare Informationsasymmetrien in den Vordergrund ihrer Argumentation. Die Informationen sind weder allen Marktteilnehmern zugänglich, noch werden diese sofort in die Wertpapierkurse eingepreist. Schlussendlich unterscheidet sich das Marktverhalten in seiner Tendenz zur Ausbildung von Überreaktionen. Im Rahmen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie ergeben sich keine Überreaktionen, da sich die Marktteilnehmer rational verhalten. Marktteilnehmer, die unter Umständen dazu geneigt sind, die Preise gegen den Markt zu bewegen, würden augenblicklich von Arbitrageuren neutralisiert. Aus dem Blickwinkel der Behavioral Finance besteht eine starke Tendenz zu euphorischen oder panikartigen Kursverläufen. Dies ist eine Eigenschaft, die auch Daniel Kahneman in Bezug auf die Marktpsychologie herausgestellt hat: „ … Market has a psychology. Indeed, it has a character. It has thoughts, beliefs, moods, and sometimes stormy emotions.“ (Kahneman, zit. nach Shefrin, 2008, S. 215) Arbitragemöglichkeiten Der letzte Vergleichspunkt zielt auf die Möglichkeit, durch Arbitrage Kursverläufe auszugleichen, welche durch begrenzt rationale Marktteilnehmer verursacht werden. Dieser Ansatz zur Generierung einer Überrendite wird in Kapitel 4.1 dieses Abschnitts unter dem Ansatz „Ursachen für die Verstärkung von Spekulationsblasen“ näher erörtert. Die Neoklassiker sehen das Arbitrageprinzip zur Annäherung an Fundamentalwerte als gegeben und funktionierend an. Die Verhaltensökonomen dagegen sehen in der begrenzten Arbitragemöglichkeit beziehungsweise dem ungleichen Kampf zwischen smart investors und ordinary investors einen zentralen Ansatz für die Behavioral- Finance-Forschung (vgl. Shiller, 2003, S. 96). Die Stärke der Behavioral Finance zeigt sich in der Verdeutlichung, dass die Irrationalität an den Märkten zu substanzieller und lang anhaltender Verzerrung der Preise führen kann (vgl. Barberis & Thaler, 2005, S. 2; Daxhammer, 2006). Behavioral Finance kann damit u.a. seine Existenzberechtigung in der Beantwortung von Problemen sehen, die unter Verwendung von Modellen (z.B. Prospect Theory) die begrenzte Rationalität der Marktteilnehmer und deren Folgen erklären (vgl. Barberis & Thaler, 2005, S. 1). <?page no="93"?> 92 3 Das Investorenverhalten aus Sicht der Behavioral Finance www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 16: Gegenüberstellung der neoklassischen mit der verhaltensorientierten Ökonomie Die Diskussion über eine Paradigmenerweiterung durch die Erkenntnisse der verhaltensorientierten Kapitalmarkttheorie führte zur Verdeutlichung zahlreicher Unterschiede, u.a. in der Entscheidungsfindung der Anleger oder der Beschaffenheit des Marktes. 33..22..22 UUn ntteer rssuucchhuunnggssmmeet thhooddeen n ddeer r B Be ehhaavviioorraal l F Fi innaan nccee Die Forschungsergebnisse der Behavioral Finance basieren vornehmlich auf den Erkenntnissen aus der Verhaltensforschung. Diese werden verwendet, um Aussagen über die Kapitalmärkte zu treffen und das Marktgeschehen zu erklären. Aufgrund der Komplexität der menschlichen Verhaltensweisen mussten auch hier im Rahmen der Forschung Eingrenzungen vorgenommen werden. So beschränkt sich die Behavioral Finance auf Vorkommnisse beim individuellen Entscheidungsverhalten, die systematisch anfallen und sich nicht durch die Aktionen vieler Marktteilnehmer aufheben bzw. durch Marktkräfte verschwinden. Im Weiteren spielen bei der Behavioral-Finance-Forschung drei Faktoren eine bedeutende Rolle: Individuen (Entscheider im weiteren Sinne) Investoren (Entscheider, die an Kapitalmärkten agieren) Marktgrößen (wie Preise und Umsätze) <?page no="94"?> 3.2 Betrachtungswechsel im Rahmen der Behavioral Finance 93 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Da die Gruppe der Individuen durch die psychologische Forschung hinreichend untersucht worden ist, liegt das Hauptaugenmerk der Behavioral Finance auf Investoren und Marktgrößen. Die in der Behavioral Finance zur Anwendung kommenden Untersuchungsmethoden entwickelten sich im Laufe der Zeit von reinen Befragungen bis hin zu Simulationen, die auf neuen technologischen Möglichkeiten beruhen. Nachfolgend werden die einzelnen Untersuchungsmethoden näher erläutert (vgl. Heuser, 2008, S. 35 ff.). Befragungen Zu Beginn der Behavioral-Finance-Forschung haben Wissenschaftler die Möglichkeit von Befragungen angewendet, um bestimmte Muster ökonomischen Verhaltens erkennen zu können. Als Ergebnis sind Abkürzungen im Denkprozess sichtbar geworden, die es den Marktteilnehmern leichter machen, mit der Fülle an Informationen und Reizen am Kapitalmarkt umzugehen. So zeigten Befragungen, wie sich die Wahrscheinlichkeitseinschätzung von Probanden ändern, wenn das entsprechende Ereignis durch leicht vorstellbare Begleitumstände wahrscheinlicher wird. Beispiel 3.2: Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten Probanden bewerten die Wahrscheinlichkeit, dass der DAX um die Hälfte einbricht, ohne zusätzliche Informationen anders, als wenn der DAX aufgrund eines leicht vorstellbaren Ereignisses einbrechen würde. So wird zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit höher eingeschätzt, wenn der Einbruch des Aktienmarktes mit stark ansteigenden Ölpreisen infolge eines Krieges im Nahen Osten in Verbindung gebracht wird. Die Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten in Abhängigkeit der Vorstellbarkeit der zugrunde liegenden Ereignisse kann neben der Abkürzung einer Entscheidungsfindung auch zu massiven ökonomischen Fehleinschätzungen führen. Ist ein Szenario im Bewusstsein des Entscheiders, so wird die Wahrscheinlichkeit des Eintretens höher wahrgenommen, als dies objektiv der Fall ist. Neben den hypothetischen Fragen gibt es die Möglichkeit, die Meinungs- und Befindlichkeitsäußerungen in Umfragen zu testen. Hierbei ist jedoch besondere Vorsicht in der Interpretation notwendig, da die Antworten einer Einzelauswertung nicht ohne weiteres verallgemeinert werden können. Aussagekräftiger sind hierbei Dauerstudien, wie das „Sozioökonomische Panel - SOEP“. Es handelt sich dabei um eine jährliche Befragung seit 1984, in der ca. 11.000 Haushalte mit rund 23.000 Menschen befragt werden. Die Ergebnisse des Panels ermöglichen, Thesen zu überprüfen und neue Fragestellungen zu entwickeln. Experimente Experimente bieten eine weitere Möglichkeit, die tatsächliche Verhaltensweise von Menschen zu erforschen. Die experimentelle Wirtschaftsforschung läutete ein neues Zeitalter im ökonomischen Denken ein. In Experimenten werden bestimmte Spiele von den Teilnehmern nachgespielt, wobei es häufig um reales Geld geht. Das wohl am häufigsten <?page no="95"?> 94 3 Das Investorenverhalten aus Sicht der Behavioral Finance www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance durchgeführte Experiment ist das Ultimatum-Spiel. Es zeigt nicht nur ein Muster der Wahrnehmung der Marktteilnehmer auf, sondern lässt auch erahnen, was ihnen wichtig ist und sie antreibt. Das Ultimatum-Spiel ist ein Beispiel dafür, wie Fairness und Kooperation zwischen zwei Menschen bestehen oder verweigert werden können. Bei dem Spiel geht es darum, einen bestimmten Geldbetrag, den der Spieler A erhält, mit dem Gegenspieler B zu teilen. Nimmt der Spieler B die Offerte von Spieler A nicht an, weil dieser den angebotenen Betrag als zu wenig empfindet, dann gehen beide leer aus. So ist oftmals zu sehen, dass der Spieler B die angebotene Summe opfert, die er erhalten könnte, weil er die Teilung als ungerecht empfindet. Die Entscheidungshaltung der Spielteilnehmer variiert jedoch erheblich in Bezug auf die Höhe des eingesetzten Geldes. Das Spiel kann auch in vereinfachter Form als Diktatorspiel gespielt werden. In diesem Fall kann der Spieler B als Empfänger des Geldbetrags das Angebot des A („Diktator“) nicht mehr ablehnen, wenn dieses ihm als unfair erscheint. Auch in diesem Fall ist jedoch zu beobachten, dass die Diktatoren einen erheblichen Teil des Gesamtbetrages abgeben würden, selbst wenn dies im neoklassischen Sinne nicht streng rational wäre. Auch wenn die Experimente zahlreiche Erkenntnisse im Verhalten der Menschen zu Tage fördern, sind die Untersuchungen noch wesentlich breiter anzulegen. Dies ist notwendig, da die Laborexperimente in den meisten Fällen mit Studenten durchgeführt werden, die per se nicht als Spiegelbild der Gesellschaft angesehen werden können. Hirnmessungen Eine weitere und äußerst effektive Variante, um das tatsächliche Verhalten der Marktteilnehmer zu erkennen, bietet die moderne Hirnforschung. Die Möglichkeit hilft zu klären, welcher Teil des Gehirns tatsächlich aktiv wird, wenn ein Individuum eine Entscheidung fällt. Die Verknüpfung der Neurowissenschaften mit der Ökonomie wird auch als Neuroökonomie 10 oder im speziellen Fall als Neuro-Finance bezeichnet (vgl. Kap. 13.2). Die Aktivität einzelner Gehirnbereiche wird durch die Messung des Sauerstoffgehaltes abgebildet. Ist ein Areal im Laufe der Entscheidungsfindung stärker beansprucht, so registriert der Kernspintomograph den zusätzlichen Sauerstoffgehalt im Blut und bildet diesen mit unterschiedlichen Farben ab. Ökonomen haben durch diese Untersuchungsart die Möglichkeit zu erkennen, in welchem Gehirnareal Affekte (Gemütserregungen wie Zorn, Scham, Freude) und Emotionen hervorgerufen werden und wo bewusste Abwägungen und Vernunftentscheidungen lokalisiert werden können. 10 Neben der Neuroökonomie bildete sich auch das Neuromarketing als weiteres Wissenschaftsgebiet unter Einbezug der Erforschung des Gehirns heraus. Neuromarketing ist ein Teilgebiet des Marketings, welches neurowissenschaftliche Technologien einsetzt, zum Beispiel die funktionelle Magnetresonanztomografie. Das Ziel des Neuromarketings ist es, die bislang unsichtbaren Zustände und Prozesse, welche die Entscheidung eines potenziellen Konsumenten für oder gegen ein Produkt steuern, zu erforschen und sie in Beziehung zu sichtbaren Verhalten zu setzen. Es wird vor allem beobachtet, welche Gehirnareale durch verschiedene (Produkt-)Stimuli aktiviert werden. <?page no="96"?> 3.2 Betrachtungswechsel im Rahmen der Behavioral Finance 95 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Beispiel 3.3: Aktivität einzelner Gehirnareale in Abhängigkeit wahrgenommener Informationen Probanden wurden mehrere Produkte vorgestellt, während ihre Gehirnströme gemessen wurden. Zunächst war nur das Produkt zu sehen, anschließend kam der Preis hinzu. Die Probanden sollten sich zwischen zwei Produkten entscheiden und diese kaufen. Der Test zeigte zunächst, dass in Abhängigkeit der wahrgenommenen Informationen (Produkt vs. Preis) jeweils andere Hirnregionen aktiviert waren. War nur das Produkt zu sehen, dann dominiert der Teil des Gehirns, welcher für die Vorfreude zuständig ist. Wurde im nächsten Schritt der jeweilige Preis dargestellt, so wurde direkt der Teil des Gehirns aktiviert, der für die Erwartung von Schmerz und Geldverlust zuständig ist. Die Aktivität dieses Bereiches unterstützte die Entscheidung, nicht zu kaufen. Dieses Experiment verdeutlicht, wie Menschen bei Konsumentscheidungen zwischen dem unmittelbaren Genussgefühl, das Produkt zu erhalten, und dem unmittelbaren Schmerz, Geld abgeben zu müssen, vergleichen. Die Kreditindustrie fand eine schnelle Antwort auf diese Erkenntnisse. Kreditkarten oder Konsumentenkredite verhindern das unmittelbare Schmerzgefühl, da das Produkt nicht sofort bezahlt werden muss. Dies könnte mit erklären, warum in den USA, aber auch in Deutschland, die Verschuldung mit Kreditkarten innerhalb der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten zunimmt. Die Ergebnisse aus solchen Hirnmessungen sind sehr vielversprechend. Es ist zu vermuten, dass auf Basis der Erkenntnisse neue Theorien menschlichen Verhaltens entwickelt werden könnten. Simulationen Die vierte Möglichkeit, das tatsächlich beobachtbare Verhalten der Marktteilnehmer zu erforschen, ergibt sich aus Simulationen. Diese Option ermöglicht, Theorien computergestützt zu überprüfen und zu optimieren. Sie können eine Antwort darauf geben, wie Marktteilnehmer unter bestimmten Regeln aufeinander treffen. Ebenso ist es möglich, zu prüfen, wie sich das Ergebnis ändert, wenn die Regeln verändert werden. Der US-amerikanischer Nobelpreisträger Thomas C. Schelling gilt als ein Experte im Bereich der Simulationen. Er hat neben der Entwicklung der nuklearen Abschreckungsstrategie im Kalten Krieg auch Alltagsphänomene wie das Auseinanderfallen ethnisch gemischter Stadtteile untersucht. Beispiel 3.4: Simulation des Wertpapierhandels nach Einführung der Abgeltungssteuer Als ein Beispiel für Simulationen auf Kapitalmärkten kann die Einführung einer Abgeltungssteuer in einem fiktiven Handelsumfeld betrachtet werden. In diesem Fall kommt es zur Veränderung der Bestimmungsgröße „Besteuerung“, welche zu einer Veränderung des Handelsvolumens von Wertpapieren führen kann. Die Simulation kann als Ergebnis sowohl die Zunahme des Wertpapierhandels bis zur Einführung der zusätzlichen Besteuerung darstellen als auch die Zunahme/ Abnahme des Wert- <?page no="97"?> 96 3 Das Investorenverhalten aus Sicht der Behavioral Finance www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance papierhandels mit Einführung der Abgeltungssteuer. Ebenso ist es möglich, die Auswirkung von Werbebotschaften auf den Wertpapierhandel zu prüfen, die vor Einführung der Abgeltungssteuer gesendet werden. Durch die Behavioral Finance werden Erkenntnisse über Verhaltensweisen von Markteilnehmern gewonnen, um Aussagen über die Kapitalmärkte zu treffen und das Marktgeschehen zu erklären. Dies ist insbesondere für den Fall notwendig, wenn die (unrealistischen) Annahmen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie reale Marktbewegungen nicht hinreichend erklären können. Die Behavioral Finance bedient sich unterschiedlicher Methoden, um das Verhalten der Marktteilnehmer zu erforschen. Dazu gehören Befragungen, Experimente, Hirnmessungen sowie Simulationen. 33..22..33 DDeerr IInnvveessttoorr iimm WWaannddeell ddeerr ZZeeiitt Die Ökonomie baute ihre Fundamente mehr als zwei Jahrhunderte lang auf das Verhalten des Homo Oeconomicus. Das im Jahre 1776 von Adam Smith veröffentlichte Werk „Der Wohlstand der Nationen“ legte nicht nur den Grundstein für eine neue Wissenschaft, sondern entwarf zugleich das Bild des „erwünschten“ Marktteilnehmers im Form des vielzitierten Homo Oeconomicus. Die Konzepte und Modelle der Wirtschaftstheorien, Managementmethoden und Führungsprinzipien basieren in vielen Bereichen weiterhin auf der Prämisse, dass sich der Mensch tatsächlich so verhält, wie es von Adam Smith angenommen wurde. Die ersten Kritiken durch die Beachtung der Animal Spirits von John M. Keynes blieben weitgehend ungehört. Mit jedem Modell, mit fast jedem neuen Ergebnis mehrten sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die Widersprüche zwischen den theoretischen Vorgaben und dem beobachtbaren Verhalten der Marktteilnehmer. Der Marktteilnehmer schien demnach z.B. weniger an der Maximierung des Eigennutzes interessiert zu sein als vielmehr an der Ausrichtung seiner Reaktionen an den fairen oder unfairen Handlungen der anderen Menschen in seiner Umgebung (vgl. Elger & Schwarz, 2009, S. 49). Durch die zunehmende Einsicht, dass die Marktteilnehmer dem gesetzten Ideal nicht entsprechen, stürzt das Fundament, auf dem die neoklassische Kapitalmarkttheorie basiert, immer mehr ein. Die Wissenschaft bemüht sich um eine Anpassung des rationalen Homo Oeconomicus, um der modernen Wirtschaftswelt näher zu kommen und seinen Marktteilnehmern zu entsprechen. (vgl. Abb. 17) Das Konzept des Homo Oeconomicus Humanus hat den Vorteil, dass die Marktteilnehmer sich mit seinen Annahmen identifizieren können. Experimente mit Studenten und anderen Probenden zeigten eindeutig Abweichungen vom idealen Menschenbild der neoklassischen Kapitalmarkttheorie. Die Probanden konnten oder wollten nicht ausschließlich den Eigennutz maximieren. Sie nahmen teilweise bewusst Verluste in Kauf, um andere zu Fairness und Zusammenarbeit zu bewegen oder schlicht den eigenen moralischen Vorstellungen zu entsprechen. <?page no="98"?> 3.2 Betrachtungswechsel im Rahmen der Behavioral Finance 97 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die vorgestellten Überlegungen zeichnen ein Bild vom Marktteilnehmer, der durch Faustregeln gelenkt oft die eigenen Vorstellungen von Fairness und Rationalität verfolgt. Die neue verhaltensorientierte Kapitalmarkttheorie ist in der Lage, den Menschen aus der starren Verhaltensform des Homo Oeconomicus herauszulösen. Der Mensch wird zum beeinflussenden, aber auch zum beeinflussbaren Wesen (vgl. Heuser, 2008, S. 36 ff.). Abb. 17: Der Investor im Wandel der Zeit Der Marktteilnehmer im Sinne des Homo Oeconomicus Humanus ist weniger an der Maximierung des Eigennutzes interessiert, sondern vielmehr auch an der Ausrichtung seiner Reaktionen an den Handlungen anderer Individuen. Die neoklassische Kapitalmarktheorie reagierte auf die ersten Erkenntnisse der Behavioral Finance mit Skepsis und Ablehnung. So äußerte sich Merton Miller, der Mitbegrün- Dividend Discount Modells, zur Erkenntnis von Shefrin und Statman, dass die Dividendenzahlung den Anleger in mehreren Gesichtspunkten psychologisch leiten würde, mit deutlicher Ablehnung: „They were distracting and diverted the attention of scholars away from identifying the fundamental forces that drive markets.” (Miller, zit. nach Shefrin, 2000, S. 9) Shefrin und Statman haben argumentiert, dass die Dividendenzahlung den Investor dazu verleiten soll, eher die Dividende für Konsum zu nutzen, als die Anlage zu verkaufen, um Konsumausgaben zu finanzieren: “[…] only consume the dividend, but don’t touch the portfolio capital.“ (Shefrin und Statman, zit. nach Barberis & Thaler, 2005, S. 59) <?page no="99"?> 98 3 Das Investorenverhalten aus Sicht der Behavioral Finance www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Durch die Dividendenzahlungen für Konsumzwecke würde außerdem mögliches Bedauern verhindert, wenn verkaufte Anlagen anschließend weiter stiegen (vgl. Barberis & Thaler, 2005, S. 620). Dieses auch als Reue Aversion bezeichnete Phänomen wird in Kapitel 9.2 des 3. Abschnitts im Fokus der Betrachtung stehen. Des Weiteren hat sich Robert Merton, Nobelpreisträger und einst in der Leitung des gescheiterten LTCM Hedge Funds 11 , ablehnend gegenüber der Erkenntnis der Existenz ineffizienter Märkte geäußert: “[…] the evidence against market efficiency was premature.“ (Merton, zit. nach Shefrin, 2000, S. 10) Es mag stimmen, dass die Erkenntnisse 1987 nicht stark genug und mit ausreichenden Marktdaten unterlegt werden konnten. Die grundlegende Ablehnung gegenüber den neuen Erkenntnissen war jedoch in Anbetracht der Krise um die LTCM leichtfertig und sehr kostspielig. Die kontroverse Betrachtung effizienter Märkte erreichte ihren Höhepunkt durch eine Veröffentlichung von Fama, dem Begründer der Effizienzmarkthypothese. Der Titel der Veröffentlichung, lässt seine Einstellung gegenüber den Erkenntnissen der Behavioral Finance klar erkennen: „Efficiency Survives the Attack of the Anomalies“ (Fama, zit. nach Shefrin, 2000, S. 10) Z Zuussaammmmeennffaassssuunngg Die Erforschung emotionaler und kognitiver Verhaltensweisen führte ab 1980 zur Entstehung der Behavioral Finance als verhaltenswissenschaftliche Finanzmarktforschung. Diese neue Forschungsrichtung versucht, das Geschehen auf den Finanzmärkten unter Einbezug menschlicher Verhaltensweisen zu erklären. Die Behavioral Finance basiert auf der Erkenntnis, dass Marktteilnehmer nur zu einem begrenzt rationalem Verhalten in der Lage sind. Es kristallisiert sich ein Homo Oeconomicus Humanus heraus, der häufig durch kognitive und emotionale Limitationen beeinflusst wird. Die Prospect Theory stellt das Fundament der Behavioral Finance dar. Sie wurde 1978 von Kahneman und Tversky als deskriptive Entscheidungstheorie entwickelt. Die Theorie wurde als Alternative und Verallgemeinerung der Erwartungsnutzentheorie konzipiert. Das Wahrnehmungsverhalten der Markteilnehmer kann nicht per se als irrational bezeichnet werden. Die diesen Verhaltensweisen zugrunde liegenden Muster gelten als Teil der Rationalität eines jeden Marktteilnehmers. Die Diskussion über eine Paradigmenerweiterung durch die Erkenntnisse der verhaltensorientierten Kapitalmarkttheorie führte zur Verdeutlichung zahlreicher Unterschiede, u.a. in der Entscheidungsfindung der Anleger oder der Beschaffenheit des Marktes. 11 Long Term Capital Management - ein Hedge Fond, der in Schieflage geriet, da irrationale Bewertungen länger anhielten, als es das LTCM-Management erwartete. <?page no="100"?> Zusammenfassung 99 Durch die Behavioral Finance werden Erkenntnisse über Verhaltensweisen von Markteilnehmern gewonnen, um Aussagen über die Kapitalmärkte zu treffen und das Marktgeschehen zu erklären. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Verhalten zu erforschen; dazu gehören Befragungen, Experimente, Hirnmessungen und Simulationen. Der Marktteilnehmer im Sinne des Homo Oeconomicus Humanus ist weniger an der Maximierung des Eigennutzes interessiert, sondern vielmehr auch an der Ausrichtung seiner Reaktionen an den Handlungen anderer Individuen. <?page no="102"?> www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 44 SSppe ekkuullaatti ioonnssbbl laasseenn aallss ZZeeiicchheenn ffüürr MMaarrk kttaannoomma alliieenn Im vierten Kapitel stehen die Spekulationsblasen als Anzeichen für wiederkehrende und anhaltende Marktanomalien im Fokus der Betrachtung. Sie werden neben der Entstehung und den Ursachen für die Bildung von Spekulationsblasen die unterschiedlichen Phasen und Arten von Spekulationsblasen kennenlernen. Darüber hinaus werden Sie die Rolle des Herdentriebs als Triebfeder von Spekulationsblasen in das Gefüge wiederkehrender Marktanomalien einordnen können. Schließlich werden Sie die bedeutendsten Kapitalmarktanomalien kennenlernen, die teilweise nur kurzfristig andauern, während andere mittelbis langfristig auf den Kapitelmärkten zu beobachten sind. Spekulationsblasen - die in der Standarddefinition als eine starke und lang andauernde Fehlbewertung einer finanziellen oder realen Kapitalanlage bezeichnet werden (vgl. M. Brunnermeier/ M. Oehmke, 2012) - ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Finanzmärkte. Die erste bedeutende und dokumentierte Spekulationsblase entstand im 17. Jahrhundert in Holland als weit bekannte Tulpenmanie (1634-1637). Weitere sollten in den nächsten Jahrhunderten folgen (vgl. Kap. 5). Wie entstehen jedoch diese zumeist euphorischen und schlussendlich panikartigen Marktentwicklungen? Dieses Kapitel erkundet die Ursachen der immer wiederkehrenden Spekulationsblasen. 44..1 1 UUrrssaac ch heenn ffüürr ddiiee EEnnttsstteehhuunngg uunndd VVe errssttäär rkkuunngg vvoonn SSppeekkuullaattii-oonnssbbllaas seenn Spekulationsblasen entstehen nicht aufgrund eines plötzlichen Ereignisses. Es handelt sich um eine Verkettung vielfältiger Sachverhalte, die zu einer langfristigen Übertreibung der Wertpapierkurse, Anlagepreise oder aber auch der Wirtschaftsaktivität eines Landes führen. Ein wichtiger Aspekt, welcher berücksichtigt werden muss, um Blasen zu verstehen, ist die soziale Ansteckung durch das Boom-Denken. Sie wird durch die allgemeine Beobachtung und medialer Berichterstattung von schnell steigenden Wertpapierkursen übertragen. In der Folge entstehen Geschichten, die den Glauben an die Fortsetzung des Booms bestärken und ihm immer mehr Glaubwürdigkeit verleihen (vgl. Shiller, 2008, S. 56 ff.). Diese als Feedback-Theorie bezeichnete Entwicklung an den Kapitalmärkten ist eine der Ursachen für Spekulationsblasen. Alan Greenspan, US-Notenbankchef zwischen 1987 und 2006, erkannte im März 2008 - also nach dem Ende der Hypothekenblase in den USA -, dass es in der Tat „Begeisterung“ und „Spekulationsfieber“ gegeben habe. Er schrieb für die Financial Times: „Das eigentliche Problem ist, dass unsere Modelle […] immer noch zu einfach sind, als dass sie die gesamte Palette der bestimmenden Variablen erfassen könnten, die hinter der globalen wirtschaftlichen Realität stehen. Ein Modell muss notgedrungen von der vollständigen Detailliertheit der wirklichen Welt abstrahieren.“ (Greenspan, zit. nach Shiller, 2008, S. 42) <?page no="103"?> 102 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Greenspan hat zwar die Realität von Spekulationsblasen anerkannt, jedoch ist er ein Verfechter der Annahme geblieben, dass die formal-mathematischen Modelle die einzigen Möglichkeiten sind, die ökonomischen Vorgänge zu verstehen. Die einzige Beschränkung, die er sieht, sind nicht die Annahmen, die getroffen wurden, sondern die Beschränkung der Menge und Art der Daten sowie unsere Fähigkeit, diese auszuwerten. Die Aussage Greenspans verdeutlicht im Weiteren, dass die Mehrheit der Ökonomen die Ansteckung der Marktteilnehmer durch Ideen/ Geschichten nicht unbedingt für systematisch relevant hält. Blasenbildung entsprechend einer Epidemie Wie bereits Greenspan „Spekulationsfieber“ als Ursache für eine Blasenbildung eingeräumt hat, so lässt sich die gesellschaftliche Ansteckung mit dem Beispiel einer Epidemie beschreiben. So wie Epidemien brechen auch Spekulationsblasen von Zeit zu Zeit aus. Für die Ausbreitung einer Epidemie wurde eine Theorie entwickelt, welche es den Medizinern ermöglicht, die Epidemie besser zu verstehen: die Epidemiologie. Diese Theorie basiert im Grunde auf zwei Aspekten. Zum einen die Ansteckungsrate und zum anderen die Abklingrate. Die Ansteckungsrate gibt die Rate an, mit der die Ansteckung von Person zu Person übertragen wird. Die Abklingrate gibt die Rate an, mit der die Individuen genesen oder der Krankheit zum Opfer fallen und daher nicht mehr ansteckend sind. Wenn die Ansteckungsrate die Abklingrate übersteigt, so bricht eine Epidemie aus. Die Ansteckungsrate entwickelt sich auf Basis bestimmter Faktoren - wie z.B. die Witterung. So ist im Winter ist die Ansteckungsrate der Grippe höher, da das Virus aufgrund der niedrigen Temperaturen sich besser ausbreiten kann. In der Gesellschaft ist die Ausbreitung einer Spekulationsepidemie ähnlich. Früher oder später steigt die Ansteckungsrate aufgrund eines bestimmten Faktors über die Abklingrate und eine optimistische Markteinschätzung breitet sich aus. Die Epidemie gerät im Weiteren außer Kontrolle, sobald die Akzeptanz von Argumenten, welche die steigenden Kurse stützen, in der breiten Gesellschaft zunimmt. Beispiel 4.1: Ansteckung durch Interpretation als Form der Meinungsbildung während des Immobilienbooms Mitte der 2000er Jahre Karl Case und Robert Shiller führten im Jahre 2005 eine Erhebung unter Hauskäufern in San Francisco durch. Das Ergebnis verdeutlichte eindrücklich, wie stark die Ansichten über steigende Hauspreise eskalierten und den Immobilienboom befeuerten. Die mittlere Preissteigerung, welche die Hauskäufer für die nächsten 10 Jahre erwarteten, lag bei 9 Prozent p.a. Etwa ein Drittel der Befragten vertraten sogar Erwartungen von bis zu 50 Prozent p.a. Die Befragten haben erhebliche Preiszuwächse beobachtet und die Interpretation von anderen Hauskäufern gehört. Sie wurden scheinbar durch diese Interpretation als Form der Meinungsbildung angesteckt. <?page no="104"?> 4.1 Ursachen für die Entstehung und Verstärkung von Spekulationsblasen 103 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Das eben aufgeführte Beispiel verdeutlicht zunächst, wie stark die Einschätzung der Marktteilnehmer von anderen Investoren abhängen kann. Ein weiterer zentraler Punkt, der zur Verstärkung einer Spekulationsblase beiträgt, ist die mediale Berichterstattung. Die Medien verstärken ihre Berichterstattung mit zunehmend steigenden Kursen. Die steigenden Kurse wiederum fördern den Glauben an die Geschichte des Booms. Es kommt in Folge zu weiteren Preisanstiegen. Diese Entwicklung wird auch als Preis- Story-Preis-Schleife bezeichnet. Eine Preis-Story-Preis-Schleife kann mit der self-fulfilling prophecy verglichen werden. Bei beiden Phänomenen nehmen die Marktteilnehmer die jeweilige Entwicklung der Wertpapiere vorweg und handeln dementsprechend. Die beschriebene Feedback-Schleife kann auch in Form von Preis-Wirtschaftsaktivität- Preis-Schleifen auftreten. In diesem Fall steigt das Wirtschaftswachstum aufgrund steigender Preise, die durch zunehmenden wirtschaftlichen Optimismus zu weiteren Schleifen führt. Dadurch steigt die Wirtschafsaktivität eines Landes weiter. Die Entstehung von Spekulationsblasen muss nicht zwangsläufig auf begrenzt rationales Verhalten zurückzuführen sein. Im Anfangsstadium kann die Blase auch als Ergebnis rationalen Handelns betrachtet werden. Dies ist dann der Fall, wenn Marktteilnehmer durch Beobachtung des Verhaltens anderer Marktteilnehmer Informationen erhalten, welche diese anderen durch ihr Verhalten preisgeben. Die rationalen Marktteilnehmer würden ihre Entscheidungen auf das Handeln der anderen Marktteilnehmer gründen und durch die rationale Interpretation Informationskosten sparen und so an der Blasenbildung teilnehmen. Die anfänglich rational interpretierte Information kann sich jedoch im Nachhinein als irrtümlich beurteilt herausstellen. Dies ist dann der Fall, wenn die rationalen Marktteilnehmer die übertrieben optimistische/ pessimistische Ansicht anderer übernehmen und dadurch ihre eigenen, unabhängig gesammelten Informationen missachten. Dieses als Informationskaskade bezeichnetes Verhalten führt zum Absinken der Qualität der Informationen in der Gruppe. Dieser Qualitätsverlust tritt ein, da nun zunehmend Angehörige einer Gruppe ihre unabhängig und persönlich gesammelten Informationen missachten und sich verstärkt auf ihre allgemeine Wahrnehmung konzentrieren. Als Resultat kommen sie nicht mehr in der kollektiven Urteilsbildung der Gruppe vor, wodurch sich die Qualität der Information in der Gruppe zunehmend verschlechtert (vgl. Shiller, 2008, S. 56 ff.). Durch die allgemeine Beobachtung und mediale Berichterstattung wird das Boom- Denken oft gefördert. In der Folge entstehen Geschichten, die den Glauben an die Fortsetzung des Booms bestärken. Diese als Feedback-Theorie bezeichnete Entwicklung an den Kapitalmärkten ist eine der Ursachen für Spekulationsblasen als Folge ungezügelten Handels von Marktteilnehmern. In den Anfängen der Behavioral-Finance-Forschung dominierte die Auffassung, dass die Fehler einzelner Marktteilnehmer in der übergeordneten Marktentwicklung nicht weiter ins Gewicht fallen. Diese Sichtweise verkennt jedoch, wie systematisch Preise verzerrt werden können, wenn nicht nur einzelne Anleger, sondern die gesamte Masse der Marktteilnehmer aus dem Markt aus- oder in den Markt einsteigen. <?page no="105"?> 104 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Dies kann zur Folge haben, dass ein Börsentrend wie eine Hausse oder eine Baisse verstärkt wird. Eine Hausse kennzeichnet den Kapitalmarkt über lang anhaltend steigende Wertpapierkurse (Baisse - sinkende Wertpapierkurse). Eine durchschnittliche Hausse beträgt dabei 52 Monate, eine Baisse nur durchschnittlich 10 Monate (vgl. Kitzmann, 2009, S. 22). 44..1 1..1 1 HHeerrddeen nt trriieebb Spekulationsblasen basieren, wie im vorherigen Unterkapitel beschrieben, zumeist auf Boom-Geschichten, die durch ihre Verbreitung unter den Anlegern immer mehr Aufmerksamkeit generieren und schlussendlich die Preise in die Höhe treiben. Dabei spielen die Marktteilnehmer, die einander beobachten und sich auch dementsprechend ausrichten, eine große Rolle. Menschen, als soziale Wesen, richten sich nicht nur nach anderen aus, sie suchen auch Leitfiguren und „schwimmen mit dem Strom“. Shiller beschreibt die Bedeutung des Herdenverhaltens wie folgt: „The meaning of herd behaviour is that investors tend to do as other investors do. They imitate the behaviour of others and disregard their own information.“ (Shiller, zit. nach Redhead, 2008, S. 542) In der Masse ergeben sich Verhaltensweisen, die eine Spekulationsblase weiter antreiben können. Die wichtigsten Aussagen über den Herdentrieb werden nachfolgend aufgeführt. Diese basieren auf den Aussagen von Gustave Le Bon (1841-1931), einem der Begründer der Massenpsychologie. Massen entwickeln eine Kollektivseele - Handlungsweisen werden aufeinander abgestimmt. Es herrscht hohe Verbundenheit innerhalb der Masse. Gesamtinteresse infiziert Einzelinteressen - emotionale Ansteckung im Rahmen der Feedback-Theorie. Einfache Gefühle herrschen vor - Individuen in der Masse sind durch Impulsivität und Reizbarkeit gekennzeichnet. Meinungen und Gerüchte schaukeln sich hoch und führen zu Meinungsbildung auf Basis einzelner Gerüchte, Vermutungen. Massenphänomene sind ganz besonders beim Platzen einer Blase oder plötzlichen Kursverlusten ersichtlich. In solchen Momenten, wie es auch am 11. September 2001 und in den Folgetagen nach Wiederaufnahme des regulären Handelns an den Weltbörsen zu erkennen war, handelt die Masse bei drohenden Kursverlusten in Panik. Angst ergreift so gut wie alle Marktteilnehmer. Die Wertpapiere werden zu jedem beliebigen Preis veräußert. Durch dieses panikartige Verhalten werden im Laufe des Geschehens weitere Marktteilnehmer zur Veräußerung ihrer Wertpapiere hingerissen, wodurch noch stärkere Verluste verursacht wurden. Nach Gustave Le Bon kennzeichnet sich die Masse durch folgende Charakteristika (vgl. Le Bon & Eisler, 2007, S. 29 ff.): Schwund der bewussten und Vorherrschaft der unbewussten Persönlichkeit. Orientierung der Gedanken und Gefühle durch Suggestion sowie Ansteckung durch die anderen Marktteilnehmer. Tendenz zur unverzüglichen Verwirklichung der suggerierten Ideen. <?page no="106"?> 4.1 Ursachen für die Entstehung und Verstärkung von Spekulationsblasen 105 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Von entscheidender Bedeutung bei der Verstärkung von Spekulationsblasen ist, wie die Mehrheit der Marktteilnehmer über eine Information urteilt. In diesem Sinne spielt die bereits beschrieben mediale Berichterstattung eine große Rolle. In Börsenzeitschriften oder elektronischen Medien werden in der Regel bestimmte Aktien favorisiert, was die Marktteilnehmer zum Kauf oder Verkauf dieser Aktien verleiten kann. Wird durch bestimmte Meldungen eine übereinstimmende Wirkung auf die Masse ausgeübt, so verliert die Beachtung der Fundamentalbewertung zunehmend an Bedeutung, und die Wertpapiere werden entsprechend der Analysteneinschätzung gehandelt. Die Stimmung bestimmt das Marktverhalten der Investoren (vgl. Kitzmann, 2009, S. 20 ff.). Herdenverhalten kann in vier Kategorien unterteilt werden (vgl. Graham, 1999, S. 239 ff. und Daxhammer, Hagenbuch, 2016): Herdenverhalten auf Basis von Informationskaskaden Marktteilnehmer schließen sich der Meinung der Masse an und ignorieren ihre eigenen privaten Informationen. Dies ist der Fall, wenn die Masse bereits eine Meinung gebildet hat und die eigene Meinung die Meinung der Masse nicht umstimmen kann. Herdenverhalten auf Basis von Reputationsinteressen Aus Sorge um den eigenen Ruf vernachlässigen Marktteilnehmer eigene Informationen und schließen sich der Meinung der Gruppe an. Herdenverhalten auf Basis von Informationsquellen Marktteilnehmer verwenden Informationsquellen, von denen sie glauben, dass auch andere Marktteilnehmer diese nutzen werden. Herdenverhalten auf Basis historischer Marktbewegungen Marktteilnehmer analysieren historische Marktbewegungen und handeln dementsprechend in der Annahme, dass andere dies auch tun werden. In der Regel handelt es sich hierbei um die technische Analyse. Ein Beispiel dafür, welche Auswirkungen das Herdenverhalten auf andere Marktteilnehmer und auf den eigenen Anlageerfolg haben kann, ist in Abb. 18 ersichtlich. Sie zeigt die Entwicklung von 128 Technologiefonds im Zeitraum zwischen 1997 und 2006, in dem die Zu- und Abflüsse aus diesen Fonds gegenübergestellt werden. Ab Beginn des Jahres 1999 ließen die Anleger immer mehr Geld in Technologiefonds fließen, da die bis dahin spektakulären Erträge dem Sektor zu immer weiter wachsender Beliebtheit verhalfen. Aufgrund der beeindruckenden Wertentwicklung zur Jahrtausendwende waren die Bewertungen bereits sehr hoch. Die Kurse der Fondsanteile stiegen trotz dieses Zustandes weiter an, da immer mehr Anleger sich der Herdenbewegung anschlossen. Es bildete sich eine Blase, deren einzelne Phasen im nächsten Unterkapitel genauer betrachtet werden. Die anschließende Korrekturphase von 2001 bis 2003 ließ die Kurse fallen, und die Anleger - in klassischem Herdenverhalten - verkauften ihre Technologiefonds, womit sie ihre unbeabsichtigt irrationale Strategie „buy high, sell low“ (bei hohen Kursen kaufen, bei niedrigen verkaufen) vollendeten. <?page no="107"?> 106 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Auswirkung des Herdenverhaltens am Beispiel der Nettozuflüsse in Technologiefonds während der Dotcom Spekulationsblase Abb. 18: Entwicklung Netto-Zuflüsse in Technologiefonds 1997-2006 (vgl. UBS Wealth Management Research 2008, S. 22) In der Masse ergeben sich Verhaltensweisen, die eine Spekulationsblase weiter antreiben können. Massenphänomene sind ganz besonders beim Platzen einer Blase oder plötzlichen Kursverlusten ersichtlich. In solchen Momenten handelt die Masse bei drohenden Kursverlusten in Panik. Durch das Herdenverhalten der Markteilnehmer werden Spekulationsblasen verstärkt. Besondere Umstände, die nachfolgend als „die Grenzen der Arbitrage“ erläutert werden, verhindern, dass selbst Markteilnehmer, die das begrenzt rationale Verhalten der anderen Investoren erkennen, die Übertreibungen korrigieren. Vielmehr haben sie selbst Interesse daran, die Entwicklung in die gegebene Richtung mitzumachen und an übertriebenen Kursausschlägen mitzuverdienen. Dadurch werden Spekulationsblasen weiter verstärkt (vgl. Heuser, 2008, S. 122 ff. und Daxhammer, 2006). Der US-amerikanische Wirtschaftstheoretiker Charles Kindleberger (1910-2003) argumentiert, dass es rational sei, solange in einer Spekulation mitzumachen, solange für den Teilnehmer klar ist, dass sie sich noch in einem frühen Stadium befindet und solange man glaubt, die anderen Marktteilnehmer dächten das Gleiche (vgl. Kindleberger, 2001, S. 52). Die Frage, wie man das jeweilige Stadium einer Spekulationsblase erkennen kann, wird auch von Kindleberger nicht beantwortet und bleibt bis heute eine zentrale, ungelöste Frage, an der die Theorie und die Praxis gleichermaßen interessiert sind. <?page no="108"?> 4.1 Ursachen für die Entstehung und Verstärkung von Spekulationsblasen 107 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Bei der Analyse von Spekulationsblasen spielt die begrenzte Arbitrage eine besondere Rolle. Aus Sicht der neoklassischen Kapitalmarkttheorie würde die Arbitrage als Mechanismus Fehlbewertungen zeitnah wieder ausgleichen. Bestimmte Risiken und Kosten verhindern deren Anwendung jedoch, wodurch bestehende Markttrends verstärkt werden können. Nachfolgend werden die Grenzen der Arbitrage und die bedeutendsten Marktanomalien als weitere Ursachen für Blasenbildung erläutert. 44..1 1..2 2 GGrreennz zeenn ddeerr AArrbbiittrraaggee Die Arbitrage neoklassischen Kapitalmarkttheorie ein wirksames Mittel gegen die systematische Abweichung der Wertpapierkurse von fundamentalen Bewertungen dar. Abweichungen von fundamental gerechtfertigten Bewertungen einer Anlage werden von rational handelnden Marktteilnehmern, den Arbitrageuren, ausgeglichen. Dies erfolgt durch das Ausnutzen von Preisunterschieden beim Kauf und gleichzeitigen Verkauf eines Wertpapiers an zwei unterschiedlichen Handelsplätzen. 12 Die Abweichungen werden in der neoklassischen Interpretation von so genannten „Noise Tradern“ verursacht, eine Gruppe von Marktteilnehmern, die durch begrenzte Rationalität und unter Einfluss von Gefühlen ihre Anlageentscheidung trifft. Die Anlageentscheidungen dieser Gruppe werden häufig von Gerüchten, also „Noise“, beeinflusst. Die Arbitrageure verkörpern dagegen das Abbild des Homo Oeconomicus, der durch vollkom- Erwartungsnutzentheorie seine Entscheidungen trifft. Die Annahme, dass die Arbitrageure Fehlbewertungen korrigieren können, wird in der Literatur jedoch stark angezweifelt. Unter dem Stichwort „Limits of Arbitrage“ werden zahlreiche Gründe aufgeführt, wonach rational handelnde Marktteilnehmer nur unter erschwerten Bedingungen bzw. gar nicht in der Lage sind, Fehlbewertungen auszugleichen. Die Hauptargumente der Kritiker der Arbitragemöglichkeit (Barberis/ Thaler) basieren auf den mit der Arbitrage verbundenen Risiken und Kosten. So können andauernde Überbzw. Unterbewertungen als Resultat limitierter Arbitrage erklärt werden (vgl. Kottke, 2005, S. 13 ff.). Risiken der Arbitrage Fundamentales Risiko Schränkt die Möglichkeit der Arbitrage stark ein, da die gegenwärtige Falschbewertung einer Anlage bei Eintreffen neuer Nachrichten weitergetrieben werden kann. So kann die ursprünglich für zu niedrig erachtete Bewertung einer Anlage eine noch niedrigere Bewertung rechtfertigen. In diesem Fall läuft der Arbitrageur Gefahr, Verluste hinnehmen zu müssen. Im Weiteren kann das fundamentale Risiko der weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation des erworbenen Unternehmenswertes kaum durch den Einsatz von Derivatgeschäften bezogen auf ähnliche Unternehmen ausgeschlossen werden. 12 Damit ist grundsätzlich eine Situation gemeint, in der das gleiche Wertpapier am Handelsplatz A zu einem höheren Preis gehandelt wird als am Handelsplatz B. Es würde dann in B gekauft und gleichzeitig in A verkauft. In der Konstellation oben bezieht sich Arbitrage auf den Kauf/ Verkauf eines objektiv erkennbar unter-/ bzw. überbewerteten Wertpapiers. <?page no="109"?> 108 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Noise-Trader-Risiko Die Wirksamkeit der Arbitrage kann durch Noise Trader beschränkt werden, deren Anlageentscheidungen vielmehr auf „Rauschen“ im Markt basieren als auf tiefgründigen Analysen. Noise Trader können die Fehlbewertung einer Anlage kurzfristig weitertreiben, wodurch der Arbitrageur wiederum zusätzlichen, unkalkulierbaren Verlusten ausgesetzt ist. Zeitrisiko Mit diesem Risiko ist meist der kurze Zeithorizont des Arbitrageurs gemeint. Nachdem für das Aufspüren von Fehlbewertungen und deren ökonomisch lukrative Ausnutzung viel Know-how und Kapital benötigt werden, spricht man von einer Agency- Konstellation. Die Kapitalgeber des Arbitrageurs sind in der Regel nicht in der Lage, die Komplexität des Arbitrageprozesses zu verstehen und schätzen das Können der Agenten, der Anlagespezialisten, entsprechend der erbrachten Rendite ein. Gelingt es dem Arbitrageur aufgrund der erwähnten Risiken nicht, die erwartete Rendite im erwarteten Zeithorizont zu generieren, läuft der Arbitrageur Gefahr, dass die Kapitalgeber sich aus dem Engagement zurückziehen. In Folge sind Verluste möglich, was die Attraktivität der Arbitrage weiter begrenzt. Der Arbitrageur ist aufgrund der zeitlich begrenzten, fremden liquiden Mittel daher sehr sensibel für zusätzliche Abweichungen von fundamentalen Werten. In diesem Zusammenhang äußert sich der britische Ökonom John M. Keynes zu den Gefahren unkalkulierbarer Marktbewegungen: „Markets can remain irrational, longer than you can remain solvent.“ (Keynes, zit. nach Bodie, Kane, Marcus, 2009, S. 265) Kosten der Arbitrage Transaktionskosten Führen zur Einschränkung der ökonomischen Vorteilhaftigkeit von Arbitragegeschäften. In der Regel handelt es sich hierbei um Kommissionsgebühren sowie Bid- Ask-Spreads. Letzteres ist die Differenz zwischen Geld- und Briefkurs. Der Geldkurs steht für den Preis, zu dem ein Wertpapier verkauft werden kann, wohingegen der höher liegende Briefkurs bei der Kauftransaktion als Grundlage genommen wird. Kosten für Wertpapierleihe Im Falle von Leerverkäufen können zusätzlich Kosten für die Wertpapierleihe entstehen. Diese Kosten sind darauf zurückzuführen, dass bei Leerverkäufen der Käufer die zugrunde liegenden Aktien nicht besitzt, diese aber trotzdem zum Verkauf anbietet, da er von fallenden Kursen ausgeht. Hierbei leiht er sich die entsprechenden Wertpapiere und bezahlt dafür eine bestimmte Gebühr an den Verleiher der Wertpapiere. Sind die Kurse dann gefallen, kann das Wertpapier zu einem niedrigeren Preis erworben und an den Verleiher zurückgegeben werden. Beispiel 4.2: Entwicklung VW-Stammaktien Neben den Gebühren, die bei Leerverkäufen entstehen, können zusätzlich auch Kursrisiken für den Käufer entstehen. So erklärt sich die spektakuläre Kurssteigerung der VW-Stammaktie Ende 2008 auf bis zu 1.000 EUR, da die Leerverkäufer, die auf fallende Kurse setzten, die Papiere zu stark steigenden Kursen zurückkaufen mussten. <?page no="110"?> 4.1 Ursachen für die Entstehung und Verstärkung von Spekulationsblasen 109 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Notwendigkeit für den Rückkauf der Papiere am Kapitalmarkt bestand, da Porsche angekündigt hatte, dass sie über Optionsgeschäfte die überwiegende Mehrheit der im freien Umlauf befinden VW Aktien erworben haben. Dadurch fiel das Angebot an VW-Aktien und der Preis stieg. Sonstige Beschränkungen Gesetzliche Beschränkungen Für viele Marktteilnehmer sind Leerverkäufe nicht erlaubt, wodurch Leihgeschäfte für den Wertpapierhandel gänzlich unmöglich werden (vgl. Barberis & Thaler, 2005, S. 5 ff.). Chinesische Behörden erließen nach den verherrenden Verlusten an der Festlandbörse CSI 300 im Sommer 2015 ein Leerverkaufsverbot. Durch diese gesetzliche Einschränkung können Leerverkäufer Übertreibungen nicht korrigieren. Dass diese Maßnahmen nicht immer zielführend sind, war im Krisenherbst 2008 sichtbar. Sowohl die USA als auch Großbritannien verhängten ein Leerverkaufsverbot nach dem Kollaps von Lehman Brothers. Kurzzeitig stiegen die Notierungen, fielen allerdings bis zum Ende des Verbots am 8. Oktober weiter. So sah selbst der damalige Chef der SEC, Chris Cox, den Erlass des Leerverkaufsverbotes als größten Fehler seiner Amtszeit an (vgl. Kalhammer, 2015). Rückgabepflicht der geliehenen Wertpapiere Arbitrageure, die Leerverkäufe im Sinne einer Spekulation betreiben, können auch gezwungen sein, die geliehenen Wertpapiere an den Verleiher zurückzugeben, sofern dieser die Wertpapiere vorzeitig am Markt verkaufen möchte. In diesem Fall muss der Arbitrageur seine Position frühzeitig schließen, wodurch hohe Verluste entstehen können (vgl. Shiller, 2003, S. 97 ff.). Zusätzlich kann die Arbitrage durch institutionelle Investoren dadurch begrenzt werden, dass sie schlichtweg kein Interesse an der Rückführung einer Fehlbewertung haben. Vielmehr haben Arbitrageure oftmals den Anreiz, die Fehlbewertung durch ihre Handlung aufrechtzuerhalten bzw. auszuweiten statt diese durch ihr Wirken zu begrenzen. Dies ist der Fall, wenn Arbitrageure davon ausgehen können, dass sich die Fehlbewertung kurzfristig noch ausweiten wird. Brunnermeier und Nagel (2004) dokumentierten diese Erscheinung kurz vor dem Platzen der Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende. In ihren Untersuchungsergebnissen ist ersichtlich, dass die Hedge-Fonds bis vor dem Platzen der Blase auf der Käuferseite die starken Kurssteigerungen im NASDAQ Index ausgenutzt haben. Diese Einschätzung wird von den Erkenntnissen durch Griffin et al. (2003) bestätigt. Sie kommen zu dem Schluss, dass die institutionellen Investoren ganz besonders am steigenden Trend von NASDAQ 100 Aktien partizipierten. (vgl. Ramadorai, 2010). Beispiel 4.3: Begrenzte Arbitrage in der Praxis - Royal Dutch/ Shell Transport Die Ökonomen Froot/ Debora untersuchten 1999 die Fusion der Unternehmen Royal Dutch und Shell Transport von 1907. Die beiden Firmen fusionierten damals in einem Verhältnis von 60: 40. Die ursprünglichen Unternehmen sollten weiterhin unabhängige Einheiten darstellen und eigenständig an der Börse notieren. Die erwirtschafteten Cashflows sollten ebenfalls im Verhältnis 60: 40 aufgeteilt werden. <?page no="111"?> 110 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance In Anbetracht der Vermutung, dass der Preis den Fundamentalwert der Unternehmen darstellen soll, müsste der Marktwert des Eigenkapitals von Royal Dutch 1,5mal so hoch sein, wie der von Shell. Die Untersuchung zeigte allerdings, dass der Marktwert von Royal Dutch zwischen einer bis zu 35 Prozent niedrigeren und 15 Prozent höheren Bewertung gegenüber dem eigentlich vorgegebenen Verhältnis der Marktwerte schwankt. Diese Entwicklung führen die beiden Wissenschaftler als klaren Beleg für die begrenzte Arbitrage an. Die begrenzte Arbitrage kann zudem an der Schieflage des Hedgefonds LTCM, verdeutlicht werden. LTCM versuchte auf Basis der Arbitragetheorie (vgl. Kap. 2.1.3) Überrenditen zu erzielen. Die fälschliche Annahme, dass Fehlbewertungen in kurzer Zeit wieder ausgeglichen werden, führte jedoch zur Schieflage des Fonds und schlussendlich zu dessen Auflösung. LTCM investierte u.a. in die bis dato getrennt gelisteten Wertpapiere der heutigen Royal Dutch Shell. Entsprechend der Fusionsbedingungen sollte der Marktwert von Royal Dutch eineinhalbmal so hoch sein wie der von Shell Transport. Die Bewertung von Shell Transport war jedoch 18 Prozent tiefer als dies zu erwarten war. LTCM investierte massiv in die Bewertungsunterschiede, in der Erwartung, dass sich diese dem erwarteten Niveau anpassen würde. Die Bewertungsunterschiede passten sich entgegen der Erwartungen (Normalverteilung) nicht an, sondern vergrößterten sich zusätzlich mit der Folge, dass sich die Annahmen der Random Walk Theory nicht bewahrheiteten. Die exorbitanten Verluste von LTCM mussten durch die Intervention der US-Notebank FED gedeckt werden. Die in der Ausgangsüberlegung formulierte Hypothese, wonach die von Noise Tradern verursachte Fehlbewertungen durch Arbitrageure wieder auf den Fundamentalwert korrigiert werden, ist vor dem Hintergrund der mit der Arbitrage verbundenen Risiken und Kosten in Frage zu stellen. Fehlbewertungen können demnach nicht wie in der traditionellen Finanzmarkttheorie postuliert risikolos oder kostenfrei durch Arbitrage ausgenutzt werden. Vielmehr ist es möglich, dass Fehlbewertungen auch längerfristig Bestand haben können. In diesem Kontext fassen die beiden amerikanischen Ökonomen Barberis/ Thaler die allgemeinen Überlegungen hinsichtlich der begrenzten Arbitragemöglichkeit an den Märkten wie folgt zusammen: „In contrast, then, to straightforward-sounding textbook arbitrage, real world arbitrage entails both costs and risks, which under some conditions will limit arbitrage and allow deviations from fundamental value to persist.“ (Barberis und Thaler, zit. nach Kottke, 2005, S. 266) Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass aufgrund der begrenzten Arbitrage die Entstehung von Spekulationsblasen begünstigt wird. Das Verhalten von Noise Tradern, das entscheidend zur Blasenbildung beiträgt, kann durch Arbitrageure nicht zuverlässig verhindert werden. <?page no="112"?> 4.2 Anatomie von Spekulationsblasen nach Kindleberger/ Minsky 111 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 44..22 AAnnaattoommiie e v vo onn SSppeek kuul la attiio onnssbblla asseen n nnaacchh K Kiin nddl leebbeer rggeer r/ / MMiin nsskkyy Spekulationsblasen können sich für alle Vermögensgegenständen bilden, die an Märkten gehandelt werden. Trotz einzelner Unterschiede lassen sich die Blasen im Rückblick oft durch identifizierbare Phasen kennzeichnen, die während einer Spekulationsblase durchlaufen werden. Jede Blase tendiert dazu, fünf Phasen zu durchlaufen: Verlagerung, Kreditbeschaffung, Euphorie, kritische Phase und schließlich Abscheu. Das Fünf-Phasen-Modell (vgl. Abb. 19) wurde von den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern Charles Kindleberger und Hyman Minsky entwickelt (vgl. Montier, 2009, S. 730 ff.): Phase 1 - Verlagerung In der ersten Phase einer Spekulationsblase kommt es zu beginnenden Preissteigerungen in der jeweiligen Assetklasse. Im Weiteren ist die erste Phase oft durch einen exogenen Schock gekennzeichnet, der zu einer Verlagerung der Profitchancen von einem Sektor zu einem anderen führt. Um die neuen Profitchancen auszunutzen, nehmen Investitionen im Sektor mit den erhöhten Profitchancen schlagartig zu. Die zunehmenden Investitionen begründen die Entstehung eines Booms. Als ein exogener Faktor kann z.B. die Entstehung des Internets angesehen werden. Die Technologie versprach nicht nur, die Art, wie Geschäfte getätigt werden, zu revolutionieren, sondern auch die Lebensweise innerhalb der Gesellschaften. Phase 2 - Kreditschaffung Die zweite Phase einer Spekulationsblase führt zur Verschärfung des Booms durch endogene Faktoren. Diese können die monetäre Ausweitung und/ oder die Kreditschaffung sein. Die monetäre Ausweitung kann neben Schaffung zusätzlicher Zahlungsmittel innerhalb bestehender Bankensysteme auch außerhalb des Bankensystems erfolgen. Dies ist der Fall, wenn neue Banken/ Kreditinstitute gegründet werden oder es zu einer Expansion der persönlichen Kredite außerhalb des Bankensystems kommt. Im Laufe der zweiten Phase kommt es zum Preisanstieg innerhalb der Assetklasse. Er wird hervorgerufen durch Zunahme der Nachfrage. Auf Basis der zunehmenden Preise kommt es wie im Unterkapitel 4.1 beschrieben zu einer positiven Feedbackschleife. Es kommt zu einer sozialen Ansteckung durch das Boom-Denken. Als Resultat führen neue Investitionen zu Einkommenssteigerungen, die weitere Investitionen hervorrufen. Die monetäre Ausweitung z.B. erfolgte in den USA am Ende der High-Tech-Blase durch Senkung der US-Leitzinsen (Fed Fund Rates) auf bis zu 1 Prozent bis Mitte 2003. Diese hat die Ausweitung der Kreditschaffung im privaten Sektor maßgeblich vereinfacht und die Immobilienblase befeuert. Eine ähnliche Entwicklung ergab sich nach dem Platzen der Immobilienblase 2008. Weltweit reagierten die Notenbanken mit einer starken Reduzierung der Leitzinsen. Als mögliches Resultat waren dann 2009 und 2010 stark steigende Aktienkurse zu beobachten. Phase 3 - Euphorie Die dritte Phase ist durch zusätzliche Investitionen in die jeweilige Assetklasse als Spekulation auf weitere Preissteigerungen gekennzeichnet. Adam Smith bezeichnete ein solches Verhalten der Marktteilnehmer als „übermäßiges Handeln“. Kindleberger merkt <?page no="113"?> 112 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance an, dass das Konzept des übermäßigen Handelns lediglich der Spekulation diene. Die Marktteilnehmer überschätzen die erwarteten Renditen und erhöhen exzessiv ihre Einsätze. In diesem Kontext erwiesen sich z.B. die Analysteneinschätzungen der zukünftigen Renditen amerikanischer Unternehmen zwischen 1991 und 2002 als übertrieben. Damit die Unternehmen diese Erwartungen erfüllen konnten, stiegen die Gesamtverbindlichkeiten der Unternehmen zum erwirtschafteten Umsatz stark an, da viele Inves- Fremdkapital finanziert wurden, um die Eigenkapitalrendite zu erhöhen (leverage effect). Die Phase der Euphorie ist zudem gekennzeichnet durch die Denkweise „This time is different“. Die Marktteilnehmer betrachten oft die bislang als gültig angesehene Bewertungsverfahren als nicht mehr aussagefähig, da diese die neuen Marktentwicklungen nicht korrekt erfassen. So entstehen in dieser Phase neue Bewertungstechniken, um die nun enorm gestiegenen Aktienkurse zu rechtfertigen. Während der Dotcom-Spekulationsblase Anfang 2000 wurde in diesem Sinne die Bewertung der Unternehmen u.a. mit dem Kurs-Umsatz-Verhältnis ausgewiesen, da das übliche Kurs-Gewinn-Verhältnis für eine Bewertung aufgrund zu geringer oder fehlender Gewinne zu hoch erschien oder nicht möglich war. Im Folgenden konnte man sogar die Bewertung aufgrund von Aufrufen der Unternehmenswebsites beobachten. Die Euphorie verändert nicht nur die Bewertungsmethoden, sondern auch die Marktteilnehmer selbst. Der scheinbar endlose Anstieg der Aktienkurse resultiert in einem übermäßigen Optimismus und überhöhter Selbsteinschätzung der Marktteilnehmer. Die Investoren überschätzen ihr eigenes Wissen, Anlagerisiken werden dagegen unterschätzt. Phase 4 - kritische Phase Die vierte Phase einer Spekulationsblase wird als die kritische Phase oder auch Phase der finanziellen Not bezeichnet. In dieser Phase beschließen Unternehmensinsider, ihre Positionen zu veräußern und Gewinne einzustreichen. Folglich sind in dieser Phase signifikante Insiderverkäufe zu beobachten. Die finanzielle Not folgt gegen Ende der kritischen Phase. Mit dem Ausdruck „finanzielle Not“ wird der Umstand der zunehmenden Verschuldung eines Unternehmens umschrieben. In dieser Situation ist ein Unternehmen damit konfrontiert, dass es seine finanziellen Verpflichtungen nicht erfüllen kann. In der Regel gibt es ein Auslöser- Ereignis, welches die desolate Finanzlage des Unternehmens verdeutlicht. Kindleberger äußert sich mit Blick auf diese Phase wie folgt: „Das spezifische Signal, das die Krise auslöst, kann die Pleite einer Bank oder eines Unternehmens, das sich übernommen hat, oder auch die Aufdeckung eines Schwindels sein.“ (Kindleberger, zit. nach Montier, 2009, S. 735) Die Aufdeckung von Schwindel und Betrügereien führt meist zur eindeutigen Präferenz von Liquidität. Diese Entwicklung wurde im Rahmen der US-Bilanzfälschungsskandale um Enron und Worldcom im Jahre 2001 sichtbar. Der Anstieg der Verschuldung birgt eine große Gefahr, wenn es zum Platzen einer Spekulationsblase kommt. Wenn im Anschluss die Wirtschaft in eine Deflation gerät, die Verschuldung jedoch immer noch massiv ist, sind die Unternehmen gezwungen ihre <?page no="114"?> 4.2 Anatomie von Spekulationsblasen nach Kindleberger/ Minsky 113 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Cashflows zu erhöhen, um ihre real steigenden Verbindlichkeiten zu bedienen. Dies kann durch „Zukauf von Umsätzen“ oder dem „Verkauf von Assets“ erfolgen. Im Fall des Ersteren, kann der Marktanteil des Unternehmens dadurch erhöht werden, dass durch sinkende Verkaufspreise die Umsätze erhöht werden - die Umsätze werden sozusagen „auf Kosten des Gewinns“ vom Unternehmen zugekauft. Im Fall des „Verkaufs von Assets“ können die überschüssigen Kapazitäten ebenfalls nur zu geringeren Preisen veräußert werden. In beiden Fällen können sich die deflationären Entwicklungen verstärken. Phase 5 - Abscheu Die letzte Phase des Blasenzyklus ist gekennzeichnet durch die starke Abneigung der Marktteilnehmer gegenüber den Kapitalmärkten. Die Marktteilnehmer kapitulieren in dieser letzten Phase und veräußern verbleibende Assets zu den jeweils möglichen Preisen. Kindleberger und Minsky beschreiben diese Phase als „entartete Panik“. In dieser Phase sind die Börsen im Anschluss an Panikverkäufe durch geringe Umsätze gekennzeichnet. Die möglichen Verkäufer haben bereits verkauft und es gibt kaum mehr Marktteilnehmer, die weitere Assets verkaufen könnten und kaum Käufer, die in dieser Phase in den Markt einsteigen wollen. September 2008 kann mit dieser Phase verglichen werden. Im Rahmen der Pleite von Lehman Brothers stürzten die Aktienmärkte weltweit ab und markierten beachtliche Indextiefststände. Die entartete Panik endet in der Regel, wenn eines der drei nachfolgenden Ereignisse auftritt: Die Kurse fallen so tief, dass die Marktteilnehmer in Versuchung geraten, die Assets wieder zu kaufen. Der Handel wird unterbrochen, indem Begrenzungen für Kursrückgänge eingeführt werden. Der letzte „Sicherheitspuffer“ tritt als Käufer von Aktien auf - z.B. US-Notenbank FED. Dass die US-Notenbank FED als Käufer von Assets aus dem privaten Sektor auftritt, ist jedoch unwahrscheinlich. Ihre Statuten geben ihr keine ausdrückliche Ermächtigung Aktien zu kaufen. Sie kann im Weiteren auch keine Unternehmensanleihen, kurzfristige Schuldtitel, Hypotheken oder landwirtschaftliche Flächen kaufen. Dagegen darf sie Gold, Fremdwährungen, Akzepte von Banken und Wechsel aufkaufen. In Ausnahmefällen, darf die FED jedoch diese Regelung außer Kraft setzen (wie z.B. geschehen durch die Quantitative Easing (QE) Programme der FED zwischen November 2008 - Oktober 2014). Dafür muss das Bord of Governors zu der Erkenntnis gelangen, dass ein „ungewöhnlicher und dringender Umstand“ vorliegt. Zudem müssen mindestens fünf von sieben Gouverneuren für die Beteiligung der FED am Anleihenmarkt stimmen. Die US-Notenbank nutzt die Anpassung der Leitzinsen, zu der die Banken bei der FED Fremdkapital aufnehmen können, als wichtigste Maßnahme, um bei einem starken ökonomischen Abschwung bzw. Überhitzung die Wirtschaft zu regulieren. So wurden <?page no="115"?> 114 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 19: Anatomie einer Spekulationsblase nach Kindleberger/ Minsky <?page no="116"?> 4.3 Detailbetrachtung Spekulationsblasen und Kapitalmarktanomalien 115 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance nach dem 11. September bzw. nach dem Platzen der Immobilienkrise im Jahr 2008 die Leitzinsen auf jeweils unter 1 Prozent gesenkt. Zwischen 2009 und Ende 2015 befand sich der Leitzins auf dem niedrigsten Niveau seit Bestehen der Notenbank (zwischen 0,00 Prozent und 0,25 Prozent). Diese Zeitspanne umfasst historisch die längste Periode, in der die Notenbank die Zinsen nicht anhob. Als Reaktion auf diese letzte Phase werden oft regulatorische Bemühungen seitens der Politik sichtbar. So wurde z.B. 2002 als Reaktion auf die Bilanzfälschungsskandale um Enron der Sarbanes & Oxley Act verabschiedet. Mit Hilfe dieses Gesetzes wird der Vorstandsvorsitzende als auch der Finanzvorstand zur Beglaubigung der Geschäftszahlen verpflichtet und mit weitreichenden Haftungskonsequenzen belegt. Das Gesetz richtet sich an alle Unternehmen, die den Kapitalmarkt in den USA in Anspruch nehmen. Seit Juli 2016 ist die Market Abuse Regulation (MAR) in Kraft. Mit dieser Regulierung soll die Transparenz von Brokerempfehlungen zu Wertpapieren nachvollziehbarer gestaltet werden. So sind Brokerhäuser verpflichtet, die Historie der Einschätzungen zu einem Wertpapier im Disclaimer nach Abgabe einer schriftlichen oder telefonischen Empfehlung an die Kunden zu versenden. Hierdurch sollen Interessenkonflikte vermieden/ bwz. transparent gemacht werden (vgl. Reed, 2016). Eine Blasenbildung durchläuft meistens fünf Phasen: Verlagerung, Kreditbeschaffung, finanzielle Not, kritische Phase und schließlich Abscheu. Das Fünf-Phasen- Modell wurde von den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern Charles Kindleberger und Hyman Minsky entwickelt. 44..3 3 DDeetta aiil lbbeet tr raacchhttu unngg SSp peek ku ullaatti ioonnssbbl laasseen n uunndd KKa appi itta allmma arrkkt t- aannoomma alliieen n Spekulationsblasen weisen erhebliche Auswirkungen auf die betroffenen Volkswirtschaften auf (vgl. Kap 4.3.1). Sie zeigen sowohl positive wie auch negative Effekte auf eine Volkswirtschaft. Auf der einen Seite sind Spekulationsblasen oft Auslöser technologischer Umwälzungen, schaffen eine neue Infrastruktur und bilden die Basis für künftige Wachstumsprozesse. Auf der anderen Seite, können Spekulationsblasen die Informationsfunktion auf den Märkten einschränken sowie zu Kaufkraft- und Vertrauensverlust führen. Grundsätzlich werden in der Literatur vier unterschiedliche Arten von Spekulationsblasen unterschieden (vgl. Abb. 20). Diese unterscheiden sich jeweils nach den psychologischen Ursachen, die zu einer Blasenbildung führen (vgl. Montier, 2009, S. 782 ff.). Empirische Untersuchungen belegen zudem die Existenz von Kapitalmarktanomalien als Ursache für lang andauernde Fehlbewertungen von Aktien, die auch Spekulationsblasen auslösen können. Diese Marktanomalien beziehen sich auf Wertpapierkurse, die systematisch von ihren fundamentalen Werten abweichen. Manche Kapitalmarktanomalien verschwinden nach ihrer Entdeckung und Ausnutzung durch die Marktteilnehmer, andere wiederum werden mit der Zeit sogar verstärkt und sind fortwährend zu beobachten. <?page no="117"?> 116 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 44..33..11 BBeed deeu ut tu unngg vvoonn SSppeekkuullaat tiioonnssbbllaas seenn ffüürr V Vo ollkksswwiirrt ts scchhaaf ft te en n Entgegen der herrschenden Meinung, dass Spekulationsblasen überwiegend negative Effekte auf die Volkwirtschaften haben (EZB, 2005 S. 53; Shiller, 2005b, S. 208; Hartcher, 2006, S. 147 und Mandelbrot/ Hudson, 2004, S. 280) gibt es auch Anzeichen, dass Spekulationsblasen positive Effekte auf die Volkswirtschaften haben können. Wie in Kapitel 4.2 ersichtlich wurde, können gerade zu Beginn von Spekulationsblasen positive Effekte für Volkswirtschaften eintreten (vgl. Phase 1 und 2). Infolge immer weiter steigender Vermögenspreise wird das Vertrauen in den Markt gestärkt. Dadurch können junge Unternehmen leichter an die Börsen gebracht werden bzw. Fremdkapital beschaffen, und sie bekommen einfacher Venture Capital, was oft die Entstehung neuer Technologien und Branchen erleichtert. Im Weiteren führen Unternehmensneugründungen zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Nachfolgend sei auf die wichtigsten positiven wie negativen Effekte verwiesen (vgl. Eustermann, 2010, S. 28 ff.). Positive Effekte von Spekulationsblasen Einkommens- und Vermögenseffekt Görgens (2008) vetritt die Position, dass die langfristig steigenden Vermögenspreise zu steigenden Konsummöglichkeiten mit einer entsprechend positiven Auswirkung auf der Nachfrageseite im realen Sektor führen können. Dieser Effekt tritt sowohl bei Aktien als auch bei Immobilien ein. Ein steigender Immobilienwert ermöglicht zusätzlichen Konsum durch zusätzliche Beleihungsmöglichkeiten. Bilanzeffekt Steigende Vermögenspreise können über den Bilanzeffekt die Investitionstätigkeit beeinflussen. Grund hierfür sind die besseren Kreditkonditionen, welche die Marktteilnehmer (Haushalte und Unternehmen) aufgrund der steigenden Vermögenswerte von den kreditgebenden Banken erhalten (Bernanke und Gertler, 1999, S. 17 f). Die verbesserten Bilanzkennzahlen haben somit eine positive Auswirkung auf die Bonitätsbewertung durch die Kreditinstitute. Übertragungseffekt zwischen Aktienmärkten und Investitionsentscheidungen Portfoliotheorie einen Zusammenhang zwischen den Investitionstätigkeiten und dem Austauschverhältnis von Kapitalgütern zu anderen Gütern her. Die Formel q = MWU/ WBK stellt das Verhältnis des Marktwertes eines Unternehmens (MWU) zu dessen Wiederbeschaffungskosten (WBK) her. Nach Glichrist, Himmelberg, Huberman (2005) sind neue Investitionen rentabel, solange q > 1 ist, d.h. wenn hohe Aktienkurse den Unternehmenswert steigern, haben die Unternehmen die Möglichkeit, durch die Emission von Aktien relativ günstiges Kapital für Investitionen aufzunehmen. Im Fall von sinkenden Aktienkursen gehen dagegen Neuinvestitionen zurück. Negative Effekte von Spekulationsblasen Verlust der Informationsfunktion von Preisen Eine Spekulationsblase führt dazu, dass die Preise der Vermögenswerte sich von ihren Fundamentalwerten abkoppeln. Folglich verlieren die Preise ihre Informationsfunktion, die auf effizienten Märkten als Signal dient, um eine bestmögliche Allokation <?page no="118"?> 4.3 Detailbetrachtung Spekulationsblasen und Kapitalmarktanomalien 117 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance von Ressourcen zu gewährleisten. Dadurch kann es zu Fehleinschätzungen und Fehlsteuerungen auch seitens der Notenbanken kommen, was sich wiederum negativ auf die Stabilität des Finanzsystems auswirken kann. Verlust der Kaufkraft Wie in Phase 5 (Abscheu) aus Kapitel 4.2 ersichtlich wurde, kann es zu extremen Korrekturen der Preise kommen. Diese führen zu einem Verlust der Kaufkraft, der in der Folge zu starken Produktionsrückgängen führen kann. Mit dem Übergreifen auf die Realwirtschaft steigen Arbeitslosigkeit sowie Insolvenzen, und Kreditausfälle nehmen zu. Somit führt der Verlust der Kaufkraft zu einer Verkürzung der Aktivseite der Geschäftsbanken, wodurch die Kreditvergabe weiter erschwert wird. Vertrauensverlust der Marktteilnehmer Letztlich verursacht die Spirale sich verstärkender Negativimpulse einen nachhaltigen Vertrauensverlust der Marktteilnehmer. Investitions- und Konsumtätigkeiten nehmen merklich ab. Insgesamt kann eine gesamtwirtschaftliche Bewertung von Spekulationsblase nur durch die Aufrechnung der positiven mit den negativen Effekten erfolgen, was in der Praxis ausgesprochen schwierig sein dürfte. Als beispielhaft für Spekulationsblasen mit einem positiven Nettoeffekt gilt die Dotcom-Bubble. Diese Blase hat zwar im Nachhinein viel Kapital vernichtet, es wurden jedoch auch viele nachhaltige Arbeitsplätze in einer neuen Industrie geschaffen. So haben Unternehmen wie Google und Amazon sich zu weltweit dominierenden Technologiefirmen entwickelt und die Kursverluste im Zuge des Platzens der Blase mehr als aufgeholt. Der Börsenwert von Apple hat sich seit 2000 sogar mehr als verzwanzigfacht, womit sich die hohen Anlegererwartungen im Blasenjahr 2000 mehr als erfüllt haben. Blasen, die sich jedoch nur auf bestimmte, spezifische Spekulationsobjekte, wie Tulpen oder ganz spezielle Immobilien beziehen, weisen meistens einen negativen Nettoeffekt auf. 44..3 3..22 AArrtte en n vvoonn SSppeekkuul laatti ioonnssb bllaasse en n Spekulative Blasen lassen sich in der Regel nach bestimmten Kriterien klassifizieren. Diese Kriterien basieren auf verhaltens- und marktbedingten Einflüssen (vgl. Abb. 20 sowie Montier, 2009, S. 783 ff.). Rationale oder fast rationale Spekulationsblasen Diese Art von Blasen kennzeichnet sich dadurch, dass bei rationalen Erwartungen der Preis einer Anlage eine Funktion des erwarteten Verkaufswerts basierend auf dem Zeitpunkt der Veräußerung ist. Diese Blasen werden auch als „rationale stochastische Blasen“ bezeichnet. Es gibt zu jedem Zeitpunkt eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, wonach die Blase platzen kann. Die Marktteilnehmer wissen das, kennen jedoch den Zeitpunkt des Platzens nicht. Sofern die Marktteilnehmer in die Anlage, trotz eines möglichen Platzens, einsteigen, dann erwarten sie, dass sie die Anlage zu einem höheren Preis weiterveräußern können. Diese Verhaltensweise entspricht der Theorie des größeren Narren - nämlich dem weiteren Marktteilnehmer, der bereit ist, im Anschluss an den eigenen Kauf einen noch höheren Preis beim Weiterverkauf zu zahlen. <?page no="119"?> 118 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Verhaltens- und marktbedingte Grundlage der Blase: Fehlen von anderweitigen Anlageoptionen mit einer entsprechenden Rendite. Intrinsische Spekulationsblasen Im Gegensatz zu rationalen Blasen, die nicht unbedingt einen Bezug zu Fundamentaldaten haben, hängen intrinsische von diesen ab. Die Spekulationsblase bläht sich auf, wenn die Fundamentaldaten einer Anlage sich verbessern. Die Fundamentaldaten sind im Allgemeinen ökonomischer Natur wie z.B. die Nachfrage nach einer Anlage (Absatzmenge) oder die Höhe der Produktionskosten. Diese Art von Blasen zeichnen sich zum einen durch eine übertriebene Reaktion auf Nachrichten über die Fundamentaldaten aus, zum anderen durch die Projektion vergangener Höchststände in die Zukunft. Die Marktteilnehmer bedienen sich hierbei der Repräsentativitätsheuristik, welche im Rahmen der Informationsverarbeitung angewendet wird. Dabei werden Sachverhalte nicht nach ihrer statistischen Wahrscheinlichkeit beurteilt, sondern nach ihrer Erscheinungsweise. Bei dieser Heuristik gelangt der Marktteilnehmer zu einer verzerrten Wahrscheinlichkeitseinschätzung über die Entwicklung einer Anlage, da persönliche Erfahrungen bzw. Beobachtungen den Eintritt einer Entwicklung weit häufiger erscheinen lassen, als dies bei korrekter Analyse der tatsächlichen Wahrscheinlichkeit zutreffen würde. Als Beispiel für solch eine intrinsische Spekulationsblase sei auf die Entwicklung des Kurses für die elektronische Währung Bitcoin in 2013 verwiesen. Bis November 2013 stieg der Preis im Zuge der Spekulation gegen Peripheriländer der Eurozone und mit zunehmender medialer Aufmerksamkeit auf fast 1.000 USD an. Im Anschluss verloren Bitcoins jedoch über 75 Prozent ihres Wertes. Verhaltens- und marktbedingte Grundlage der Blase: Repräsentativität/ übermäßiger Optimismus. Launen und Moden Spekulationsblasen, die auf Basis von Launen und Moden der Gesellschaft entstehen, werden durch sozialpsychologische Faktoren verursacht. Im Fokus steht bei der Betrachtung dieser Blasenbildung die Psychologie der Marktteilnehmer im euphorischen Stadium. Die Marktteilnehmer sind stark vom Gruppenverhalten gekennzeichnet. Sie schließen sich der Mehrheitsmeinung an und unterdrücken dabei ihre eigenen Ansichten. Es herrscht ein allgemeiner Glaube an ein „neues Zeitalter“, welches durch den Glauben an einen unaufhörlichen Anstieg, z.B. der Aktienkurse gestützt wird. In diesem Umfeld kommt es zu einer weiteren Heuristik - der Overconfidence, bei der die Marktteilnehmer übertrieben optimistisch sind und zu einer gesteigerten Selbsteinschätzung ihrer Fähigkeiten kommen. Renditen werden in der Folge überschätzt, Risiken werden dagegen unterschätzt. In Kombination mit Overconfidence werden auch die Einflüsse der Repräsentativitätsheuristik sichtbar. Die Auswirkungen dieser Heuristiken werden in Kapitel 8 des dritten Abschnittes weiter vertieft. <?page no="120"?> 4.3 Detailbetrachtung Spekulationsblasen und Kapitalmarktanomalien 119 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 20: Arten von Spekulationsblasen <?page no="121"?> 120 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Beispielhaft ist hier die Entwicklung der Dotcom-Spekulationsblase zu erwähnen. Zum Zeitpunkt der Euphorie wurde empfohlen, Technologieaktien weniger riskanten Anlageformen klar vorzuziehen und diese als Langfristanlage oder sogar für die Altersvorsorge zu erwerben. Die Entwicklung der Weltbörsen zeigte im Nachhinein eine ganz andere Sichtweise von Langfristinvestments in Technologieaktien. Die überwiegende Mehrheit dieser Aktien erreichten seit dem Platzen der Dotcom-Blase im Frühling 2000 nicht mehr ihre damaligen Höchstkurse. So wird die Aktie der Deutschen Telekom im Sommer 2016 82 Prozent tiefer gehandelt als im März 2000. Die Aktie von Infineon hat sich zwar seit dem Tiefpunkt im Frühjahr 2009 (0,42 Euro) mehr als verdreißigfacht, handelt aber immer noch 80 Prozent tiefer als zu ehemals erreichten Höchstkursen von 88 Euro. Verhaltens- und marktbedingte Grundlage der Blase: Gruppenverhalten/ Wunschdenken/ übermäßiger Optimismus/ Repräsentativität. Informationsbedingte Spekulationsblasen Diese Art von Spekulationsblase ist gegeben, wenn die Aktienkurse nicht alle Informationen enthalten und folglich der fundamentale Wert vom Preis abweicht. Als Beispiel kann hier die UMTS-Auktion von Übertragunsfrequenzbereichen im August 2000 an Mobilfunkunternehmen aufgeführt werden. Während der Auktion stiegen die Notierungen von Mobilfunkanbietern in der Hoffnung, mit einer ersteigerten UMTS-Lizenz zusätzliche Profite erwirtschaften zu können. Der genaue Ausgang der Versteigerung sowie die tatsächlichen Profitaussichten waren in den Notierungen zum Zeitpunkt der Auktion jedoch noch nicht enthalten. Verhaltens- und marktbedingte Grundlage der Blase: Mangel an Informationen. Es werden grundsätzlich vier Blasenarten unterschieden. Sie können durch rationale Erwartungen entstehen und heißen entsprechend rationale Blasen; als intrinsische Spekulationsblasen, die sich stark auf Fundamentaldaten verlassen; durch die Launen und Moden der Markteilnehmer; oder sie bilden sich durch Mangel an wichtigen Informationen. 44..33..3 3 AArrtteenn vvo onn KKa appiittaallmma arrkkttaannoomma alliieenn Im Finanzmarktkontext bezeichnen Marktanomalien von den Erklärungsansätzen und Kapitalmarktmodellen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie abweichende Marktentwicklungen (vgl. Barberis & Thaler, 2005, S. 31). Die mangelhafte Auswertung von Informationen hat nicht nur auf einzelne Personen Auswirkung, sondern auch auf die generelle Informationsverarbeitung auf den Wertpapiermärkten. Infolge der fehlerhaften, unvollständigen und verzögerten Bewertung von Informationen werden Kapitalmarktanomalien sichtbar, die meistens durch das Verhalten begrenzt rationaler Marktteilnehmer hervorgerufen werden. Die Bildung spekulativer Blasen ist ein Beispiel solcher Kapitalmarktanomalien. Die Abweichungen vom rationalen Verhalten des Homo Oeconomicus bilden damit die Grundlage für die Erklärung des Investorenverhaltens durch die <?page no="122"?> 4.3 Detailbetrachtung Spekulationsblasen und Kapitalmarktanomalien 121 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Behavioral Finance (vgl. Pompian, 2006, S. 9). Begünstigt durch u.a. bessere Datenverfügbarkeit und steigende Rechenleistung von Computern gewinnt die empirische Kapitalmarktforschung im Rahmen der Finanzmarktforschung an Dynamik. Das Resultat sind immer mehr Forschungsarbeiten, die Marktverzerrungen identifizieren. Unter der Vielzahl der nachgewiesenen Anomalien befasst sich die Fachliteratur besonders mit den in Abb. 21 dargestellten Phänomenen (vgl. de Bondt / Thaler, 1989, S. 191 ff.; Daniel/ Hirshleifer/ Subrahmanyam, 1998, S. 1867 ff.; Dimson/ Mussavian, 2000, S. 5 ff.; Barberis/ Thaler, 2005, S. 24 ff.; Hirshleifer, 2001, S. 1555 ff.). Manche Kapitalmarktanomalien verschwinden nach ihrer Entdeckung und Ausnutzung durch die Marktteilnehmer. Dies kann als zumindest langfristiges Wirken des Arbitrage-Mechanismus aus Kapitel 4.1 interpretiert werden. Sie werden nachfolgend als kurzfristig andauernde Kapitalmarktanomalien beleuchtet. Andere wiederum werden mit der Zeit sogar verstärkt und sind fortwährend zu beobachten. Diese werden als mittelbis langfristig andauernde Kapitalmarktanomalien vorgestellt. Kurzfristig andauernde Kapitalmarktanomalien Nachfolgend werden die Anomalien aufgeführt, die lange Zeit für Diskussionen um die Effizienzmarkthypothese geführt haben. In der aktuellen wissenschaftlichen Literatur spielen diese Anomalien jedoch eine eher untergeordnete Rolle, da sich ihre Effekte zunehmend abgeschwächt haben bzw. die Anomalie nach kürzester Zeit abgebaut ist. Kennzahlenanomalien neoklassischen Kapitalmarkttheorie sind Renditedifferenzen zwischen Wertpapieren nach CAPM ausschließlich auf Risikounterschiede zu- Beta-Faktoren charakterisieren entsprechend die Risikounterschiede. Die Praxis zeigt jedoch, dass Renditedifferenzen zwischen Wertpapieren nicht vollständig auf Beta-Differenzen, sondern auch auf unterschiedliche Ausprägungen firmenspezifischer Kennzahlen zurückzuführen sind. Die Ausprägung dieser Kennzahlen im Vergleich zu anderen Unternehmen sagt in diesem Zusammenhang die relative zukünftige Renditeentwicklung eines Wertpapiers voraus. Zu den wichtigsten Anomalien im Bereich der Kennzahlenanomalien zählt der Value-Effekt (Buchwert/ Marktwert eines Unternehmens). Unter dem Value-Effekt werden die Erkenntnisse zusammengetragen, die besagen, dass Unternehmen mit einem niedrigen Kurs-/ Buchwert bzw. Kurs-/ Gewinnverhältnis oft Überrenditen erwirtschaften. Ebenso können Überrenditen mit Aktien von Unternehmen erwirtschaftet werden, die eine hohe Dividendenrendite besitzen. Dieser Effekt geht auf die Value-Strategie des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Benjamin Graham (1894-1976) zurück. Value-Investoren richten sich bei der Bewertung einer Aktie nach deren innerem Wert in Form des bereits erwähnten Kurs-/ Gewinnverhältnisses. Weitere Kennzahlen sind das KBV - Kurs-/ Buchwert oder der KUV - Kurs- / Umsatzwert. Unternehmen die ein niedriges KGV und/ oder eine hohe Dividendenrendite haben, werden als Value-Aktien bezeichnet. Unternehmen, die dagegen keine Dividenden zahlen und darüber hinaus auch ein hohes KGV haben, werden als Growth- Aktien bezeichnet. Die meisten Ergebnisse im Rahmen dieser Analyse sind umstritten, da eine genaue Zuordnung der Aktien oft nicht möglich ist. <?page no="123"?> 122 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 21: Überblick Kapitalmarktanomalien Kursreaktionsanomalien nach Bekanntgabe von Informationen Gemäß Markteffizienzhypothese werden neue Informationen unmittelbar nach Bekanntgabe verarbeitet und die Erwartungen über die Eintrittswahrscheinlichkeiten zukünftiger Zahlungsströme einer Aktie entsprechend angepasst. Hieraus folgt in einem vollkommenen Kapitalmarkt die unverzügliche Preisaktualisierung in Richtung des fundamental gerechtfertigten Niveaus. In der Praxis ist jedoch eine verzögerte Preisanpassung nach Bekanntgabe einer kursrelevanten Information zu beobachten, welche nicht mit der mittelstrengen Form der Konservatismus (Conservatism Bias, vgl. Kap 9.1) eine zurückhaltende Einstellung gegenüber Ergebnismeldungen der Unternehmen. Es entstehen weitere Zugewinne bei positiven Meldungen und weitere Verluste bei negativen Informationen mit schrittweiser Anpassung der zuvor konservativen Einschätzungen. Dieser von Jürgen Bernhard im Jahr 1993 festgestellte Gewinnankündigungsdrift verdeutlicht die Möglichkeit, eine Überrendite <?page no="124"?> 4.3 Detailbetrachtung Spekulationsblasen und Kapitalmarktanomalien 123 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance durch Kenntnis aller öffentlichen Informationen zu erwirtschaften (vgl. Shefrin, 2000, S. 96). Der Grund für die Anpassungsverzögerung wird darin gesehen, dass Marktteilnehmer die zukünftigen Unternehmensgewinne überwiegend aus historischen Werten ableiten und Informationen zur aktuellen Gewinnsituation eines Unternehmens nur schrittweise in die Abschätzung zukünftiger Gewinne einbeziehen. Hier wird die Abweichung von den Annahmen der Informationsverarbeitung nach Bayes deutlich (vgl. Kap. 1.2.4). Die Marktteilnehmer handeln nicht entsprechend der Bayes’schen Prämissen und ermöglichen aus diesem Grund die Entstehung von Marktanomalien. Kalenderanomalien Aktien erzielen innerhalb bestimmter, regelmäßiger Zeitabschnitte positive Überrenditen. Prominentestes Beispiel hierfür ist der Januar-Effekt. Dieser Effekt steht im Zusammenhang mit dem Kleinfirmen-Effekt. Diese Anomalie, 1981 von Rolf Banz und Marc Reinganum erstmalig dokumentiert, besagt, dass Unternehmen mit einer relativ niedrigen Marktkapitalisierung im Durchschnitt höhere Renditen erzielen als Unternehmen mit einer höheren Kapitalisierung. Aufbauend auf diese Studienergebnisse hat Reinganum 1983 die Bedeutung des Monats Januar für mögliche Überrenditen bei kleinen Unternehmen dokumentiert. Ein großer Teil der Überrendite, die diese Unternehmen erzielen, entsteht demnach in den ersten zwei Wochen im Januar. Abb. 22: Januar-Effekt SDAX “Seasonality Analysis-Report”; FactSet <?page no="125"?> 124 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Ein möglicher Grund für diese Entwicklung kann darin gesehen werden, dass Anleger Aktien von kleineren Firmen zum Jahresende veräußern und mögliche Verluste steuerlich geltend machen. Im Januar werden diese Firmen dann wieder erworben, wodurch deren Kurse steigen (vgl. Schredelseker, 2002, S. 451 f.). Vergleicht man die durchschnittliche Kursentwicklung der Jahre 2006 bis 2016 für Unternehmen im SDAX (Index für kleinere Aktiengesellschaften) mit denen im DAX, so scheint der Januareffekt für Kleinunternehmen weiterhin gegeben zu sein. Der Vergleich in Abbildung 22 zwischen DAX und SDAX zeigt eine durschnittliche Preisveränderung im Januar der letzten 11 Jahre von 1,4 Prozent im SDAX, während der DAX in der Vergleichsperiode sich im Januar mit -1 Prozent wesentlich besser entwickelt hat. Mittel-/ bis langfristig andauernde Kapitalmarktanomalien Neben Kapitalmarktanomalien, die in der Zwischenzeit an Bedeutung verloren haben, gibt es auch Anomalien, die seit vielen Jahren nachweisbar sind. Die bedeutendsten dieser Anomalien werden nachfolgend vorgestellt (vgl. Kottke, 2005, S. 18 f.). Autokorrelationsanomalien in der Renditeentwicklung Eine weitere Gruppe von Forschungsarbeiten beschäftigt sich mit Überprüfung der Vorhersagbarkeit zukünftiger Aktienkursentwicklungen auf Basis historischer Kursdaten. Der Fokus liegt hierbei neben der Rendite einzelner Wertpapiere, auch auf der Gesamtmarktebene. Die Autokorrelation (zeitlich sequentielle Abhängigkeit) von Aktien- Random Walk Theory und bricht folglich auch mit der Effizienzmarkthypothese von Fama. Im Bereich der Autokorrelation stehen der Momentum- und der Mean-Reversion-Effekt im Blickpunkt der Betrachtung. Die empirische Beobachtung, dass Aktienkurse die Tendenz aufweisen, zu ihren längerfristigen „Mittelwerten“ zurückzukehren, wird als Mean Reversion bezeichnet. Dabei entspricht dieser Mittelwert häufig dem fundamentalen Wert eines Wertpapiers. Die Abweichung von fundamental gerechtfertigten Bewertungen ist durch die von Marktteilnehmer innerhalb der Entscheidungsfindung angewendeten Heuristiken erklärbar. So haben Werner de Bondt und Richard Thaler (1985) Hinweise darauf gefunden, dass die zukünftige, langfristige Entwicklung von Wertpapieren aus der Betrachtung der vergangenen Entwicklung vorhersagbar ist. Sie haben die Aktien der NYSE (New York Stock Exchange) in Gewinner- und Verliererportfolios zusammengestellt und die Entwicklung der Wertpapiere zwischen 1926 und 1982 analysiert. Die Wissenschaftler wiesen nach, dass die Verliererportfolios gegenüber Gewinnerportfolios im Zeitabschnitt von 36 Monaten eine um 25 Prozent höhere Rendite erzielten (vgl. Shleifer (2000), S. 17). Die Abbildung 23 zeigt die überdurchschnittliche Entwicklung von ehemals Verliereraktien, und die unterdurchschnittliche Entwicklung von ehemals Gewinneraktien über mehrere Jahre hinweg. Diese als Winner-Loser-Effekt bekannte Anomalie ist beispielhaft für die Erforschung des Anlegerverhaltens durch die Behavioral Finance. <?page no="126"?> 4.3 Detailbetrachtung Spekulationsblasen und Kapitalmarktanomalien 125 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 23: Entwicklung von extremen Gewinnern und Verlieren (Vgl. Shleifer (2000), S. 17) Verfügbarkeitsheuristik (vgl. Kap. 7.1.1) erklärt werden. Zunächst sind die Marktteilnehmer gegenüber Verliereraktien zu pessimistisch und gegenüber Gewinneraktien zu optimistisch eingestellt. Sie überreagieren auf Informationen, wodurch sich die Wertpapiere von ihren fundamentalen Werten entfernen. Daraus folgt eine Übertreibung der Notierungen in beide Richtungen, da die Marktteilnehmer aufgrund der wahrgenommenen Entwicklung einer Aktie sich für den Erwerb oder den Verkauf entscheiden. Im Laufe der Zeit erfolgt dagegen eine Umkehrreaktion, und die Übertreibungen werden langsam wieder abgebaut (vgl. Shefrin, 2007, S. 270 ff.). Die Rückkehr zur fundamental gerechtfertigten Bewertung erfolgt aufgrund der bereits erwähnten Mean Reversion (vgl. Garz, Günther & Moriabadi, 2002, S. 113). Die schwache Form der Effizienzmarkthypothese, in der Überrenditen durch Kenntnis vergangener Kurse nicht möglich wären, kann dementsprechend nicht bestätigt werden. Mit Verliereraktien aus der Vergangenheit lässt sich demzufolge eine bessere Performance erzielen als mit historischen Gewinneraktien. Wie erfolgreich würde sich nun eine Mean-Reversion Investmentstrategie unter aktuellen Bedingungen erweisen? Robert Zielinski, Portfolio Analytics und Quant Spezialist im Frankfurter Büro von FactSet, ging dieser Frage nach und wandte einen ähnlichen Ansatz wie de Bondt und Thaler zur Validierung der Erkentnisse von 1985 an. Zielinski ist der Annahme von de Bondt und Thaler nachgegangen und hat dabei die Aktien des S&P 500 in Gewinnersowie Verliererportfolios unterteilt und die Entwicklung zwischen 1990-2016 analysiert. Zum Stichtag 31.12.1990 wurde festgehalten, wie sich die Dreijahresrendite (12.1987-12.1990) der Aktien in USD entwickelt hat. Das Gewinnerportfolio enthält die 50 Aktien mit der höchsten Dreijahresrendite. Das Verliererportfolio dagegen enthält die Aktien, die in den vergangenen drei Jahren am schlechtesten abgeschnitten hatten. <?page no="127"?> 126 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Aktien in den beiden Portfolien wurden nun für drei Jahre gehalten und es wurde die Rendite ermittelt. Zum nächsten Stichtag 31.12.1993, also genau nach drei Jahren wurde dieser Schritt wiederholt und es wurden die Aktien der Gewinnersowie Verliererportfolios anhand der vergangenen Dreijahresrendite ausgetauscht. Diese Aktien wurden wiederum für drei Jahre gehalten. Dieser Schritt wurde alle drei Jahre wiederholt wodurch die kumulierte Rendite über den gesamten Zeitraum ermittelt wurde. Zu beachten ist, dass die 50 Aktien des Gewinnersowie Verliererportfolios gleichgewichtet waren. D.h. alle Aktien eines Portfolios gingen mit einem Gewicht von genau 2 Prozent ein. Die Abbildung 24 zeigt die Entwicklung der Mean Reversion Strategie über den kompletten Zeitraum. Wäre im Jahr 1990 der Betrag von 1.000 USD in die schlechtesten Aktien investiert worden, so wäre im Juli 2016 ein Gesamtbetrag von 400.000 USD erwirtschaftet worden (Transaktionskosten nicht berücksichtigt), mit den Gewinneraktien hingegen lediglich knapp 80.000 USD. Voraussetzung ist die Restrukturierung und das Reinvestment der entstandenen Gewinne in das neu zu kreierende Portfolio alle drei Jahre nach dem oben beschriebenen Prinzip. Abb. 24: Entwicklung Verlierer-/ Gewinnerportfolio nach Zielinski (2016); FactSet Alpha Testing Eine ähnliche, an vielen Börsen über einen langen Zeitraum dokumentierte Kapitalmarktanomalie ist der so genannte Momentum-Effekt. Dieser wurde das erste Mal im Jahre 1993 von Jagadeesh und Titman dokumentiert. Im Gegensatz zum Winner- Loser- Effekt von de Bondt/ Thaler, bei dem die langfristige Entwicklung ehemaliger Gewinner und Verlierer betrachtet wird, baut der Moment-Effekt auf der kurzfristigen Entwicklung von Wertpapieren auf. Demnach entwickeln sich Aktien mit guter Performance in der kurzbis mittelfristigen Vergangenheit auch in der näheren Zukunft von drei bis zwölf Monaten positiv. Dementsprechend entwickeln sich Aktien, die in der kurzbis mittelfristigen Vergangenheit negativ entwickelt haben, auch in der nahen Zukunft negativ. Der Momentum-Effekt ist damit als klarer Widerspruch zur Effizienzmarkthypothese zu werten. Es wäre zu erwarten, dass bei Bekanntwerden der Anomalie Arbitrageure die <?page no="128"?> Zusammenfassung 127 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Fehlbewertung ausnutzen würden, was jedoch nicht der Fall ist (vgl. Lewis, 2008, S. 81 ff.). Weshalb dies nicht geschieht und welche Rolle die Entscheidungsfindung der Marktteilnehmer hierbei spielt, wird im Abschnitt 3 näher beleuchtet werden. Kursentwicklungsanomalien An den Wertpapiermärkten sind häufig Kursvolatilitäten zu beobachten, die mit der Random Walk Theory von Bachelier nicht vereinbar sind. Diese Kursentwicklungen stehen in keinem Verhältnis zu den Schwankungen der zugrunde liegenden Fundamentaldaten. So sind die Kursentwicklungen der Weltbörsen im Januar 2016 als mit die schlechtesten in die Historie eingegangen und mit der Entwicklung der fundamentalen Daten nicht zu erklären. Folglich können diese als Übervolatilität zu beobachtenden Kursveränderungen im Sinne der Effizienzmarkthypothese sowie der daraus abgeleitete Bewertungsansatz nur schwer erklärt werden. Vielmehr zeigen sich durch solche Kursentwicklungen die Auswirkungen des Herdenverhaltens der Marktteilnehmer, wie dies bereits in Kapitel 2.3 verdeutlicht wurde. Z Zuussaammmmeennffaassssuunngg Spekulationsblasen entstehen bei der Verkettung vielfältiger Sachverhalte, die zu einer Übertreibung der Wertpapierkurse, Anlagepreise oder aber auch der Wirtschaftsaktivität eines Landes führen. Hierbei spielt die soziale Ansteckung durch das Boom-Denken eine besondere Rolle. Sie entwickelt sich aus der allgemeinen Beobachtung und der medialen Berichterstattung von schnell steigenden Wertpapierkursen. Die Annahme, der Boom setze sich fort, wird weiter verstärkt. Es kommt in der Folge zu weiteren Preisanstiegen. Diese Entwicklung wird auch als Preis-Story-Preis-Schleife bezeichnet. Preise können durch die Gesamtheit der Marktteilnehmer, die zufällig aus dem Markt aus- oder einsteigen, beeinflusst werden. Dadurch kann ein Börsentrend wie eine Hausse oder eine Baisse verstärkt werden. Die Arbitrage stellt in der neoklassischen Kapitalmarkttheorie ein wirksames Mittel gegen die Entfernung von fundamentalen Bewertungen dar. Die Annahme, dass durch die Arbitrage Fehlbewertungen korrigiert werden können, wird in der Literatur stark angezweifelt, da diese spezifische Risiken und Kosten aufweist. Jede Blase tendiert dazu, fünf Phasen zu durchlaufen: Verlagerung, Kreditbeschaffung, Euphorie, kritische Phase und schließlich Abscheu. Das Fünf-Phasen-Modell wurde von den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern Charles Kindleberger und Hyman Minsky entwickelt. Spekulationsblasen können positive und negative Effekte auf die Volkswirtschaften haben. Überwiegen die positiven Effekte, wie die nachhaltige Schaffung von Arbeitsplätzen, die negativen Effekte, z.B. der Kaufkraftminderung, so handelt es sich um einen positiven Nettoeffekt der Spekulationsblase. Umgekehrt spricht man von einem negativen Nettoeffekt. <?page no="129"?> 128 4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien Spekulationsblasen können zudem nach vier Arten unterschieden werden. Die einzelnen Formen unterscheiden sich dabei jeweils nach den psychologischen Ursachen, die zu einer Blasenbildung führen. Man unterscheidet zwischen rationalen/ fast rationalen Spekulationsblasen, intrinsischen Spekulationsblasen, Launen und Moden sowie informationsbedingten Spekulationsblasen. Empirische Untersuchungen belegen die Existenz von Marktanomalien als Ursache für lang andauernde Fehlbewertungen von Aktien. Kapitalmarktanomalien können in zwei Gruppen eingeteilt werden - in die historischen und die persistenten. Historische Anomalien haben weitestgehend ihre Bedeutung verloren. Persistente Anomalien sind dagegen weiterhin nachweisbar - dazu gehören die Autokorrelationsanomalien sowie die Kursentwicklungsanomalien. <?page no="130"?> www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 55 HHiisstto orri isscchhee SSppe ekkuullaatti ioonnssbbl la asseenn iimm ÜÜbbe errb bl liicckk Das fünfte Kapitel steht im Zeichen historischer Finanzmarktblasen. Nach Durcharbeiten dieses Kapitels werden Sie die wichtigsten Spekulationsblasen in der Geschichte der Finanzmärkte kennen und Sie verstehen typische Eigenschaften der Kapitalmärkte, die zu Turbulenzen führen können. Sie werden zudem in der Lage sein, die Entwicklung historischer Spekulationsblasen auf Basis des Fünf-Phasen- Modells zu erklären und dieses auf aktuelle Spekulationsblasen anzuwenden. Spekulationsblasen als Folge systematischer Fehleinschätzungen haben sich nicht erst in der jüngeren Vergangenheit entwickelt. Ihre Existenz reicht zumindest in das 17. Jahrhundert zurück, als in Holland die Tulpenmanie ausbrach und erhebliches Vermögen auf die erhoffte Wertsteigerung der Tulpen gesetzt wurde. Die Börsencrashs von 2000 und 2008, als Beispiele der jüngeren Vergangenheit, zeigen wie Spekulationsblasen aus der Perspektive des Marktteilnehmerverhaltens (Entscheidungsfindung zwischen Angst und Gier) entstehen. Die Spekulationsobjekte lassen sich dabei variabel austauschen - ob Getreide, Infrastrukturprojekte wie die britische Eisenbahnmanie, technologische Innovationen während der Dotcom-Blase oder neue Finanzvehikel bei der Subprime- Blase - das Interesse der Anleger wurde geweckt, und wird auch in Zukunft durch ausgewählte Anlageklassen geweckt werden (vgl. Kalhammer, 2015). Obwohl spekulative Übertreibungen wie ein roter Faden die Geschichte der Finanzmärkte durchziehen, wird deutlich, dass die Investoren aus Fehlern nicht lernen und darüber hinaus sich auch nicht an ihre Fehler erinnern können (vgl. Garz, Günther & Moriabadi, 2002, S. 102). Zu erwähnen sind hier auch die bereits im letzten Kapitel kurz erwähnten rationalen Blasen, bei denen ein Marktteilnehmer solange teilnimmt, bis es sich abzeichnet, dass die breite Masse der Anleger ebenfalls in die Assetklasse eingestiegen ist. Der „Schwarze Freitag “ an der New Yorker Börse im Jahre 1929 wird meistens als der erste weltweit relevante Zusammenbruch einer Spekulationsblase wahrgenommen. Zudem wird oft die Meinung vertreten, dass man für die aktuelle Wirtschaftskrise nichts daraus hätte lernen können, da die Bedingungen in der heutigen Zeit sich grundlegend von denen im Jahre 1929 unterscheiden. Diese Aussage verdeutlicht, wie schnell Menschen vergessen und wie stark die Verhaltensweisen der Marktteilnehmer die Märkte beeinflussen können. Diese Ansicht vertrat auch John Kenneth Galbraith in seinem Buch „The Great Crash of 1929“: „Ich bin sicher, dass der Börsencrash von 1929 noch einmal passieren wird. Alles, was man für einen neuen Zusammenbruch braucht, ist, dass die Erinnerung an diesen Wahnsinn schwächer wird.“ (Galbraith, 1955, zit. nach Elger & Schwarz, 2009, S. 17) Alan Greenspan, Chef der amerikanischen Notenbank von 1987-2006, ist der Ansicht, dass sich Spekulationsblasen aufgrund der unveränderlichen menschlichen Natur ergeben. Entscheidend ist aus seiner Sicht, wie sie finanziert werden. Je höher die Fremdverschuldung, desto weitreichendere Folgen hat das Platzen der Blase auf die darin verwickelten Volkswirtschaften (vgl. Robb, 2014). <?page no="131"?> 130 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Neben dem Grad der Fremdfinanzierung macht nach Meinung von Karl-Heinz Thielmann, Vorstand des Analysehauses Long-term Investing Research, häufiger und systematischer Betrug eine Spekulationsblase besonders gefährlich. Mit Blick auf die Dot.com-Blase lässt sich dies an Hand mancher unseriöser Geschäftsmodelle erklären: „Mit Fantasiegeschichten wurde den Anlegern das Geld aus der Tasche gezogen, die mit den wahren Möglichkeiten des Internets nicht mehr viel zu tun hatten. Gerade Deutschland mit dem Neuen Markt entwickelte sich zu einem Magneten für Schwindelfirmen.“ (vgl. Thielmann, 2014) So gingen auch der Finanzkrise 2008 heimliche Aufweichungen der Qualitätsstandards der Banken bei der Kreditvergabe voraus - bis hin zu systematischen Fälschungen der Angaben bei Kreditanträgen. (vgl. Thielmann, 2014) De Bondt, ein wichtiger Vertreter der Behavioral Finance, stellte fest, dass Spekulationsblasen für die Marktwirtschaft besorgniserregend sein können. Sie verzerren nicht nur die Allokationsfunktion der Märkte, sondern führen auch dazu, dass die Gesellschaft das Vertrauen in die Integrität der Finanzmärkte verliert: „Asset market bubbles are worrisome because they misallocate scarce resources and because they lead to economic stagnation. Even if a bubble at first remains confined to one sector, contagion and spill-over effects can cause further damage. Bubbles also redistribute wealth. Sometimes good people get hurt. Financial earthquakes undermine the public’s trust in the integrity of the financial system.“ (de Bondt, zit. nach Forbes, 2009, S. 90) 55..1 1 MMa arrkktteei iggeennsscchhaaf ftteenn aallss AAuussllöösseerr vvoonn SSppeekkuullaat tiioonnssbbllaas seenn Benoit Mandelbrot nannte in „The (Mis)Behavior of Markets“ zehn Eigenschaften, durch die die Kapitalmärkte charakterisiert werden können (vgl. Mandelbrot & Hudson, 2004, S. 227 ff.): [1] Märkte sind turbulent. [2] Märkte sind sehr risikobehaftet, mehr als dies von der Theorie verdeutlicht wird. [3] Markttiming ist von besonderer Bedeutung. [4] Preise verkörpern starke Sprünge statt kontinuierliche Bewegungen. [5] In Märkten ist der Faktor Zeit flexibel. [6] Märkte funktionieren auf jedem Ort und zu jeder Zeit gleich. [7] Märkte sind außerordentlich volatil, Spekulationsblasen sind unvermeidbar. [8] Märkte sind irreführend. [9] Die Vorhersage von Kursen kann gefährlich sein. [10] In Märkten hat die Idee der Werthaltigkeit einer Anlage eine begrenzte Aussagekraft. Viele dieser Eigenschaften sind maßgeblich für die Vielzahl von Spekulationsblasen in der Historie der Kapitalmärkte verantwortlich und folglich für das weitere Verständnis von Spekulationsblasen wichtig. Nachfolgend wird auf sechs Markteigenschaften näher eingegangen, da diese zum Auslösen einer Blasenbildung maßgeblich beitragen können. <?page no="132"?> 5.1 Markteigenschaften als Auslöser von Spekulationsblasen 131 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Märkte sind turbulent Random Walk Theory von Louis Bachelier ab. Des Weiteren ist eine langfristige Beeinflussbarkeit der Kapitalmärkte durch die Geschäftstätigkeit der Unternehmen zu erkennen. Diese Beeinflussbarkeit führt ebenfalls dazu, dass die Märkte von Zeit zu Zeit euphorisch oder panisch reagieren können. Beispiel 5.1: Langfristige Beeinflussung der Märkte Die Einführung des Smartphones durch Apple 2007 gilt als Startschuss für die nachhaltige Veränderung der Art der Kommunikation untereinander. Andere Unternehmen wie Samsung und Huawei sprangen auf diesen Trend auf und entwickelten sich sukzessive zu ernsten Wettbewerbern auf dem Markt für Smartphones und Tablets. Ehemalige Marktführer wie Nokia, Ericcson und teilweise auch Blackberry sind die Verlierer dieses neuen langfristigen Trends. Märkte sind sehr risikobehaftet, mehr als dies von der Theorie verdeutlicht wird Entsprechend der neoklassischen Kapitalmarkttheorie sind Kursbewegungen wie der am 11. September 2001 erlebte Kurseinbruch im DAX von 8,5 Prozent schier unmöglich. Die Theorie erwartet solche Bewegungen mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 1 zu 20 Mio. Das bedeutet, dass solche Bewegungen, selbst dann nur einmal zu erwarten wären, wenn ein Marktteilnehmer im Zeitablauf von 100.000 Jahren jeden Tag handeln würde (vgl. Mandelbrot & Hudson, 2004, S. 3 ff.). Allein im Crash- Jahr 2008 gab es fünf Tage mit einem Kurseinbruch von jeweils 6,5 bis 7,2 Prozent; ähnlich auch in Folge der Brexit-Entscheidung Mitte 2016. Markttiming ist von besonderer Bedeutung Starke Gewinne sowie Verluste sind auf kurze Zeitintervalle begrenzt. So reduzieren sich die Tage, die für die Hälfte aller Kursgewinne des DAX 30 aus dem Jahr 2015 verantwortlich waren, auf 3 Tage. Preise verkörpern starke Sprünge statt kontinuierliche Bewegungen Kontinuität ist eine verbreitet zu beobachtende menschliche Annahme bezüglich der Marktprozesse. Die Märkte jedoch basieren auf unerwarteten und teils starken Sprüngen. Beispiel 5.2: Starke Sprünge statt kontinuierlicher Bewegungen 1961 veröffentlichte der MIT-Professor Stanley Alexander eine Studie, wonach die Märkte outperformt werden könnten. Seine Überlegung basiert auf der Annahme, dass, wenn der Markt um 5 Prozent steigt, der Investor in den Markt einsteigen sollte. Wenn der Markt jedoch um 5 Prozent fällt, sollte der Marktteilnehmer auf weiter fallende Preise setzen. Auf diese Weise wurde eine jährliche Überrendite von 36,8 Prozent kalkuliert, wenn der Marktteilnehmer von 1929 bis 1959 diese Taktik angewendet hätte. In der gleichen Zeit wurde eine jährliche Marktrendite von durchschnittlich 3 Prozent erreicht. Alexander ging in seinen Berechnungen jedoch davon aus, dass die Kursbewegungen kontinuierlich entwickeln würden, und sobald die 5- Prozent-Marke erreicht ist, könnte der Investor ein-/ aussteigen. <?page no="133"?> 132 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance In Realität jedoch entwickeln sich die Kurse sprunghaft. Wenn eine Aktie plötzlich um 5,5 Prozent steigt, verliert der Investor bereits 0,5 Prozentpunkte, da er nicht sofort einsteigen konnte. Gleiches erfolgt, wenn der Markt plötzlich fällt. Der Investor würde bei dieser Taktik statt 36,8 Prozent Rendite zu erwirtschaften bis zu 90 Prozent seines Kapitals im Jahr verlieren. Alexander veröffentlichte drei Jahre später einen weiteren Artikel, indem er die falschen Annahmen revidierte (vgl. Mandelbrot & Hudson, 2004, S. 235). Märkte sind außerordentlich volatil, Spekulationsblasen sind unvermeidbar Diese Aussage verdeutlicht die subjektive Wahrnehmung der Marktsituation durch die Marktteilnehmer. Bestimmte Investoren steigen in Märkte ein, wenn die Preise bereits stark gestiegen sind - sie werden auch als ordinary investors bezeichnet - und verstärken so u.U. die Entwicklung einer Spekulationsblase. Märkte sind irreführend Diese Aussage beruft sich auf den Versuch, künftige Entwicklungen aufgrund der technischen Analyse zu ermitteln. Kursverläufe stellen die Vergangenheit dar. Sie stellen jedoch keine hinreichende Deutung für die Zukunft zur Verfügung. Es gibt verschiedene Faktoren, die Markturbulenzen wie Spekulationsblasen begünstigen. Benoit Mandelbrot benennt zehn Eigenschaften, wodurch Märkte charakterisiert werden können. Demnach sind Märkte u.a. irreführend, volatil, risikobehaftet und turbulent. 55..2 2 BBeeiissppiieellee ffüürr bbeed deeuutteennddee SSppeekkuullaat tiioonnssbbllaas seenn Zahlreiche Spekulationsblasen in der Vergangenheit verdeutlichen, wie eingangs des Kapitels erwähnt, dass die Marktteilnehmer aus ihren Fehlern nicht lernen. Der Grund hierfür kann darin liegen, dass die Marktteilnehmer sich einerseits auf die staatlichen Institutionen verlassen, die die Ordnungsmäßigkeit der Transaktionen überwachen sollen. Andererseits sind die meisten Finanztransaktionen derart kompliziert, dass diese selbst von erfahrenen Marktteilnehmern nicht immer nachvollzogen werden können. Spekulationsblasen haben jedoch auch ihre Bedeutung für die Finanzierung von Unternehmen. Teilweise erhalten Pioniere am Anfang einer Entwicklung auf diese Weise notwendiges Kapital, um dies dann auch produktiv zu nutzen (vgl. Kitzmann, 2009, S. 10). So entwickelten sich Börsen im Laufe der Zeit, um mit Aktien der jeweiligen Unternehmen Risiken verteilen und große Projekte finanzieren zu können. Der Begriff „Börse“ wurde das erste Mal 1409 benutzt, als in Brügge eine solche Einrichtung gegründet wurde. Die ersten deutschen Börsen wurden 1540 in Nürnberg und Augsburg gegründet. Die Frankfurter Börse eröffnete 1585. Die Finanzierungsfunktion der Aktien war notwendig, da einzelne Kapitalgeber in der Regel nicht in der Lage waren, Bergbauvorhaben und Handelsreisen alleine zu finanzieren. Die damit verbundenen Risiken sollten auf mehrere Schultern verteilt werden. Die- <?page no="134"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 133 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance sen ursprünglichen Zweck von Aktieninvestments scheinen heutige Marktteilnehmer jedoch oft aus den Augen zu verloren haben. Aktien wurden schon bald zum Spekulationsobjekt, als 1602 die Holländisch-Ostindische Kompanie gegründet wurde. Damalige Marktteilnehmer spekulierten jedoch nicht nur auf die möglichen Kurssteigerungen, sondern vielmehr auf die Dividenden, die zwischen 25 und 75 Prozent des eingesetzten Kapitals betragen konnten (vgl. Elger & Schwarz, 2009, S. 17 ff.). 55..2 2..1 1 DDiiee TTuullppeennmmaanni iee vvoonn 11663366 Die niederländische Tulpenspekulation ist eine der berühmtesten und ältesten Spekulationsblasen. Der Ursprung der Spekulationsblase mit Tulpenzwiebeln basiert nach mehrheitlicher Meinung auf dem Diplomaten Charles de l’Écluse. Er war zu seiner Zeit ein bedeutender Botaniker des Herrscherhauses Habsburg, der einige aus der Türkei importierte Tulpenzwiebeln geschenkt bekam. Nachdem l’Écluse, wie auch alle anderen protestantischen Angestellten, vom katholischen König Maximilian II entlassen wurde, kehrte er an die holländische Universität Leiden zurück. Dort baute er unter anderem Tulpen an, die er nicht verkaufen, sondern als Heilpflanzen einsetzen wollte (vgl. FAZ, 2008c). Die Tulpenzwiebel fand ihren Weg allerdings trotzdem in die Gärten der reichen Oberschicht und schließlich in die Hände der breiten Bevölkerungsschichten. Die Tulpenmanie entwickelte sich zwischen 1633 und 1637 als die Niederlande nach dem gescheiterten Unterwerfungsversuch durch die Spanier zu einer großen Handelsmacht wurden, welche weite Teile Brasiliens und der Karibischen Inseln in Besitz nahm. Die Spekulation der Marktteilnehmer trieb den Preis für Tulpenzwiebeln um das Neunfache in die Höhe. Die Zwiebel mit dem richtigen Muster und den richtigen Farben wurden durch die Spekulationsblase zum Statussymbol. Diese Zwiebeln wiesen z.B. das Mosaik-Muster auf und waren aufgrund ihrer außergewöhnlichen Schönheit hoch gehandelt. Der Preis für gewöhnliche Tulpen war wesentlich geringer. Heute weiß man, dass das Mosaikmuster von einem Virus herrührt, der über Blattläuse übertragen wird (vgl. Shiller, 2000, S. 178). Die spektakuläre Wertsteigerung verdankten die Tulpenzwiebeln der Tatsache, dass sie gemäß den Mendelschen Gesetzen schwer zu züchten waren und damit das Angebot begrenzt war. Die fieberhafte Spekulation mit den Tulpen begann erst nach September 1636, als die Tulpenzwiebeln bereits gesteckt waren, damit sie im nächsten Frühjahr blühen konnten. Die exotischen Formen und Farben, die entscheidend für die Bewertung der Tulpen waren, wurden zuletzt im vorhergehenden Frühjahr gesehen. So fand das Bieten im November und Dezember 1636 statt, ohne dass Blüten-Exemplare vorhanden waren. Phase 1 - Verlagerung Die erste Phase der Spekulationsblase beginnt im 17. Jahrhundert, als die Tulpe aus der Türkei nach Westeuropa gebracht wurde. Die Begeisterung für diese Blume war besonders in den Niederlanden zu beobachten. Der Handel mit Tulpenzwiebeln florierte und erbrachte vor allem für außergewöhnliche Blüten hohe Wertsteigerungen. Die stark steigende Nachfrage, verbunden mit den ebenso stark steigenden Preisen, wurde durch zwei Aspekte hervorgerufen. <?page no="135"?> 134 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Zum einen stieg die Nachfrage nach Tulpen durch die aufkommende Mode in Frankreich, Kleider mit Tulpen zu schmücken. Die in der Folge beobachtbaren Preissteigerungen der Tulpenpreise lockten neue Investoren an, die in den Tulpenzwiebeln eine lukrative Geldanlage sahen. Zum anderen beruhte die ansteigende Nachfrage und die stark steigenden Preise auf der Ausweitung der Tulpenzüchtung von rein professionellen Züchtern auf alle interessierten Züchter im Jahr 1634. Der Handel dehnte sich nach und nach auf alle Einkommensschich ten aus. Phase 2 - Kreditschaffung Für Normalbürger war die Aussicht auf schnellen Reichtum verlockend. Kein Wissen, kein Grund und Boden und keine harte Arbeit war nötig: Das Einzige, was der Zwischenhändler brauchte, war Startkapital. Die Spekulationsblase im Handel mit Tulpenzwiebeln wurde hauptsächlich durch Privatkredite gespeist. Um an Investitionskapital zu gelangen, belasteten die Bürger ihre Häuser, Werkstätten und veräußerten Hof, Hab und Gut. Anzahlungen wurden oft in Form von Waren geleistet. So wurde für eine Tulpe der Sorte „Vizekönig“ zwei Ladungen Weizen, vier Ladungen Roggen, vier Ochsen, acht Schweine, zwölf Schafe, zwei Fässchen Wein, vier Tonnen Bier, 1000 Pfund Käse sowie einen Silberpokal, ein Bett und ein Anzug angeboten. Zum Höhepunkt der Spekulationsblase wurden rare Tulpenzwiebeln schließlich gegen Grachtenhäuser in Amsterdams bester Lage getauscht. Tulpenzwiebeln waren neben dem nationalen Zahlungsmittel (Gulden) als allgemeines Zahlungsmittel anerkannt (vgl. Eustermann, 2010, S. 8). Phase 3 - Euphorie Die Entstehung der dritten Phase der holländischen Spekulationsblase, die Euphorie, zeigt sich durch das Verlangen der Menschen, schnell zu großem Reichtum zu gelangen. Diese Verhaltensweise ist für das Entstehen einer Spekulationsblase oft entscheidend. Die Nachfrage nach den seltenen Tulpen stieg 1636 derart an, dass an zahlreichen Börsen wie in Amsterdam und Rotterdam eigene Handelstische für den Tulpenhandel eingerichtet wurden. Die Preisexplosion verlockte zu Zwischengeschäften und Luftbuchungen, wobei der Handel sich auch auf die Zeit zwischen September und Juni, in welcher die Tulpenzwiebel nicht verfügbar ist, ausgeweitet hatte. In dieser Zeit erfolgte der Geschäftsabschluss mittels Handelsvereinbarungen, bei denen der Käufer zum Vertragsabschluss noch nicht das notwendige Geld besaß und auch der Verkäufer noch nicht sicher sein konnte, ob sein angebotenes Handelsgut, die Tulpenzwiebeln, im Erdboden wirklich gedeihen. Zu dieser Zeit breitet sich der Tulpenhandel auch auf die ärmsten Bürger aus. Die Preissteigerungen beschleunigten sich zunehmend, wobei je nach Zwiebelart zwischen 1.260 und 5.500 Gulden bezahlt wurden. Bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen eines Großkaufmanns von 3.000 Gulden, erscheinen die gehandelten Preise für eine Zwiebel unbegreiflich hoch (vgl. Eustermann, 2010, S. 9). Handelsverträge vor 1636 wurden schriftlich vor einem Notar geschlossen, während nun der Handel solche Ausmaße annahm, dass sich die Vertragsparteien in Wirtshäusern trafen und die Verträge nur wenigen Regeln unterlagen. Floristen verkauften Tulpen, die <?page no="136"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 135 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance sie nicht liefern konnten, an Käufer, die nie die Absicht hatten, diese Zwiebeln einzupflanzen. Manche Tulpen wechselten zehnmal pro Tag den Besitzer, ohne dass auch nur einer von ihnen die Zwiebel, geschweige denn die Blüte jemals zu Gesicht bekommen hätte. Die Anleger waren fest davon überzeugt, dass die Gier nach Tulpen nie gestillt werden könnte. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten machten ihren Besitz zu Geld und investierten dieses in Tulpenzwiebeln. Phase 4 und 5 - Kritische Phase/ Abscheu Der Übergang von der vierten zur fünften Phase lässt sich für die Tulpenmanie schwer unterscheiden. Daher werden die Entwicklungen vom Höhepunkt der Spekulationsblase bis zum Absturz der Tulpenpreise gemeinsam betrachtet. Anfang 1637 wurde einigen Marktteilnehmern klar, dass das Herdenverhalten unter den Investoren nicht länger anhalten konnte. Als Bedenken aufkamen, ob drei Tulpenzwiebeln genauso viel Wert sein konnten wie eine Brauerei, wurden den meisten Händlern bewusst, dass am Ende der Spekulationsblase die letzten Spekulanten starke Verluste erleiden könnten. Diese Einschätzung bildete sich im Februar 1637 heraus, als die Kurse binnen weniger Tage rapide fielen. In kürzester Zeit war das Vertrauen der Marktteilnehmer zerstört und der Markt wurde von Panik ergriffen. Stark fallende Kurse führten dazu, dass die geforderten Preise in Auktionen nicht erzielt werden konnten. Diejenigen Investoren, die erst spät eingestiegen waren, fuhren nun plötzlich Verluste ein. Immer mehr Besitzer von Tulpenzwiebeln wollten schnell verkaufen; die Preise fielen ins Bodenlose. Der durchschnittliche Tulpenanleger verzeichnete binnen Wochen ein Minus im Depot von 95 Prozent, die meisten Derivate waren mit einem Schlag völlig wertlos geworden. Der Mehrheit der Marktteilnehmer, die anfangs bezweifelten, dass es jemals wieder Armut im Land geben könnte, wurde plötzlich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie nichts mehr besaßen außer einigen Blumenzwiebeln, die unverkäuflich waren. Dem Zusammenbruch der Blase folgten Versuche, das Vertrauen der Öffentlichkeit wiederherzustellen. So einigte man sich darauf, alle Verträge, die nach November 1636 geschlossen worden waren, zu annullieren. Marktteilnehmer, die nach dieser Zeit einen Handelsvertrag eingegangen waren, wurden von ihren Pflichten entbunden, sofern der Käufer der Blumenzwiebeln dem Verkäufer mindestens 10 Prozent der geforderten Summe zahlte. Im Weiteren wurden als vertrauensbildende Maßnahmen der Terminhandel untersagt, und es wurden Schlichtungskommissionen eingesetzt (vgl. McKay & de la Vega, 2010, S. 25 f.). Welche Auswirkungen der Crash auf die Volkswirtschaft hatte, kann im Nachhinein nicht mehr ermittelt werden. Nach einer überlieferten Statistik haben sich in Amsterdam die Zahl der Pleiten zwischen 1635 und 1637 verdoppelt. Es ist festzuhalten, dass die Tulpenmanie trotz ihrer zunächst zerstörerischen Wirkung auch langfristig konstruktive Züge offenbarte: Holland gilt heute immer noch als das Land der Tulpen mit jährlich ca. zwei Mrd. gezogenen Tulpen. <?page no="137"?> 136 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 55..22..22 DDiiee J Joohhnn--LLaaw w--SSppeekkuullaat ti ioonnssbbllaas see vvoonn 1 1771166 Die Spekulationsblase um den schottischen Ökonomen John Law gründete auf der immensen Verschuldung Frankreichs während der Herrschaft von Ludwig dem XIV. zwischen 1638 und 1715. Der Schuldenberg war so gewaltig, dass ein Staatsbankrott unausweichlich schien. Nach dem Tode von Ludwig dem XIV. im Jahre 1715 wurde die immense Verschuldung des Landes offenkundig. Da der Thronfolger zu dieser Zeit erst sieben Jahre alt war, übernahm der Herzog von Orléans bis zur Volljährigkeit des Prinzen als Regent die Regierung. Der Herzog zeichnete sich nicht durch tiefgründiges Interesse für die Staatsgeschäfte Frankreichs aus. Er empfand die Pflichten seines Amtes zunehmend als eine Last. Der schottische Ökonom John Law brachte sich während dieser Zeit mit der Forderung, das Edelmetallgeld durch Papiergeld abzulösen, ins Spiel. Er vertrat die Meinung, dass eine auf Edelmetallgeld beruhende Währung den Bedürfnissen einer exportorientierten Nation nicht genüge. Law sah im Edelmetallgeld den Grund für die schwache Wirtschaft Frankreichs, da dieses Zahlungsmittel nur in beschränktem Maße vorhanden war. Law erkannte früh die Bedeutung der Unternehmensfinanzierung auf Basis der Kreditvergabe. Er befürwortete die Erhöhung der Geldmenge, um dadurch den Produktionsprozess zu steigern und die Abhängigkeit vom Metallgeld zu senken. Sein Vorschlag, die Kreditwürdigkeit Frankreichs durch die Gründung einer eigenen Bank wiederherzustellen, stieß auf große Zustimmung seitens des Regenten. 1716 erhielt Law das Recht, die Banque Général zu gründen, die das Recht zur Ausgabe eigener Banknoten hatte. Im Gegensatz zu den Edelmetallmünzen, die fortwährend von einer beständigen Abwertung betroffen waren, wurden das von Law eingeführte Papiergeld mit bis zu 15 Prozent Aufpreis auf den Nominalwert gehandelt. Der Warenhandel erholte sich wieder, und es kehrte Vertrauen in die Wirtschaft zurück (vgl. FAZ, 2008a). Phase 1 - Verlagerung Die erste Phase der Spekulationsblase durch John Law gründete auf seinem überraschenden Erfolg, die französische Wirtschaft durch die Einführung von Banknoten zu beleben. Der Regent war vom Können Laws derart überzeugt, dass er zunehmend die Einsicht gewann, die Edelmetallwährung durch Papiergeld zu ersetzen. In dieser Zeit des ungebrochenen Vertrauens in seine Fähigkeiten schlug Law dem Regenten die Gründung der Compagnie d’Occident vor. Dieses Unternehmen sollte das Monopol auf den Handel mit der am Mississippi gelegenen Provinz Louisiana erhalten. Unter dem Boden des fruchtbaren Landes wurden wertvolle Edelmetalle vermutet (vgl. McKay & de la Vega, 2010, S. 39). Von den erfolgversprechenden Aussichten überzeugt, wurde die Gesellschaft 1717 gegründet. Das Gesellschaftskapital wurde in 200.000 Aktien aufgeteilt und interessierten Investoren angeboten. Die Aktie des Unternehmens stieg aufgrund der Erwartungen, die Region um den heutigen amerikanischen Bundesstaat Louisiana in eine wohlhabende Region zu verwandeln, stark an. Law erhielt auf Basis seiner zunächst erfolgreichen Unternehmenspläne immer mehr Privilegien. Seine Bank, welche zudem auch das Monopol für den Tabakhandel erhielt, wurde 1718 zur Königlichen Bank von Frankreich erhoben. Law arbeitete eng mit dem französischen Staat zusammen. Er nahm dessen Schulden ab und verwandelte sie in Aktien der Compagnie, mit dem Ziel, diese Privatanlegern weiterzuverkaufen. <?page no="138"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 137 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Im Gegenzug sicherte sich Law das Recht zur Eintreibung großer Teile der Steuereinnahmen. Phase 2 - Kreditschaffung Die Finanzierung der unternehmerischen Expansion gründete vornehmlich auf den Möglichkeiten, die durch die Banque Royal zur Verfügung standen. Law bediente sich an dem ihm zugestandenen Recht, Banknoten auszugeben. Durch die starke Erhöhung der Geldmenge - so wurden Noten mit einem Nennwert von einer Milliarde Livre 13 gedruckt - sowie das Betreiben von Termingeschäften stellte Law die positive Kursentwicklung der Compagnie sicher. Der Aktienkurs der Compagnie stieg entsprechend der steigenden Inflation durch die Geldmengenausweitung stark an. Vermutlich ließ sich Law vom damaligen Regenten treiben, das Land mit Papiergeld zu überschwemmen, dessen Wert früher oder später einbrechen musste. Es bleibt daher unklar, welche Schuld Law am Verstoß gegen die finanziellen Grundsätze einer vernünftigen Finanzwirtschaft insgesamt trifft. Neben dem Einfluss der Regierung wurde Laws Blick wohl auch durch den (zu Beginn) außergewöhnlichen Erfolg der Banque Royal getrübt (vgl. McKay & de la Vega, 2010, S. 40). Phase 3 - Euphorie Durch die erhebliche Ausweitung des Handelsmonopols der Compagnie wurden 50.000 neue Gesellschaftsanteile ausgegeben. Law versprach seinen Anlegern eine jährliche Dividende von 200 Livre auf jede Aktie. Die Öffentlichkeit war begeistert von den Zukunftsvisionen. Mindestens 300.000 Anleger wollten die 50.000 Anteile kaufen. Laws Haus wurden täglich von erwartungsvollen Investoren belagert. Die Hysterie um die begehrten Aktien ging so weit, dass sich manche reiche Anleger in direkter Nachbarschaft zu Law eine Wohnung gekauft hatten, um unmittelbar zu erfahren, ob sie als Aktionär ausgesucht worden waren. Bald spekulierten Menschen jeden Alters und Einkommens auf den Anstieg der Mississippi-Aktien (vgl. McKay & de la Vega, 2010, S. 42). Der Kurs der Aktie stieg manchmal innerhalb weniger Stunden um 10 oder 20 Prozent und blendete viele Menschen, auch aus bescheideneren Verhältnissen, mit der Aussicht auf schnellen Reichtum. Die Euphorie führte zu zunehmender Emission neuer Aktien der Compagnie, um die Schulden des Staates zu begleichen. Die Aktien wurden von den Anlegern im Glauben an den großen Erfolg der Unternehmen euphorisch gehandelt. Die Euphorie führte zu stark steigenden Kursen, in deren Folge sich diese innerhalb eines halben Jahres verzwanzigfachten. Ein trügerischer Wohlstand breitete sich über die Nation, sodass die Vorzeichen eines Sturms von den Wenigsten erkannt und ernst genommen wurden (vgl. McKay & de la Vega, 2010, S. 50). 13 Französische Einheit der Silberwährung; vergleichbar mit dem britischen Pfund. Die heutige Kaufkraft der Livre ist schwer zu ermitteln. Geld- und Wirtschaftssysteme sind zu verschieden, die erheblichen Warenkörbe zu sehr verändert und der Wert der Livre ist schon in historischer Zeit schleichend verfallen, um verlässliche Aussagen treffen zu können. Der oft angenommene Kurs von einer gemünzten Silber-Livre = 5 - 15 Euro dürfte wohl nur für die 1760er bis späten 1780er Jahre annähernd verwendbar sein und ist auch dann mit Vorsicht zu gebrauchen. <?page no="139"?> 138 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Phase 4 - Kritische Phase Das System funktionierte bis 1720. Warnungen aus dem Parlament, eine übermäßige Vermehrung des Papiergeldes müsse früher oder später zum Staatsbankrott führen, wurden ignoriert. Eine Illusion, die sich bald als großen Irrtum erweisen sollte. Die Gier der Bevölkerung führte dazu, dass mit steigendem Kurs der Aktien immer mehr Papiergeld ausgegeben wurde. Die kritische Phase der Spekulationsblase setzte ein, als die Anleger begannen, ihre Aktien zu hohen Kursen zu verkaufen und den Erlös in andere Anlageform en umzuschichten. Auslöser für diese s Umdenken war wohl die Entscheidung eines Anlegers, Fürst Conti, sein Aktienpaket in Münzen auszahlen zu lassen, weil sich Law geweigert hatte, ihm neue Aktien zu einem günstigen Nominalwert zu überlassen; ein Racheakt eines Anlegers, dem bald andere folgten - nicht aus Rache, sondern aus der Überzeugung, der Kurs könne nicht ewig steigen. Law war überrascht vom Verhalten der Anleger, da er nicht damit gerechnet hatte, dass die Aktien verkauft werden würden. Er ging davon aus, dass die Aktien, ähnlich wie Staatsanleihen langfristig gehalten werden. Nachdem jedoch bekannt wurde, dass in Louisiana keine Reichtümer zu finden waren, galt die Aktie der Compagnie als überbewertet und nicht weiter attraktiv. In einem Staatsrat der Minister wurde ermittelt, dass Banknoten für 2,6 Mrd. Livre in Umlauf waren, während die Münzvorräte des Landes nicht einmal die Hälfte dieses Betrags deckten (vgl. McKay & de la Vega, 2010, S. 54 ff.). Law versuchte vergeblich, sowohl dem Kursverfall als auch der Inflation entgegenzuwirken. Er fror den Aktienkurs ein und reduzierte den Wert der Banknoten um 50 Prozent. Phase 5 - Abscheu Die letzte Phase der Spekulationsblase äußerte sich in der Verzweiflung und Wut vieler Anleger, die durch den kollabierenden Aktienkurs ihr Vermögen verloren hatten. Law versuchte vergeblich, die steigende Inflation zu bekämpfen, indem er zunächst die Ausgabe neuer Banknoten durch die Banque Royale stoppte. Nach seiner Flucht aus Frankreich starb er 1729 verarmt in Venedig. Nach Jahren der Untersuchung kam man zu dem Ergebnis, dass der schottische Ökonom die Finanzlage Frankreichs nicht zusätzlich verschlimmert hatte. Der Schuldenstand im Jahre 1725 war in etwa so hoch wie im Jahre 1716, als Law seine Idee von der Abkehr vom Edelmetallgeld äußerte. Nach dem Platzen der Spekulationsblase wurde das Papiergeld wieder vom Edelmetallgeld abgelöst. Im Weiteren führte der Zusammenbruch der Aktienspekulation zur Veränderung der Einkommensverteilung. Diese Entwicklung ist in den meisten großen Finanzkrisen zu beobachten. Spekuliert hatten vor allem Reiche, und einige von ihnen waren am Ende von Laws „Finanzsystem“ deutlich weniger vermögend. 55..22..3 3 DDiiee SSüüddsse eeessp peekkuullaattiioonnssb bllaassee vvoonn 11772200 Die Südseespekulationsblase basierte auf dem Versuch, die Staatsschulden durch ein Unternehmen refinanzieren zu lassen. So sollten die britischen Staatsschulden durch die South Sea Company refinanziert werden. Die Gesellschaft erhielt zwar das Monopol zum Handel mit großen Teilen Südamerikas, der eigentliche Geschäftszweck bestand jedoch darin, einen Anteil der britischen Staatsschulden zu übernehmen. <?page no="140"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 139 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Für die Übernahme von ca. 1/ 3 der Staatschulden erhielt die Gesellschaft eine Verzinsung von 6 Prozent und die Erlaubnis, zur Finanzierung der Schuldenübernahme eigene Aktien emittieren zu dürfen. Das gewährte Monopol zum Handel mit Südamerika erzeugte die Hoffnung auf starke Nachfrage nach britischen Gütern auf dem südamerikanischen Kontinent, wodurch die Erwartung auf steigende Gewinne unterstützt wurde (vgl. Kindleberger, 2001, S. 53). Jedermann malte sich phantastische Reichtümer aus, die an den Küsten Südamerikas auf die Kaufleute warteten: Man hielt Gold- und Silberminen Perus und Mexikos für unerschöpflich. Die Gesellschafter der Company brachten Gerüchte in Umlauf, wonach britische Güter von den Einheimischen in Südamerika mit Edelmetallen von vielfachem Wert belohnt würden. Zusätzlich wurde ein falscher Bericht in Umlauf gebracht, wonach Spanien angeblich dazu bereit war, die spanischen Häfen in Amerika für englische Handelsschiffe zu öffnen (vgl. McKay & de la Vega, 2010, S. 72). Die Möglichkeit, in Südamerika Handel zu betreiben, wurde wie eine Lizenz zum Gelddrucken betrachtet. Entsprechend stieg der Kurs der Gesellschaft von 100 Pfund Anfang 1720 auf mehr als 1.000 Pfund bis August des gleichen Jahres (vgl. FAZ, 2008c). Phase 1 - Verlagerung Insgesamt beliefen sich die Verbindlichkeiten des Staates 1711 auf fast zehn Mio. Pfund, die u.a. durch die Entlassung der Whig-Regierung entstanden waren. Ihren Anfang nahm die Südseeblase im Jahr 1711, als Robert Harley, Graf von Oxford, die South Sea Company ins Leben rief (vgl. McKay & de la Vega, 2010, S. 71). Ein Zusammenschluss von Kaufleuten und Mitbegründern der neuen South Sea Company übernahm die eben genannten Schulden. Die erste Phase der Spekulationsblase begann im Jahr 1719, als die South Sea Company zum zweiten Mal Staatsschulden übernahm und dies durch die Emission neuer Aktien finanzierte. Die Nachfrage nach den Aktien wurde durch die Tatsache gesteigert, dass nahezu ein Viertel der emittierten Aktien durch Mitglieder des britischen Parlaments erworben wurden. Dies verlieh der Anlage einen zusätzlich offiziellen Charakter. 1720 einigten sich die South Sea Company und der britische Staat auf die Übernahme von 1/ 3 der Staatschulden, die sich zu diesem Zeitpunkt auf 30,9 Mio. Pfund beliefen (vgl. McKay & de la Vega, 2010, S. 74) 14 . Die Kompanie war bereit, diese Schulden gegen jährliche Zinszahlungen von 6 Prozent zu übernehmen, die ihr bis 1927 garantiert werden sollten. Phase 2 - Kreditschaffung Für die Übernahme der Schulden wurde vereinbart, dass die Gesellschaft unbegrenzt Kapital aufnehmen könne. Ein entsprechendes Gesetz wurde verabschiedet, wodurch die Gesellschaft Aktien im Nominalwert von insgesamt 31,5 Mio. Pfund emittieren konnte. Die South Sea Company baute ihre Finanzstärke zunächst auf die Sword Blade Bank, deren Gesellschafter John Blunt und George Caswell zu den Gründern der Company zählten. Die Finanzierung der britischen Staatsschulden erfolgte durch die Emis- 14 Die derzeitige Kaufkraft ist heute nicht ermittelbar. <?page no="141"?> 140 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance sion von Aktien der South Sea Company. Zwar erzielte die Gesellschaft kaum Einnahmen aus dem Handel mit den südamerikanischen Ländern, aber als Finanzeinrichtung wurde sie bald sehr beliebt. So beliebt, dass ihre Direktoren sich von Laws Mississippi- Projekt, das in Frankreich Investoren ähnlich wie in England begeisterte, inspirieren ließen - auch dann noch, als das Scheitern von Laws Projekt in Frankreich sich abzeichnete (vgl. McKay & de la Vega, 2010, S. 73). Ganz dem Glauben verfallen, in England würde alles anders sein und die Kredite könnten immer weiter gestreckt werden, gaben sich die Engländer der Spekulation hin. Phase 3 - Euphorie Die dritte Phase der Spekulationsblase, die Euphorie, begann durch die wiederholte Emission neuer Aktien zu immer höheren Kursen. Darüber hinaus wurde das Interesse an der Gesellschaft durch gezielte Äußerungen der Geschäftsleitung über hochprofitable Geschäfte sowie hohen Dividendenzahlungen in die Höhe getrieben. Von 100 Pfund Anfang 1720 verzehnfachte sich der Wert bis August 1720 auf mehr als 1.000 Pfund. Es war die Rede von Verträgen mit Spanien, das England den Freihandel mit all seinen Kolonien ermöglichen würde, und davon, dass Silber als wertvoller Rohstoff bald genauso reichlich abgeschöpft werden könnte wie Eisen (vgl. McKay & Vega, 2010, S. 75). Das Interesse an der South Sea Company war so groß, dass Ratenzahlungen bei der Emission der Aktien vereinbart wurden und die Anlagen durch Kredite finanziert wurden. Es brach eine Südseemanie aus, bei der alles was mit der Thematik zu tun hatte, auf starke Nachfrage stieß. In dieser Zeit wurden zahlreiche Unternehmen gegründet, die am Erfolg der Südseemanie teilhaben wollten. Ähnlich wie später zu Zeiten des Neuen Marktes am deutschen Aktienmarkt im Jahr 2000 konnten Anleger selbst für skurrilste Geschäftsideen begeistert werden. Die Kurssteigerungen rund um die South Sea Company führten auch zur steigenden Nachfrage auf anderen Märkten. Die Investition in andere Unternehmen stellte jedoch eine Gefahr für die South Sea Company dar. Um die Nachfrage nach ihren neu zu emittierenden Aktien nicht zu gefährden, erreichte die Gesellschaft, dass das britische Parlament im Juni 1720 ein Gesetz erließ, welches die Gründung und Ausdehnung von „unberechtigten“ Unternehmen verbot. Phase 4 - Kritische Phase Das als „Bubble Act “ bezeichnete Gesetz von Juni 1720 markiert einen Wendepunkt innerhalb der Südseespekulationsblase. Dieses Gesetz untersagte die Bildung neuer Kapitalgesellschaften ohne ausdrückliche Zustimmung des britischen Parlaments. Diese Vorsichtsmaßnahme, die zum Schutze der South Sea Company eingeführt wurde, war notwendig, da in Anbetracht der scheinbar grenzenlosen Handelsmöglichkeiten mit Südamerika zahlreiche Unternehmen gegründet wurden. Diese Aktiengesellschaften schossen aus dem Boden - einige von ihnen blähten sich als Spekulationsblasen in weniger als ein oder zwei Wochen auf und platzten. Die kuriosesten Vorhaben wurden in Angriff genommen, um Aktien auf den Markt zu werfen und den Kurs hochzutreiben. Es gab sogar eine Gesellschaft, die gegründet wurde, ohne dass deren Gründer verriet, worin ihr Geschäftszweck bestand. Investoren gab es trotzdem, bis sich alsbald der Gründer mit den Anzahlungen der Aktionäre absetzte (vgl. McKay & de la Vega, 2010, S. 79 ff.). Um diesen Bubbles vorzubeugen, wurden, neben dem Verbot, neue Unternehmen zu <?page no="142"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 141 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance gründen, auch bereits bestehende börsennotierte Unternehmen, die außerhalb ihres ursprünglichen Geschäftsfeldes tätig waren, verboten (vgl. Kindleberger, 2001, S. 61). Der mit dem Bubble Act einhergehende Vertrauensverlust führte zu einer Liquiditätskrise und löste einen Kursrutsch aus. Die Anleger reagierten panisch und stießen ihre Aktien ab. Der Preis der South Sea Company erreichte im August seinen Höchststand bei mehr als 1.000 Pfund und brach anschließend stark ein. Das Vertrauen der Anleger wurde schwer belastet. Gerüchte über Aktienverkäufe der Unternehmensführung der South Sea Company und anderer großer Investoren führten zu großer Verunsicherung unter den Anlegern. Zeitweise konnten positive Unternehmensmeldungen für eine kurzfristige Erholung der Aktienkurse sorgen. Die Preise für neue Aktien mussten jedoch gesenkt werden, da die Marktkonditionen sich verändert hatten. Die South Sea Company hatte plötzlich Schwierigkeiten, Aktien zu platzieren. Da weiterhin keine Gewinne aus dem Südseehandel vorzuweisen waren, stießen erste Großaktionäre ihre Beteiligungen ab (vgl. Elger & Schwarz, 2009, S. 19 f.). Um zu verhindern, dass die Öffentlichkeit das Vertrauen in die Kompanie verlor, beriefen die Direktoren eine Hauptversammlung ein, in der die Verdienste der Kompanie hoch gelobt wurden. Sie hätte mehr „als die Krone, die Kirche oder die Richterschaft“ bewirkt, sagte ein Gesellschafter. Die Öffentlichkeit zeigte sich unbeeindruckt: Noch am selben Tag fiel die Aktie auf 640 Pfund. Der Kursverfall setzte sich fort bis bald 400 Pfund erreicht wurden (vgl. McKay & de la Vega, 2010, S. 90). Phase 5 - Abscheu Die letzte Phase der Südseespekulationsblase begann im September 1720, als die erste Dividendenzahlung nicht geleistet werden konnte. Es fanden mehrere Zusammenkünfte zwischen den Direktoren der Südsee-Kompanie und der Bank of England statt. Es ging ein Gerücht um, die Bank würde Obligationen der Kompanie im Wert von sechs Mio. Pfund in Umlauf bringen. Bald stellt sich heraus, dass es nur ein Gerücht war - der Kurs stürzte weiter ab (vgl. McKay & de la Vega, 2010, S. 92). Die Aktien der South Sea Company fielen vom Höchststand im August des Jahres bis Ende September auf 200 Pfund. Zum Ende des Jahres kostete die Aktie wieder 120 Pfund. Der gesamte Markt kollabierte. Die britische Wirtschaftslage verschlechterte sich in Anbetracht der sich auflösenden Spekulationsblase. Zahlreiche Unternehmen gerieten in Schieflage und wurden zahlungsunfähig. Eines der bekanntesten Opfer der Südseespekulationsblase war der berühmte Physiker Isaac Newton. Zunächst hatte er mit den Aktien der South Sea Company starke Kursgewinne erzielt, diese jedoch im späteren Verlauf der Krise verloren und schlussendlich einen Verlust von 20.000 Pfund erlitten. In der Folge dieser hohen Verluste formulierte Newton seine berühmte Aussage: „I can calculate the movement of the stars, but not the madness of men.“ (Newton, zit. nach Arnold, 2010, S. 158) <?page no="143"?> 142 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 55..22..44 DDeer r BBöörrsse ennbboooomm u unndd --ccrraasshh v voonn 11992299 Eine weitere bedeutende Spekulationsblase ereignete sich Anfang des 20. Jahrhunderts. Nach der Nachkriegsrezession wurden die Märkte von einem großen ökonomischen Aufschwung erfasst. Neue Produktionstechniken, wie das Fließband sowie moderne Management-Strategien wurden eingeführt. Der Fortschritt in der Industrialisierung bewirkte eine Euphorie, die der Gesellschaft den Glauben an einen schnellen Reichtum vermittelte. Auf den Optimismus und den Aufschwung der „goldenen Zwanziger“ folgte der Crash von 1929. In der Folge des Börsencrashs stürzte die Weltwirtschaft in eine tiefe Depression (vgl. FAZ, 2008c). Phase 1 - Verlagerung Im Rahmen der ersten Phase der beginnenden Spekulationsblase Anfang der 1920er Jahre war das wirtschaftliche Umfeld gekennzeichnet von einem starken Konsolidierungsdrang der Unternehmen. Dieser basierte hauptsächlich auf dem starken Anstieg der Aktienmärkte. Neben der Konsolidierung war diese Zeit gekennzeichnet von der Entstehung bedeutender Unternehmen (u.a. General Motors). Der zunehmende Optimismus unter den Marktteilnehmern stieg im Verlauf der Jahre mit den einhergehenden positiven Unternehmensmeldungen. So begann Henry Ford im Jahr 1927 mit der Produktion des T-Modells. Die New Yorker Notenbank senkte ihre Leitzinsen von 4 Prozent auf 3,5 Prozent, was den Marktteilnehmern die kreditfinanzierte Aktienanlage erleichterte. Lionel Robbins, Professor an der London School of Economics, kommentierte diese Entwicklung wie folgt: „From that date, according to all evidence, the situation got completely out of control.“ (Robbins, zit. nach Forbes, 2009, S. 105) Kennzeichnend für diese erste Phase waren auch die überschwänglichen Kommentare einiger bedeutender Marktteilnehmer. So äußerte sich John Raskob, Direktor von General Motors, besonders positiv über die damalige Marktentwicklung: „Everybody ought to be rich.“ (Forbes, 2009, S. 104 f.) Phase 2 - Kreditschaffung D ie starke Ausdehnung von Krediten trug wesentlich dazu bei, dass die spekulative Blase entstehen konnte. So konnten kreditfinanzierte Konsumausgaben den Lebensstandard innerhalb der Gesellschaft steigern. Finanzierung des Konsums auf Basis von Krediten war jedoch nicht nur innerhalb der Mittelschicht möglich, auch die Investmentfonds Fremdkapital. Phase 3 - Euphorie Die Spekulationsblase nahm ab 1928 euphorische Züge an. Der Markt stieg in großen Schwüngen statt in kontinuierlicher Weise an. Der Dow Jones Industrial Index stieg von Mitte 1924 bis September 1929 um mehr als das Vierfache an. Die steigenden Kurse wurden durch starke Umsätze getragen. Marktteilnehmer begannen verstärkt hebelgetrieben zu handeln. Das bedeutet, dass sie sich bis zu 90 Prozent der Anlagesumme durch Bankdarlehen finanzieren ließen. Im Zuge dessen waren die Gewinnchancen bei <?page no="144"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 143 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance geringer Steigerung des Anlagewertes für den Marktteilnehmer immens. Auf der anderen Seite mussten die Markteilnehmer Liquidität bereitstellen, wenn die Anlagen zu sinken begannen, sonst wurden die Positionen von der Bank automatisch verkauft. Im Zuge der ausschweifenden Kreditvergabe begannen Brokerhäuser, selbst Kredite für den Aktienerwerb bereitzustellen. So stiegen die ausstehenden Kredite von USD 3,5 Mrd. Ende 1927 auf USD 7,0 Mrd. bis zum Sommer 1929. Zunächst erhielten die Kreditgeber 5 Prozent Verzinsung p.a.; in Folge der hohen Nachfrage wurden jedoch zwischenzeitlich bis zu 12 Prozent gezahlt (vgl. Forbes, 2009, S. 106 f.). Im Weiteren erfolgte die Gründung zahlreicher Fondgesellschaften, welche breite Bevölkerungsschichten an den steigenden Aktienkursen teilhaben ließen. 1928 wurden 186 Aktienfonds neu aufgelegt, die jeweils auf starke Nachfrage stießen. Zwei Jahre später betrug die Zahl der Fondsgesellschaften bis zu 750. Das starke Interesse an den Fondsgesellschaften lässt sich am Volumen des verwalteten Kapitals verdeutlichen. 1927, als die Fondsgesellschaften ihre Tätigkeit aufnahmen, sammelten sie bis USD 440 Mio. für Aktienanlagen. 1929 waren die Einzahlungen in die Fonds auf schätzungsweise USD 3 Mrd. angestiegen. Phase 4 - Kritische Phase Die kritische Phase begann, als die amerikanische Zentralbank die Leitzinsen (Fed Funds Rate) sukzessive erhöhte, um die ausufernde Kreditvergabe zu begrenzen. Bis 1929 wurden die Leitzinsen um insgesamt 2,5 Prozentpunkte auf 6,5 Prozent erhöht. Auch die Geschäftsbanken wurden aufgefordert, ihre Kreditvergaben zu beschränken. Die Kreditvergabe hielt zunächst jedoch an, da ausländische Banken und private Investoren weiterhin bereit waren, Kredite für die Finanzierung von Aktienanlagen bereitzustellen. Erst als auch die restlichen Kreditgeber von der Annahme ausgingen, dass die Investitionen in Aktien keinen sicheren Ertrag in der Zukunft bedeuten müssen, erhöhten diese die Kreditzinsen und erschwerten die Aufnahme von Krediten. Phase 5 - Abscheu Der am 24. Oktober beginnende Börsencrash ereignete sich, ohne dass ein exakter Grund für die Abwärtsbewegungen genannt werden könnte. Die Entwicklung der folgenden Tage verdeutlicht vielmehr eine irrationale Überreaktion, die eingeleitet wurde, als die Marktteilnehmer begannen, ihre fremdfinanzierten Aktienpakete abzustoßen. So setzte die Massenhysterie ein, weil es keinen Käufer mehr gab, die bereit waren, die Aktien zu kaufen. Trotz Stützungskäufe seitens institutioneller Investoren brachen die Aktienkurse in den nachfolgenden Tagen stark ein. Am Dienstag, dem 29. Oktober 1929, erreichte die Verkaufswelle ihren Höhepunkt. In der ersten halben Stunde des Handels wechselten 3,2 Mio. Aktien ihren Besitzer. An diesem Tag wurden die gesamten Gewinne eines Jahres vernichtet. Es wurden bis zu 16 Mio. Aktien innerhalb eines Tages verkauft. Einige Aktien mit zuvor dreistelligen Kursen finden erst für einen oder für zwei Dollar einen Abnehmer. Drei Jahre später sind 89 Prozent der im Jahr 1929 in der Spitze erreichten Marktkapitalisierung vernichtet. <?page no="145"?> 144 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Als Reaktion auf den Börsencrash wurde die amerikanische Börsenaufsichtsbehörde Securities Exchange Commission (SEC) gegründet. Wegen des drastischen Rückgangs des Kreditgeschäfts gingen zwischen 1929 und 1933 rund 40 Prozent der amerikanischen Banken pleite. In der Folge der nun einsetzenden Wirtschafskrise brach der Konsum ein. Daraufhin stieg die Arbeitslosigkeit stetig an und die Steuereinnahmen gingen zurück. In Deutschland versuchte der damalige Reichskanzler Heinrich Brüning, trotz der schwindenden Steuereinnahmen einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Er kürzte die Sozialleistungen und die öffentlichen Aufträge. Der Wirtschaftsabschwung verschärfte sich dadurch und resultierte im Winter 1932/ 33 in mehr als 6 Mio. Arbeitslosen Menschen alleine in Deutschland (vgl. FAZ, 2008c). 55..2 2..5 5 DDiiee DDoottccoomm--S Sppeekkuullaattiioonnssb bllaasse e aabb 11999977 Die letzte Spekulationsblase des alten Jahrtausends begann mit der Kommerzialisierung des Internets. Der Glaube an die Ertragskraft des neuen Vertriebskanals Internet ließ die Marktteilnehmer (Anleger, Banken, Unternehmen) euphorisch werden. Unternehmen, die ihre Geschäftsstrategie auf das Internet, die Mobiltelekommunikation bzw. Technologie ausrichteten, wurden fortan als New Economy bezeichnet. Unternehmen, die mit dem Internet keine Berührung hatten, wie z.B. Thyssen-Krupp, gehörten dagegen zur Old Economy. Die Dotcom-Spekulationsblase war gekennzeichnet von Jungunternehmen ohne ein rentables Geschäftsmodell, die jedoch am Markt oft höher bewertet waren als Unternehmen der Old Economy mit kontinuierlicher Ertragskraft. Dass die meisten Unternehmen kein rentables Geschäftsmodell hatten, machte die Dotcom Blase nicht per se fragwürdig. Es waren vielmehr die betrügerischen Machenschaften einzelner Unternehmen, die durch Bilanz- und Umsatzbetrug von der Euphorie der Massen profitieren wollten. (vgl. Thielmann, 2014). Phase 1 - Verlagerung Die erste Phase begann bereits Anfang bis Mitte der 1990er Jahre, als das Internet als Kommunikationsmedium langsam der breiten Öffentlichkeit zugänglich wurde. Unternehmen erkannten die vielversprechenden Absatzmöglichkeiten im Internet und begannen, die Infrastruktur auszubauen. In diesem Sinne wurden immense Investitionen in die Telekommunikationstechnologie gesteckt, wodurch die Spekulationsblase sich nicht nur auf Unternehmen mit künftiger Absatztätigkeit im Internet beschränkte, sondern auch auf Unternehmen übersprang, welche die Technologie entwickelten. Phase 2 - Kreditschaffung Die Deutsche Börse richtete 1997 nach dem Vorbild der amerikanischen Technologiebörse Nasdaq, das Segment „Neuer Markt“ ein. In diesem Segement wurden Unternehmen aus dem Bereich Technologie, Telekommunikation und Biotech gelistet. Die zweite Phase stand im Zeichen der zunehmenden medialen Berichterstattung über die steigenden Kursnotierungen. Die soziale Ansteckung durch das Boom-Denken begann sich auszubreiten. Unternehmen refinanzierten sich zu besonders günstigen Zinskonditionen von ca. 3 Prozent (Federal Funds Rate 1995). Diese im historischen Vergleich niedrigen <?page no="146"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 145 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Leitzinsen zeigten sich erneut als ein wichtiger Katalysator in der Entstehung einer Spekulationsblase. Die zweite Phase war zudem gekennzeichnet von zunehmender Investitionstätigkeit der Unternehmen aufgrund der Sorge bezüglich des Y2K-Bugs. Y2K stand dabei für das Jahr 2000 und die Sorge, dass die damals genutzte Software nicht in der Lage sein könnte, korrekt auf das Jahr 2000 umzuschalten. Um entsprechende Risiken eines Zusammenbruches der Systeme zu verhindern, wurden gewaltige Investitionen angestoßen. Im Umfeld des Jahrtausendwechsels erkannten zahlreiche Unternehmen, die im Internet unbegrenztes Ertragspotenzial sahen, ihre Chance. Die Zahl der Börsengänge von Unternehmen der New Economy stieg. Immense Umsatzsteigerungen mit traumhaften Umsatzrenditen wurden den Anlegern in Aussicht gestellt. Am 1. Juli 1999 wurde zudem der Nemax 50 als Index bestehend aus den 50 nach Marktkapitalisierung und Börsenumsätzen größten Titeln eingeführt. Der Nemax All Share beinhaltete alle gelisteten Unternehmen. Phase 3 - Euphorie Die mediale Berichterstattung sowie erste signifikante Kursgewinne weckten bei zahlreichen Unternehmern den Wunsch auf einen Börsengang. Die Unternehmen konnten sich unproblematisch über die Banken finanzieren, die wiederum an einem erfolgreichen Börsengang mit entsprechenden Kursgewinnen interessiert waren. Bis zum Jahresende 1999 stieg die Zahl der am Nemax All Share gelisteten Aktiengesellschaften auf mehr als 200. Die Marktkapitalisierung stieg auf 111 Milliarden Euro. Binnen der nächsten drei Monate verdoppelte sich die Marktkapitalisierung nochmals. Bis zum Höhepunkt im März 2000 verneunfachte sich der Nemax 50 - innerhalb von zwei Jahren (vgl. Abb. 25). Die starken Kurssteigerungen blieben nicht auf den eigens für Unternehmen mit Technologiebezug gegründetem Aktienindex, dem Nemax, beschränkt. So wurde auch der DAX nach oben getrieben. Die Kurssteigerungen basierten hier jedoch hauptsächlich auf den damaligen Technologie-/ Telekommunikations-unternehmen Siemens, Mannesmann, SAP oder Deutsche Telekom. Am Höhepunkt der Euphorie brachte Siemens seine Tochtergesellschaft Infineon - tätig im Bereich der Herstellung von Computerchips - an den Markt. Am 13. März 2000 wurden 174 Millionen Aktien zu 35 Euro an die Börse gebracht bzw. emittiert. Die Anleger waren von den Aktienemissionen geradezu begeistert. Der Börsengang galt insbesondere in dieser Phase als ein Garant für erhebliche Kursgewinne am ersten Tag bzw. den ersten Tagen nach der Emission (vgl. Kap. 11.3). Kursverdopplungen waren eher die Regel als die Ausnahme. So kletterte der Kurs der Infineon-Aktie am ersten Handelstag von 35 Euro auf rund 85 Euro. Entsprechend der enormen Kurssteigerungen waren die Anleger versucht, bei jeder Emission dabei zu sein, und hofften auf eine Zuteilung der Aktien. Die ausgegebenen Papiere waren daher oft vielfach überzeichnet. Im Fall der Infineon-Aktie hätten statt 174 Million Aktien 5,7 Milliarden Infineon-Aktien verkauft werden können. Die Anleger achteten in dieser Phase des Booms in keiner Weise auf eine grobe Überprüfung des Geschäftsmodells bzw. auf die Durchführung einer Fundamentalanalyse. Teilweise war den Anlegern lediglich der Name der Aktien bekannt, die sie erwerben wollten/ erworben hatten. <?page no="147"?> 146 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Börsengänge haben nicht nur die eingangs erwähnten Marktteilnehmer direkt von den Kurssteigerungen profitieren lassen, sondern haben auch indirekt zu erheblichen Umsätzen und Erträgen bei den Banken geführt. Millionen Kleinanleger eröffneten im Zuge der Zeichnung von Wertpapieren erstmals ein Depot bei ihrer Hausbank. Die Euphorie der Anleger für Unternehmen der New Economy lässt sich durch den Vergleich der Bewertung zweier Unternehmen aus der Old bzw. New Economy sehr gut verdeutlichen. So wiesen Thyssen Krupp und EM.TV (Filmrechtehändler) am 14. Februar 2000 ein Marktwert von knapp 14 Milliarden Euro auf. Thyssen Krupp beschäftigte fast 200.000 Mitarbeiter, erzielte 1999 einen Jahresumsatz von ca. 32 Milliarden Euro und schüttete Dividenden von 368 Millionen Euro aus. EM.TV auf der anderen Seite hatte einen Umsatz von lediglich 320 Millionen Euro, rund 3000 Mitarbeiter und keinen Gewinn. Phase 4 - Kritische Phase Die kritische Phase begann im Frühjahr 2000, als Anleger den Bewertungen der Unternehmen zunehmend misstrauten. Die Quartalsergebnisse im Frühjahr ließen erkennen, dass immer mehr Unternehmen ihre hochgesteckten Wachstumserwartungen nicht erfüllen konnten. Zunehmend kursierten erste „Todeslisten“ mit den Unternehmen, die von der Zahlungsunfähigkeit bedroht sein könnten. Diese Entwicklung war nicht verwunderlich, da die Mehrzahl der Unternehmen der „New Economy“ nicht einmal nennenswerte Umsätze generierten. Zudem waren in den USA die Leitzinsen gestiegen, die sich mittlerweile wieder bei ca. 6 Prozent befanden. Sehr häufig ist eine Trendumkehr bei steigenden Leitzinsen zu beobachten. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Unternehmen durch die erhöhten Kreditkosten weniger Fremdkapital für die Finanzierung ihrer Expansionspläne nachfragen können. Durch die Drosselung der wirtschaftlichen Aktivität soll von Seiten der Notenbank der steigenden Inflation begegnet werden. Die Anleger verloren auch zunehmend das Interesse an der Zeichnung von Aktien, da sie mittlerweile oft alle gezeichneten Aktien zugeteilt bekamen. Die volle Zuteilung erwies sich als problematisch, da die meisten Anleger in der Regel wesentlich mehr Aktien gezeichnet hatten, als sie eigentlich zugeteilt bekommen wollten; dies noch aus der Erfahrung früherer heißumkämpfter Börsengänge. Emissionsgewinne flachten ab und die Kurse sanken angesichts zunehmender Verkaufsaufträge direkt nach der Zuteilung zuviel gezeichneter Wertpapiere. Phase 5 - Abscheu Die letzte Phase der Dotcom-Spekulationsblase war gekennzeichnet von herben Kurseinbrüchen infolge des Bekanntwerdens von manipulierten Geschäftszahlen einiger Unternehmen. So konnte bei Comroad (Navigationstechnik) nachgewiesen werden, dass die Umsätze fast komplett erfunden waren. Der Vorstandsvorsitzende Bodo Schnabel wurde wegen Kursbetrugs, Insiderhandels und gewerbsmäßigen Betrugs zu sieben Jahren Haft verurteilt. Die Strafe wurde im Zuge von Revisionsverhandlungen später in einen Vergleich umgewandelt. Der Absturz der Notierungen ging fast genauso schnell wie die Kursexplosion zur Jahrtausendwende. Der Nemax 50 fiel innerhalb von 33 Monaten auf ein Zehntel. Er wurde im März 2003 eingestellt und im Dezember 2004 vom neuen Börsenindex TecDax, der <?page no="148"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 147 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance aus nunmehr 30 Werten besteht, vollständig abgelöst. Die Aktienkurse zahlreiche Unternehmen notierten nur noch bei wenigen Cent. Im Zuge des drastischen Kursverfalls fiel auch der DAX von mehr als 8000 Punkten im März 2000 auf lediglich 2188 Punkte im März 2003. Spekulationsblase um die Jahrtausendwende - Nemax 50 Abb. 25: Kursentwicklung Nemax 50, 1997-2005; FactSet 55..2 2..6 6 DDiiee UUSS--SSuubbpprriimmee--KKrreeddiittkkrriissee aabb 22000077 Die erste, in ihren Nachwirkungen auch 2016 noch spürbare, Spekulationsblase des neuen Jahrtausends resultierte aus den weltweit steigenden Immobilienpreisen, verursacht u.a. durch die Bereitstellung von billigem Zentralbankengeld im Zuge der geplatzten Dotcom-Spekulationsblase. So entwickelte sich die Subprime-Krise, begriffsbezeichnend für die Gewährung von Immobilienkrediten an Schuldner mäßiger Bonität, seit 2007 zunächst auf dem US-amerikanischen Markt. Die Krise begann zunächst als eine Bankenkrise, ausgelöst von zahlungsunfähigen Immobilienschuldnern. Sie entwickelte sich anschließend zu einer globalen Finanzkrise, wovon insbesondere Europa stark betroffen war. Vor einigen Jahren wären viele Marktteilnehmer davon ausgegangen, dass die Fortschritte in der Entwicklung von Finanzprodukten sowie die gegebene Finanzmarktregulierung schwere Finanzkrisen vermeiden würden. Die Entwicklung seit 2007 scheint diese Denkweise zu widerlegen. Zeichen für die herannahende Krise gab es verstärkt in Form inflationärer Immobilienpreise, steigender Fremdkapitalverschuldung bei Immobilienerwerb bzw. dem zunehmenden Außenhandelsdefizit als Zeichen steigender Auslandsverschuldung insbesondere im Falle der USA (vgl. Reinhart/ Rogoff 2009, S. 200). <?page no="149"?> 148 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Phase 1 - Verlagerung Das rechtliche Fundament für die Subprime-Krise wurde bereits in den 1980er Jahren gelegt. Die Verabschiedung des Depository Institutions Deregulation and Monetary Control Act (DIDMCA) sowie des Alternative Mortgage Transaction Parity Act (AMTPA) haben maßgeblich zur Gewährung von Subprime-Krediten geführt. Diese Kredite waren vielfach durch Lockvogelangebote gekennzeichnet, die zunächst keine Tilgung vorsahen. Die Immobilienkredite hatten eine variable Verzinsung, die nach einer festgelegten Laufzeit zur Prolongation anstand. So wurde durch den DIDMCA die Kreditaufnahme für Schuldner niedrigerer Bonität ermöglicht. Zusätzlich legalisierte der 1982 verabschiedete AMTPA die Vergabe von Hypothekenkrediten mit einer variablen Verzinsung und hohen Bearbeitungsgebühren (vgl. Eustermann, 2010, S. 21). Zusätzlich wurden die Konditionen für die Vergabe von Hypothekenkrediten durch drastisch gesenkte Leitzinsen der US-Notenbank FED verbessert. Im Rahmen der geplatzten Dotcom-Blase im März 2000 und insbesondere nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sanken die Leitzinsen von ursprünglich 6,5 Prozent auf 1 Prozent bis Mitte 2004 (vgl. Abb. 26). Der Subprime-Markt wuchs exponentiell und die Vergabe von Subprime-Krediten schien hoch profitabel für die beteiligten Kreditinstitute. Sinkende Leitzinsen als Erste-Hilfe-Maßnahme nach geplatzten Blasen, jedoch auch Ursache für neue Finanzmarktblasen - Überblick U.S. Leitzinsen Abb. 26: Entwicklung US-Leitzinsen (Federal Funds Rate) zwischen 1996 und 2016; FactSet Marktteilnehmer zogen sich vom Aktienmarkt zurück und wandten sich dem Immobilienmarkt, seit 1990 durch steigende Preisentwicklung gekennzeichnet, zu. Im Zuge der massiven Ausweitung der Liquidität durch die gesenkten Leitzinsen wurde Baugeld zu günstigen Konditionen angeboten. Durch die zunehmende Inanspruchnahme der Kredite und entsprechenden Bauvorhaben stiegen die Immobilienpreise in den USA weiter an. <?page no="150"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 149 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Phase 2 - Kreditschaffung Kreditinstitute suchten im Rahmen der neuen Möglichkeiten nach renditestarken Anlageoptionen. Unzureichende regulatorische Kontrollen, fehlende Hürden in der Kreditvergabe sowie Aufweichungen der Qualitätsstandards der Banken ermöglichten die massive Vergabe von Krediten an Schuldner mit keinerlei Eigenkapitel für die beabsichtigte Immobilienfinanzierung. Als Sicherheit wurde ausschließlich die zu finanzierende Immobilie zugrunde gelegt. Mit fortlaufend steigenden Immobilienpreisen sollte der Kredit bei einer künftigen Veräußerung der Immobilie problemlos zurückgezahlt werden. Die mediale Berichterstattung führte zur bereits erwähnten sozialen Ansteckung durch das Boom-Denken der Gesellschaft. Durch die Suche nach Anlageprodukten für institutionelle Investoren sowie zur weiteren Kreditschöpfung durch die Hypothekenbanken wurden die Kreditverpflichtungen in mehreren Tranchen verbrieft und an Investoren weiterverkauft. Auf diese Weise entstanden strukturierte Produkte in Form von MBS (Mortage Backed Securities) sowie CDO (Collateral Debt Obliations). Diese hochkomplexen Finanzprodukte enthielten Darlehensforderungen von Schuldnern mit unterschiedlicher Bonität. Nach Bündelung der Schuldtitel wurden diese institutionellen Investoren angeboten. Die Ratingagenturen bewerteten viele entsprechende Produkte lange Zeit mit der höchsten Bewertungsnote. Phase 3 - Euphorie Die Marktteilnehmer wurden hinsichtlich der Wertsteigerungsaussichten ihrer Immobilien zusehends euphorisch. Immobilien wurden zunehmend mit dem Ziel erworben, diese innerhalb kürzester Zeit wieder zu veräußern. Diese auch als „House-flipping“ bezeichnete Vorgehensweise führte zur massiven Steigerung der Immobilientransaktionen und auch der -preise. Die euphorische Stimmung unter den Marktteilnehmern kann besonders gut am S&P/ Case-Shiller U.S. National Home Price Index abgelesen werden (vgl. Abb. 27). Der kumulierte Preisanstieg von 1996 bis zum Höhepunkt betrug immerhin 92 Prozent. Im Vergleich zur Entwicklung vor der Kreditblase, im Zeitraum zwischen 1890 und 1996, wird der immense Anstieg der Immobilienpreise deutlich. In diesem Zeitraum von annähernd 100 Jahren betrug der Preisanstieg real lediglich 27 Prozent. Der Preisanstieg betrug allein im Jahr 2005 13,5 Prozent - dies entspricht dem vierfachen des US-amerikanischen Wirtschaftswachstums für das Jahr 2005. Weiterhin kennzeichnend für die dritte Phase war das „This time is different“-Syndrom, wobei sich auch der damalige Notenbank Chef A. Greenspan unten den Befürwortern verbriefter Kreditansprüche befand. Nach seiner Meinung würden sie nicht nur die Risikoallokation fördern, sondern auch die Illiquidität der Vermögensklasse Immobilien stark verringern. Folglich wären steigende Preise der risikobehafteten Anlagen als auch die steigenden Gewinne der beteiligten Banken als Resultat innovativer Produkte gerechtfertigt. Die zunehmende Bedeutung der beteiligten Banken am Verbriefungsgeschäft ist im Weiteren am Verhältnis ihrer Ertragsentwicklung zum BIP erkennbar. In den 1970er Jahren trugen Kreditinstitute noch 4 Prozent zum BIP bei, 2007 wuchs deren Anteil bereits auf 8 Prozent (vgl. Reinhart & Rogoff, 2009, S. 207). <?page no="151"?> 150 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Entwicklung U.S. Immobilienpreise mit rezessiven Perioden Abb. 27: S&P/ Case-Shiller U.S. National Home Price Index 1986-2016; FactSet Phase 4 - Kritische Phase Als Auslöser der Krise kann die Schieflage zweier Bear-Stearns-Fonds Mitte 2007, die sich am Subprime-Markt verspekuliert haben, angesehen werden. Es zeigten sich erste Zeichen der herannahenden Finanzkrise durch die Zunahme von Kreditausfällen im Bereich Subprime-Hypotheken-Kredite. Krisenverstärkend können die nun zunächst leicht sinkenden Immobilienpreise angeführt werden (vgl. Abb. 27). Die US-Notenbank erhöhte aus Sorge vor einer konjunkturellen Überhitzung ihre Leitzinsen von ursprünglich 1 Prozent im Jahr 2004 auf 5,25 Prozent im Jahr 2006. Sinkende Immobilienpreise auf der einen Seite und zunehmend steigende Kreditzinsen auf der anderen Seite führten zu gravierenden Ausfällen auf Seiten der Kreditschuldner. In der Folge gerieten Baufinanzierer wie Fannie Mae und Freddie Mac in heftige Turbulenzen, Investmentbanken mussten massive Abschreibungen in ihren Bilanzen vornehmen. Waren zunächst nur US-Immobilienfonds betroffen, hatte sich die Subprime-Krise bis 2008 auch auf Europa ausgeweitet. In Deutschland mussten viele Kreditinstitute, u.a. die Hypo Real Estate, die IKB Mittelstandsbank und auch Landesbanken (Sachsen und Baden-Württemberg) mit mehreren Mrd. EUR vom Steuerzahler gerettet werden. Infolge sich ausweitender Kreditausfälle entstand eine Vertrauenskrise unter den Banken. Spätestens mit der Insolvenz von Lehman Brothers im Herbst 2008 wurde das Vertrauen unter den Banken erheblich beschädigt. Der Interbankenmarkt trocknete zunehmend aus, mit der Folge, dass sich Kreditinstitute untereinander kaum Geld liehen. Die Vertrauenskrise am Interbankenmarkt lässt sich durch den TED-Spread (Treasury Bill Eurodollar Difference) am effektivsten darstellen (vgl. Abb. 28). Dieser gibt die Differenz zwischen dem Zinssatz des Dreimonats- LIBOR für das Interbankengeschäft und der dreimonatigen US Treasury Bills (Schatzwechsels) an. Notierte der TED-Spread <?page no="152"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 151 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance im Juni 2006 noch bei 55 Basispunkten bzw. bei 0,55 Prozent, erreichte der Ted-Spread im Oktober 2008 seinen Höhepunkt bei 4,64 Prozent. Die große Differenz ergab sich aus dem starken Anstieg des LIBOR auf 4,75 Prozent und dem starken Rückgang der Treasury Bills. Der Risikoaufschlag, den Banken untereinander verlangten, erreichte somit fast 5 Prozent! Der Interbankenmarkt wurde in Relation zum US-Treasury-Markt sehr teuer, so dass mehrheitlich in staatliche Papiere investiert und Eurodollar verkauft wurde. Ted-Spread zeigt Vertrauenskrise im Interbankenhandel im Herbst 2008 Abb. 28: TED-Spread 2004-2016; FactSet Phase 5 - Abscheu Die Subprime-Krise hatte ihren Höhepunkt schließlich im Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008. Die Vertrauenskrise war nicht nur im Interbankenmarkt zwischen den Kreditinstituten zu spüren, sie weitete sich auch zunehmend auf die Kreditvergabe mit Firmenkunden und Privatkunden aus. Aufgrund der asymmetrischen Informationsverteilung, die den Banken zunehmend die Beurteilung der tatsächlichen Lage der Antragsteller erschwerte, wurde die Kreditvergabe drastisch eingeschränkt. Darüber hinaus führte die zunehmende Sorge um die Ersparnisse der Bankkunden zu ersten Bank Runs. So erlebte die britische Bank Northern Rock im September 2008 einen Bank Run, wobei Kunden der Bank innerhalb kürzester Zeit bis zu 1 Mrd. britische Pfund von ihren Konten abzogen. Um die Risiken weiterer Bank Runs einzudämmen, sah sich die deutsche Bundesregierung im Oktober 2008 gezwungen, eine Staatsgarantie für alle Spareinlagen privater Anleger abzugeben. Die starke Verunsicherung hatte im Weiteren eine gravierende Auswirkung auf die wirtschaftliche Entwicklung. So sank zum Beispiel in Deutschland das reale BIP im Jahr 2009 um 5,1 Prozent. <?page no="153"?> 152 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Charakteristisch kann die letzte Phase einer schwerwiegenden Finanzkrise, wie die hier betrachtete, nach Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart durch die drei nachfolgenden Eigenschaften beschrieben werden (vgl. Reinhart/ Rogoff 2009, S. 224): Starke und anhaltende Wertminderung der betroffenen Vermögenswerte - Einbruch der Immobilienpreise um bis zu 35 Prozent über einen Zeitraum von sechs Jahren bzw. 56 Prozent der Wertpapierpreise (Aktien) über einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren. S tark z une hm end e Ar b ei ts los ig keit m it e bens o st ark s inke nde r Pr o du kti v itä t - Im Durchschnitt steigt während der Abschwungsphase (in der Regel vier Jahre) die Arbeitslosigkeit um sieben Prozentpunkte. Die Produktivität fällt um bis zu acht Prozentpunkte, wobei hier von einer Dauer von zwei Jahren ausgegangen wird. Diese Erscheinung ist in der gegenwärtigen Finanzkrise am deutlichsten in den peripheren EU-Staaten Spanien und Griechenland zu beobachten. Stark steigende öffentliche Verschuldung - Die Analyseergebnisse von Reinhart und Rogoff offenbarten einen Anstieg der öffentlichen Verschuldung in den betroffenen Ländern um durchschnittlich 86 Prozent. Dieser Prozentsatz konnte in der Regel während der letzten Finanzkrisen seit dem 2. Weltkrieg gemessen werden. Hier spielen nicht nur die Rettungsversuche mit Steuergeldern eine Hauptrolle, sondern auch die ausbleibenden Steuereinnahmen aufgrund der nachlassenden Industrieproduktion. Erschwerend wirken sich hier die steigenden Refinanzierungskosten der betroffenen Länder aus (siehe am Beispiel peripherer EU-Länder). Die Subprime-Kreditkrise führte vor Augen, dass die Ursachen der Krise sowohl mikroals auch makroökonomischer Natur sein können. Auf der mikroökonomischen Seite zählt die fehlende Transparenz im Verbriefungsprozess, eine unverantwortliche Kreditvergabepraxis sowie die hohe Komplexität strukturierter Produkte, die eine adäquate Risikobewertung unmöglich machten, zu den Auslösern der Krise. Auf der makroökonomischen Seite zählt die zu expansive Geldpolitik nach dem Platzen der der Dotcom-Blase und den Anschlägen vom 11. September zu den Kernursachen der Krise. Die überschüssige Liquidität fand zunehmend ihren Weg in die Aktien- und Immobilienmärkte. Globale Leistungsbilanzdefizite und eine negative US-Sparquote in den Jahren 2005 und 2006 signalisierten, dass die Gesellschaft über ihre Verhältnisse lebte. Als Reaktion und als Versuch die Krise einzudämmen, haben die Notenbanken weltweit Milliarden in die Finanzmärkte gepumpt und ihre Leitzinsen drastisch gesenkt. So senkte die EZB binnen zwei Jahren zwischen 2007 und 2009 die Leitzinsen von 4 Prozent auf 1 Prozent, die Bank of England von 5,75 Prozent auf 0,5 Prozent und FED von 5,25 Prozent auf 0,25 Prozent. Darüber hinaus versuchte die Europäische Union, durch den Euro-Rettungsschirm (EFSF/ temporär, ESM/ dauerhaft) die Ausbreitung der Wirtschaftskrise in peripheren Euro-Ländern wie Griechenland, Irland, Portugal einzudämmen (vgl. Eustermann, 2010, S. 22 ff.). 5 5..2 2..7 7 MMuullttiippllee SSppeekkuullaattiioonnssbbllaasseenn nnaacchh ddeerr SSuubbpprri immee KKrre eddiittkkr ri issee ((aabb 22001122))? ? Nach dem Platzen der Immobilienblase in den USA und Europa 2008 und den dadurch hervorgerufenen Instabilitäten in zahlreichen Ländern, insbesondere in Europa, haben weltweit Notenbanken als lender of last resort die Versorgung der Volkswirtschaften mit <?page no="154"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 153 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Liquidität zur Hauptaufgabe erklärt. War die Zielsetzung unmittelbar nach der Krise als auch in den Folgejahren die Wiederherstellung des Vertrauens unter den Banken, um sich gegenseitig wieder Fremdkapital zu leihen, wurde sie ab etwa 2013 die Abwendung einer sich immer mehr abzeichnender Deflation. Konnten die Notenbanken in der Vergangenheit mit Zinssenkungen gegen deflationäre Tendenzen entgegenwirken, bestand diese Möglichkeit in Folge der jahrelangen Liquiditätsinjektionen (Quantitative Easing) kaum mehr. Bislang kaum praktizierte Maßnahmen wie die der negativen Einlagenzinsen werden angewendet, um die Kreditvergabe aber auch die Inflation anzukurbeln. Die Maßnahmen der Notenbanken haben die einzelnen Assetklassen in unterschiedlicher Art und Weise beeinflusst. Entwickelten sich seit dem Tiefpunkt der Subprime Hypothekenkrise im März 2009 die Assetklassen zunächst mehrheitlich nach oben, fielen seit 2011 die Notierungen von Gold und der chinesischen CSI 300. Seit Anfang 2014 fließt zudem massenhaft Liquidität in die Bondmärkte. Unternehmen emitieren für die Übernahme anderer Unternehmen vermehrt Bonds. Für die Blasenbildung in einer Assetklasse spielt der Grad der Fremdfinanzierung eine entscheidende Rolle - weshalb zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Sommer 2016) im Bereich der Staats-/ Unternehmensanleihen eine Blasenbildung in Erwägung gezogen wird. Assetklassen im Bann der Politik der Notenbanken - Überblick Abb. 29: Renditeentwicklung verschiedener Assetklassen (indexiert, 10 Jahre); FactSet Phase 1 - Verlagerung Nach dem Zusammenbruch der Investment Bank Lehman Brothers in 2008, haben die Notenbanken die Leitzinsen drastisch bis hin zur 0-Linie gesenkt. Diese Maßnahme hat zu einer Beruhigung der Märkte ab März 2009 geführt und die weltweiten Aktienmärkte wieder steigen lassen. Die um sich greifende Finanzkrise der Staatsverschuldung zog nach 2009 nacheinander europäische Peripherieländer wie Griechenland, Spanien, Portugal, aber auch Irland in den Strudel. Es bestand nicht nur die Gefahr von Staatspleiten, sondern auch die eines <?page no="155"?> 154 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance auseinanderbrechenden Euro-Raumes. Als ein sogenanter Game Changer kann im Rückblick die Aussage von EZB Präsident Mario Dragi im Juli 2012 eingestuft werden: "Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough" (Mario Dragi, 26. Juli 2012, London). Mit dieser Ankündigung ließ die bis dahin andauernde Spekulation gegen europäische Peripherieländer auf einen Schlag nach. Die Renditen für 10-Jährige Anleihen sanken nachhaltig und die weltweiten Aktienmärkte erholten sich bzw. erklommen im Zuge der nachfolgenden Aktivitäten der Notenbanken neue Höchststände. Auf der Suche nach „sicheren Häfen“ aber auch aus Renditegesichtspunkten wurden neben Staatsanleihen der europäischen Peripherieländer auch die von Deutschland stark nachgefragt. Im Nachhinein gilt deshalb dieser 26. Juli 2012 als ein Wendepunkt in der bis dahin grasierenden Finanzkrise, welche zunehmend die Peripherieländer von der Fremdfinanzierung über die Kapitalmärkte ausschloss. Der Einfluss der Notenbanken auf die Aktienmärkte ist auf den zweiten Blick durchaus unterschiedlich. In der nachfolgenden Abbildung wird ersichtlich, dass insbesondere der griechische Aktienmarkt die Underperformance zu den übrigen europäischen Märkten nicht aufholen konnte. Die Aussage von Mario Dragi ließ zwar den FTSE Greece 25 steigen, dieser fiel jedoch im Zuge der Verschuldungskrise seit Mitte 2014 erneut stark zurück. Unterschiedlicher Einfluss der Notenbanken auf die Aktienmärkte Abb. 30: Europäische und US Aktienmarktentwicklung (indexiert, 10 Jahre); FactSet Phase 2 - Kreditschaffung Neben der Senkung der Leitzinsen haben die als Quantitative Easing bezeichneten Programme der amerikanischen Notenbank zur künstlichen Erhöhung der Geldmenge geführt. Die insgesamt 5 Programme (3 Hauptprogramme mit Verlängerungen) hatten die Zielsetzung, US-Staatsanleihen sowie Mortage Backed Securities zu erwerben. Die dadurch Dragis EUR Ankündigung 26. Juli 2012 <?page no="156"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 155 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance geschaffene Liquidität wurde jedoch von den Banken nicht sofort an die Konsumenten in Form von Krediten weitergereicht, sondern als Excess Liquidity bei der Notenbank geparkt. Die überschüssige Liquidität wurde aufgrund mangelnder realwirtschaftlicher Renditemöglichkeiten mehr und mehr für den Erwerb von Wertpapieren, Immobilien und weiteren Anleihen verwendet. Durch den Aufkauf von Anleihen und MBS seitens der Notenbank wurde die Rendite durch die zusätzliche Nachfrage weiter gesenkt. Dies führte zur Senkung des realen Zinssatzes (unter Berücksichtigung der Inflation), wodurch die Konsumentenkredite erschwinglicher wurden. Hier wird die Problematik der sinkenden Zinsen auf Spareinlagen sichtbar. Sparer erhalten immer weniger Zinsen für ihre Sparanstregungen, wobei Kreditnehmer zur Aufnahme von Fremdkapital mit günstigeren Zinsen animiert werden. Durch die gesunkenen Zinsen sollte mittelfristig die Wirtschaftsetnwicklung und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen gefördert werden. Nach einer einer Analyse des Wirtschaftsmagazins Forbes im Jahr 2015 sind die Ergebnisse aus der Anwendung der Quantitative Easing Programme zweischneidig. Zum einen werden die positiven Entwicklungen dargestellt: So ging der frühere US-Notenbankpräsident Ben Bernanke nach einem BBC-Bericht von 2 Mio. neu geschaffener Arbeitsplätze im privaten Sektor und einer Erhöhung der Wirtschaftsaktivität um 3 Prozent aus. Zum anderen werden aber auch die negativen Auswirkungen beziffert - so geht die Swiss Re davon aus, dass die Notenbankpolitik alleine US-Sparern bis zu 470 Mrd. USD gekostet hat. In einer anderen Studie beziffert McKinsey den Verlust mit 360 Mrd. USD (vgl. Forbes, 2015). Die Maßnahmen des Quantitative Easings waren jedoch nicht nur auf die US Wirtschaft beschränkt. Die Möglichkeit, Kredite zu extrem günstigen Konditionen aufnehmen zu können, hat dazu geführt, dass ein Teil der Liquidität seinen Weg in ausländische Wirtschaften und Währungen suchte und fand. So verteuerten sich die Währungen von aufstrebenden Staaten, da dort eine höhere Verzinsung lockte. Die asiatischen Notenbanken reagierten auf diese Entwicklung und senkten ihrerseits ab 2012 die Leitzinsen erheblich, um der Aufwertung ihrer Währungen entgegen zu treten. Asiatische Notenbanken reagieren mit Zinssenkungen gegen Währungsaufwertung Abb. 31: Leitzinsen asiatischer Notenbanken ab 2009; FactSet <?page no="157"?> 156 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Ausweitung der Geldmenge über die Zinsschraube hatte jedoch für die krisengeplagten Peripherieländer der Eurozone nicht die erhoffte Wirkung gezeigt. So stiegen die Renditen für die Staatsanleihen bis Anfang 2012 weiter an. Es bestand die Gefahr einer selbsterfüllende Prophezeigung seitens der Marktteilnehmer, da sie die Lage der Länder immer schlechter einschätzen. Diese negative Einschätzung der Marktteilnehmer führte dazu, dass diese Länder stetig höhere Zinssätze für die Kapitalaufnahme über die Emission von Staatsanleihen anbieten mussten. Eine negative Preis-Story-Preis Schleife entwickelte sich. Um die selbsterfüllende Prophezeigung der Marktteilnehmer zu durchbrechen, begab sich die EZB im September 2012 auf das unerforschte Terrain des Aufkaufs von Staatsanleihen krieselnder Eurostaaten. Führte im September 2012 lediglich die Aussage, Staatsanleihen aufkaufen zu wollen, zu einer merklichen Reduzierung der Renditen, so erwarb die EZB erst ab Ende 2014 und insbesondere ab März 2015 Anleihen in Höhe von 60 Mrd. EUR pro Monat (vgl. EZB, 2015). Aufkaufprogramme der Notenbanken führten zu fallenden Renditen von Staatsanaleihen Abb. 32: Verzinsung festverzinslicher Anleihen in Europa; FactSet Die EZB sollte neben der FED und der Bank of England nicht die einzige Notenbank werden, die diesen Weg beschritt. Die Bank of Japan begann ihrerseits in 2013 ein eigenes Aufkaufprogramm von Staatsanleihen in Höhe von 610 Mrd. EUR p.a. Diese als QQE (Quantitative and Qualitative Easing) wurde um die negativen Leitzinsen Anfang 2016 zum QQE with negative rates ausgeweitet. Damit hatte die Bank of Japan neben der Schweiz und Schweden zu diesem Zeitpunkt die Leitzinsen in den negativen Bereich gedrückt (vgl. FAZ, 2016). Euphorie Diese Phase kann bis Mitte 2016 vereinzelt auf bestimmte Regionen und Assetklassen bezogen werden. Mit Blick auf die Aktienmärkte hat der chinesische Aktienmarkt innerhalb eines Jahres bis Mitte 2015 den Höhepunkt einer beeindruckenden Rally erreicht. <?page no="158"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 157 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Der Index ist um 150 Prozent gestiegen. Die hohe Bewertung chinesischer Aktien wird im Vergleich zu amerikanischen Technologieunternehmen zu Zeiten der Technologieblase erkennbar. So lag im April 2015 das durchschnittliche Kursgewinnverhältnis (KGV) von Chinas Tech-Firmen bei 220 - in den USA lagen im Jahr 2000 die Bewertungen der Tech-Firmen auf dem Höhepunkt der Blase bei einem KGV von 156. Starke Kurssteigerung des CSI 300 in der Phase der Euphorie Abb. 33: Entwicklung CSI 300 zwischen 2011-2015; FactSet Noch am 7. April 2015 vermeldete die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua, dass ein robuster Aktienmarkt für China wichtig sei, die Anstiege der letzten Monate seien „rational“. Ein weiterer wesentlicher Treiber war auch das von Premier Li Keqiang im März 2015 verkündete Programm Internet Plus, das Web-Firmen mit traditionellen Industrie- Firmen verlinken möchte. Diese Meldungen, weitere Zinssenkungen, Stimulusmaßnahmen sowie Kommentare regierungsnaher Quellen sollten den Markt für weitere zwei Monate über 20 Prozent steigen lassen (vgl. Fugmann, 2015). Ein wichtiges Kennzeichen für die Entwicklung einer Spekulationsblase verdeutlicht eindrucksvoll der starke Anstieg der Verschuldung chinesischer Haushalt. Die jährliche Steigerungsrate nach Daten der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) liegt bei 16-20 Prozent in den vergangenen fünf Jahren. Der Grad der Verschuldung lässt sich aber auch an der Emission von High Yield Bonds gut erkennen. Alleine im Jahr 2014 wurden über 209 Milliarden Dollar in chinesische Junk-Bonds, die in den Währungen Dollar, Yen oder Euro ausgegeben wurden, investiert. Betrachtet man die Kennzahlen wie Umsatz zu Zinszahlungen oder die Gesamtverschuldung in Relation zum Cash Flow, wird ersichtlich, wie stark die Unternehmen verschuldet sind. Durchschnittlich liegen die Schulden 35,5-mal so hoch wie die Jahresgewinne der Unternehmen aus dem Bereich der High Yield Anleihen. <?page no="159"?> 158 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Starke Ausweitung der Kreditvergabe an private chinesische Haushalte Abb. 34: Kredite an private Haushalte in China in Mrd. Yuan (10 Jahre); FactSet Die Emission von Anleihen hat auch in den USA Rekordhöhen erreicht. So haben amerikanische Unternehmen im Jahr 2015 Unternehmensanleihen im Nennwert von 517 Mrd. USD emittiert. Dies ist das zweithöchste Emmissionsvolumen innerhalb von zwölf Monaten seit 1985. Der Unterschied zu den Anleihenemissionen im Junk Bond Bereich in China ist allerdings, dass in den Vereinigten Staaten mehrheitlich große Unternehmen (Mega and Large Caps) Liquidität durch die Emission von Anleihen geschaffen haben. So wurde 73 Prozent des Emissionsvolumens in 2015 (in 2011 53 Prozent) von lediglich 44 Unternehmen bewerkstelligt. Einer der wichtigsten Gründe für die Emission von Anleihen sind die hohen Steuern, die abgeführt werden müssten, wenn amerikanische Unternehmen Vermögen aus Übersee in die Vereinigten Staaten zurückführen. So hat Apple seit Mai 2013 Anleihen im Wert von 68 Mrd. USD emititert, da die Zinsen (0,67 Prozent auf 3-jährige und 4,65 Prozent auf 30-jährige Anleihen) wesentlich geringer sind, als der Steuersatz von 35 Prozent, welcher bei Rückführung von Kapital aus dem Ausland fällig wird. Dementsprechend nutzen die Unternehmen das Fremdkapital nicht primär, um in zusätzliches Wachstum zu investieren, sondern vielmehr um die steuerliche Implikation der Rückführung des Kapitals aus dem Ausland zu umgehen (vgl. Forbes, 2016). Die schiere Höhe der Anleiheemission ist zunächst nicht sonderlich bedenklich. Erst wenn die Unternehmen durch steigende Zinsen bzw. durch eine Rezession Schwierigkeiten bei der Rückzahlung bekommen, kann dies problematisch werden. Gegenwärtig sind jedoch die Unternehmen auf Basis von Kennzahlen wie Nettoverschuldung zu E- BITDA unterhalb des langfristigen Durchschnitts von 2.0x (aktuell 1.8x) (vgl. Business Insider, 2016). <?page no="160"?> 5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen 159 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Ein weiterer Grund für die Erhöhung der Emission von Unternehmensanleihen u.a. in Europa ist auch in der Finanzierung von Übernahmen zu sehen. Haben nicht nur sinkende Marktzinsen dazu beigetragen, geringere Coupons anbieten zu müssen, so führt auch die Ausweitung des EZB Anleihekaufprogramms auf Corporate Bonds (anfangs zwischen 5-10 Mrd. EUR monatlich) zu einer weiteren Erhöhung der Emissionstätigkeit der Unternehmen. So ist auch die Übernahmeofferte von Bayer an Monsanto im Wert von 64 Mrd. USD mit dem ab Juni 2016 begonnenen Aufkauf von Corporate Bonds in Verbindung zu bringen. Bayer erfüllt zwei Kriterien, welche die Beschaffung von Fremdkapital zur Deckung der Übernahmekosten mittels „EZB-Finanzierung“ ermöglichen. Es handelt sich nicht um Anleihen von Finanzinstituten und zudem haben die Anleihen von Bayer einen Investment Grade der drei großen Ratingagenturen. Die Nachfrage seitens der Anleihen von Bayer durch die EZB wird entsprechend auch die Kosten für die neuen Schulden senken und so die Höhe des Kaufpreises für Monsanto potenziell ansteigen lassen. Kritische Phase Die letzten beiden Phasen einer möglichen spekulativen Entwicklung in den einzelnen Assetklassen können aus heutiger Sicht (Mitte 2016) nur bruchstückhaft umrissen werden. Gegenwärtig zeichnet sich die kritische Phase nur im chinesischen Markt ab - hier hat der Aktienmarkt bereits erhebliche Verluste von fast 50 Prozent gemessen an seinem Hochpunkt im Juni 2015 erlitten (vgl. Abb. 35). Als Auslöser für den Einbruch des chinesischen Aktienmarktes ist eine Reihe von Faktoren auszumachen. Auf der einen Seite endeten die monatlichen Anleihekäufe der FED Ende 2014 und der Markt wurde auf eine baldige Zinserhöhung in den USA vorbereitet. Liquidität, welche im Rahmen der QE-Programme in die Emerging Markets geflossen war, begann wieder zurückzufließen. Die Möglichkeit, über Wertpapierkredite Aktien zu erwerben, hatte maßgeblich zur chinesischen Hausse beigetragen. In China, wo 80 Prozent der Investoren Kleinanleger sind (ca. 90 Millionen Personen), führten die ab dem 15. Juni 2015 eingeführten Restriktionen für kreditfinanzierten Wertpapiererwerb seitens der People‘s Bank of China PBoC und die extrem hohe Anzahl an Neuemissionen (25 in besagter Woche) zu einer starken Verringerung der Marktliquidität. Dies hatter zur Folge, dass sich die Kleinanleger aufgrund der Nachschusspflicht bei fallenden Kursen genötigt sahen, ihre Papiere abzustoßen. Einen der schwersten Verlusttage verbuchte der CSI 300 am 27. Juli 2015 mit einem Verlust von über 8,6 Prozent - höchster Tagesverlust seit 2007 (vgl. Reuters, 2015). Neben der Liquiditätsrestriktion, sahen die Marktteilnehmer in den Veröffentlichungen ökonomischer Kennzahlen Grund zur Sorge. So wurde am 21. August 2015 der Produktivitätsindex (PMI) mit 47,1 Punkten als der schwächste Wert seit 77 Monaten gemeldet. Auf die Einbrüche im Export reagierte die Notenbank mit einer drastischen Abwertung des Yuan. Eine neuerliche Verkaufslawine an den Börsen Anfang Januar 2016 wurde mit der Sorge um die Konjunktur begründet. Der Yuan erreichte Anfang Januar nach acht Tagen kontinuierlicher Abwertung den tiefsten Stand seit 2011. Die Marktteilnehmer hatten Angst vor einem Währungskrieg Chinas mit anderen Nationen <?page no="161"?> 160 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance und werteten die Abwertungsserie als Indiz dafür, dass die Wirtschaft in einer schlechteren Verfassung ist als bislang angenommen (vgl. FAZ, 2016). Starker Kurseinbruch im CSI 300 kennzeichnend für die kritische Phase Abb. 35: Preisentwicklung China CSI 300; FactSet Die Entwicklung im Junk-Bond Markt zeigte ebenfalls Anzeichen für die Zunahme von Angst unter den Marktteilnehmern. Aus heutiger Sicht kann man zumindest den Ratingagenturen nicht vorwerfen, sie hätten nicht genügend vor Fehlbewertungen gewarnt. So wurden auf dem Hochpunkt der kreditfinanzierten Investitionen durch die Emission von High Yield Anleihen in China immer mehr Stimmen seitens von Ratingagenturen und Banken laut. Allein Moody´s hat in den ersten drei Monaten 2015 ihr Rating für chinesische Junk-Bonds elf Mal gesenkt. Morgan Stanley empfahl, Investitionen in den Sektor zurückzufahren, und Goldman Sachs sah Chinas Immobiliensektor, aus dem ein Großteil der Junk-Bonds stammen, negativ. Eine ähnliche Position vertrat auch die Deutsche Bank, die damit auf die Fast-Pleite eines der größten Immobilienunternehmens in China, Kaisa, reagierte. Schließlich warnte auch Fitch vor einer Serie von Unternehmenspleiten in China (vgl. Fugmann, 2015). 55..3 3 HHiinnwweeiis see aau uff SSppeekkuullaattiioonnssbbllaas seenn iimm PPrriivvaat tee EEqquuiittyy Im vorhergehenden Unterkapitel standen die Spekulationsblasen auf den „öffentlichen“ Kapitalmärkten, dem Public Equity im Vordergrund. Nun soll im nachfolgenden Unterkapitel analysiert werden, inwieweit Spekulationsblasen auch auf dem Markt privater Eigenkapitalfinanzierung, dem Private Equity vorkommen können. Bevor die Untersuchungsergebnisse von Philipp Eustermann (2010) betrachtet werden können, ist es notwendig, auf den Begriff Private Equity und auch den Markt für Privatmarktanlagen einzugehen sowie diese im Investitionszyklus einzuordnen. <?page no="162"?> 5.3 Hinweise auf Spekulationsblasen im Private Equity 161 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Als Private Equity wird nach herrschender Meinung der Oberbegriff für private Eigenkapital-Unternehmensfinanzierungen nicht börsennotierter Unternehmen bezeichnet. Dieses Merkmal stellt den Hauptunterschied zum Public Equity dar, wo Anteile börsennotierter Gesellschaften gehandelt werden Die Existenzgrundlage für Privatmarktanlagen wird durch die Einschränkung der Unternehmensfinanzierung über die öffentlich zugängigen Kapitalmärkte bzw. der Kreditinstitute geschaffen. Ein Unternehmen kann bei Finanzierungsbedarf z.B. entweder durch die Emission neuer Aktien auf Eigenkapital erwerben, durch den Verkauf von Anleihen neues Fremdkapital beschaffen oder aber sich an Kreditinstitute wenden, um auf diese Weise Fremdkapital aufzunehmen. In beiden Fällen sieht sich das Unternehmen einer Reihe von Anforderungen ausgesetzt, die es zu erfüllen gilt, um an das gewünschte Kapital zu kommen. So ist die Emission neuer Aktien an den Kapitalmärkten nur möglich, wenn das Unternehmen sich für eine Notierung in einem bestimmten Marktsegment der Deutschen Börse entschieden hat. Die Notierung kann an drei verschiedenen Segmenten geschehen, dem Amtlichen Handel, dem Geregelten Markt oder dem Freiverkehr. Diese Marktsegmente unterschieden sich vor allem aufgrund der Zulassungskriterien, welche z.B. beim amtlichen Handel am schärfsten sind. Der Börsengang ist ein zeit- und kostenaufwendiger Prozess, wobei zunächst die Börsenfähigkeit des in Frage kommenden Unternehmens geprüft werden muss. Hierbei wird mit Hilfe von Kreditinstituten, den sog. Konsortialbanken, der Börsengang vorbereitet und begleitet. Innerhalb dieser Zeit wird das Unternehmen bewertet und gegenüber Investoren als mögliches Investitionsobjekt vermarktet. Neben diesen eher marketingtechnischen Anforderungen sind weitere formale Zulassungskriterien der Deutschen Börse einzuhalten. Diese Kriterien (u.a. Publizitätsvorschriften, Mindestbestandsdauer des Unternehmens oder auch die Mindesthöhe von Streubesitz und Marktkapitalisierung) ergeben sich aus den Anforderungen des Börsengesetzes (BörsG, §§ 32 ff.) sowie der Börsenzulassungsverordnung (BörsZulV, §§ 48 ff.). Wie die Zulassung an die organisierten Kapitalmärkte durch vielfältige Kriterien beschränkt ist, so kann die Aufnahme von Fremdkapital durch die Inanspruchnahme eines Betriebsmittelkredites bei Kreditinstituten ebenfalls durch die Nichterfüllung bestimmter Vergabekriterien erschwert bzw. verhindert werden. Kann ein Unternehmen seine Zins- und Tilgungsfähigkeit, d.h. die Fähigkeit geliehene Mittel zu den vereinbarten Konditionen zurückzuzahlen, nicht eindeutig nachweisen, so bleibt den Unternehmen die Möglichkeit, sich über andere private Geldgeber zu finanzieren. Die Inanspruchnahme von Mitteln aus privater Hand kann für ein junges Unternehmen ebenfalls intensiven Werbeaufwand für das eigene Geschäftsmodell bzw. die herzustellenden Produkte/ Dienstleistungen bedeuten. Die Kapitalgeber sind aufgrund des höheren Risikos darauf bedacht, das mögliche Zielunternehmen eingehend zu prüfen. Selbst Christopher Columbus benötigte sieben Jahre, um die notwendigen Mittel für seine Erkundungsreise Richtung Westen von dem spanischen Königspaar Ferdinand II. und Isabella I. zu erhalten. Columbus mag es im 17. Jahrhundert nicht bewusst gewesen sein, eines der ersten Private Equity-finanzierten Vorhaben realisiert zu haben. Private Equity Investitionen unterscheiden sich vornehmlich nach der Art der Finanzierung, die vom jeweiligen Entwicklungsstand des zu finanzierenden Unternehmens abhängen. So gewähren Kapitalgeber zum einen finanzielle Mittel während der Frühphasenfinanzierung eines jungen Unternehmens (Venture Capital). Zum anderen spricht <?page no="163"?> 162 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance man auch von Spätphasenfinanzierung, wenn sich das zu finanzierende Unternehmen in einem bereits fortgeschrittenen Stadium des Unternehmenszyklus befindet (Growth Capital). Während beim Venture Capital junge Unternehmen (Start-ups) an die tatsächliche Produktion ihrer Vorhaben herangeführt werden, steht beim Growth Capital oft auch internationale Expansionsstrategie im Vordergrund der Investitionsüberlegung (vgl. Demaria, 2010, S. 77 ff.). Als Schnittstelle zwischen Investoren als Kapitalgeber und den Beteiligungsunternehmen a ls kap ital su ch en de U n te rn eh men e rfü ll en d ie P E-Ges ellschaften die folgend en dr ei Hauptfunktionen (vgl. Eustermann, 2010, S. 34 f.): Finanzierungsfunktion - Beteiligungsunternehmen wird für die Zielsetzung der Investition (u.a. Schaffung Strukturen, Internationalisierung) Kapital zur Verfügung gestellt, das sie sonst über den organisierten Kapitalmarkt bzw. über Kreditinstitute nicht erhalten würden. Kapitalanlagefunktion - Die PE-Gesellschaften investieren die ihnen anvertrauten Investitionsmittel in die jeweiligen Beteiligungsfonds, in denen sich die Beteiligungsunternehmen befinden. Für die Kapitalgeber (Limited Partners) übernehmen die PE- Gesellschaften (General Partners) die Auswahl und Bewertung adäquater Beteiligungsunternehmen. Betreuungsfunktion - Mittels dieser Funktion, soll die Wertsteigerung innerhalb der Beteiligungsunternehmen durch aktives Beteiligungsmanagement gewährleistet werden. Hierbei ist zu beachten, dass die Wertsteigerungsmöglichkeiten nicht unbedingt vollständig ausgeschöpft werden müssen, damit die Beteiligungsunternehmen bei einem Weiterverkauf an andere PE-Gesellschaften (sog. Secondary-Buy-Outs) weiterhin attraktiv bleiben. Der Weiterverkauf eines Beteiligungsunternehmens ist insbesondere deshalb empfehlenswert, da PE-Gesellschaften in der Regel eine klar vorgegebene Strategie verfolgen. So spezialisieren sich einige auf junge Unternehmen, andere wiederum auf Unternehmen im fortgeschrittenen Lebenszyklus. Wurden die gesteckten Entwicklungsziele eines Start-ups erreicht, benötigen diese für ihre weitere Entwicklung Experten, die für zusätzliches Wachstums sorgen können. Nach Betrachtung der grundlegenden Funktion von Private Equity Investitionen drängt sich die Frage auf, ob es auch auf diesen Märkten zu Übertreibungen kommen kann. Die 2010 von Eustermann durchgeführte Studie zielte auf die Beantwortung dieser Frage ab. Für die Analyse wurde der Fokus auf den US-amerikanischen Markt im Zeitraum zwischen 1985 und 2008 gelegt. Eustermann verglich die Preisentwicklung des Dow Jones mit den durchschnittlichen Transaktionspreisen US-amerikanischer Private Equity Transakationen. Seine Untersuchung zeigte eine auffällige Überschneidung in der Preisentwicklung des Dow Jones mit den durchschnittlichen Transaktionspreisen von Private Equity Transaktionen. Inbesondere fiel eine Korrelation 1987 kurz vor dem Schwarzen Montag, während der Dotcom-Blase zwischen 1997-2001 sowie während der Subprime- Blase 2006-2008 auf (vgl. Eustermann, 2010, S. 65). Mit Blick auf den globalen Markt wurde die Analyse von Daxhammer/ Facsar 2016 auf Basis von Transaktionsdaten aus FactSet wiederholt. Hierfür wurden Transaktionen mit einer Größe ab 1 Mio. USD und der Beteiligung eines Private Equity Investors herangezogen. In die Analyse flossen 9.332 Transaktionen ein. Als Vergleichsindex wurde der <?page no="164"?> 5.3 Hinweise auf Spekulationsblasen im Private Equity 163 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance MSCI World Index ausgewählt. In Abb. 36 ist die Gegenüberstellung der Preisentwicklung des MSCI World Indexes als Public-Equity-Markt mit dem fiktiven Private-Equity- Markt basierend auf dem durchschnittlichen Transaktionspreis der einbezogenen Transaktionen abgebildet. Der durchschnittliche Transaktionspreis stellt die Summe aller Kaufpreise dar, die innerhalb eines Jahres für alle abgeschlossenen Transaktionen bezahlt und über die Anzahl der Transaktionen des jeweiligen Jahres dividiert wurden. Die hohe Anzahl von Transaktionen in einem Jahr sorgt dafür, dass Ausreißer-Transaktionen kaum ins Gewicht fallen bzw. durch andere Transaktionen ausgeglichen werden. Wiederkehrende Spekulationsblasen - sowohl im Public als auch im Private Equity Abb. 36: Spekulationsblasen im Private/ Public Equity Markt zwischen 1992-2016; FactSet Basierend auf dieser Vorgehensweise werden wiederkehrende starke Schwankungen innerhalb der Betrachtungsperiode zwischen 1992 und 2016 sichtbar. Als besonders hervorzuheben sind die hohen Transaktionspreise und damit die Bewertung der PE-Transaktionen während der Subprime-Blase 2006-2008. Zudem ist es auffällig, dass sich die durchschnittlichen Transaktionspreise seit 2009 im Gleichklang mit den weltweiten Aktienmärkten nach oben bewegen. Aufgrund der auffälligen Überschneidung der Transaktionspreis-Entwicklung mit der zeitgleich stattfindenden Blasenbildung auf dem Public-Equity-Markt, ist davon auszugehen, dass auch der Private-Equity-Markt zu zeitweiliger Übertreibung neigt. Infolge der Korrelation des US-amerikanischen Private-Equity-Marktes mit dem vergleichbaren Public-Equity-Markt ist es an dieser Stelle angebracht, die blasenbildenden Faktoren insbesondere für den Private-Equity-Markt herauszustellen (vgl. Abb. 37). In Kapitel vier standen die Bedingungen für die Entstehung von Spekulationsblasen auf organisierten Kapitalmärkten, den Public Equity Märkten im Vordergrund der Betrachtung. Hierbei haben sich insbesondere die nachfolgenden Bedingungen herauskristallisiert: <?page no="165"?> 164 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Boom-Denken - Die soziale Ansteckung durch das Boom-Denken führt unter den Marktteilnehmern zu der Wahrnehmung, dass die steigenden Notierungen der betroffenen Asset-Klasse nachhaltig und fortwährend zu erwarten sind. Die soziale Ansteckung durch das Boom-Denken ermöglicht die Bildung von Herdenbewegungen, die zusätzlich eine sich entwickelnde Finanzmarktblase verstärken. Die Marktteilnehmer neigen durch die Meinungsbildung auf Basis der Masse zur selektiven Informationswahrnehmung, wodurch begrenzt rationale Entscheidungen zu erwarten sind. Begrenzte Arbitrage - Das Konzept der Arbitrage sollte darin liegen, preiskorrektive Maßnahmen durch das Handeln institutioneller Anleger herbeizuführen. Auf diese Weise würden sich Wertpapiere ihrem Fundamentalwert annähern. Die Praxis zeigt jedoch, dass der Arbitrage Grenzen gesetzt sind. Diese Grenzen in Form von Kosten als auch Risiken verhindern, dass die Arbitrageure sich begrenzt rationalen Anlegern entgegenstellen. Vielmehr beteiligen sich Arbitrageure an blasenbildenden Preisbildungen, solang sie diese als rational ansehen und entsprechend davon profitieren können. In der Folge verstärkt sich u.U. die Blasenbildung. Marktanomalien - Kurzfristige als auch mittel-/ bis langfristig andauernde Anomalien führen sowohl zur Entstehung als auch zur Verstärkung von Spekulationsblasen. Die Marktteilnehmer neigen systematisch zur Fehlbewertung von Informationen, weshalb sich die Wertpapiere von ihren Fundamentalwerten entfernen. Im Private Equity können ebenfalls Bedingungen herausgestellt werden, die die Ausbildung von Spekulationsblasen aber auch die plötzliche Beendigung einer an sich ökonomisch positiven Entwicklung herbeiführen können (vgl. Eustermann, 2010, S. 131 ff.). Image der PE-Branche - Das Image der Branche trägt nachhaltig zur Finanzierung von Unternehmen durch PE-Gesellschaften bei, sie führt aber auch zur Behinderung dieser Investitionsmöglichkeit. Als Beispiel kann hier die „Heuschreckendebatte“, angefacht vom ehemaligem Arbeits- und Sozialminister Franz Müntefering im Jahr 2005, aufgeführt werden. Durch solche Bezeichnungen kann es dazu kommen, dass sich mittelständische Unternehmen von PE-Gesellschaften abwenden, wenn es um eine Beteiligung bzw. Verkauf geht. Dies kann dazu führen, dass die wirtschaftliche Entwicklung verlangsamt wird, da es ohne die Existenz von PE-Gesellschaften zu einer Unterfinanzierung vieler mittelständischer Unternehmen kommt. Marktteilnehmer laufen folglich Gefahr, durch solche plakativen Beschreibungen in ihren Urteilen beeinflusst zu werden. Bei der pauschalen Ablehnung von Private Equity Investitionen gerät es jedoch in Vergessenheit, dass die PE-Gesellschaften oft schlecht geführte Unternehmen für ihre Investitionszwecke auswählen, sie restrukturieren und diese erst nach einer notwendigen Restrukturierung wieder veräußern. Erfolgreiche Transaktionen - Diese Bedingung zielt auf die wahrnehmungsverzerrende Wirkung von erfolgreichen Transaktionen ab. Marktteilnehmer, die über eine gewisse Zeit erfolgreiche PE-Transaktionen abgeschlossen haben, neigen zunehmend Selbstüberschätzung (Overconfidence). Im Zuge dieser Wahrnehmungsverzerrung verlieren sie das Risikobewusstsein und schätzen objektive Wahrscheinlichkeiten höher ein, als diese tatsächlich sind (vgl. Probability Weighting Kap. 6). Als Konsequenz <?page no="166"?> 5.3 Hinweise auf Spekulationsblasen im Private Equity 165 beteiligen sich PE-Gesellschaften vermehrt an Akquisitionen und beschleunigen dadurch eine Blasenbildung wie dies in Abb. 36 sichtbar ist. Öffentliche Wahrnehmung - Insbesondere große PE-Gesellschaften, die Transaktionen in Mrd.-Höhe abwickeln, stehen stark in der öffentlichen Wahrnehmung. Dies führt oftmals dazu, dass sie sich in ihren Fähigkeiten überschätzen und zur Ausweitung der Transaktionstätigkeit neigen, um ihre erfolgreiche Stellung öffentlich zu demonstrieren. Diese Gesellschaften verspüren zunehmend einen Handlungsdruck, was auf eine sich entwickelnde Spekulationsblase trendverstärkend wirkt. Reputationsbestreben - Eine weitere, der öffentlichen Wahrnehmung sehr ähnliche Bedingung, die zu einer Verstärkung von Spekulationsblasen im Private-Equity- Markt führen kann, ist das Bestreben einer PE-Gesellschaft, eine Transaktion unbedingt durchführen zu wollen. Der Wunsch, in der öffentlichen Wahrnehmung durch die Transaktion eines Unternehmens eine gewünschte Reputation zu erwerben, führt zu überhöhten Transaktionspreisen für das zu erwerbende Unternehmen. So hat sich im Bieterwettbewerb um Opel im Jahr 2009 neben dem Autozulieferer Magna auch der Finanzinvestor RHJ in den Bieterprozess hineingedrängt. Nach Ansicht von Röder, Henze, Ludwig (2003) spielt der Winner’s Curse-Effekt eine wesentliche Rolle in der Neigung, ein Unternehmen zu jedem Preis kaufen bzw. verkaufen zu wollen. Der Winner’s Curse-Effekt tritt z.B. auf, wenn ein Käufer sich mental auf die Übernahme des Zielunternehmens schon eingestellt hat und die Transaktion unbedingt abschließen möchte. Der Winner’s Curse-Effekt kann auf Seiten des Käufers zu überhöhten Preisangeboten im Bieterverfahren führen. Entsprechend starke Kaufpreissteigerungen konnten im Zeitraum 2005-2007 im PE-Segment Buy beobachtet werden. Der Begriff Winner’s Curse rührt daher, dass der Gewinner in einem Bieterwettbewerb aller Wahrscheinlichkeit nach einen Preis bezahlt hat, der über einem gerechtfertigten Marktpreis liegt. Konkurrenzdruck - Letztlich kann auch der Konkurrenzdruck innerhalb einer PE- Gesellschaft zu überhasteten Transaktionen führen, wenn lediglich ein General Partner zum Ende eines Jahres noch keine Transaktion vorzuweisen hat, die anderen General Partner der PE-Gesellschaft jedoch bereits eine Transaktion abgeschlossen haben. Der Gruppendruck kann zur Durchführung der nächstbesten Transaktion führen, wodurch sich die Spekulationsblase am PE-Markt noch verstärken kann. <?page no="167"?> 166 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 37: Bedingungen für Spekulationsblasen <?page no="168"?> Zusammenfassung 167 Z Zuussaammmmeennffaassssuunngg Spekulationsblasen als Folge systematischer Fehleinschätzungen haben sich nicht erst in der jüngeren Vergangenheit entwickelt. Ihre Existenz reicht zumindest weit in das 17. Jahrhundert zurück. Obwohl spekulative Übertreibungen wie ein roter Faden die Geschichte der Finanzmärkte durchziehen, wird deutlich, dass die Investoren aus Fehlern nicht lernen und darüber hinaus sich auch nicht an ihre Fehler erinnern. Einerseits verlassen sich die Marktteilnehmer auf die staatlichen Institutionen, andererseits sind die meisten Finanztransaktionen derart kompliziert, dass diese selbst von erfahrenen Marktteilnehmern nicht immer nachvollzogen werden können. Als bedeutende Wissenschaftler im Bereich der Spekulationsblasen gelten zum einen Benoit Mandelbrot, der zehn Eigenschaften angibt, wonach die Kapitalmärkte charakterisiert werden können; zum anderen die Wissenschaftler Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart (2008, This Time is different) sowie Charles Kindleberger (1978, Manias, Panics and Crashes), die jeweils historische Spekulationsblasen detailliert analysierten. Nach Meinung von de Bondt, einem wichtigen Vertreter der Behavioral Finance, verzerren Spekulationsblasen nicht nur die Allokationsfunktion der Märkte, sondern führen auch dazu, dass die Gesellschaft das Vertrauen in die Integrität der Finanzmärkte verliert. Spekulationsblasen können aus verschiedenen Gründen entstehen. So kann die Ansicht auf eine Wertsteigerung eines bestimmten Gutes, wie die einer Tulpenzwiebel, zur sozialen Ansteckung durch das Boom-Denken führen. Auch können ausufernde Staatsschulden, wie im Falle der John-Law-Spekulationsblase, Ursache für eine unverhältnismäßig starke Zunahme von Vermögenspreisen sein. Spekulationsblasen entstehen zudem nicht nur an organisierten Kapitalmärkten (Public Equity) sondern auch auf den unregulierten Märkten für Privatmarktanlagen (Private Equity). Diese Spekulationsblasen entstehen durch die Zunahme der Transaktionsvolumina, die mit steigenden Akquisitionspreisen einhergehen. Wie im Public Equity sind auch im Private Equity bestimmte Rahmenbedingungen für die Verstärkung einer Spekulationsblase verantwortlich (u.a. Image der Branche, öffentliche Wahrnehmung, Reputationsbestreben). <?page no="169"?> 168 5 Historische Spekulationsblasen im Überblick SScchhlluussssbbeettrraacchhttuunngg AAbbsscchhnniitttt IIII Die Betrachtung der in Kapitel 5 aufgeführten Spekulationsblasen zeigte deutlich, dass die Marktteilnehmer geneigt sind, sich von Emotionen leiten zu lassen. Darüber hinaus wurde klar, dass Spekulationsblasen durch die Arbitrage nicht immer begrenzt werden können. Arbitrageure sind aufgrund der ihnen auferlegten Beschränkungen nicht ohne weiteres in der Lage, die Bewertung von Wertpapieren den fundamentalen Werten anzupassen. Darüber hinaus existieren Marktanomalien, die im Zuge der Informationsverarbeitung langfristig vom Fundamentalwert der Wertpapiere abweichende Bewertungen verursachen können. Die neue verhaltensorientierte Kapitalmarkttheorie, die Behavioral Finance, beschreibt einen Marktteilnehmer, der aus der Verhaltensform des Homo Oeconomicus herausgelöst wird. Der Marktteilnehmer wird zum beeinflussenden, aber auch zum beeinflussbaren Wesen - zum Homo Oeconomicus Humanus. Der einzelne Marktteilnehmer offenbart im Weiteren in der Masse Verhaltensweisen, die eine Spekulationsblase weiter antreiben können. Die Marktteilnehmer werden im Rahmen der Feedback-Theorie durch das Boom-Denken angesteckt. Dieses entsteht durch die allgemeine Beobachtung und mediale Berichterstattung von schnell steigenden Wertpapierkursen. Die Annahme, der Boom setze sich fort, wird weiter verstärkt. Es kommt in der Folge zu weiteren Preisanstiegen. Bei drohenden Verlusten kippt jedoch die Meinung der Masse wieder und es bricht Panik aus. Durch das Herdenverhalten der Markteilnehmer werden Spekulationsblasen zusätzlich zu den erwähnten Ursachen, wie die begrenzte Arbitragemöglichkeit, verstärkt. Diese Erkenntnisse zeigen deutlich die Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie. Die eingeleitete Paradigmenerweiterung hin zu einem verhaltensorientierten Ansatz ist im vollen Gange. Der Marktteilnehmer muss entsprechend der tatsächlich beobachtbaren Verhaltensweisen analysiert werden. Die Entwicklung von Hypothesen, die auf Annahmen basieren, die unter realen Bedingungen nicht vertretbar sind, kann nicht unbegrenzt zielführend sein. Im dritten Abschnitt erfolgt die Analyse des tatsächlichen Entscheidungsverhaltens der Marktteilnehmer. Diese werden entsprechend ihres Verhaltens in der Informationswahrnehmung, -verarbeitung/ -bewertung sowie Investitionsentscheidung auf begrenzt rationale Verhaltensweisen überprüft. Dadurch wird es möglich, das Verhalten des Marktteilnehmers in Anbetracht von Informationsasymmetrien im richtigen Kontext einzuordnen. <?page no="170"?> www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance AAbbsscchhn niitttt I IIIII -- DDeerr H Hoommoo OOeeccoonnoommiiccuuss HHuummaannuuss i imm IInnf foorrm maattiioonnss-uunndd E En nttsscchhe eiidduunnggsspprroozzeessss 66 PPh haasseenn dde err EEnnttsscchheeiiddu unnggssffiinndduunngg Nach Durcharbeiten dieses Kapitels kennen Sie die Grundlage des Informations- und Entscheidungsprozesses und verstehen, welche Wahrnehmungsstörungen den Marktteilnehmer an der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen hindern können. Im Weiteren lernen Sie die Grundlage der Entscheidungsfindung aus Sicht der Behavioral Finance kennen: Die Prospect Theory, als Alternative zur traditionellen Erwartungsnutzentheorie. Sie werden verstehen, wie der Marktteilnehmer zum einen über die S-förmige Wertfunktion seine Einstellung zum Risiko beschreibt, zum anderen über die Gewichtungsfunktion objektive Wahrscheinlichkeiten entsprechend seiner Ansichten transformiert. Diese beiden Funktionen werden Ihnen die Bewertung von Wertpapieren auf Basis der Prospect Theory verdeutlichen und die kognitiven Begrenzungen der Marktteilnehmer aufzeigen. 66..1 1 DDeerr IInnffoorrmma attiioonnss-uunndd EEnnttsscch heeiidduunnggsspprroozzeessss iimm ÜÜbbeerrbblliicck k Der Informations- und Entscheidungsprozess stellt die Gesamtheit der Informationsgewinnungs- und Verarbeitungsprozesse dar. Bis zur Entscheidungsfindung werden drei Prozessschritte durchlaufen (vgl. Abb. 38). Zunächst erfolgt die Informationswahrnehmung (vgl. Kapitel 6.1.1), dann folgt die Informationsverarbeitung bzw. -bewertung (vgl. Kapitel 6.1.2) und schließlich rundet die Investitionsentscheidung (vgl. Kapitel 6.1.3) den Informations- und Entscheidungsprozess ab. Während der einzelnen Prozessschritte ist der Marktteilnehmer nicht nur mit einer überwältigenden Vielzahl an Informationen konfrontiert, sondern auch mit einer Situation der Ungewissheit. Unter diesen Rahmenbedingungen bedient sich der Marktteilnehmer bestimmter Hilfsmitteln, den sog. Heuristiken sowie der subjektiven Bewertung von Wahrscheinlichkeiten. Heuristiken dienen dem Marktteilnehmer als Unterstützung für die Entscheidungsvorbereitung (vgl. Goldberg & von Nitzsch, 2000, S. 47). Die Anwendung von Heuristiken führt zur Verringerung der Alternativen, aus denen der Marktteilnehmer eine Entscheidung treffen muss. Sie erhöhen damit die Wahrscheinlichkeit, eine Entscheidung treffen zu können (vgl. Lewis, 2008, S. 43). Während die angewendeten Heuristiken die Entscheidungsvorbereitung sehr effizient gestalten können, führen sie unter Umständen auch zu systematischen Verzerrungen der Ergebnisse. Diese Verzerrungen werden als Biases bezeichnet und in den Folgekapiteln 7 bis 9 detailliert behandelt. Die Bewertung von Wahrscheinlichkeiten beeinflusst zusätzlich den Umgang mit Risiko im Rahmen der Entscheidungsfindung. Dabei werden objektive Wahrscheinlichkeiten überbzw. unterbewertet, mit der Folge, dass sich die Risikoeinschätzung des Marktteilnehmers verändert (vgl. Kap. 6.2.3). <?page no="171"?> 170 6 Phasen der Entscheidungsfindung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 38: Grundlagen des Informations- und Entscheidungsprozesses <?page no="172"?> 6.1 Der Informations- und Entscheidungsprozess im Überblick 171 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 66..11..1 1 IInnffoorrmmaat ti ioonnsswwaah hrrnneeh hmmuunngg Der I nf orm at io nsp ro ze s s be g i nn t mit der In for ma tio nsw ah rn ehm un g. D ab ei werd en vom Marktteilnehmer äußere wie innere Reize registriert. Diese dienen ihm dazu, ein Bild über seine Umwelt zu generieren. Als äußere Reize können die Meldungen in der medialen Berichterstattung verstanden werden, als innere Reize sind hingegen die emotionalen Zustände des Marktteilnehmers gemeint (insbesondere Gier und Angst). Als Information wird allgemein ein Signal verstanden, welches dazu beitragen soll, die Ungewissheit zu reduzieren und Entscheidungen vorzubereiten. Die Informationswahrnehmung kann auf aktives Suchverhalten zurückgehen oder ohne Absicht und willentliche Bemühung, z.B. beim Durchblättern einer Zeitschrift, erfolgen (passive Informationswahrnehmung). In Abhängigkeit von der Entscheidung gestaltet sich die Intensität der Informationswahrnehmung. So werden für einfache Entscheidungen bereits vorhandene Informationen aus dem Gedächtnis abgerufen (interne Informationsquellen). Komplexe Entscheidungen führen jedoch in der Regel zur Beschaffung von Informationen über die aktive Suche in Publikationen, Foren, Gesprächen mit anderen Marktteilnehmern usw. (externe Informationsquellen). Das Verhältnis zwischen internen und externen Informationsquellen ist im Wesentlichen von drei Faktoren abhängig: Beteiligung des Marktteilnehmers an der Entscheidung - je höher diese ist, desto stärker werden externe Informationen nachgefragt. Bestand an internen Informationen - je weniger Informationen der Marktteilnehmer aus dem Gedächtnis für die Entscheidung abrufen kann, desto stärker werden wiederum externe Informationen nachgefragt. Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen der Informationssuche - je günstiger das Verhältnis ist, desto offener ist der Marktteilnehmer für die externe Informationssuche. Bei der Informationswahrnehmung werden entscheidungsrelevante Signale aus der Menge aller Signale aufgenommen. Der Wahrnehmungsprozess beinhaltet nach Payne zwei verschiedene Wahrnehmungsstörungen, die für die Informationsaufnahme prägend sind (vgl. Mazanek, 2006, S. 68 f.): Zum einen werden nicht alle Informationen und Reize wahrgenommen. Zum anderen wird nicht zwischen relevanten und nicht-relevanten Informationen unterschieden. Die Erwartungen der Marktteilnehmer scheinen häufig miteinander zu korrelieren, wodurch im Herdenverhalten begünstigt wird. Die Ursache für korrelierende Erwartungen liegt in der begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit der Marktteilnehmer. Diese sind wahrscheinlich auch für die Anwendung von Heuristiken, wie die Verfügbarkeitsheuristik oder die Repräsentativitätsheuristik, verantwortlich. Die begrenzte Wahrnehmungsfähigkeit zeigt sich eindrucksvoll an den Studienergebnissen von Rashes (2001). Er untersuchte zwischen 1996 und 1997 die Preisbildung von MCI Communication (Indexticker MCIC), ein Mobilfunkanbieter mit einer Marktkapitalisierung von 20 Mrd. USD, und Massmutual Corporate Investors (Indexticker MCI), ein geschlossener Fond mit 200 Mio. USD an verwaltetem Vermögen. MCIC war in dieser Zeit in Fusionsverhandlungen mit entsprechend volatilen Preisausschlägen in der <?page no="173"?> 172 6 Phasen der Entscheidungsfindung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Kursnotierung des Unternehmens. Rashes überprüfte die Hypothese der begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit der Marktteilnehmer mit seinen Studienergebnissen, die belegten, dass nicht nur der Kurs der MCIC, sondern auch der zum Verwechseln ähnliche MCI ähnliche Kursschwünge erlebte. Die begrenzte Wahrnehmungsfähigkeit führt im Endeffekt zur Gleichbehandlung von ähnlichen Vermögenspositionen/ Wertpapieren mit der Folge, dass sie bei Eintritt neuer Informationen gleichermaßen bewertet werden. Auf diese Weise ist der Marktteilnehmer bemüht, die Komplexität zu reduzieren und die Informationsverarbeitung zu beschleunigen (vgl. Rau 2010, S. 333 ff.). Würde der Marktteilnehmer alle vorhandenen Informationen verarbeiten und korrekt bewerten wollen, müsste er über unbegrenzte Wahrnehmungsfähigkeiten und kognitive Kapazitäten verfügen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen jedoch, dass das menschliche Gehirn sehr starken Begrenzungen unterliegt. Die Kapazität, komplexe Informationen zu verarbeiten, sinkt nach kurzer Zeit rapide. Die bewusste Interaktion mit der Umwelt erfolgt im präfrontalen Kortex, dem vorderen Bereich des Gehirns. Dieser Bereich ist für das aktive Denken zuständig. Amy Arnsten von der Yale Medical School erforscht die Prozesse des besagten Gehirnbereiches und führt aus, dass die aktive Informationswahrnehmung und -verarbeitung aufgrund des intensiven Verbrauchs an Stoffwechselenergie, wie Glukose und Sauerstoff, schnell ermüden lässt. Der intensive Energieverbrauch des präfrontalen Kortex wird mit seiner evolutionsgeschichtlichen Entstehung in Verbindung gebracht. Im Gegensatz zu anderen Gehirnregionen ist dieser Bereich noch sehr jung und wird sich kontinuierlich weiterentwickeln müssen, um den Anforderungen der stetig steigenden Informationsflut gerecht zu werden. (vgl. Rock, 2011, S. 25 ff.) Folgl ich ist e s nicht e rstau nlich, d ass sic h der M ensch i m Pro zess der Info rm ation swah rnehmung und -verarbeitung bestimmter Hilfsmittel bedient, um dennoch eine akzeptable Entscheidung treffen zu können. Selektive Wahrnehmung Diese Verhaltensregel (vgl. Kap. 7.1.2) verdeutlicht, wie die Wahrnehmung der Marktteilnehmer durch ihre Erwartungen beeinflusst wird. Informationen, die nicht den eigenen Erwartungen entsprechen, wird weniger Bedeutung zugestanden als denjenigen Informationen, die unsere Erwartungen bestätigen. Erfahrungen bzw. gewohnheitsmäßiges Verhalten verhindern die unbegrenzte Aufnahme von Informationen und resultieren in einer suboptimalen Entscheidungsvorbereitung. Der Marktteilnehmer bezieht sich, z.B. bei der Informationswahrnehmung, auf seine bislang erworbenen Kenntnisse und übersieht dadurch neue Informationen. Des Weiteren tendieren die Marktteilnehmer dazu, sog. Schlüsselinformationen überzubewerten. Letztere sind Informationen, die für die Entscheidungsfindung besonders wichtig erachtet werden und andere Informationen ersetzen oder vernachlässigen lassen. Die selektive Wahrnehmung ist insbesondere bei komplexen Problemen zu beobachten. Nachfolgend werden drei Prinzipien vorgestellt, die im Rahmen der selektiven Informationswahrnehmung beobachtet werden (vgl. Kohlert, 2009, S. 78 ff.): <?page no="174"?> 6.1 Der Informations- und Entscheidungsprozess im Überblick 173 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Vollständigkeitsprinzip - Genügen die vorhandenen Informationen nicht, um eine Entscheidung treffen zu können, so werden selbstständig eigene Informationen (z.B. aus Erfahrungen) einbezogen, um einen stimmigen Gesamteindruck zu erhalten. Prinzip der Ähnlichkeit und Gleichheit - Nach diesem Prinzip sind die Marktteilnehmer bestrebt, ähnliche Informationen zu einem konsistenten Gesamtbild zu verdichten. Neue, diesem Gesamtbild widersprechende Informationen werden vernachlässigt. Figur-Grund-Prinzip - Nach diesem Prinzip werden Informationen, die von der bisherigen Wahrnehmung abweichen, begrenzt rational bewertet. Sie werden aus dem vorgefassten Blickwinkel betrachtet, wodurch eine Uminterpretation dieser neuen Informationen erfolgen kann. Als ein klassisches Beispiel gilt hier der Kampf zwischen Coca-Cola und Pepsi. In einem offenen Test (Kennzeichnung der Marken) schneidet Coca-Cola besser ab, in einem Blindtest ist dagegen Pepsi geschmacklich meist besser. Grund für diese Erscheinung ist die automatisch bessere Einschätzung einzelner Produkteigenschaften auf Basis positiver Assoziationen mit der jeweiligen Marke. Beispiel 6.1: Selektive Wahrnehmung Nach einer Investition in ein Unternehmen würde ein Marktteilnehmer entsprechend seinen positiven Erwartungen überwiegend positive Nachrichten suchen, wahrnehmen und dadurch in eine überoptimistische Stimmung versetzt werden. Folglich gewichtet er die Bedeutung der positiven Nachrichten stärker und unterschätzt negative Nachrichten. Im Extremfall werden nur positive Nachrichten zur Rechtfertigung einer Investition gesucht und negative, die die Investition als ungerechtfertigt erscheinen lassen, werden komplett vernachlässigt. Wenn der Kurs der Aktie jedoch nicht wie erwartet steigt, kann der Marktteilnehmer das nicht verstehen und hält angesichts seiner positiven Wahrnehmung an der Investition fest. Setzen sich die schlechten Nachrichten fort, wird sich seine selektive Wahrnehmung u.U. verändern. In diesem Fall wird der Markteilnehmer glauben, dass die Investition in das Unternehmen von vornherein ein Fehler war. Um den Fehler jedoch nicht eingestehen zu müssen, hält der Marktteilnehmer in der Hoffnung auf Dispositionseffekt bekannte Heuristik gilt als Ursache für die unterdurchschnittliche Entwicklung vieler Depots. Im Rahmen der selektiven Wahrnehmung werden individuelle Entscheidungsregeln verwendet, welche die durch die Fülle an Information hervorgerufene kognitive Belastung verringern. Diese kognitiven Belastungen stehen für die Beschränkungen des menschlichen Gehirns, die Vielzahl der Informationen zu verarbeiten. Der Prozess der Informationswahrnehmung kann damit als ein kognitiver Informationsverarbeitungsprozess angesehen werden (vgl. Mazanek, 2006, S. 68 f.). Information Overload Die zweite Wahrnehmungsstörung, bei der die Marktteilnehmer nicht zwischen relevanten und irrelevanten Informationen unterscheiden, trifft in der Regel dann auf, wenn das <?page no="175"?> 174 6 Phasen der Entscheidungsfindung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Informationsangebot zu groß ist. Folglich trifft der Marktteilnehmer auf Basis einer verminderten Informationsqualität seine Entscheidung. Dieses Phänomen wird auch als Information Overload bezeichnet. Demnach sorgen zu viele Informationen Stress beim Markteilnehmer, vermindern seine Fähigkeiten, Prioritäten zu setzen, und erschweren die Erinnerung an frühere Informationen (vgl. Kohlert, 2009, S. 81). Beispiel 6.2: Information Overload Die Auswirkungen des Information Overload wurden ausgiebig in Experimenten untersucht. Bahnbrechend waren die Erkenntnisse der US-amerikanischen Forscherin Sheena Iyengar, die in einem Supermarkt die Verkaufsquote von Marmeladen testete. Ihre Erkenntnisse ließen schlussfolgern, dass die Verkaufsquote höher ist, je weniger Auswahl an Marmeladesorten zur Verfügung stehen. Bei 24 Sorten kauften lediglich 3 Prozent der interessierten Konsumenten, bei sechs Sorten stieg die Verkaufsquote auf 30 Prozent. In einer großangelegten Überprüfung dieser Erkenntnisse gelang der Psychologe Benjamin Scheibehenne zu relativierenden Ergebnissen. Er untersuchte 50 Studien, welche die Untersuchung der Auswirkungen des Information Overload zum Ziel hatten. Im Durchschnitt führte kaum eine Studie zu ähnlich bemerkenswerten Ergebnissen. Dies ist jedoch auch der Tatsache geschuldet, dass die Unterschiede zwischen den Studien sehr groß sind. Studien, die Iyengars Ergebnisse bestätigen, blieben weiterhin die Antwort auf die Frage schuldig, unter welchen seltenen Umständen dieser Effekt auftritt. Als Ergebnis der Forschungsarbeit von Scheibehenne sind drei Punkte von Bedeutung: (1) Wer genau weiß, was er will, profitiert von mehr Auswahl. (2) Werden Menschen gefragt, ob ihnen mehr oder weniger Auswahl lieber sei, entscheiden sie sich für mehr Auswahl. (3) Wer aber unter vielen Optionen auswählen muss, hat dabei große Schwierigkeiten (vgl. Wirtschaftswoche, 2010). Zu dieser Wahrnehmungsstörung kann auch das Aktivierungspotenzial von Informationen gezählt werden. Demnach ist für die Informationswahrnehmung entscheidend, ob die Information die Aufmerksamkeit des Marktteilnehmers erregen kann. So wird ein Anhänger der technischen Analyse einer Präsentation des Kursverlaufs eine höhere Bedeutung beimessen als ein fundamental orientierter Marktteilnehmer. Die Informationswahrnehmung ist ein kognitiver Informationsverarbeitungsprozess, bei dem kognitive Belastungen durch individuelle Entscheidungsregeln behoben werden. Die angewandten Entscheidungsregeln, wie die selektive Wahrnehmung oder die Informationspriorisierung im Falle des Information Overload, gelten als Wahrnehmungsstörungen. <?page no="176"?> 6.1 Der Informations- und Entscheidungsprozess im Überblick 175 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 66..11..2 2 IInnffoorrmmaat ti ioonnssvveer raar rbbeei it tu unngg/ / --b beew weer rttuunngg Die Info r ma ti on swah r nehm un g geht fließe n d in d ie zweite Pha se des Info r ma tion sun d Entscheidungsprozesses, die Informationsverarbeitung/ -bewertung, über. Diese beiden Phasen, die an sich nacheinander ablaufen, werden gemeinsam betrachtet, da sie teilweise nur schwer zu trennen sind. Die Zielsetzung dieser Phase besteht zunächst in der Vorbereitung einer Entscheidung. Dabei werden die Informationen aus der Informationswahrnehmung mit den im Gedächtnis vorhandenen Informationen und/ oder Strategien kombiniert. Während der Informationsverarbeitung zeichnet sich der entscheidende Unterschied des realen Marktteilnehmers zum Homo Oeconomicus ab. Es wird deutlich, dass der Marktteilnehmer eine begrenzte Verarbeitungskapazität besitzt und folglich gar nicht alle Informationen wahrnehmen und zugleich verarbeiten kann. Die Informationsverarbeitung erfolgt vielmehr seriell, d.h. Aufnahme und Verarbeitung können nur wechselweise erfolgen. Der Grund für diese Vorgehensweise wird in der beschränkten Informationsverarbeitungskapazität des Gehirns gesehen. Bislang ging man davon aus, dass das menschliche Gehirn nur etwa sieben Informationseinheiten (egal, welche Art von Informationen) gleichzeitig verarbeiten kann. Diese vielfach publizierten Studienergebnisse vom Psychologen George Miller aus dem Jahre 1956 wurden durch eine breit angelegte Studie der University of Missouri-Columbia aus dem Jahre 2001 relativiert. Nach den Forschungsergebnissen von Nelson Cowan kann das menschliche Gehirn eher vier Informationseinheiten auf einmal verarbeiten statt sieben. Selbst diese Zahl hängt von der Komplexität der einzelnen Faktoren ab. So sind vier Zahlen kein Problem, vier lange Wörter sind bereits schwieriger zu merken bzw. zu verarbeiten. Vier Sätze, die uns nicht bekannt sind, d.h. nicht im Langzeitgedächtnis verankert sind (wie ein Werbeslogan), sind nach den Studienergebnissen von Cowan sehr schwer im Kopf zu behalten (vgl. Rock, 2011, S. 42). Entsprechend dieser Erkenntnis ist es nicht verwunderlich, dass der Marktteilnehmer zur Entscheidungsfindung unter Stress und Zeitmangel Hilfsmittel (Heuristiken) anwendet, die die Entscheidungsfindung zwischen mehreren Alternativen beschleunigen und zugleich die kognitiven Belastungen verringern. Obwohl die Anwendung von Heuristiken und die damit verbundenen Fehlentscheidungen nicht zufällig entstehen, sondern vielmehr systematisch und vorhersagbar erscheinen, ist es wichtig, die rationalen Gründe für die Nutzung von Heuristiken zu betrachten (vgl. Schwartz, 2010, S. 58 ff.): Marktteilnehmern ist teilweise der optimale Lösungsweg eines Sachverhaltes nicht bekannt. Zusätzlich erscheinen die notwendigen Kosten/ Anstrengungen für die Erarbeitung des optimalen Lösungsweges als zu hoch. Zudem ist es zeitweise nicht möglich, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne, alle notwendigen Informationen für die Entscheidungsfindung einzuholen. Die überwältigende Flut an Informationen kann den Marktteilnehmer in der Entscheidungsfindung hemmen. Zudem kann der emotionale Bezug zum Sachverhalt die objektive Sichtweise erschweren. Die Anwendung von Heuristiken ist durchaus ratsam, sofern die Ergebnisse einer vollständigen Kalkulation erhebliche Fehlerquellen aufweisen. <?page no="177"?> 176 6 Phasen der Entscheidungsfindung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Anwendung von Heuristiken ist vor allem dann sinnvoll, wenn das Ergebnis denen aus Detailkalkulationen entspricht bzw. ähnlich ist und daher schneller zu einer vergleichbaren Entscheidungsfindung führt. Pasche stellt heraus, dass der Marktteilnehmer durch die begrenzte Informationsverarbeitungskapazität Entscheidungsfehler begeht und auf dieser Basis auch seine künftigen Entscheidungen treffen wird. Als Konsequenz der empirischen Untersuchungen bezeichnet Pasche die Marktteilnehmer als „imperfekt“. Sie zeichnen sich in der Informationsverarbeitung durch die nachfolgend aufgeführten Verhaltensmuster aus (vgl. Mazanek, 2006, S. 59 ff.): - Für den Marktteilnehmer besteht ein Anreiz, Informationsverarbeitungsfehler zuzulassen, welche im Zuge steigender Informationskosten als akzeptabel gelten. - Der Marktteilnehmer verwendet nur einen Teil der zur Verfügung stehenden Informationen. - Für den Marktteilnehmer besteht ein Anreiz - Bayes-Theorems -, aktuelle Informationen zeitweise zu ignorieren. Die Erwartungen werden verzögert an die veränderte Situation angepasst. - Zudem besteht für den Marktteilnehmer die Neigung zu einfachen, adaptiven Mechanismen oder sog. Vereinfachungsstrategien, um den kognitiven Aufwand zu begrenzen. Der Homo Oeconomicus Humanus ist daher zum einen von einer begrenzten Informationsverarbeitungskapazität, zum anderen von einer begrenzten Geschwindigkeit in der Informationsverarbeitung gekennzeichnet. Die Informationsverarbeitung kann abschließend durch folgende Faktoren beeinträchtigt werden (vgl. Kohlert, 2009, S. 81): Diskrepanz zwischen benötigter und verfügbarer Information - Marktteilnehmer gelangen in der Regel nicht an die gesamte Bandbreite an Informationen, die sie im Sinne der neoklassischen Kapitalmarkttheorie für die Entscheidungsfindung benötigen. Neuartigkeit der Informationen bzw. Erfahrung in einem Problembereich - Marktteilnehmer können weit weniger Informationen verarbeiten, wenn sie mit dem konfrontierten Problembereich wenig vertraut sind und dementsprechend mehr Informationen benötigen. Mehrdeutigkeit der Informationen - Informationen können unterschiedlich interpretiert werden: Informationen sind zwar vorhanden, aber ihre Bedeutung bleibt unklar. Qualität der Informationen - Qualitativ hochwertige, entscheidungsrelevante Informationen sind in der Regel vom sog. Datensmog schwer zu unterscheiden. Präsentationsformat - Die Informationsverarbeitung kann durch die vielfältigen Darstellungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Dies ist besonders dann der Fall, wenn der Aufwand zur Erlangung eines Gesamtverständnisses sehr hoch ist. Auf die Informationsverarbeitung folgt die Bewertung der gesammelten Informationen. Die Informationsbewertung führt schlussendlich zur Ableitung einer Entscheidung über <?page no="178"?> 6.1 Der Informations- und Entscheidungsprozess im Überblick 177 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance das zu tätigende Anlagegeschäft. Hierbei werden Informationen sowohl aus dem Kurzzeitals auch aus dem Langzeitgedächtnis herangezogen. Die Informationsbewertung, die zu einer Entscheidung führt, kann durch eine Reihe kognitiver Heuristiken beeinflusst werden (vgl. Kapitel 8) Innerhalb des Informationsverarbeitungsprozesses zeigen sich die Auswirkungen von Faustregeln, die der Homo Oeconomicus Humanus aufgrund der begrenzten Informationsverarbeitungskapazität sowie der begrenzten Geschwindigkeit in der Verarbeitung von Informationen anwendet: Sie führen zu wiederkehrenden, systematischen Verzerrung im Informations- und Entscheidungsprozess. 66..1 1..3 3 IInnvveessttiitti ioonns seenntts sc chheeiidduunng g Der Informations- und Entscheidungsprozess schließt mit der Entscheidung über das Investitionsverhalten des Marktteilnehmers ab. Diese letzte Phase des aktiven Handelns an den Kapitalmärkten ist u.a. durch die Vermeidung von kognitiven Dissonanzen gekennzeichnet. Grundgedanke der Theorie der kognitiven Dissonanz Der Psychologe Leon Festinger entwickelte 1957 die Theorie der kognitiven Dissonanz, die besagt, dass der Marktteilnehmer nach einer Entscheidung zwischen zwei Optionen emotionales Unbehagen verspüren kann (vgl. Cooper, 2007, S. 6). Grund für diesen Umstand sind Informationen, die im Gegensatz zu den vorhandenen Wertvorstellungen und Entscheidungen des Marktteilnehmers stehen. Die kognitive Dissonanz beschreibt das Ungleichgewicht zwischen einzelnen psychologischen Kognitionen, wie Einstellung, Emotionen oder Glauben an eine getroffene Entscheidung. Der Marktteilnehmer versucht im Rahmen der kognitiven Dissonanz, diese Ungleichgewichte zu beheben, indem er negative Informationen zu einer Anlageentscheidung verdrängt und positive hervorhebt (vgl. Festinger, 1957, S. 144 f.). Je stärker die emotionale Bindung an die getroffene Entscheidung, desto höher die Selbstbindung an die Entscheidung und damit auch die mögliche Dissonanz (vgl. Mazanek, 2006, S. 98). Der Versuch die kognitive Dissonanz zu vermeiden, beeinflusst das Investitionsverhalten in zweierlei Hinsicht (vgl. Nofsinger, 2008, S. 39): Zum einen wird durch die Selektion von Informationen die Fähigkeit, eigene Investmententscheidungen zu überwachen und zu überprüfen, beeinträchtigt. Zum anderen wird die aktive Investitionshandlung durch die Unbehaglichkeit der Situation überschattet. Bestimmungsgründe für die Selbstverpflichtung/ Selbstbindung einer Entscheidung Die Stärke der kognitiven Dissonanz wird durch die Selbstverpflichtung oder auch das commitment, zu einer Anlageentscheidung entsprechend der nachfolgend aufgeführten Bezugsgrößen beeinflusst (vgl. Goldberg & von Nitzsch, 2000, S. 121 ff.): <?page no="179"?> 178 6 Phasen der Entscheidungsfindung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Entscheidungsfreiheit - an den Kapitalmärkten kann sich der Marktteilnehmer freiwillig, d.h. ohne Zwang, für eine Anlage entscheiden, mit der Folge, dass das Commitment zu dieser Anlage besonders hoch ist. Verantwortung - Verantwortung wird nur übernommen, wenn die Entwicklung der An lage ber eits ab sehb ar i st und d er M ar ktteil neh mer n ich t mit üb er ra schen den En twicklungen in Form von Verlusten rechnen konnte. Irreversible Kosten - die im Falle eines Verlustes bei Verkauf der Anlage uneinbringlich werden. Normabweichung - ist die Entscheidung eines Investors abweichend von der Meinung der übrigen Marktteilnehmer, so steigt das Commitment überproportional an. Als normabweichend würde z.B. die Entscheidung gelten, in der aktuellen Marktlage mit Inflationsbefürchtungen ausschließlich langlaufende US-Staatsanleihen zu kaufen. Steigt die Inflation, was viele Experten befürchten, so würden diese Papiere stark an Wert verlieren, da die Marktteilnehmer sie verkaufen und in andere Papiere mit höherer Verzinsung umschichten würden. Folgen aus dem Bedürfnis nach Dissonanzfreiheit Die Versuche, kognitive Dissonanzen zu vermeiden, gründen allesamt in der Zielsetzung, mögliches Bedauern bei falschen Entscheidungen zu verringern. So wenden Marktteilnehmer die bereits aus der Informationswahrnehmung bekannte Verhaltensregel der selektiven Wahrnehmung (vgl. Kap. 7.1.2) an. Mögliches Bedauern soll auch durch die selektive Entscheidung (vgl. Kap. 9.1.1) reduziert werden. Während die selektive Wahrnehmung zur Reduktion der Informationsmenge genutzt wird, soll durch die selektive Entscheidung eine bereits getroffene Entscheidung beibehalten werden. Dabei versucht der Marktteilnehmer, die getroffene Entscheidung trotz hoher Kosten als Erfolg zu werten (vgl. Westphal & Horstkotte, 2001, S. 219 f.). Die Theorie der kognitiven Dissonanz schließt demnach mehrere Phasen des Informations- und Entscheidungsprozesses ein - sowohl die Informationsaufnahme (über die selektive Wahrnehmung) als auch das Investitionsverhalten (über die selektive Entscheidung). Beim Investitionsverhalten verspüren die Marktteilnehmer bei Informationen, die einer Entscheidung entgegenstehen, kognitive Dissonanz. Dieses emotionale Unbehagen wird durch die selektive Wahrnehmung und Entscheidung gemindert. Dies führt dazu, dass negative Informationen zu einer Entscheidung verdrängt, positive jedoch hervorgehoben werden. In der Praxis äußert sich diese Verhaltensweise u.a. durch den Dispositionseffekt. <?page no="180"?> 6.2 Basis der Entscheidungsfindung aus Sicht der Bahavioral Finance 179 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 66..22 BBa assiiss dde er r EEnnttssc chhe ei idduun nggssffi inndduunngg aauus s SSi icchhtt ddeer r BBeeh haav vi ioor raall FFiinnaannccee Die traditionelle Grundlage zur Bewertung von Entscheidungsalternativen durch die Marktteilnehmer gründet auf der in Kapitel 1.2.3 vorgestellten Erwartungsnutzentheorie. Zunehmend zeigt es sich jedoch, dass die Erwartungsnutzentheorie bei Entscheidungen unter Unsicherheit und Risiko nicht beachtet bzw. ihre Vorgaben verletzt werden (de Bondt und Thaler 1995, Hirshleifer 2001, Barberis und Thaler 2003). Als Alternative zur Erwartungsnutzentheorie wurde von Kahneman und Tversky (1979, 1981) die Prospect Theory entwickelt. Sie ist eine Theorie über das im Durchschnitt zu erwartende Verhalten der Marktteilnehmer. Sie verdeutlicht, wie ein Individuum oder eine Gruppe von Individuen sich im Durchschnitt in einer Umgebung der Ungewissheit/ Unsicherheit und Risiko verhalten. Die Prospect-Theory unterscheidet sich von der Verlustaversion beeinflusst wird. Entscheidungen werden auf Basis von Verlusten oder Gewinnen statt auf Basis der absoluten Vermögensentwicklung getroffen. Zudem berücksichtigt sie die Beobachtung, dass das Verhalten der Marktteilnehmer systematisch von den postulierten Annahmen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie abweicht (vgl. Altman, 2010, S. 191 ff.). Die Entscheidungsfindung im Sinne der Prospect Theory beruht auf zwei funktionalen Zusammenhängen, zum einen auf der Wertfunktion (value function), welche die Verlustaversion abbildet, und zum anderen auf der Gewichtungsfunktion (weighting function), welche die nicht-lineare Transformation von objektiven Wahrscheinlichkeiten in subjektive berücksichtigt (vgl. Levy 2010, S. 211 ff.). 66..2 2..11 EEnnttsscchheeiidduunnggssffiinndduunngg aauuff BBaassiiss ddeerr PPrro ossppeecctt TThheeoorry y Behavioral Finance verdeutlichen zwei zentrale Aspekte, nach denen die Wertpapierbewertung zwischen der neoklassischen und der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung unterschieden werden kann (vgl. Shefrin, 2008, S. 391): Stimmung - Die Anhänger der Behavioral Finance sehen die Stimmung (sentiment) der Marktteilnehmer oft als treibenden Faktor der Wertpapiermarktpreisbildung. Sie ist das Resultat systematisch auftretender Fehler im Informations- und Entscheidungsprozess. Die Befürworter der neoklassischen Kapitalmarkttheorie betrachten den Einfluss dieses Faktors dagegen eher als gering. Sie gehen somit davon aus, dass die Marktteilnehmer in ihrer Gesamtheit 15 bei der Verarbeitung vorhandener Informationen frei von Wahrnehmungsverzerrungen sind. Während die Befürworter der Behavioral Finance auftretende Marktanomalien als das Resultat von Stimmungsschwankungen interpretieren, deuten die Neoklassiker die Abweichung der Bewertung eines Wertpapiers vom fundamentalen Wert der Anlage als lediglich temporäre Marktanomalien. 15 Einzelne Ausnahmen kann es temporär geben. <?page no="181"?> 180 6 Phasen der Entscheidungsfindung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Erwartungsnutzen - Die Anhänger der neoklassischen Kapitalmarkttheorie nehmen an, dass die Marktteilnehmer den zu erwartenden Nutzen ihrer Anlage maximieren wollen. Die Befürworter der Behavioral Finance haben hingegen eine kritische Haltung gegenüber der Erwartungsnutzentheorie. Sie vertreten die Ansicht, dass sich die Marktteilnehmer in ihrem Verhalten wiederholt inkonsistent zur Erwartungsnutzentheorie verhalten. Sie vertreten die Ansicht, dass sich die Marktteilnehmer im Einklang mit einer psychologisch orientierten Theorie verhalten - der Prospect Theory (zu Deutsch „Erwartenstheorie“). So stellt die Prospect-Theory ein Modell der Entscheidungsfindung unter Ungewissheit dar, bei der aus verschiedenen Handlungsalternativen eine ausgewählt werden soll. Dieses auch als „Neue Erwartenstheorie“ bekannte Konzept wurde 1979 von Daniel Kahneman und Amos Tversky als Alternative zur klassischen Erwartungsnutzentheorie vorgestellt und 1981 zur kumulativen Prospect-Theorie, bei der nicht nur zwei Alternativen, sondern die Gesamtheit aller Alternativen betrachtet werden, weiterentwickelt. Die Prospect-Theorie verarbeitet die Auffassung, dass ökonomische Entscheidungen Biases) beeinflusst werden (vgl. Elger & Schwarz, 2009, S. 102). Demzufolge erscheinen die neoklassischen Theorien, wie die Erwartungsnutzentheorie, unzureichend zur Eruierung des tatsächlichen Verhaltens der Marktteilnehmer, da diese den Marktteilnehmer normativ betrachten. Eine normative Betrachtung setzt dem rational handelnden Investor klare Regeln, wie er sich verhalten sollte, vernachlässigt dadurch aber die realen Einflüsse, die bei Entscheidungen unter Unsicherheit in der Realität auftreten können und zu begrenzter Rationalität führen (vgl. Barberis & Thaler, 2005, S. 16 f.). In der Realität handeln die Marktteilnehmer meist abweichend von den rationalen Vorgaben der Erwartungsnutzentheorie und gelangen dadurch zu „suboptimalen“ Entscheidungen. Sie nutzen Heuristiken, um die Komplexität der Informationen und die Beeinflussung durch Emotionen bei der Entscheidungsfindung unter Risiko und Unsicherheit zu verringern. Die Prospect-Theorie hat die Zielsetzung, Entscheidungen zu erklären, die eine gravierende Inkonsistenz zur rationalen Erfassung von Wahrscheinlichkeiten und der Erwartungsnutzentheorie aufweisen. Durch sie ist es möglich, die Gründe für begrenzt rationale Entscheidungen näher zu beleuchten, um z.B. den Marktteilnehmern die Auswirkungen ihrer Verhaltensweisen (Festhalten an Verliereraktien, Verkauf von Gewinneraktien) besser verdeutlichen zu können (Elton, Gruber, Brown & Goetzmann, 2007, S. 485 f.). Kahneman erhielt 2002 für seine Arbeit den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, Amos Tversky verstarb vor der Auszeichnung. Die Prospect-Theorie unterscheidet im Gegensatz Erwartungsnutzentheorie zwei Phasen des Entscheidungsprozesses. Die Datenaufbereitung (Editing), d.h. die Auswahl der zu bewertenden Alternativen und die abschließende Bewertung (Evaluation) der ausgewählten Alternative. In beiden Phasen fließen die in den Kapiteln 7-9 aufgeführten Heuristiken ein (vgl. Laux/ Gillenkirch/ Schenk-Mathes, 2012, S. 163): Phase 1 - Editing Konsequenzen und Wahrscheinlichkeiten der vorliegenden Alternativen werden durch bestimmte Operationen (wie Kombination und Vereinfachung) transformiert, um die Entscheidung mit Blick auf die kognitiven Begrenzungen des Marktteilnehmers zu vereinfachen. <?page no="182"?> 6.2 Basis der Entscheidungsfindung aus Sicht der Bahavioral Finance 181 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die ersten vier Operationen (Kombination, Vereinfachung, Kodierung und Segregation) werden für jede Alternative separat durchgeführt. Die beiden weiteren Operationen (Streichung gemeinsamer Bestandteile, Eliminierung dominierender Alternativen) sind übergreifende, die gesamte Alternativenmenge betreffende Optionen. Nachfolgend wird die Verhaltensweise eines begrenzt rationalen Marktteilenehmers bei der Entscheidung zwischen der Unterlassungsalternative bzw. der Auswahl der gegebenen Alternativen aus der gegebenen Die hier aufgeführte Lotterie stellt die vier zur Verfügung stehenden Alternativen dar, aus denen der Marktteilnehmer die für ihn bestmögliche Alternative auswählen kann. Die Wahrscheinlichkeiten aller Alternativen ergibt dabei in Summe 1. Aus der Perspektive einer Investition geht es demnach in der vorliegenden Lotterie um die Alternative, einen Betrag von 100,00 EUR mit der Wahrscheinlichkeit von 40 Prozent zu gewinnen. Weitere Alternativen sind 100,00 EUR mit 20-prozentiger Wahrscheinlichkeit, 200,10 EUR mit 39,9-prozentiger Wahrscheinlichkeit sowie 50,00 EUR mit 0,01-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu gewinnen. Kombination: Der Marktteilnehmer erkennt, dass die Konsequenz 100 sowohl mit der Wahrscheinlichkeit 0,4 als auch mit der Wahrscheinlichkeit 0,2 erzielt wird. In diesem Fall vereinfacht er die Betrachtung dieser beiden Alternativen durch die Addition der Wahrscheinlichkeiten dieser identischen Ereignisse. Folglich erhält er als Ergebnis, die Konsequenz 100 mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,6 zu erzielten. Vereinfachung: Der Marktteilnehmer erkennt zudem, dass er die dritte Konsequenz über Auf- und Abrunden vereinfachen kann. Auf diese Weise erhält er die Konsequenz von 200 mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,4. Segregation: Hierbei wird die Trennung sicherer Bestandteile einer Alternative von riskanten Alternativen verfolgt. Der Marktteilnehmer trennt den Betrag einer Lotterie ab, den er mit Sicherheit erhalten wird. Die Segregation hängt vom gesetzten Referenzpunkt ab. Setzt der Marktteilnehmer den Referenzpunkt bei 50 EUR, d.h. diesen Betrag gedenkt er zu investieren, dann sehen seine prospects wie folgt aus: {100- -50; tteilnehmer kann in diesem Fall nur gewinnen. Dies bedeutet, dass sichere von unsicheren Konsequenzen getrennt werden, sodass hier „mit Sicherheit“ ein Gewinn von 50 EUR und mit der Wahrscheinlichkeit von 0,4 ein Gewinn von zusätzlichen 100 EUR erzielt werden können. Streichung gemeinsamer Bestandteile (cancelation): In unserem Beispiel erkennt der Marktteilnehmer, dass die Konsequenz 50 zu erzielen, sehr unwahrscheinlich ist. Folglich streicht er diese Konsequenz aus der Lotterie heraus. Eine Streichung kann jedoch auch vorgenommen werden, wenn zwei Alternativen miteinander verglichen werden: Soll ein Marktteilnehmer zwischen den beiden Alter- - -100; 0,8} entscheiden, so wird er identische Bestandteile in den zur Auswahl stehenden Alternativen unberücksichtigt lassen. Der Marktteilnehmer würde nur die 80-prozentige Wahrscheinlichkeit 100 zu verlieren, mit der ebenfalls 80-prozentigen Wahrscheinlichkeit 50 zu verlieren, vergleichen. Eliminierung dominierter Alternativen (detection of dominance): Bei dieser Operation wird die Eliminierung stochastisch dominierter Alternativen durchgeführt. Dadurch <?page no="183"?> 182 6 Phasen der Entscheidungsfindung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance soll verhindert werden, dass stochastisch dominierte Alternativen überhaupt in die Bewertungsphase gelangen. Auf diese Weise soll die Vernachlässigung anderer Alterwäre diese zu eliminieren und die verbleibende mit einer möglichen dritten Alternative zu vergleichen. Nach der Editierung im obigen Ausgangsbeispiel reduziert sich die Sequenz der Altervorgenommen werden. Kodierung: Hierbei wird ein Referenzpunkt r festgelegt. Als Referenzpunkt kann der Einstiegskurs bei Erwerb des Wertpapiers bzw., wie in unserem Fall, die Investitionssumme als Referenzpunkt gesetzt werden. In unserem Beispiel führt ein Referenzpunkt von 150 EUR zu folgendem prospect: {100- -150; 0,4}={-50 0,6 50 0,4 . Der Marktteilnehmer würde bei dieser Alternative seine Investition von 150 EUR zu 60 Prozent um 50 EUR reduzieren, d.h. einen Verlust von 50 EUR erleiden, oder aber zu 40 Prozent weitere 50 EUR gewinnen und dadurch sein Vermögen auf dann 200 EUR ausbauen. Auswahl von Alternativen durch die Anwendung von Operationen im Rahmen der Editierungsphase Abb. 39: Datenaufbereitung im Rahmen der Prospect Theory Phase 2 - Evaluation Nach Abschluss der ersten Phase werden die aufbereiteten Alternativen, die sog. prospects, bewertet. Die Bewertung erfolgt hierbei über zwei Funktionen: zum einen über die subjektive Wertfunktion, zum anderen über die Gewichtungsfunktion (vgl. 6.2.2). <?page no="184"?> 6.2 Basis der Entscheidungsfindung aus Sicht der Bahavioral Finance 183 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Mittels der S-förmigen Wertfunktion werden die Gewinne und Verluste in Relation zu dem in der Datenaufbereitungsphase kodierten Referenzpunkt anstelle des Endvermögens bewertet. Ergebnisse, die oberhalb des Referenzpunktes liegen, werden als relative Gewinne wahrgenommen, während Ergebnisse unterhalb als relative Verluste angesehen werden. Ergebnisse genau auf dem Referenzpunkt gelten als neutral (vgl. Schriek, 2009, S. 49). Darüber hinaus werden in der Prospect-Theorie nicht nur die Konsequenzen, sondern auch die Wahrscheinlichkeiten subjektiv bewertet, indem sie in sog. Entscheidungsgekeit bei der Entscheidung zugeordnet wird. Dadurch reflektieren die Gewichte die subjektive Beurteilung, jedoch nicht die objektive Einschätzung der zugrunde liegenden Wahrscheinlichkeiten. Die Gewichtungsfunktion verdeutlicht, wie objektive Wahrscheinlichkeiten vom Marktteilnehmer in nicht-objektive, subjektiv wahrgenommen Wahrscheinlichkeiten transformiert werden (vgl. Laux/ Gillenkirch/ Schenk-Mathes, 2012, S. 165 f.). 6 6..22..22 MMeerrkkmmaallee ddeerr BBeewweerrttuunnggssffuunnkkttiioonneenn Nachfolgend sollen die charakteristischen Merkmale sowohl der S-förmigen Wertfunktion (value function) als auch der Gewichtungsfunktion (weighting function) vorgestellt werden. Dies ist notwendig, um die Erläuterungen in den Kapiteln 7-9 richtig einordnen zu können. Die Wertfunktion Die Einstellung zum Risiko wird in der Prospect-Theorie durch die S-förmige Wertfunktion (value function) beschrieben (vgl. Abb. 40). Die Wertfunktion weist drei charakteristische Merkmale auf (vgl. Hens & Bachmann, 2008, S. 36 ff.): Die Wertfunktion ist konkav (rechtsgekrümmt) im Gewinnbereich und konvex (linksgekrümmt) im Verlustbereich. Dieses Krümmungsverhalten, auch als abnehmende Sensitivität bezeichnet, wird mit dem abnehmenden Wertzuwachs einer zusätzlichen Einheit Gewinn bzw. mit abnehmenden Wertverlust einer zusätzlichen Einheit Verlust begründet. Es verdeutlicht auch die Veränderung der Risikoeinstellung des Marktteilnehmers in Abhängigkeit von Gewinn oder Verlust. Der Marktteilnehmer verhält sich im Verlustbereich risikofreudig, da die Hoffnung besteht, relative Verluste durch eine mögliche „Erholung“ wieder auszugleichen. Im Gewinnbereich dagegen, verhält sich der Marktteilnehmer risikoscheu aus Sorge, die erreichten relativen Gewinne könnten wieder verloren gehen. Dieses als Dispositionseffekt bereits erwähnte Phänomen verdeutlicht die Verhaltensweise, wonach zukünftige Entscheidungen im besonderen Maße davon abhängig sind, ob sich die Position im Gewinn- oder Verlustbereich befindet (vgl. Kottke, 2005, S. 124 f.). Folglich entstehen Gewinn und Verlust erst durch Bewertung, also durch das Festlegen eines Bezugspunktes. Die Wertfunktion ist steiler im Verlustbereich als im Gewinnbereich. Diese Eigenschaft verdeutlicht die Verlustaversion (Loss Aversion) des Marktteilnehmers. Zahlreiche Untersuchungen zeigten, dass die Marktteilnehmer Verluste etwa <?page no="185"?> 184 6 Phasen der Entscheidungsfindung doppelt so stark empfinden wie Gewinne in der gleichen Höhe (Kahneman & Tversky, 1979). So würde in der Prospect-Theorie der Verlust von 1 EUR und der anschließende Gewinn von 1 EUR in einem negativen Nutzen resultieren. Hingegen würde in der Erwartungsnutzentheorie die gleiche Konstellation zu einem neutralen Wert von 0 führen (vgl. Altman, 2010, S. 201 ff.). Die Ursache für diesen Bewertungsunterschied kann in der Theorie der kognitiven Dissonanz (vgl. Kap. 1.3/ Kap. 6.1.3) gesehen werden. Demnach erzeugen Verluste Dissonanzen beim Marktteilnehmer, da die Wertpapierentscheidung nachträglich als falsch eingestuft werden muss. Das Ausmaß der Verlustaversion ist stark vom jeweiligen commitment oder der Selbstverpflichtung des Marktteilnehmers für die jeweilige Wertpapieranlage abhängig. Ist die Selbstverpflichtung des Marktteilnehmers hoch, so nimmt auch die Steigung im Verlustbereich der Wertfunktion zu (vgl. Goldberg & von Nitzsch, 2000, S. 130). Die Wertfunktion stellt relative Gewinne und Verluste dar, die durch einen Referenzpunkt definiert werden. Ihre Asymmetrie ist abhängig davon, wie ein relativer Verlust beziehungsweise Gewinn sich zu einem bestimmten Referenzpunkt verhält. Ob es sich um einen Gewinn oder Verlust handelt, entscheidet sich über den individuellen Referenzpunkt des Marktteilnehmers. Als Referenzpunkt dienen oft die Einstiegskurse der Wertpapiere (es sind aber auch viele andere Referenzpunkte denkbar, wie z.B. risikoloser Zinssatz, Index, Inflationsrate, ...). Dieser liegt im Koordinatenursprung an der Grenze zwischen Gewinn und Verlust. Der Referenzpunkt hat im Weiteren eine besondere Auswirkung auf die Wahrnehmung von Gewinnen/ Verlusten durch den Marktteilnehmer. Die Sensitivität des Anlegers hinsichtlich erlebter relativer Gewinne oder Verluste ändert sich in Abhängigkeit der Entfernung zum Referenzpunkt. In dessen Nähe weist die Wertfunktion eine erhöhte Sensitivität auf. Die Beträge werden stärker wahrgenommen als diejenigen, die davon weiter entfernt liegen. So zeigt sich die abnehmende Sensitivität in der Bewertung steigender Gewinne im konkaven Bereich, und bei steigenden Verlusten im konvexen Bereich (vgl. Garz, Günther & Moriabadi, 2002, S. 120 ff.). Die abnehmende Sensitivität ist ein Pendant zum abnehmenden Grenznutzen der traditionellen ökonomischen Theorie. Sie ist Ausdruck des Weberschen Gesetzes der Psychologie, nachdem ein zusätzlicher Reiz umso stärker ausfallen muss, je höher der Grundreiz ist (vgl. Blechschmidt, 2007, S. 33). <?page no="186"?> 6.2 Basis der Entscheidungsfindung aus Sicht der Bahavioral Finance 185 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 40: Wertfunktion der Prospect Theory (1979) <?page no="187"?> 186 6 Phasen der Entscheidungsfindung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Bewertung von Anlageerfolgen auf Basis von Referenzpunkten ist allerdings nicht per se begrenzt rational. Wenn die Referenzpunkte realistisch sind und nicht ständig verändert werden, ergibt sich kein Widerspruch gegenüber der rationalen Entscheidungsfindung. Werden die Referenzpunkte jedoch wiederholt verändert, so können begrenzt rationale Entscheidungen die Folge sein. Die Risikoeinstellung wird in der Prospect-Theorie durch die S-förmige Wertfunktion beschrieben. Die Marktteilnehmer definieren ihre Risikoeinstellung durch Referenzpunkte. Mit zunehmender Entfernung von einem Referenzpunkt ändert sich die Sensitivität hinsichtlich erlebter Gewinne oder Verluste. Die Gewichtungsfunktion Empirische Untersuchungen belegen, dass die Marktteilnehmer Wahrscheinlichkeiten nicht nach der objektiven Eintrittswahrscheinlichkeit bewerten, sondern diese überbzw. unterbewerten. Langer und Weber (2005) belegen, dass sich die Wahrscheinlichkeitsbewertung auf die Risikoeinschätzung auswirkt. Sie zeigen, dass die Verhaltensweise, nach der Marktteilnehmer sich im Gewinnbereich risikoavers, im Verlustbereich dagegen risikofreudig verhalten (siehe Wertfunktion) sich unter Einbezug des Probability Weightings drastisch verändern kann. 16 In Abb. 41 ist die Gewichtungsfunktion abgebildet. Kahneman und Tversky stellten in Experimenten fest, dass die Risikoneigung der Versuchsperson sich in Abhängigkeit der objektiven Wahrscheinlichkeit ändert. Demnach überwerten die Marktteilnehmer extrem niedrige Wahrscheinlichkeiten w(p) > p, mittlere und hohe Wahrscheinlichkeiten werden dagegen unterbewertet w(p) < p (blaue Linie). Die objektive Wahrscheinlichkeit (gestrichelte Linie) wird außer Acht gelassen. Betrachtet man nun die S-förmige Wertfunktion sowie die Wahrscheinlichkeitsbewertungsfunktion aus Abb. 40, ergeben sich folgende Veränderungen in der Verhaltensweise des Marktteilnehmers (vgl. Yazdipour, 2010, S. 143 f.): Beachtet der Marktteilnehmer die objektive Wahrscheinlichkeitsverteilung (gestrichelte Linie), so basiert sein Risikoverhalten einzig und allein auf der S-förmig gewölbten Wertfunktion. D.h., der Marktteilnehmer ist im Gewinnbereich risikoscheu, im Verlustbereich dagegen risikofreudig. Beachtet er die objektive Wahrscheinlichkeitsverteilung nicht, so verhält sich der Marktteilnehmer u.U. sogar entgegengesetzt der Wertfunktion: Sofern geringe Wahrscheinlichkeiten überschätzt werden ist der Marktteilnehmer eher bereit, Risiko einzugehen. Er verhält sich im Gewinnbereich der Wertfunktion risikofreudig, da er die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt des Ereignisses höher einschätzt. Im Verlustbereich dagegen, verhält sich der Marktteilnehmer risikoscheuer, da die Verlustrisiken überschätzt werden. Sofern mittlere und hohe Wahrscheinlichkeiten unterschätzt werden, ist der Marktteilnehmer weniger bereit, Risiko einzugehen (ab 0,4 in Abb. 41). 16 Eine ausführliche Diskussion, wie Wirtschaftssubjekte Risiko wahrnehmen, findet sich z.B. in Daxhammer/ Hanneke & Nisch, 2012. <?page no="188"?> 6.2 Basis der Entscheidungsfindung aus Sicht der Bahavioral Finance 187 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Er verhält sich im Gewinnbereich der Wertfunktion risikoscheuer, da er die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses geringer einschätzt. Im Verlustbereich dagegen agiert der Marktteilnehmer risikofreudiger, da auch hier die Verlustrisiken unterschätzt werden. Wird die Wahrscheinlichkeitsbewertung bei der Entscheidungsfindung mit einbezogen, so weicht die beobachtete Verhaltensweise des Marktteilnehmers u.U. von der erwarteten Verhaltensweise auf Basis der Wertfunktion ab. Überbewertung niedriger Wahrscheinlichkeiten vs. Unterbewertung hoher Wahrscheinlichkeiten - Probability Weighting Abb. 41: Gewichtungsfunktion der Prospect Theory (1992) 6 6..22..33 B Beewweer rttuun ngg v vo onn W Weer rttppaappiie er reen n aauuf f BBaassiis s dde er r P Prroossp peec ctt TThheeo orryy Die Prospect Theory identifiziert fünf charakteristische Merkmale, die kennzeichnen, wie Marktteilnehmer Wertpapiere „bewerten“ - im Sinne von mit Werten belegen (vgl. Shefrin, 2008, S. 392 ff. und Altman 2010, S. 203 ff.). Marktteilnehmer lassen sich im Entscheidungsprozess von der Darstellungsweise eines Sachverhaltes beeinflussen. Kahneman und Tversky (1979) fanden in Experimenten heraus, dass die Marktteilnehmer sich für die Alternative entscheiden, die durch eine positive Darstellung hervorgehoben ist. Dies ist auch dann der Fall, wenn die andere Alternative eine gleiche oder höhere Rendite verspricht. Dieses als framing bekannte Phänomen verdeutlicht die Beeinflussbarkeit des Marktteilnehmers durch die entsprechende Darstellungsweise (vgl. Beispiel 7.4 und 8.4). Im Grunde dürfte sich der Marktteilnehmer durch <?page no="189"?> 188 6 Phasen der Entscheidungsfindung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance das framing nicht beeinflussen lassen, da es keine Auswirkung auf das jeweilige Ereignis hat. Die Beeinflussbarkeit verdeutlicht jedoch, dass die Marktteilnehmer einer kognitiven Illusion unterliegen. Daher können unterschiedliche Darstellungsweisen in Grafik oder Text zu unterschiedlichen Reaktionen führen, wodurch die Entscheidung des Marktteilnehmers nachhaltig beeinflusst werden kann (vgl. Altman 2010, S. 203 ff.). Marktteilnehmer bewerten Ergebnisse anhand eines bestimmten Referenzpunktes. Hat ein Marktteilnehmer eine Aktie für 100 Euro gekauft, so kann dieser Einstandskurs als Referenzpunkt für die Bewertung gewählt werden. Der Referenzpunkt eines Marktteilnehmers kann sich mit zunehmender Anlagedauer verschieben. Realisiert der Marktteilnehmer bspw. nach einer längeren Haltedauer tatsächlich einen Gewinn, der aber unter dem bereits erlebten, aber noch nicht realisierten Gewinn liegt, so kann der Anleger u.U. eher den Schmerz des relativen Verlustes als das Glück des absoluten Gewinns verspüren. Diese Bewusstseinsveränderung ist eine Folge der Verschiebung von Referenzpunkten bei längerer Haltedauer, die unrealisierte Gewinne in die Bewertung einer Position einbezieht. Die Investoren konzentrieren sich dabei oft auf kürzlich erreichte Bewertungsniveaus, welche dann die neuen Referenzpunkte darstellen (vgl. Nofsinger, 2008, S. 28 f.). Ausschlaggebend für die Änderung des Referenzpunktes ist, z.B. das Erreichen eines neuen Bewertungsniveaus. Dies kann neben längeren Haltedauern in Abhängigkeit der gewählten Anlage auch innerhalb von Stunden geschehen. Obwohl Referenzpunkte häufig mit Einstandskursen oder kürzlich erlebten Höchstkursen verbunden werden, gibt es noch eine Reihe anderer Referenzpunkte. So kann die Inflationsrate als ein Referenzpunkt für die erwartete Renditeentwicklung gewählt werden. Zudem ist es möglich, die Entwicklung des eigenen Depots mit einem Marktportfolio zu messen. Nicht zuletzt wird auch die Performance anderer Marktteilnehmer oft als Referenzpunkt für die eigene Renditeentwicklung gewählt. Die Berücksichtigung von Referenzpunkten stellt eine der wichtigsten Erweiterungen der Prospect-Theorie gegenüber der Erwartungsnutzentheorie dar (vgl. Eisenführ/ Weber, 2004, S. 376). Marktteilnehmer sind bestrebt, relative Verluste zu diesem Referenzpunkt zu vermeiden. Während in der Gewinnzone der konkave Verlauf (vergleichbar einer Nutzenfunktion) unterstellt wird, ist die Wertfunktion im Verlustbereich konvex und verläuft insgesamt steiler als im Gewinnbereich. Der steilere Verlauf im Verlustbereich spiegelt das Phänomen der Verlustaversion wider. Verluste werden doppelt so hoch bewertet wie Gewinne gleichen Ausmaßes. Verluste werden als dissonante Ereignisse wahrgenommen und stehen im Widerspruch zu der ursprünglichen Entscheidung des Anlegers, das Wertpapier zu kaufen. Insgesamt hat die unterschiedliche Bewertung von Gewinnen und Verlusten unter anderem zur Folge, dass die Anleger zu lange an Verlusten festhalten, Gewinneraktien dagegen zu schnell verkaufen. Dieses Verhalten, Gewinne zu früh zu realisieren und Verluste zu lange laufen zu lassen, wird als Dispositionesffekt (vgl. Kap. 9.2.1) bezeichnet. In Abb. 42 wird die schädliche Wir- <?page no="190"?> 6.2 Basis der Entscheidungsfindung aus Sicht der Bahavioral Finance 189 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance kung des Dispositionseffektes deutlich. Aktien, die länger im Anlegerportfolio gehalten werden, haben im Durchschnitt eine geringere Rendite, weil die Marktteilnehmer im Abwärtstrend nur zögerlich Aktien mit Verlust verkaufen. Dieser Effekt wurde von Odean 1998 analysiert. Er untersuchte dabei das Handelsverhalten von 10.000 Kunden eines amerikanischen Online-Brokers. Odean weist im Weiteren darauf hin, dass der Dispositionseffekt zum Jahresende hin schwächer ausgeprägt zu sein scheint. Diese Erscheinung führt er auf die steuerliche Geltendmachung von realisierten Verlusten zurück (vgl. Kaustia 2010, S. 171 ff.). Zusätzliche Erkenntnisse über den Dispositionseffekt lieferten auch Grinblatt und Keloharju, die 2001 bei finnischen Investoren die Erkenntnisse von Odean bestätigten und zugleich zu dem Ergebnis kamen, dass erfahrene Investoren weniger stark dem Effekt unterliegen als unerfahrene (vgl. Blechschmidt, 2007, S. 40 f.). Dispositionseffekt führt mit zunehmender Haltedauer von Verlieraktien zur Verschlechterung des Depoterrags Abb. 42: Verdeutlichung Dispositionseffekt an Haltedauer von Verliereraktien Marktteilnehmer ändern ihre Risikoeinstellung, sobald sie mit Verlusten konfrontiert werden. Diese Einstellungsänderung, auch als Reflection-Effect (vgl. Kap. 8.2) in der Behavioral- Finance-Forschung bezeichnet, ergibt sich aus der abnehmenden Sensitivität im Verlustbereich. Dies führt dazu, dass der Marktteilnehmer im Verlustbereich riskante Alternativen bevorzugt und dadurch risikofreudiger wird. Im Gewinnbereich bleibt der Marktteilnehmer hingegen weiterhin risikoavers. Die Marktteilnehmer entscheiden sich bei drohendem Verlust eher dazu, zusätzliches Kapital zu investieren, um den möglichen Verlust doch noch abwenden zu können. Die neuerworbenen Anteile führen u.a. zur Senkung des durchschnittlichen Einstiegskurses (Beeler & Hunton, 1997) mit der Folge, dass bei der nächstmöglichen Aufwärtsbewegung schneller die Gewinnzone erreicht wird (vgl. Shefrin, 2008, S. 392 ff.). Ein bekanntes Beispiel für die verheerenden Folgen einer Änderung der Risikoeinstellung und dem Nachkauf von Wertpapieren ist die durch den Derivatehändler Nick Leeson verursachte Insolvenz der Barings Bank. Als Leeson mit seinen Geschäften die ersten Verluste erlitt, <?page no="191"?> 190 6 Phasen der Entscheidungsfindung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance versuchte er, diese durch eine Erhöhung des Risikoniveaus auszugleichen. Das führte jedoch zu einem noch größeren Verlust, zu dessen Deckung nun noch umfangreichere Abschlüsse erforderlich waren. Leesons riskante Geschäfte mit Derivaten hatten bei der Barings Bank 1995 für Verluste in Höhe von 1,3 Mrd. Pfund gesorgt. Diese Verluste wurden am Ende so groß, dass die Barings Bank die entstandenen Verbindlichkeiten nicht mehr decken konnte und schließlich Konkurs anmelden musste (vgl. Zeitenwende, 2002). Marktteilnehmer überschätzen die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen, die höchst unwahrscheinlich sind. Kahneman und Tversky sehen darin den Grund für viele falsche Entscheidungen. Marktteilnehmer überbewerten häufig kleine Wahrscheinlichkeiten und unterbewerten große Wahrscheinlichkeiten. In der Konsequenz werden falsche Prioritäten gesetzt, mit der Folge, dass unverhältnismäßig viel Zeit für relativ unbedeutende Entscheidungen verwendet wird. Die Veränderung der Risikoeinstellung wird zusätzlich durch die Neigung verstärkt, die Wahrscheinlichkeit selten eintretender Ereignisse überzubewerten und die Wahrscheinlichkeit häufig eintretender Ereignisse unterzubewerten. Dies wird deutlich, wenn Marktteilnehmer in Aktienemissionen (sog. IPOs - Initial Public Offerings), exotische Aktientitel oder Optionen investieren, die nur bei einer drastischen Entwicklung innerhalb der nächsten Monate profitabel sind. In Folge führt diese Verhaltensweise zu einer unnötigen Erhöhung der Portfoliorisiken. Nachfolgend soll anhand eines Beispiels die Wahrnehmung von Verlusten und Gewinnen durch den Marktteilnehmer beispielhaft aufgezeigt werden. Hierbei wird das kodierte Ergebnis, d.h. die ermittelten prospects aus der Editing-Phase genutzt: {- 0,4}. Entsprechend der prospects ist es ersichtlich, dass der Marktteilnehmer auf der einen Seite relative Verluste zu seinem eingesetzten Vermögen, falls dies als Referenzpunkt gesetzt ist, von 50 EUR erleiden kann. Auf der anderen Seite kann er sein Vermögen aber auch um den gleichen Betrag erhöhen. Mit Blick auf den Framing-Effekt ist zu erwähnen, dass der Marktteilnehmer bei Hervorhebung möglicher Gewinne bzw. Verluste zu einer entsprechenden Entscheidung verleitet werden kann. Hat sich der Marktteilnehmer für eine Investition entschieden, werden künftige Kursentwicklungen in Abhängigkeit des gesetzten Referenzpunktes (u.a. Einstiegskurs, Investitionssumme) bewertet. Wie bereits beschrieben kann sich der Referenzpunkt dabei verschieben. Steigt der relative Gewinn vom Referenzpunkt längerfristig um 20 EUR, kann der Referenzpunkt statt 150 EUR künftig 170 EUR betragen. Entpuppt sich die Investition jedoch als eine Fehlentscheidung und es entstehen relative Verluste, so kann der Marktteilnehmer versucht sein, diese „auszusitzen“. Die Ursache hierfür liegt in der hohen Sensitivität für anfängliche Verluste. Mit zunehmenden Verlusten sinkt aufgrund der abnehmenden Steigung der Wertfunktion im Verlustbereich die Sensitivität und der Marktteilnehmer ist umso mehr gewillt, eine mögliche Erholung seines Investments abzuwarten. Die Stärke der Sensitivität ist an den grauen Balken in Abb. 43 ersichtlich. Sie nimmt mit zunehmender Entfernung vom Referenzpunkt ab. Wird ein relativer Gewinn zwischen 10 und 20 EUR als sehr wertig eingeschätzt, sinkt die Wertigkeit eines Gewinnes zwischen 30 und 40 EUR bereits ab. Im Verlustbereich <?page no="192"?> 6.2 Basis der Entscheidungsfindung aus Sicht der Bahavioral Finance 191 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance ist neben der gleichen abnehmenden Sensitivität auch die doppelte Wertigkeit von Verlusten ersichtlich. Hierbei zeigt sich die Verlustaversion. Ein relativer Verlust zwischen 10 und 20 EUR wird fast doppelt so stark wahrgenommen wie ein relativer Gewinn in gleicher Höhe. Der Marktteilnehmer ist unter diesen Umständen nicht gewillt, eine fal- Dispositionseffekt (vgl. Kap. 9.2.1). Dieser Effekt führt auch dazu, dass anfängliche Gewinne zu schnell realisiert werden. Dies liegt an der hohen Sensitivität in der Nähe des Referenzpunktes. Reflection-Effekt (vgl. Kap. 8.2) in der Verhaltensweise des Marktteilnehmers erkennbar. Anfängliche Gewinne ist er aufgrund seiner Risikoaversion gewillt, schnellstmöglich zu realisieren. Gelingt ihm der Verkauf im Zuge fallender Kurse jedoch nicht, so wird der Marktteilnehmer im Verlustbereich risikofreudig (risk seeking). Zieht der Marktteilnehmer nun auch zusätzlich die Gewichtungsfunktion in seine Entscheidung mit ein, so wird er seine Risikoeinschätzung zusätzlich verändern. Die objektive Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent, 50 EUR zusätzlich zu erreichen, wird er geringer einschätzen. Folglich wird er sich bei steigenden Kursen noch stärker risikoavers verhalten, da er nicht an die möglichen Gewinne glaubt. Kleine anfängliche Gewinne werden abverkauft. Marktteilnehmer verspüren abnehmende Sensitivität - sowohl bei Gewinnen als auch bei Verlusten Abb. 43: Wertfunktion der Prospect Theory Die Prospect Theory ist ein Modell der Entscheidungsfindung unter Unsicherheit, bei der aus mehreren Handlungsalternativen eine ausgewählt werden soll. Sie hat die Zielsetzung, Entscheidungen zu erklären, die eine gravierende Inkonsistenz zur neoklassisch-rationalen Bewertung von Wahrscheinlichkeiten und der Erwartungsnutzentheorie aufweisen. <?page no="193"?> 192 6 Phasen der Entscheidungsfindung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance ZZuussaammmmeennffaassssuunngg Innerhalb des Informationsprozesses hat die Informationswahrnehmung die Zielsetzung, Signale aufzunehmen, um die Unsicherheit zu reduzieren. Der Marktteilnehmer wird in dieser Phase des Informationsprozesses von zwei Arten von Wahrnehmungsstörungen beeinflusst. Zum einen erschwert die selektive Wahrnehmung die Informationsaufnahme, zum anderen behindert die Menge an zu verarbeitenden Informationen (Information Overflow) eine umfassende Aufnahme der Informationen. Im zweiten Prozessschritt - der Informationsverarbeitung/ -bewertung - erfolgt zunächst die Entscheidungsvorbereitung der Marktteilnehmer. Dieser Prozessschritt ist durch eine begrenzte Verarbeitungskapazität gekennzeichnet. Für die Vorbereitung einer Entscheidungsfindung z.B. unter Stress und Zeitmangel werden Hilfsmittel angewendet, die die Entscheidungsfindung beschleunigen und zugleich die kognitiven Belastungen verringern. Diese Hilfsmittel (sog. Heuristiken) können auf der einen Seite die Entscheidungsfindung sehr effizient gestalten, auf der anderen Seite können sie zu systematischen Verzerrungen führen. Im letzen Prozessschritt, Entscheidung, kann das tatsächliche Investitionsverhalten beobachtet werden. Hierbei werden die Auswirkungen der kognitiven Dissonanz sichtbar. Die Stärke der kognitiven Dissonanz wird durch die Selbstverpflichtung zu einer Anlageentscheidung beeinflusst. Die Versuche, kognitive Dissonanzen zu vermeiden, haben die Zielsetzung, mögliches Bedauern zu verringern. Die Behavioral Finance kennzeichnet zwei zentrale Aspekte, nach denen die Wertpapierpreisfindung, bzw. -bewertung der neoklassischen und der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung unterschieden werden kann. Dies ist auf der einen Seite die Stimmung auf dem Kapitalmarkt und auf der anderen Seite die Verhaltensweise der Marktteilnehmer. Diese verhalten sich im Einklang mit einer psychologisch orientierten Erwartenstheorie - der Prospect Theory. Die Prospect Theory wurde 1979, 1981 von Daniel Kahneman und Amos Tversky als Alternative zur klassischen Erwartungsnutzentheorie vorgestellt - sie beruht auf der Auffassung, dass ökonomische Entscheidungen durch eine subjektive Bewertung von Gewinnen und Verlusten beeinflusst werden. Die Prospect-Theorie unterscheidet im Gegensatz zur Erwartungsnutzentheorie zwei Phasen des Entscheidungsprozesses. Die Datenaufbereitung und die abschließende Bewertung der ausgewählten Alternative. Die Risikoeinstellung wird in der Prospect-Theorie durch die S-förmige Wertfunktion beschrieben. Marktteilnehmer orientieren ihre Risikoeinstellung an Referenzpunkten. Mit zunehmender Entfernung von einem Referenzpunkt ändert sich die Sensitivität hinsichtlich erlebter Gewinne oder Verluste. Neben der Wertfunktion bedient sich der Marktteilnehmer auch der Gewichtungsfunktion. Hierbei werden objektive Wahrscheinlichkeiten in eigene Einschätzungen transformiert. Dabei werden niedrige Wahrscheinlichkeiten überbewertet, hohe Wahrscheinlichkeiten dagegen unterbewertet. <?page no="194"?> www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 77 BBeeg grre en nzzttee RRaatti ioonnaalliittäätt bbe ei i dde er r I In nffoorrm maatti ioonnsswwaahhrrn neehhmmuunngg Das siebte Kapitel steht im Zeichen des Verhaltens der Marktteilnehmer während der Informationsaufnahme. Sie werden beim Durcharbeiten dieses Kapitels die kognitiven und emotionalen Heuristiken kennenlernen, die in dieser Phase des Informations- und Entscheidungsprozesses die Informationsaufnahme zwar erleichtern, den Marktteilnehmer jedoch die objektive Sichtweise auf den Kapitalmarkt erschweren. Sie werden zudem in diesem und in den Folgekapiteln 8 und 9 die Auswirkung der betrachteten Heuristiken auf die Verhaltensweise des Marktteilnehmers erkennen und die risiko-/ renditeschädliche Wirkung jeder einzelnen Heuristik einordnen können. Die bedeutendsten Erkenntnisse in der Erforschung begrenzt rationalen Verhaltens wurden von den Wissenschaftler Kahneman und Tversky, Gründerväter der Behavioral Finance, entwickelt. Sie analysierten, wie die Marktteilnehmer zur Beurteilung unsicherer Ereignisse die bereits erwähnten Faustregeln (Heuristiken) anwenden. Diese verhelfen zwar zu einer Beschleunigung der Entscheidungsfindung, führen jedoch oft auch zu systematischen Verzerrungen im Informations- und Entscheidungsprozess. In Abb. 64 wird ein Überblick über die erforschten Heuristiken gegeben. Bei einigen Heuristiken wurden teilweise schon Subformen erforscht, wie beispielsweise das narrow framing im Darstellungseffektes (framing). Auf diese Subformen wird im Rahmen der Detailbetrachtungen eingegangen. Außerdem ist festzuhalten, dass die Heuristiken nicht trennscharf definiert sind. Ihre Einordnung in die einzelnen Phasen des Informations- und Entscheidungsprozesses erfolgt auf Basis der veröffentlichten Forschungsergebnisse. Die Heuristiken wurden im Zeitablauf in unterschiedlichen Studien ermittelt und werden erst im Laufe der Forschung Schritt für Schritt klarer abgegrenzt. In den nachfolgenden Kapiteln 7 bis 9 werden die Heuristiken einer zusätzlichen Strukturierung unterzogen. Auf diese Weise wird das Studium der Heuristiken erleichtert sowie die künftige Wiedererkennung gefördert. Die Heuristiken werden zum einen auf Basis ihres Ursprunges und zum anderen auf Basis der Fehleinschätzung der zugrunde liegenden Sachverhalte kategorisiert. Hierbei wird zunächst unterschieden, ob es sich um Heuristiken kognitiven oder emotionalen Ursprungs handelt. 17 Diese erste Unterscheidung ist wichtig, damit in Kapitel 10 die richtige Maßnahme gegen begrenzt rationales Verhalten angewendet werden kann. In der nächsten Stufe werden die Heuristiken danach unterschieden, ob sie aus der Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeiten, Informationen, der objektiven Realität bzw. der eigenen Fähig- 17 Diese Unterscheidung ist eng verwandt aber nicht deckungsgleich mit der von Kahneman (2011) verwendeten Unterscheidung beim Entscheidungsprozess zwischen System 1 (schnell, automatisch, immer aktiv, emotional, stereotypisierend, unbewusst) und System 2 (langsam, anstrengend, selten aktiv, logisch, berechnend, bewusst). <?page no="195"?> 194 7 Begrenzte Rationalität bei der Informationswahrnehmung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance keiten resultieren. Diese Kategorisierung vereinfacht die Unterscheidung der einzelnen Heuristiken in Anbetracht der zunehmend steigenden Anzahl an erforschten Heuristiken. Neben der Kategorisierung der Heuristiken, wird die Portfolioschädlichkeit der einzelnen Heuristiken auf einer Skala von 0 bis 10 dargestellt. Auf diese Weise, kann die Risiko-/ Renditeschädlichkeit direkt erfasst werden. Für die Darstellung wurde der RRS-Index ® (Risiko-/ Renditeschädlichkeits-Index ® ) eingeführt (Daxhammer/ Facsar, 2012). Der RRS-Index orientiert sich an den Auswirkungen der einzelnen Heuristiken auf die Verhaltensweise der Marktteilnehmer. Diese Auswirkungen bilden daher die Grundlage für die Einordnung der Heuristiken im RRS-Index (vgl. Abb. 44). Eine detaillierte Darstellung der Wertigkeit jeder Heuristik erfolgt jeweils am Ende der Kapitel 7, 8 und 9. Nachfolgend ist z.B. die Portfolioschädlichkeit der Verfügbarkeitsheuristik abgebildet. Demnach wird die Risiko-/ Renditeschädlichkeit der Verfügbarkeitsheuristik mit 6 eingestuft. Mit der Einführung des RRS-Index soll den Lesern die Möglichkeit gegeben werden, die Heuristiken mit einem Wert zu verknüpfen, was den Lerneffekt und die Sensibilisierung für den Grad der Schädlichkeit der Heurisitken deutlich erhöht. Der RRS-Index sollte daher nicht als eindeutige, ordinale Messgröße verstanden werden, sondern eher als Instrument der didaktischen Aufbereitung. Eine weitergehende Erläuterung des RRS-Index erfolgt in Kapitel 7.3. Abb. 44: RRS-Index Verfügbarkeitsheuristik Angewandte Heuristiken bei der Informationswahrnehmung Abb. 45: Angewandte Heuristiken bei der Informationswahrnehmung Informationswahrnehmung Informationsverarbeitung/ -bewertung Investitionsentscheidung Verfügbarkeit Risikowahrnehmung Selektive Wahrnehmung Darstellungseffekt Herdenverhalten Verankerung & Anpassung Repräsentativität Ambiguitätsaversion Konservatismus Mentale Buchführung Rezenz-Effekt Selbstüberschätzung Kontrollillusion Umkehr der Risikobereitschaft Selektive Entscheidung Selbstattribution Rückschau-Effekt Besitztums-Effekt Optimismus-Effekt Dispositions-Effekt Status-Quo-Effekt Selbstkontroll-Effekt Reueaversion <?page no="196"?> 7 Begrenzte Rationalität bei der Informationswahrnehmung 195 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Während der Informationswahrnehmung bedient sich der begrenzt rationale Marktteilnehmer überwiegend Heuristiken kognitiven Ursprungs. Hierbei wird die Verfügbarkeits-Heuristik angewendet, um die Eintrittswahrscheinlichkeit von Ereignissen in Abhängigkeit der Vorstellungskraft des Marktteilnehmers zu bestimmen. Marktteilnehmer, die diese Heuristik anwenden, erachten Szenarien, die auf leicht abrufbaren Erinnerungen basieren, als wahrscheinlicher, als solche, die schwerer vorstellbar sind bzw. schwer begreifbar sind. Im Weiteren basiert die Risikowahrnehmung seitens des Marktteilnehmers auf der Fehlinterpretation von Wahrscheinlichkeiten. Diese Wahrnehmungsheuristik verdeutlicht die sich ändernde Risikowahrnehmung des Marktteilnehmers im Zuge von Gewinnen oder Verlusten. Objektive Wahrscheinlichkeiten werden nicht als solche wahrgenommen. Sie werden vielmehr übergewichtet bzw. untergewichtet, weshalb das mit einer Investition eingegangene Risiko sich subjektiv verändert. Die selektive Wahrnehmung stellt als weitere Heuristik kognitiven Ursprungs auf die Fehlinterpretation von Informationen ab. Sie ist eine Erscheinung, bei der die Marktteilnehmer bewusst oder unbewusst Informationen vernachlässigen. Marktteilnehmer nehmen nur solche Informationen wahr, die sie auch wahrnehmen wollen. Informationen, die im Widerspruch zu der zu treffenden Entscheidung stehen, werden ignoriert, wodurch eine objektive Beurteilung der Situation verhindert wird. Informationen können auch dann fehlinterpretiert werden, wenn sie in unterschiedlichen Formen dargestellt werden. Der Darstellungseffekt bezeichnet die Erscheinung, dass die Präsentation ein und desselben Sachverhaltes auf eine unterschiedliche Art und Weise zu unterschiedlichen Entscheidungen führt. Schließlich rundet das Herdenverhalten, als Heuristik emotionalen Ursprungs, die angewendeten Heuristiken während der Informationsaufnahme ab. Dabei verlassen sich die Marktteilnehmer auf ihr Bauchgefühl und verzichten auf eine eingehende Analyse ihrer Investitionsentscheidung. Sie verhalten sich wie die Masse der Marktteilnehmer und laufen z.B. Gefahr, in einer Überhitzung die letzten Investoren zu sein, die dann beim Platzen einer Blase die höchsten Verluste einfahren. Bei der Wahrnehmung von Informationen bedienen sich die Marktteilnehmer bestimmter Heuristiken, die zwar zu einem schnellen Überblick über die vorhandenen Informationen verhelfen, jedoch auch verhindern, dass sämtliche verfügbare Informationen in den Entscheidungsprozess einfließen. <?page no="197"?> www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 77..11 HHeeu urriis st tiikkeen n kkoog gnniit tiiv ve enn U Ur rsspprruun nggss Die nachfolgend betrachteten Heuristiken zeichnen sich dadurch aus, dass die Marktteilnehmer Wahrscheinlichkeiten bzw. vorliegende Informationen falsch einschätzen (vgl. Abb. 46). Die angegeben Werte für den RRS-Index können in der Detailbetrachtung im Unterkapitel 7.3 nachvollzogen werden. Abb. 46: Heuristiken kognitiven Ursprungs während der Informationswahrnehmung 77..11..11 FFe ehhlleeiinnsscchhäät tzzuunngg vvoonn WWaah hrrsscchheei innlliicchhkkeeiitte enn ( (uu..aa.. VVe er rf füüggbbaar rkkeei ittss- hheeu urriissttiikk)) Der Gruppe der Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeiten können zwei Heuristiken zugeordnet werden: die Verfügbarkeitsheuristik und die Risikowahrnehmung. Die Anzahl der zu einer Gruppe zugeordneten Heuristiken wird jeweils im Klammerzusatz der Kapitelüberschrift kenntlich gemacht. Verfügbarkeitsheuristik Allgemeine Beschreibung Eine der wichtigsten Wahrnehmungs-Heuristiken ist die Verfügbarkeitsheuristik (Availability Bias). Sie beschreibt die Neigung der Marktteilnehmer, die Bedeutung von Informationen von der Vorstellungskraft bzw. der geschätzten Eintrittswahrscheinlichkeit abhängig zu machen. Marktteilnehmer, die diese Heuristik bei der Informationswahrnehmung anwenden, erachten Szenarien, die auf leicht abrufbaren Erinnerungen basieren, als wahrscheinlicher, als solche, die schwerer vorstellbar sind bzw. schwer begreifbar sind (vgl. Pompian, 2006, S. 94). Die Verfügbarkeitsheuristik ermöglicht bei der Informationswahrnehmung, die weniger wahrscheinlichen Szenarien auszublenden. Grundlage für die Wahrscheinlichkeitseinschätzung ist die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Ereignisse in der Vergangenheit. Je häufiger ein Ereignis bereits aufgetreten ist, desto leichter ist ein erneuter Eintritt vorstellbar. Ereignisse, die noch nicht eingetreten sind, können dementsprechend vom Marktteilnehmer weniger einfach erfasst werden, wodurch deren Eintrittswahrscheinlichkeit als eher gering eingeschätzt wird (vgl. Hens & Bachmann, 2008, S. 68). Das nachfolgende Beispiel illustriert die Verfügbarkeitsheuristik (vgl. Zweig, 2007, S. 171 f.): 196 7 Begrenzte Rationalität bei der Informationswahrnehmung <?page no="198"?> 7.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 197 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Beispiel 7.1: Verfügbarkeit Welche Antwort würden Sie auf die folgenden Fragen geben? - Was ist riskanter: Kernreaktoren oder Sonnenlicht? - Welche Tierart ist in den USA für die meisten Todesfälle unter Menschen verantwortlich? Alligatoren, Bären, Rehwild, Haie oder Schlangen? - Ordnen Sie (auf ein Jahr bezogen) die Todesursachen in (in der linken Spalte) der jeweiligen Anzahl weltweiter Todesfälle (in der rechten Spalte) zu: Krieg a) 310.000 Suizid b) 815.000 Mord c) 520.000 Experimente haben gezeigt, dass die meisten Menschen der Verfügbarkeitsheuristik unterliegen, wenn ihre Antwort auf Basis leicht verfügbarer Erinnerungen beeinflusst wird. So zeigt sich anhand der Nuklearkatastrophe in Fukushima/ Japan (2011), wie stark leicht verfügbare Informationen die Risikoeinschätzung beeinflussen können. Obwohl amerikanische Statistiken die Anzahl der durch den schlimmsten Nuklearunfall der Geschichte (Tschernobyl/ Ukraine 1986) verursachten US-amerikanischen Todesfälle - im Gegensatz zu den damaligen Vorhersagen von mehreren Zehntausend Toten - etwa 100 Tote beträgt und gleichzeitig alljährlich 8.000 US-Bürger an Hautkrebs, verursacht durch übermäßige Einwirkung von Sonnenstrahlung, versterben, wird die Nukleartechnologie als wesentlich gefährlicher eingeschätzt als die Einwirkung der Sonnenstrahlung. Bezugnehmend auf die zweite Frage ist in einem typischen Jahr in den USA das Rehwild für etwa 130 Todesfälle unter Menschen verantwortlich - siebenmal mehr als Alligatoren, Bären, Haie und Schlangen zusammen. Die Tatsache der erhöhten Todesfälle durch Rehwild ist weniger durch dessen Angriffslust zu erklären als vielmehr dadurch, dass die Tiere vor fahrende Autos laufen und tödliche Unfälle verursachen. Schließlich schlussfolgern die meisten Befragten, dass Krieg mehr Menschenleben fordert als Suizid. Tatsächlich kommen in den meisten Jahren weniger Menschen durch Kriege zu Tode als vielmehr durch Mord und Suizid. Suizid nimmt unter den drei gelisteten Todesursachen den ersten Platz ein. Die Verfügbarkeitsheuristik ist auch einer der Gründe, warum es für innovative Unternehmer so schwierig ist, Risikokapital zu finden. Investoren haben von der Unternehmung bis dato nichts gehört und können sich dementsprechend die Erfolgsaussichten nur sehr schwer vorstellen. Die Anwendung der Verfügbarkeitsheuristik kann auf vier unterschiedliche Gegebenheiten zurückgeführt werden (vgl. Pompian, 2006, S. 94.): [1] Rückholbarkeit - Hiermit sind Ideen/ Szenarien gemeint, die schnell aus den Erinnerungen zurückgeholt werden können und daher auch eine hohe Wertigkeit durch den Marktteilnehmer erhalten. Viele Marktteilnehmer würden auf Basis der Rückholbarkeit Fonds wählen, die stark in den Medien beworben werden. Diese Fondsgesellschaften stellen insbesondere ihre erfolgreichsten Produkte in den Vordergrund. Marktteilnehmer, die auf die mediale Berichterstattung setzen, würden so genannte „hidden-champions“, die weniger auf Werbung setzen, nicht in Erwägung ziehen. <?page no="199"?> 198 7 Begrenzte Rationalität bei der Informationswahrnehmung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance [2] Kategorisierung - Diese Form der Verfügbarkeit zielt auf die Neigung des menschlichen Gehirns ab, neue Sachverhalte mit gegebenen, bereits abgespeicherten Informationen abzugleichen und so zu kategorisieren. Werden zu einem bestimmten Sachverhalt weniger Informationen gefunden, wird diesem eine geringere Wahrscheinlichkeit eingeräumt. Würde beispielsweise ein Franzose eine Liste aus qualitativ hochwertigen, französischen und US-amerikanischen Weinanbaugebieten erstellen müssen, würde die Erstellung der US-amerikanischen ggü. der französischen erheblich schwerer fallen. Folglich würde der Franzose die Vermutung äußern, dass es weniger wahrscheinlich ist, qualitativ hochwertige Weinanbaugebiete in den USA zu finden - auch wenn dies nicht unbedingt der Realität entspricht. [3] Eingeschränkter Erfahrungsbereich - Die Verfügbarkeitsheuristik kann auch dann auftreten, wenn der vorhandene Erfahrungsbereich des Marktteilnehmers eingeschränkt ist. In diesem Fall würde z.B. die Wahrscheinlichkeit für einen Sachverhalt, basierend auf dem eigenen Erfahrungsbereich, höher eingeschätzt als dies tatsächlich der Fall ist. So ist aus dem obigen Beispiel ersichtlich, dass die Beurteilung von Eintrittswahrscheinlichkeiten durch reine Vorstellungskraft nicht die richtige Entscheidungsgrundlage sein kann. Eine Studie von Barber und Odean (2005) zeigte, dass die Markteilnehmer aus Tausenden von Aktien, diejenigen Wertpapiere selektieren, die am ehesten ihre Aufmerksamkeit erregen. Das sind somit Aktien, die in einschlägigen Investmentzeitschriften beworben werden, kürzlich starke Kursschwankungen erlitten haben oder eine extreme Tagesbewegung vollzogen haben. [4] Resonanz - Die letzte Form der Verfügbarkeitsheuristik zielt auf die Einflussnahme der eigenen Vorlieben auf die wahrgenommenen Eintrittswahrscheinlichkeiten ab. So ist es nicht verwunderlich, dass ein Marktteilnehmer, der mit Vorliebe Schnäppchenkäufe tätigt, auch am Aktienmarkt nach unterbewerteten Unternehmen Ausschau hält. Die ausschließliche Konzentration auf scheinbar unterbewertete Titel hätte jedoch gleichzeitig den Nachteil eines möglicherweise unausgewogenen Portfolios zur Folge. Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Das Anlageverhalten der Marktteilnehmer, insbesondere der Privatanleger, kann durch die Verfügbarkeitsheuristik auf unterschiedliche Art und Weise beeinflusst werden: Investitionsauswahl auf Basis leicht rückholbarer Informationen (u.a. Werbung, Empfehlung) Diese Vorgehensweise erschwert bzw. verhindert, dass die Marktteilnehmer die Zielunte Fundamentalanalyse bewerten. Investitionsauswahl auf Basis kategorischer Eigenschaften (u.a. Industrie/ geographische Region) Die Kategorien richten sich dabei nach der Verfügbarkeit der dafür im Gedächtnis durch persönliche Erfahrungen verankerten Erlebnisse/ Erfahrungen. Wertpapiere aus anderen Industrien oder Regionen werden weniger in Betracht gezogen. Das kann <?page no="200"?> 7.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 199 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance zur Folge haben, dass sich Anleger z.B. auf ein bestimmtes Land beschränken. Dieses Verhalten kann wiederum dazu führen, dass die Portfolios unausgewogen auf eine Region oder eine Industrie ausgerichtet werden, wobei das Klumpenrisiko, d.h. das Risiko aufgrund der Auswahl von Wertpapieren aus einer Region/ Industrie die Portfolioschädlichkeit erhöht. Diese auch als Home oder Sector Bias bekannte Heuristik wurde in zahlreichen Studien (French/ Poterba, 1991, Chan/ Covrig/ Ng, 2005) untersucht. In der nachfolgenden Abbildung 47 ist ersichtlich, dass die einheimischen Marktteilnehmer eines Landes im Verhältnis zu ihrem Ländergewicht im Aktienmarkt überproportional in einheimische Wertpapiere investiert haben (vgl. Nofsinger, 2008, S. 67). Wobei die Abgrenzung „einheimischer“ Wertpapiere durchaus problematisch sein kann. Home Bias mit erheblicher Auswirkung auf geografische Aufteilung der zu investierenden Assets Abb. 47: Auswirkung Home Bias auf die geografische Allokation zu investierender Assets (2005) Im Bereich des aktiven Fondsmanagements durch professionelle Anleger ist die Verfügbarkeitsheuristik aufgrund komplexer Selektionsprozesse für die Auswahl von Wertpapieren sehr eingeschränkt. Nichtdestotrotz laufen die Fondsmanager Gefahr, sich einem erheblichen Risiko auszusetzen, da die selektierten Unternehmen nicht zwangsläufig nur in ihren Heimatmärkten Umsatz erwirtschaften. Sie sind oft weltweit tätig und damit auch den Potenzialen und Gefahren des jeweiligen Landes, in welchem sie operieren, ausgesetzt. Während des Hochpunktes des Russland-/ Ukraine-Konfliktes verloren deutsche Unternehmen aufgrund ihrer Exportlastigkeit überdurchschnittlich im Gegensatz zu Unternehmen anderer Länder. Die extreme Abwertung des Yuan Anfang 2016 hat ebenso eine deutliche Auswirkung auf ausländische Exportunternehmen gehabt. Im heutigen Investmentumfeld muss ein Portfoliomanager die Auswirkungen der geographischen Umsatzverteilung genau überblicken und im besten Fall für seine Entscheidungen nutzen. Ein Blick in die Jahresbilanzen der Unternehmen kann zwar helfen, die Informationen sind jedoch nicht auf dem ersten Blick ersichtlich bzw. weichen von der Dartstellungsform anderer Unternehmen stark ab und kosten in der Analyse daher sehr viel Zeit. <?page no="201"?> 200 7 Begrenzte Rationalität bei der Informationswahrnehmung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Am Beispiel des DAX wird deutlich, dass die Indexmitglieder nur ca. 1/ 4 ihres Umsatzes (23,8 Prozent Revenue Exposure By Country) in Deutschland generieren - eine aktive/ passive Investmentstrategie mit Fokus Deutschland kann daher mit ausschließlich DAX- Indexmitgliedern nicht gewährleistet werden. In der Abbildung 48 (oberer rechter Quadrant) wird deutlich, dass, die Indexmitglieder zwar alle in Deutschland beheimatet sind (innerer Kreis), jedoch nur 23,8 Prozent des Umsatzes tatsächlich in Deutschland erwirtschaftet werden (äußerer Ring): 18 Abb. 48: Geographische Umsatzverteilung am Beispiel des Dax 30; FactSet > Company/ Security > GeoRev Mit den heute verfügbaren Informationen hat der Portfoliomanager die Möglichkeit, die Unternehmen zu selektieren, die hauptsächlich in Deutschland ihren Umsatz generieren - seien es Unternehmen aus den USA, Asien oder anderen europäischen Ländern. Ultimativ hat der Portfoliomanager im Vorfeld regionaler Krisen die Möglichkeit seine regionale Gewichtung zu überblicken und dadurch rechtzeitig das Risiko für Portfolioverluste zu reduzieren. 18 Die Firma Revere Data, LLC (seit 2013 zu FactSet Inc. gehörend) hat sich u.a. auf die Aufbereitung von geographischen Daten spezialisert. Sie ist in der Lage, für über 20 000 weltweit tätige Unternehmen die geographischen Umsätze für 280 Länder, Regionen und Super-Regionen zu bestimmen und auf diese zu verteilen. Hierbei werden zunächst die in den Geschäftsberichten verfügbaren Daten normalisiert, d.h. vage Aussagen wie „x% Umsatz in Rest of Europe, oder x% Umsatz in Asia) werden auf die in den Fußnoten oder auf anderen Seiten zu findenden Ländern zugeordnet. Schließlich wird der Umsatz nicht genannter Länder einer Region mit Hilfe der relativen GDP-Gewichtung geschätzt. Auf diese Weise ist es möglich, den regionalen Umsatzschwerpunkt eines Unternehmens zu ermitteln. <?page no="202"?> 7.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 201 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Verfügbarkeitsheuristik beschreibt die Neigung der Marktteilnehmer, die Bedeutung von Informationen von der Vorstellungskraft bzw. der geschätzten Eintrittswahrscheinlichkeit abhängig zu machen. Risikowahrnehmung Allgemeine Beschreibung Diese Heuristik kann mit einem Zitat von Kahneman und Tversky verdeutlicht werden: „A person who has not made peace with his losses is likely to accept gambles that would be unaccaptable to him otherwise.“ (Kahneman/ Tversky zit. nach Nofsinger, 2008, S. 32) Die beiden Wissenschaftler weisen mit ihrem Zitat darauf hin, dass der Marktteilnehmer seine Risikowahrnehmung in Abhängigkeit von erlebten Gewinnen bzw. Verlusten ändert. Die Änderung der Risikowahrnehmung ist hierbei stark davon abhängig, ob der Marktteilnehmer sich mit unrealisierten, relativen Gewinnen bzw. Verlusten konfrontiert sieht, oder aber bereits realisierte Gewinne bzw. Verluste eine weitere Entscheidung erfordern. Beispiel 7.2: Änderung Risikobereitschaft Betrachten Sie folgende Situation und entscheiden sie entsprechend Ihrer Präferenzen: Es wird ein Münzwurf angeboten, bei dem Sie 20 EUR gewinnen, sofern die Münze „Zahl“ aufweist oder 20 EUR verlieren, wenn die Münze auf „Kopf“ fällt. Würden Sie mitspielen? Bedenken Sie nun zusätzlich, dass sie bereits 100 EUR in früheren Spielen gewonnen haben. Würden Sie jetzt mitspielen? Hat sich Ihre Präferenz zur Beteiligung am Spiel verändert, sobald sie einen früheren Gewinn mit in die Überlegung einbezogen haben? Was wäre, wenn Sie statt 100 EUR Gewinn bereits 20 EUR verloren hätten? Würde dieser Umstand die Beteiligung am Spiel verändern? Viele Menschen würden auf der einen Seite mitspielen, auf der anderen Seite, nach Betrachtung früherer Gewinne bzw. Verluste, jedoch nicht. Die Wahrscheinlichkeit, 20 EUR zu gewinnen, verändert sich nicht in den unterschiedlichen Szenarien. Die objektiv erwartete Wahrscheinlichkeit bleibt bei 50 Prozent. Trotz dieser offensichtlichen Tatsache verändert sich die Risikoeinschätzung der Befragten erheblich. In Abhängigkeit, ob der realisierte Gewinn bereits als Vermögenszuwachs verbucht wurde oder erst als zusätzliches „Spielgeld“ angesehen wird, verändert sich die Risikobereitschaft des Marktteilnehmers. Kahneman und Johnson führten mit 95 Studenten ein Experiment durch, bei dem die Studenten entscheiden sollten, ob sie nach einem plötzlichen Gewinn weiterspielen wollen. Die Studenten verhielten sich nach dem unerwarteten Gewinn, als ob sie mit dem „Geld des Kasinos“ spielen würden. 77 Prozent der Teilnehmer waren bereit, erneut das <?page no="203"?> 202 7 Begrenzte Rationalität bei der Informationswahrnehmung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Risiko zu suchen (House-Money-Effect). Sobald sich die Teilnehmer an den Gewinn „gewöhnten“ bzw. nicht mehr mit „Spielgeld“ spielen sollten, waren nur noch 41 Prozent der Teilnehmer bereit, einen Einsatz zu riskieren. Die Erklärung für diese Verhaltens- Probability Weighting aus Kap. 6.2.2 gefunden werden. Sofern mittlere und hohe Wahrscheinlichkeiten unterschätzt werden, ist der Marktteilnehmer weniger bereit Risiko einzugehen. Die Marktteilnehmer schätzten, nach Verbuchung eines realisierten Gewinnes, die Wahrscheinlichkeit, wieder zu gewinnen geringer ein, als dies von der objektiven Wahrscheinlichkeitseinschätzung her richtig wäre. Sie verhielten sich zunehmend risikoscheu. Diese Verhaltensweise war unmittelbar nach dem ersten, unerwarteten Gewinn, den die Beteiligten zwar realisiert aber noch nicht als ihr eigenes Geld verbucht haben, nicht zu beobachten. Die Beteiligten wurden durch die ersten Gewinne in Ihrer Entscheidungsfindung derart beeinflusst, dass sie sich entgegen der Erwartung risikofreudig verhielten. Anders sieht es aus, wenn die Marktteilnehmer einen Verlust realisiert haben. Im Fall des durchgeführten Experimentes waren 60 Prozent der Beteiligten nicht noch einmal bereit zu spielen. Dieses Verhalten ist in Anbetracht der an sich risikofreudigen Verhaltensweise der Marktteilnehmer im negativen Bereich der Wertfunktion erstaunlich. Im Experiment verringerte sich das risikofreudige Verhalten schlagartig, sobald ein tatsächlicher Verlust eingetreten ist und realisiert wurde (vgl. Nofsinger, 2008, S. 32 f.). Die Erklärung für die veränderte Risikoeinstellung liegt demnach in der Positionierung des Marktteilnehmers. Ist er weiterhin investiert und hat bislang einen nicht realisierten Buchverlust erlitten, so ist er im Verlustbericht der Wertfunktion risikofreudig. Wurde dagegen ein Buchverlust durch den Verkauf der Wertpapiere realisiert, erscheint der Marktteilnehmer risikoavers zu werden und den Markt meiden zu wollen. Seine Neigung zu einer erneuten Investition wird durch den realisierten Verlust beeinflusst. Die Risikofreude kehrt jedoch wieder zurück, wenn der Marktteilnehmer (z.B. Teilnehmer einer Pferdewette) mehrfach im Laufe eines Tages verloren hat. In diesem Fall, wird oft am Ende des Tages alles auf „eine Karte“ gesetzt. Der Teilnehmer überschätzt die objektive Wahrscheinlichkeit, mit einer riskanten Investition einen Gewinn zu erzielen. Wiederum liefert das Probability Weighting die Erklärung für die Veränderung der Risikoeinschätzung. Sofern geringe Wahrscheinlichkeiten überschätzt werden, ist der Marktteilnehmer eher bereit Risiko einzugehen. Er verhält sich im Verlustbereich zunehmend risikofreudig, da er das an sich unwahrscheinliche Ereignis steigender Kurse mit einer höheren Wahrscheinlichkeit gewichtet. Im Gewinnbereich verhält sich der Marktteilnehmer zudem weniger risikoavers. Dies ist im Rahmen einer Hausse (langanhaltend steigende Wertpapierkurse) zu beobachten. Sobald die Aktienkurse stark gestiegen sind, beteiligen sich weitere, unerfahrene Marktteilnehmer am Aktienhandel. Die nun sinkenden Wahrscheinlichkeiten für weiter steigende Aktienkurse werden von diesen Marktteilnehmern, im Sinne der sozialen Ansteckung durch das Boom-Denken (vgl. Kap. 4.1), höher eingeschätzt als dies objektiv gerechtfertigt wäre. Ihr Risikogefühl hat sich von der anfänglichen Risikoaversion zu risikosuchend (risk seeking) verändert. Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Marktteilnehmer verhalten sich entsprechend der oben aufgeführten Umstände je nach Unterbzw. Überbewertung von objektiven Wahrscheinlichkeiten risikoavers bzw. risikosuchend. Die Änderung der Risikowahrnehmung ist bei Akteuren im Wealth Management und auch bei institutionellen Anlegern eher wahrscheinlich, als bei den Akteuren <?page no="204"?> 7.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 203 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance im Private Equity. Diese sind aufgrund der Langfristigkeit ihrer Investitionen, weniger auf kurzfristige Marktentwicklungen fokussiert, und dadurch laufen sie weniger Gefahr, ihre Risikowahrnehmung in Abhängigkeit erlebter Gewinne und Verluste zu verändern. Risikowahrnehmung auf Basis der Fehleinschätzung objektiver Wahrscheinl ic hk ei ten Die Neigung zur Fehleinschätzung objektiver Wahrscheinlichkeiten kann je nachdem, ob es sich um ein erwartetes oder unerwartetes Ereignis handelt, auftreten. Nach einem unerwarteten, durch den Verkauf der Wertpapiere realisierten Gewinn sind Anleger gewillt, risikobehaftete Wertpapiere zu erwerben. Dieses Phänomen basiert auf dem House-Money-Effekt, wonach der Anleger den unerwarteten Gewinn noch nicht als sein Vermögen verbucht hat. Die Wahrscheinlichkeit für steigende Gewinne wird überschätzt, wodurch der Anleger weniger risikoavers agiert, als dies im Gewinnbereich der Wertfunktion zu erwarten wäre. Nach einem bereits als zusätzlichem Investitionsanreiz/ Vermögen verbuchten Gewinn sind Anleger weniger bereit, erneut Risiko einzugehen. Dieses Phänomen basiert darauf, dass sie relativ hohe Wahrscheinlichkeiten als geringer einschätzen, als dies gerechtfertigt wäre. Sie verhalten sich zunehmend risikoavers. Daher werden sie zunehmend passiv und verpassen notwendige Anpassungen des Portfolios. Nach einem unerwarteten Verlust sind Anleger nicht gewillt, erneut risikobehaftete Wertpapiere zu erwerben. Sie verhalten sich so, da sie objektiv hohe Wahrscheinlichkeiten tendenziell unterschätzen und sich daher ihre Risikoaversion erhöht. Nach mehrfach erlebtem Verlust sind Anleger wieder bereit, Risiko einzugehen. Als Ursache kann hier die Überschätzung objektiv geringerer Wahrscheinlichkeiten genannt werden. Folglich kann bei einem solchen Verhalten das Risiko des Portfolios steigen. Die Änderung der Risikowahrnehmung beruht auf dem Phänomen, dass Marktteilnehmer in Abhängigkeit eines eingetretenen Verlustes bzw. Gewinnes ihre Risikowahrnehmung und Risikobereitschaft verändern. Diese Änderung erfolgt auf Basis nicht-objektiver Wahrscheinlichkeitsbewertungen. 77..1 1..2 2 FFeehhl leeiinnssc chhäättz zuunng g vvoonn IInnf foorrmmaattiioonneenn ((uu..a a.. sseelleekkttiivvee WWaahhr rnne ehhmmuunngg)) Selektive Wahrnehmung Allgemeine Beschreibung Die selektive Wahrnehmung bildet zusammen mit der selektiven Entscheidung die Grundlage der Theorie kognitiver Dissonanz (vgl. 6.1.3). Beide Komponenten haben die Zielsetzung, den eigenen Vorstellungen zuwiderlaufende Entwicklungen abzuschwächen. Die selektive Wahrnehmung erscheint am Anfang des Informations- und Entscheidungsprozess, wohingegen die selektive Entscheidung bei der Ausführung von Entscheidungen zu beobachten ist. <?page no="205"?> 204 7 Begrenzte Rationalität bei der Informationswahrnehmung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die selektive Wahrnehmung (selective perception) (vgl. Kapitel 6.1.1) ist eine Erscheinung, bei der die Marktteilnehmer bewusst oder unbewusst Informationen vernachlässigen. Sie kann sowohl vor als auch nach einer zu treffenden Entscheidung auftreten. Vor einer zu treffenden Entscheidung führt sie dazu, dass die Marktteilnehmer nur solche Informationen wahrnehmen, die sie auch wahrnehmen wollen. Informationen, die im Widerspruch zu der zu treffenden Entscheidung stehen, werden ignoriert, wodurch eine objektive Beurteilung der Situation verhindert wird. Selektive Wahrnehmung bedeutet aber auch, dass die Marktteilnehmer nach Entschei- Selbstverpflichtung nur das wahrnehmen, was ihre getroffene Entscheidung stützt, vor allem, wenn sie feststellen, dass die gewählte Alternative die vermeintlich schlechtere war. In diesem Fall wird die Aufmerksamkeit auf die Vorteile der getroffenen Wahl gelenkt. Der Marktteilnehmer blendet Informationen aus und sieht nur das, was letztlich die getroffene Entscheidung bestätigt (vgl. Schriek, 2009, S. 32). Selektive Wahrnehmung kann daher dazu führen, dass ein und derselbe Sachverhalt von den Marktteilnehmern völlig unterschiedlich interpretiert wird. Der Grund für die Interpretationsunterschiede kann in den individuellen Bedürfnissen, persönlichen Erfahrungen sowie den eingebrachten Emotionen liegen (vgl. Mazanek, 2006, S. 72 f.). Beispiel 7.3: Selektive Wahrnehmung Ein Marktteilnehmer hat in den vergangenen Monaten intensiv die Wachstumsaussichten und wirtschaftlichen Verhältnisse von Unternehmen recherchiert, welche die Abwicklung von Kreditkartenumsätzen durchführen. In seinen Augen steht nach intensiven Nachforschungen und Marktbeobachtungen die nächste und womöglich letzte Übernahme eines solchen Unternehmens (A) durch einen der namhaften Kartenemittenten (B) (Visa oder Mastercard) an. Kurz vor seinem Entschluss, in die Aktien des Unternehmens A zu investieren, liest er in einer Investmentzeitschrift von der bevorstehenden Möglichkeit, dass das Unternehmen A übernommen werden könnte. In diesem Fall prognostizieren die Analysten dem den Aktien des Übernahmekandidaten A Gewinnchancen von bis zu 70 Prozent. Der Markteilnehmer entscheidet sich daraufhin, 5.000 EUR in das Unternehmen A zu investieren, in der Erwartung, an den möglichen Kurssteigerungen teilhaben zu können. In den nächsten Tagen nach Vollzug seiner Investition beginnen die Kurse des Unternehmens A jedoch zu bröckeln. Der Marktteilnehmer liest kurze Zeit später in der Wirtschaftspresse die folgende Schlagzeile: „Umsatzrückgang im Kreditkartengeschäft belastet Abwickler der Zahlungen - Ende des Booms? “ Wie reagiert der Marktteilnehmer darauf? Wahrscheinlich wird er die negative Information abwerten, vielleicht sogar ignorieren, um die bereits getroffene Entscheidung zu rechtfertigen. Denn seine Selbstverpflichtung ist aufgrund der wochenlangen Recherche derart hoch, dass er seine Entscheidung nun nicht mehr mit dem Gefühl des Verlusts zurücknehmen möchte. In der Folge bleibt der Marktteilnehmer bei seinem Investment, da auch die ersten Buchverluste die Hoffnung nicht untergraben, dass die Aktie sich noch entsprechend der Erwartungen entwickeln wird. In der Literatur kann die Neigung, bestätigende Informationen wahrzunehmen auch un- Bestätigungsneigung (Confirmation Bias) gefunden werden. Es handelt sich hierbei um die gleiche Heuristik wie die selektive Wahrnehmung. <?page no="206"?> 7.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 205 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer In der Praxis kann die selektive Wahrnehmung sowohl institutionelle Investoren als auch Privatanleger in der Informationswahrnehmung beeinflussen: Informationswahrnehmung auf Basis bestätigender Informationen Analysten berücksichtigen aus der Gesamtmenge der Informationen häufig nur solche Informationen, die ihren Erwartungen entsprechen und darüber hinaus den bisher getätigten Prognosen nicht widersprechen. Die Studie von Hunter und Coggin im Jahre 1988 bestätigte diese Erkenntnis. Die Analysten haben eine extrem starke Wahrnehmungserwartung, welche infolge der selektiven Wahrnehmung zu einer falschen Wahrnehmung der Informationen führen kann. So wird ein positiv gestimmter Analyst bei steigenden Arbeitslosenzahlen auf steigende Aktienkurse setzen, da in seinen Augen durch die Entwicklung des Arbeitsmarktes die Inflation sinkt (aufgrund sinkender Lohnkosten). Auf der anderen Seite wird ein negativ gestimmter Analyst fallende Aktienkurse erwarten, da die Entwicklung am Arbeitsmarkt das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen könnte (vgl. Goldberg & von Nitzsch, 2000, S. 61). Risiko des Herdenverhaltens Die selektive Wahrnehmung kann unmittelbar zum Herdenverhalten (vgl. Kap. 7.2) führen, wenn Anleger Informationen, die gegen eine Investition sprechen, verdrängen und sich auf die Meinung der Gruppe verlassen. Dieses Verhalten war maßgeblich für die Entstehung der Dotcom-Spekulationsblase (vgl. Entwicklung Nemax 50 in Abb. 49) verantwortlich und führt zu unterdiversifizierten Depots der Anleger. Insbesondere Privatanleger neigen dazu, eine bereits getroffene Entscheidung durch bestätigende Informationen zu rechtfertigen. Diese Verhaltensweise der Anleger ist begrenzt rational, da sie an Verliererpositionen festhalten, obwohl Informationen für eine sofortige Veräußerung sprechen würden. Das Herdenverhalten kann dadurch mittelbar auch zum Dispositionseffekt führen. So interpretierten Anleger (auf privater wie institutioneller Seite) zur Jahrtausendwende eintreffende Informationen über Technologie- und Telekommunikationsaktien im Glauben, dass die Kurssteigerungen weiterhin anhalten würden (vgl. Pompian, 2006, S. 88). Die Marktteilnehmer ließen sich durch die mediale Berichterstattung derart in den Glauben versetzen, dass ein ausgewogenes Depot an weitläufig bekannten Technologieaktien nicht vorbeikommen kann. Die selektive Wahrnehmung kann die Ansicht „This time is different“ (vgl. Kap. 4.2) hervorrufen und die Informationswahrnehmung auf für die Marktentwicklung bestätigende Informationen einschränken. Diese Sichtweise, welche die damalige Lage insbesondere aus der Perspektive der bestätigenden Informationen betrachtete, begünstigte erheblich die Entwicklung der Spekulationsblase Ende der 1990er Jahre, wobei das damalige Börsensegment für die 50 größten Technologiewerte an der Deutschen Börse, der Nemax 50, am 10. März 2000 einen Rekordwert von 9.603 Punkten erreichte. In der Folgezeit der geplatzten Spekulationsblase fiel der Nemax 50 am letzten Handelstag, dem 21. März 2003, jedoch auf 307 Punkte. <?page no="207"?> 206 7 Begrenzte Rationalität bei der Informationswahrnehmung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Spekulationsblase um die Jahrtausendwende - Nemax 50 Abb. 49: Kursentwicklung Nemax 50, 1997-2004; FactSet Selektive Wahrnehmung wird von den Marktteilnehmern im Rahmen der kognitiven Dissonanz angewendet. Es werden bewusst oder unbewusst Informationen vernachlässigt, mit der Zielsetzung, eine Bestätigung für eine zu treffende Entscheidung bzw. eine bereits getroffene Entscheidung zu erlangen. Die Selektive Wahrnehmung kann unmittelbar zum Herdenverhalten führen. Darstellungseffekt Allgemeine Beschreibung Der Darstellungseffekt (Framing Bias) bezeichnet die Erscheinung, dass die Präsentation ein und desselben Sachverhaltes auf eine unterschiedliche Art und Weise zu unterschiedlichen Entscheidungen führt. Ein Darstellungseffekt ist demnach dann gegeben, wenn durch die unterschiedliche Aufbereitung eines eindeutigen Sachverhaltes unterschiedliche Entscheidungen hervorgerufen werden. Als Darstellungseffekt kann die Reihenfolge der wahrgenommenen Information, die unterschiedliche grafische Darstellung oder die Einbettung von Informationen in einen bestimmten Kontext verstanden werden. Zudem können unterschiedliche Entscheidungen hervorgerufen werden, je nachdem, ob die Entscheidungssituation positiv (entgangener Gewinn) oder negativ (Verlust) dargestellt wird (vgl. Karlen, 2004, S. 22). Der Darstellungseffekt wurde 1981, im Zusammenhang mit der Prospect Theory, von Kahneman und Tversky erforscht (vgl. Kap. 6.2). <?page no="208"?> 7.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 207 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Beispiel 7.4: Darstellungseffekt Die Auswirkungen des Darstellungseffektes lassen sich wie folgt verdeutlichen: Situation Supermarkt: Ihnen wird eine Grapefruit für 1 Euro, drei dagegen für 2,50 EUR angeboten. Wofür entscheiden Sie sich? Situation Krankenhaus: Vor einer Operation wird ein Patient über den Einsatz eines Medikamentes aufgeklärt. Der Arzt kann zwei unterschiedliche Formulierungen über die Wirkung des einzusetzenden Medikamentes verwenden: 75 Prozent der Patienten überleben die Operation mit dem Einsatz des Medikamentes vs. 25 Prozent der Patienten, die mit dem Medikament behandelt werden, versterben. Situation Anlageberatung: Der Anlageberater kann die Entwicklung eines Wertpapiers auf unterschiedliche Art und Weise darstellen: Darstellung der letzten sechs Monate mit stetig steigenden Notierungen vs. Darstellung der vergangenen zwei Jahre mit starken Kursverlusten in den ersten 18 Monaten sowie anschließender Erholung in den letzten sechs Monaten. In Experimenten wurde ersichtlich, dass die Probanden in den oben aufgeführten Beispielen in Abhängigkeit von der Darstellungsform zu abweichenden Entscheidungen kamen. So werden die Auswirkungen des Darstellungseffektes aktiv in der Beeinflussung des Marktteilnehmers angewendet. Im Supermarkt wird versucht, dem Konsumenten zu verdeutlichen, dass es günstiger ist, drei Grapefruits zu kaufen als nur eine. Der Patient im Krankenhaus wird beim gleichen Sachverhalt des Medikamenteneinsatzes zu zwei völlig unterschiedlichen Entscheidungen kommen - je nachdem, ob das Überleben oder das Versterben in den Vordergrund gestellt wird. Genauso kann die Entscheidungsfindung der Anleger beeinflusst werden. Suggerieren entscheidungsrelevante Informationen einen kurzfristig positiven Ausblick, ist die Neigung die Anlage zu tätigen höher, als wenn die langjährige Entwicklung der Anlage präsentiert wird. Die Darstellungsform spielt demnach für die Risikoeinschätzung einer Anlage eine große Rolle. Entsprechend der Forschungsergebnisse von Weber und Siebenmorgen kommen private Anleger zu völlig unterschiedlichen Risikoeinschätzungen einer bestimmten Anlageform, wenn diese z.B. in drei unterschiedlichen Formen dargestellt werden. Die Wissenschaftler stellten eine Investition in den DAX in dreierlei Weise dar: [1] verbale Beschreibung der Entwicklung, [2] Renditeentwicklung der vergangenen zehn Jahre in einem Balkendiagramm und [3] Verteilung der DAX-Jahresrenditen entsprechend der Normalverteilungskurve. Als Ergebnis der Studie stellte sich heraus, dass die Marktteilnehmer in Abhängigkeit vom subjektiv empfundenen Risiko die Streuung der Anlage und damit das tatsächliche Risiko völlig unterschiedlich einschätzen. Sind die Anleger mit einer Darstellungsform vertraut, so wird das Risiko der Anlage deutlich unterschätzt (Darstellungsformen 1 und 2). Kennen sie die Darstellungsform jedoch nicht (Darstellungsform 3), so wird das Risiko höher eingeschätzt, als dies tatsächlich der Fall ist (vgl. Weber, 2007, S. 156 ff.). <?page no="209"?> 208 7 Begrenzte Rationalität bei der Informationswahrnehmung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Folglich führt die Darstellungsform, aber auch die Art der Einschätzung des Investments (positiv vs. negativ hinsichtlich Renditeentwicklung) zur Beeinflussung der Bereitschaft, eine Investition zu tätigen. Eine weitere Erscheinung dieses Phänomens kann durch das Narrow Framing beschrieben werden. Hierbei fokussiert sich der Marktteilnehmer auf einzelne Aspekte einer Situation. Andere Aspekte werden überwiegend ausgeblendet, wodurch eine objektive Erfassung der Wahrscheinlichkeiten verhindert wird. Beispielhaft kann hier der Fokus auf die kurzfristige Kursentwicklung eines an sich langfristig orientierten Investors sein. Sofern nur auf die kurzfristige Kursentwicklung geachtet wird, da u.U. die mediale Berichterstattung dazu verleitet, blendet der Marktteilnehmer andere rendite-/ risikobeeinflussende Faktoren aus. Diese betreffen u.a. die allgemeine, langfristige Entwicklung der Industrie, zu der das Unternehmen gehört, oder die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Der Darstellungseffekt entfaltet hauptsächlich bei privaten Anlagen seine renditeschädliche Auswirkung. Beeinflussung der Risikowahrnehmung des Anlegers durch Art der Darstellung von Risiken Unsachgemäß formulierte Fragen im Vorfeld oder während einer Investition können den Anleger ungerechtfertigt risikofreudig oder risikoavers agieren lassen. Beeinflussung der Transaktionshäufigkeit durch Wahrnehmung kurzfristiger Kursentwicklungen Anleger können durch die Unterform des Darstellungseffektes, dem Narrow Framing, dazu verleitet werden, auf kurzfristige Kursbewegungen zu reagieren und dadurch zu häufigerem Handeln, als dies im Rahmen ihrer Investitionsplanung gerechtfertigt wäre. Die Anleger senken durch häufiges Handeln allein aufgrund der Transaktionskosten die Portfoliorentabilität und erhöhen u.U. das Portfoliorisiko durch die Veränderung der Portfoliodiversifikation. Darstellungseffekt kann zum Dispositionseffekt führen Anleger neigen dazu, künftige Investitionsentscheidungen auf Basis verbuchter Gewinne oder Verluste zu evaluieren. Wurden Verluste erzielt, neigt der Anleger dazu, riskantere Positionen einzugehen, um entstandene Verluste auszugleichen. Wurden Gewinne erwirtschaftet, neigt der Anleger dazu risikoärmere Anlagen zu favorisieren, um eingefahrene Gewinne nicht zu riskieren. Der Darstellungseffekt beschreibt die Erscheinung, dass die Präsentation ein und desselben Sachverhaltes auf eine unterschiedliche Art und Weise zu unterschiedlichen Entscheidungen führt. <?page no="210"?> 7.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs - Herdenverhalten 209 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 77..22 HHeeu urriis sttiikkeen n e em moottiio onnaalle en n UUr rsspprruun nggss - - HHeer rddeen nvve errhhaalltteen n Innerhalb der Informationsaufnahme sticht eine Heuristik mit emotionalem Ursprung hervor (vgl. Abb. 50). Hierbei handelt es sich um die Gewohnheit der Marktteilnehmer, die Handlungen anderer Investoren zu beobachten, woraus sich ein sozialer Konsens des Marktverhaltens bilden kann. Dieser soziale Konsens führt letztendlich zum Herdenverhalten (vgl. Kap. 4.1.1). Abb. 50: Heuristiken emotionalen Ursprungs während der Informationswahrnehmung Herdenverhalten Allgemeine Beschreibung Das Herdenverhalten ist insbesondere bei der Informationsaufnahme zu beobachten. Die Marktteilnehmer haben dabei ständig ein Auge auf den Nachrichtenseiten und prüfen regelmäßig ihre Depotstände. Startet eine Bewegung am Aktienmarkt, bewegt sich die Masse oft gemeinsam in die entsprechende Richtung. Keiner möchte zurückgelassen werden bzw. auf der falschen Seite stehen. Das Problem des Herdenverhaltens liegt hauptsächlich darin, dass die Marktteilnehmer zu Lasten einer gründlichen Analyse, sich eher auf ihr „Bauchgefühl“ durch die Beobachtung des Verhaltens anderer verlassen. Handeln viele auf dieselbe Weise, ist man bei einer Fehlentscheidung nicht alleine. Die Konzentration der Marktteilnehmer auf scheinbar irrelevante, jedoch womöglich gewinnversprechende Informationen lässt sich eindrucksvoll am nachfolgenden Beispiel aus der Dotcom-Spekulationsblase Anfang 2000 verdeutlichen. Beispiel 7.5: Herdenverhalten Während der Dotcom-Blase gingen Unternehmen dazu über, ihre Firmenbezeichnung dem Internetvertrieb anzupassen. Je mehr die Marktteilnehmer die Aktien von Unternehmen mit Internetvertrieb erwarben, desto mehr Unternehmen planten eine entsprechende Namensänderung mit einer .combzw. .net-Endung. Nach den Untersuchungsergebnissen von Cooper, Dimitrov und Rau (2001) haben zwischen 1998 und 1999 147 Unternehmen ihre Firmenbezeichnung verändert. Innerhalb der ersten drei Wochen nach der Änderung stiegen die Kurse der betreffenden Firmen um durchschnittlich 38 Prozent. Firmen, die ausschließlich im Internet tätig waren, erlebten einen Wertzuwachs ihrer Anteile von 57 Prozent im besagten Zeitraum von drei Wochen. Andere Firmen, die begrenzt Internetaktivitäten aufwiesen, erlebten einen Wertzuwachs ihrer Anteile um 35 Prozent. Einige Unternehmen, die ihre Nahmen anpassten und bislang keine Internetaktivitäten aufwiesen, erreichten durch die Anpassung ihrer Geschäftsstrategie <?page no="211"?> 210 7 Begrenzte Rationalität bei der Informationswahrnehmung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance auf den Internetvertrieb eine Wertsteigerung von rund 16 Prozent. Selbst Unternehmen, die weder Internetaktivitäten aufwiesen noch nennenswerte Erfahrungen mit dem Vertriebskanal hatten, erreichten durch die Namensänderung eine Wertsteigerung ihrer Anteile um 48 Prozent. Nach Zusammenbruch der Dotcom-Blase kehrte sich der Trend um, und die Unternehmen entschieden sich oft wieder zu einer Namensänderung. 67 Prozent der Unternehmen löschten den Internetbezug aus ihren Firmenbezeichnungen. Selbst diese Änderung führte zu einer entsprechenden Honorierung durch die Marktteilnehmer. Die Rückbesinnung auf traditionelle Vertriebsformen führte bei den entsprechenden Unternehmen zu einer Kurssteigerung von durchschnittlich 64 Prozent im Laufe der anschließenden zwei Monate (vgl. Nofsinger, 2008, S. 80 f.). Wie in Kapitel 4.1.1 bereits beschrieben, kann das Herdenverhalten in vier Kategorien unterteilt werden. Für eine detaillierte Beschreibung sei auf das besagte Unterkapitel verwiesen: Herdenverhalten auf Basis von Informationskaskaden Herdenverhalten auf Basis von Reputationsinteressen Herdenverhalten auf Basis von Informationsquellen Herdenverhalten auf Basis historischer Marktbewegungen Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Das Herdenverhalten führt insbesondere bei Privatanlegern zu einer signifikanten Portfolioschädigung. Im Bereich Private Equity Anlagen kann das Herdenverhalten im Zuge erfolgreicher Transaktionen anderer General Partner zu weiteren Investitionen in der „angesagten“ Branche führen. Beeinträchtigung der Portfoliodiversifikation bei Übergewichtung blasenbildender Anlagen Der Anleger neigt aufgrund der medialen Berichterstattung, z.B. Meldungen über häufig kommentierte Anlagen, zu Übergewichtung dieser Wertpapiere. Auf diese Weise wird die Portfoliodiversifikation erheblich eingeschränkt, und entstehende Verluste können nicht durch andere Anlagen ausgeglichen werden. Im Bereich der Private Equity Anlagen können Meldungen über erfolgreiche Transaktionen zu weiteren Investitionen anderer Private Equity Häuser führen. Es besteht in diesem Fall die Gefahr, dass neue Investitionen zugleich die Portfoliorisiken erhöhen, falls der General Partner im Verlauf einer Blasenbildung im betroffenen Industriesektor zu überhöhten Preisen investiert, die dann bei einem späteren Verkauf des Unternehmens an einen anderen Private Equity Investor nicht mehr realisiert werden können. Neigung zum Dispositionseffekt Der Marktteilnehmer läuft Gefahr, die mediale Berichterstattung über die Entwicklung einer möglichen Spekulationsblase falsch zu interpretieren. In diesem Sinne besteht die Gefahr, dass der Anleger, aufgrund der Risikoaversion im Gewinnbereich der Wertfunktion, zu früh aus einer fundamental gerechtfertigten Kursrally aussteigt. <?page no="212"?> 7.3 Einschätzung der Risiko-/ Renditeschädlichkeit betrachteter Heuristiken 211 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Dies kann der Fall sein, wenn steigende Kurse nach dem Platzen einer vorherigen Spekulationsblase als temporäre Kurserholung gewertet werden. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass Anleger, die erst relativ spät auf eine mögliche Spekulationsblase aufmerksam werden, die mediale Berichterstattung ebenfalls falsch interpretieren. Hierbei besteht die Gefahr, dass diese Anleger die sehr positiven Meldungen zum Einstieg nutzen und beim Platzen der Spekulationsblase nicht gewillt sind, entstehende Verluste zügig zu realisieren und dadurch einzudämmen. Dieses auch als Dispositionseffekt bezeichnete Phänomen wird in Kapitel 9 noch detaillierter betrachtet werden. Das Herdenverhalten stellt eine Heuristik emotionalen Ursprungs dar. Die Marktteilnehmer sind stark auf das Verhalten in ihrer Umgebung fixiert und lassen sich durch die Meinung der Masse beeinflussen. Die Informationswahrnehmung kann durch diese Meinung der Masse beeinflusst werden. 77..3 3 EEiinnsscch häät tzzuunngg ddeerr RRiissiikkoo--/ / RReennddiitteesscchhääd dlliicchhkkeeiitt bbeettrraacch htteetteerr HHeeuurriissttiikkeenn In diesem Abschnitt wird die Angabe der Portfolioschädlichkeit im Rahmen des RRS- Indexes ® Heuristiken im Detail dargestellt. Hierbei steht die Begründung für die festgelegte Kategorisierung einer Heuristik im RRS-Index ® im Mittelpunkt der Betrachtung. Für die Festlegung der Schädlichkeit einer Heuristik werden verschiedene Aspekte herangezogen. Neben dem Ursprung der Heuristik ist ausschlaggebend, wie stark die Auswirkungen der Heuristik auf das Verhalten der Marktteilnehmer sind. Heuristiken kognitiven Ursprungs vs. emotionalen Ursprungs. Der Ursprung der Heuristik sollte in die Schädlichkeitsbetrachtung einbezogen werden, da Heuristiken je nach Ursprung mit unterschiedlicher Effektivität begegnet werden kann. Heuristiken kognitiven Ursprungs können durch verbesserte Informationen in ihrer Schädlichkeit gemindert werden. Heuristiken emotionalen Ursprungs können dagegen nicht durch verbesserte Informationen abgeschwächt werden (vgl. Kahneman, 2011, S. 166ff). In diesem Fall, kann dem betroffenen Marktteilnehmer die risiko-/ renditeschädliche Wirkung lediglich verdeutlicht werden. Während einer panikartigen Marktbewegung ist davon auszugehen, dass Heuristiken emotionalen Ursprungs trotz Verdeutlichung derer Wirkungsweise angewendet werden. Aus diesem Grund ist es gerechtfertigt, Heuristiken emotionalen Ursprungs doppelt zu werten, kognitive dagegen mit einfacher Wertung in die Portfolioschädlichkeit einzubeziehen. Heuristiken, die andere begrenzt rationale Verhaltensweise verstärken. Innerhalb der Einschätzung der renditeschädlichen Auswirkung ist im Weiteren zu untersuchen, ob eine Heuristik während der Anwendung durch den Marktteilnehmer zusätzlich eine andere Heuristik unmittelbar, in Form begrenzt rationaler Verhaltensweise, hervorruft. Ist dies der Fall, wird die unmittelbar hervorgerufene Heuristik und damit die dadurch implizierten risiko-/ renditeschädlichen Verhaltensweisen doppelt gewertet. Alle anderen <?page no="213"?> 212 7 Begrenzte Rationalität bei der Informationswahrnehmung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Verhaltensweisen der ursprünglich angewandten Heurstik werden dagegen einfach gewertet. Ebenso ist anzumerken, dass die unmittelbar hervorgerufenen Heuristiken, wiederum selbst weitere Heuristiken mittelbar hervorrufen können (Bsp. Selektive Wahrnehmung, die unmittelbar zum Herdenverhalten und das Herdenverhalten selbst noch zum Dispositionseffekt führen kann). Die Verlinkungen zwischen den Heuristiken und der von Ihnen hervorgerufenen unmittelbaren & mittelbaren Heuristiken werden im Unterkapitels 9.4 in Abbildung 64 dargestellt. In den RRS-Index selbst fließen zur Reduktion der Komplexität ausschließlich die unmittelbar hervorgerufenen Heuristiken ein. Für die angewandten Heuristiken während der Informationswahrnehmung ergeben sich folgende Bewertungen: <?page no="214"?> Zusammenfassung 213 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Z Zuussaammmmeennffaassssuunngg Bei der Wahrnehmung von Informationen bedienen sich die Marktteilnehmer bestimmter Heuristiken, die zwar zu einem schnellen Überblick über die vorhandenen Informationen verhelfen, jedoch auch verhindern, dass sämtliche verfügbare Informationen in den Entscheidungsprozess einfließen. Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeiten Die Verfügbarkeits-Heuristik beschreibt die Neigung der Marktteilnehmer, die Bedeutung von Informationen von der Vorstellungskraft bzw. der geschätzten Eintrittswahrscheinlichkeit abhängig zu machen. Die Änderung der Risikowahrnehmung und Risikoeinstellung beruht auf dem Phänomen, dass Marktteilnehmer in Abhängigkeit eines eingetretenen Verlustes bzw. Gewinnes ihre Risikowahrnehmung bzw. -einstellung verändern. Diese Änderung erfolgt auf Basis nicht-objektiver Wahrscheinlichkeitsbewertungen. Das Herdenverhalten stellt eine Heuristik emotionalen Ursprungs dar. Die Marktteilnehmer sind stark auf das Verhalten in ihrer Umgebung fixiert und lassen sich durch die Meinung der Masse beeinflussen. Die Informationswahrnehmung kann somit durch die Meinung der Masse beeinflusst werden. Das Herdenverhalten kann zudem zum Dispositionseffekt führen, wenn die Marktteilnehmer aufgrund einer verspäteten Investition in die jeweilige Assetklasse bei sinkenden Kursen mit Verlusten konfrontiert weden. Fehleinschätzung von Informationen Die selektive Wahrnehmung wird von den Marktteilnehmern im Rahmen der kognitiven Dissonanz angewendet. Es werden bewusst oder unbewusst Informationen vernachlässigt, mit der Zielsetzung, eine Bestätigung für eine zu treffende Entscheidung bzw. eine bereits getroffene Entscheidung zu erlangen. Die selektive Wahrnehmung kann unmittelbar zum Herdenverhalten, dieses wiederum zum Dispositionseffekt führen. Der Darstellungseffekt beschreibt die Erscheinung, dass die Präsentation ein und desselben Sachverhalts auf eine unterschiedliche Art und Weise zu unterschiedlichen Entscheidungen führt. Sie kann unmittelbar zum Dispositionseffekt führen. <?page no="216"?> 7.3 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 88 BBeeggrre ennzzttee RRaatti ioon naalliittäätt bbe eii dde err IIn nffoorrm maatti ioonnssvveerra arrb be ei ittu unngg Die zweite Prozessstufe im Informations- und Entscheidungsprozess beschäftigt sich mit der Informationsverarbeitung. Auch in dieser Phase verwenden die Marktteilnehmer bestimmte Heuristiken, die zu begrenzt rationalen Verhaltensweisen führen können. Sie werden in diesem Kapitel die wichtigsten Heuristiken kennenlernen, die die Informationsverarbeitung und -bewertung für den Homo Oeconomicus Humanus verzerren. Abb. 51: Angewandte Heuristiken bei der Informationsverarbeitung/ -bewertung Die zweite Phase des Informations- und Entscheidungsprozesses beinhaltet eine Reihe von Heuristiken die zur Vereinfachung der Informationsverarbeitung verwendet werden. Die überwiegende Mehrheit dieser Heuristiken ist kognitiven Ursprungs. Unter den Heuristiken kognitiven Ursprungs befindet sich die Verankerungs- & Anpassungsheuristik. Begrenzt rationale Marktteilnehmer nutzen diese Heuristik, um die Bedeutung eines Sachverhaltes besser einschätzen zu können und künftige Entwicklungen bezogen auf einen gesetzten Ankerpunkt beurteilen zu können. Eine weitere Heuristik, die Repräsentativität, ermöglicht dem Marktteilnehmer, die Komplexität der zu verarbeitenden Information zu reduzieren. Zu diesem Zweck werden Informationen, die scheinbar zu bereits vorhandenen Informationen ähnlich sind, nicht weiter analysiert. Es erfolgt vielmehr eine Beurteilung auf Basis von Stereotypen, bei der z.B. Wahrscheinlichkeiten auf der Basis von Ähnlichkeiten beurteilt werden. Die Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeiten kann auch durch die Anwendung der Ambiguitätsaversion erfolgen. Diese Heuristik tritt vor allem dann auf, wenn ein Marktteilnehmer eine Information als nicht bekannt eingestuft hat und den Grad der Unwissenheit nicht genau Informationswahrnehmung Informationsverarbeitung/ -bewertung Investitionsentscheidung Verfügbarkeit Risikowahrnehmung Selektive Wahrnehmung Darstellungseffekt Herdenverhalten Verankerung & Anpassung Repräsentativität Ambiguitätsaversion Konservatismus Mentale Buchführung Rezenz-Effekt Selbstüberschätzung Kontrollillusion Umkehr der Risikobereitschaft Selektive Entscheidung Selbstattribution Rückschau-Effekt Besitztums-Effekt Optimismus-Effekt Dispositions-Effekt Status-Quo-Effekt Selbstkontroll-Effekt Reueaversion <?page no="217"?> 216 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance überblicken kann. Der subjektiv wahrgenommene Informationsmangel beeinflusst insbesondere die Bewertung der Renditeerwartungen in- und ausländischer Wertpapiere. Im Weiteren entfaltet Konservatismus während der Informationsverarbeitung seine renditeschädliche Wirkung. Er verhindert, dass der Marktteilnehmer bestehende Ansichten bei neu eintreffenden Informationen verändert. Die Informationsverarbeitung kann auch aufgrund der Fehlinterpretation der objektiven Rentabilität erschwert werden. In dieser Kategorie kann die mentale Buchführung und auch der Rezenz-Effekt eingeordnet werden. Die mentale Buchführung wird von den Marktteilnehmern angewendet, um ihr Vermögen in Abhängigkeit der Herkunft oder des Verwendungszwecks in menbegrenzte Rationalität zeigt sich in der Vernachlässigung von Korrelationen zwischen den einzelnen Konten, die im Endeffekt die Depotrentabilität verringern kann. Der Rezenz-Effekt verhindert die vollumfängliche Beachtung aller verfügbaren Informationen. Er verdeutlicht die Neigung der Marktteilnehmer, sich an kürzlich erlebte Ereignisse besser zu erinnern und diese höher zu gewichten als Ereignisse, die weiter in der Vergangenheit zurückliegen. Diese Neigung kann z.B. die Einschätzung der Performanceleistung eines Fondsmanagers beeinträchtigen. Zwei weitere Heuristiken kognitiven Ursprungs führen dazu, dass die eigenen Fähigkeiten nicht richtig eingeschätzt werden. So führt die Selbstüberschätzung der Marktteilnehmer dazu, dass sie ihre eigene Prognosefähigkeit und Kompetenz falsch einschätzen. Sie unterschätzen das Risiko einer Fehlprognose und erhöhen dadurch das Depotrisiko. Daneben erweckt die Kontrollillusion beim Marktteilnehmer das Gefühl, die Märkte prognostizieren bzw. kontrollieren zu können. Es handelt sich um eine der Konsequenzen der Selbstüberschätzung und tritt dann auf, wenn der Marktteilnehmer zeitweise erfolgreich am Markt agiert hat. Sie verzerrt die Erwartungsbildung und verfälscht Lernprozesse. 88..11 HHeeuurriisst tiikkeenn kkoog gnniit tiiv veenn UUrrsspprruunnggss Abb. 52: Heuristiken kognitiven Ursprungs im Rahmen der Informationsverarbeitung/ -bewertung <?page no="218"?> 8.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 217 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 88..11..1 1 FFe ehhlleei innsscchhäät tzzuunngg vvoonn WWaah hrrsscchheei innlliicchhkkeei itte enn ((uu..aa. . AAmmbbiigguuiittäätts s- aavveer rs siioonn)) Verankerung & Anpassung Allgemeine Beschreibung Die Verankerungs- & Anpassungsheuristik (Anchoring & Adjustment) wird von den Marktteilnehmern als eine Art Richtwert verwendet, mit dessen Hilfe sie die Bedeutung eines Problems oder Sachverhaltes einzuschätzen versuchen. Dieser Richtwert ist oft ein Zufallswert, der bis zur finalen Entscheidung durch weitere Informationen modifiziert werden kann und als Anker bezeichnet wird. Die eigentlich begrenzt rationale Verhaltensweise äußert sich darin, dass der Anker nicht ausreichend genug modifiziert wird, sobald neue Informationen verarbeitet werden. Im Gegensatz zu begrenzt rationalen Investoren würde der Homo Oeconomicus auf Basis des Bayes-Theorems (vgl. Kap 1.3.4) die neuen Informationen objektiv und separat von der aktuellen Marktlage bewerten. Zudem ist es auch denkbar, dass Dritte (Analysten, Vermögensberater etc.) absichtlich einen Anker (z.B. bestimmter DAX-Stand zum Ende des Jahres, Kursziel einer Aktie etc.) setzen, um die Marktteilnehmer entsprechend ihrer Meinung zu beeinflussen. Die Ankersetzung ist folglich subjektiv und führt dazu, dass der Marktteilnehmer gedanklich gebunden ist (vgl. Lewis, 2008, S. 50 f.). Beispiel 8.1: Verankerung und Anpassung 1974 führten Kahneman und Tversky ein Experiment durch, welches heute noch eindrucksvoll die Wirkungsweise dieser Heuristik zeigt. Zwei Gruppen wurde ein Glücksrad mit Nummern von 1 bis 100 gezeigt. Nach dem Drehen landete die Nadel bei der ersten Gruppe auf der 65, bei der zweiten Gruppe auf der 10. Im Anschluss sollten die Teilnehmer aufschreiben, ob der Anteil afrikanischer Länder in der UNO größer oder kleiner als 65 bzw. 10 ist. Als nächstes wurden die Teilnehmer gebeten, den genauen Anteil der afrikanischen Länder aufzuschreiben. Die Gruppe, bei der das Glücksrad auf der 65 stehen blieb, schätzte diesen Anteil auf durchschnittlich 45 Prozent, während die andere Gruppe den Anteil auf durchschnittlich 25 Prozent schätzte. Obwohl den Teilnehmern klar war, dass die Referenz absolut zufällig war, hinderte sie das nicht daran, diese als Ankerwert zu verwenden. (vgl. UBS Wealth Management Research, 2008). Darüber schrieben Tversky und Kahneman: „In many situations, people make estimates by starting from an initial value that is adjusted to yield the final answer. The initial value, or starting point, may be suggested by the formulation of the problem, or it may be the result of a partial computation. In either case, adjustments are typically insufficient. That is, different starting points yield different estimates, which are biased toward the initial values. We call this phenomenon anchoring.“ (Tversky/ Kahneman 1974, S. 128) <?page no="219"?> 218 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Die Auswirkungen dieser Heuristik sind im täglichen Marktgeschehen oft erkennbar. Dies haben die Forschungsergebnisse der Wissenschaftler Northcraft und Neale 1987 von der Universität Arizona demonstriert. Demnach unterliegen auch professionelle Wertpapieranalysten in erheblichem Maße den Auswirkungen dieser Heuristik: Markterwartung zu eng an ggw. Marktentwicklung und an Marktrendite des Vorjahres angelehnt Dieses Verhalten kann dazu führen, dass Anleger ihre Erwartung an die Entwicklung der beobachteten Wertpapiere oder Indizes zu stark an der gegenwärtigen Entwicklung ausrichten und dabei die historische Schwankungsbreite außer Acht lassen. Ähnlich begrenzt rational ist die Prognose der zukünftigen Entwicklung der beobachteten Wertpapiere bzw. Indizes auf Basis der Renditeentwicklung des vergangenen Jahres. Demnach treffen Anleger Wahrscheinlichkeitseinschätzungen über künftige Kursentwicklungen, die zu stark auf aktuellen Kursentwicklungen basieren. So werden Endjahresstände von Aktienindizes in Abhängigkeit kürzlich erreichter Kursstände prognostiziert und nicht unter Beachtung historisch gerechtfertigter Entwicklungspotenziale. Werden Informationen auf Basis der Verankerungsheuristik bewertet, so kann die Risikoneigung des Anlegers ungerechtfertigt zu hoch oder zu niedrig sein, mit der Folge der Verschlechterung der Portfoliosicherheit und -rentabilität. Die Verankerung mit der Renditeentwicklung früherer Beobachtungszeiträume kann auch die korrekte Informationsbewertung von Private Equity Anlegern beeinträchtigen. Wird die Rendite der letzten Investition für die künftige Investitionsentscheidung zugrunde gelegt, können falsche Erwartungen und eine entsprechend falsche Risikoeinschätzung des Investments die Folge sein. Starke Verankerung mit wirtschaftlicher Lage eines Landes oder Unternehmens Anleger können sich in die ökonomische Lage eines Landes oder eines Unternehmens verankern und sich in der Folge zu stark von der bisher erlebten Entwicklung „blenden“ lassen. So galt Japan in den 1980er Jahren als stärkste Wirtschaftsnation basierend auf der Annahme, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse auch über die künftigen Dekaden hinweg anhalten würden. Genauso galt Nokia als ein Vorreiter in der Entwicklung der Telekommunikationstechnologie. Gegenwärtig, 2016 sind sowohl Japan als auch Nokia nicht mehr in der Lage, an vergangene Entwicklungen anzuknüpfen. Die Gründe für die ausbleibende Erholung im Fall Japans als auch Nokias können vielfältiger Natur sein. So wurden die japanischen Kreditinstitute im Zuge kollabierender Immobilienpreise Anfang der 1990er Jahre nicht konsequent und nachhaltig saniert. Dieser Umstand wirkt bis heute nach, mit der Folge, dass die Investitionen im privaten wie öffentlichen Sektor sehr gering sind und weiterhin mit deflationären Tendenzen zu kämpfen ist. Nokia hat mittlerweile seine Eigenständigkeit durch den Verkauf an Microsoft aufgegeben. Eine verfehlte Produktpolitik als Resultat nicht erkannter Kundenbedürfnisse gilt als Ursache dafür. <?page no="220"?> 8.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 219 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Konservatismus im Zuge der Verarbeitung neuer Informationen Diese Heuristik, die in Unterkapitel 8.1.2 näher betrachtet wird, kann im Zuge der Verankerungsheuristik die Bewertung von neuen Informationen signifikant beeinflussen. Demnach neigen professionelle Marktteilnehmer (u.a. Wertpapier-Analysten) dazu, ihre Prognosen verzögert an neue Informationen anzupassen. Sie veröffentlichen kurz vor Bekanntgabe der Quartalszahlen der von ihnen beobachteten Unternehmen ihre entsprechende Einschätzung. Nun wäre anzunehmen, dass die Analysten ihre Schätzungen mit dem Eintreffen neuer Informationen neu bewerten. Durch die verlangsamte Anpassung kommt es bei vielen Wertpapieren zu einem sog. Gewinnankündigungsdrift. Dabei entstehen weitere Kursgewinne bei positiven Meldungen und weitere Verluste bei negativen Meldungen. Die Ursache für dieses Phänomen liegt darin, dass die Analysten von ihren früheren Prognosen so beeinflusst sind, dass sie diese erst verzögert an die neue Informationslage anpassen. In der Folge präsentieren die Unternehmen in Aufschwungphasen oft überraschend gute Ergebnisse, während im Abschwung die Prognosen häufig nicht eingehalten werden können. Der Grund für die Anpassungsverzögerung wird darin gesehen, dass Marktteilnehmer die zukünftigen Unternehmensgewinne überwiegend aus historischen Werten ableiten und Informationen zur aktuellen Gewinnsituation eines Unternehmens nur schrittweise in die Abschätzung zukünftiger Gewinne einbeziehen (vgl. Pompian, 2006, S. 78). Die Verankerungs- & Anpassungsheuristik zeigt ihre Auswirkung darin, dass der gesetzte Anker nicht ausreichend angepasst wird, sobald neue Informationen verarbeitet werden. Diese Heuristik kann zudem unmittelbar den Konservatismuseffekt hervorrufen. Repräsentativität Allgemeine Beschreibung Die psychologische Forschung hat gezeigt, dass das Gehirn Abkürzungen nutzt, um die Komplexität der zu analysierenden Informationen zu reduzieren. Diese Abkürzungen helfen dem Gehirn, eine Abschätzung über das Endresultat einer vollumfänglichen Analyse aller Informationen zu geben, bevor alle Informationen tatsächlich verarbeitet sind. Einer dieser Abkürzungsmechanismen ist die Repräsentativitäts-Heuristik (Representativeness), welche es dem Gehirn erlaubt, die vorhandene Informationsmenge zu organisieren und zügig zu verarbeiten. Innerhalb dieses Verarbeitungsprozesses kann es jedoch auch zu systematischen Urteilsverzerrungen kommen, bei denen eine bestimmte Beziehung von einem Objekt zu einer Objektklasse ausgedrückt wird. Das bedeutet, dass das Gehirn die Annahme trifft, dass bestimmte Objekte mit ähnlichen Merkmalen einander entsprechen und daher nicht weiter analysiert werden müssen. Repräsentativität ist demnach eine Beurteilung auf Basis von Stereotypen, bei der Wahrscheinlichkeiten auf der Basis von Ähnlichkeiten gebildet und beurteilt werden (vgl. Nofsinger, 2008, S. 63). <?page no="221"?> 220 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Beispiel 8.2: Repräsentativität Betrachten wir folgendes Beispiel zur Verdeutlichung der Repräsentativität: Laura ist 28 Jahre alt, sehr intelligent und studiert Philosophie. Als Studentin hat sie sich auch intensiv mit Fragen sozialer Gerechtigkeit und Diskriminierung beschäftigt. Außerdem hat sie an Anti-Kernkraft-Demonstrationen teilgenommen. Wie hoch schätzen Sie nun die Wahrscheinlichkeit der folgenden Behauptungen über Laura ein? Laura ist Bankangestellte Laura ist Bankangestellte und aktiv in der Frauenbewegung Tversky & Kahneman gelangten mit diesem Experiment 1983 zu dem Ergebnis, dass ca. 90 Prozent der Versuchspersonen die zweite Aussage über Laura für wahrscheinlicher hielten. Im Sinne der Repräsentativitäts-Heuristik haben die Versuchspersonen mit der zweiten Aussage schnell ein Schema entwickelt, sodass die zweite Aussage über Laura für plausibler (d.h. repräsentativer) erachtet wurde als die erste. Betrachtet man jedoch die Einschätzung der beiden Antwortoptionen auf Basis der Wahrscheinlichkeitsrechnung, hat Antwort 1 die höhere Wahrscheinlichkeit als Antwort 2, da Antwort 2 eine Teilmenge von Antwort 1 ist. Im Zusammenhang mit dem Repräsentativitätseffekt steht der Informationsquellen- Effekt. Dabei wird die Qualität einer Information umso höher eingeschätzt, je mehr Quellen über die gleiche Information berichten. Der Marktteilnehmer verzichtet auf eine eingehende Prüfung der Qualität der Information, denn er glaubt durch die Wiederholung 19 an die Richtigkeit der Information (vgl. Mazanek, 2006, S. 83). Die Repräsentativitäts-Heuristik kann in unterschiedlichen Weisen vom Marktteilnehmer eingesetzt werden. Tversky und Kahneman (1974) beschreiben diese auf Basis der Verletzung statistischer Grundlagen. (vgl. Taffler 2010, S. 260 ff.): Vernachlässigung von Grundeigenschaften (Base-Rate Neglect) Hierbei würde ein Marktteilnehmer sich auf vorformulierte Stereotypen beschränken und eine Investition in Unternehmen A mit diesen vorformulierten Kriterien abgleichen. Auf diese Weise würde der Marktteilnehmer sich die aufwendige Analyse des Unternehmens sparen und entsprechend die Auswirkung unbeachteter Parameter unberücksichtigt lassen (u.a. Produktentwicklung, Absatzmärkte, Konkurrenzsituation etc.). Solche unbeachteten Parameter können die Entwicklung eines Investments jedoch nachhaltig beeinflussen. Vernachlässigung der Grundgesamtheit (Sample-Size Neglect) Marktteilnehmer leiten künftige Entwicklungen aus einer kleinen Stichprobe ab. Hierbei beachten sie jedoch nicht die Repräsentativität der betrachteten Einzelwerte. Wissenschaftler bezeichnen diese Verhaltensweise als das „Gesetz der kleinen Zahlen“. So kann es passieren, dass ein Marktteilnehmer bei der Beurteilung des Könnens eines Fondmanagers lediglich einige Quartale anschaut und nicht die Gesamtheit der ihm zur Verfügung stehenden Daten. Beispielhaft lässt sich diese Erscheinung anhand der Prognoseentwicklung zweier fiktiver Analysten verdeutlichen. Ein privater Anleger 19 Zum Beispiel auch im Zusammenhang mit sozialen Medien. <?page no="222"?> 8.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 221 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance beobachtet eine Woche lang die USD-Prognosen der beiden Analysten. Analyst 1 liegt an allen fünf Tagen richtig, wohingegen Analyst 2 jeweils falsche Prognosen geäußert hat. Der Marktteilnehmer schlussfolgert nun, dass der Analyst 1 auch in der nächsten Woche besser liegen wird als Analyst 2. Aus einem sehr kurzfristigen empirischen Zusammenhang leitet der Marktteilnehmer einen kausalen Zusammenhang ab. Dieses Vorgehen ist jedoch nicht nur bei Privatanlegern beobachtbar. Laut Forschungsergebnissen von Shefrin aus dem Jahre 2000 neigen selbst Finanzexperten zu solchen Repräsentativitäts-Heurisitken (vgl. Goldberg & von Nitzsch, 2000, S. 79 f.). Überschätzen von Wahrscheinlichkeiten Diese Variante der Repräsentativität besagt, dass objektive Wahrscheinlichkeiten sub- Probability Weighting). Dieses Phänomen wird auch als Conjunction Fallacy bezeichnet. Demnach übersehen Marktteilnehmer, dass die Wahrscheinlichkeit des gleichzeitigen Eintretens zweier Ereignisse nie größer sein kann als die Wahrscheinlichkeit jedes einzelnen Ereignisses. Sie bewerten ein gemeinsames Ereignis mit einer höheren Repräsentativität als die Einzelereignisse für sich alleine haben würden. Diese Erscheinung lässt sich am folgenden Beispiel verdeutlichen: Falls die Wahrscheinlichkeit für Regen am nächsten Tag 40 Prozent ist und sich der angekündigte Besuch der Schwiegereltern mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit realisiert, kann das Ereignis „Schwiegereltern kommen im Regen“ nie eine höhere Wahrscheinlichkeit als 40 Prozent besitzen. Eine weitere Erscheinung im Zusammenhang mit überschätzten Wahrscheinlichkeiten, ist die Conditional Probability Fallacy. Hierbei bezieht man sich auf die Neigung der Marktteilnehmer, die Bedingung und das Ereignis bei hohen, bedingten Wahrscheinlichkeiten zu vertauschen. Diese Erscheinung ist über die Einschätzung von Crash- Risiken erklärbar. Bekanntermaßen gilt der Oktober als Crashmonat an den Aktienmärkten. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass zum Zeitpunkt eines Crashes gerade der Monat Oktober geschrieben wird, auf Basis historischer Beobachtungen vergleichsweise hoch ist. So fanden im Zeitraum zwischen 1929 bis 1998 10 von 29 Crashes im Monat Oktober statt (formal geschrieben: p(Oktober | Crash) = 10: 29 = 34 Prozent). Somit ist es nicht verwunderlich, dass der Monat Oktober im Allgemeinen als Crash-Monat gilt. In diesem Fall wurde die bedingte Wahrscheinlichkeit p(Crash | Oktober) überschätzt, denn in gerade einmal 10 von 69 Oktobern von 1929 bis 1998 kam es tatsächlich zu den entsprechenden Kurseinbrüchen. Die Wahrscheinlichkeit entspricht demnach etwa 16 Prozent im Gegensatz zu 34 Prozent (vgl. Goldberg & von Nitzsch, 2000, S. 73 ff.). Überschätzen von empirischen Zusammenhängen Hierbei wird eine scheinbare Korrelation von Ereignissen angenommen. Das bedeutet, dass die Marktteilnehmer dazu neigen, Zusammenhänge zu erkennen, wo es keine Zusammenhänge gibt. So wurden die extremen Kurssteigerungen am Neuen Marktdamit begründet, dass die dort gelisteten Unternehmen ausgezeichnete Zukunftsaussichten haben, weshalb auch die hohen Kursgewinne gerechtfertigt wären. Die Marktteilnehmer bildeten eine Scheinkorrelation zwischen „Börsengang im Neuen Markt“ und „hohe Wachstumsraten der Gewinne“, welche sich in der damaligen Zeit in stark steigenden Kursen gezeigt hatte. Diese Kursgewinne (insbesondere die Zeichnungsgewinne bei der ersten Notierung der Unternehmen am Neuen Markt) wurden jedoch nicht nur bei den qualitativ hochwertigen Unternehmen beobachtet, sondern auch <?page no="223"?> 222 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance bei fundamental weniger guten Unternehmen. Diese empirische Annahme einer Kausalität erwies sich jedoch im Lichte der nachfolgenden Kurseinbrüche als Trugschluss (vgl. Mazanek, 2006, S. 82). Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Informationsbewertung auf Basis unzureichender Datenmenge Anleger laufen Gefahr, das Können eines Fondsmanagers aufgrund unzureichender Datensätze falsch einzuschätzen. Die Wahrscheinlichkeit für gleich gute Ergebnisse, wie in der kurzfristigen Vergangenheit, wird höher eingeschätzt als dies tatsächlich der Fall ist. Daher laufen die Anleger Gefahr, mehr Risiko einzugehen als dies gerechtfertigt wäre (vgl. Gewichtungsfunktion Prospect Theory Kap. 6.2). Die Bewertung der Renditeentwicklung auf Basis einer unzureichenden Datenmenge kann auch bei Private Equity Investitionen bestehen. Dies wäre der Fall, wenn der Limited Partner, wie der Anleger im Public Equity, die Investitionsentscheidung auf Basis weniger oder kurzfristiger Investitionsresultate trifft. Informationsbewertung auf Basis unzureichender Beachtung der Sektor-Entwicklung Anleger vernachlässigen oft Grundeigenschaften eines Industriesektors im Zuge der Bewertung einer Investmentmöglichkeit. Sofern ein Unternehmen zu einem bestimmten Industriesektor gezählt wird, werden vergangene Entwicklungen in diesem Sektor oft pauschal auch auf das zu bewertende Unternehmen projiziert. Marktteilnehmer laufen daher Gefahr, eine Investition, ohne eine grundsätzliche Analyse durchgeführt zu haben, abzulehnen oder einzugehen. Die Repräsentativitäts-Heuristik stellt einen Abkürzungsmechanismus dar, welcher es dem Gehirn erlaubt, die vorhandene Informationsmenge zu organisieren und über Stereotypen zu beurteilen. Der Marktteilnehmer schätzt auf Basis dieser Heuristik Wahrscheinlichkeiten oft falsch ein. Ambiguitätsaversion Allgemeine Beschreibung Ambiguitätsaversion bedeutet, dass der Marktteilnehmer Angst vor dem Unbekannten hat und demzufolge das Bekannte dem Unbekannten vorzieht. Ambiguität stellt die Unsicherheit über die Unsicherheit dar. Wird eine Information als nicht bekannt eingestuft, und kann der Marktteilnehmer den Grad der Unwissenheit nicht genau überblicken, so tritt die Ambiguitätsaversion auf. Die wahrgenommene Ambiguität ist umso größer, je weniger der Markteilnehmer über einen Sachverhalt zu wissen glaubt, je mehr Informationen ihm fehlen und je uneindeutiger die Informationen sind. Der subjektiv wahrgenommene Informationsmangel beeinflusst insbesondere die Bewertung der Renditeerwartungen unbekannter Wertpapiere. Schlussendlich führt die Ambiguitätsaversion dazu, dass der Marktteilnehmer <?page no="224"?> 8.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 223 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Investitionen meidet, die zwar lukrativ sein können, die er aber nicht genau einschätzen kann (vgl. Karlen, 2004, S. 28). Diese Verhaltensweise kann mit Hilfe der Gewichtun Prospect Theory erläutert werden. Die Investition in ein bestimmtes Unternehmen würde im Rahmen Fundamentalanalyse zu der Formulierung einer objektiven Wahrscheinlichkeit über den zu erwartenden Wertpapierkurs führen. Marktteilnehmer, die zur Ambiguitätsaversion neigen, würden diese objektive Wahrscheinlichkeit aufgrund der Unkenntnis über das Unternehmen jedoch unterbewerten und aus diesem Grund das mit der Investition einhergehende Risiko ungerechtfertigt überbewerten. Beispiel 8.3: Ambiguitätsaversion Die Ambiguitätsaversion äußert sich, wie bereits erwähnt, in der Einschätzung von Renditeerwartungen. Ein Marktteilnehmer beabsichtigt z.B., in russische Anleihen zu investieren. Ob er dies tatsächlich tut, hängt von seinen Kenntnissen der russischen Volkswirtschaft ab. Kennt der Marktteilnehmer die wichtigsten Einflussfaktoren und ist er zugleich in der Lage, Renditeerwartungen zu berechnen, die keine Ambiguität aufweisen (d.h. eine hohe Verlässlichkeit aufweisen), so wird er glauben, alles unter Kontrolle zu haben und wird demnach gegebenenfalls die Investition tätigen. Kennt er jedoch die entscheidenden Einflussfaktoren nicht, so wächst der Eindruck, die Situation nicht unter Kontrolle zu haben. In diesem Fall geht der Marktteilnehmer der unkontrollierbaren Situation aus dem Weg und wird womöglich stattdessen eine inländische Anleihe erwerben. Die aufgrund des Kontrolldefizits verspürte Ambiguitätsaversion führt dazu, dass der Marktteilnehmer einem Engagement in russischen Anleihen ungerechtfertigt skeptisch gegenüberstehen könnte. Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Die Ambiguitätsaversion ist eine der nach RRS-Index (8) schädlichsten Heuristiken, die von Marktteilnehmern angewendet werden. Zu dieser Heuristik neigen insbesondere Privatanleger. Fokus auf risikoarme Anlagen, da wahrgenommene Risiken ungerechtfertigt hoch eingeschätzt werden Anleger mit Neigung zur Ambiguitätsaversion stellen höhere Renditeerwartungen gegenüber Wertpapieranlagen, die sie nicht kennen, da in diesen Fällen das Risiko der Anlage höher eingeschätzt wird. Folglich besteht die Gefahr, dass der Fokus auf risikoarme Wertpapieranlagen gelegt wird, mit entsprechender Schädlichkeit für das Erreichen gesetzter Investitionsziele. Neigung zur Investition in inländische Wertpapiere (Home Bias) Privatanleger vermeiden Anlagen in Wertpapiere, bei denen sie das Gefühl haben, nicht genug Kompetenz zu haben. In diesem Fall orientieren sie sich z.B. stark an inländischen Wertpapieren, die ihnen vertraut erscheinen. Dieses Verhalten verdeutlicht der bereits vorgestellte Home Bias, bei dem die Anleger sich auf die inländischen Kapitalmärkte/ Wertpapiere konzentrieren. Diese Ausrichtung suggeriert den Anlegern einen erhöhten Grad an Kontrolle, wodurch sie ungewollt risikofreudig werden. <?page no="225"?> 224 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Übergewichtung inländischer Wertpapiere senkt die Portfoliodiversifikation mit Blick auf die regionale Streuung der Anlagen, wodurch sich das Portfoliorisiko signifikant erhöhen kann. Neigung zur Verfügbarkeitsheuristik bei Bewertung von Anlagerisiken Anleger neigen demnach zur Investition in Wertpapieranlagen, mit denen sie mehr Kontakt haben, als Wertpapieranlagen, die sie überhaupt nicht kennen. In diesem Sinne erscheint auch die Anlage in die Aktien des eigenen Arbeitsgebers offensichtlich gut begründet und damit im Auge des Anlegers rentabler und weniger riskant als die Investition in unbekannte/ ausländische Anlagen. Diese Anlagepraxis senkt die Portfoliodiversifikation und -rentabilität oft erheblich, da mit dem Humankapital zusammen ein erhebliches Klumpenrisiko entsteht. Letzteres ist im Zuge der Konkursmeldung von General Motors im Jahre 2009 gut nachvollziehbar, als viele Mitarbeiter GM-Aktien zur Altersvorsorge hielten und im Zuge der einseitigen Konzentration auf die Wertpapiere des eigenen Arbeitgebers schmerzhafte Verluste erlitten. Neigung zur Selbstüberschätzung Die erhebliche Portfolioschädlichkeit der Ambiguitätsaversion wird auch an der Neigung betroffener Anleger zur Selbstüberschätzung sichtbar. An sich würde man erwarten, dass ein Anleger, der zu dieser Heuristik neigt, keine Investitionen eingeht, die ihm riskant erscheinen. Diese Beobachtung gilt jedoch nicht, sofern dem Anleger eine zunächst unbekannte Investitionsmöglichkeit vorgestellt wird, bei der er sich aber in bestimmten Bereichen (Anlageklasse, Region, Unternehmensgröße) auszukennen glaubt. In diesem Fall überwiegt die Selbstüberschätzung und der Anleger ist bereit, erhöhte Risiken einzugehen. Die Ambiguitätsaversion stellt die Unsicherheit über die Unsicherheit dar. Der Marktteilnehmer kann die objektive Wahrscheinlichkeit von Sachverhalten nicht richtig einschätzen und verzichtet daher auf mögliche lukrative oder diversifikationsfördernde Investitionen. 88..11..22 FFeehhlleeiinnsscchhäättzzuunngg vvoonn IInnffoorrmmaattiioonneenn KKoonnsseerrvvaattiissmmuuss Konservatismus Allgemeine Beschreibung Konservatismus (Conservatism Bias) ist die Einstellung, bestehende Ansichten bzw. Erwartungen bei Eintreffen neuer Informationen nicht anzupassen. Durch diese Einstellung werden neue Informationen tendenziell wenig beachtet und es wird erst mit Verzögerung auf die neuen Informationen reagiert. Der Marktteilnehmer kann bei Informationen, die seinen Ansichten entsprechen, auch direkt mit der Repräsentativitäts-Heuristik reagieren und eine Überreaktion zeigen. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn die neuen Informationen seinem repräsentativen Modell entsprechen. Tun sie das nicht, so reagiert der Marktteilnehmer auf die neuen Daten oft mit Konservatismus. <?page no="226"?> 8.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 225 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance David Hirshleifer von der Ohio State University merkt an, dass diese Heuristik aufgrund der zeitaufwendigen Verarbeitung von Informationen angewendet wird. Werden Informationen in einer Art präsentiert, die kognitiv schwer zu fassen ist, wie z.B. Statistiken oder abstrakte Informationen, dann werden diese Informationen geringer gewichtet bzw. weniger beachtet. Demgegenüber werden leicht verarbeitbare Informationen wie Beispiele oder bestimmte Szenarien/ „Anekdoten“ übergewichtet (vgl. Pompian, 2006, S. 119 f.). Im täglichen Marktverhalten äußert sich Konservatismus durch das bekannte Phänomen des Gewinnankündigungsdriftes (vgl. Kap 4.3.3). Es entstehen weitere Kursgewinne bei positiven Meldungen und weitere Verluste bei negativen Informationen mit schrittweiser Anpassung der zuvor konservativen Einschätzungen. Dieser von Jürgen Bernhard im Jahr 1993 festgestellte Gewinnankündigungsdrift verdeutlicht auch wieder die bereits oben erwähnte Möglichkeit, eine Überrendite durch Kenntnis aller öffentlichen Informationen zu erzielen (vgl. Shefrin, 2000, S. 96). Hierbei zeigt es sich, dass der Marktteilnehmer seine Erwartungen auf überwiegend historischen Werten aufbaut und neue Informationen erst schrittweise einbezieht. Institutionelle Anleger haben mittlerweile die Möglichkeit, von der verzögerten Anpassung an neue Unternehmensinformationen zu profitieren. Untersuchungsergebnisse von FactSet zeigen gar eine kumulative Outperformance von bis zu 235 Prozent über den Russell 3000, wenn man über eine Fünfjahresperiode in Unternehmen aus diesem Index investiert hätte, deren Sharp Consensus % Spread am höchsten war (vgl. FactSet Insight Report, 2014). Für die Selektion der Unternehmen wurde zunächst die prozentuale Differenz zwischen „Sharp Estimate“ 20 und Gesamtschätzung aller Broker ermittelt. Die Unternehmen wurden anschließend gleichmäßig in 5 Gruppen eingeteilt. Die Unternehmen aus der 1. Gruppe wiesen die höchste prozentuale Differenz auf. Die Unternehmen aus dieser Gruppe erreichten eine kumulativen Excess Return oder Outperformance von 235 Prozent gegenüber dem Russell 3000. Die Unternehmen aus der 5. Gruppe wiesen dagegen eine kumulative Underperformance von minus 73 Prozent im Vergleichszeitraum von 5 Jahren (2009 2014). In der nachfolgenden Abbildung ist der Unterschied zwischen der durchschnittlichen Analysteneinschätzung (Mean 23 Estimates), in die alle Einschätzungen der letzten 100 Tage einfließen, und des Sharp Estimates (grau umrandet: Sharp Consensus mit neun Schätzwerten) gut erkennbar. 20 Der Sharp Estimate weicht vom allgemeinem 100 Tages Estimate in der Hinsicht ab, dass bestimmte Broker, die im Gegensatz zu anderen Brokern ihre Analyseeinschätzung nicht angepasst haben, bei der Berechnung des Sharp Estimates nicht berücksichtigt werden. FactSet berechnet Sharp Estimates nicht für jedes Unternehmen per se, sondern überprüft, ob es für bestimmte Analysekennzahlen wie Sales oder EPS Broker gibt, die im Gegensatz zu anderen Brokern ihre Einschätzung seit längerer Zeit nicht angepasst haben. <?page no="227"?> 226 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 53: Sharp Estimates (grau umrandet) vs. Default Estimates (alle Broker Schätzungen - Mean 23 Estimates) im Broker Outlook Report; FactSet Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Konservatismus kann während der Informationsverarbeitung sowohl bei Privatanlegern als auch von institutionellen Anlegern vorkommen. Neigung zur verlangsamten Verarbeitung neuer Informationen Im Gegensatz zu „Verankerung & Anpassung“ halten die Anleger/ Analysten bei dieser Heuristik nicht an vorher festgelegten Kursniveaus fest, sondern an einer vorher gebildeten Meinung über das Unternehmen. Treffen neue Informationen ein, die zu einer Revision der vorherigen Meinung führen müssten, neigen die Anleger in diesen Fall dazu, an veralteten Einschätzungen festzuhalten. Die Anleger reagieren erst langsam auf die Revision der Analystenempfehlungen und laufen daher Gefahr, unnötige Verluste zu erleiden. Konservatismus ist die Einstellung, bestehende Ansichten bzw. Erwartungen bei Eintreffen neuer Informationen nicht anzupassen. Neue Informationen werden tendenziell zu wenig beachtet und erst mit Verzögerung in die Wertpapierkurse eingepreist. <?page no="228"?> 8.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 227 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 88..11..3 3 FFe ehhlleeiinnsscchhäättzzuunngg ddeerr oobbjjeek kttiivveenn RReeaalliittä ätt ((uu..aa.. mmeenntta al lee BBuucchhffüühhrruunngg)) Mentale Buchführung Allgemeine Beschreibung Die mentale Buchführung basiert auf den Forschungsergebnissen von Richard Thaler und beschreibt die Neigung der Marktteilnehmer, ihr Vermögen in Abhängigkeit bestimmter Kategorien (u.a. Verwendungszweck, Anlagedauer) zu kategorisieren und in mentalen Konten zu verbuchen. Unter mentaler Buchführung wird im Allgemeinen die Gesamtheit aller kognitiven Verfahren verstanden, die von Marktteilnehmern benutzt werden, um finanzielle Aktivitäten zu organisieren, zu bewerten und zu kontrollieren (vgl. Thaler, 1999, S. 183 ff.). Der Marktteilnehmer legt für jede Entscheidung, für jeden Sachverhalt oder auch für jede Anlage voneinander unabhängige mentale Konten an. Die Verhaltensweise drückt sich z.B. darin aus, dass die verbuchten Anlagesummen unabhängig voneinander und zwar abhängig von Einkommensart oder Verwendungszweck bewertet werden (vgl. Pompian, 2006, S. 171 f.). Mentale Konten werden durch zwei Konzepte maßgeblich beeinflusst: Zum einen durch die Wertfunktion aus der Prospect Theory und zum anderen durch den Darstellungseffekt. Der Darstellungseffekt hat eine starke Auswirkung auf die Entscheidungsfindung des Marktteilnehmers mit Blick auf das jeweilige mentale Konto. Dies kann am nachfolgenden Beispiel verdeutlicht werden. Beispiel 8.4: Mentale Buchführung im Lichte des Darstellungseffektes Thaler führte ein Experiment mit zwei Gruppen durch. Der einen Gruppe wurden folgende Spielbedingungen vorgeschlagen. Die Teilnehmer erhalten 30 EUR und können dann entscheiden, ob sie das Geld behalten und aus dem Spiel aussteigen, oder aber sich an einem Münzspiel mit weiteren Gewinn- und Verlustchancen beteiligen. Im Falle eines Gewinns erhalten sie weitere 9 EUR zum anfänglichen Betrag. Verlieren sie, so werden 9 EUR vom Ausgangsbetrag abgezogen. 70 Prozent der Beteiligten entschieden sich für das zusätzliche Spiel, da sie die 30 EUR Anfangssumme als unerwarteten, noch nicht als eigenes Vermögen verbuchten Gewinn betrachteten. Der zweiten Gruppe wurde das gleiche Spiel mit folgenden Bedingungen präsentiert. Sie wurden aus dem Stande heraus gefragt, ob sie an einem Münzspiel teilnehmen wollen, bei der sie entweder 39 EUR im Fall der richtig gewählten Münzseite erhalten, oder aber 21 EUR erhalten, sofern sie auf die falsche Münzseite gesetzt haben. Sofern sie nicht am Münzspiel teilnehmen wollen, könnten sie die Summe von 30 EUR behalten. Der Unterschied zur ersten Gruppe bestand also darin, dass der zweiten Gruppe nicht von Anfang an ein unerwarteter Gewinn zur Verfügung stand. Vielmehr wurde ihnen der mögliche Endbetrag im Falle eines Gewinnes bzw. Verlustes vor Augen geführt. Obwohl beide Gruppen die gleichen Gewinnchancen hatten, wollten aus der zweiten Gruppe lediglich 34 Prozent am Münzspiel teilnehmen. Die Darstellung der Spielbedingungen hat eine nachhaltige Auswirkung auf die Beteiligung am Spiel. Die Beteiligten der ersten Gruppe verhielten sich entsprechend des <?page no="229"?> 228 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance House-Money-Effektes (vgl. Kap. 7.2.1/ Beispiel 7.2), als ob sie mit dem „Geld des Kasinos“ spielen würden. Außerdem ist erkennbar, dass die Beteiligten die ihnen zur Verfügung stehenden Geldbeträge in unterschiedlichen Konten verbuchten. Neben dem Darstellungseffekt wird die Verhaltensweise in der Führung von mentalen Konten auch durch die Prospect Theory beeinflusst. Jedes dieser Konten besitzt eine Sförmige Wertfunktion mit einem entsprechenden Bezugspunkt. Die mentale Buchführung führt im Rahmen der Prospect-Theorie zur jeweils unterschiedlichen Behandlung von Gewinnen und Verlusten. Die Marktteilnehmer bilden z.B. zwei mentale Konten, einen für realisierte Gewinne/ Verluste und eines für nicht realisierte Gewinne/ Verluste. Sie treffen nun Entscheidungen, die ihre anfängliche Investitionsentscheidung bestätigen (verkaufen Gewinneraktien, halten an Verliereraktien fest), anstatt die anfängliche Investitionsentscheidung entsprechend der gegebenen Situation neu zu bewerten. In der Folge trifft der Marktteilnehmer begrenzt rationale Entscheidungen, die nicht auf die zukünftige Entwicklung der Investition ausgerichtet sind, sondern auf die Bestätigung der bereits zuvor getroffenen Entscheidung (vgl. Hens & Bachmann, 2008, S. 84). Die hierbei verfolgte Maximierung des eigenen Nutzens (im Sinne der Prospect-Theory- Wertfunktion) wird in der Psychologie als hedonistische Bewertung (Hedonic Framing) bezeichnet. Demnach handeln Marktteilnehmer in Abhängigkeit von Gewinnen bzw. Verlusten aus nachvollziehbaren Gründen in unterschiedlicher Weise: Der Marktteilnehmer realisiert Gewinne verteilt voneinander (Segregation) Diese Verhaltensweise führt dazu, dass der Marktteilnehmer die Freude am positiven Ergebnis seiner Investition über einem längeren Zeitraum stärker erleben kann. Verantwortlich hierfür ist die abnehmende Sensitivität im Gewinnbereich der Wertfunktion (vgl. Abb. 54). Je höher der Gewinn einer Anlage ist, desto geringer wird ein Gewinnzuwachs wahrgenommen. Folglich wird die hohe Sensitivität für anfängliche Gewinne genutzt, um diese schnell zu veräußern. Zudem wird durch die Separierung einzelner Gewinnpositionen das Gefühl der Bestätigung länger aufrechterhalten. In diesem Fall wird die erhöhte Sensitivität für jede Einzelposition ausgenutzt. Mental-Accounting auf Basis der Prospect Theory Abb. 54: Mental-Accounting auf Basis der Prospect Theory Aufgrund der abnehmenden Sensitivität im Gewinnbereich der Wertfunktion neigen Marktteilnehmer zur separaten Betrachtung und Veräußerung von Positionen. <?page no="230"?> 8.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 229 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Der Marktteilnehmer fasst entstehende Verluste zusammen (Integration) Der Verkauf einer Verlustposition führt neben der Schließung des mentalen Kontos zu emotionalen Reaktionen. Um das Gefühl des Bedauerns zu mindern, werden Verlustpositionen in einer einzigen Transaktion verkauft. Grund dafür ist wiederum die abnehmende Sensitivität des Marktteilnehmers, die in diesem Fall mit den steigenden Gesamtverlusten einhergeht. Der Marktteilnehmer kombiniert kleinere Verluste mit größeren Gewinnen Dadurch wird der Verlust weniger spürbar, da auf diese Weise ein verminderter Gewinn weniger schmerzhaft ist, als mit Verlusten konfrontiert zu werden. Der Marktteilnehmer trennt kleinere Gewinne von größeren Verlusten Hierdurch bereiten kleinere Gewinne mehr Freude als die Minderung eines großen Verlustes um diesen geringeren Betrag an Wertsteigerung erbringen würde. In der Marketing-Praxis werden die Auswirkungen der mentalen Buchführung gerne genutzt, um den Konsumenten das Gefühl zu geben, eine Dienstleistung „gratis“ zu beziehen. Ein Flatrate-Angebot ist nichts anderes, als dass der Konsument die entsprechende Dienstleistung (Internet, Fitnessstudio, All-inclusive-Hotel) im Voraus bezahlt. Da mehrere kleine Zahlungen zu einer größeren Vorauszahlung zusammengefasst werden, verringert die Entkoppelung der Zahlung vom eigentlichen Konsum die gefühlten Kosten. Jedes Mal, wenn der Konsument die Dienstleistungen in Anspruch nimmt, hat er das gute Gefühl, etwas „gratis“ zu bekommen. Müsste der Konsument jedoch jede Leistung einzeln bezahlen, würde er höchstwahrscheinlich weniger konsumieren, da ihm jede einzelne Zahlung die Kosten verdeutlichen würde. Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Die mentale Buchführung kann sich in vielfältiger Weise auf das Anlageverhalten der Marktteilnehmer, insbesondere der privaten Anleger auswirken (vgl. Nofsinger, 2008, S. 48 f.): Vernachlässigung der Korrelationen durch separate Betrachtung von Investitionen und Renditen Mentale Buchführung kann insbesondere Privatanleger zur separaten Betrachtung von Investitionen verleiten. Korrelationen zwischen den einzelnen Investitionen bleiben unbeachtet, wodurch die Portfolioschädlichkeit erhöht werden kann, sofern Klumpenrisiken nicht bemerkt werden. Zudem besteht die Gefahr, dass der Anleger durch die Fokussierung auf die zu erwartende Dividendenzahlung vom Verkauf der Wertpapieranlage absieht und dadurch das Portfoliorisiko erhöht, wenn die betreffende Position entsprechend der Portfolioallokation nicht regelmäßig angepasst wird. Unbewusste Erhöhung des Portfoliorisikos im Zuge der Investition in Arbeitgeber-Aktien Die unbewusste Erhöhung des Portfoliorisikos ist insbesondere dann gegeben, wenn der Anleger die Möglichkeit besitzt, in die Aktien des eigenen Arbeitgebers zu investieren. In diesem Fall besteht das Risiko des nachlassenden Diversifikationseffektes, wenn der Anleger unabhängig von anderen Investitionen in die Aktien des Arbeitsgebers investiert. In diesem Fall wird die Investition in die Aktien des Arbeit- <?page no="231"?> 230 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance gebers nicht mit der übrigen Investition in andere Aktien zusammenfassend betrachtet, sondern vielmehr getrennt. Und es kann, wie oben bereits beschrieben, ein erhebliches Klumpenrisiko entstehen. Neigung zum Status-Quo-Effekt Die mentale Buchführung erweist ihre portfolioschädliche Wirkung auch dann, wenn Anleger Transaktionskosten und Ertragssteuern in einem separaten mentalen Konto verbuchen und aufgrund der erhöhten Sensitivität für diese alleinstehenden Kosten stark gestiegene Aktien nicht veräußern möchten. Diese Gefahr bestand insbesondere als in Deutschland die Abgeltungssteuer noch nicht eingeführt war (2009) und Anleger lediglich die Spekulationsfrist von einem Jahr abwarten mussten, damit sie keine Steuern auf die Kapitalgewinne zu zahlen hatten. Verzögern Anleger die Entscheidungsfindung hinsichtlich des Verkaufs von Wertpapieren, kann dies die erwirtschafteten Buchgewinne wieder verringern. Der Status-Quo-Effekt als unmittelbare Heuristik kann zudem zur Anwendung weiterer mittelbarer Heuristiken wie dem Dispositionseffekt und der Ambiguitätsaversion führen. Neigung zum House-Money-Effekt Außerdem kann die mentale Buchführung private wie institutionelle Anleger zum sog. House-Money-Effekt verleiten (vgl. Kap. 7.1.1. Risikowahrnehmung). Betroffene Anleger betrachten Erträge aus einer Anlage nicht in der gleichen Wertigkeit wie das investierte Kapital selbst. Sie setzen die Erträge für risikoreichere Investitionen ein und erhöhen dadurch das Portfoliorisiko. Diese Verhaltensweise beruht auf der Interpre- Probability Weighting. Geringe Wahrscheinlichkeiten werden demnach höher eingeschätzt, mit der Folge, dass der Anleger sich zunehmendem Risiko aussetzt (vgl. Pompian, 2006, S. 174 f.). Mental Accouting steht für die begrenzt rationale Neigung der Marktteilnehmer, ihr Vermögen in Abhängigkeit bestimmter Kategorien in mentalen Konten zu verbuchen. Die verbuchten Anlagesummen werden unabhängig voneinander entsprechend der Prospect-Theorie bewertet. Rezenz-Effekt Allgemeine Beschreibung Der Rezenz-Effekt (Recency Bias) beschreibt die Neigung der Marktteilnehmer, sich an kürzlich erlebte Ereignisse besser zu erinnern und diese höher zu gewichten als Ereignisse, die weiter in der Vergangenheit zurückliegen. Diese Heuristik spielt z.B. eine große Rolle, wenn Marktteilnehmer die Performance eines Fondsmanagers über einen gewissen Zeitraum bewerten möchten. Werden nur einige wenige Quartale als Basis für die Beurteilung des Fondsmanagers herangezogen, laufen die Anleger Gefahr, von einer kurzfristig positiven Performance im Rahmen allgemein steigender Aktiennotierungen geblendet zu werden. Gleiches gilt bei der Einschätzung künftiger Ertragsaussichten/ Verlustrisiken bei Wertpapieren basierend auf <?page no="232"?> 8.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 231 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance kürzlich erlebten Kursentwicklungen. Die Auswirkung des Rezenz-Effektes kann am folgenden Beispiel verdeutlicht werden. Beispiel 8.5: Rezenz-Effekt Ein Privatanleger erwirbt am Anfang des Jahres 2016 Wertpapiere eines aufstrebenden Biotechnologieunternehmens und eines Pharmaherstellers. Beide Unternehmen notieren am Anfang des Jahres bei 100 EUR. Im Laufe des Jahres sinkt die Notierung des Biotechnologieunternehmens kontinuierlich auf 75 EUR. Die Notierung des Pharmaherstellers bleibt im Laufe des gleichen Jahres stabil, verzeichnet jedoch in den letzten beiden Handelswochen des Jahres einen unerwarteten Kursrückschlag auf 80 EUR. Konfrontiert mit der Entscheidung, welches der Wertpapiere er auch im folgenden Jahr behalten soll, wird der Anleger durch die Stärke der emotionalen Schmerzen beeinflusst. Obwohl die Wertpapiere des Biotechnologieunternehmens über das Jahr gesehen stärker an Wert verloren haben, verspürt der Anleger u.U. einen stärkeren emotionalen Schmerz durch den plötzlichen Kursrückgang des Pharmaherstellers, da dieser noch lebhaft in Erinnerung ist. Er ist folglich für die künftige Entwicklung des Pharmaherstellers negativer gestimmt als für die Entwicklung des Biotechnologieunternehmens - obwohl dieses über das Jahr hinweg stärker an Wert verloren hat. Diese Einschätzung basiert auf der Wölbung der Wertfunktion aus der Prospect Theorie. Die Sensitivität für einen unerwarteten Verlust, wie auch Gewinn, ist in der Nähe des Bezugspunktes sehr hoch. Im Falle des Biotechnologieunternehmens, dessen Kurs weiter vom Bezugspunkt entfernt ist, ist die Sensitivität geringer, da der Marktteilnehmer sich an diese graduale Entwicklung über die vergangenen Monate gewöhnt hat. Er hat in diesem Zusammenhang u.U. auch den Referenzpunkt selbst nach unten angepasst. Der Marktteilnehmer gewichtet daher die Entwicklung der letzten beiden Wochen stärker und neigt in dieser Konstellation zu der Entscheidung, die Wertpapiere des Pharmaherstellers zu verkaufen. Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Der Rezenz-Effekt ist eine Heuristik, welche insbesondere die Verhaltensweise von Privatanlegern beeinflussen kann (vgl. Pompian, 2006, S. 220 f.). Neigung zur Vernachlässigung der fundamentalen Bewertung Privatanleger laufen Gefahr, durch kurz-/ mittelfristige Kurssteigerungen nicht nur die Fundamentalbewertung der Wertpapiere, sondern auch etablierte Bewertungsgrundsätze zu vernachlässigen. Sie verfallen u.U. der Sichtweise „This time is different“ (vgl. Kap. 4.2) und verstärken durch ihre prozyklische Verhaltensweise die Blasenbildung auf Wertpapiermärkten. Anleger tragen durch dieses Verhalten zur Risiko- / Renditeschädlichkeit bei, da sie bei Wiederannäherung der Bewertung an fundamental gerechtfertigte Bewertungen (Mean Reversion Effekt vgl. Kap. 4.3.3) signifikante Verluste erleiden können. <?page no="233"?> 232 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Neigung zur Vernachlässigung der angemessenen Portfoliodiversifikation Der Rezenz-Effekt kann dazu führen, dass der Anleger verstärkt in die Wertpapiere investiert, die gegenwärtig und kurzfristig in „Mode“ sind und dadurch die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Durch diese einseitige Konzentration gefährdet der Anleger seine Portfoliodiversifikation, die entsprechend der Portfoliotheorie aus einer Vielzahl von Wertpapieren mit möglichst negativer oder wenigstens geringer Korrelation bestehen sollte (vgl. 2.1.1). Neigung zur Representativitäts-Heuristik Privatanleger können dazu neigen, kurzfristige Entwicklungen auf die künftige langfristige Entwicklung zu projizieren. Diese Marktteilnehmer laufen Gefahr, eine Investition z.B. nach kurzfristigen, auffälligen Kursgewinnen einzugehen und dadurch das Portfoliorisiko maßgeblich zu erhöhen. In diesem Sinne wird die fundamentale Bewertung des entsprechenden Wertpapiers vernachlässigt, die auf langfristige Aussichten berücksichtigt. Der Rezenz-Effekt beschreibt die Neigung der Marktteilnehmer, sich an kürzlich erlebte Ereignisse besser zu erinnern und diese höher zu gewichten als Ereignisse, die weiter in der Vergangenheit zurückliegen. Durch diese Verhaltensweise wird die objektive Realität verzerrt und der Marktteilnehmer trifft seine Entscheidung basierend auf kürzlich veröffentlichten Daten. 88..1 1..4 4 FFeehhlleei innssc chhäättz zuunng g ddeerr eeiiggeenne enn FFä ähhiiggkkeeiitte enn ((uu..a a. . SSeellbbssttü übbeerrssc chhäätt-zzuunng g)) Selbstüberschätzung Allgemeine Beschreibung Selbstüberschätzung (Overconfidence Bias) kann als ungerechtfertigter Glaube an die eigenen kognitiven Fähigkeiten beschrieben werden. Die Marktteilnehmer überschätzen ihren Kenntnisstand, unterschätzen Risiken und neigen zum übertriebenen Glauben, Marktbewegungen kontrollieren zu können. Ihre Einschätzung, genügend Informationen zu besitzen, verleitet sie zu Investitionsentscheidungen, die zu einer Abweichung vom Markowitz-optimalen Portfolio führen. Zudem zeigten Untersuchungen (vgl. Beispiel 8.6), dass die betroffenen Marktteilnehmer aufgrund der Überzeugung, korrekte Prognosen zu treffen, viel häufiger handeln und dadurch die Portfoliorentabilität aufgrund der damit verbundenen Transaktionskosten zusätzlich signifikant gefährden (vgl. Nofsinger, 2008, S. 11). Die Behavioral-Finance-Forschung unterscheidet zwischen zwei Arten der Selbstüberschätzung (vgl. Pompian, 2006, S. 52 f.): Selbstüberschätzung der Prognosequalität (Prediction Overconfidence) Diese Form der Selbstüberschätzung steht für zu eng gefasste Prognosen über die Renditeentwicklung einer zur tätigenden Investition. Marktteilnehmer laufen somit Gefahr, die Verlustrisiken ihrer Anlagen zu unterschätzen und damit das Portfoliorisiko unbewusst zu erhöhen. <?page no="234"?> 8.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 233 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Selbstüberschätzung der Entscheidungsqualität (Certainty Overconfidence) Diese Art der Selbstüberschätzung spielt auf die ungenügende Berücksichtigung von renditegefährdenden Faktoren an, die im Nachhinein eine scheinbar vielversprechende Investition zu einer Verlustinvestition werden lassen. Marktteilnehmer, die dieser Art der Selbstüberschätzung unterliegen, handeln zu oft und halten zu gering diversifizierte Portfolios. Beispiel 8.6: Selbstüberschätzung in Abhängigkeit des Geschlechts Zur Selbstüberschätzung von Marktteilnehmern wurde eine Untersuchung von 38.000 US-Haushalten durchgeführt, die eine Depotverbindung bei einer Direktbank aufwiesen (Barber/ Odean, 2001). Die Untersuchung fokussierte sich auf Wertpapiertransaktionen zwischen 1991 und 1997. Die Herangehensweise der Wissenschaftler bestand darin, anhand der Häufigkeit von Wertpapiertransaktionen Selbstüberschätzung zu messen. Je häufiger ein Depotinhaber Wertpapiere handelt, desto stärker ist er, so die Annahme, von seinen Fähigkeiten überzeugt. Die Ergebnisse wurden nach Geschlecht und Familienstand der untersuchten Haushalte unterteilt. Die Untersuchungsergebnisse ergaben, dass alleinstehende Männer am meisten handeln. Sie verkauften innerhalb eines Jahres 85 Prozent ihrer Wertpapiere und erwarben dafür andere Wertpapiere (Depotumschlag). Verheiratete Männer hatten im Vergleich einen Depotumschlag von 73 Prozent. Alleinstehende Frauen erreichten einen Depotumschlag von 53 Prozent gegenüber 51 Prozent bei verheirateten Frauen. Die Ergebnisse zeigen in diesem Zusammenhang, dass Männer, vor allem alleinstehende, eine höhere Selbstüberschätzung haben und daher auch wesentlich mehr handeln als Frauen (vgl. Abb. 55). Selbstüberschätzung eigener Fähigkeiten verursacht höchste Handelstätigkeit bei alleinstehenden Männern Abb. 55: Jährlicher Depotumsatz nach Geschlecht und Familienstand in % Neben dem Depotumschlag untersuchten die Wissenschaftler auch das Verhältnis zwischen Depotumschlag und Portfoliorentabilität nach Abzug der Transaktionskosten. Für diese Untersuchung wurden die Handelsgeschäfte von 78.000 Haushalten im Zeitraum von 1991 bis 1996 untersucht. Im Rahmen der Untersuchung sollten zwei Hypothesen überprüft werden: <?page no="235"?> 234 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance A) Handelt ein Marktteilnehmer viel, weil er die richtigen Informationen hat und deswegen den Markt respektive die Buy-and-Hold-Strategie schlägt. B) Handelt ein Marktteilnehmer viel, da er eine hohe Selbstüberschätzung hat und infolge des hohen Handelsaufkommens und der daraus resultierenden Transaktionskosten weder den Markt noch die Buy-and-Hold-Strategie schlägt. Für die Untersuchung dieser beiden Hypothesen teilten die Wissenschaftler die betrachteten Haushalte in fünf Gruppen ein. Gruppe 1 enthielt die 20 Prozent der Haushalte, die am wenigsten gehandelt haben (durchschnittlich 2,4 Prozent p.a.). Gruppe 2 enthielt die nächsten 20 Prozent der Haushalte, die am zweitwenigsten gehandelt haben. Schließlich wurde die Gruppe 5 gebildet, die einen Depotumsatz oder -umschlag p.a. von durchschnittlich 250 Prozent aufwies - d.h. die Gruppenmitglieder haben innerhalb eines Jahres den gesamten Depotbestand einmal verkauft und wieder neu aufgebaut, ein weiteres Mal verkauft und wieder neu aufgebaut und schließlich die Hälfte der zweiten Tranche ebenfalls verkauft und anstelle dieser Wertpapiere neue erworben. Es wurde deutlich, dass die Nettoperformance (Rendite abzüglich Transaktionskosten) in der ersten Gruppe 18,7 Prozent betrug; in der Gruppe 5 mit dem höchsten Depotumsatz jedoch nur bei 11,4 Prozent lag (vgl. Abb. 56). Die Untersuchungsergebnisse legen nahe: Selbstüberschätzung führt zu einem hohen Handelsaufkommen und verschlechtert die Depotrentabilität signifikant (vgl. Nofsinger, 2008, S. 13 f.). Hoher Depotumsatz aufgrund der Selbstüberschätzung senkt signifikant die Depotrentabilität nach Transaktionskosten Abb. 56: Depotrentabilität in % nach Transaktionskosten in Relation zum Depotumsatz <?page no="236"?> 8.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 235 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die unterschiedlich hohe Ausprägung der Handelsaktivität von Frauen und Männern basiert nach Erkenntnissen der Wissenschaftler Pulford und Colman auch auf den Erwartungen der Gesellschaft. So sind Frauen eher einem sozialen Druck zur Selbstunterschätzung ausgesetzt als dies bei Männern der Fall ist. Dies würde eine mögliche Erklärung für die geringere Handelsaktivität von Frauen bieten (vgl. Glaser/ Weber, 2010, S. 241 ff.). Neben der Selbstüberschätzung basierend auf geschlechtsspezifischen Merkmalen zeigen wissenschaftliche Ergebnisse (March & Shapira, 1987; Koehler, Brenner, Griffin, 2002) deutliche Selbstüberschätzung auch mit steigendem Fachwissen. So schätzen Manager ihre Erfolgswahrscheinlichkeiten dann am höchsten ein, wenn sie sich für fachkundig halten (vgl. Kap. 11.1). Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Selbstüberschätzung ist ein Phänomen, das bei der überwiegenden Mehrheit der Marktteilnehmer zu beobachten ist. Nachfolgend sollen die schädlichen Konsequenzen aufgezeigt werden, die sowohl Privatanleger als auch institutionelle Anleger (u.a. Fondsmanager) betreffen (vgl. Pompian, 2006, S. 54): Neigung zur Überschätzung eigener Analysefähigkeiten Anleger, die der Selbstüberschätzung unterliegen, überschätzen ihre Fähigkeit, potenzielle Investitionen korrekt einzuschätzen. Hierbei besteht die Gefahr, dass die Anleger die Sicht für negative Informationen verlieren, die bei Beachtung eine Investition in die entsprechende Anlage verhindern würden. Neigung zu häufigem Handeln im Zuge der Heuristik Anleger mit der Neigung zur Selbstüberschätzung handeln aufgrund ihrer Annahme, über Spezialwissen zu verfügen, wesentlich häufiger als andere Marktteilnehmer ohne bzw. mit geringer Selbstüberschätzung. Gefahr des Unterschätzens von Verlustrisiken Insbesondere private Anleger unterschätzen Verlustrisiken, da sie weitaus weniger langfristige Investmentstatistiken verfolgen bzw. erarbeiten als dies institutionelle Anleger tun. Daher laufen Privatanleger Gefahr, bei erhöhtem Risiko unterdurchschnittlich diversifizierte Portfolios zu halten. Selbstüberschätzung zeigt sich als ungerechtfertigter Glaube in die eigenen kognitiven Fähigkeiten. Marktteilnehmer überschätzen ihren Kenntnisstand, unterschätzen Risiken und neigen zur übertriebenen Annahme, Marktbewegungen kontrollieren zu können. <?page no="237"?> 236 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Kontrollillusion Allgemeine Beschreibung Die Kontrollillusion (Illusion of Control) erweckt beim Marktteilnehmer das Gefühl, die Märkte besser prognostizieren bzw. stärker kontrollieren zu können, als dies tatsächlich der Fall ist. Es handelt sich somit um eine unmittelbare Konsequenz der Selbstüberschätzung und tritt vor allem dann auf, wenn der Marktteilnehmer zeitweise erfolgreich am Markt agiert hat. Sie verzerrt die Erwartungsbildung und verfälscht Lernprozesse. Die Wissenschaftlerin Ellen Langer von der Harvard Universität bezeichnet die Kontrollillusion als: „Expectancy of a personal probability inappropriately higher than the objective probability would warrant.“ (Langer, 1975) Nach Langer wird die Kontrollillusion insbesondere dann verstärkt, wenn im Rahmen der Entscheidungsfindung der Marktteilnehmer folgende Charakteristika der Entscheidungssituation vorfindet: Aktive Wahlmöglichkeit hinsichtlich der auszuwählenden Wertpapiere Scheinbar erfolgreiche Prognose vergangener Kursentwicklungen Größtmögliche Vertrautheit mit zugrunde liegendem Sachverhalt bzw. Investitionsform Intensive Informationsaufnahme So zeigte sich wieder in einem Experiment, dass die eigenständige Auswahl von Lottozahlen den Teilnehmer zu einem weit höheren Einsatz animiert, als dies der Fall war, wenn der Teilnehmer auf Basis automatisch gewählter Zahlen spielen sollte. Der Teilnehmer verspürt bei aktiver Entscheidungsgewalt eine weitaus höhere Kontrolle über die mögliche Auswirkung seiner Entscheidung als ohne die Entscheidungsgewalt. Die begrenzte Rationalität dieser Vorgehensweise zeigt sich darin, dass die objektive Wahrscheinlichkeit in jedem Fall die gleiche ist (vgl. Pompian, 2006, S. 111 f.). Beispiel 8.7: Kontrollillusion im Rahmen des Direktbrokerage Die Ausführung von Börsengeschäften hat sich seit Etablierung des Onlinehandels über die Direktbrokerage-Angebote von Banken und Sparkassen stark gewandelt. Privatkunden haben die Möglichkeit, eigenständig, ohne Kundenberatung Wertpapiere auszuwählen und zu handeln. Die Möglichkeit eigenständig eine Auswahl zu treffen, stellt eine der Charakteristika dar, die zur Kontrollillusion führen. Der Marktteilnehmer verspürt eine scheinbare Kontrolle des Endresultates durch die bloße Auswahl der Wertpapiere. Im Weiteren spielt die korrekte Prognose der möglichen Ereignisse eine große Rolle in der Entstehung von Kontrollillusion. Privatkunden begannen Anfang des Jahrtausends über das Internet zu handeln. In dieser Zeit erreichte dir Dotcom-Blase ihren Höhepunkt, mit der Folge, dass die Anleger fast ausschließlich steigende Notierungen erlebten. Diese Wahrnehmung festigte das Gefühl, künftige Prognosen treffsicher abgeben zu können. Je länger eine Sequenz an steigenden Kursen wahrgenommen wurde, desto stärker entwickelte sich die Kontrollillusion. <?page no="238"?> 8.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 237 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Zusätzlich kann die Vertrautheit mit dem zugrunde liegenden Sachverhalt die Kontrollillusion steigern. Die Privatkunden haben sich sehr schnell an den Onlinehandel gewöhnt. Sie haben sehr schnell Wissen über die Funktionalitäten der Handelsplattformen entwickelt und so Selbstsicherheit im Umgang mit dem Onlinehandel erlangt. Letztlich wurde die Kontrollillusion seitens der Privatanleger zur Zeit der Dotcom- Blase durch die Möglichkeit, sich in Anlageforen zu informieren, weiter gesteigert (u.a. wallstreet-online.de). Die Kontrollillusion könnte aufgrund der seither zugenommenen Informationsquellen demnach durchaus auch künftig eine bestimmende Rolle im Rahmen der Entscheidungsfindung der Marktteilnehmer spielen. Im Grunde kann die Kontrollillusion wiederum über die Wahrscheinlichkeitsbewertungsfunktion aus dem Probability Weighting erklärt werden. Die Marktteilnehmer gewinnen die Ansicht, die Märkte korrekt prognostizieren zu können und entsprechend besser kontrollieren zu können als dies objektiv der Fall ist. Mehr noch, die Marktteilnehmer schätzen Wahrscheinlichkeiten höher ein, als objektiv gerechtfertigt mit der Folge, dass sich ihre Risikoaversion im Gewinnbereich reduziert bzw. das risikosuchende Verhalten im Verlustbereich verstärkt. Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Die Kontrollillusion hat weitreichende Folgen für die Verhaltensweise der Marktteilnehmer. Sie betrifft sowohl Privatanleger, institutionelle Anleger sowie Unternehmenslenker (vgl. Pompian, 2006, S. 115). Schädigung Portfoliodiversifikation bei Übergewichtung „favorisierter“ Anlagen Privatanleger neigen durch die Kontrollillusion zur einseitigen Ausrichtung ihrer Portfolien. Unternehmen, die sie scheinbar gut kennen, üben eine starke Anziehungskraft aus. So genannte Mode-Aktien finden sich häufig in ihren Portfolien, weshalb bei plötzlicher Änderung der Marktlage erhebliche Verluste drohen. Erhöhung Portfolioschädlichkeit bei unüberlegter Verwendung von Limit- Orders Privatanleger laufen Gefahr, verfrüht eine Transaktion zu tätigen, wenn sie sich automatischer Limit-Funktionen beim Wertpapierkauf bedienen. Limit-Funktionen ermöglichen den Kauf/ Verkauf von Wertpapieren, ohne dass der Anleger selbst handeln muss. Diese Funktionen lösen eine zusätzliche Kontrollillusion bei den Anlegern aus, da sie das Gefühl bekommen, die Märkte entsprechend der gesetzten Limits korrekt vorhersagen zu können. Limit Orders sind jedoch u.U. renditeschädlich, da kurzfristige Preisschwünge (wie in der Vergangenheit auch durch technische Fehler ausgelöst) ungewollt einen Kauf bzw. Verkauf auslösen. 21 Neigung zu Selbstüberschätzung mit häufigem Handeln Die Kontrollillusion hängt eng zusammen mit der Neigung zur Selbstüberschätzung, da der Anleger durch die gefühlte Kontrolle über die Kapitalmärkte seine Kompetenz bestätigt sieht. Durch die Selbstüberschätzung steigt jedoch zusätzlich die Handelsaktivität mit entsprechender Erhöhung der Portfolioschädlichkeit. 21 Die Gefahr solcher „Kurssprünge“ hat durch die zunehmende Verbreitung von High-Frequency-Trading Strategien weiter an Bedeutung gewonnen. <?page no="239"?> 238 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Kontrollillusion erweckt beim Marktteilnehmer das Gefühl, die Märkte besser prognostizieren bzw. stärker kontrollieren zu können, als dies tatsächlich der Fall ist. Sie ist eng verknüpft mit der Selbstüberschätzung und steigert diese zusätzlich. 88..22 HHeeuurriissttiikkeenn eemmoottiioonnaalleenn UUrrsspprruunnggss -- UUmmkkeehhrr ddeerr RRiissiikkoobbeerreeiitt-sscchhaafftt Abb. 57: Heuristiken emotionalen Ursprungs im Rahmen der Informationsverarbeitung/ -bewertung Umkehr der Risikobereitschaft Allgemeine Beschreibung Die Umkehr der Risikobereitschaft (Reflection Effect, vgl. Kap. 6.2.3) stellt eine Einstellungsänderung beim Marktteilnehmer dar, wodurch die Risikoeinschätzung für ein gegebenes Wertpapierengagement verändert werden kann. Diese Einstellungsänderung basiert auf dem Übergang aus einer relativen Gewinnin eine relative Verlustposition bzw. aus einer relativen Verlustposition in eine relative Gewinnposition. In einer Gewinnposition verhält sich der Marktteilnehmer risikoscheu, um erreichte Gewinne nicht zu verlieren. Entwickelt sich eine Investition jedoch aus einer Gewinnkonstellation heraus unerwartet schlecht, so wechselt die Risikoeinstellung des Marktteilnehmers von risikoscheu in risikofreudig. Der Marktteilnehmer ist darauf aus, die Position möglichst im Gewinn zu schließen. Diese Einstellungsänderung basiert auf dem Verlauf der Wertfunktion. Die Umkehr der Risikobereitschaft ist zudem mit dem Darstellungseffekt verbunden. Eine Änderung der Risikoeinstellung ist demzufolge auch dann möglich, wenn eine bestimmte Darstellungsform gewählt wird, aufgrund derer der Bezugspunkt des Marktteilnehmers verändert wird. Beispiel 8.8: Umkehr der Risikobereitschaft Den Teilnehmern eines Experimentes, das als „klassisches“ Experiment der Behavioral Finance gelten kann, wurden folgenden Teilnahmebedingungen genannt: Im ersten Durchgang konnten sie entscheiden, ob sie entweder 500 EUR sicher erhalten, oder aber mit jeweils 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit 1.000 EUR bzw. nichts gewinnen. Die Durchführung dieses Spiels zeigte, dass die überwiegende Mehrheit der Beteiligten, aufgrund der abnehmenden Sensitivität mit zunehmender Entfernung vom Bezugspunkt, die sicheren 500 EUR den unsicheren 1.000 EUR <?page no="240"?> 8.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs - Umkehr der Risikobereitschaft 239 vorgezogen haben. Sie verhielten sich aufgrund der konkaven Wölbung der Wertfunktion im Gewinnbereich erwartungsgemäß risikoavers. Im zweiten Durchgang wurde das Spiel mit umgekehrten Vorzeichen durchgeführt. Die Teilnehmer hatten jetzt zu entscheiden, ob sie einen sicheren Verlust von 500 EUR in Kauf nehmen, oder aber mit jeweils 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit 1.000 EUR bzw. nichts verlieren. Unter diesen Bedingungen wechselte die Risikobereitschaft und die Beteiligten wurden risikofreudig. Sie entschieden sich gegen den sicheren Verlust und nahmen dafür am Spiel teil, bei dem sie entweder gar nichts verlieren würden oder aber einen noch höheren Betrag zahlen müssten (vgl. Goldberg & von Nitzsch, 2000, S. 90 f.). Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Die Umkehr der Risikobereitschaft ist ein Bias, welcher sich auf viele Marktteilnehmer in unterschiedlichen Konstellationen auswirken kann. Änderung Risikoeinstellung in Abhängigkeit von Gewinnen oder Verlusten Der Marktteilnehmer lässt sich von der Gewinn- und Verlustsituation stark beeinflussen und ändert dementsprechend seine Risikoeinstellung. Bei Gewinnen ist er risikoavers, bei Verlusten risikofreudig. Dadurch wird die Portfolioperformance geschmälert, da kein konsistentes Risikomaß angegeben werden kann, an dem eine Portfoliooptimierung ausgerichtet werden könnte. Die Umkehr der Risikobereitschaft führt zu einer Einstellungsänderung, bei der die Marktteilnehmer beim Übergang von Gewinnen zu Verlusten risikofreudig, beim Übergang von Verlusten zu Gewinnen dagegen risikoscheu werden. <?page no="241"?> 240 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 88..33 EEiinnsscchhäättzzuun ngg d deerr R Riis siikkoo--/ / R Reen nddiit tees sc chhääddlli ic chhkkeei it t b beet trraacchhtteet teer r HHeeu urriis sttiikkeen n <?page no="242"?> 8.3 Einschätzung der Risiko-/ Renditeschädlichkeit betrachteter Heuristiken 241 <?page no="243"?> 242 8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance ZZuussaammmmeennffaassssuunngg Die Informationsverarbeitung und -bewertung wird, wie auch die Informationsaufnahme, durch die Anwendung von Heuristiken beeinträchtigt. Hierbei spielen mehrheitlich Heuristiken kognitiven Ursprungs die Hauptrolle. Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeiten Die Verankerungs- & Anpassungsheuristik zeigt ihre Auswirkung darin, dass der gesetzte Anker nicht ausreichend angepasst wird, sobald neue Informationen verarbeitet werden. Diese Heuristik verstärkt zudem den Konservatismus-Effekt. Die Repräsentativitäts-Heuristik stellt ein Abkürzungsmechanismus dar, welcher es dem Gehirn erlaubt, die vorhandene Informationsmenge zu organisieren und über Stereotypen zu beurteilen. Der Marktteilnehmer schätzt auf Basis dieser Heuristik z.B. Wahrscheinlichkeiten falsch ein. Die Ambiguitätsaversion beruht auf der „Unsicherheit über die Unsicherheit“. Der Marktteilnehmer kann die objektive Wahrscheinlichkeit von Sachverhalten nicht richtig einschätzen und verzichtet daher auf mögliche lukrative oder diversifikationsfördernde Investitionen. Die Ambiguitätsaversion kann unmittelbar zu Home Bias, Verfügbarkeitsheuristik und Selbstüberschätzung führen. Fehleinschätzung der Informationen Konservatismus als Heuristik kognitiven Ursprungs ist die Einstellung, bestehende Ansichten bzw. Erwartungen bei Eintreffen neuer Informationen nicht anzupassen. Neue Informationen werden tendenziell zu wenig beachtet und erst mit Verzögerung in die Wertpapierkurse eingepreist. Fehleinschätzung der objektiven Realität Das Mental Accouting steht für die begrenzt rationale Neigung der Marktteilnehmer, ihr Vermögen in Abhängigkeit bestimmter Kategorien in mentalen Konten zu verbuchen. Die verbuchten Anlagesummen und Investitionsentscheidungen werden unabhängig voneinander bewertet. Mental Accounting führt unmittelbar zum Status-Quo und House-Money Effekt. Der Status-Quo-Effekt verursacht weitere mittelbare Heurisitken wie den Dispositionseffekt und die Ambiguitätsaversion. Der Rezenz-Effekt beschreibt die Neigung der Marktteilnehmer, sich an kürzlich erlebte Ereignisse besser zu erinnern und diese höher zu gewichten als Ereignisse die weiter in der Vergangenheit zurückliegen. Durch diese Verhaltensweise wird die objektive Realität verzerrt und der Marktteilnehmer trifft seine Entscheidung basierend auf kürzlich veröffentlichten Daten. Der Rezenz-Effekt führt unmittelbar zur Representativitätsheuristik. Die Umkehr der Risikobereitschaft führt zu einer Einstellungsänderung, bei der die Marktteilnehmer beim Übergang von Gewinnen zu Verlusten risikofreudig werden, beim Übergang von Verlusten zu Gewinnen dagegen risikoscheu. <?page no="244"?> Zusammenfassung 243 Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten Die Selbstüberschätzung zeigt sich als ungerechtfertigter Glaube in die eigenen kognitiven Fähigkeiten. Marktteilnehmer überschätzen ihren Kenntnisstand, unterschätzen Risiken und neigen zur übertriebenen Ansicht, Marktbewegungen kontrollieren zu können. Die Kontrollillusion erweckt beim Marktteilnehmer das Gefühl, die Märkte besser prognostizieren bzw. stärker kontrollieren zu können, als dies tatsächlich der Fall ist. Sie ist eng verknüpft mit der Selbstüberschätzung und steigert diese zusätzlich. <?page no="246"?> 0 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 99 BBeeggrre ennz ztte e RRa attiioon na alliit täätt bbe eii dde err IIn nv veessttiit tiio onns seennt tsscchhe eiiddu un ng g Im neunten Kapitel werden Sie die dritte und letzte Prozessstufe im Informations- und Entscheidungsprozess erkunden. Sie werden die wesentlichen Heuristiken, die während der Entscheidungsfindung zur Anwendung kommen, kennenlernen und können die begrenzt rationalen Verhaltensweisen des Homo Oeconomicus Humanus nachvollziehen. Abb. 58: Angewandte Heuristiken bei der Investitionsentscheidung Nachdem in den vorgelagerten Prozessstufen des Informations- und Entscheidungsprozesses zahlreiche begrenzt rationale Verhaltensweisen herausgestellt wurden, werden nachfolgend die Heuristiken während der Investitionsentscheidung betrachtet. Innerhalb der Heuristiken kognitiven Ursprungs ist die selektive Entscheidung eine der Heuristiken, die im Entscheidungsverhalten eine renditeschädliche Wirkung aufweisen. Wie bei der selektiven Wahrnehmung aus der Informationswahrnehmung versucht der Marktteilnehmer auch bei dieser Vorgehensweise, kognitive Dissonanzen abzubauen. Eine weitere Heuristik kognitiven Ursprungs ist die Selbstattribution. Der Marktteilnehmer sieht sich in seiner Kompetenz bestätigt, sobald er einen Gewinn realisiert. Verluste dagegen werden äußeren Umständen angelastet. Schließlich komplettiert der Rückschau- Effekt die Heuristiken kognitiven Ursprungs. Im Rahmen dieser Heuristik lernen die Marktteilnehmer nicht aus ihren Fehlern, sondern reden sich vielmehr ein, die Geschehnisse im Vorfeld bereits erwartet zu haben. Neben den Heuristiken kognitiven Ursprungs gibt es in dieser Phase des Informations- und Entscheidungsprozesses auch zahlreiche Heuristiken emotionalen Ursprungs. Dies kann z.B. als Erklärung dafür herangezogen werden, wieso Marktteilnehmer plötzlich zu Informationswahrnehmung Informationsverarbeitung/ -bewertung Investitionsentscheidung Verfügbarkeit Risikowahrnehmung Selektive Wahrnehmung Darstellungseffekt Herdenverhalten Verankerung & Anpassung Repräsentativität Ambiguitätsaversion Konservatismus Mentale Buchführung Rezenz-Effekt Selbstüberschätzung Kontrollillusion Umkehr der Risikobereitschaft Selektive Entscheidung Selbstattribution Rückschau-Effekt Besitztums-Effekt Optimismus-Effekt Dispositions-Effekt Status-Quo-Effekt Selbstkontroll-Effekt Reueaversion <?page no="247"?> 246 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance panikartigen Reaktionen auf den Börsen neigen - sowohl als Käufer als auch als Verkäufer von Wertpapieren. So zeigt sich in dieser Gruppe der Heuristiken, der Besitztumseffekt, der u.a. dazu führt, dass Marktteilnehmer ungerechtfertigt lange an einer Investition festhalten. Der Optimismus-Effekt steht für die Neigung der Marktteilnehmer, die Marktentwicklungen grenzenlos positiv zu sehen. Eine weitere Heuristik, die Verlustaversion, entfaltet ihre renditeschädliche Wirkung im Rahmen des Dispositionseffektes. Der Marktteilnehmer hält an Verliereraktien fest, verkauft jedoch zu früh die Gewinneraktien. Die Verlustaversion kann zudem durch den Status-Quo-Effekt verstärkt werden. Der Marktteilnehmer verharrt in Passivität. Zudem wird eine renditeschädliche Wirkung durch mangelnde Selbstkontrolle der Marktteilnehmer ausgelöst. Schließlich führt die Reueaversion zur nachhaltigen Renditeschädlichkeit, da der Marktteilnehmer aus Sorge vor falscher Entscheidung, lieber gar keine trifft, bzw. in den getroffenen verharrt. 99..11 HHeeuur riissttiik keenn k kooggnniittiivveen n UUrrssppr ruunnggss Abb. 59: Heuristiken kognitiven Ursprungs im Rahmen der Entscheidungsfindung 99. .11. .11 FFeehhlleeiinnsscch häättzzuunngg ddeerr oobbjjeekkttiivveenn RReeaalliittäätt -- SSeelleekkttiivve e EEn nttsscchheeiidduunngg Selektive Entscheidung Allgemeine Beschreibung Die selektive Entscheidung ist eine der beiden Folgen aus dem Bedürfnis nach Dissonan zfreiheit (vgl. Kapitel 6.1.3). Im Fall einer selektiven Informationswahrnehmung versucht der Marktteilnehmer, eine getroffene Entscheidung durch die gezielte Wahrnehmung bestätigender Informationen zu rechtfertigen. Die selektive Entscheidung auf der anderen Seite hat die Zielsetzung, eine frühere Entscheidung, welche unter hoher Selbstverpflichtung eingegangen wurde, auf jeden Fall zum gewünschten Erfolg zu führen. So wird bspw. in Unternehmen oft weiter in laufende, jedoch defizitäre Projekte investiert, damit die bisherigen Investitionen nicht umsonst waren (vgl. Goldberg & von Nitzsch, 2000, S. 128 f.). Diese Verhaltensweise ist Sunk-Cost-Effekt), der dazu führt, dass der Marktteilnehmer eine getätigte Investition, welche sich im Verlustbereich befindet, nicht veräußert, sondern vielmehr u.U. sogar noch zusätzliches Kapital nachschießt, um die Investition zu einem späteren Zeitpunkt doch noch gewinnbringend abschließen zu können. <?page no="248"?> 9.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 247 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Beispiel 9.1: Selektive Entscheidung Zur Verdeutlichung der Auswirkungen der selektiven Entscheidung (insbesondere des Ausgabeneffektes) werden nachfolgend zwei Beispiele aufgeführt. Beide unterscheiden sich durch zwei Faktoren: zum einen durch die Investition und zum anderen durch die Zeitdauer. Im Fall 1 erwirbt ein Tourist Eintrittskarten für das winterliche Vierschanzen-Skispringen in Innsbruck für 50,00 EUR. Er freut sich schon seit längerer Zeit auf diese Veranstaltung. Am Tag des Skispringens herrscht dann jedoch ein schwerer Schneesturm am Wohnort des Touristen. Obwohl er weiterhin zur Veranstaltung gehen könnte, ist dies mit einer erheblichen Anstrengung verbunden, wodurch die eigentliche Freude getrübt wird. Würde der Marktteilnehmer eher zur Veranstaltung gehen, wenn er für die Karten gezahlt hätte oder wenn er diese umsonst erhalten hätte? Im Fall 2 ist die veränderte Komponente die Zeitdauer. Der Tourist möchte wie im Fall 1 zum Skispringen fahren, welches nächste Woche stattfinden soll. Am Tag des Ereignisses herrscht an seinem Wohnort ein Schneesturm. Wie würde sich der Tourist entscheiden, wenn er die Tickets vor 6 Monaten erworben hätte und wie, wenn er diese erst gestern gekauft hätte? mentale Buchführung beeinflusst. Im Fall 1 wurde ein mentales Konto eröffnet und mit 50 EUR belastet. Geht der Tourist nicht zur Veranstaltung, so schließt er das Konto, ohne die entsprechende Freude, das Skispringen angesehen zu haben. Um die emotionale Belastung des Fehlkaufs der Tickets zu vermeiden, würde der Marktteilnehmer demnach zur Veranstaltung gehen und zusätzliche Anstrengungen aufwenden, um das Ereignis doch noch positiv abschließen zu können. Im Fall 2 spielt die zeitliche Komponente entscheidend mit. Sind die Tickets bereits vor einem halben Jahr erworben worden, sinkt die emotionale Belastung, die beim Schließen des mentalen Kontos ohne Besuch am Skispringen entstehen würde entsprechend dem Abstand zum Erwerbszeitpunkt der Tickets. Der negative Einfluss des Ausgabeneffektes, d.h. der Investition zusätzlichen Kapitals, sinkt somit im Zeitverlauf (vgl. Nofsinger, 2008, S. 47 f.). Prospect Theory beschrieben werden (vgl. Kap 6.2). Entsprechend der konvexen Krümmung im Verlustbereich sinkt die Sensitivität für zunehmende Verluste. Der Marktteilnehmer ist dementsprechend nicht gewillt, eine Position, die sich bereits im Minus befindet, zu verkaufen. Vielmehr würde der Marktteilnehmer durch die selektive Entscheidung, einen Nachkauf anstreben, um durch die zusätzliche Investition den durchschnittlichen Einstiegskurs zu senken und auf diese Weise bei einer möglichen Erholung der Aktienkurse schneller in die Gewinnzone zu kommen. Diese weit verbreitete Handlungsweise meist privater Anleger wird auch als „Verbilligen“ bezeichnet. <?page no="249"?> 248 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer In der Praxis ist die selektive Entscheidung besonders häufig wahrnehmbar. Neigung zur Verlustaversion im Verlustbereich der Wertfunktion Anleger neigen dazu, Buchverluste nicht zu realisieren, da dies als ein Fehlereingeständnis gewertet werden könnten. Vielmehr halten betroffene Anleger an Investitionen fest, die bei heutiger Entscheidung nicht mehr gekauft werden würden. Dieses Verhalten wird auch als Dispositionseffekt bezeichnet. Neigung zum Ausgabeneffekt (Sunk-Cost-Effekt) Die portfolioschädliche Wirkung der selektiven Entscheidung wird zudem durch die Investition neuer Geldmittel in die bereits bestehende Verlustposition verstärkt. Begrenzt rational ist hierbei die Investition neuer Mittel in Anlagen, die der Anleger heute wahrscheinlich nicht mehr erwerben würde, da die unternehmerischen Aussichten sich signifikant verschlechtert haben. Als Resultat erhöhen die Anleger die Portfoliorisiken und binden zusätzliches Kapital, welches in andere Anlagen investiert werden könnte. Nachträgliche Investitionen neuer Anlagemittel im Rahmen eines Sparplanes (regelmäßige Wertpapieranlage) z.B. in einen breit diversifizierten Fonds sind dagegen nicht als begrenzt rational anzusehen. In diesem Fall, verhilft das regelmäßige Nachkaufen zu einem langfristig ausgeglichenen Kaufkurs ohne kurzfristige Überreaktionen. Die selektive Entscheidung hat die Zielsetzung, eine frühere Entscheidung, welche unter hoher Selbstverpflichtung getroffen wurde, auf jeden Fall zum gewünschten Erfolg zu führen. Diese Heuristik verstärkt den Dispositionseffekt und den Sunk- Cost-Effekt. 99..1 1..2 2 FFeehhlleeiinnssc chhäättz zuunng g ddeerr eei iggeenne enn FFä ähhiiggkkeeiitteenn ((uu..a a.. SSeellbbsst taattt trriibbuuttiioonn)) Selbstattribution Allgemeine Beschreibung Das menschliche Verhalten ist stark davon geprägt, dass wir über unsere Fähigkeiten lernen, indem wir die Auswirkungen unseres Handelns beobachten. Bei vielen Menschen und in diesem Sinne auch Marktteilnehmern ist eine Neigung zu beobachten, die eigene Verantwortung für Erfolge zu überschätzen. Diese auch als Selbstattribution (Self-Attribution Bias) bezeichnete Verhaltensweise verdeutlicht, wie Marktteilnehmer Erfolg ihrem eigenen Können zuschreiben, für Misserfolg jedoch andere, äußere Umstände verantwortlich machen. In diesem Sinne spricht man von Steigerung des Selbstbewusstseins (Self-Enhancing Bias) bei Verinnerlichung der Faktoren, die zum Erfolg führten, oder vom Selbstschutz (Self-Protecting Bias), wenn die Verantwortung für Misserfolge abgelehnt wird. Selbstattribution verstärkt demnach die <?page no="250"?> 9.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs 249 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Selbstüberschätzung (Overconfidence Bias) des Marktteilnehmers, weshalb die renditeschädliche Wirkung der Selbstattributions-Heuristik besonders ausgeprägt ist. Während der Self-Enhancing Bias einen kognitiven Bezug aufweist, geht man beim Self- Protecting Bias von einem emotionalen Hintergrund aus. Für einen Erfolg versucht der Marktteilnehmer sich aktiv verantwortlich zu machen, im Fall eines Misserfolgs soll jedoch die Selbstsicherheit automatisch geschützt werden (vgl. Pompian, 2006, S. 105 ff.). Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Privatanleger wie auch institutionelle Anleger laufen Gefahr, durch die Anwendung dieser Heuristik ihre Rendite-/ Risikoperformance nachhaltig zu schädigen. Neigung zu erhöhten Risiken, da zufällige Erfolge eigenem Können angerechnet werden Anleger gehen oft ein erhöhtes Risiko ein, wenn sie Erfolge ihrem eigenen Können statt den meist zufällig ablaufenden Marktbewegungen zuschreiben. Neigung zur Vernachlässigung empfohlener Portfoliozusammensetzung Dies ist insbesondere der Fall, wenn Anleger Wertpapiere erwerben, bei denen sie davon ausgehen, selbst für den Erfolg des Unternehmens mitverantwortlich zu sein. Zu diesem Verhalten neigen insbesondere Unternehmenslenker. Neigung zu häufigem Handeln im Rahmen der Selbstüberschätzung Selbstattribution verstärkt den Eindruck erfolgreichen Investitionsverhaltens und führt damit zur Selbstüberschätzung. Aus diesem Grund steigt auch die Handelstätigkeit mit der bekannten Auswirkung auf die Portfolioschädlichkeit (vgl. Kap. 8.1.4). Neigung zur selektiven Wahrnehmung Marktteilnehmer werden neben der Selbstüberschätzung auch zur selektiven Wahrnehmung verleitet, da sie dazu tendieren, entscheidungsbestätigende Informationen stärker zu gewichten. Die Selbstattribution führt dazu, dass die Marktteilnehmer Erfolg ihrem eigenen Können zuschreiben, für Misserfolg jedoch andere, äußere Umstände verantwortlich machen. Rückschau-Effekt Allgemeine Beschreibung Mit dem Rückschau-Effekt (Hindsight Bias) wird die Heuristik bezeichnet, die dazu führt, dass Marktteilnehmer die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines Ereignisses, im Nachhinein höher einschätzen als sie dies taten, solange das Ereignis noch nicht eingetreten war. Ein Ereignis wird im Nachhinein als vorhersehbar eingestuft. Diese Heuristik wird daher auch als „I-knew-it-all-along effect“ bezeichnet (vgl. Yazdipour/ Howard, 2010, S. 39 ff.). <?page no="251"?> 250 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Diese Heuristik basiert darauf, dass die Markteilnehmer ihre Fähigkeit, Eintrittswahrscheinlichkeiten zu bestimmen, höher einschätzen als diese tatsächlich ist. In der Folge nehmen Marktteilnehmer an, dass sie auch künftig Ereignisse besser werden vorhersagen können. Der Rückschau-Effekt führt dazu, dass die Marktteilnehmer nicht aus ihren Fehlern lernen und sich bei Investitionsentscheidungen in falscher Sicherheit wiegen (vgl. Pompian, 2006, S. 199 ff.). Beispiel 9.2: Rückschau-Effekt Die Entwicklung der Finanz- und Schuldenkrise nahm ihren Anfang mit den ausufernden US-amerikanischen Hypothekenvergaben an Schuldner geringer Bonität. Erste Anzeichen für den drohenden Absturz des Sub-prime-Hypothekenmarktes wurden bereits im Sommer 2007 sichtbar. Die Marktteilnehmer handelten jedoch erst ab Sommer/ Herbst 2008, als die Krise sich vollends entfaltete und mehrere Kreditinstitute unter staatliche Obhut gestellt wurden. Im Nachhinein wird die Entstehung dieser Krise von diversen Seiten als unausweichlich dargestellt. Mehr noch, es werden Gründe aufgezählt, die diese Blase unweigerlich zum Platzen gebracht haben (u.a. Zinsentwicklung, regulatorische Bedingungen, Verhalten der Ratingagenturen). Viele Marktteilnehmer sind sich heute einig, dass diese Krise kommen musste. Erstaunlich ist jedoch, dass die Marktteilnehmer vor der Eskalation der Krise aggressiv in die verbrieften Hypothekenprodukte investiert haben. Ihre Neigung zur selektiven Wahrnehmung, selektiven Entscheidung (bei schon aufgelaufenen Verlusten) sowie die konservative Reaktion auf neue Informationen haben ihre Reaktionsfähigkeit im Vorfeld der Krise stark eingeschränkt. Der Rückschau-Effekt in der Finanz- und Schuldenkrise verdeutlicht sehr gut die Auswirkungen dieser Heuristik. Neben dem ungerechtfertigten Glauben an die Vorhersehbarkeit der Krise gesellt sich zudem die fehlende Einsicht, wie künftig solche Entwicklungen vermieden werden könnten. Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Neigung zu erhöhten Risiken durch Verklärung vergangener Entwicklungen Der Rückschau-Effekt kann dazu führen, dass die Marktteilnehmer (private wie institutionelle Anleger) mehr Risiko eingehen als sie dies ohne diese begrenzt rationale Verhaltensweise tun würden. Die Marktteilnehmer beginnen Ereignisse im Nachhinein als vorhersehbar darzustellen. Durch dieses Verhalten glauben sie im Rückblick, über bessere Prognosefähigkeiten zu verfügen. Zudem lernen sie nicht aus ihren Fehlern, mit der Folge, dass sie auch in Zukunft zu risiko-/ renditeschädlichem Handeln neigen. Sie wollen sich nicht eingestehen, dass z.B. ein möglicher Herdentrieb sie in ihrer Entscheidungsfindung beeinflusst hat. Neigung zur Fehlinterpretation der Leistungen von Fondsmanagern Privatanleger können ungerechtfertigt die Erfolge bzw. Misserfolge von Portfoliomanagern loben bzw. tadeln, so als hätten sie dies bereits schon immer geahnt. Sie ziehen damit zu früh ihre Investitionen ab bzw. investieren vermehrt, wenn die Wertpapierkurse schon über längere Zeit gestiegen sind. Diese Verhaltensweise verstärkt <?page no="252"?> 9.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs 251 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance sowohl bei fallenden als auch bei steigenden Kursen die vorherrschende Marktbewegung. Der Rückschau-Effekt führt dazu, dass Marktteilnehmer im Nachhinein glauben, die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines Ereignisses höher eingeschätzt zu haben als sie es tatsächlich taten. Daher lernen sie nicht aus ihren Fehlern. 99..2 2 HHeeuurriissttiikkeenn eemmo ottiioonnaal leen n UUrrsspprruunnggss Abb. 60: Heuristiken emotionalen Ursprungs im Rahmen der Entscheidungsfindung 99..22..1 1 FFe ehhlleei innsscchhäät tzzuunngg d deer r oobbjjeekktti ivveen n RReeaal liittä ät t ((uu..aa. . R Reeu ueeaavveer rssiioonn)) Besitztumseffekt Allgemeine Beschreibung Der Besitztumseffekt (Endowment Bias) beschreibt die Neigung der Marktteilnehmer, den Wert einer Anlage höher einzuschätzen, wenn sie diese erworben haben, als wenn sie die Anlage noch nicht erworben haben. Diese Verhaltensweise weicht von den Annahmen der traditionellen Ökonomie in der Weise ab, dass die Marktteilnehmer die Investition nicht nur nach dem intrinsischen Wert beurteilt, sondern auch nach ihrer Bindung oder „Gewöhnung“ an die Anlage. Es stellt sich also die Frage, weshalb Marktteilnehmer einen Zuschlag auf den Verkaufspreis aufschlagen verglichen mit dem Preis, den sie unter gleichen Umständen beim Kauf bezahlen würden. Die Wissenschaftler Zhu, Chen und Dasgupta (2008) sind dieser Frage nachgegangen und zeigten durch ihre Experimente, dass der Marktteilnehmer durch einen Aufschlag auf den Verkaufspreis den Schmerz über den Verlust des Objektes kompensieren möchte. So steigen der Schmerz und damit der geforderte Aufschlag, je mehr positive Aspekte der Anleger mit dem entsprechenden Objekt verbindet. Diese <?page no="253"?> 252 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Verhaltensweise kann wiederum gut an der Wertfunktion aus der Prospect Theory erklärt werden. Die Marktteilnehmer empfinden den Schmerz des Verkaufes als einen Verlust. Verluste werden allerdings ungern realisiert, weshalb der Marktteilnehmer eine zusätzliche Kompensation vom Käufer erwartet. Im Weiteren wurde aus Experimenten (List, 2004; Nicolosi, Peng und Zhu, 2009) sichtbar, dass der Besitztumseffekt weniger stark ist, wenn der Markteilnehmer ausreichende Erfahrung mitbringt und entsprechend weniger emotional ist (vgl. Dowling/ Lucey, 2010, S. 313 ff.). Beispiel 9.3: Besitztumseffekt Der Besitztumseffekt kann sehr gut an Wertpapieremissionen (Initial Public Offerings) verdeutlicht werden. Nach den Wissenschaftlern Loughran und Ritter (2002) kann mittels dieser Heuristik das Phänomen „leaving money on the table“ erklärt werden. Dieses Phänomen beschreibt die signifikanten Gewinne, die oft am ersten Tag der Emission zu beobachten sind. Insbesondere zu Zeiten der Dotcom-Blase waren enorme Zugewinne bei der Erstemission von Aktien zu beobachten. So notierte die Aktie des Halbleiterherstellers Infineon am Ende des ersten Handelstages bei rund 85 EUR, obwohl der Emissionspreis bei 35 EUR lag. Die Wissenschaftler argumentieren, dass die Marktteilnehmer die Gefahr, mögliche Zusatzgewinne in den ersten Tagen der Erstemission auf dem „Tisch“ liegen zu lassen bzw. diese zu verpassen, falls sie frühzeitig aussteigen, höher ansehen als die entstehenden Transaktionskosten und Steuern, die bei einem sofortigen Verkauf der Wertpapiere (sofern eine Zuteilung bei der Emission erfolgt ist) anfallen würden. Zudem kann das Phänomen auch mit der Wahrscheinlichkeitsbewertungsfunktion in Verbindung gebracht werden. Wenn geringe objektive Wahrscheinlichkeiten von den Marktteilnehmern subjektiv höher eingeschätzt werden, so sind sie eher bereit, für Kursgewinne ein Risiko einzugehen - sprich, sie bleiben zunächst im Investment in der Hoffnung zusätzliche Gewinne im Laufe der ersten Handelstage zu verbuchen. Die Behavioral-Finance-Forschung beschäftigt sich mit der Erstemission von Aktien nicht nur im Rahmen des Besitztumseffektes. In Kapitel 11.3 werden drei im Rahmen von Erstemissionen auftretende Phänomene näher beleuchtet. Hierbei geht es um die Unterbewertung des Emissionspreises als einen weiteren Erklärungsansatz, um signifikante Zeichnungsgewinne zu begründen, temporäre IPO Booms, die zusätzlich andere Unternehmen anlocken sowie die langfristige Negativperformance im Anschluss an den Börsengang. Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Neigung zur Erhöhung der Depotrisiken durch das Festhalten an „geerbten“ Anlagen Marktteilnehmer laufen Gefahr, signifikante Verluste zu erleiden, wenn sie geerbte Aktien bzw. Aktien des Arbeitgebers nicht rechtzeitig veräußern. Beispielhaft können hier die erheblichen Gefahren genannt werden, die auftreten können, wenn z.B Rentner nach ihrem Ausscheiden aus einem Unternehmen, die bislang erworbenen Unternehmensaktien aufgrund emotionaler Bindungen nicht verkaufen wollen. Zum <?page no="254"?> 9.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs 253 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Beispiel im Fall der zwischenzeitlichen Insolvenz von General Motors Anfang 2009 erlitten betroffene Anleger erhebliche Verluste. Neigung zum Status-Quo-Effekt Markteilnehmer vermeiden zudem Wertpapiere zu verkaufen, da sie die Kosten aus Transaktion sowie die Steuerzahlungen auf die Gewinne vermeiden bzw. herauszögern wollen. Dadurch können notwendige Portfolioanpassungen gar nicht oder zu spät erfolgen. Der Besitztumseffekt beschreibt die Neigung der Marktteilnehmer, den Wert ihrer Anlage höher einzuschätzen, wenn sie diese erworben haben, als wenn sie die Anlage noch nicht erworben haben. Sie zögern, Wertpapiere zu verkaufen und riskieren dadurch eine entsprechende Verringerung der Portfoliorentabilität. Optimismus-Effekt Allgemeine Beschreibung neoklassische Kapitalmarkttheorie beschäftigt sich mit Marktteilnehmern, die sich rational verhalten und homogene Erwartungen hegen. Zunehmend zeigt sich jedoch, dass Marktteilnehmer durchaus heterogene Erwartungen haben. Manche Marktteilnehmer neigen z.B. zur Selbstüberschätzung oder zu überzogenem Optimismus (Taylor und Brown, 1988). Der Optimismus-Effekt (Optimism Bias) kennzeichnet die Verhaltensweise der Marktteilnehmer, positive Marktentwicklungen als wahrscheinlicher einzuschätzen als negative. Sie gehen davon aus, dass negative Marktereignisse nur andere Marktteilnehmer betreffen können. Zudem zeigt es sich, dass die Marktteilnehmer sich selbst als besser informiert ansehen, weshalb sie auch ihre Fähigkeiten überschätzen. Diese Verhaltensweise ist insbesondere bei Unternehmenslenkern beobachtbar (vgl. Gider/ Hackbarth, 2010, S. 392 ff). Kahneman und Lovallo führen den Optimismus-Effekt auf die „interne Sichtweise“ der Marktteilnehmer zurück. Bei der internen Sichtweise fokussieren sich begrenzt rationale Marktteilnehmer auf die gegenwärtige Situation und stellen dabei ihre eigene Investitionsbeteiligung in den Vordergrund. Marktteilnehmer, die dagegen die „äußere Sichtweise“ verfolgen, vergleichen die gegenwärtige Situation mit vergangenen Marktentwicklungen und können dadurch eher eine zutreffende Prognose über zu erwartende Entwicklungen abgeben (vgl. Pompian, 2006, S. 163 f.). Beispiel 9.4: Optimismus-Effekt Marktteilnehmer, die eine Neigung zum Optimismus-Effekt erkennen lassen, laufen Gefahr, verstärkt in die Aktien ihres Arbeitgebers zu investieren. Ende 2000 waren in den USA 62 Prozent der Pensionsanlagen der Mitarbeiter von Enron in die eigene Firma investiert. Die Vermutung, dass die ehemals 22.000 Mitarbeiter von Enron die künftige Entwicklung des Unternehmens überaus optimistisch betrachtet haben, liegt <?page no="255"?> 254 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance hierbei nahe. Enron, einst siebtgrößtes Unternehmen der USA, meldet im Zuge eines Bilanzmanipulationskandals am 2. Dezember 2001 konkurs an. Insbesondere in den USA bieten Unternehmen ihren Mitarbeitern die Anlage der Pensionsanzahlungen in die eigenen Aktien an. Die Mitarbeiter von Procter & Gamble investieren sogar bis zu 95 Prozent ihrer Pensionseinlagen in die eigene Firma und laufen dadurch Gefahr, dass sie zu einseitig investieren. Diese Vorgehensweise mag verständlich sein, wenn die Anleger nicht ausreichend Kenntnisse über andere Anlagemöglichkeiten haben. In diesem Fall erscheint ihnen die Investition in die Aktien des Arbeitgebers als bequeme Alternative zu anderen ihnen nicht bekannten Investitionsmöglichkeiten. Neben dem Optimismus-Effekt, Home Bias (vgl. Abb. 47 in Kap. 7.1.1) für die verstärkte Investition in die Unternehmen des Heimatlandes verantwortlich sein (vgl. Pompian, 2006, S. 165 f.). Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Der Optimismus-Effekt betrifft insbesondere Privatanleger. Im Bereich der Private Equity Investitionen können die General Partner zum Optimismus-Effekt neigen. Neigung zu erhöhten Risiken durch Fokus auf Aktien des Arbeitgebers Die Anleger gehen davon aus, dass es sicherer ist, die Aktien des Arbeitgebers zu erwerben, da man die Firma gut kennt und daher keine negativen Überraschungen erwartet. Diese Denkweise erweist sich als sehr gefährlich und führt zu einer Risikokonzentration im Portfolio (Klumpenrisiko). Neigung zur Selbstüberschätzung Die Anleger denken, sie würden im Gegensatz zu anderen Anlegern überdurchschnittliche Investitionsresultate einfahren. Dabei handeln die Marktteilnehmer übertrieben oft mit entsprechender Erhöhung der Portfolioschädlichkeit allein aufgrund der Transaktionskosten. Neigung zum Home Bias Der Optimismus-Effekt kann auch den Home Bias hervorrufen, da die Anleger zu optimistisch die Unternehmen aus dem eigenen Heimatland betrachten. Neigung zu erhöhten Risiken, durch Fokus auf positive Berichterstattung Privatanleger neigen zudem dazu, zu sehr auf positive Berichterstattungen zu vertrauen und entsprechend zu investieren. Die verfälschte Sichtweise auf die Renditeentwicklung steigert die Risikobereitschaft. Der Optimismus-Effekt kennzeichnet die Verhaltensweise der Marktteilnehmer, positive Marktentwicklungen als wahrscheinlicher einzuschätzen als negative. Diese Heuristik ruft zudem Selbstüberschätzung sowie Investitionen in geografisch oder anderweitig bekannten Gebieten hervor. <?page no="256"?> 9.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs 255 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Dispositionseffekt Allgemeine Beschreibung Der Dispositionseffekt (Dispositions Effect) wurde 1979 von Kahneman und Tversky als Bestandteil der Prospect Theory vorgestellt. Er wurde aus dem Bestreben der Marktteilnehmer abgeleitet, Verluste zu vermeiden und Gewinne dafür zügig zu realisieren. Shefrin und Statman gelangten zu der Erkenntnis, dass der Versuch, Veräußerungsverluste und das damit verbundene Bedauern zu vermeiden und mittels Veräußerungsgewinnen nach „Ruhm“ zu streben, das Investitionsverhalten der Marktteilnehmer nachhaltig verändert. Diese psychologische Verhaltensweise ist die Grundlage des von den beiden Wissenschaftlern erforschten Dispositionseffektes. Dieser Effekt tritt in der Praxis auch in Verlustaversion auf (Loss Aversion). Shefrin und Statman (1985) erstellten ein konzeptionelles Grundgerüst, welches auf den vier Ursachen für die Entstehung des Dispositionseffektes fußt (vgl. Kaustia, 2010, S. 171 ff.). Prospect Theory - Der Marktteilnehmer verhält sich entsprechend der Präferenzen aus der Prospect Theory risikoscheu, sobald relative Gewinne entstehen und risikofreudig, wenn eine Investition in den Verlustbereich rutscht. Gewinne werden demnach frühzeitig realisiert, Verlustpositionen dagegen festgehalten, da der Marktteilnehmer nun risikofreudig ist. Als charakteristisch für die Bewertung von Wertpapieren entlang der Wertfunktion können die nachfolgenden Punkte genannt werden: Grundsätzlich zeigt der Marktteilnehmer entlang der Wertfunktion eine unterschiedlich ausgeprägte Sensitivität In der Nähe des Bezugspunktes ist sie sehr hoch, flacht jedoch mit zunehmender Entfernung wieder ab. Diese Erkenntnis, beruht auf der Wölbung der Wertfunktion (vgl. Kap. 6.2). Demnach sorgt die Rechtskrümmung im Gewinnbereich zu einer verfrühten Veräußerung von Wertpapieren. Im Verlustbereich sorgt die abflachende Linkskrümmung für das Festhalten am bestehenden Buchverlust, wobei die Hoffnung besteht, diesen bei steigenden Kursen ausgleichen zu können. Entgegen der Erwartung, kann die Risikoaversion auch im Verlustbereich der Wertfunktion schlagartig ansteigen (vgl. Abb. 61). Dies ist der Fall, wenn der Marktteilnehmer sich mit extrem hohen Verlusten konfrontiert sieht. Die Sensitivität steigt erneut an und der Marktteilnehmer veräußert die Wertpapiere, um den andauernden psychischen Schmerz zu lindern. Marktteilnehmer ändern ihre Risikoeinstellung, sobald eine Position aus einem relativen Gewinn in ein relatives Verlust wechselt Dieser auch als „Umkehr der Risikobereitschaft“ bezeichnete Effekt liegt an der Wölbung der Wertfunktion gemäß der Prospect Theory. Der Marktteilnehmer verhält Reflection-Effect im Gewinnbereich risikoscheu, bei einem Wechsel in den Verlustbereich jedoch risikofreudig. Die Wahl des Bezugspunktes kann durch den Darstellungseffekt ( FFrra a mmiinngg B Biiaa ss ) beeinflusst werden Z.B. mediale Äußerungen von Analysten hinsichtlich Kaufkursen, Interpretation von wirtschaftlichen Daten durch Anlageberater etc. <?page no="257"?> 256 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Zunahme der Sensitivität bei extrem erlebten Verlusten am Beispiel der Wertfunktion Abb. 61: Zunehmende Risikoaversion im Verlustbereich bei extremen Ausprägungen Mental Accounting - Wie bereits beschrieben, führt die mentale Buchführung zur Anlage mentaler Konten, die entweder nach Herkunft oder auch nach ihrer Verwendung finanzielle Mittel verbuchen. Die begrenzt rationale Verhaltensweise äußert sich darin, dass der Marktteilnehmer jede einzelne Position für sich betrachtet und entsprechend der hedonistischen Bewertung (vgl. Kap. 8.1.3) teilweise zur Segregation bzw. teilweise zur Integration von Verlusten und Gewinnen neigt. Reueaversion - Nach dieser Heuristik bereut der Marktteilnehmer die Investition in eine Anlage, wenn diese im Nachhinein als Verlust veräußert und dadurch ein Fehler eingestanden werden muss. Die Reueaversion verstärkt demnach ebenfalls den Dispositionseffekt. Selbstkontrolle - In diesem Zusammenhang neigen Marktteilnehmer dazu, sich nicht an vorher festgelegte Kursniveaus zu halten, bei denen sie Verlustpositionen verkaufen würden, um dadurch ihren Investitionskapital vor weiteren Verlusten zu schützen. Beispiel 9.5: Verlustaversion Zur Verdeutlichung der Verlustaversion ist es ratsam, das bereits aufgeführte Beispiel 6.1 der selektiven Wahrnehmung noch einmal zu betrachten. In dem Beispiel handelte es sich um einen Marktteilnehmer, der nach langer Nachforschung in Presse und Unternehmensanalysen 100 Stammaktien des Abwicklers von Kreditkartenumsätzen erworben hat. Die sich einstellenden Verluste im Anschluss an die Investition lösten beim Marktteilnehmer zwar kognitive Dissonanzen aus, die Entscheidung für einen Verkauf mit entsprechender Verlustrealisierung konnte jedoch nicht gefällt werden. Der Marktteilnehmer blieb aufgrund seiner Verlustaversion bei seiner Investition in <?page no="258"?> 9.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs 257 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance der Hoffnung, die anfänglichen Verluste von mittlerweile 25 Prozent würden bald wieder aufgeholt. Seine Hoffnung bestätigte sich in der Folgezeit jedoch nicht, und so wuchsen die Verluste auf bis zu 50 Prozent seines Engagements an. Der Marktteilnehmer entschied sich nun, die Investition als langfristige Anlage zu betrachten, wodurch er teilweise die kognitiven Dissonanzen, die aufgrund der Buchverluste entstanden waren, verringern konnte. Im Ergebnis bewahrheiteten sich jedoch die renditeschädlichen Auswirkungen der Verlustaversion. Er akzeptierte die Buchverluste und verzichtete damit auf eine möglicherweise rentablere Neuanlage. Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Die Verlustaversion tritt wiederum sowohl bei privaten als auch bei institutionellen Anlegern auf. Neigung zum Festhalten an Verliereraktien und frühzeitigem Verkauf von Gewinneraktien Gewinnpositionen werden zu früh verkauft, Verlustpositionen dagegen zu lange gehalten. Die Abb. 62 zeigt die durchschnittliche Haltedauer von Wertpapieren in den Portfolios der Anleger, die im Rahmen einer Studie der UBS (2008) analysiert wurden. Fallende Aktien (Verliereraktien) verbleiben im Durchschnitt 124 Tage im Portfolio, bevor sie verkauft werden, während steigende Aktien (Gewinneraktien) im Durchschnitt nach 104 Tagen verkauft werden. Der Dispositionseffekt verdeutlicht, dass die Anleger aus psychologischen Gründen ihre Investitionen in Abhängigkeit davon bewerten, ob deren Wert nach dem Erwerb gestiegen oder gefallen ist (in Bezug auf den subjektiven Referenzpunkt). Folglich werden Verluste „laufen“ gelassen, während Gewinne durch den frühzeitigen Verkauf „begrenzt“ werden (vgl. Goldberg & von Nitzsch, 2000, S. 93 f.). Dieses Verhalten erhöht signifikant das Portfoliorisiko der Anleger und verringert die zu erwartende Rendite. Haltedauer von Verliereraktien im Durchschnitt 3 Wochen länger als von Gewinneraktien Abb. 62: Durchschnittliche Haltedauer von Verlierer- und Gewinneraktien (UBS Wealth Management Research, 2008) <?page no="259"?> 258 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Neigung zur häufigen Überprüfung der Depotstände und damit verbunden zu häufigem Handeln Überprüfen Anleger mit der Neigung zur Verlustaversion zu häufig ihre Depotstände, können sie zu häufigem Handeln verleitet werden. Dieses kurzfristig orientierte Anlageverhalten entspricht der Myopic Loss Aversion von Shlomo Benartzi und Richard Thaler beschrieben. Die Begriffsbezeichnung „myopic“ steht für Kurzsichtigkeit im Anlagehorizont des Marktteilnehmers (vgl. Pompian, 2006, S. 243). Wenn die Marktteilnehmer die Wertpapiere, in die sie investiert haben, zu oft überprüfen und diese zugleich auch eine hohe Volatilität aufweisen, dann sind die Marktteilnehmer öfter mit einem möglichen Verlust konfrontiert als mit Gewinnen, die sich u.U. erst über einen längeren Zeithorizont einstellen können. Die schädliche Wirkung des Dispositionseffektes tritt auch nach dem Verkauf der Gewinneraktien auf. Abb. 63 zeigt die Entwicklung von Gewinneraktien ein Jahr nach deren Verkauf. Es wird deutlich, dass die durchschnittliche Performance der Aktien in den zwölf Monaten nach dem Verkauf der Gewinneraktien erheblich höher ausfällt als die der im Portfolio verbliebenen Verliereraktien. So legten die verkauften Gewinneraktien im Durchschnitt um weitere 11,6 Prozent zu, während die Verliereraktien, die im Portfolio gehalten wurden, in den nachfolgenden Monaten nur um durchschnittlich 5 Prozent stiegen. Zu früh verkaufte Gewinneraktien entwickeln sich in der Folgezeit doppelt so gut wie Verliereraktien Abb. 63: Ertragsentwicklung Verlierer- und Gewinneraktien (Quelle: UBS Wealth Management Research, 2008) Das nachfolgende Beispiel verdeutlicht noch weiter die preisverzerrende Auswirkung des Dispositionseffektes auf den Kapitalmärkten. <?page no="260"?> 9.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs 259 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Beispiel 9.6: Auswirkung des Dispositionseffektes auf die Preisbildung Der Dispositionseffekt kann zu Abweichungen vom Fundamentalwert der Wertpapiere führen. Wenn viele Marktteilnehmer unrealisierte Gewinne und unrealisierte Verluste mit einem bestimmten Wertpapier erzielt haben, so tendieren die Marktteilnehmer u.U. nach positiven Nachrichten zum Verkauf des Wertpapiers, um ihre Gewinne zu realisieren. Folglich sinkt die Notierung des Wertpapiers, obwohl gute Fundamentaldaten eher zu steigenden Notierungen führen müssten. Mit positiven bzw. negativen Nachrichten sind solche gemeint, die eine entsprechende wirtschaftliche Auswirkung auf das Unternehmen erwarten lassen. Auf der anderen Seite wird ein Wertpapier, welches bereits durch sinkende Notierungen gekennzeichnet ist, von den Marktteilnehmern nicht mehr verkauft, da Verluste entsprechend dem Dispositionseffekt nicht realisiert werden. Folglich notiert der Kurs des Wertpapiers möglicherweise oberhalb seines gerechtfertigten Fundamentalwertes. Die Wissenschaftler Grinblatt und Han haben festgestellt, dass ehemalige Gewinneraktien in der Folge zur Unterbewertung tendieren, während ehemalige Verliereraktien zur Überbewertung neigen. Diese auch als Winner-Loser-Effekt bekannte Erscheinung wurde bereits 1985 von den Wissenschaftlern de Bondt und Thaler analysiert. Demnach entwickeln sich längerfristig ehemalige Verliereraktien überdurchschnittlich gut, ehemalige Gewinneraktien dagegen unterdurchschnittlich (vgl. Kapitel 4.3.3; vgl. Shleifer, 2000, S. 17). Neigung zu Kurzschlussreaktionen bei extrem erlebten Verlusten Die Risikoeinstellung der Anleger verändert sich u.U. mit der Zunahme einer Verlustbzw. Gewinnposition. Der Marktteilnehmer wird im Verlustbereich zunächst risikofreudig. Mit dem Erreichen extrem hoher Verluste wird der Anleger jedoch u.U. wieder risikoscheu und liquidiert seine Position schlagartig, um zum einen existenzielle Gefahren zu begrenzen und zum anderen das Reuegefühl, die falsche Entscheidung getroffen zu haben, dadurch zu begrenzen, dass er die Position komplett eliminiert (vgl. Goldberg & von Nitzsch, 2000, S. 98 ff.). Der Dispositionseffekt wurde in zahlreichen empirischen Studien untersucht. So hat Odean (1998) den Effekt für den amerikanischen Aktienmarkt bestätigt, Shapira und Venezia (2001) haben die Auswirkungen des Effektes an der israelischen Börse nachgewiesen. Viele andere Wissenschaftler haben den Dispositionseffekt zudem unabhängig vom Börsenplatz nachweisen können (vgl. Hens & Bachmann, 2008, S. 84). Der Dispositionseffekt steigt mit zunehmender Selbstverpflichtung zu dem eingegangenen Engagement. Er lässt sich an der Steigung der Wertfunktion im Verlustbereich erkennen, welche absolut deutlich größer ist als im Gewinnbereich. Status-Quo-Effekt Allgemeine Beschreibung Vergleichbar mit dem Besitztumseffekt erweist sich der Status-Quo-Effekt als eine Heuristik, die den Marktteilnehmer ebenfalls zu einer passiven Haltung tendieren lässt. Die <?page no="261"?> 260 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Erforschung des Besitztum-Effekts lieferte daher auch einen Großteil der theoretischen Erkenntnisse über den Status-Quo-Effekt, dessen Erforschung hauptsächlich durch die Wissenschaftler Samuelson und Zeckhauser (1988) erfolgte. Im Rahmen dieser Heuristik belassen Marktteilnehmer die Zusammensetzung ihrer Portfolios unverändert, obwohl eine Anpassung der Einzelgewichte infolge von Marktentwicklungen notwendig wäre. Diese Verhaltensweise kann die Verlustaversion der Marktteilnehmer verstärken, wenn sie an zunehmenden Buchverlusten festhalten. Der Grund für die Verlustaversion kann, wie bereits in Kap. 6.2 dargestellt, in der doppelten Wertigkeit von Verlusten gegenüber Gewinnen auf der Wertfunktion gesehen werden. Aus diesem Grund halten Marktteilnehmer an Verlusten fest statt die Wertpapiere zeitnah zu veräußern. Es hat sich gezeigt, dass diese Heuristik insbesondere von Marktteilnehmern verwendet wird, die es bevorzugen, wenn gegebene Sachverhalten relativ unverändert bleiben. Der Status-Quo-Effekt wird aufgrund der Präferenz, keine Veränderungen herbeizuführen, gerne von der Versicherungsindustrie verwendet, um die Haltedauer eines Versicherungsproduktes durch die Versicherungsnehmer länger aufrechtzuerhalten (vgl. Beispiel 9.7 Status-Quo-Effekt). Der Status-Quo-Effekt verstärkt sich insbesondere je mehr Alternativen zur Auswahl gestellt werden - so auch in der Fondsindustrie, wo der Anleger tendenziell bei einem bereits gewählten Produkt verbleibt, wenn ihm unübersichtlich viele Alternativen angeboten werden (vgl. Dowling/ Lucey, 2010, S. 313 ff.). Beispiel 9.7: Status-Quo-Effekt Anfang der 1990er Jahre reformierten New Jersey und Pennsylvania die Tarifbedingungen ihrer Kfz-Versicherungen. Es wurden zwei Arten von Versicherungen angeboten - eine teurere Versicherung mit zusätzlichen Mehrleistungen sowie eine günstigere ohne Mehrleistungen. Den Versicherungsnehmern wurde zunächst eine der beiden Versicherungen automatisch zugeordnet, sie hatten jedoch die Möglichkeit, die anfänglich zugeordnete Versicherung zu ändern. In New Jersey wurde die teurere Versicherung als „Opt out“-Möglichkeit vorgegeben. Hierbei haben die Versicherungsnehmer die Möglichkeit, sich, falls gewünscht, aktiv für eine andere Versicherung zu entscheiden. Tun sie das nicht, verbleiben sie in der ihnen zugeordneten Versicherung. In Pennsylvania wurde die günstigere Versicherung als „Opt out“ den Versicherungsnehmern vorgegeben. Wie man nun aufgrund der Wirkungsweise des Status-Quo-Effektes erahnen kann, ist der überwiegende Teil der Versicherungsnehmer in der ihnen jeweils zugeteilten Versicherung verblieben. Tatsächlich haben 70 Prozent der Versicherungsnehmer in New Jersey die teurere Versicherung behalten. In Pennsylvania sind 80 Prozent der Versicherungsnehmer in der ihnen zugeteilten, günstigeren Versicherung verblieben (vgl. Pompian, 2006, S. 248). Dieses Beispiel zeigt sehr eindrucksvoll, wie eine Heuristik zur Erhöhung des Produktabsatzes ausgenutzt werden kann. Wie mit den Heuristiken in der Anlageberatung beratungsqualitätsfördernd umgegangen werden kann, wird in Kapitel 10 im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. <?page no="262"?> 9.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs 261 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Neigung zur Erhöhung der Portfolioschädlichkeit durch Inaktivität Dies führt zur Verschlechterung des Risiko-Ertrags-Verhältnisses, da notwendige Anpassungen der Einzelgewichte nicht erfolgen, sowie an einer Anlage festgehalten wird, um die Zahlung von Transaktionskosten bzw. von Steuern hinauszuschieben. Neigung zur Verlustaversion ( Dispositionseffekt) Privatanleger laufen Gefahr, an Investitionen festzuhalten, die bereits einen Buchverlust aufweisen. Der Status-Quo-Effekt geht Hand in Hand mit der Verlustaversion, bei der Investitionen mit Buchverlusten nicht verkauft werden. Neigung zur Ambiguitätsaversion Privatanleger können durch diese Heuristik verstärkt zur Ambiguitätsaversion neigen. Demnach investieren sie verstärkt in Anlagen, die sie zu kennen glauben. Da die Marktteilnehmer sich mit bekannten Anlagen besser identifizieren können, halten sie auch dann an ihnen fest, wenn die Anlagen lediglich geringe Renditen erwirtschaften. Der Status-Quo-Effekt führt dazu, dass Marktteilnehmer die Zusammensetzung ihrer Portfolios unverändert belassen, obwohl eine Anpassung der Einzelgewichte im Zuge von Marktveränderungen notwendig wäre. Er verstärkt die Verlustaversion, die Ambiguitätsheuristik und auch den Besitztumseffekt. 99..2 2..2 2 FFeehhl leeiinnssc chhäättz zuunng g ddeerr eei iggeenne enn FFä ähhiiggkkeeiitteenn ((uu..a a.. RReeuueeaavveerrssi ioonn) ) Selbstkontroll-Effekt Allgemeine Beschreibung Der Selbstkontroll-Effekt (Self-Control Bias, Thaler und Shefrin, 1981) steht für die Schwäche des Marktteilnehmers, nicht immer konsequent und ohne Unterbrechung ein Investitionsziel wie z.B. die Altersvorsorge zu verfolgen. Der Marktteilnehmer benötigt Selbstdisziplin u.U. durch externe Unterstützung, um gesetzte Ziele erreichen zu können. Der Selbstkontroll-Effekt verdeutlicht zudem die Neigung des Marktteilnehmers, Investitionen zu bevorzugen, die eine Dividende generieren. Auf diese Weise kann der Marktteilnehmer der Versuchung wiederstehen, Aktien zu verkaufen, um damit seine Konsumwünsche zu befriedigen. Dividendenzahlungen werden von vielen Marktteilnehmern geschätzt, da diese ihnen eine kontinuierliche Liquiditätsquelle sichern, ohne dafür das Anlagekapital aufzehren zu müssen (vgl. Ben-David, 2010, S. 442 ff.). Der Selbstkontroll-Effekt kann am besten über die Lebenszyklus-Hypothese verdeutlicht werden. Hierbei handelt es sich um eine Theorie rationaler Verhaltensweise, welche die Spartätigkeit der Marktteilnehmer in den einzelnen Lebenszyklen in den Vordergrund rückt. Die Grundlage der Lebenszyklus-Hypothese bildet die Entscheidung, das Einkommen zwischen Konsumausgaben und Sparen aufzuteilen. Die Investition bzw. das Sparen steht für den künftigen Konsum zu Lasten des heutigen Konsums. Die Motivation eines kontinuierlichen und disziplinierten Sparverhaltens liegt vornehmlich <?page no="263"?> 262 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance darin, dass der Marktteilnehmer eine signifikante Einkommenseinbuße mit Renteneintritt erwarten muss, die durch die Sparanstrengungen ausgeglichen werden soll. Nach der Lebenszyklus-Hypothese von Modigliani und Brumberg (1954) wird das Sparverhalten der Marktteilnehmer durch zwei Eigenschaften bestimmt: [1] Die meisten Marktteilnehmer bevorzugen einen höheren Lebensstandard über einen niedrigeren, d.h. sie wollen ihre gegenwärtigen Konsumausgaben maximieren. [2] Die meisten Marktteilnehmer bevorzugen einen relativ konstanten Lebensstandard über ihren gesamten Lebensverlauf. Sie mögen keine Schwankungen. Auf Basis dieser Erkenntnisse entwickelten Shefrin und Thaler die verhaltensbasierte Lebenszyklus Theorie (Behavioral Life-Cycle Theory, 1998). Es handelt sich hierbei um ein deskriptives Modell, in dem die Selbstkontrolle des Marktteilnehmers in seinen Sparanstrengungen im Vordergrund steht. Dadurch, dass die Selbstkontrolle in den Vordergrund gestellt wird, soll verhindert werden, dass der Marktteilnehmer zu Lasten des künftigen Konsums, heute schon sein mögliches zukünftiges Einkommen bzw. Vermögen konsumiert. Die Annahme des Modells basiert darauf, dass die Marktteilnehmer im Gegensatz zur neoklassischen Sichtweise ihre Vermögenspositionen (regelmäßiges Einkommen vs. Vermögen) als nicht austauschbar ansehen und diese in Abhängigkeit der Einkommensart und -höhe sowie von der Häufigkeit des auftretenden Zahlungsstromes in drei vermentale Konten unterteilen - aktuelles Einkommen, gegenwärtiges Vermögen und künftiges Einkommen. Während mentale Konten üblicherweise für jedes Entscheidungsproblem neu eingerichtet werden, bestehen diese in der Behavioral Life- Cycle Theory als dauerhafte Strukturen. Die Einteilung der Zahlungsströme in unterschiedliche mentale Konten soll zur Steigerung der Selbstkontrolle beitragen. Die Versuchung, zu konsumieren, wird im aktuellen Einkommen als am größten, im künftigen Einkommen als am geringsten vermutet. Empirische Untersuchungen resultierten in wertvollen Erkenntnissen, die erst durch die Behavioral Life-Cycle Theory erklärbar wurden. So wurde ermittelt, dass Marktteilnehmer im Rentenalter eine viel stärkere Präferenz für Dividendenzahlungen aufweisen. Durch die wiederkehrenden Dividendenzahlungen soll der gegenwärtige Konsum aus dem Konto „aktuelles Einkommen“ gesichert werden, wobei das aktuelle Vermögen als Investitionssumme aufgrund von Nutzenabschlägen nicht angetastet werden soll (vgl. Kap 11.2). Der Nutzenabschlag steht hierbei für die psychischen Anstrengungen, die aufgewendet werden müssten, um gegen die als vernünftig erachtete Verhaltensweise zu verstoßen (vgl. Pompian, 2006, S. 151 f.). Beispiel 9.8: Selbstkontroll-Effekt Thaler und Benartzi entwickelten das „Save More Tomorrow Program, 1988 (SMTP)“, um Arbeitnehmern beim Aufbau eines kontinuierlichen und nachhaltigen Sparplans zu helfen. 22 Das Programm basiert auf den folgenden vier Säulen: 22 Siehe dazu auch Kapitel 12. <?page no="264"?> 9.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs 263 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1) Angestellte werden um eine Erhöhung ihrer Beiträge gebeten, lange bevor die Einzahlung der erhöhten Beiträge beginnt. 2) Die Einzahlungen der Programm-Teilnehmer werden automatisch erhöht, sobald sie das Programm beginnen. 3) Die Einzahlungshöhe der Programm-Teilnehmer steigt automatisch nach einem vereinbarten Plan, bis die vereinbarte Einzahlungshöchstgrenze erreicht ist. 4) Programm-Teilnehmer können jederzeit aus dem Programm aussteigen. Die Beteiligungsraten von Mitarbeitern am SMTP lassen sich eindrucksvoll durch die Gegenüberstellung der Beteiligungsraten mit einem herkömmlichen Altersvorsorgeprogramm darstellen. Vor der Einführung des SMTP war die Beteiligung der Mitarbeiter am herkömmlichen betriebsinternen Altersvorsorgeprogramm sehr gering. Der Arbeitgeber bot 315 Mitarbeitern die Konsultation mit einem Altersvorsorge-Berater an. 286 der 315 willigten in diese Beratung ein. Der Altersvorsorge-Berater kalkulierte für jeden Arbeitnehmer die individuelle Erhöhung seiner gegenwärtigen Sparrate. War ein Angestellter nicht bereit, die Sparrate erheblich zu erhöhen, so sollte diese um max. 5 Prozent erhöht werden. Lediglich 28 Prozent der 286 Mitarbeiter stimmten dem Sparvorhaben auf Basis der Beratungen zu. Den restlichen 72 Prozent (162 Mitarbeiter) wurde nun das SMTP angeboten. Dieser unterschied sich vom herkömmlichen Altersvorsorgeprogramm, indem die Sparrate nicht um 5 Prozent, sondern um 3 Prozentpunkte p.a. erhöht wurde. Zudem würde die Steigerung erst mit der nächsten Lohnerhöhung beginnen und sukzessive mit jeder Lohnerhöhung um weitere 3 Prozentpunkte zunehmen. Obwohl die Steigerungsrate in diesem Fall wesentlich aggressiver war, willigten 78 Prozent der verbliebenen 162 Mitarbeiter ein. 23 Die Mehrheit der 162 Mitarbeiter blieb im Programm als, wie vereinbart mit der nächsten Lohnerhöhung, die zuvor festgelegte Erhöhung der Sparrate aktiviert wurde. Lediglich 4 Mitarbeiter stiegen vor der zweiten Lohnerhöhung aus und 29 vor der dritten Lohnerhöhung. Die Beteiligungsrate zeigt eindrucksvoll, dass die überwiegende Mehrheit von ca. 80 Prozent der 162 Mitarbeiter über drei Lohnerhöhungen und den damit verbundenen Steigerungen der Sparrate um 9 Prozentpunkte im Programm verblieben ist. Die Mitarbeiter, die aus dem Programm ausgestiegen sind, reduzierten ihre Einzahlungen nicht, sie beteiligten sich lediglich nicht mehr an künftigen Erhöhungen der Sparrate (vgl. Pompian, 2006, S. 153 f.). Das Beispiel verdeutlicht, wie bei Marktteilnehmern durch die Beachtung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse die mangelnde Selbstkontrolle verbessert werden kann. 23 Zur Verdeutlichung der Erhöhung der Sparrate um x-Prozent vs. x-Prozentpunkte: Die aktuelle Sparrate beträgt 10 Prozent des verfügbaren Einkommens. Wird sie, wie im Beispiel, um 5 Prozent erhöht, steigt die Sparrate auf 10,5 Prozent. Wird die Sparrate dagegen um 3 Prozentpunkte erhöht, steigt die Sparrate auf 13 Prozent. <?page no="265"?> 264 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer Neigung, zu Lasten künftiger Sparziele zu konsumieren Marktteilnehmer, insbesondere Privatanleger, laufen Gefahr, zu Lasten künftiger Sparziele zu viel im gegenwärtigen Augenblick zu konsumieren. Die Schwäche der Marktteilnehmer, diszipliniert zu sparen, kann dazu führen, dass die Zielsetzung einer durchdachten Altersvorsorge gefährdet wird. Steht der Renteneintritt für einen Marktteilnehmer mit der Schwäche zur Selbstkontrolle kurz bevor, so besteht die Gefahr, dass die Risikoneigung stark zunimmt, um die notwendige Rendite doch noch zu erreichen. Neigung zur Vernachlässigung empfohlener Portfoliodiversifikation Privatanleger können aufgrund des Selbstkontroll-Effektes unzureichend diversifizierte Portfolios aufbauen und grundlegende Investitionsprinzipien (u.a. Zinseszins- Effekt) verletzen. Manche Investoren bevorzugen Anlagen, die ihnen unterjährig Rendite für Konsumwünsche generieren. Sie überladen ihre Depots mit zinsgenerierenden Anlagen wie Anleihen und laufen Gefahr, das reale Investitionsvermögen aufgrund der Inflation zu gefährden. Der Selbstkontroll-Effekt steht für die Schwäche des Marktteilnehmers, nicht immer konsequent und ohne Unterbrechung ein Investitionsziel wie z.B. die Altersvorsorge zu verfolgen. Er führt zu unausgewogener Depotzusammensetzung und Missachtung grundsätzlicher Investitionsprinzipien, wie den Zinseszins-Effekt. Reueaversion Allgemeine Beschreibung Diese Anomalie im Investitionsverhalten steht für das Bestreben des Marktteilnehmers, möglichst keine Fehlentscheidungen zu treffen, die man im Nachhinein bereuen könnte. Diese Verzerrung kann einerseits auftreten, wenn der Marktteilnehmer eine falsche Entscheidung getroffen hat, und andererseits, wenn er eine im Nachhinein richtige Entscheidung nicht getroffen hat. Zudem wurde festgestellt, dass die Reueaversion mit zunehmender Beobachtung durch Dritte an Stärke gewinnen kann (Shefrin/ Statman, 1985). Das Bedauern verdeutlicht die Verantwortung für die entstandenen Verluste einerseits oder die verpassten Gewinne andererseits, wenn der Anleger zu zögerlich ist, eine Anlage zu tätigen. Selbst Markowitz konnte sich den Zwängen der emotionalen Folgen der Anlageentscheidungen nicht entziehen und investierte seine Beiträge in die private Rentenvorsorge der Reueaversion unterliegend: „My intention was to minimize my future regret. So I split my contributions fifty-fifty between bonds and equities.“ (Markowitz, zit. nach Shefrin, 2000, S. 31) Um das Bedauern, steigende Kurse verpasst zu haben, zu vermeiden, werden z.B. Anlagen mit Dividendenzahlungen favorisiert, um mit den Ausschüttungen die Konsumwünsche zu finanzieren und die Anlage behalten zu können (vgl. Shefrin, 2000, S. 31). <?page no="266"?> 9.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs 265 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Auswirkungen der Reueaversion sind auch im Bezug auf die mentale Buchführung ersichtlich. Der Marktteilnehmer führt in der Regel „zahlungswirksame“ Konten, auf denen die Gewinne und Verluste verbucht werden. Vereinzelt werden aber auch „nicht zahlungswirksame“ mentale Konten geführt, welche die fiktiven Zahlungen registrieren, die sich ergeben hätten, wenn eine bestimmte Entscheidung (z.B. der frühe Verkauf einer Aktie) nicht getroffen worden wäre. 24 Beispiel 9.9: Reueaversion Zur Verdeutlichung der Reueaversion (Regret Aversion) soll die Verhaltensweise des folgenden Marktteilnehmers dargestellt werden. Ein Marktteilnehmer entscheidet sich nach intensiver Beobachtung der medialen Berichterstattung dazu, in die Aktien des Computerherstellers Apple Inc. zu investieren. Bedingt durch gute Quartalszahlen steigen seine Anteile in kurzer Zeit um 20 Prozent. Nach einer Weile wird jedoch ersichtlich, dass die Aktie auf hohem Niveau stagniert, was in ihm die Befürchtung einer nahenden Kurskorrektur weckt. Er entscheidet sich daher zum Verkauf seiner Anteile, nachdem diese bereits um 5 Prozent nachgegeben haben. Seine Erwartung scheint sich kurz nach dem Verkauf zu bestätigen, da die Aktie tatsächlich weiter sinkt. In diesem Sinne verändert sich auch direkt seine Wahrnehmung, mit der Folge, dass er nun nur noch negative Nachrichten sucht, die seine Entscheidung weiter bestätigen (selektive Wahrnehmung). Ebenso verspürt der Marktteilnehmer eine tiefe innere Genugtuung, da er im Beisein Dritter die Wertpapiere veräußert hat und die Entscheidung entsprechend als sein Können präsentieren konnte. Zu seiner Überraschung und nachträglichen Enttäuschung beginnt die Aktie von Apple dann allerdings wieder zu steigen. Sein Bedauern hält sich bis zum Erreichen seines Verkaufskurses noch in Grenzen, nach dessen Überschreiten verstärkt sich sein Bedauern aber zunehmend. Der Marktteilnehmer hat bereits ein neues „nicht zahlungswirksames“ mentales Konto eröffnet, in dem nun die „verpassten“ Gewinne verbucht werden. Risiko-/ renditeschädliches Verhalten der Marktteilnehmer In der Praxis ist das oben dargestellte Beispiel ein sehr oft zu beobachtendes Verhaltensmuster. Erhöhung der Portfolioschädlichkeit durch Neigung zu risikoarmen Anlagen Reueaversion kann die Risikoaversität der Marktteilnehmer in ihren Investmententscheidungen ansteigen lassen. Dies ist insbesondere die Folge früherer Verluste, die dem Marktteilnehmer die Risiken der Anlagen verdeutlicht haben. Langfristig führt diese Verhaltensweise aufgrund sicherheitsbedachter Investitionen zu einer begrenzten Portfoliorendite. Erhöhung der Portfolioschädlichkeit durch Inaktivität bei extremen Gewinnen Die Portfolioschädlichkeit kann auch dann erhöht werden, wenn der Anleger übermäßig lange an „Gewinneraktien“ festhält und keine Gewinne „realisiert“. In diesem 24 Dies kann auch im Zuge der Verschiebung von Referenzpunkten geschehen. <?page no="267"?> 266 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Fall könnten entsprechend den in Kapitel 4.3.3 analysierten Marktanomalien (Winner-Loser-Effekt) die Gewinneraktien langfristig ihre Gewinne abgeben und ihre Überbewertung abbauen. Neigung zur Verlustaversion Dispositionseffekt Betroffene Anleger versuchen eine falsche Investitionsentscheidung zu verdrängen. Aus diesem Grund neigen sie zum Festhalten an Verliereraktien, weil sie sich die Fehlentscheidung nicht eingestehen wollen. Die risikoschädliche Wirkung dieses Verhaltens wurde oben bereits ausführlich beschrieben. Neigung zum Herdenverhalten Reueaversion kann zudem zum Herdenverhalten führen, wenn Anleger den Schutz der Meinung anderer Marktteilnehmer suchen, um eine Investitionsentscheidung zu fällen und auszuführen. Durch die Beachtung des Verhaltens der Masse versuchen die Anleger, künftige Reue zu begrenzen, da bei einer Fehlentscheidung nicht nur sie alleine die falsche Entscheidung getroffen haben. Die hierdurch hervorgerufene Erhöhung des Portfoliorisikos ist im Anbetracht der geplatzten Dotcom-Spekulationsblase gut nachvollziehbar. Neigung zur kognitiven Dissonanz Anleger bewerten bei Reueaversion nicht nur, wie viel Gewinn ihnen aufgrund eines zu frühen Ausstieges entgeht, sondern auch wie viel Verlust sie womöglich ersparen, weil sie rechtzeitig aus einer Aktie ausgestiegen sind. Die Voraussetzung für das Führen eines nicht zahlungswirksamen Kontos ist demnach, dass der Marktteilnehmer nachvollziehen kann, zu welchem Erfolg beziehungsweise Misserfolg die andere, nicht gewählte Alternative geführt hätte. So tritt an die Stelle eines Verlustes der entgangene Gewinn, der relative Gewinn wird dagegen durch den ersparten Verlust ersetzt. Eine kognitive Dissonanz entsteht nun, wenn der Marktteilnehmer eine Entscheidung gegen eine Alternative getroffen hat, welche im Nachhinein einen Gewinn erbracht hätte. Die Intensität der Reueaversion ist abhängig von der Intensität der Selbstverpflichtung (vgl. Goldberg & von Nitzsch, 2000, S. 147). Die Anomalie der Reueaversion im Investitionsverhalten steht für das Bestreben des Marktteilnehmers, möglichst keine Fehlentscheidungen zu treffen, die man im Nachhinein bereuen könnte. Diese Heuristik ruft zudem Konservatismus und Herdenverhalten hervor. <?page no="268"?> 9.3 Einschätzung der Risiko-/ Renditeschädlichkeit betrachteter Heuristiken 267 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 99..33 EEiinnsscchhäättzzuun ngg d deer r R Riis siikkoo- -/ / RReen nddiit tees scchhääddlliicchhkkeei it t bbe et trraacchhtteet teerr HHeeu urriis sttiikkeen n <?page no="269"?> 268 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance <?page no="270"?> 9.4 Überblick im Informations- und Entscheidungsprozess betrachteter Heuristiken 269 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 99..44 ÜÜb beer rbbl li ic ckk i im m IInnffoorrmmaattiio onnss- uun ndd E Ennttsscchheei idduun nggsspprrooz zees sss bbeettrraacchh-tteet teer r H Heeu ur riis sttiik keen n In den Kapiteln 7 bis 9 wurden die wichtigsten Heustistiken im Informations- und Entscheidungsprozess eingehend analysiert und deren risiko-/ renditeschädliche Auswirkung über den RRS-Index dargestellt. In der nachfolgenden Abbildung werden die RRS- Indexwerte der einzenen Heuristiken im Überblick dargestellt. Abb. 64: Überblick RRS-Indexwerte betrachteter Heuristiken (eigene Darstellung) Die RRS-Indexwerte der einzelenen Heurstiken werden maßgeblich von den zusätzlich hervorgerufenen unmittelbaren Heuristiken beeinflußt. In der nachfolgenden Darstellung sind die im Informations- und Entscheidungsprozess betrachteten Heurstiken in vier Gruppen eingeteilt - je nachdem wieviele unmittelbaren Folgeheurstiken verursacht werden (0-1-2-3). Es wird zudem ersichtlich, dass eine Reihe von Heurstiken nicht nur unmittelbare, sondern auch mittelbare Folgeheuristiken aufweisen. So führt der Besitztumseffekt unmittelbar zum Status-Quo-Effekt. Der Status-Quo-Effekt führt jedoch zu zwei weiteren Heuristiken - dem Dispositionseffekt und der Ambiguitätsaversion. Die risiko-/ renditeschädliche Auswirkung wird zudem durch die von der Ambiguitätsaversion verursachten Folgeheurstiken (Home Bias, Verfügbarkeit und Selbstüberschätzung) verstärkt. <?page no="271"?> Abb. 65: Überblick unmittelbar/ mittelbar hervorgerufener Heuristiken (eigene Darstellung) 270 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance <?page no="272"?> Zusammenfassung 271 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Z Zuussaammmmeennffaassssuunngg Wie in den vorangegangenen beiden Kapiteln ist auch die Phase der Investitionsentscheidung durch die Anwendung von Heuristiken gekennzeichnet. Im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden Phasen überwiegen hier jedoch die Heuristiken emotionalen Ursprungs. Fehleinschätzung der objektiven Realität Die selektive Entscheidung hat die Zielsetzung, eine frühere Entscheidung, welche unter hoher Selbstverpflichtung getroffen wurde, auf jeden Fall zum gewünschten Erfolg zu führen. Diese Heuristik verstärkt den Dispositionseffekt und den Sunk- Cost-Effekt. In der Kategorie Heuristiken emotionalen Ursprungs können die nachfolgend aufgeführten wie folgt zusammengefasst werden. Der Besitztumseffekt beschreibt die Neigung der Marktteilnehmer, den Wert einer Anlage höher einzuschätzen, wenn sie diese in ihrem Besitz haben, als wenn sie die Anlage noch nicht erworben haben. Sie zögern Wertpapiere zu verkaufen und riskieren dadurch eine entsprechende Verringerung der Portfoliorentabilität. Der Optimismus-Effekt kennzeichnet die Verhaltensweise der Marktteilnehmer, positive Marktentwicklungen als wahrscheinlicher einzuschätzen als negative. Diese Heuristik ruft zudem Selbstüberschätzung sowie Investitionen in geografisch oder anderweitig bekannten Gebieten hervor. Der Dispositionseffekt steigt mit zunehmender Selbstverpflichtung zu dem eingegangenen Engagement. Er lässt sich an der Steigung der Wertfunktion im Verlustbereich erkennen, welche absolut deutlich größer ist als die im Gewinnbereich. Der Status-Quo-Effekt führt dazu, dass Marktteilnehmer die Zusammensetzung ihrer Portfolios unverändert belassen, obwohl eine Anpassung der Einzelgewichte im Zuge von Marktveränderungen notwendig wäre. Er verstärkt die Verlustaversion, die Ambiguitätsheuristik und auch den Besitztumseffekt. Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten Die Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten tritt sowohl bei Heuristiken kognitiven als auch emotionalen Ursprungs auf. Innerhalb der Heuristiken kognitiven Ursprungs führt die Selbstattribution dazu, dass die Marktteilnehmer Erfolg ihrem eigenen Können zuschreiben, für Misserfolg jedoch andere, äußere Umstände verantwortlich machen. Zudem führt der Rückschau-Effekt dazu, dass Marktteilnehmer im Nachhinein glauben, die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines Ereignisses höher eingeschätzt zu haben, als dies tatsächlich vor Eintreten des Ereignisses der Fall war. Daher lernen sie nicht aus ihren Fehlern. Bei den Heuristiken emotionalen Ursprungs steht der Selbstkontroll-Effekt für die Schwäche des Marktteilnehmers, nicht immer konsequent und ohne Unterbrechung ein Investitionsziel wie z.B. die Altersvorsorge zu verfolgen. Er führt zu <?page no="273"?> 272 9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung unausgewogener Depotzusammensetzung und Missachtung grundsätzlicher Investitionsprinzipien, wie dem Zinseszins-Effekt. Darüber hinaus steht die Reueaversion für das Bestreben des Marktteilnehmers, möglichst keine Fehlentscheidungen zu treffen, die man im Nachhinein bereuen könnte. Diese Heuristik ruft zudem Konservatismus und Herdenverhalten hervor. <?page no="274"?> Schlussbetrachtung Abschnitt III 273 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance SSc chhl luussssbbeettrra acchht tuunngg AAbbsscchhnniitttt IIIIII Im dritten Abschnitt dieses Buches wurde deutlich, dass der Marktteilnehmer innerhalb des Informations- und Entscheidungsprozesses kognitiven wie emotionalen Beschränkungen unterliegt. Die Behavioral-Finance-Forschung brachte mit der Prospect Theory ein erstes Grundgerüst zur Bewertung der Verhaltensweisen der Marktteilnehmer hervor. Es liegt nun an der weiteren Forschung, die gesammelten Ergebnisse zu fundieren und durch robuste Modelle zu erweitern, die den Marktteilnehmer 25 nicht aus dem Blick lassen - den Marktteilnehmer, der bestimmte emotionale und kognitive Einflüsse nicht ausschalten kann. Aufgrund der Einschränkungen im Informations- und Entscheidungsprozess nutzt der Marktteilnehmer Faustregeln, um die Informationen, die er für seine Entscheidung benötigt, auf im Lichte begrenzter Ressourcen effiziente Art und Weise zu selektieren. Hierbei können systematische Verzerrungen auftreten, die dem Umstand geschuldet sind, dass der Homo Oeconomicus Humanus im Rahmen seiner Entscheidungsfindung sich der Heuristiken je nach Ursprung nur schwer entziehen kann. Die Portfolioschädlichkeit erweist sich je nach angewandter Heuristik als unterschiedlich stark. Dies ist zum einen dem Umstand geschuldet, dass bestimmte Heuristiken, wie der Besitztumseffekt, weitere Heuristiken unmittelbar als auch mittelbar hervorrufen können. Ein weiterer Treiber für die zunehmende Portfolioschädlichkeit ist der emotionale Ursprung einzelner Heuristiken. Diese lassen sich i.d.R. nicht durch verbesserte Informationen beheben und treten, wie z.B. durch wiederkehrende Spekulationsblasen ersichtlich, immer wieder, sozusagen gegen besseres Wissen, auf. So erweist sich im Informations- und Entscheidungsprozess die Ambiguitätsaversion mit einem RRS-Indexwert von 8 als die risiko-/ renditeschädlichste Heuristik. Diese Heuristik ruft bei der Anwendung drei weitere Heuristiken (Home Bias, Verfügbarkeit und Selbstüberschätzung) hervor. Weitere besonders portfolioschädliche Heuristiken mit einem RRS-Indexwert von 8 sind der Optimismus-Effekt und die Reueaversion. Diese rufen zwar nicht drei, sondern nur zwei unmittelbare Heurstiken hervor, denen allerdings aufgrund der emotionalen Art schwer zu begegnen ist. Der Abschnitt III konnte aufzeigen, dass das beobachtbare Verhalten der Marktteilnehmer aus dem verhaltenswissenschaftlichen Blickwinkel erklärbar ist. Die tiefere Ursache für die Anwendung von Heuristiken, jenseits der reinen Ressourcenoptimierung, blieb bislang jedoch ungeklärt. U.a. hier setzt der vierte und letzte Abschnitt dieses Buches im Zusammenhang mit anderen Erweiterungen der Behavioral Finance an. Eine der Zielsetzungen besteht darin, die Ursache für die Anwendung von Heuristiken zu eruieren. Forschungsergebnisse zeigen, dass neuronale Prozesse im menschlichen Gehirn maßgeblich an portfolioschädigenden Verhaltensweisen der Marktteilnehmer beteiligt sind. 25 Es ist anzunehmen, dass in Zukunft auch andere Akteure an Finanzmärkten einer Analyse entsprechend der Behavioral-Finance-Ansätze unterzogen werden. Zu denken ist dabei u.a. an Wertpapierhändler und Finanzierungsspezialisten in Unternehmen. <?page no="276"?> 9.4 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance A Abbsscchhnniitttt I IVV -- AAnnwweenndduunnggssbbeer re eiicchhe e uunndd WWeeiitteerreen nttwwi icckklluunngg ddeerr BBeeh ha avviioorraall FFi innaannccee 1100 AAnnwweennddu unngg dde err BBe ehhaavviioorra all FFiinnaannccee iinn dde err AAn nllaaggeebbe er raattu unngg Der vierte Abschnitt dieses Buches steht u.a. im Zeichen der Anwendung der Erkenntnisse der Behavioral Finance auf ausgewählte Themenbereiche wie die der Anlageberatung im Rahmen des Wealth Managements. Nach Durcharbeiten dieses Kapitels werden Sie beispielhaft erkennen, in welcher Intensität sowohl beratene als auch beratende Marktteilnehmer in ihrer Entscheidungsfindung durch die Anwendung von Heuristiken beeinflusst werden können. Dabei werden Sie Möglichkeiten zur Begrenzung risiko-/ renditeschädlichen Verhaltens in Abhängigkeit der Vermögenssituation des Anlegers und dem Ursprung der Heuristik kennenlernen. Im Weiteren werden in diesem Kapitel für jede einzelne Heuristik Maßnahmen vorgestellt, welche die Erhöhung der Beratungsqualität (im Sinne einer kundengerechten Darstellung von Renditen und Risiken) zum Ziel haben. Im Zuge der Insolvenz von Lehman Brothers im Jahr 2008 und aufgrund der danach folgenden Verwerfungen an den internationalen Finanzmärkten wurde das Vertrauen der Bankkunden in die Geschäftstätigkeit der Banken signifikant untergraben. Die Kreditinstitute sahen sich in der Folgezeit mit verstärkten regulatorischen Maßnahmen und veränderten Kundenbedürfnissen konfrontiert. Zusatzkosten, resultierend aus diesen regulatorischen Anforderungen, und die Präferenz für Bankprodukte, die aufgrund der steigenden Risikoaversion nachgefragt wurden, ließen die Erträge aus der Beratung von Anlegern erheblich sinken. Der Erfolg des Wealth Managements beruht ganz wesentlich auf der wahrgenommenen Qualität der Dienstleistungen, die allerdings aufgrund identischer Grundkonzepte nahezu austauschbar sind. Wettbewerbsentscheidend sind daher die Art der Beratung und die Fähigkeit, den Anleger zu verstehen und sein Vertrauen zu gewinnen. Bankdienstleistungen werden zwar überwiegend mit rationalen Argumenten beworben, die Entscheidung des Anlegers basiert oft jedoch auf emotionalen Empfindungen. Emotionen können, wie in Kapitel 5 gezeigt, zu langanhaltenden Spekulationsblasen führen bzw. den Informations- und Entscheidungsprozess des einzelnen Marktteilnehmers empfindlich beeinflussen (vgl. Abschnitt III). Laut einer Studie (vgl. Der Schweizer Bankenmarkt 2015) der Beratungsgesellschaft Accenture und des Verbands Schweizerischer Kantonalbanken (VSKB) im Jahr 2010 ist die Differenzierung der Kreditinstitute im Segment Wealth Management über die Verbesserung der Beratung sowie über eine stärkere Markenwahrnehmung wettbewerbsentscheidend. Die befragten Institute (24 Kantonalbanken sowie 14 Vertreter von Raiffeisen-, Regional-, Privat- und Großbanken) messen darüber hinaus den Produktinnovationen als Differenzierungsfaktor gegenüber dem Wettbewerb eine große Bedeutung bei. <?page no="277"?> 276 10 Anwendung der Behavioral Finance in der Anlageberatung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance In diesem Sinne erhält auch die Anwendung der Behavioral Finance eine besondere Bedeutung. Sie ermöglicht den Kreditinstituten, sich aus der Anonymität der Bankdienstleistungen zu lösen. Mittlerweile lässt sich die Anwendung der Erkenntnisse der Behavioral Finance durch ihre verstärkte Einbindung in die Kundenberatung erkennen. So wendet die Schweizer Großbank Credit Suisse die Erkenntnisse der Behavioral Finance bereits systematisch in ihrem Beratungsprozess an. Der Beratungsprozess gliedert sich in fünf Stufen - Stufe 1: Bedür fnisa nal yse, Stufe 2: F in an zkon zep t, St ufe 3: An leg er prof il , S tufe 4: Investm ent Strategie und Stufe 5: Umsetzung. Die Erkenntnisse der Behavioral Finance halten insbesondere in den Stufen 2, 3 und 4 Einzug. mentale Buchführung beachtet. Während Marktteilnehmer im Sinne der mentalen Buchführung u.a. zwischen realisierten Verlusten und Buchverlusten unterscheiden, bedient sich die Credit Suisse dieser Heuristik, um das zur Verfügung stehende Anlagevermögen zwischen dem zweckbestimmten Anlagevermögen und dem frei verfügbaren Anlagevermögen zu unterscheiden. Hierdurch wird gewährleistet, dass die Bedienung von Verbindlichkeiten durch die Ertragsgenerierung aus dem zweckbestimmten Anlagevermögen sichergestellt ist. Auf diese Weise kann der Anleger sicher sein, dass das zweckbestimmte Anlagevermögen nicht gefährdet wird, wenn es zur Festlegung der Investmentstrategie für das frei verfügbare Anlagevermögen kommt. Im dritten Prozessschritt, Bestimmung des Anlegerprofils, werden die Risikofähigkeit und die Risikotoleranz des Anlegers mit Hilfsmitteln aus der Behavioral Finance bestimmt. Hierbei liefert der Einsatz der We Prospect Theory wichtige Erkenntnisse über die Risikotoleranz des Anlegers. Auch wenn ein Anleger finanziell in der Lage ist, Risiken einzugehen, kann seine Risikotoleranz gegen ein bestimmtes Investment sprechen. Ist er nicht gewillt, einen bestimmten Verlust emotional zu tolerieren, kann die einseitige Betrachtung der rein monetären Risikofähigkeit zu einer subjektiv falschen Anlageberatung führen. Außerdem werden die Erkenntnisse des Herdenverhaltens in Stufe 4, Investment Strategie, angewendet. Hierbei zielt man ab auf die Makrophänomene aus Kapitel 4. Zum einen wird die Momentum-Strategie angewendet, wenn Gewinneraktien weiter steigende Notierungen erwarten lassen. Diese Strategie wurde von den Analysten Güller, Weiss und Oetiker der Credit Suisse konzipiert und für einen Investitionszeitraum von ca. zehn Monaten als attraktiv erachtet. Eine weitere Strategie befasst sich für einen längeren Anlagehorizont von bis zu vier Jahren mit der Annäherung der Wertpapierbewertung an ihren Fund Mean-Reversion-Effekt von extremen Gewinner- und Verliereraktien ausgenutzt. Dabei soll die einsetzende Erholung von Verliereraktien bzw. der einsetzende Kursrückgang von Gewinneraktien antizipiert werden. <?page no="278"?> 10.1 Überblick über begrenzt rationales Verhalten in der Anlageberatung 277 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1100..11 ÜÜbbeer rbblliicckk üüb beer r bbeeggrreennzztt rraattiioonnaalleess VVeerrhhaalltteenn iinn ddeerr AAnnllaaggee-bbeerraattuunngg Das nachfolgende Unterkapitel gibt einen Überblick über die begrenzt rationalen Verhaltensweisen im Wealth Management und im Private Equity. Der Fokus liegt hierbei in der Unterscheidung von welchem Marktteilnehmer (Anlageberater vs. Anleger bzw. General Partner als Investmentmanager vs. Limited Partner als Investor) die Heuristiken angewendet werden und welchen Ursprung die Heuristiken haben. Die Kenntnis insbesondere über den Ursprung der Heuristik (kognitiv oder emotional) ist wichtig, um die risiko-/ renditeschädliche Auswirkung während des Informations-/ und Entscheidungsprozesses gegebenenfalls abschwächen zu können. Die Kenntnis über den Ursprung der Heuristik kann in zweifacher Hinsicht hilfreich sein. Zum einen hilft sie bei der Entscheidung, auf welche Weise die risiko-/ renditeschädlichen Auswirkungen auf das Verhalten des Marktteilnehmers verringert werden können und zum anderen hilft sie bei der Abwägung, ob bei einem kognitiven oder emotionalen Bias eine verhaltenskorrigierende Maßnahme notwendig ist oder die Auswirkungen nach fallspezifischer Betrachtung eher zu tolerieren sind. Dieser zweite Aspekt wird im Unterkapitel 10.2 im Fokus der Betrachtung stehen. In den nachfolgenden Abbildungen 66 und 67 werden in einer Vierfelder-Matrix die Heuristiken aufgezeigt, die typischerweise von den Akteuren im Wealth Management (Anlageberater/ Anleger) sowie von den Akteuren im Private Equity (General Partner/ Limited Partner) angewendet werden. Es erfolgt zudem eine Einteilung der Heuristiken nach der Phase im Informations- und Entscheidungsprozess, in der sie jeweils angewendet werden und nach ihrem kognitiven oder emotionalen Ursprung. Mit Blick auf Abb. 66 wird deutlich, dass die Mehrzahl der im Wealth Management anzutreffenden Heuristiken im kognitiven Bereich liegt und überwiegend von den Anlegern angewendet wird. Trotz der mehrheitlichen Anwendung begrenzt rationaler Verhaltensweisen durch die Anleger, wird deutlich, dass auch die Anlageberater zu solch risiko-/ renditeschädlichen Verhaltensweisen neigen können und durch entsprechende Schulungen sensibilisiert werden sollten. In Abb. 67 wird ersichtlich, dass die General Partner, also die Investment Manager der Private Equity Gesellschaften, stärker Heuristiken in Anspruch nehmen als die Limited Partner (Anteilseigner) der entsprechenden PE-Fonds. Dieser Umstand kann dahingehend gedeutet werden, dass die General Partner intensiver an der konkreten Investitionsentscheidung beteiligt sind als die Limited Partner. Im Weiteren ist die Selbstverpflichtung für eine Investition auf Seiten des General Partners höher als auf der des Limited Partners, weshalb die Neigung zu Heuristiken stärker sein kann. Neben der Unterscheidung nach dem Ursprung der Heuristik, sieht Pompian den Vermögensstand des Anlegers als ein weiteres Kriterium, welches über die Entscheidung zur Begrenzung der Auswirkungen von Heuristiken herangezogen werden sollte. <?page no="279"?> 278 10 Anwendung der Behavioral Finance in der Anlageberatung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 66: Überblick Heuristiken im Wealth Management <?page no="280"?> 10.1 Überblick über begrenzt rationales Verhalten in der Anlageberatung 79 2 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 67: Überblick Heuristiken im Private Equity <?page no="281"?> 280 10 Anwendung der Behavioral Finance in der Anlageberatung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Nach Auffassung von Pompian sollten die beiden nachfolgenden Prinzipien beim Umgang mit begrenzt rationalen Verhaltensweisen verfolgt werden: Zum einen sollte der Anlageberater darauf bedacht sein, die risiko-/ renditeschädliche Auswirkungen der angewandten Heuristiken abzuschwächen bzw. zu mäßigen, sofern der Anleger über relativ geringe Vermögensbestände verfügt. Verfügt der Anleger dagegen über hohe Vermögensbestände, sollte die Anlageberatung z.T. den Heuristiken angepasst werden, um das subjektive Wohlbefinden des Anlegers mit der Beratung nicht zu gefährden. Man könnte auch sagen, wer ein höheres Vermögen hat, kann sich mehr „Fehler“ leisten. Zum anderen sollte der Anlageberater darauf bedacht sein, die risiko-/ renditeschädliche Auswirkungen der angewandten Heuristiken abzuschwächen bzw. zu mäßigen, sofern die Heuristiken kognitiven Ursprungs sind. Wendet der Anleger dagegen Heuristiken emotionalen Ursprungs an, sollte die Anlageberatung teilweise an die Heuristiken angepasst werden, da emotionale Heuristiken kaum verändert werden können. Wie diese beiden Prinzipien bei näherer Betrachtung zu interpretieren sind, wird in der Abb. 68 sichtbar. Die Option Anpassen steht für die Toleranz gegenüber der vom Anleger angewandten Heuristik. Das bedeutet, dass aufgrund des hohen Vermögens der Anleger in seinem Lebensstandard nur durch einen ungewöhnlich starken Kursrutsch gefährdet sein könnte, weshalb eine Mäßigung seiner Heuristiken eher zu einem verstärkten Unwohlbefinden gegenüber der Portfoliogestaltung führen würde. Die Option Mäßigen hingegen steht für eine Portfoliozusammensetzung, welche die Auswirkungen der entsprechenden Heuristiken beachtet (so z.B. eine breite Diversifizierung über mehrere Industrien sowie Anlageregionen). Im Grunde handelt es sich bei dieser Option um die Berücksichtigung der neoklassischen Portfoliotheorie (inkl. Beachtung möglicher Spekulationsblasen oder „Schwarzer Schwäne“). Heuristiken sollten in ihrer Auswirkung auf das Verhalten des Anlegers mit einem geringen Vermögensstand gemäßigt werden, da bei Nichtbeachtung der risiko-/ renditeschädlichen Auswirkungen existenzielle Risiken drohen können. In den Fällen, in denen von Pompian die Option Mäßigen & Anpassen vorgeschlagen wird, ist ein Kompromiss in der Portfoliogestaltung nach der Portfoliotheorie und der Portfoliogestaltung nach dem Wunsch des Anlegers anzustreben (vgl. Pompian, 2006, S. 44 f.). Begrenzung der Auswirkungen von Heuristiken in Abhängigkeit des Vermögensstandes sowie dem Ursprung der Heuristiken Abb. 68: Prinzipien für die Anpassung oder Mäßigung von Biases Mäßigen & Anpassen Mäßigen & Anpassen Anpassen Mäßigen Emotionale Biases (Anpassen) Kognitive Biases (Mäßigen) Hohes Vermögen (Anpassen) Niedriges Vermögen (Mäßigen) <?page no="282"?> 10.1 Überblick über begrenzt rationales Verhalten in der Anlageberatung 281 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Beispiel 10.1: Mäßigen & Anpassen Nachfolgend wird die soeben beschriebene Vorgehensweise zum Umgang mit den Auswirkungen von Heuristiken anhand des Beispiels einer Anlegerin im Private Banking beschrieben. Die Anlegerin ist 65 Jahre alt und hat ein Vermögen von rund 100.000 EUR. Sie, als ihr Anlageberater, kennen die Anlegerin bereits seit einigen Jahren und wissen, dass ihr Anlageziel die Absicherung ihrer finanziellen Bedürfnisse im Alter ist. Sie ist der Auffassung, dass die Kapitalmärkte, insbesondere der Aktienmarkt, sehr risikobehaftet sind und fürchtet sich vor eintretenden Verlusten. Ihre Furcht vor risikoreichen Anlagen basiert auf Erzählungen ihrer Verwandten über die Weltwirtschaftskrise 1929. Sie bemerken, dass ihre Anlegerin trotz der Aufforderung, ihre Anlagen zu diversifizieren, weiterhin ausschließlich zu 100 Prozent in festverzinsliche Wertpapiere (Staatsanleihen) investiert. Aufgrund ihrer Befürchtung, die Anlegerin könnte durch steigende Inflation über die Folgejahre Kaufkraftverluste erleiden, entscheiden sie sich, eine Befragung auf Basis der Behavioral Finance mit ihr durchzuführen, um die Art der Heuristiken, zu der die Anlegerin neigen könnte, bestimmten zu können. Die Befragung führt zur der Erkenntnis, dass ihre Anlegerin die folgenden Heuristiken anwendet: - Besonders ausgeprägte Verlustaversion - Neigung zu übersteigerter Furcht vor Verlusten - Verankerung & Anpassung - Neigung zur automatischen Fokussierung auf vergangene Kursstände als Grundlage für die Einschätzung künftiger Entwicklungen - Status quo - Bedürfnis, keine Veränderungen vorzunehmen Als Ergebnis einer portfoliotheoretischen Analyse ergäbe sich für die Anlegerin eine Portfoliozusammensetzung aus 70 Prozent festverzinslichen Wertpapiere, 20 Prozent Aktien und 10 Prozent Liquidität. Die empfohlene Portfoliostrukturierung weicht von der gegenwärtigen mit 100 Prozent festverzinslichen Anlagen erheblich ab. Sie bemerken, dass die Anlegerin von den Auswirkungen der von ihr angewendeten Heuristiken stark beeinflusst wird. Die nun vorliegenden Informationen über die Vermögensverhältnisse der Anlegerin sowie die Art der Heuristiken (emotional - Verlustaversion, Status quo) erlauben eine genaue Zuordnung in eines der vier Felder aus Abb. 68. Sie entschließen sich folglich, den Heuristiken der Anlegerin nach der Option „Mäßigen & Anpassen“ zu begegnen, da ihr zwar Kaufkraftverluste drohen, die ausschließliche Mäßigung der Heuristiken jedoch das Wohlbefinden der Anlegerin beeinträchtigen würde. Entsprechend ihrer gewonnenen Erkenntnissen erarbeiten Sie eine Portfoliozusammensetzung, welche nicht exakt die geforderte Assetallokation nach der Risikoeinstellung des Anlegers verfolgt, sondern auf Basis eines „Kompromisses“ - mäßigen und anpassen - erstellt wird. In der nachfolgenden Abb. 69 wird beispielhaft ersichtlich, dass die Assetallokation, um 10 Prozentpunkte von der geforderten abweichen könnte. Die Risiko- / Renditeschädlichkeit ist eingedämmt und die emotionale Situation der Kundin ist berücksichtigt. <?page no="283"?> 282 10 Anwendung der Behavioral Finance in der Anlageberatung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 69: Anpassung Assetallokation auf Basis des Anlegerverhaltens 1100..22 UUmmg gaanngg mmi itt HHeeu urriissttiikkeenn iinn ddeerr AAnnllaag geebbeer raattuunngg Im dritten Abschnitt (Kapitel 7-9) wurden die risiko-/ renditeschädlichen Auswirkungen von Heuristiken beschrieben, zu denen der Homo Oeconomicus Humanus im Informations- und Entscheidungsprozess neigen kann. Die Zielsetzung dieses Unterkapitels liegt nun in der Betrachtung der Ansatzpunkte, mit den einzelnen Heuristiken in der Anlageberatung umzugehen. Hierbei wird zwischen zwei Sichtweisen unterschieden. Zum einen wird der Umgang mit den risiko-/ renditeschädlichen Verhaltensweisen aus Sicht der beratenen Marktteilnehmer, d.h. der Anleger im Wealth Management bzw. der Limited Partner im Private Equity im Vordergrund stehen. Zum anderen werden dagegen die Seiten gewechselt, wobei der Umgang mit den risiko-/ renditeschädlichen Verhaltensweisen aus Sicht der beratenden Marktteilnehmer, d.h. der Anlageberater bzw. der General Partner im Private Equity im Vordergrund stehen wird. Neben der ersten Unterscheidung hinsichtlich der Marktteilnehmer, wird die Zielsetzung der angewandten Maßnahmen eine besondere Rolle spielen. Hierbei werden Maßnahmen gegen die risiko-/ renditeschädlichen Verhaltensweisen vorgestellt, welche die Erhöhung der Beratungsqualität als Zielsetzung haben. Darüber hinaus können diese Maßnahmen in der Anlageberatung die Möglichkeit zur Stärkung des Wettbewerbsvorteils bieten. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die reine Förderung des Produktabsatzes im Sinne des Ausnutzens risiko-/ renditeschädlicher Verhaltensweisen nicht unbedingt primäres Ziel der Behavioral Finance Erkenntnisse ist. Im Folgenden werden die vorgestellten Handlungsoptionen auf Basis der folgenden Systematik diskutiert: Wie schon im Abschnitt drei, erfolgt eine phasenabhängige Einteilung der Heuristiken entlang des Informations- und Entscheidungsprozesses. Außerdem wird der Ursprung der Heuristik die empfohlene Maßnahme zur Begrenzung der risiko-/ renditeschädlichen Verhaltensweise beeinflussen. Die Unterscheidung nach dem Ursprung der Heuristik ist notwendig, da nicht alle Heuristiken auf die gleiche Art und Weise in ihren Auswirkungen begrenzt werden können. <?page no="284"?> 10.2 Umgang mit Heuristiken in der Anlageberatung 283 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Die Mehrzahl der Heuristiken hat einen kognitiven Ursprung. Sie basieren daher auf der fehlerhaften Interpretation von Sachverhalten und können durch Beratung sowie Richtigstellung der Informationen in ihrer Auswirkung begrenzt werden (vgl. Abb. 66/ 67). Andere Heuristiken, wie z.B. die Reueaversion, haben dagegen einen emotionalen Ursprung. Sie basieren auf Impulsen, die vom Marktteilnehmer oft unbewusst verfolgt werden. Diese werden daher nicht durch Fehlinterpretationen von Informationen hervorgerufen und können folglich auch nicht durch korrekte Informationen reduziert werden (vgl. Pompian, 2006, S. 44). Vielmehr liegt es am Anlageberater, den Anlegern die schädlichen Auswirkungen der emotionalen Heuristiken zu verdeutlichen und mit Hilfe von Ratschlägen gegebenenfalls zu mindern. Voraussetzung für die aufgeführten Maßnahmen ist, dass die Neigung zur Anwendung einer bestimmten Heuristik durch ein Behavioral-Finance-Test überprüft wurde. In diesem Test werden mittels Fallbeispielen die Reaktionen des Befragten analysiert und daraus ein individuelles Profil erstellt. Als vereinfachtes Beispiel für einen solchen Test kann Beispiel 10.1 dienen (vgl. Pompian, 2006): Beispiel 10.1: Behavioral-Finance-Testfragen für Verfügbarkeitsheuristik Frage 1: Stellen Sie sich vor, Sie haben frei verfügbare Liquidität und hören von einem Aktientipp Ihres Nachbars, der für seine erfolgreichen Investitionen bekannt ist. Er empfiehlt Ihnen die Investition in Unternehmen X, das Brennflüssigkeit für Kohlegrills herstellen. Wie reagieren Sie in dieser Situation? a) Ich werde höchstwahrscheinlich seinem Rat folgen, da er meistens das richtige Gespür hat. b) Ich werde seine Investitionsidee als Ratschlag verstehen und werde mir die nötige Informationsgrundlage vor einer möglichen Investition einholen. Frage 2: Stellen Sie sich vor, Sie möchten Aktien des Generikaherstellers X erwerben. Ihr Bekannter hat Ihnen einen Unternehmensbericht geschickt, worauf Sie sich entscheiden, 100 Aktien des Unternehmens zu erwerben. Kurz bevor Sie den Aktienkauf tätigen, hören Sie in den Wirtschaftsmeldungen, dass ein Wettbewerber von Generikahersteller X sehr gute Quartalszahlen gemeldet hat, worauf sich deren Aktienkurs um 10 Prozent erhöht. Wie verhalten Sie sich in dieser Situation? a) Ich würde diese Information als eine Bestätigung für die Profitabilität von Generikaherstellern sehen und würde meinen beabsichtigen Kauf von Generikahersteller X ausführen. b) Ich würde meinen beabsichtigten Aktienkauf von Generikahersteller X zunächst stoppen, Nachforschungen über den Wettbewerber anstellen und im Anschluss meinen beabsichtigten Aktienkauf von Generikahersteller X ausführen. c) Ich würde lieber die Aktien des Wettbewerbers erwerben, da sie anscheinend höhere Aktienkurse versprechen als dies von Generikahersteller X zu vermuten wäre. <?page no="285"?> 284 10 Anwendung der Behavioral Finance in der Anlageberatung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Frage 3: Was führt zu mehr Todesfällen in den USA? a) Blitzschlag b) Tornados Auswertung: Eine Neigung zur Verfügbarkeitsheuristik ist wahrscheinlich, wenn bei Frage 1 die Antwortoption a, bei Frage 2 die Antwortoption c und bei Frage 3 die Antwortoption b gewählt wurde. Bei Frage 3 ist die Auswahl von Antwortoption b nachvollziehbar, da die mediale Berichterstattung über Tornados diese stärker im Gedächtnis verankert und daher besser verfügbar ist, als Berichterstattungen über Blitzschläge mit Todesfolge. Statistisch gesehen sterben jedoch mehr Amerikaner infolge von Blitzschlägen statt infolge von Tornados. 1100. .22..11 HHeeuurriissttiikkeenn wwäähhr reenndd ddeerr IInnffoorrmma attiioonnsswwaahhr rnneehhm mu unngg Abb. 70: Schulungsoptionen während der Informationswahrnehmung Verfügbarkeits-Heuristik (kognitiv) Aufgrund des kognitiven Ursprungs kann die risiko-/ renditeschädliche Wirkung bereits durch die Richtigstellung der zur Investition genutzten Informationen erreicht werden. Sofern der Anleger Gefahr läuft, einer kurzfristigen „Modeerscheinung“ hinterher zu laufen, sollte der Anlageberater auf die objektive Erfassung der Anlagesituation durch die Ausweitung der Informationsgrundlage achten. Hierbei sollte der Anlageberater darauf bedacht sein, dass der Anleger die aktuelle Entwicklung im Umfeld einer beabsichtigten Investition nicht überbewertet, sondern die langfristige Perspektive durch die entsprechend breite Informationsgrundlage wahrnimmt. <?page no="286"?> 10.2 Umgang mit Heuristiken in der Anlageberatung 285 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Mit Blick auf die Informationswahrnehmung beim Limited Partner ist die Verfügbarkeits-Heuristik als weniger problematisch anzusehen, da es sich bei PE-Investitionen um langfristige Entscheidungen von durchschnittlich sieben Jahren Anlagehorizont handelt. Deswegen hat ein Limited Partner einen großen Anreiz, nach Möglichkeit alle Informationen einzuholen. Risikowahrnehmung (kognitiv) Der Anlageberater kann diese Heuristik wiederum mit verbesserten Informationen abschwächen. Hierbei geht es um die Klarstellung der objektiven Wahrscheinlichkeiten (vgl. Kap. 6.2.2). Der Anlageberater sollte darauf achten, dass der Anleger im Zuge erreichter Gewinne die objektive Wahrscheinlichkeit zukünftiger Gewinne nicht überbewertet und dementsprechend geneigt ist, mehr Risiko einzugehen als dies gerechtfertigt wäre. Ebenfalls sollte der Anlageberater darauf achten, dass der Anleger nach Verlusten die objektive Wahrscheinlichkeit für steigende Kurse nicht unterschätzt und dadurch ungerechtfertigt Risiko abbaut. Der Anlageberater kann zur Unterstützung seiner Argumentation historische Renditeentwicklungen aufzeigen. Diese könnten z.B. dem Anleger die Tendenz zur Rückkehr der Aktienbewertung zu ihrem langfristigen Mittelwert verdeutlichen, falls ein Mean-Reversion-Prozess angenommen werden kann. Diese Informationserweiterung sollte die Über-/ Unterbewertung objektiver Wahrscheinlichkeiten begrenzen. Selektive Wahrnehmung (kognitiv) Anlegern mit der Neigung zur selektiven Wahrnehmung kann aufgrund des kognitiven Ursprungs der Heuristik dadurch geholfen werden, dass der Anlageberater die der Entscheidung zugrunde liegenden Informationen auf Vollständigkeit überprüft. Darüber hinaus kann die Beziehung zum Anleger u.U. durch die Kommunikation einer realistischen Erwartungshaltung gegenüber einem Investment gestärkt werden. Der Kunde wird den Hinweis zur konkreten Auseinandersetzung mit den für und wider eines Investments u.U. als erkennbare Differenzierung in der Beratungsleistung durch steigendes Vertrauen honorieren. Wobei allerdings auch darauf zu achten ist, dass diese Herangehensweise nicht zur Verstärkung des risiko-/ renditeschädlichen Status-Quo-Bias führt. Darstellungseffekt (kognitiv) Die Beachtung dieser Heuristik ist für eine langfristige Kundenbeziehung (sowohl im Wealth Management als auch im Private Equity) außerordentlich wichtig. Der Anlageberater/ General Partner kann durch die Beachtung nachfolgend aufgeführter Einflussfaktoren die Kundenbeziehung bereits zu Beginn festigen. So liegt es an der Beratung, die Risikotoleranz des Anlegers durch eine umfangreiche Risikoeinschätzung zu ermitteln. Hier spielt die Art und Weise, wie die Fragen gestellt werden, eine große Rolle. Es sollte bedacht werden, dass die zeitweilig kurzsichtige Erwartungshaltung des Anlegers mit der u.U. langfristigen Zielsetzung der Vermögensbildung in Einklang zu bringen ist. <?page no="287"?> 286 10 Anwendung der Behavioral Finance in der Anlageberatung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Zudem sollte darauf geachtet werden, dass die zur Entscheidungsfindung verwendeten Informationen (u.a. Statistiken) so neutral wie möglich sind. Auf diese Weise wird die Gefahr reduziert, dass der Anleger aufgrund der Darstellung der Information zu einer bestimmten Entscheidung verleitet wird und dies im Nachhinein bereut (im Sinne der Reueaversion). Schließlich sollte beachtet werden, dass der Darstellungseffekt die Verlustaversion hervorrufen kann. Demnach sollte der Anlageberater darauf achten, dass der Anleger künftige Investitionsentscheidungen nicht auf Basis vergangener Gewinne bzw. Verluste tätigt. Ein plötzlicher Verlust kann demnach dazu führen, dass der Anleger seine Risikotoleranz verändert und sich, entgegen den Erkenntnissen aus der Value Function im Verlustbereich der Wertfunktion risikoavers verhält. Entsprechend der Value Function würde ein Anleger im Verlustbereich der Wertfunktion, risikofreudig agieren, um erlittene Buchverluste bzw. bereits als Verlust verbuchte Ergebnisse durch spätere Gewinne ausgleichen zu können. Hierbei ist darauf zu achten, dass der Anleger sich den erhöhten Risiken, die er gewillt ist einzugehen, bewusst ist. Ebenfalls ist es portfolioschädlich, wenn der Anleger nach plötzlichen Verlusten im Zuge einer unerwarteten Marktentwicklung übermäßig risikoavers agiert und dadurch eine möglicherweise attraktive Unterbewertung bei den betroffenen Wertpapieren verstreichen lässt. Dies wäre z.B. der Fall, wenn nach einer Überreaktion auf negative Nachrichten oder einer panikartigen Marktreaktion, nicht schnell genug wieder in Wertpapiere eingestiegen wird. Portfolioschädliches Verhalten ist auch im Rahmen von Gewinnen zu beachten. Handelt es sich um erste Gewinne, handeln Anleger entsprechend der erhöhten Sensitivität im Gewinnbereich der Wertfunktion verstärkt risikoavers und verkaufen die Wertpapiere zu früh. Tritt der Gewinn jedoch unerwartet ein, kann es passieren, dass der Anleger von den Gewinnen „geblendet“ wird und entgegen den Erkenntnissen aus der Value Function zu risikofreudigem Handeln verleitet wird. (vgl. Kap. 7.1.1/ Risikowahrnehmung). Tritt die beschriebene Verhaltensweise auf, kann eine entsprechende Schulung über die Vorteile der Diversifikation bzw. die korrekte Portfoliozusammensetzung helfen, die negativen Effekte dieser Heuristik zu minimieren. Herdenverhalten (emotional) Als eine der wenigen Heuristiken mit emotionalem Hintergrund während der Informationswahrnehmung, könnte das Herdenverhalten durch die Verdeutlichung der Gefahren und negativen Folgen abgeschwächt werden. Der Anlageberater kann aufgrund des emotionalen Hintergrundes dieser Heuristik kaum mit verbesserten Informationen auf den Anleger einwirken. Vielmehr wäre es wichtig, dem Anleger die Folgeereignisse beim Platzen einer Blase wie nach dem Ende der Dotcom-Blase zu verdeutlichen. Auf diese Weise könnte der kurzfristige Investitionsdruck seitens des Anlegers geschwächt werden. Die Kundenbeziehung würde durch die Vermeidung unnötiger Risiken weiter gestärkt werden. Allerdings muss der Anlageberater darüber im Klaren sein, dass es u.U. auch Blasen gibt, die auszunutzen, für den Anleger rational sein könnte (siehe auch nächster Absatz). <?page no="288"?> 10.2 Umgang mit Heuristiken in der Anlageberatung 287 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1100..22..22 HHeeu urri isst tiikkeen n w wääh hrreen ndd ddeer r I Innffoorrmmaatti ioonnssvveer raar rbbeei ittuunngg/ / --b beew weer rttuunngg Abb. 71: Schulungsoptionen während der Informationsverarbeitung/ -bewertung Verankerung und Anpassung (kognitiv) Diese Heuristik könnte durch eine objektive Betrachtungsweise in ihrer risiko- / renditeschädlichen Auswirkung begrenzt werden. Der Anlageberater kann dem Anleger die Frage stellen, ob dieser die aktuelle Situation (z.B. Renditeerwartung) rational einschätzt oder aber sich eher auf eine Erwartung stützt, die sich zu stark an die Renditeentwicklung der unmittelbaren Vergangenheit (z.B. Vorjahr) orientiert. Repräsentativität (kognitiv) Die Repräsentativitäts-Heuristik könnte durch die Analyse der risiko-/ renditebeeinflussenden Faktoren abgeschwächt werden. So sollte die Renditeentwicklung eines Fonds im Verlauf von mehreren Jahren untersucht werden, statt lediglich die Kurzfristperformance als Grundlage für eine Investition zu verwenden. Vanguard Investments aus Australien führte eine Untersuchung über die jährlich fünf besten Fonds zwischen 1994 und 2003 durch. Die Ergebnisse zeigen eindrucksvoll, wie effektiv durch die richtige Information diese Heuristik begrenzt werden könnte (vgl. Pompian, 2006, S. 73 f.): o Lediglich 16 Prozent der Top-Five-Fonds schafften es unter die Top Five des nächsten Jahres. <?page no="289"?> 288 10 Anwendung der Behavioral Finance in der Anlageberatung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance o Top-Five-Fonds des Vorjahres schafften es im Durchschnitt kaum, den Markt im nächsten Jahr zu übertreffen. o 21 Prozent der Top-Five-Fonds verschwanden, meist wegen Erfolglosigkeit, komplett vom Kurszettel innerhalb der nächsten zehn Jahre. Ambiguitätsaversion (kognitiv) Aufgrund des kognitiven Ursprungs könnte die Ambiguitätsaversion am effektivsten durch die Analyse der rendite-/ risikobeeinflussenden Faktoren abgeschwächt werden. Dem Anleger sollten die positiven Effekte der Diversifikation eines Portfolios unter Verwendung unterschiedlichster Anlagen/ Regionen verdeutlicht werden. Eine Differenzierung gegenüber dem Wettbewerb könnte folglich durch eine ausführliche Schulung der Anleger erreicht werden. Konservatismus (kognitiv) Aufgrund des kognitiven Hintergrunds dieser Heuristik, könnten ihre risiko-/ renditeschädlichen Auswirkungen durch den Hinweis auf die objektive Betrachtung neuer Informationen abgeschwächt werden. Der Anlageberater sollte dem Anleger die Wichtigkeit der Verarbeitung neuer Informationen verdeutlichen. Darüber hinaus sollten Investoren professionelle Hilfe zur Interpretation neuer Informationen heranziehen, wenn die Verständlichkeit der Informationen eingeschränkt ist. Mentale Buchführung (kognitiv) Durch die Verdeutlichung der renditebeeinflussenden Faktoren lässt sich die Beratungsqualität erhöhen. So wäre es wichtig, die Investitionen eines Anlegers ganzheitlich zu betrachten und ihm zu dieser Sichtweise zu verhelfen. Auf diese Weise könnten Korrelationen identifiziert werden, die zu berücksichtigen helfen könnten, die Portfolioschädlichkeit zu senken. Hierbei sollte z.B. die Neigung zu Investitionen in die Aktien des eignen Arbeitgebers und ihre Implikationen auf den Diversifi kationseffekt ebenfalls zur Sprache gebracht werden. Die mentale Buchführung könnte auch, wie am Beispiel der Credit Suisse gezeigt, zur Optimierung des Finanzkonzeptes genutzt werden. Der Anleger könnte auf diese Weise seine Investitionen in Abhängigkeit der zu verfolgenden Ziele strukturieren und würde nicht Gefahr laufen, für jede einzelne Investition ein mentales Konto zu eröffnen. Rezenz-Effekt (kognitiv) Der Rezenz-Effekt könnte am einfachsten durch die Verwendung aussagekräftiger Informationen behoben werden. Hierbei ist es wichtig, die jeweils aktuelle Entwicklung, die zu einer überhasteten Investition führen kann, durch langfristige Renditeentwicklungen ins rechte Licht zu rücken. Darüber hinaus sollten dem Anleger die Vorteile einer Investition in unterbewertete und aus der „Mode“ gekommene Anlagen verdeutlicht werden. Diese Anlagen können durch die Fundamentalanalyse anhand bestimmter Kennziffern, wie z.B. ein niedriges Kurs-Gewinn-Verhältnis ermittelt werden (vgl. Kap. 2.2.1). Auf diese <?page no="290"?> 10.2 Umgang mit Heuristiken in der Anlageberatung 289 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Weise kann die Portfoliodiversifikation gesteigert werden und der Anleger läuft nicht Gefahr, Anlagen zu favorisieren, die bereits am Ende ihrer gegenwärtigen Preisentwicklung angekommen sind. Selbstüberschätzung (kognitiv) Die Selbstüberschätzung der eigenen Kenntnisse über die Renditeentwicklung von Investitionen könnte durch die Analyse der bisherigen Renditeentwicklung begegnet werden. Anleger, die zu einer hohen Selbstüberschätzung neigen, handeln zu oft und erhöhen dadurch erheblich ihre Transaktionskosten (vgl. Kap. 8.1.3). Die Bereitstellung akkurater Informationen über die Rendite bisheriger Anlagen könnte den Marktteilnehmer vor unrealistischen Erwartungen bewahren und dadurch die Portfolioschädlichkeit senken. Kontrollillusion (kognitiv) Die Kontrollillusion ist eine Heuristik, bei der der Anlageberater die objektive Sicht des Anlegers schärfen sollte, um deren Auswirkungen zu begrenzen. Der Kunde sollte begreifen, dass eine Investition nie 100-prozentig das erwartete Ergebnis bringen kann und es folglich nicht möglich ist, den Markt zu kontrollieren oder dessen Entwicklung sicher zu prognostizieren. Der Kunde sollte bestrebt sein, anderweitige Meinungen zum Marktgeschehen zuzulassen und diese objektiv zu bewerten. Reflection Effect / Umkehr der Risikobereitschaft (emotional) Auch bei dieser Heuristik wäre es zweckmäßig, die risiko-/ renditeschädliche Auswirkung herauszustellen, die eintreten könnte, wenn der Kunde ungerechtfertigter Weise seine Risikobereitschaft verändert. Dadurch, dass diese Heuristik emotionalen Ursprungs ist, sollte eine komplette Begrenzung der Auswirkungen nicht erwartet werden. Vielmehr sollte die Sensibilität für die negativen Folgen erhöht werden, die aufgrund der Steigerung des Portfoliorisikos entstehen können, wenn der Anleger bei einem Buchverlust zur „Verbilligung“ weitere Aktien erwirbt und dadurch den Diversifikationsgrad des Portfolios mindert. <?page no="291"?> 290 10 Anwendung der Behavioral Finance in der Anlageberatung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1100..22..33 HHeeu urriissttiikkeen n w wääh hrreen ndd d deer r I Innvvees sttiitti ioonnsse enntts scchheei id duunngg Abb. 72: Schulungsoptionen während der Investitionsentscheidung Selektive Entscheidung (kognitiv) Die selektive Entscheidung als Teil der kognitiven Dissonanz könnte ebenfalls durch eine objektive Betrachtung der Anlagesituation beschränkt werden. So könnte dem Anleger geholfen werden, die Situation objektiv zu erfassen, ggf. den bestehenden Buchverlust zu realisieren und anstelle des eingegangenen Investments eine andere Investition zu wählen. Der Anlageberater sollte darauf bedacht sein, dass der Kunde seine Entscheidung nicht auf Basis des Dispositionseffektes fällt und entsprechend die entstandenen Buchverluste weiter fortführt. Selbstattribution (kognitiv) Die negativen Auswirkungen der Selbstattribution könnten durch die Analyse der risiko-/ renditebeeinflussenden Faktoren beschränkt werden. Hierbei sollte der Anleger zur objektiven Betrachtung realisierter Gewinne und Verluste angehalten werden. Durch die nachträgliche Analyse der Ursachen könnte der Anleger begangene Fehler erkennen und diese zukünftig vermeiden. Die objektive Analyse der Resultate könnte zudem helfen, Selbstüberschätzung zu erkennen und diese abzubauen. Rückschau-Effekt (kognitiv) Die Beratungsqualität könnte bei dieser Heuristik dadurch gesteigert werden, dass dem Anleger die rendite-/ risikobeeinflussenden Faktoren vor Augen geführt werden. Hierbei sollte auf die übersteigerte Prognosefähigkeit eingegangen werden, die <?page no="292"?> 10.2 Umgang mit Heuristiken in der Anlageberatung 291 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Marktteilnehmer insbesondere nach Eintritt prognostizierter Marktbewegungen von sich annehmen. Die Analyse von realisierten Gewinnen und Verlusten sollte künftige Investitionsentscheidungen positiv beeinflussen, da aufgrund der Analyse die unzureichende Prognosefähigkeit verdeutlicht werden könnte. Zudem sollte der Anlageberater die Renditeperformance von Fondsmanagern relativieren, bzw. die Strategie der Fondsmanager mit der gegenwärtigen Marktentwicklung in Einklang bringen. Dadurch würden die Anleger ungerechtfertigte Kritik oder Lob begrenzen und ihre Entscheidung auf Basis objektiver Betrachtungen treffen. Besitztumseffekt (emotional) Der Umgang mit dieser emotionalen Heuristik könnte auf unterschiedliche Weise angegangen werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass aufgrund der Emotionalität nicht die Richtigstellung der verwendeten Informationen eine Rolle spielt, sondern vielmehr die Vergegenwärtigung der negativen Auswirkungen, die die Anwendung der Heuristik nach sich zieht. Im Falle geerbter Wertpapiere z.B. könnte der Anlageberater bereits durch die richtige Fragestellung dem Anleger zur korrekten Denkweise bzw. Entscheidung leiten. Wird der Kunde gefragt, wie hoch der Anteil der Erbschaft wäre, die er in das vorliegende Wertpapier investieren würde, dann ergibt sich bereits aus der Antwort ein Ansatzpunkt für den Umgang mit der Heuristik, nämlich gegebenenfalls die Veräußerung der Wertpapiere, um dadurch die individuellen Investitionsziele verfolgen und erreichen zu können. Ein weiterer Ansatzpunkt wäre die Gegenüberstellung möglicher Gewinne bzw. vermeidbarer Verluste mit den dafür anfallenden Transaktionsgebühren. Oftmals vermeiden Anleger die Veräußerung der Anlagen, da sie lediglich die zu zahlenden Transaktionsgebühren vor Augen haben. Optimismus-Effekt (emotional) Die risiko-/ renditeschädlichen Auswirkungen dieser Heuristik könnten durch die nachfolgenden Einzelmaßnahmen relativ schnell begegnet werden. Die Erhöhung der Beratungsqualität wäre dadurch effektiv und rasch realisierbar. Der Anlageberater sollte die Wichtigkeit eines durchstrukturierten Sparplans zur Erfüllung der Investitionsziele herausstellen. Anleger mit der Neigung zum Optimismus-Effekt verzichten regelmäßig auf einen disziplinierten Sparplan und investieren eher im Affekt. In diesem Sinne sind die Vorteile des Zinseszins-Effektes herauszustellen, die im Zuge eines langfristigen Sparplans eine erhebliche Auswirkung auf die Vermögensbildung aufweisen. Zudem ist es wichtig, dass die Anleger die Vorteile der Diversifikation verstehen. Hierdurch wäre der überproportionalen Investition in Arbeitgeberaktien bzw. in bestimmte Wertpapiere, die der Anleger für besonders interessant hält, Grenzen gesetzt. Dispositionseffekt (emotional) Die Verlustaversion als eine der schädlichsten Heuristiken könnte durch die Verdeutlichung der äußerst negativen Auswirkungen dieser Heuristik begegnet werden. Auf diese Weise würde der Anleger erkennen, welche Auswirkungen das Festhalten an Verliereraktien haben kann. <?page no="293"?> 292 10 Anwendung der Behavioral Finance in der Anlageberatung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Zur Begegnung der risiko-/ renditeschädlichen Auswirkungen sollte der Anlageberater insbesondere die kontrollierte Anwendung von Stop-Loss-Handelsanweisungen empfehlen. Diese sind Handelsanweisungen, die bei jedem Wertpapiererwerb die maximale Verlusthöhe festsetzen und bei Überschreiten der entsprechenden Limite Wertpapierverkäufe automatisch veranlassen. Darüber hinaus sollte die Anlageberatung auch die korrekte Verhaltensweise mit Buchgewinnen zur Zielsetzung haben. Der Kunde sollte Gewinneraktien solange wie möglich laufen lassen und diese nicht aufgrund der erhöhten Sensitivität für die Buchgewinne im Gewinnbereich der Wertfunktion bereits kurz nach der Investition direkt veräußern. Ein Indiz für die Fortführung einer Anlageposition kann wiederum durch die Fundamentalanalyse formuliert werden. Demnach kann ein moderates Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) im Vergleich mit Wertpapieren der Wettbewerberunternehmen des jeweiligen Sektors ein Zeichen sein, dass die einsetzende Kurssteigerung noch nicht am Endpunkt angekommen ist. Ebenfalls sind positive Unternehmensnachrichten ein mögliches Zeichen, dass die Kurssteigerung noch andauern kann. Status-Quo-Effekt (emotional) Der Status-Quo-Effekt ist eine Heuristik deren risiko-/ renditeschädliche Auswirkungen wohl am schwierigsten reduziert werden können. Der Anlageberater sollte die negativen Folgen dieser Heuristik herausstellen, die zusätzlich weitere Heuristiken wie den Dispositionseffekt, die Ambiguitätsaversion bzw. den Besitztumseffekt hervorruft. Der Anlageberater sollte zudem die negativen Effekte einer unzureichenden Diversifikation herausstellen. Dies betrifft insbesondere die beträchtlichen Risiken bei fallenden Wertpapiernotierungen. In diesem Fall ist ein Anleger mit der Neigung zu dieser Heuristik besonders gefährdet, da die Verliereraktien aufgrund des Dispositionseffektes nicht rechtzeitig veräußert werden und folglich die Portfolioschädlichkeit aufgrund der möglicherweise geringen Diversifikation signifikant zunimmt. Zudem sollte der Anlageberater die Vorteile herausstellen, die mit dem Verkauf einer Verliereraktie einhergehen. Der Kunde verharrt nicht in einer inaktiven Position, sondern verfolgt aktiv die gesteckten, langfristigen Investitionsziele. Sollten mögliche Transaktionsgebühren die Neigung zu dieser Heuristik verstärken, sollte der Anlageberater die tatsächlichen Kosten den Renditevorteilen, die eine andere Anlage bieten kann, gegenüberstellen. Selbstkontroll-Effekt (emotional) Die Beratungsqualität könnte bei dieser Heuristik durch die Priorisierung von Themen wie Ausgabenkontrolle, Planungsdisziplin und Portfoliodiversifikation erreicht werden. Wie bei jeder Heuristik emotionalen Ursprungs sollten auch in diesem Fall sowohl die negativen Folgen einer Vernachlässigung als auch die positiven Aspekte einer durchdachten und auf langfristigen Vermögenszuwachs angelegten Investitionsplanung herausgestellt werden (u.a. Zinseszinseffekt, Schließung Bedarfslücke Altersvorsorge). <?page no="294"?> 10.2 Umgang mit Heuristiken in der Anlageberatung 293 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Reueaversion (emotional) Der Reueaversion, als letzte Heuristik emotionalen Ursprungs, könnte am ehesten dadurch begegnet werden, dass dem Anleger die schädliche Auswirkung durch Inaktivität hinsichtlich notwendiger Investitionsentscheidungen aufgezeigt wird. Hierbei ist zu beachten, dass diese Heuristik, wie auch schon der Status-Quo-Effekt, weitere schädliche Verhaltensweisen hervorruft (Dispositionseffekt, Herdenverhalten und kognitive Dissonanz). Der Anlageberater sollte im Rahmen der Kundenschulung die Vorteile der Übernahme eines gewissen Risikos für die Renditeentwicklung herausstellen. Auch wenn Anleger nach dem Verkauf von Wertpapieren und infolgedessen durch die Realisierung von Verlusten zunehmend risikoavers agieren (vgl. Kap. 7.1.1 Risikowahrnehmung), sollte die Portfoliozusammensetzung nicht ausschließlich aus Anlagen bestehen, deren Risikoklassifizierung als gering einzuschätzen ist. In diesem Fall wäre die Erreichung gesteckter Investitionsziele in Gefahr. Im Weiteren sollten auch die risiko-/ renditeschädlichen Verhaltensweisen im Zuge des Dispositionseffektes und des Herdenverhaltens berücksichtigt werden. Demnach sollte der Anlageberater die Nutzung von Stop-Loss-Handelsanweisungen empfehlen, um das Investitionskapital vor sich ausweitenden Verlusten zu schützen, die sich aufgrund der Inaktivität des Anlegers bei bestehenden Verlusten ergeben können. Darüber hinaus sollte der Anlageberater den möglicherweise kurzfristigen Investitionsdruck, den die Anleger aufgrund des Herdenverhaltens verspüren können, durch die Verdeutlichung der negativen Folgen nach Platzen einer Spekulationsblase begrenzen. Die soeben vorgestellten Maßnahmen zur Begrenzung risiko-/ renditeschädlicher Verhaltensweisen haben allesamt die Zielsetzung, das Vertrauensverhältnis zum Anleger zu stärken und ihn systematisch nach seinen Wünschen und Bedürfnissen zu beraten. Anhand der vorgestellten Handlungsempfehlungen wurde ersichtlich, dass eine langfristige Kundenbeziehung nur über die Steigerung der Beratungsqualität möglich ist. Für die Begrenzung der risiko-/ renditeschädlichen Verhaltensweisen bedarf es zudem der systematischen Fortbildung der Anlageberater. Durch die Kenntnis der verhaltenswissenschaftlichen Forschungsergebnisse kann der Anlageberater seine Anleger durch gezielte Fragestellungen und korrigierende Information bei der Erreichung der festgelegten Investitionsziele begleiten. Darüber hinaus ermöglicht die Behavioral Finance dem Anlageberater, die Erwartungen der Anleger zu verstehen und diese durch erweiterte Untersuchungsmöglichkeiten (z.B. Persönlichkeitsanalyse) emotional richtig zu interpretieren. Die Kenntnisse über psychologische Beweggründe hinter den Entscheidungen erleichtert dem Anlageberater die Umsetzung von finanziellen Zielen. Dabei ist es notwendig, dem Anleger Einblick in die Portfoliozusammensetzung zu ermöglichen, so dass er versteht, wieso die gewählten Anlagen aufgrund seiner Persönlichkeit ausgewählt werden sollten. Durch die genaue Abstimmung der Anlagen auf die Bedürfnisse des Anlegers kann hektischer Aktionismus im Fall turbulenter Märkte verhindert werden. Der Kunde soll sich vielmehr jederzeit mit seinem Portfolio identifizieren können. Neben Vorteilen für den Anleger wird auch der Anlageberater in seiner Arbeit unterstützt, da er die Erwartungen und Bedürfnisse des Anlegers besser interpretieren kann. Der Anlageberater selbst kann seine eigene Handlungsweise und Entscheidungen auf <?page no="295"?> 294 10 Anwendung der Behavioral Finance in der Anlageberatung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance kognitive Verzerrungen überprüfen, mit der Folge, dass beim Anleger keine falschen Erwartungen über zukünftige Renditen geschürt werden (vgl. Pompian, 2006, S. 17 f.). Um die wachsenden Erwartungen des Anlegers besser erfüllen zu können, könnten neben der reinen Kundenberatung die Erkenntnisse der Behavioral Finance auch in die Entwicklung von Produkten einfließen. So liegt es im menschlichen Wesen, unbekannte Anlagen, die zu einem Verlust führen können, zu meiden, jedoch gewinnversprechende Wetten bereitwillig einzugehen. Diese Grundmuster menschlichen Entscheidens kann durch die Entwicklung strukturierter Produkte entsprochen werden, die sowohl das Sicherheitsals auch das Spekulationsbedürfnis des Anlegers in Betracht ziehen. Solche Produkte sind z.B. Garantiefonds oder Garantiezertifikate, die eine Mindestrendite auf die Anlagesumme garantieren und sich schon heute großer Beliebtheit bei vielen Kunden erfreuen (vgl. Bank, Gerke, 2005, S. 467). Z Zuussaammmmeennffaassssuunngg Im zehnten Kapitel dieses Buches stand die Bedeutung der Behavioral Finance in der Anlageberatung im Vordergrund. Die zunehmende Verschärfung der regulatorischen Anforderungen und die Veränderung der Bedürfnisse der Anleger erfordern von den Kreditinstituten zusätzliche Anstrengungen, um verloren gegangenes Vertrauen wiederzugewinnen. Hierbei könnte die Anwendung der Behavioral Finance als wettbewerbsdifferenzierende Maßnahme unterstützend wirken. Für die wirkungsvolle Bekämpfung der risiko-/ renditeschädlichen Verhaltensweisen ist es wichtig, zwischen Heuristiken kognitiven und emotionalen Ursprungs zu unterscheiden. Heuristiken kognitiven Ursprungs können durch die Analyse der renditebeeinflussenden Faktoren sowie durch verbesserte Informationen in ihrer Wirkungsweise begrenzt werden. Heuristiken emotionalen Hintergrunds kann dagegen nur durch die Vergegenwärtigung der risiko-/ renditeschädlichen Verhaltensweisen begegnet werden. Neben dieser ersten Unterscheidung ist zusätzlich die Identifikation des Anlegers mit den empfohlenen Maßnahmen notwendig. Hierbei kann die Vermögenssituation des Anlegers als Anhaltspunkt für weitreichende Maßnahmen bzw. abgeschwächte Maßnahmen herangezogen werden. Ist der Kunde aufgrund eines geringeren Vermögens besonders durch die Auswirkungen der angewandten Heuristiken gefährdet, so sollte die Anlageberatung auf die Begrenzung dieser Verhaltensweisen abgestimmt werden. Ist der Anleger jedoch nur bei extremen Kursverlusten gefährdet und würde die strikte Begrenzung der Verhaltensweisen den emotionalen Widerstand des Anlegers hervorrufen, so sollte eine Kombination aus „Mäßigen & Anpassen“ in Erwägung gezogen werden. Zuletzt wurde im Rahmen der Erarbeitung von Handlungsempfehlungen auch nachvollziehbar, dass die Erkenntnisse der Behavioral Finance am effektivsten zur Erhöhung der Beratungsqualität eingesetzt werden können. Die Ausnutzung „begrenzt rationaler“ Verhaltensweisen zur Steigerung des Produktabsatzes ist im Sinne der Wiedergewinnung verloren gegangenen Vertrauens nicht ratsam und kann die langfristige Beziehung zum Anleger gefährden. <?page no="296"?> www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1111 AAnnwweennddu unngg dde err BBe ehhaavviioorra all FFiinnaannccee iinn dde err UUnntteer rnneeh hmmeen nss-ffüühhrru unngg Im elften Kapitel dieses Buches stehen begrenzt rationale Verhaltensweisen im Rahmen der Unternehmensführung im Mittelpunkt der Betrachtung. Nach Durcharbeiten dieses Kapitels werden Sie die Treiber für begrenzt rationale Verhaltensweisen, wie die Selbstüberschätzung von Unternehmenslenkern (im Sinne von Vorstand, Geschäftsführung oder erster Führungsebene) kennengelernt haben und können ihre Auswirkungen auf die Entwicklung der Gesamtrentabilität von Unternehmen einordnen. Zudem werden Sie bestimmte unternehmerische Aktivitäten aus der Sichtweise der Behavioral Finance betrachten und erkennen dadurch, wie stark sich psychologische Einflüsse auf Unternehmensentscheidungen auswirken können. Dabei wird neben der Dividendenpolitik und der Erstemission von Aktien auch die Auswirkung unterschiedlicher Entlohnungskonzepte im Rahmen der Corporate Governance betrachtet. Abgerundet wird das Kapitel mit einer Betrachtung des Equity Premium Puzzles. 1111..1 1 OOvveerrcco onnffiiddeen ncce e bbeeii uun ntteerrnneehhmme erriisscchheenn IInnvvees sttiittiioonnsseennttsscch heeii-dduunnggeenn Selbstüberschätzung auf das Verhalten der Marktteilnehmer eingehend beleuchtet. Die Zielsetzung dieses Unterkapitels ist die Betrachtung von Investitionsentscheidungen unter Unsicherheit aus der Unternehmensperspektive. Diese Investitionsentscheidungen betreffen zu investierende Mittel in neue Akquisitionen, die Bewertung bestehender Investitionen oder auch die Umverteilung von Anlagemittel zwischen verschiedenen Unternehmensdivisionen. Zusammengefasst handelt es sich bei der Budgetierung von Anlagekapital, um einen festgelegten Prozess, bei dem die Zusammensetzung und der Umfang des Unternehmensvermögens festgelegt werden. Diese Zusammensetzung ist schlussendlich für die Generierung des Cashflows verantwortlich und damit für die Profitabilität, den Wert und die Existenz des Unternehmens. Aufgrund der Tragweite von Investitionsentscheidungen ist die Sensibilisierung für begrenzt rationale Entscheidungen, die im Zuge der Selbstüberschätzung der Unternehmenslenker getroffen werden, äußerst wichtig, da diese erhebliche Auswirkungen auf die Gesamtrentabilität haben können. Investitionsentscheidungen werden im Grunde danach gefällt, ob diese den Unternehmenswert steigern können. Für die Identifikation solcher Anlagen bzw. Projekte werden neue Investitionsmöglichkeiten meist durch die Ermittlung des Barwertes analysiert. Diese als Net Present Value (NPV) bekannte Analyseform wurde 1951 durch Dean eingeführt und wird seither mit steigender Popularität eingesetzt (vgl. Gervais, 2010, S. 413 f.). Obwohl Investitionsentscheidungen durch die Anwendung der NPV-Berechnungsformel transparent erscheinen und nach rationalen Gesichtspunkten getroffen Homo Oeconomicus Humanus nicht sicher. Unternehmensentscheider haben durch die Schätzung <?page no="297"?> 296 11 Anwendung der Behavioral Finance in der Unternehmensführung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance künftiger Cashflows und durch die Auswahl des zu verwendenden Diskontierungssatzes erheblichen Einfluss auf das Resultat einer Investitionsberechnung und damit auf die Entscheidungsfindung. Die Erforschung begrenzt rationalen Verhaltens war zunächst hauptsächlich auf das Investitionsverhalten der Marktteilnehmer auf den Kapitalmärkten beschränkt. Investitionsentscheidungen von Unternehmenslenkern wurden erst durch den Rückgriff auf die Forschungsergebnisse von Simon (1955, 1959), Margolis (1958) und Cyert/ March (1963) ermöglicht. Diese Wissenschaftler plädieren für die Einbindung menschlichen Verhaltens in die Analyse unternehmerischer Entscheidungen, da diese sich auf die Gesamtrentabilität des Unternehmens und damit auf die Vermögenslage aller Stakeholder auswirken. Studien zahlreicher Wissenschaftler belegen die Neigung der Unternehmenslenker zur Selbstüberschätzung während des Entscheidungsfindungsprozesses (Fischoff, Slovic und Lichtenstein 1977; Alpert und Raiffa, 1982). Die Neigung zur Selbstüberschätzung ist hierbei nicht auf eine bestimmte Berufsgruppe beschränkt, vielmehr betrifft es breite Schichten, angefangen von Investment Bankern, über Juristen bis hin zu den Protagonisten dieses Kapitels - den Unternehmenslenkern (Kidd 1970; Cooper, Woo und Dunkelberg, 1988; Russo und Schoemaker, 1992). Auf Basis der oben genannten Untersuchungsergebnisse können bestimmte Rahmenbedingungen identifiziert werden, die maßgeblich die Neigung von Unternehmenslenkern zur Selbstüberschätzung hervorrufen (vgl. Gervais, S. 413 f.): [1] Investitionsentscheidungen sind sehr komplex Es müssen Faktoren einkalkuliert werden, die zum Zeitpunkt der Entscheidung als unsicher gelten. Unter diesen Rahmenbedingungen ist die Neigung zur Selbstüberschätzung besonders weit verbreitet. [2] Investitionsentscheidungen ermöglichen aufgrund ihrer Individualität keine Lerneffekte im engeren Sinne Nach Kahneman wäre ein Lerneffekt möglich, wenn die Entscheidungen immer wieder unter ähnlichen Rahmenbedingungen stattfinden würden und das Ergebnis der Entscheidung kurzfristig für Feedbackgewinnung erkennbar wäre. Unternehmenslenker werden in unregelmäßigen Abständen mit komplexen Investitionsentscheidungen konfrontiert und erhalten sehr spät und in unterschiedlicher Qualität Rückmeldung zur getroffenen Entscheidung. Außerdem ist der ausbleibende Lerneffekt auch dem Umstand geschuldet, dass viele Unternehmenslenker jede Entscheidungssituation als eine völlig neue bewerten und dementsprechend nicht auf zurückliegende Ergebnisse zurückgreifen (Einhorn und Hogarth, 1978; Brehmer, 1980). [3] Erfolgreiche Unternehmenslenker werden befördert und neigen zur Selbstüberschätzung Selbstattribution ihrem eigenen Können statt den Umständen zuschreiben. Erfolglose Unternehmenslenker verlieren dagegen meistens ihre Anstellung bzw. werden nicht befördert (Miller und Ross, 1975; Langer und Roth, 1975; Nisbett und Ross, 1980). <?page no="298"?> 11.1 Overconfidence bei unternehmerischen Investitionsentscheidungen 297 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance [4] Unternehmenslenker scheinen stärker zur Selbstüberschätzung zu neigen als die Allgemeinbevölkerung, da sie sich für leitende Tätigkeiten bewerben und dementsprechend von ihren Fähigkeiten überzeugt sind. Darüber hinaus werden unterbewusst auch eben solche Kandidaten für entsprechende Stellen ausgewählt, die in der Vergangenheit relevante Erfolge verbuchen konnten (Gervais, Heaton und Odean, 2001). Selbstüberschätzung führt nach Shefrin daher oft dazu, dass die Unternehmenslenker von unerwarteten Wendungen überrascht werden. Sie unterschätzen dabei Risiken, die im Laufe eines Investitionsprojektes auftreten können. Nach Shefrin (2007) wird die Selbstüberschätzung zudem durch zwei Faktoren begünstigt: [1] zum einen durch die scheinbare Kontrolle über die Einflussparameter, [2] zum anderen durch das unzureichende Risikomanagement. Psychologische Erkenntnisse belegen, dass die scheinbare Kontrolle mit einer verminderten Wahrnehmung von Risiko einhergeht. Diese Korrelation scheint insbesondere bei hellhäutigen Männern der Fall zu sein. Sind Entscheidungen über technologische Sachverhalte zu treffen, vertrauen sie stärker der Meinung von Ingenieuren als dies bei dunkelhäutigen Männern der Fall ist (Flynn, Slovic und Mertz, 1994). Der zweite Treiber, das unzureichende Risikomanagement, resultiert aus der Anwen- Verfügbarkeitsheuristik. Hierbei scheinen die Unternehmenslenker weniger Risikobewusstsein zu zeigen, wenn sie selbst typische Risikofaktoren benennen müssen. Als Resultat ergibt sich eine Risikoauflistung, die kürzer ist als wenn die Zusammenstellung möglicher Risikofaktoren durch Außenstehende erfolgen würde. Die Unternehmenslenker bzw. diejenigen, die für die Risikoeinschätzung verantwortlich sind, erfassen im Zuge der Anwendung der Verfügbarkeitsheuristik Aspekte, die ihnen in dem Augenblick am geläufigsten sind. Faktoren, mit denen sie weniger in Berührung kommen, werden nicht ins Kalkül gezogen. Folglich erhöhen sich das Risiko sowie das Überraschungspotenzial im Zuge der Projektdurchführung. Dieser Umstand wurde durch eine Befragung von Risikomanagern und Finanzmanagern, durchgeführt von Financial Executives Research Foundation, FM Global und The National Association of Corporate Treasurers (2003), untermauert. Die Befragungsergebnisse verdeutlichten, dass die Risikomanager ganz andere Risikofaktoren beachten als dies Finanzmanager tun würden. Risikomanager nannten eher versicherbare Risiken an Gebäuden als Hauptgefahr; Finanzmanager dagegen Risiken, die aus fehlerhafter Investitionstätigkeit, wie z.B. Investitionen auf Basis unrealistischer NPV-Berechnungen, resultieren können (vgl. Shefrin, 2007, S. 42 f.). Das Phänomen der Selbstüberschätzung ist keine Erscheinung der heutigen Generation oder basiert lediglich auf der zunehmenden Informationsflut. Bereits Adam Smith versuchte sich 1776 an einer Interpretation: „The over-weening conceit which the greater part of men have of their own abilities, is an ancient evil remarked by the philosophers and moralists of all ages. Their absurd presumption in their own good fortune has been less taken notice of. It is, however, if possible, still more universal … The chance of gain is by every man more or less over-valued, and the chance of loss is by most men under-valued, and by scarce any man, who is in tolerable health and spirits, valued more than it is worth.“ (Smith, 1776, zit. nach Gervais, 2010, S. 414) <?page no="299"?> 298 11 Anwendung der Behavioral Finance in der Unternehmensführung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance In diesem Zusammenhang wird davon ausgegangen, dass die heuristisch getrübte Sichtweise aus der optimistischen Haltung der Unternehmenslenker über die Zukunft des Unternehmens resultiert. Die Unternehmenslenker bewerten demnach die künftige Renditeentwicklung des Unternehmens übertrieben positiv und unterbewerten die Risiken der Renditeentwicklung (vgl. Gider/ Hackbarth, 2010, S. 393). Nachfolgend kann die Auswirkung der Selbstüberschätzung am Beispiel von Iridium, ehemals Tochtergesellschaft von Motorola Inc., verdeutlicht werden: Beispiel 11.1: Selbstüberschätzung bei Unternehmenslenkern Iridium entstand Ende der 1980er als Tochtergesellschaft von Motorola, um ein Satellitentelekommunikationsnetz aufzubauen. Die Realisierung des Projektes wurde mit 11 Jahren und annähernd 5 Mrd. USD kalkuliert. Die Gründung der Tochtergesellschaft erfolgte kurz nach einer Präsentation der leitenden Ingenieure vor dem Vorstand von Motorola. In dieser zweistündigen Präsentation waren die Vorstände vom Konzept des Kommunikationsnetzes derart überzeugt, dass sie auf Anhieb die Realisierung anordneten. Es wurden keinerlei Finanzierungsberechnungen, keine Cashflow-Analysen eingefordert. Die Vorstände basierten ihre Entscheidung auf ihre persönliche und subjektive Einschätzung. Diese Reaktion verdeutlicht die Selbstüberschätzung im Zuge des unzureichenden Risikomanagements. Die Unternehmenslenker sahen es demnach nicht als eine Notwendigkeit an, die Risiken dieses Projekts im Detail zu prüfen. Das Geschäftsmodell von Iridium ging zunächst von bis zu 8 Mio. Geschäftskunden mit starker Reisetätigkeit aus. Nach 1,5 Mio. Kundenanfragen ergab sich mit Installierung des Satellitentelekommunikationsnetzes eine Kundenbasis von lediglich 20.000 Kunden. Diese Wendung überraschte die Unternehmenslenker zutiefst. Es konnten im Nachhinein vier Faktoren ausgemacht werden, die für die überraschende Abweichung von den Prognosen sorgten: - Nutzbarkeit Service innerhalb/ außerhalb von Gebäuden - Die Ingenieure fanden heraus, dass ihre Geräte lediglich im Freien funktionierten. Dieses technische Problem hatten sie nicht erwartet bzw. beachtet. - Wettbewerb Mobiltelekommunikation - Obwohl Ende der 1980er Jahre Mobiltelefone lediglich von vereinzelten, technikaffinen Individuen genutzt wurden, waren Mobiltelefone zehn Jahre später, als Iridium seinen Service anbot, in der Bevölkerung weit verbreitet. Der CEO von Motorola, Robert Galvin, bestätigte, dass er von dieser Marktentwicklung nicht ausgegangen war. - Geräteeigenschaften/ Größe - Die Satellitentelefone von Iridium entsprachen keineswegs den Ansprüchen der Zeit bzw. den damals angebotenen Mobiltelefonen. Die Geräte von Iridium waren mehrfach so groß wie die gängigen Mobiltelefone und hatten zudem eine lange Antenne. Mobilfunknutzer betrachteten die Geräte als umständlich in der Handhabung (ein vergleichbares Gerät wurde z.B. von Gordon Gekko im Film „Wall Street“ aus dem Jahr 1987 verwendet). - Kosten - Die Anschaffungskosten und die Betriebskosten für die Geräte von Iridium betrugen ein Mehrfaches der damaligen Mobiltelefone. So kostete ein Satellitentelefon 3.000 USD gegenüber ca. durchschnittlich 300 USD für Mobiltelefone <?page no="300"?> 11.1 Overconfidence bei unternehmerischen Investitionsentscheidungen 299 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance der Wettbewerber. Die Betriebskosten für Gespräche lagen zudem zwischen 4 und 10 USD/ Minute. Iridium musste sich eingestehen, dass das Geschäftsmodell unter den damals vorherrschenden Bedingungen nicht tragbar war. Innerhalb eines Jahres nach Markteintritt musste Iridium Insolvenz anmelden (vgl. Shefrin, 2007, S. 41 ff.). Im Laufe der Zeit wurden zahlreiche empirische Untersuchungen durchgeführt, welche die Neigung zur Selbstüberschätzung von Unternehmenslenkern verdeutlichten (Ben- David et al., 2007; Hackbarth, 2008, 2009). Hierbei können die nachfolgenden Verhaltensweisen als Indiz für die Selbstüberschätzung angesehen werden (vgl. Gider/ Hackbarth, 2010, S. 408 ff.): verstärkte Neigung zur Investition in Akquisitionen, die einen hohen Grad an Fremdverschuldung erfordern; begrenzte Neigung, Unternehmensgewinne im Rahmen von Dividendenzahlungen an Aktionäre auszuschütten; verstärkte Neigung zum Einsatz von Aktienrückkaufprogrammen. Es wurden zudem zahlreiche Versuche unternommen, um den Grad der Selbstüberschätzung zu messen. Hierbei wird u.a. die Investitionsquote in die Aktien des eigenen Unternehmens oder die Kommunikation der Unternehmenslenker in Medienberichten untersucht (vgl. Gervais, 2010, S. 418 f.): Investitionsquote in eigene Aktien Diese Möglichkeit zur Messung der Selbstüberschätzung, wurde von Malmendier und Tate (2005, 2008) vorgeschlagen und entwickelt. Sie analysierten den Investitionsgrad von Unternehmenslenkern in die Aktien des eigenen Unternehmens bzw. der des Arbeitgebers. Diese mittlerweile weit verbreitete Untersuchungsform gibt Aufschluss über die freiwillig zugelassene Unter-Diversifikation aufgrund der Überinvestition in die besagten Wertpapiere. Die Wissenschaftler Malmendier und Tate charakterisieren einen Unternehmenslenker demnach als overconfident, wenn er nach Ablauf der Haltefrist weiterhin an den Unternehmensaktien festhält und die Investitionsquote sogar freiwillig erhöht. Analyse der Kommunikation in Medienberichten Diese Untersuchungsform (Malmendier und Tate, 2005, 2008) betrachtet die Wortwahl bezogen auf den Unternehmenslenker in Zeitungsartikeln (u.a. The Economist, Business Week und The New York Times), die dann aufgrund semantischer Auswertungen als overconfident bzw. als conservative eingestuft werden können. Ein Artikel wurde demnach als overconfident eingestuft, wenn in diesem der Unternehmenslenker als „zu selbstsicher“ oder „optimistisch“ bezeichnet wurde. Wohingegen Artikel, in denen der Unternehmenslenker als „vorsichtig“, „konservativ“, „nicht selbstsicher“ oder als „nicht optimistisch“ bezeichnet wurde, die Einstufung conservative erhielten. Ist die Anzahl von Artikeln, die als overconfident einstufbar sind, höher als die Anzahl der Artikel mit konservativer Wortwahl, so gilt der Unternehmenslenker nach Meinung der Wissenschaftler als overconfident. <?page no="301"?> 300 11 Anwendung der Behavioral Finance in der Unternehmensführung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Darüber hinaus haben weitere Untersuchungen die Auswirkung von Selbstüberschätzung auf die Rentabilität der betroffenen Unternehmen eruiert. Hierbei können drei zentrale Punkte herausgestellt werden: Unternehmensübernahmen durch Unternehmenslenker mit Neigung zur Selbstüberschätzung senken den Unternehmenswert für das übernehmende Unternehmen (u.a. Jensen und Ruback, 1983; Eger, 1983; Andrade, Mitchell und Stafford, 2001) Der Unternehmenswert ausgedrückt durch den Wertpapierkurs des Unternehmens, sank unter den oben genannten Bedingungen innerhalb eines Zeitraumes von drei Tagen nach der Ankündigung der Übernahme um ca. 0,8 Prozent. So wurden im Zeitraum zwischen 1980 und 2001 im Rahmen von 12.000 Übernahmen und einem Übernahmevolumen von 3,4 Billionen USD, 220 Mrd. USD vernichtet (Moeller, Schlingmann und Stulz, 2005). Die Wertminderung im Unternehmenswert gilt als Abschlag für die Selbstüberschätzung der Unternehmenslenker, welche auf diese Weise durch die Marktteilnehmer „bestraft“ wird (vgl. Shefrin, 2007, S. 162). Unternehmensgründer laufen aufgrund ihrer Selbstüberschätzung Gefahr, öfter eine Fehlinvestition zu tätigen als Unternehmenslenker in etablierten Konzernen Insbesondere steigt die Selbstüberschätzung bei kleinen, privaten Unternehmen, da die Verantwortlichen in geringerem Maße durch die externe Beobachtung seitens der Kapitalmarktanleger zur Rechtfertigung ihrer Entscheidungen genötigt fühlen. In diesem Sinne wird der potenzielle Erfolg des eigenen Unternehmens überschätzt, mit der Folge, dass sich der beabsichtigte Markteintritt als erhebliches Risiko für den Fortbestand der Unternehmung erweisen kann. Unternehmenslenker mit Neigung zur Selbstüberschätzung laufen Gefahr, die Kosten für die eingegangenen Projekte und den Zeitaufwand für die Durchführung zu unterschätzen (Kidd, 1970; Hall, 1982; Lovallo und Kahneman, 2003) Betroffene Unternehmenslenker neigen aufgrund der Selbstüberschätzung zu Fehleinschätzungen hinsichtlich der Durchführungszeit des entsprechenden Projektes. Aus diesem Grund wird der Unternehmenswert in zweierlei Hinsicht reduziert. Zum einen steigen die Projektkosten, da die verlängerte Durchführungszeit mehr Personalkosten nach sich zieht. Zum anderen verzögert sich die Cashflow-Generierung aus der zu erwartenden operativen Tätigkeit. Nachdem die negativen Auswirkungen der Selbstüberschätzung eingehend betrachtet wurden, werden nachfolgend einige Möglichkeiten aufgeführt, welche die Auswirkungen der Selbstüberschätzung begrenzen sollen (vgl. Gervais, 2010, S. 425 f.): Aktive Ergebnisüberprüfung und Beachtung der Selbstattribution Unternehmenslenker sollten bezüglich der risiko-/ renditeschädlichen Auswirkungen der Selbstüberschätzung geschult und in diesem Sinne sensibilisiert werden. Sie können dann besser einschätzen, dass ihre Fähigkeit zur Verarbeitung von Informationen begrenzt ist und sie realistischere Einschätzungen treffen sollten. <?page no="302"?> 11.2 Ausschüttungspolitik aus Sicht der Behavioral Finance 301 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Zudem ist es wichtig, die Projektkontrolle soweit anzupassen, dass zum einen die Ergebnisse in regelmäßigen Abständen ermittelt werden können, und dass zum anderen aber auch die Vergleichbarkeit mit anderen Projekten gewährleistet ist, um so einen echten Lerneffekt bewirken zu können. Neben der Verbesserung des Projektcontrollings ist es auch notwendig, die Auswir- Selbstattribution auf die Entscheidungsfindung der Unternehmenslenker zu berücksichtigen. Dadurch könnten die Ursachen für erfolgreiche und falsche Entscheidungen objektiv betrachtet werden, wodurch in Zukunft bessere Entscheidungen getroffen werden können. Kalkulation künftiger Cashflows mit höherem Diskontierungsfaktor Diese Maßnahme ermöglicht, die negativen Auswirkungen der Selbstüberschätzung entgegen zu treten (Überinvestition) und die daraus folgenden Erwartungen hinsichtlich der Rentabilität von Projekten anzupassen. Auf diese Weise werden Projekte vorsichtig berechnet, so dass auch unter Eintritt widriger Umstände (u.a. Änderung Refinanzierungskosten, Veränderung Wettbewerbssituation, Veränderung wirtschaftliche Situation) das Projekt weiterhin rentabel abgeschlossen werden kann. Anpassung vertraglicher Anreize für Unternehmenslenker Dieser auch als contractual incentives bezeichnete Ansatz steht für die anreizkompatible Anpassung der Vergütung, die den Unternehmenslenkern für ihre Tätigkeit gezahlt wird. Sie sollen bei ihrer Tätigkeit stets die Interessen der Eigentümer vertreten und nicht aufgrund einer fehlerhaften Vergütungspolitik kurzfristige Ziele verfolgen, die u.U. langfristig den Unternehmenswert gefährden können (vgl. Kap. 11.4). Selbstüberschätzung bei Unternehmenslenkern führt dazu, dass sie von unerwarteten Wendungen überrascht werden. Sie unterschätzen dabei Risiken, die im Laufe eines Investitionsprojektes auftreten können. 1111..22 AAuusssscchhüüttttuunnggssppoolliittiikk aau uss SSi icchhtt ddeerr BBeehhaav viioorra all FFiinnaan nc cee Nachfolgend steht die Frage im Mittelpunkt, wieso Unternehmen in einer bestimmten Höhe Dividenden an ihre Aktionäre ausschütten. Die traditionelle Sichtweise auf die Dividendenpolitik der Unternehmen wurde durch das Modigliani-Miller-Theorem (1961) beeinflusst. Es führt u.a. zu dem Ergebnis, dass im Falle von Transaktionskosten oder Besteuerung von Dividenden, die Unternehmen auf die Ausschüttung verzichten sollten. Miller und Modigliani vertraten diese Auffassung, da nach ihrer Sichtweise die Marktteilnehmer gegenüber Framing-Effekten immun sind. Würden die Marktteilnehmer Dividenden beziehen wollen, diese aber vom Unternehmen nicht erhalten, dann wären sie immer noch in der Lage, die „Dividenden-Erträge“ durch den Verkauf von Aktien zu erlösen. Die richtige Dividendenpolitik beschäftigt trotz dieser theoretisch nachvollziehbaren Ansicht weiterhin die ökonomische Diskussion. Nach Shefrin gibt es sowohl Anhänger des Modigliani-Miller-Theorems als auch Anhänger, die die Dividendenzahlung verteidigen, da die Ausschüttung an die Aktionäre als ein <?page no="303"?> 302 11 Anwendung der Behavioral Finance in der Unternehmensführung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Ausgleich für mögliche unternehmerische Fehlentscheidungen und nur infolgedessen verursachte Wertminderungen des Unternehmens angesehen werden kann. Diese Ansicht ist in dem Fall als richtig anzusehen, wenn die Dividendenzahlung unabhängig von möglichen kurzfristigen Gewinnschwankungen kontinuierlich ausgeschüttet würde. Die Dividendenzahlung würde demnach für Kursminderungen entschädigen, die im Zuge unternehmerischer Fehlentscheidungen eintreten könnten (vgl. Shefrin, 2007, S. 110 ff.). Auch die Behavioral-Finance-Forschung befasst sich seit geraumer Zeit mit der eingangs gestellten Fragestellung, weshalb Unternehmen Dividenden an ihre Aktionäre ausschütten, konnte jedoch noch keine zufriedenstellende Antwort finden. Dieses Kapitel konzentriert sich daher auf die Darstellung der zur Diskussion stehenden Hypothesen. Das lückenhafte Verständnis für die Motivation, Dividenden an die Aktionäre auszuschütten, wird durch den Begriff „dividends puzzle“ von Black beschrieben: „The harder we look at the dividend picture, the more it seems like a puzzle, with pieces that just don’t fit together“ (Black, 1976, zit. nach Ben-David, 2010, S. 435) Im Laufe der Zeit haben sich zahlreiche Ökonomen mit dieser Fragestellung befasst, wobei zwei Hypothesen im Raum stehen, die jedoch in empirischen Untersuchungen z.T. schon widerlegt werden konnten (Allen und Michaely, 2003; Frankfurter und Wood, 2006; DeAngelo und Skinner, 2009): [1] Zum einen könnte die Ausschüttung von Dividenden als eine Möglichkeit zur Beilegung von Interessenkonflikten dienen. [2] Zum anderen könnte sie als Signalfunktion im Zuge asymmetrischer Informationsverteilung verstanden werden. Um die nachfolgenden Ausführungen über die Forschungsergebnisse bzw. die andauernden Diskussionen besser verstehen zu können, ist es ratsam, die bislang empirisch gesammelten Erkenntnisse über Dividenden zusammenzufassen (vgl. Ben-David, 2010, S. 436): Dividenden werden seit ca. 400 Jahren als primäre Gewinnbeteiligung an die Aktionäre ausgeschüttet. Dividenden werden mehrheitlich von Unternehmen gezahlt, die im Lebenszyklus bereits vorangeschritten sind und eine stabile Ertragsentwicklung aufweisen (so führte Apple die erstmalige Ausschüttung von Dividenden im März 2012 ein). Obwohl Dividenden die häufigste Ausschüttungsmethode für den Unternehmensgewinn darstellen, sinkt die Bedeutung dieser Gewinnausschüttungsart im Vergleich zum Rückkauf eigener Aktien, der stetig an Bedeutung gewinnt. Hierbei ist zu beachten, dass die Unternehmen auszuschüttende Gewinne entweder durch die Dividendenausschüttung an die Aktionäre aktiv auszahlen oder den Aktienkurs des Unternehmens durch den Rückkauf eigener Aktien steigern. Aktionäre, die Zahlungsströme aus dem Unternehmen erzielen möchten, können die Aktien zum gestiegenen Kurs veräußern. Letzteres gewinnt stetig an Bedeutung, da die Anleger im Fall der Kursteigerung (ohne Verkauf von Aktien) keine Ertragssteuer zahlen müssen, die im Falle ausgeschütteter Dividenden von den Anlegern zu zahlen wäre (Fama und French, 2001; Brandon und Ikenberry, 2004). <?page no="304"?> 11.2 Ausschüttungspolitik aus Sicht der Behavioral Finance 303 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Dividenden zeichnen sich im Vergleich zu Wertpapierkursen durch eine geringere Volatilität aus. Obwohl der Rückkauf von eigenen Aktien aus steuerrechtlichen Gründen oft vorteilhaft sein kann, da die Aktionäre in diesem Fall keine Steuern zu entrichten haben, stellt die Dividendenausschüttung, die über die Abgeltungssteuer besteuert wird, weiterhin die häufigste Gewinnbeteiligungsart dar. Die Ankündigung einer Dividendenausschüttung bzw. deren Anhebung führt gewöhnlich zu steigenden Kursen.Die Senkung der auszuschüttenden Dividenden bzw. deren Aussetzung führt dagegen häufig zu fallenden Aktienkurse. Aufgrund der Langfristigkeit der Entscheidung für oder gegen eine Dividendenausschüttung, zögern Unternehmenslenker die Dividendenausschüttung als Gewinnbeteiligung der Aktionäre oft hinaus. Damit sollen Kursverluste vermieden werden, die aufgrund sinkender oder ausbleibender Dividendenzahlungen zu befürchten wären. Im Rahmen der Forschungsarbeiten über die Motivation zur Dividendenausschüttung (Allen und Michaely, 2003) wurde versucht die Ausschüttung unter rationalen Gesichtspunkten zu betrachten. So wird u.a. die Ausschüttung auch als Kompensation für anfallende Transaktionskosten beim Handel mit Wertpapieren angeführt. Einige Forschungsarbeiten führen für die Ausschüttung von Dividenden allgemeine Beweggründe auf, in denen die Ausschüttung an sich im Vordergrund steht. Andere Forschungsarbeiten stellen die Betrachtung verhaltensorientierter Beweggründe in den Vordergrund. Diese Forschungsarbeiten haben die Zielsetzung herauszufinden, weshalb die Dividenden tatsächlich gezahlt werden. Allgemeine Beweggründe Nachfolgend werden die wichtigsten Erkenntnisse aus den vielfältigen Forschungsarbeiten über die Dividendenausschüttung aufgelistet (vgl. Ben-David, 2010, S. 438 ff.). Zielgruppenspezifische Beweggründe Hierbei werden Beweggründe aufgeführt, die sich entweder nach der Art des Marktteilnehmers (Institutioneller Investor vs. Privatinvestor) oder dem Lebenszyklus des Marktteilnehmers richten. So bevorzugen institutionelle Investoren Dividendenzahlungen aus regulatorischen oder steuerlichen Gründen; ältere Menschen im Rentenalter bevorzugen die Dividendenzahlung, da diese für wiederkehrende Einnahmen sorgen. Marktteilnehmer mit relativ geringen Lohnbezügen bevorzugen Dividenden aufgrund ihres geringeren Steuersatzes (Graham und Kumar, 2006). Letzteres gilt jedoch nicht uneingeschränkt für EU-Länder, da hier die so genannte Abgeltungssteuer auf Dividenden oder Kursgewinnen unabhängig vom persönlichen Steuersatz des Marktteilnehmers ist. Lebenszyklus des Unternehmens Ein anderer Forschungsansatz stellt den Lebenszyklus der Unternehmen in den Vordergrund der Betrachtung. Die Forschungsergebnisse von Grullon et al. (2002) deuten darauf hin, dass Unternehmen, die Dividenden ausschütten, geringere Volatilität in ihrer <?page no="305"?> 304 11 Anwendung der Behavioral Finance in der Unternehmensführung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Geschäfts-/ Renditeentwicklung aufweisen. Diese Auffassung wird durch Chay und Suh (2008) in dem Sinne bestätigt, dass nach ihrer Ansicht Dividenden von den Unternehmen gezahlt werden, die einer geringeren Unsicherheit über die künftige Ertragsentwicklung ausgesetzt sind (vgl. Ben-David, 2010, S. 439 f.). Kontinuitätsgedanke Ein weiterer Erklärungsansatz für die Dividendenausschüttung basiert auf dem Gedanken der Kontinuität. Unternehmen schütten demnach Dividenden aus, weil sie das auch bislang so gemacht haben und zudem die Ausschüttung von den Aktionären erwartet wird. Seit fast vier Jahrhunderten werden Dividenden ausgeschüttet. Diese Ausschüttungsform gilt als allgemein gültige und praktizierte Gewinnbeteiligungsform für die Aktionäre. Folglich ist die Annahme, dass sich ein gewisser sozialer Druck zur Dividendenausschüttung entwickelt hat, nicht von der Hand zu weisen (Frankfurter und Wood, 1997). Zudem galt im 19. Jahrhundert die Dividendenausschüttung in den Augen vieler Aktionäre als eine Sicherheit gegenüber betrügerischen Bilanzierungspraktiken. Die Anteilseigener waren in der Lage, über die ausgeschütteten Dividenden den Wert der Aktie zu berechnen und machten sich dementsprechend weniger Sorgen über die Buchführung seitens der Unternehmenslenker. Der Kontinuitätsgedanke wird auch durch die Befürchtung genährt, dass, wenn die Dividenden gesenkt werden, der Aktienkurs des betroffenen Unternehmens ebenfalls sinken müsste (Brav et al., 2005). Diese Sichtweise wird auch durch eine Umfrage unter 300 CFOs, durchgeführt von der Duke University im Jahr 2004, bestätigt. Demnach sehen 75 Prozent der Befragten Dividendenentscheidungen als ein Signal für das unternehmerische Wohlergehen an und 80 Prozent der Befragten gehen von negativen Kursreaktionen aus, sofern die Dividenden reduziert bzw. ausgesetzt werden. Zudem würden 60 Prozent der Befragten Fremdkapital aufnehmen, um Investitionsprojekte zu finanzieren, statt auf die Dividendenzahlung zu verzichten oder diese zu reduzieren (vgl. Shefrin, 2007, S. 121). Bewertungsgedanke Marktteilnehmer verwenden eine Reihe von Kennzahlen zur fundamentalen Bewertung von Wertpapieren (vgl. Kap. 2.2.1). Diese Kennzahlen, wie die Dividende pro Aktie oder der Buchwert pro Aktie, werden zur Bewertung eines Wertpapiers herangezogen, um eine mögliche Überbzw. Unterbewertung aufzudecken. Die Bewertung einer Aktie mittels der Dividendenrendite (Dividenden ausgedrückt in Relation zum Aktienkurs) wird häufig als ein Indikator für die Werthaltigkeit eines Unternehmens angesehen (Graham, Dodd und Cottle, 1934; Gordon, 1959; Baskin, 1988). Dividendenausschüttung wird im Weiteren auch als ein Signal betrachtet, bei dem die Qualität der unternehmerischen Tätigkeit im Vordergrund steht (Miller und Modigliani, 1961; Bhattacharya, 1979; Miller und Rock, 1985; John und Williams, 1985). Nach dieser Auffassung schütten Unternehmen Dividenden aus, um den Marktteilnehmern auf diese Weise die positiven Aussichten über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens zu signalisieren. <?page no="306"?> 11.2 Ausschüttungspolitik aus Sicht der Behavioral Finance 305 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Verhaltensorientierte Beweggründe Forschungsarbeiten, die verhaltensorientierte Beweggründe für die Ausschüttung von Dividenden untersuchen, postulieren, dass die betroffenen Unternehmen durch die Ausschüttung die wahrgenommenen Transaktionskosten senken wollen, bzw. den wahrgenommenen Wert des Wertpapiers erhöhen wollen (vgl. Ben-David, 2010, S. 440 ff.). Sentiment der Marktteilnehmer Die Wahrnehmung des Wertes eines Wertpapiers kann sich je nach wirtschaftlicher Lage verändern. So erscheinen dividendenausschüttende Unternehmen in Rezessionen stärker die Gunst der Marktteilnehmer zu genießen, als dies im Falle einer expansiven Wirtschaftslage der Fall ist. Baker und Wurgler (2004) argumentieren, dass die Nachfrage nach Dividendenausschüttung sich in Abhängigkeit zur Risikoneigung der Marktteilnehmer ändert. Ist die Risikoneigung in Rezessionsphasen gering und die Stimmung (sentiment) der Marktteilnehmer schlecht, so neigen die Marktteilnehmer zum Erwerb dividendenstarker Wertpapiere, die durch die Dividendenausschüttung einen Teil möglicher Kursverluste ausgleichen. In wirtschaftlich expansiven Zeiten, in denen die Stimmung der Marktteilnehmer dagegen positiv und die Risikoneigung hoch ist, scheinen Wertpapiere bevorzugt zu werden, die ihre Gewinne in den weiteren Ausbau des Unternehmens stecken und folglich keine Dividenden ausschütten. Heuristiken Die Präferenz der Marktteilnehmer für Dividenden kann außerdem durch die Betrachtung der Heuristiken Selbstkontrolle und mentale Buchführung erklärt werden. Selbstkontrolle präferieren Marktteilnehmer Dividenden als Schutz vor dem übereilten Verkauf von Wertpapieren zur Befriedigung der eigenen Konsumwünsche (Thaler und Shefrin, 1981; Shefrin und Statman, 1984). In diesem Sinne würden lediglich die Dividenden für den Konsum verwendet werden, das Investitionskapital würde jedoch nach Möglichkeit unangetastet bleiben. Shefrin und Statman (1984) bedienen sich bei der Erklärung der Präferenz für Divimentalen Buchführung. Demnach bewerten Marktteilnehmer Erträge aus Kursgewinnen und Dividenden in unterschiedlichen Konten. Der Grund hierfür kann in der unterschiedlichen Wertigkeit für kleinere und größere Gewinne gesehen werden. Mehrere kleinere Gewinne werden aufgrund der erhöhten Sensitivität, bedingt durch die steile Steigung der Wertfunktion in der Nähe zum Bezugspunkt, wertvoller wahrgenommen als ein großer Gewinn, wenn dieser durch den Verkauf der Wertpapiere realisiert wird. Dividenden werden von Marktteilnehmern, insbesondere von älteren Menschen im Rentenalter, bevorzugt, wenn diese regelmäßig wiederkehrenden Einkünfte einen Verdienstausfall ausgleichen sollen. So werden die Dividendeneinkünfte in einem entsprechen Konsum-Konto getrennt vom Anlagekapital verbucht. Das Anlagekapital wird auf- <?page no="307"?> 306 11 Anwendung der Behavioral Finance in der Unternehmensführung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance grund der selbst auferlegten Selbstkontrolle nicht für den Konsum verwendet. Aus diesem Grund wird das Anlagekapital auch in einem anderen mentalen Konto, dem Anlagekonto, verbucht (vgl. Shefrin, 2007, S. 115). Die Behavioral-Finance-Forschung beschäftigt sich im Rahmen der Dividendenpolitik von Unternehmen mit der Frage, weshalb Dividenden gezahlt werden. Neben allgemeinen Beweggründen kristallisieren sich auch verhaltensbedingte Gründe, wie die der getrennten Betrachtung von Dividenden und Kursgewinnen, heraus. 1111. .3 3 IInni ittiiaall PPuubblliicc OOffffe erri inng gss aauuss SSi icchhtt ddeerr BBeehhaavviioorra all FFiinnaannccee Der Börsengang eines Unternehmens (Initial Public Offering/ IPO) ist nicht nur aus Anlegersicht ein sehr einschneidendes Ereignis im Lebenszyklus eines Unternehmens. Er ist Behavioral Finance besonders spannend, da er zu den drei nachfolgend aufgelisteten Phänomenen führt (vgl. Derrien, 2010 S. 475 ff.): Unterbewertung Emissionspreis Temporäre IPO-Booms Langfristige Negativperformance nach Erstemission Unterbewertung Emissionspreis Wie bereits zu Beginn dieses Unterkapitels erwähnt wurde, handelt es sich bei diesem Phänomen um relativ hohe Kursgewinne im Laufe der ersten Handelstage. Kursgewinne zwischen 10 und 15 Prozent können zunächst auch aus einer rationalen Perspektive erklärt werden. Nach Jenkinson und Ljungqvist (2001) führen Informationsasymmetrien zwischen den beteiligten Akteuren (Unternehmen, Investmentbanken, Investoren) zu entsprechenden Kursgewinnen im Laufe der ersten Handelstage. Die Bezeichnung „Informationsasymmetrie“ steht dabei für die Konstellation, bei der die beteiligten Akteure nicht über dieselben Unternehmensinformationen verfügen. Die Kursgewinne werden demzufolge als Entschädigung für die Erstzeichner aufgrund des eingegangenen Risikos interpretiert und bilden einen Anreiz zur Zeichnung der Wertpapiere. Kursgewinne, die jedoch weit oberhalb der besagten 10-15 Prozent liegen und in Boom- Zeiten auch zu einer Verdopplung gemessen am Emissionspreis führen, legen zur Erklärung der möglichen Ursachen die verhaltenswissenschaftliche Sichtweise nahe. So kann die absichtliche Reduktion des Emissionspreises mit dem Wunsch des aktienemittierenden Unternehmens (Emittent) nach positiven Analystenempfehlungen zusammenhängen. Nach Ritter und Loughran (2004) erkaufen sich die Emittenten positive Analysteneinschätzungen durch die Reduktion des Emissionspreises. Dies ist insbesondere in Zeiten stark überbewerteter Aktien, wie zu Zeiten der Dotcom-Spekulationsblase Anfang 2000, der Fall. Die begleitenden Investmentbanken sichern sich einen Anteil am Emissionserlös, indem sie vor der Erstnotierung Aktien zugeteilt bekommen <?page no="308"?> 11.3 Initial Public Offerings aus Sicht der Behavioral Finance 307 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance (sog. „Green-Shoe“), die dann aufgrund der im Vorfeld der Emission geäußerten positiven Einschätzungen mit hohen Kursgewinnen im Laufe der ersten Handelstage zur Kursstabilisierung veräußert werden können. Eine weitere Erklärung für diese so genannten „Zeichnungsgewinne“ sind optimistisch gestimmte Investoren, die für den Bezug der Aktie mehr zahlen würden, als dies vom Emittenten im Rahmen der Preisfindungsphase festgelegt wurde (Derrien, 2005). Die Preisfindung basiert hierbei auf der Rückmeldung institutioneller Marktteilnehmer, die ihre Preisangabe am Fundamentalwert des Unternehmens ausrichten sowie auf der Preisangabe von Privatanlegern, die durch die mediale Berichterstattung u.U. einen wesentlich höheren Preis für die Aktie zahlen würden. Werden die jungen Aktien nun unterhalb des Preises ausgegeben, den Privatanleger zu zahlen bereit sind, so kann von weiteren Kursanstiegen ausgegangen werden, da die Privatanleger nach der Erstnotierung der Wertpapiere einsteigen werden, falls ihnen nicht direkt bei der Emission Aktien zugeteilt wurden (vgl. Derrien, 2010, S. 477 ff.). Temporäre IPO-Booms Das zweite Phänomen im Rahmen von Aktienemissionen ist die starke Häufung von Emissionen in Zeiten, wenn die Kursgewinne in den ersten Tagen sehr hoch sind. Wie in Abb. 73 erkennbar ist, steigt die Anzahl der Neuemissionen, wenn signifikante Kursgewinne nach der Erstnotierung möglich sind. Diese Zeitabschnitte, wie zu Zeiten der Dotcom-Spekulationsblase ab Mitte der 1990er Jahre bis Anfang 2000, sind von starker Überbewertung der Unternehmen gekennzeichnet. Es ist daher anzunehmen, dass die Unternehmen sich nach Möglichkeit ein entsprechendes Zeitfenster aussuchen, in dem sie ihre Aktien platzieren können. Untersuchungsergebnisse weisen auf unterschiedliche Argumente für das Timing eines Börsengangs hin. So versuchen manche Unternehmen, die temporäre Überbewertung bereits an der Börse notierter Unternehmen auszunutzen und platzieren einen großen Anteil der Aktien. Nach Pagano et al. (1998) sowie Jain und Kini (1994) sinkt die Gesamtrentabilität aus der operativen Tätigkeit gelisteter Unternehmen im Laufe von zwei Jahren nach der Emission. Dies deutet darauf hin, dass die Unternehmen eine temporäre Überbewertung für den Börsengang nutzen. Die Gesamtrentabilität ist hierbei nicht auf die Rentabilität bzw. die Rendite der Wertpapieranlage aus dem Blickwinkel des Anlegers zu verstehen, sondern aus dem Blickwinkel des Unternehmens, das eine Rentabilität seiner Geschäftstätigkeit im Rahmen der Bilanzierung ermittelt. Andere Unternehmen beabsichtigen dagegen nur einen geringen Teil an Aktien auszugeben, um durch den Erlös ihre Wettbewerbsposition zu verbessern. Nach Schultz und Zaman (2001) sind manche Unternehmenslenker nicht an den kurzfristig hohen Emissionserlösen und damit der Ausnutzung begrenzt rationaler Marktteilnehmer interessiert, sondern vielmehr am Erhalt der größtmöglichen Kontrolle über das Unternehmen (vgl. Derrien, 2010, S. 481 ff.). <?page no="309"?> 308 11 Anwendung der Behavioral Finance in der Unternehmensführung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Signifikante Zeichnungsgewinne bei vermehrter Emissionsaktivität - Beispiel Dotcom-Spekulationsblase 1998-2000 Abb. 73: Anzahl Erstemissionen und durchschnittlicher Zeichnungsgewinn zwischen 1980 und 2015; Ritter (2016) Langfristige Negativperformance von IPOs Das dritte Phänomen der langfristig sinkenden Kurse von Neuemissionen, ist noch ein relativ unerforschtes Gebiet. Die Tatsache, dass manche Kurse von neu emittierten Aktien im Laufe der Zeit stark sinken, bekräftigt j Effizienzmarkthypothese von Fama (vgl. Kap 1.2.5). Demnach müssten in einem effizienten Markt fehlerhaft angegebene Geschäftszahlen von den Marktteilnehmern bemerkt werden und dann innerhalb kürzester Zeit im Aktienkurs zum Ausdruck gebracht werden. Die Erklärung für diese Entwicklung kann im zweiten Phänomen - IPO Boom Phasen - gefunden werden. Innerhalb von IPO Boom Phasen neigen Unternehmenslenker zum Börsengang, da in diesen Phasen ihr Unternehmen besonders attraktiv bewertet wird. Folglich haben sie ein Interesse, die Bewertung, selbst wenn sie in ihren Augen als übertrieben erscheint, auszunutzen. Entstehen im Zuge der Emission signifikante Zeichnungsgewinne, so werden nicht nur weitere Unternehmen angelockt, sondern auch weitere Marktteilnehmer, die bei künftigen Emissionen zugreifen. Die Überbewertung der Wertpapiere wird den Marktteilnehmern erst mit Verzögerung erkennbar. Entsprechend der im Kap. 4.3.3 beschriebenen Marktanomalien, kommt es Mean-Reversion-Effekt. Die Marktteilnehmer, Verfügbarkeitsheuristik ausschließlich positive Nachrichten wahrgenommen haben, merken u.U. zunehmend, dass die Bewertung der Wertpapiere sich vom Fundamentalwert entfernt hat. Die Wertpapierkurse korrigieren demnach mit der Zeit die Überbewertung und unterliegen über längere Zeit einer negativen Kursentwicklung. <?page no="310"?> 11.4 Corporate Governance aus Sicht der Behavioral Finance 309 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1111..44 CCoorrppoor raattee G Goovve errnnaannccee a auus s SSiic chhtt dde er r BBeehhaavvi io orraall FFiin naannccee Im nächsten Unterkapitel steht die Entlohnung der Unternehmenslenker im Zentrum der Betrachtung. Es soll untersucht werden, welche Zielsetzung einzelne Entlohnungskomponenten haben und wie diese sich auf die Verhaltensweise der Unternehmenslenker auswirken. Nach der Principal-Agent-Theorie sollen die Unternehmenslenker (Agents) die Interessen der Aktionäre (Principals) als rechtliche Eigentümer des Unternehmens wahren. Der Aufsichtsrat, der durch die Aktionäre gewählt wird, soll in dieser Konstellation die Interessen der Aktionäre vertreten und die Entscheidungen der Unternehmenslenker überwachen, um dadurch Geschäfte zu unterbinden, die nicht der Wertsteigerung des Unternehmens dienen. Diese traditionelle Sichtweise wurde in den vergangenen Jahren mehrfach in Frage gestellt. Es häuften sich Unternehmensskandale (u.a. Enron 2001 oder Volkswagen 2016), die allesamt gezeigt haben, dass manche Unternehmenslenker sich mit der Zeit von den Interessen der Aktionäre abwenden und ihre eigenen Interessen in den Vordergrund rücken. Die Behavioral-Finance-Forschung beschäftigt sich zunehmend auch mit der Auswirkung von Entlohnungskomponenten auf die Verhaltensweise der beteiligten Akteure. Hierbei liegt der Fokus auf der Höhe und Art der Entlohnung, die sowohl erbrachte Leistungen honorieren soll, aber auch vor Überbezahlung schützen soll. Innerhalb der Selbstüberschätzung Prospect Theory eine bedeutende Rolle. Die Mitglieder des Aufsichtsrates könnten z.B. aufgrund ihrer Selbstüberschätzung mögliche Interessenskonflikte zwischen Unternehmenslenkern und Aktionären unterschätzen. Zudem kann der Aufsichtsrat dazu neigen, das Risiko verhaltensbedingter Konflikte zu unterschätzen, die wiederum zu Interessenskonflikten führen können. selektiven Entscheidung nicht rechtzeitig beendet werden, sondern u.U. sogar durch zusätzliche Investitionsmittel weitergeführt werden (Sunk-Cost-Effekt). Die Aufsichtsratsmitglieder laufen aufgrund ihrer Selbstüberschätzung zudem Gefahr, den Unternehmenslenkern zu hohe Kompensationen zuzugestehen. Nach Shefrin führt die Überschätzung der eigenen Kompetenz seitens der Aufsichtsratsmitglieder zur Verabschiedung von Kompensationsrichtlinien, die den Unternehmenslenkern ungerechtfertigte Vorteile gewähren. Die Befragungsergebnisse anonymer Umfragen durch das Wirtschaftsmagazin Forbes deuten eben auf diese Schwierigkeiten des Aufsichtsrates hin, korrekte, leistungsbezogene Kompensation mit den Unternehmenslenkern auszuhandeln. In 2012 z.B. votierten 46 Prozent von 175 befragten Aufsichtsratsmitgliedern für eine Anhebung der Executive Compensation, obwohl sich die wirtschaftliche Lage der Unternehmen verschlechtert hatte (vgl. Forbes Insights, 2012). So bekannte sich ein Aufsichtsratsmitglied, das zugleich Unternehmenslenker eines Unternehmens ist, zu den Problemen des Aufsichtsrates, anreizkompatible Kompensationspakete zu schnüren. Als Ursache sieht das Aufsichtsratsmitglied Selbstüberschätzung: <?page no="311"?> 310 11 Anwendung der Behavioral Finance in der Unternehmensführung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance „Compensation committee members are not malevolent. I’ve seen situations that are messed up, and yet the directors think they’re doing a hell of a job. They delude themselves. They think things are being done right and fairly - they don’t think they’re being had - when actually the excesses they’re approving are just mind-boggling […] It’s really „amateurs vs. pros.“ I’m classing the directors, in most cases, as amateurs, and management, together with the compensation consultants they hire, as pros. You can have a very sophisticated board - and it’ll still be amateurs vs. pros.“ (Shefrin, 2007, S. 130) Na ch Sh efri n ( 2007) k ann e in wesentlic he r Grund f ür d ie Bewilligun g unverhältnismäßiger Kompensationsforderungen seitens des Aufsichtsrates in der Unkenntnis verhaltensbedingte Verzerrungen liegen. Demnach verursacht Selbstüberschätzung nicht nur die ungerechtfertigte Risikoerhöhung in bestimmten Investitionssituationen. Die Unternehmenslenker sehen die Kompensationsforderungen als gerecht an, da sie sich Selbstattribution als Verursacher der unternehmerischen Erfolge sehen. Unternehmerische Misserfolge werden dagegen äußeren, widrigen Umständen angelastet, weshalb sie vertraglich vereinbarte Sanktionsmethoden im Falle nicht zufriedenstellender Leistungen ablehnen. Diese Sichtweise kann am folgenden Zitat eines Unternehmenslenkers verdeutlicht werden: „So my view of incentive compensation of any kind is that it’s fine if it isn’t just a giveaway program. The pendulum has to swing both ways - and usually it doesn’t. A compensation committee also hears a lot about external factors, things that couldn’t have been anticipated when the budget was being made. People say, „We worked our butts off“ […]. And you have to answer, „Look, that was the deal. You agreed to work here for a year under that deal, and if the shareholders get dung, then you get dung.“ (Shefrin, 2007, S. 131) Selbstüberschätzung wird zudem bei Finanzvorständen mit Blick auf die Prognosefähigkeit zur Entwicklung von künftigen Indexständen sichtbar. So sammelten Professoren der Duke University über 11.600 Vorhersagen von Finanzvorständen ein und überprüften ihre Genauigkeit. Das Ergebnis war erstaunlich wie auch eindeutig: Die Korrelation zwischen ihren Schätzungen und der tatsächlichen Wertentwicklung des S&P 500 lag knapp unter null. Wenn sie sinkende Kurse vorhersagten, stiegen diese tatsächlich tendeziell eher an (vgl. Kahnemann, 2014, S. 323 ff.). Eine weitere begrenzt rationale Verhaltensweise wird mit Blick auf den Rückkauf von Aktien deutlich. Unternehmenslenker entscheiden sich zum Rückkauf von Aktien, wenn die Aktienmärkte haussieren sich also in einem Aufwärtstrend befinden. Umgekehrt fallen die Aktienrückkäufe stark zurück, wenn die Märkte sich in einer Baisse befinden. Diese Tatsache, wie in Abbildung 74 dargestellt, ist insofern fragwürdig, als dass die Unternehmenslenker den Rückkauf der Aktien teuer erkaufen und in Folge diese Investitionen nicht mehr in die Entwicklung des Unternehmens fließen können. Sie unterlie- Herdenverhalten, wobei ein antizyklisches Rückkaufprogramm bei fallenden Kursen ökonomisch sinnvoller wäre. Ebenso ist festzuhalten, dass die Unternehmenslenker aufgrund der häufigen Koppelung ihrer Gratifikation an den Aktienkurs zum Aktienrückkauf neigen können, um die gewünschte Kurssteigerung der Unternehmensaktien zu erreichen. <?page no="312"?> 11.4 Corporate Governance aus Sicht der Behavioral Finance 311 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Quartalsweiser Aktienrückkauf in Mio. USD sowie Anzahl der beteiligten Unternehmen steigt/ fällt gleichlaufend mit Entwicklung des Aktienmarktes Abb. 74: Aktienrückkauf U.S. Unternehmen in Relation zur Indexentwicklung am Beispiel des S&P 500; FactSet Buyback Quarterly Report, June 2016. Mit Blick auf die Prospect Theory als weiteres Forschungskonzept für die Analyse von Corporate Governance Interessenskonflikten spielt die Vergütung der Unternehmenslenker mit Aktien-Optionen eine wesentliche Rolle für die Gefährdung des Unternehmenswertes. Aktien-Optionen werden Mitarbeitern in Führungspositionen (z.T. auch Unternehmenslenkern) häufig im Rahmen der Leistungsbeurteilung gewährt. Sie können dann nach Ablauf einer bestimmten Frist von in der Regel einigen Jahren veräußert werden. Beim Umgang mit diesen Optionen werden bestimmte begrenzt rationale Verhaltensweisen sichtbar, die jeweils für sich zur Gefährdung des Unternehmenswertes führen. Hierbei geht es insbesondere um die Überbewertung von Aktien-Optionen, die Überbewertung objektiv geringer Wahrscheinlichkeiten und die Neigung zur Bilanzmanipulation, um entsprechende Optionen zu erhalten. Untersuchungsergebnisse zeigen, dass die Aktien-Optionen insbesondere zu Zeiten gewährt werden, wenn die Mitarbeiter besonders zuversichtlich bzgl. der Perspektiven des Unternehmens sind (Bergman/ Jenter, 2003). Erscheint die Aktie in den Augen der Unternehmenslenker überwertet zu sein, neigen sie überproportional dazu, Aktienoptionen den entsprechenden Mitarbeitern als Teil der Entlohnungzu gewähren. Diese Verhaltensweise ist jedoch nicht im Sinne der Aktionäre, da durch die Gewährung von Aktien- Optionen in Zeiten der Überbewertung, die Möglichkeit für wertsteigernde Unternehmensübernahmen eingeschränkt werden, da ein Teil der Aktien bereits den Mitarbeitern zugeteilt wurde und dadurch nicht mehr als Akquisitionskapital zur Verfügung steht. Die Gewährung von Aktien-Optionen erweckt zudem bei den betroffenen Mitarbeitern die Erwartung, diese zu einer bestimmten Zeit bestmöglich am Derivatemarkt verkaufen <?page no="313"?> 312 11 Anwendung der Behavioral Finance in der Unternehmensführung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance zu können. Sie überbewerten demnach die Aussichten auf steigende Kursnotierungen, die beim Verkauf der Aktien-Optionen, aufgrund der Hebelwirkung von Optionen signifikante Erträge verursachen würden. Als Erklärung für diese Verhaltensweise kann auf Probability Weighting aus der Prospect Theory (vgl. Kap. 6.2) zurückgegriffen werden. Demnach neigen Marktteilnehmer oder wie in diesem Fall die Mitarbeiter mit Aktien-Optionen dazu, geringe Wahrscheinlichkeiten von extremen Ereignissen, wie z.B. stark steigende Aktienkurse zum Zeitpunkt der möglichen Veräußerung der Aktien- Optionen, überzubewerten. Folglich ist es möglich, dass die Mitarbeiter in Führungspositionen in ihrer Entscheidungsfindung mehr Risiken eingehen, um möglichst hohe Kurssteigerungen zu erreichen. Ist dies der Fall, können hochriskante Unternehmensentscheidungen getroffen werden, die im Nachhinein sogar die Existenz des Unternehmens gefährden. Diesem Vorwurf sehen sich z.B. viele Banken ausgesetzt, die vor der Finanzkrise ab 2007 in schwer durchschaubare Wertpapiere basierend auf dem amerikanischen Hypothekenmarkt investiert haben. Im Sinne der Angleichung der Interessen der Mitarbeiter mit denen der Aktionäre, können Aktien-Optionen Mitarbeitern mit Führungsfunktionen und damit auch den Unternehmenslenkern durchaus gewährt werden. Der Aufsichtsrat gewährt die Aktien-Optionen, damit diese den entsprechenden Mitarbeitern als Anreiz für die Investition in Projekte mit höheren Risiken dienen soll. Es sollte jedoch durch geeignete Kontrollinstrumente vermieden werden, dass die Unternehmenslenker aufgrund der möglicherweise kurzfristig wirkenden Anreizstruktur langfristig renditeschädliche Projekte verfolgen. Dazu können längere Haltedauern der Optionen dienen oder eine ebenfalls mögliche Verlustbeteiligung. Wie oben beschrieben, kann es also vorkommen, dass der Unternehmenslenker Entscheidungen trifft, die nicht im Sinne der Aktionäre sind, da die eingegangenen Projekte negative NPVs ausweisen und dementsprechend zu Wertminderungen führen können. Der Unternehmenslenker kann jedoch trotzdem geneigt sein, diese Risiken einzugehen, da ihm an einem entsprechend hohen Aktienkurs gelegen ist, welcher sich einstellt, wenn die getroffenen Entscheidungen erfolgreich sind. Zudem ist zu erwähnen, dass der Unternehmenslenker außer die Gefährdung seiner Anstellung oft keine Konsequenzen zu befürchten hat und folglich auch dazu geneigt sein kann, mehr Risiko einzugehen, als dies die Aktionäre im Sinne der Werterhaltung und Wertsteigerung ihrer Anteile wünschen würden. Beispielhaft ist hier die mittlerweile rückgängig gemachte Fusion zwischen Daimler und Chrysler unter dem Daimler-Vorstandschef Jürgen Schrempp zu erwähnen. Die Fusion führte im Rückblick zu gewaltigen Verlusten des Aktienkurses, wobei dieser innerhalb von fünf Jahren von 101 EUR auf 24 EUR in 2003 fiel. Der damalige Vorstandsvorsitzende Jürgen Schrempp verlor dagegen lediglich seine Anstellung bei Daimler. Die Aktien-Optionen, die er erhalten hatte, waren so ausgestaltet, dass selbst bei fallenden Kursen über die Anpassung des Ausübungspreises noch individuelle Gewinne möglich waren. Die Steigerung des Aktienkurses ist nicht nur durch die Steigerung der eingegangenen Risiken möglich, sondern auch durch die Vortäuschung von Geschäftsabschlüssen im Zuge von Bilanzmanipulationen. Sich unethisch verhaltende Unternehmenslenker gehen u.U. aufgrund ihrer Selbstüberschätzung sogar noch davon aus, dass die von ihnen zur Steigerung des Aktienkurses begangenen Bilanzmanipulationen nicht entdeckt werden. <?page no="314"?> 11.4 Corporate Governance aus Sicht der Behavioral Finance 313 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Forschungsergebnisse, wie die von Denis, Hanouna und Sarin (2005), zeigen auf, dass in Unternehmen, in denen Bilanzmanipulationen begangen wurden, häufiger Aktien- Optionen als eine Entlohnungskomponente verwendet werden, als in Unternehmen, in denen keine Bilanzmanipulationen aufgedeckt wurden. Zudem scheint eine bestimmte Besetzung des Aufsichtsrates und eine bestimmte Aktionärsstruktur Bilanzmanipulationen zu fördern bzw. zu begrenzen. So ist in Unternehmen mit starker institutioneller Beteiligung unter den Aktionären, die Gefahr größer, dass die Unternehmenslenker Bilanzmanipulationen begehen, da sie bei Nichterfüllung der gesetzten Ziele schneller Gefahr laufen, entlassen zu werden. Die Gefahr der Bilanzmanipulation nimmt jedoch merklich ab, wenn der Aufsichtsrat aus völlig unabhängigen Mitgliedern besetzt ist. Dies ist wohl der Tatsache geschuldet, dass der Aufsichtsrat weniger mit dem operativen Geschäft des Unternehmens verbunden ist und dadurch unabhängiger die Vorgänge im Unternehmen prüfen kann. Bilanzfälschungsskandale um Enron, Worldcom oder auch Tyco gehen allesamt auf übermotivierte Unternehmenslenker zurück, die aufgrund ihrer möglichen Verlustaversion, mehr Risiken eingegangen sind und die Verfehlungen ihrer Entscheidungen vor Prospect Theory bekannte Verlustaversion ist hierbei auch auf Investitionsentscheidungen auf Unternehmensebene anwendbar. Wie die Marktteilnehmer auf den Kapitalmärkten aufgrund ihrer Verlustaversion Verliereraktien behalten, neigen auch Unternehmenslenker dazu, verlustreiche Projekte weiterzuführen. Entstehen erste Anzeichen für eine negative Rentabilitätsentwicklung des Investitionsprojektes (negativer NPV), so befindet sich der Unternehmenslenker im negativen Bereich der Wertfunktion. In der Hoffnung, die Investition durch zusätzliche Budgetmittel in die Gewinnzone zu führen, können auch die Unternehmenslenker zum Sunk-Cost-Effekt neigen (siehe oben). Ein unethischer Aspekt kommt dazu, wenn die Verluste, aufgrund der Befürchtung entlassen zu werden, mit Scheingeschäften verdeckt werden (vgl. Shefrin, 2007, S. 127 ff.). Unternehmenslenker müssen aus Sicht der Behavioral Finance dafür sensibilisiert werden, dass entstandene Verluste bei einem bestimmten, vorher vereinbarten Niveau akzeptiert und kommuniziert werden. Das entspricht im Grunde einer „Stop-Loss-Order“ bei Privatanlegern. Auf diese Weise können sie z.B. die Gefahr lebenslanger Haftstrafen vermeiden, zu denen die Unternehmenslenker der oben genannten Unternehmen verurteilt wurden. Die Gesetzgebung in den USA hat im Zuge der sich häufenden Bilanzmanipulationen seit dem Bekanntwerden des Bilanzskandals um Enron den Sarbanes-Oxley-Act (2002) erlassen. Mit diesem Gesetz soll die Finanzberichterstattung börsennotierter Unternehmen soweit verändert werden, dass diese künftig durch den Vorstandsvorsitzenden und den Finanzvorstand unterschrieben werden und diese im Falle von Bilanzmanipulationen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können (vgl. Morck, 2010, S. 467). Im Bereich Corporate Governance steht die Entlohnung des Unternehmenslenkers und die daraus resultierenden Gefahren für die Gesamtrentabilität des Unternehmens im Vordergrund. Das Verhalten der Unternehmenslenker kann von der Selbstüberschätzung und der Verlustaversion beeinflusst werden. <?page no="315"?> 314 11 Anwendung der Behavioral Finance in der Unternehmensführung www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1111..55 EEqquui it tyy P Pr reem miiu um m P Puuz zzzlle e Wie schon im Kapitel 2 dargestellt, sollte die erwartete Rendite eines Wertpapiers (linear) abhängig sein vom Risiko, das mit der Anlage verbunden; so zumindest die neoklassische Sichtweise. Empirische Untersuchungen (u.a. Dimson, Marsh & Staunton, 2002) lassen allerdings vermuten, dass langfristig das Risiko von Aktien kaum höher ist als das von Anleihen, während die Rendite fast doppelt so hoch ausfällt. (Equity Premim Puzzle - Überrendite von Aktien) Entweder ist das Risikomaß in den neoklassischen Modellen ungeeignet oder die Wahrnehmung des Risikos durch die Anleger entspricht nicht den Modellen (vgl. Forbes, 2009, S. 269 ff.). Bevor wir uns den möglichen Erklärungen für dieses Phänom aus Sicht der Behavioral Finance widmen, sei nur kurz darauf verwiesen, dass sich daraus auch Implikationen für die Finanzierung von Unternehmen ergeben. So lässt sich folgern, dass die Finazierung mit Eigenkapital umso „teurer“ wird für ein Unternehmen, je stärker die Überrendite ausfällt. Dies ist eine weitere mögliche Erklärung dafür, dass in der Praxis, wenn möglich, die Fremdkapitalfinanzierung einer Finanzierung über Eigenkapital vorgezogen wird. Eine griffige Erklärung für das Equity Premium Puzzle liefert die Behavioral Finance Forschung beginnend mit den Arbeiten von Benartzi und Thaler (1995 und 2001). Sie Verlustaversion (mit kurzem Zeithorizont) mentale Buchführung. Vor allem, wenn Anleger, die Renditen ihrer Anlagen eher in kurzen Zeitabständen (z.B. jährlich) überprüfen, sind sie geneigt, für das Verlustempfinden, das kurzfristig entstehen kann, eine Kompensation zu verlangen. Entscheidend für die Risikoprämie wäre also in diesem Falle ein Risikomaß, das kurzfristige Renditeschwankungen miteinbezieht. Dieser Effekt wird noch vorstärkt, wenn Anleger ihre Wertpapierinvestitionen in separaten Konten betrachten. Dadurch käme es zu keiner Durchschnittsbildung, bei der Verluste einzelner Wertpapiere mit Gewinnen andere verrechnet werden (vgl. Forbes, 2009, S. 272 ff.). Zu guter Letzt stellt sich natürlich auch in diesem Zusammenhang die Frage, ob dieses Investorenverhalten im strengen Sinne irrational ist. Im Kapitel 13 werden die neurobiologischen Wurzeln dieses Verhaltens näher beleuchtet. Ohne diesen Bezug dürfte aber schon erkennbar sein, dass die Verlustaversion durchaus auch eine evolutionsbiologische Rechtfertigung hat. Vor Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden war ein verhältnismäßig kleinerer Gewinn aus einer ökonomischen Aktivität zwar bedauerlich, aber auch zu verschmerzen (z.B. geringerer Ernteertrag). Während hingegen ein Verlust durchaus mit Existenzgefährdung einhergehen konnte (Verlust von Viehbeständen). Insofern ist es gut nachvollziehbar, dass unsere mentalen Abläufe bis heute von dieser Verlustaversion geprägt sind, zumal sich unser Gehirn evolutionsbilogisch nur in kleinen Schritten fortentwickelt (vgl. Forbes, 2009, S. 280). Aktienrenditen sind oft langfristig höher als es ihrem Risikoprofil entspricht (Equity Premium Puzzle). Dies lässt sich mithilfe der kurzfristigen Verlustaversion und der mentalen Buchführung erklären <?page no="316"?> Zusammenfassung 315 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Z Zuussaammmmeennffaassssuunngg Dieses Kapitel stand im Zeichen von Investitionsentscheidungen unter Unsicherheit aus der Unternehmensperspektive. Es wurde deutlich, dass die Neigung zur Selbstüberschätzung bei Unternehmenslenkern eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Unternehmensentscheidungen darstellt. Die Selbstüberschätzung kann dabei von einer Reihe von Faktoren begünstigt werden. So spielt die Komplexität sowie die Heterogenität von zu treffenden Entscheidungen eine maßgebliche Rolle, genauso wie die Aussicht auf Beförderungen im Zuge von erfolgreichen Projekten. Zudem spielt auch die Grunddisposition des Unternehmenslenkers für Selbstüberschätzung eine Rolle. Selbstüberschätzung führt dazu, dass die Unternehmenslenker von unerwarteten Wendungen überrascht werden. Sie unterschätzen dabei Risiken, die im Laufe eines Investitionsprojektes auftreten können. Die Auswirkungen der Selbstüberschätzung könnten u.a. durch die aktive Überprüfung der Investitionsergebnisse und die Beachtung der Auswirkungen der Selbstattribution begrenzt werden. Außerdem kann die vorsichtige Kalkulation von künftigen Cashflows die Neigung zur Überinvestition im Zuge der Selbstüberschätzung begrenzen. Im Weiteren lag der Fokus in diesem Kapitel auf der Beantwortung der Frage, weshalb Unternehmen den Aktionären Dividenden ausschütten. Obwohl die Behavioral-Finance-Forschung noch keine eindeutigen Ergebnisse hervorgebracht hat, gibt es eine Hypothese, wonach die Ausschüttung als Ausgleich für rendite-/ risikoschädliche Investitionsentscheidungen dienen könnte. Ebenso könnten Ausschüttungen als Signalfunktion im Zuge asymmetrischer Informationsverteilung verstanden werden. Neben allgemeinen Beweggründen kristallisieren sich zudem auch verhaltensbedingte Gründe für die Dividendenzahlung heraus, wie z.B. die getrennte Betrachtung von Dividenden und Kursgewinnen im Rahmen der mentalen Buchführung. Der Börsengang eines Unternehmens steht im Rahmen unternehmerischer Entscheidungen ebenfalls im Fokus der Behavioral-Finance-Forschung. Hierbei liegt der Fokus auf der Untersuchung folgender drei Phänomene: Zu niedrige Emissionspreise, um dadurch signifikante Zeichnungsgewinne ermöglichen zu können; temporäre IPO-Booms, die zusätzlich andere Unternehmen anlocken; sowie die langfristige Negativperformance im Anschluss an den Börsengang. Schließlich wurde die Auswirkung der Entlohnung von Unternehmenslenkern und Managern auf die Entscheidungsfindung und damit die Gesamtrentabilität eines Unternehmens betrachtet. Es wurde ersichtlich, dass die Entlohnung von Unternehmenslenkern durch die Selbstüberschätzung der Unternehmenslenker und die des Aufsichtsrates verzerrt werden kann. Zudem wurde ersichtlich, dass die Unternehmenslenker aufgrund der Verlustaversion, zu Bilanzmanipulationen neigen könnten, wenn sie mit Blick auf ihre Entlohnung zum Teil über Aktien-Optionen, <?page no="317"?> 316 11 Anwendung der Behavioral Finance in der Unternehmensführung steigende Aktienkurse erreichen wollen. Es hat sich gezeigt, dass auch die Corporate Governance psychologische Einflüsse beachten sollte, um Risiken zu senken und die Gesamtrentabilität des Unternehmens zu sichern. Bei der Diskussion des Equity Premium Puzzles wurde deutlich, weshalb es aus Behavioral Finance Sicht erklärbar ist, dass die Renditen von Aktien langfristig höher ausfallen als es ihrem Risikoprofil entspricht. <?page no="318"?> 12.1 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1122 FFi in na annc ci ia al l NNuud dg giin ng g -- vveerrhhaal lt te enns swwi isssseenns scch haaffttlli ic ch hee AAn ns säät tzzee ffü ürr bbeesss se er ree FFi in na annz ze en nt tssc ch he ei id du unng geenn Im folgenden Kapitel werden Sie lernen, wie der wirtschaftspolitische Ansatz des Nudgings auf finanzwirtschaftliche Fragestellungen vor allem in der Verbraucherpolitik angewendet werden kann. Nach einer kurzen Einführung in das Konzept des libertären Paternalismus erfahren Sie, welche verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse die Grundlage für Nudgingansätze bilden. Sie lernen die Grundprinzipien des Nudgings kennen, und Sie wenden diese an auf konkrete Finanzentscheidungen. 112 2..11 LLiibbeerrttäärreerr PPaatteerrnnaalliissmmuuss Dem libertären Paternalismus liegt eine zentrale Frage bezüglich des ökonomischen Menschenbildes zugrunde: Trifft ein Mensch immer die beste Entscheidung für sich selbst oder zumindest besser, als ein anderer sie für ihn treffen würde? Und verhält er sich dabei rational, egoistisch und ist er allwissend? Bejaht man diese Fragen, so bewegt man sich im Rahmen der Annahme des homo oeconomicus. Er findet immer die für sich optimale Lösung und beansprucht, in seiner Freiheit der Wahl nicht bevormundet oder eingeschränkt zu werden. Richard Thaler und Cass R. Sunstein stellen dieser Annahme entgegen: „The false assumption is that almost all people, almost all of the time, make choices that are in their best interest or at the very least are better than the choices that would be made by someone else. We claim that this assumption is false - indeed, obviously false. In fact, we do not think that anyone believes it on reflection. (Thaler, Sunstein, 2009, S. 10). In empirischen Studien und bei genauerem Hinsehen in der Realität, zeigt sich ein beschränkt rational handelnder Mensch. Er tendiert, wie in Kapitel 3 beschrieben, dazu, sich von Emotionen und Heuristiken leiten zu lassen und trifft Entscheidungen, die nicht immer rational begründbar sind und somit auch zu Nachteilen führen können. Wer dieser Annahme des Menschenbildes folgt, gelangt zu der Idee, dass es für Individuen von Nutzen wäre, in ihrem Entscheidungsverhalten eine Form der Unterstützung zu erhalten. Dies sei am Beispiel des Übergewichts erklärt: Man kann davon ausgehen, dass sich nicht jeder betroffene Mensch optimal verhält im medizinischen Sinne um seine Gesundheit zu fördern. Die Stadt New York versuchte deshalb große Getränkebecher für Süßgetränke zu verbannen, um damit dem Übergewicht und den verbundenen Krankheiten wie Diabetes mellitus vieler Bürger aus der Metropole entgegenzuwirken. Diese Art der Politik nennt man „harten“ Paternalismus. Der Staat schränkt seine Bürger durch Regelungen und Verbote in ihrer Wahlfreiheit ein und bevormundet sie dadurch gewisser- <?page no="319"?> 318 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance maßen. Er tut dies, weil er glaubt, dass er dadurch das Nutzenniveau der Bürger steigern kann. 26 Thaler und Sunstein entwickeln auf der gleichen Basis eine „sanftere“ Alternative. Sie bezeichnen diese als libertären Paternalismus. Er ist durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet. Zum einen soll er die Freiheit der Menschen bei ihrer Wahl nicht beeinträchtigen. Sie sollen sich für die Handlungsmöglichkeit entscheiden, die sie möchten. Zum anderen soll es gleichzeitig öffentlichen und privaten Institutionen möglich sein, Konsumenten bei ihrem Verhalten in eine gewisse Richtung zu beeinflussen, die das langfristige Wohl der Konsumenten zum Ziel hat. 27 Als Beispiel kann eine Mensa herangezogen werden, die ein gesundes Essverhalten ihrer Gäste fördern möchte. Dabei können die Gäste in ihrem Verhalten beeinflusst werden, indem gesunde Gerichte beispielweise leichter zu erreichen sind als Fast-Food. Möchte jemand aber Fast-Food essen, soll er dies auch können. 28 So wird der libertäre Paternalismus gelegentlich auch als der „wahre dritte Weg“ staatlicher Wirtschafts- und Ordnungspolitik im 21. Jahrhundert bezeichnet. Dabei ist er prima facie keiner politischen Orientierung zuzuordnen, sondern zunächst und primär der präferenzgerechten Effizienz verpflichtet (vgl. Neumann, 2013, S. 3). Im Folgenden werden die mit libertärem Paternalismus in Verbindung stehenden Themen der Entscheidungsarchitektur, die Bedeutung der Wahlfreiheit, die Instrumente des Nudging und die Grenzen des libertären Paternalismus erläutert. Libertärer Paternalismus ist durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet. Zum einen soll er die Freiheit der Menschen bei ihrer Wahl nicht beeinträchtigen. Sie sollen sich für die Handlungsmöglichkeit entscheiden, die sie möchten. Zum anderen soll die Auswahl einer gesellschaftlich erwünschten Alternative erleichtert werden. 1122..11..11 EEnnt ts scchheeiidduunnggssaarrcchhiitteek kttu urr Die Art und Weise wie eine Entscheidungssituation ausgestaltet und dann dargestellt wird, nennt man Entscheidungsarchitektur. Insofern sind die Überlegungen eng mit dem Darstellungseffekt (Framing) verbunden. Ein eindrückliches Beispiel für den Umgang mit Entscheidungsarchitektur liefern die öffentlichen Pissoirs am Amsterdamer Flughafen. Innerhalb des Porzellanbeckens wurden Aufkleber von kleinen schwarzen Fliegen an einem Punkt angebracht, welcher den 26 Vgl. Lestch, Blain, 2014 und Horn, 2013a; man könnte zusätzlich auch argumentieren, dass der Staat dadurch auf negative externe Effekte reagiert, die als Krankheitskosten von der ganzen Gesellschaft zu tragen sind. 27 Dass ein solcher Ansatz eine ganze Reihe von grundsätzlichen Kritikpunkten nach sich zieht, wird in Kapitel 12.1.4. ausführlich diskutiert. 28 Vgl. Thaler, Sunstein, 2003, S. 175 ff.; wichtig ist an dem Beispiel, dass z.B. ernährungswissenschaftlich klar ist, welche Lebensmittel gesund sind. <?page no="320"?> 12.1 Libertärer Paternalismus 319 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Spritzeffekt minimiert. Besucher werden von der Fliege beeinflusst und zielen auf sie. So konnte die Verschüttung/ Spritzer um 80 Prozent vermindert werden. 29 Der Entscheidungsarchitektur liegt ein wesentlicher Gedanke zu Grunde: Handlungsentscheidungen bilden nicht immer optimal die Präferenzen von Menschen ab. Man kann also nicht verlässlich auf die Vorlieben eines Individuums aufgrund seiner vollzogenen Handlung schließen. Nur weil ein Mensch eine Handlung vollzieht, bedeutet das nicht, dass er diese Handlung vor allen anderen, möglichen Alternativen vorzieht. Libertärer Paternalismus versucht die verschiedenen Alternativen innerhalb der Entscheidungssituation so darzustellen, dass die Person u.U. überhaupt erst die Möglichkeit hat, ihre Präferenzen tatsächlich auszudrücken (vgl. Sunstein, Thaler, 2003, S. 1162). Außerdem sollte dem systematischen Auftreten von Anomalien und Verzerrungen entgegengewirkt werden, um dem Individuum ein rationaleres Verhalten zu ermöglichen. So kann dem Entscheider eine Situation präsentiert werden, die versucht Anomalien auszugleichen, um ihn in die Lage zu versetzen, nach seinen individuellen Präferenzen verzerrungsfrei zu handeln. Wichtig ist dabei, dass es ein vollständig neutrales Design nie geben kann, da Entscheidungssituationen immer individuell wahrgenommen werden. Abhängig davon, wie die Entscheidung dargestellt wird, beeinflusst sie in jedem Fall den Menschen in seinem Verhalten. Die Entscheidungsarchitektur kann allerdings so gestaltet werden, dass bestimmte Alternativen hervorgehoben werden und den Entscheider in seinem Verhalten beeinflussen. Der Idee nach sollte dies im Sinne der langfristigen Präferenzen des Individuums geschehen. Der choice architect ist somit für die Entscheidungsarchitektur verantwortlich. Er bestimmt, organisiert und formt den Kontext, in welchem die Entscheidungssituation einem Individuum präsentiert wird. Dies können sowohl öffentliche und als auch private Institutionen leisten. Der Staat spielt als öffentliche Einrichtung besonders häufig diese Rolle. Zudem erreichen seine Entscheidungen bezüglich der Entscheidungsarchitektur große Teile der Bevölkerung und müssen deshalb sorgsam abgewogen werden. Genauso sind im Übrigen viele Menschen in ihrem Berufsleben oder Alltag in der Position des choice architects; z.B. eine Ärztin, die einem Patienten mögliche Behandlungen vorstellt, ein Autoverkäufer, der einem Kunden ein Auto verkaufen möchte, ein Bankangestellter, der einer Kundin verschiedene Finanzierungsformen präsentiert oder ein Elternteil, der sein Kind erzieht und ihm Handlungsmöglichkeiten aufzeigt (vgl. Neumann, 2013, S. 33f. und Thaler, Sunstein, 2009, S. 3). 1122..11..22 WWaahhllffrreeiihheeiitt && PPaatteerrnnaalliissmmuuss Man könnte zum Schluss kommen, dass libertärer Paternalismus ein Widerspruch in sich ist. Thaler und Sunstein befassen sich ausführlich mit der Frage, wie freiheitliche Wahl mit Regelungen und anderen paternalistischen Handlungen in Einklang zu bringen ist (Sunstein, Thaler, 2003, S. 1160). 29 Vgl. Vicente (2006), S. 84f.; natürlich muss man wieder davon ausgehen, dass beide Effekte individuell bzw. gesamtgesellschaftlich erwünscht sind. <?page no="321"?> 320 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Sunstein drückt dabei die Bedeutung der Wahlfreiheit folgendermaßen aus: „Die generelle Maxime des von uns umrissenen und vertretenen Libertären Paternalismus fordert, dass die Menschen die von den Planern nahegelegte Option einfach vermeiden können.“ (Sunstein, 2007, S. 291) Einem Menschen darf die gesamte Fülle an Handlungsalternativen nicht verwehrt bleiben. Wenn ein Staat also keine Alternativen ausschließt und der Mensch die freie Wahl über sein Handeln behält, so geschieht dies im Sinne des libertären Paternalismus. 30 Viele Menschen stehen Paternalismus skeptisch gegenüber. Den Grund dafür sehen Thaler und Sunstein in zwei fälschlichen Annahmen. Zum einen trügt die Sichtweise, dass man es vermeiden kann, Menschen zu beeinflussen. In vielen Situationen müssen Entscheidungen getroffen werden, die andere beeinflussen. Zum anderen ist die Annahme irreführend, dass Paternalismus immer mit Zwang einhergehen muss (vgl. Thaler, Sunstein, 2009, S. 10f.). Der libertäre Paternalismus hat zwar zum Ziel, den Menschen in Richtung einer bestimmten Alternative zu beeinflussen, die seinen oder den gesellschaftlichen Präferenzen entspricht. Er lässt ihm aber alle Freiheit in seiner Entscheidung, so dass er sich für die Alternative entscheidet, die er selbst bevorzugt. Über die Entscheidungsarchitektur wird den Wirtschaftssubjekten die Möglichkeit gegeben, ihre Präferenzen auszudrücken. 1122..11..33 AArrtteenn uunndd MMeerrkkmmaallee ddeess NNuuddggiinngg Damit ist man bei der Frage angelangt, auf welche Art und Weise man für Individuen gezielte Anreize gestalten kann, die eine präferierte Alternative in den Vordergrund rücken. Thaler und Sunstein nennen den Ansatz „nudging“. Der Mensch bekommt wörtlich übersetzt einen kleinen und sanften „Stupser“ in eine gewisse Richtung. In unserer heutigen Welt begegnen wir täglich Nudges, z.B. ein GPS, das eine „beste“ Route auf einer Karte anzeigt, eine SMS, die an die ablaufende Leihfrist von Bibliotheksbüchern erinnert, Angaben auf Lebensmitteln, die verschiedene Nährstoffe auflisten oder die Werkseinstellungen auf Smartphones und Laptops. Ein libertär paternalistischer Nudge sollte neben der Wahl- und Zwangsfreiheit zwei weitere Grundsätze erfüllen. Zum einen soll der Nudge transparent sein. Insbesondere bei Nudges, die von Regierungen gestaltet werden, ist es wichtig, dass diese für die Verbraucher auch kenntlich gemacht werden. Die Handlungen und Politik der Regierung eines Staates sind Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Kein Verbraucher sollte durch einen solchen Nudge manipuliert oder übervorteilt werden. Vielmehr soll er sich durchaus bewusst sein, dass ein Nudge vorliegt. Der zweite Grundsatz ist Effektivität. Ein Nudge soll wirkungsvoll sein, so dass sich viele Verbraucher von dem Anreiz leiten lassen. 30 Um die Problematik der Wahlfreiheit, die zum Ausdruck individueller Präferenzen führt, noch intensiver zu diskutieren, bedarf es einer tiefergehenden Analyse, die aber nicht Gegenstand dieses Buches ist. Siehe dazu auch Kapitel 12.1.4. <?page no="322"?> 12.1 Libertärer Paternalismus 321 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Zu den Vorteilen eines Nudges zählen, dass sie meistens relativ geringe Kosten aufweisen und trotzdem sehr effektiv sein können. Durch einen kleinen Nudge können große Auswirkungen erzielt werden. Mithilfe einer Kosten-Nutzen-Analyse sollte daher immer abgewogen werden, ob der Nudge sinnvoll ist. Dabei sollte der Nutzen die verursachten Kosten natürlich überwiegen. Ansonsten können möglicherweise andere Instrumente zur Hand genommen werden, die bessere Ergebnisse erzielen. Ob ein Nudge effektiv ist, kann man nur bedingt voraussagen. Selbst wenn man rationale und schlüssige Erwartungen für einen Nudge hat, kann er sich in der Realität völlig anders auswirken. Das hat zur Folge, dass es wichtig ist, Nudges in der Wirklichkeit zu testen und nach Belegen für ihre Wirksamkeit zu suchen. Empirisches Arbeiten ist einer der Schlüssel zu einem effektiven Nudge. Viele Ansätze für Nudges sind daher in unserem Zusammenhang der Financial Nudges ein Folgeprodukt wesentlicher empirischen Erkenntnissen aus der Behavioral Finance. 31 Basierend auf den oben genannten Erkenntnissen entwickelte The Behavioural Insights Team 32 das Grundkonzept „EAST“ für die Gestaltung von Nudges. Abb. 75: Das „EAST“ Konzept von The Behavioral Insights Team 33 Das „EAST“ Konzept stellt Entscheidungsarchitekten eine einfache und verständliche Leitlinie zur Verfügung, wie Nudges idealerweise aufgebaut sind, um ein bestimmtes Verhalten anzuregen. Es setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der vier Prinzipien „easy, attractive, social, timely“ zusammen. Make it easy Je mehr Informationen vorliegen und je komplexer eine Entscheidungssituation ist, desto schwieriger ist es für einen Menschen, eine Entscheidung zu treffen. Viele dieser Informationen sind unwesentlich und erschweren die Entscheidungsfindung. Deshalb sollte ein Entscheidungsarchitekt darauf achten, dass die Informationen einfach und leicht nachvollziehbar dargestellt werden. Ein Beispiel hierfür sind Standardvorgaben oder vereinfachte Nachrichten. Die Verwendung von einfacher Sprache, konkreten Empfehlungen und das Auslassen unerheblicher Informationen sind nützliche Ansatzpunkte. 31 Sunstein (2014), S. 583 ff.; siehe dazu auch die in Kapitel 3 vorgestellten Ergebnisse. 32 The Behavioural Insights Team ist ein Unternehmen in Kooperation mit der Regierung von Großbritannien und der Stiftung Nesta. Es gilt als eine der wichtigsten Einrichtungen, die sich mit der praktischen Umsetzung von Nudges beschäftigt; siehe dazu auch Halpern (2015). 33 Halpern et al. (2014). <?page no="323"?> 322 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Make it attractive Individuen neigen dazu, sich für aufmerksamkeitserregende Alternativen zu entscheiden. Wenn zudem noch die die Entscheidungssituation attraktiv dargestellt ist, hat dies eine positive Wirkung auf die Handlungsbereitschaft. Nudges sollten somit idealerweise Aufmerksamkeit erregen und die empfohlene Entscheidung für das Individuum attraktiv machen. Make it social Menschen sind soziale Wesen. Sie lassen sich von anderen Menschen durch ihr Verhalten beeinflussen. Dies kann man auch dafür nutzen, dass eine bestimmte Alternative besonders herausgestrichen wird. Beispielsweise kann man das gewünschte Verhalten am Beispiel anderer Menschen hervorheben oder man lässt ein Individuum eine Empfehlung an eine dritte Person abgeben. Wenn ein Individuum wahrnimmt, wie sich andere Individuen in der gleichen Situation verhalten, hat dies einen spürbaren Einfluss auf sein eigenes Verhalten. Dies gilt auch in die andere Richtung. Wenn jemand einer dritten Person mitteilt, eine Handlung durchführen zu wollen, ist es wahrscheinlicher, dass diese vom Sender auch tatsächlich ausgeführt wird. Make it timely Um ein gewisses Verhalten zu fördern, ist es wichtig, dass der Nudge zur richtigen Zeit kommt. Idealerweise kann das Individuum direkt und unmittelbar handeln. Dabei geht es weniger darum, Entscheidungen unter Zeitdruck zu erzwingen. Ein Nudge sollte aber eine zeitnahe Reaktion ermöglichen, bevor die relevante Entscheidung in der Menge weiterer anstehender Entscheidung untergeht (vgl. Halpern et al., 2014, S. 8ff.). Basierend auf den oben genannten Prinzipien werden nun zehn wichtige Merkmale von Nudges erläutert, die auf fast allen Felder, die für Nudges geeignet sind, anzutreffen sind. Dabei müssen im Einzelfall nicht alle der Merkmale für erfolgreiche Nudges erfüllt sein. Nudges sollten die Entscheidungssituation auf attraktive Art und Weise vereinfachen. Sie sollten zum richtigen Zeitpunkt ansetzen und berücksichtigen, dass sich Menschen vom Handeln anderer Menschen beeinflussen lassen. Zehn wichtige Merkmale von Nudges 1. Default rules / Standardvorgaben 6. Warnungen und Grafiken 2. Reduzierung von Komplexität 7. Verbindlichkeit 3. Soziale Normen 8. Erinnerungen 4. Verstärkung von Einfachheit 9. Realisierungsvorhaben 5. Mitteilung relevanter Informationen 10. Historische Information Abb. 76: Zehn wichtige Merkmale von Nudges 34 34 Eigene Darstellung in Anlehnung an Sunstein (2014), S. 585 f. <?page no="324"?> 12.1 Libertärer Paternalismus 323 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1. Default rules / Standardvorgaben Unter default rules sind Maßnahmen wie Voreinstellungen, Standardvorgaben oder automatische Mitgliedschaften zu verstehen. Wenn z.B. jemand bei der Arbeitsaufnahme automatisch in ein finanzielles Altersvorsorgeprogramm aufgenommen wird, kann dadurch das individuelle Sparvolumen wesentlich erhöht werden. Vergleichbares gilt für Krankenversicherungen oder bei technischen Geräten. Für Individuen ist der zeitliche und inhaltliche Aufwand oft zu groß, selbst alle Vertragsbestandteile/ Einstellungen zu wählen. Gewisse Voreinstellungen werden von Menschen als Erleichterung wahrgenommen und nur bei Bedarf geändert. 35 Default rules sind eines der wichtigsten Merkmale von Nudges, da Voreinstellungen und automatische Mitgliedschaften Menschen im täglichen Leben an vielen Stellen begegnen. 2. Reduzierung der Komplexität 36 In vielen Ländern der Welt ist Komplexität bei Bewerbungs- und Antragsverfahren ein schwerwiegendes Problem, weil es die Kosten für die Beteiligten erhöhen kann und tendenziell Menschen davon abhält, sich zu bewerben. Wenn ein Programm zu verwirrend, undurchsichtig oder einfach zu komplex ist, schreiben sich weniger Menschen dafür ein oder bewerben sich erst gar nicht. Diese Programme können Bereiche wie Gesundheit, Bildung, Finanzen oder Arbeit betreffen. Der realisierbare Nutzen der Programme wird nicht ausgeschöpft. Ideal wären einfache, intuitive Programme, um die Effektivität zu erhöhen. 3. Soziale Normen Wenn einem Individuum bei einer Entscheidung aufgezeigt wird, wie sich die meisten Menschen in dieser Situation verhalten haben, hat dies einen großen Einfluss auf sein Handeln. 37 Je lokaler und konkreter die Information ist, desto stärker wird der Effekt; zum Beispiel bei der Stromrechnung: Durch den Zusatz der Information „die meisten Menschen in ihrer Gegend haben weniger Energie verbraucht“ wird der betreffende Stromverbraucher dazu ermutigt, seine Gewohnheiten zu überdenken. So können mögliche Ziele wie die Reduzierung des Energiekonsums unterstützt werden. 4. Verstärkung von Einfachheit Oftmals entscheiden sich Menschen für einfache Dinge. Wenn Individuen leicht verstehen, worum es geht und schnell begreifen, was sie tun können, handeln sie tendenziell eher und schneller. Dieser Nudge ist eng verbunden mit der Reduzierung der Komplexität. Dabei können mögliche Barrieren oder Widersprüchlichkeiten abgebaut werden bei der Entscheidung für eine gesamtgesellschaftlich erwünschte Alternative, um die wahrgenommene Schwierigkeit, die mit dem Ergreifen der Alternative verbunden sein könnte, zu reduzieren. Die Möglichkeit, beim Wechsel eines Mobiltelefonanbieters die Rufnummer zu behalten, ist in diesem Sinne ein Nudge, um den erwünschten Wettbewerb in dieser Branche zu fördern. 35 Dies entspricht auch dem Status-Quo-Bias. 36 Siehe dazu Ambiguitätsaversion. 37 Siehe dazu auch die Beschreibung des Herdenverhaltens. <?page no="325"?> 324 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 5. Mitteilung relevanter Informationen 38 In vielen Fällen ist die Informationslage undurchsichtig, unvollständig oder zu komplex. Würden einem Menschen bei seiner Entscheidung aber relevante Informationen herausgehoben bekannt gemacht, könnte dies sein Handeln beeinflussen. Beispielsweise sind sich viele Bankkunden über die Höhe des Zinssatzes ihres Dispositionskredits nicht bewusst und machen damit oftmals von einem vergleichsweise teureren Kredit Gebrauch. Eine einfache Angabe darüber, wenn ein Kunde ihn in Anspruch nehmen möchte, könnte die Entscheidu ng bee influsse n. 6. Warnungen und Grafiken Sind mit einer Entscheidung erhebliche Risiken verbunden, bietet es sich an, mit Warnungen, Grafiken oder anderen aufmerksamkeitserregenden Darstellungen Individuen darauf hinzuweisen. Die Bilder von Folgekrankheiten des Rauchens auf Zigarettenschachteln sind ein eindrücklicher Nudge basierend auf diesem Merkmal. Auch große, farbige oder fettgedruckte Wörter, Sätze oder Symbole können Gegenstand der Warnung sein. Langfristig können Menschen auf solche Warnungen konditioniert werden. Es besteht daher die Gefahr, dass Individuen Warnungen verharmlosen und der Meinung sind, dass die Risiken gerade bei ihnen nicht bestehen. 39 Hier empfiehlt es sich mit positiven Informationen zu arbeiten, beispielweise mit motivierenden oder belohnenden Maßnahmen. Es hat sich gezeigt, dass Menschen weniger dazu tendieren eine Warnung zu verharmlosen, wenn konkrete Schritte zur Reduzierung des Risikos angegeben werden. 7. Verbindlichkeit Fast alle Individuen setzen sich in ihrem Leben Ziele. Darunter fällt beispielsweise mehr Geld zu sparen, ein Wunschgewicht zu erreichen, eine Sprache zu lernen oder ein ganz persönliches Ziel zu realisieren. Dabei zeigt sich, dass Menschen diese Ziele wahrscheinlicher erreichen, wenn sie sich davor zu möglichst konkreten Handlungen oder Etappenzielen verpflichten. 40 Menschen sind dadurch stärker motiviert. Wissenschaftler der Yale University bieten hierzu eine Homepage an (www.stickk.com). Möchte jemand ein beliebiges Ziel erreichen, verpflichtet er sich zu einer bestimmten Tat im Falle der Nichterreichung. Ein Schiedsrichter, beispielsweise ein Freund, entscheidet am Ende darüber, ob das Ziel erreicht wurde oder nicht. Wer möchte, kann die Herausforderung mit anderen Menschen teilen. Es hat sich als sehr effektiv herausgestellt, wenn sich Menschen im Falle des Misserfolgs zu einer gewissen „Strafhandlung“ verpflichten und andere Menschen den kompletten Prozess der Herausforderung mitverfolgen. Gerade diese Kombination aus der Verpflichtung bei Misserfolg in Verbindung mit der sozialen Ebene lässt Menschen eher ihre geplanten Handlungen in die Wirklichkeit umsetzen. 8. Erinnerungen In der heutigen Welt müssen sich Menschen um viele Dinge kümmern. So kann es durchaus geschehen, dass einige Angelegenheiten unbewusst in Vergessenheit geraten. 38 Dies ist wiederum eng verknüpft mit „2. Reduzierung der Komplexität“ und „4. Verstärkung von Einfachheit“. 39 Etwa im Sinne der Selbstüberschätzung (Overconfidence) oder des Optimismus Effekts 40 Dies entspricht in gewissem Sinne dem Eröffnen eines mentalen Kontos (mentale Buchführung). <?page no="326"?> 12.1 Libertärer Paternalismus 325 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Der Grund darin liegt in der Natur des menschlichen Wesens und zwar in einer Kombination aus Vergesslichkeit, Aufschiebung, Priorisierung und Trägheit. 41 Um dem entgegenzuwirken, können Erinnerungen Individuen in ihrem Handeln beeinflussen. Das Timing der Erinnerung spielt eine wichtige Rolle und die Möglichkeit, umgehend auf die Erinnerung reagieren zu können. Eine einfache SMS oder E-Mail kann ausreichend sein, um einen Patienten an den auslaufenden Impfschutz zu erinnern und ihm gleichzeitig zu empfehlen, so bald wie möglich einen Arzttermin zu vereinbaren. 9. Realisierungsvorhaben Eine Nachricht wie „Haben Sie vor, zur Wahl zu gehen? “ lässt Menschen eher aktiv werden, als wenn ihr Realisierungsvorhaben nicht angesprochen wird. Die einfache Abfrage, ob Individuen eine bestimmte geplante Handlung in die Realität umsetzen wollen, erhöht die Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Aktivität. Wenn an bereits dokumentierte Eigenschaften einer Person appelliert wird, wie z.B. „Ihre vorangegangenen Handlungen lassen erwarten, dass Sie zur Wahl gehen“, zeigen sich ähnliche Effekte. 42 10. Historische Informationen Öffentliche Einrichtungen können über viele Informationen über das Verhalten von Menschen in der Vergangenheit verfügen. Menschen neigen zur Vergesslichkeit. Deshalb kann es eine große Auswirkung haben, wenn man Individuen an ihre eigenen vergangenen Handlungen erinnert. 43 Dadurch setzen sie sich mit diesen auseinander und ändern möglicherweise ihre Gewohnheiten. Beispielweise wenn jetzige Stromrechnungen wesentlich höher sind als in der Vergangenheit. Möglicherweise hat der Kunde sein Verbrauchsmuster geändert, ohne dass er es bewusst wahrgenommen hat (vgl. Sunstein, 2014, S. 585 ff.). 1122..1 1..4 4 KKrri ittiikk aamm lliibbeerrttäärre enn PPaatteerrn naalliissmmuuss Der noch jungen Idee des libertären Paternalismus schlägt aus wissenschaftlicher Sicht und auch aus der wirtschaftspolitischen Praxis Kritik entgegen, die für eine konstruktive Weiterentwicklung des Ansatzes auch dringend notwendig ist, um letztendlich praktisch anwendbare Konzepte zu entwickeln. Die Aussage von Thaler/ Sunstein, dass im Grunde in jeder Entscheidungssituation eine Form des Paternalismus unvermeidbar ist, kann in ihrer Allgemeingültigkeit durchaus angezweifelt werden. In der Tat werden Entscheidungen sehr häufig von anderen Menschen vorgeformt oder in einer Entscheidungsarchitektur dargestellt. Dies ist aber nicht immer der Fall. Zumindest gibt es Situationen, in denen die Ausgangslage nicht bewusst durch Dritte im Sinne eines Nudges beeinflusst wird. So ist es durchaus üblich, dass in politischen Kontroversen unterschiedliche Positionen durch die gezielte Aufbereitung von Informationen unterstrichen werden. Dies ist eher Ausdruck des politischen Wettbewerbs und weniger die Folge von Nudging-Bemühungen. 41 Dies bezieht sich direkt auf Verfügbarkeit und auf den Rezenz-Effekt. 42 Dieses Vorgehen nutzt die Selektive Wahrnehmung, da es gezielt auf bestimmte Vorhaben oder Handlungen eingeht. 43 Siehe auch oben 9. Realisierungsvorhaben. <?page no="327"?> 326 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Des Weiteren wird die normative Aussagekraft der rationalen Entscheidungstheorie bemängelt. Irrationales Verhalten auf der Mikroebene kann unterschiedliche Auswirkungen auf der Makroebene zur Folge haben. Verhält sich also ein Individuum konstant nach irrationalen Gesichtspunkten, kann dies zur Unterstützung öffentlicher Güter oder Verminderung von externen Effekten führen. Ein Beispiel hierfür ist, wenn ein Unternehmer dazu neigt, aus einem Hang zur Selbstüberschätzung heraus (Overconfidence) übertriebenes Risiko einzugehen. Dies ist für ihn individuell möglicherweise schädlich, aber die Gesellschaft kann daraus unter Umständen einen Nutzen ziehen, wenn der Unternehmer durch sein Verhalten Innovationen vorantreibt und anderen Unternehmern Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet, selbst wenn er scheitert. 44 Schnellenbach kritisiert, dass ein einziges einheitliches Kriterium unzureichend ist, um das beste Interesse des Entscheiders herauszufinden. Jeder Mensch wird an einer Einheitsgröße bemessen, z.B. wenn man im Falle des Übergewichts nur ein Durchschnittsgewicht anlegt, anstatt auch andere Kriterien wie die genetischen Voraussetzungen miteinzubeziehen. Weiterhin wird mit diesem Vorgehen ein Grundsatz der Behavioral Finance, nämlich die Heterogenität der Menschen, vernachlässigt. Ob jemand mehr Geld sparen oder abnehmen möchte, hängt von der Lebenssituation und den persönlichen Präferenzen ab. Dies wird unter Umständen nicht ausreichend berücksichtigt, wenn man nur ein einziges, einheitliches Entscheidungskriterium zugrunde legt (vgl. Schnellenbach, 2012, S. 270). Sugden bemängelt, dass der libertäre Paternalismus anscheinend vom Entscheider annimmt, er handle nur begrenzt rational und ließe sich von Verzerrungen und Heuristiken beeinflussen, während man dem „choice architect“ von all jenem freispricht. Der „choice architect“ handelt wohlwollend und hat keine Probleme herauszufinden, was rational die beste Entscheidung für den Verbraucher ist. Rizzo und Whitman fügen dem hinzu, dass man aus Sicht der Behavioral Finance zwar dem Individuum begrenzte Rationalität unterstellen kann, die Annahme der epistemischen Autorität des choice architects aber kritisiert werden kann. Woher soll der choice architect wissen, was die Vorlieben der Individuen sind und welchen Verzerrungen sie gerade unterliegen, um daraus die Entscheidung angemessen zu formen? Die Bewertung und Einschätzung darüber, was das Wohl des Individuums am meisten fördert, kann selbst bei Unterstellung der perfekten Rationalität zwischen dem „choice architect“ und dem Individuum divergieren. Eine einheitliche Definition des Wohlbefindens lässt sich aufgrund der Individualität der Menschen nur schwer finden (vgl. Sugden, 2011, S. 6 f. und Rizzo & Whitman, 2009, S. 737). Selbst wenn man die Präferenzen des Individuums kennt, würde dies nicht ausreichen, um eine optimale Entscheidungsarchitektur für das Individuum zu schaffen. Man müsste wissen, welchen konkreten Verzerrungen das Individuum unterliegt, in welchem Maße es dies tut und, welche Wechselbeziehungen zwischen den Verzerrungen herrschen. 44 Vgl. Binder, 2014, S. 526; als Beispiel dafür gilt die Entwicklung der Eisenbahn in den USA, bei der erst der ruinöse Wettbewerb zwischen Eisenbahnunternehmern zu einem verzweigten Schienennetz führte. <?page no="328"?> 12.1 Libertärer Paternalismus 327 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Auch ist bisher nicht klar erkennbar, wer die Rolle des „choice architects“ in einer bestimmten Situation einnehmen soll. Ist es die Regierung, ein Expertengremium oder ein privatwirtschaftliches Unternehmen? Wer ist beispielsweise im Falle der Altersvorsorge dafür verantwortlich? Nur der Staat oder Finanzinstitute, oder etwa beide subsidär? Diskutiert wird auch, ob Menschen durch die Einführung weitreichender Nudges die Möglichkeit genommen wird, ihre Präferenzen auf ihre eigene Art und Weise zu erlernen. Durch die Vorgabe von bestimmten Entscheidungswegen können Menschen ihre eigenen Vorlieben nicht selbst erkunden, was ja durchaus auch zu negativen Erfahrungen führen kann, sondern folgen unter Umständen den vorgegebenen Präferenzen des „choice architects“. Möglicherweise entstehen dadurch gelenkte Präferenzen und werden durch Wiederholungen sogar noch verfestigt. Daher sollte auch berücksichtigt werden, wie sich Lernprozesse mit dem libertären Paternalismus vereinbaren lassen (vgl. Reisch, 2009, S. 39 und Binder, 2014, S. 531 f.). Thaler und Sunstein selbst greifen die sogenannte slippery slope Kritik in ihrem Buch „Nudge“ 45 auf. Damit ist gemeint, dass eine Regierung womöglich anfangs mit libertär paternalistischen Ansätzen agiert, sich dann aber schrittweise davon entfernt und am Ende mit harten paternalistischen Maßnahmen arbeitet (vgl. Thaler & Sunstein, 2009, S. 235 f.). Dies zu unterbinden, müssen institutionelle Strukturen aufgebaut werden. Für Rebonato stellt die slippery slope Thematik daher eine unterschwellige Beeinflussungsmöglichkeit für manipulierende Werbemaßnahmen dar (vgl. Rebonato, 2014, S. 368 f.). Und Henderson lehnt in diesem Zusammenhang libertären Paternalismus zwar nicht grundsätzlich ab, er greift aber die Thematik auf, dass jeder Mensch, also auch der „choice architect“, Verzerrungen und Heuristiken unterliegt und deshalb die Empfehlung eines solchen kritisch zu hinterfragen sind. Des Weiteren zieht er eine Verbindung zum Hayek’schen Wissensproblem (vgl. Henderson, 2014, S. 273.) Der österreichische Nobelpreisträger Hayek beschreibt, dass man Wissen nicht einfach aufaddieren kann. Es ist begrenzt, subjektiv und lokal über Wirtschaftssubjekte und die Gesellschaft verstreut. Da also auch der Staat nur über unvollständiges Wissen verfügt, schließt Henderson (und auch Hayek), dass ihm eher eine passive Rolle im Leben der Menschen zugeschrieben werden sollte, vor allem wenn es um den Umgang mit individuellen Präferenzen geht (vgl. Horn, 2013b, und Henderson, 2014, S. 273). Und zu guter Letzt sei noch auf ein Problem verwiesen, das bisher in der wissenschaftlichen Diskussion wenig beachtet wurde. Bei der Diskussion von Nudgingansätzen sollte klar unterscheiden werden, ob die Nudges Verzerrungen auszugleichen versuchen, oder ob die Nudges Verzerrungen ausnutzen, um übergeordnete politische Ziele zu erreichen. Diese Unterscheidung ist im Einzelfall nicht immer einfach. Ein Nudge, der alle Wähler durch eine Erinnerungs-SMS an die Urnen bringt, kann einerseits als demokratisch legitimiert positiv eingestuft werden. Er hilft Wählern ihre politischen Präferenzen auszudrücken. Wenn der Nudge allerdings primär Wähler einer bestimmten politischen Richtung anspricht, wäre er kritisch zu beurteilen. Als Konsequenz aus all den genannten Kritikpunkten lässt sich unseres Erachtens nach festhalten, dass Transparenz im Umgang mit Nudginansätzen von zentraler Bedeutung 45 Thaler & Sunstein (2009) <?page no="329"?> 328 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance ist; Transparenz darüber, welche Nudges von welchen „choice architects“ gesetzt werden. Dies ist unabdingbar, um den politischen Diskurs zu eröffnen und gegebenenfalls Maßnahmen gegen mögliche Manipulation zu ergreifen. Beides ist wiederum notwendig, um die gesellschaftliche Akzeptanz des neuen politischen Instruments des Nudgings zu steigern und langfristig zu sichern. Die Diskussion über den Nudgingansatz bezieht sich u.a. auf drei Probleme: Erstens, wer stellt sicher, dass durch Nudging keine Präferenzen manipuliert werden? Zweitens, wie transparent müssen Nudges sein? Und drittens, dürfen Nudges Verzerrungen und Heuristiken ausnutzen, um politische Ziele zu erreichen? 112 2..22 FFiinnaanncciiaall NNuuddggiinngg/ / FFiinnaannzzi ieel lllee NNuuddggiinnggaannssäättzze e Nudges haben, wie bereits erwähnt, viele unterschiedliche Anwendungsfelder. In einigen Ländern versucht man bereits, Behavioral Insights 46 - also verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse in die politische Praxis umzusetzen; beispielsweise mit Erinnerungs-SMS in Gesundheitsfragen in Mozambique, beim Energieverbrauch in Großbritannien oder im Kreditmarkt in den USA und Südafrika (vgl. Nesterak, 2014). Die Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritanniens oder Dänemarks haben mit dem White House Social and Behavioral Sciences Team, The Behavioural Insights Team und MindLab bereits Institutionen ins Leben gerufen, die sich ebenfalls mit verhaltenswissenschaftlichen Anwendungen beschäftigen. Sie nehmen im internationalen Bereich eine Vorreiterrolle ein, während man in Deutschland einige Jahre in der Entwicklung zurückliegt und erst 2014 damit begann, Strukturen aufzubauen. Die deutsche Regierung richtete Mitte 2014 drei Referentenstellen im Stab für Politische Planung, Grundsatzfragen und Sonderaufgaben ein, die sich der Verhaltensökonomie in politischen Fragen widmen (vgl. Plickert, Beck, 2014). Neben Institutionen, die mit der Regierung in Verbindung stehen, haben auch private Unternehmen wie z.B. die Allianz 47 oder Barclays 48 „Behavioral Finance Teams“ gegründet, die versuchen, aus verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnissen unternehmensspezifische Strategien im Umfeld der Finanzdienstleistungen zu entwickeln. Die jetzt anschließenden Überlegungen konzentrieren sich auf Nudgingansätze bei Finanzprodukten und -dienstleistungen. Wir werden dafür den Begriff des Financial Nudgings verwenden. Die anschließenden Ausführungen sind wie folgt aufgebaut: Zunächst werden die Fragen beantwortet, warum die verhaltenswissenschaftliche Ökonomie im Bereich der Finanzen relevant ist und welche Verzerrungen und Heuristiken konkret auftreten können. Im Anschluss daran werden in verschiedenen Ländern bereits verwendete Nudging- 46 Vgl. z.B. Sousa Lourenço (2016) 47 http: / / befi.allianzgi.com/ 48 https: / / www.investmentphilosophy.com/ <?page no="330"?> 12.2 Financial Nudging/ Finanzielle Nudgingansätze 329 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance ansätze bei diversen Finanzprodukten und -dienstleistungen erläutert: Kredite, Kreditkarten, Hypotheken, Altersvorsorge und Aktien/ Anleihen. 1122. .22. .11 VVeerrhha alltteennsswwiisssseennsscch ha affttlliicch hee GGrruunnddllaaggeenn ddeess FFiinnaanncci iaall NNuuddggiinng g Es lassen sich eine ganze Reihe von Gründe aufzählen, weshalb die Behavioral Finance bei Finanzdienstleistungen einen Beitrag leisten kann, das Verhalten der Nutzer besser zu verstehen. Viele Finanzprodukte sind für den gewöhnlichen Konsumenten nicht ohne weiteres verständlich. 49 Beispielsweise ist die Gebühren- und Kostenstruktur oft so komplex aufgebaut, dass z.B. ein einfacher Zinssatz bei einem Kredit meistens nicht die gesamten Kosten widerspiegelt. Ein Nutzer kann also im Vergleich zu anderen Produkten, z.B. im Einzelhandel, nicht leicht abschätzen, wie hoch die anfallenden Kosten sein können. Bei der Vereinfachung der komplexen Sachverhalte durch Heuristiken können Menschen Fehlentscheidungen treffen. Oft müssen Verbraucher bei finanziellen Themen zwischen der Zukunft und der Gegenwart abwägen. Es besteht die Tendenz von Individuen, sich für kurzfristig vorteilhafte Dinge zu entscheiden und langfristige Risiken dabei auszublenden. Ein Beispiel hierfür ist, wenn ein Mensch kurzfristige, leicht zugängliche Kredite zu überhöhten Kosten aufnimmt und langfristig das Risiko der Rückzahlung unterschätzt. Gerade bei Versicherungen und langfristigen Anlagen müssen Entscheidungen häufig unter Unsicherheit getroffen werden. Außerdem neigen Individuen dazu, Risiken statistisch nicht korrekt zu erfassen. Das kann dazu führen, dass sie unvorteilhafte Versicherungen abschließen oder unprofitable Anlageentscheidungen treffen. Ein weiterer möglicher Grund für irrationales Verhalten sind Emotionen. Entscheidungen werden unter dem Einfluss von Emotionen getroffen. 50 Bei einer Versicherung kann beispielsweise Angst einen starken Einfluss haben, während eine sorgfältige, kognitive Abwägung der Sachlage außer vor bleibt. Einige wichtige finanzielle Entscheidungen werden im Laufe des Lebens eines Menschen nicht häufig getroffen, gerade bei der Altersvorsorge oder der Finanzierung eines Eigenheims. Dabei zeigt sich oft erst nach längerer Zeit, ob sie vernünftig und vorteilhaft getroffen wurden. Aus vergangenen Fehlern kann ein Individuum daher nur noch wenig lernen. Es muss möglichst beim ersten Mal eine gute Entscheidung treffen. Daher wiegen irrationale Verzerrungen und Fehlentscheidungen in solchen Fällen besonders schwer. In der folgenden Grafik werden verschiedene Verzerrungen und Heuristiken, die im finanziellen Entscheidungsprozess auftreten können, unterteilt nach Prozessstufe und Ursprungsart in Anlehnung an Kapitel 7 bis 9, dargestellt: 49 Wir haben in diesem Buch das gesamte Thema Finanzwissen (Financial Literacy) nicht weiter vertieft. Jedenfalls ist es aktuellen Studien zufolge unstrittig, dass die Nutzer von Finanzdienstleistungen meist kaum in der Lage sind, die Komplexität von Finanzprodukten zu durchschauen, deren Nutzen sehr oft auch von einem Zufallsprozess (z.B. bei Wertpapieren) abhängt; siehe dazu z.B. Aprea (2016). 50 Siehe dazu auch Kapitel 13. <?page no="331"?> 330 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Abb. 77: Verzerrungen und Heuristiken im finanziellen Entscheidungsprozess Menschen können bei finanziellen Entscheidungen z.B. dazu neigen, selektiv nur positive Informationen über eine Anlagealternative wahrzunehmen. Emotionen wie Angst und Reueaversion sind Treiber für Versicherungsprodukte, die ein Individuum bei objektiver Betrachtung der Wahrscheinlichkeiten u.U. gar nicht abgeschlossen hätte. Auch neigen Anleger dazu, sich selbst und ihre Fähigkeiten zu überschätzen oder einfach nur der Meinung einer bestimmten Gruppe zu folgen. All dies kann zu Entscheidungen führen, die aus rein finanzieller Sicht nicht im besten Interesse des Individuums liegen. 51 Im Folgenden werden nun Nudgingansätze bei verschiedenen Produkten und Dienstleistungen im Finanzbereich erläutert, die auf eine bessere Entscheidung zu Gunsten des Individuums abzielen. 1 122..22..22 KKrreed diitte e Verbraucher können entweder selbst Geld anlegen, somit gewissermaßen einen Kredit vergeben oder einen Kredit in Anspruch nehmen. Dabei gibt es unterschiedliche Problemstellungen. Zuerst wird dies bei der Geldanlage und anschließend bei der Inanspruchnahme eines Kredits erläutert. Eine Studie der englischen Financial Conduct Authority (FCA) 52 untersuchte den Einfluss von Erinnerungsschreiben auf das Wechselverhalten von Kontoinhabern in Verbindung mit sinkenden Zinssätzen. Menschen, die Geld zu einem zeitlich begrenzt attraktiven Zinssatz anlegen, z.B. im Rahmen eines Einführungsangebots, neigen dazu, ihr Geld nicht von diesem Konto abzuziehen, wenn der Zinssatz wieder sinkt. Rational gesehen, könnten diese Menschen ihr Geld auf einem anderen Konto beim gleichen Anbieter mit höherer Verzinsung anlegen. Ein Grund dafür kann sein, dass sie darauf hinweisende Informationen im Sinne der selektiven Wahrnehmung ausblenden oder die langfristigen 51 Weitere Beispiele können in den Kapiteln 7 bis 9 bei den jeweiligen Heuristiken gefunden werden. 52 Adams, Hunt, Vale, Zaliauskas (2015) <?page no="332"?> 12.2 Financial Nudging/ Finanzielle Nudgingansätze 331 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance höheren Verzinsungen in ihrer Zinseszinswirkung unterschätzen. In der Studie bekamen Kunden zwei bis drei Monate vor Senkung des Zinssatzes ein erstes Erinnerungsschreiben. Zudem wurde ihnen eine weitere Erinnerung über die Zinssatzsenkung geschickt mit dem Ziel herauszufinden, welchen Effekt weitere Nachrichten zeitabhängig auf das Wechselverhalten haben. Das Ergebnis ist, dass die Erinnerungsschreiben eine wesentliche Auswirkung auf das Verhalten der Kunden haben. Die Wechselrate von Kunden, welche ein Schreiben erhielten, war 7,1 Prozent höher als das der Kunden ohne Erinnerungsscheiben. Dabei war das Schreiben an sich wichtiger als der konkrete Inhalt. Ein kleiner Teil wechselte sogar zu einem anderen Anbieter, was aus wettbewerbspolitischer Sicht durchaus wünschenswert sein kann. Erinnerungen sind also in Verbindung mit dem richtigen Zeitpunkt ein wirksames Instrument, um Menschen in ihrem Verhalten zu beeinflussen. Individuen neigen dazu, kurzfristige Kredite zu hohen Zinssätzen aufzunehmen, um sich damit in der Gegenwart ihre Wünsche zu erfüllen. Dabei können sie die Tilgungskosten auf längere Sicht unterschätzen und sich über ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hinaus verschulden. Im Zuge eines harten paternalistischen Ansatzes könnte man Verbrauchern den Zugang zu Krediten solcher Art erschweren. Zinman analysierte dies im Jahr 2009 im amerikanischen Bundesstaat Oregon und fand heraus, dass die Aufnahmerate der Kredite zurückging. Allerdings wechselten viele Menschen, die vorher überteuerte Kredite aufnahmen, zu vergleichsweise noch schlechteren Produkten, wie dem Kontokorrentkredit und late bill payments mit „Strafzahlungen“. Insofern hat dieser Politikansatz nicht das gesellschaftlich gewünschte Ziel erreicht (vgl. Zinman, 2009, S. 554). An der Stelle könnte auch wieder die Diskussion geführt werden, ob ein solcher Eingriff in die Konsumentenpräferenzen überhaupt politisch zulässig ist. Dies wäre dann zu vertreten, wenn die Verbraucher systematischen Verzerrungen unterlägen, was in diesem Fall wohl wenig strittig ist. Wir neigen zur Überbewertung des heutigen Konsums gegenüber dem zukünftigen, und wir überschätzen oft unsere Fähigkeiten, zukünftige finanzielle Verpflichtungen zu erfüllen. Im gleichen Jahr wählen Bertrand/ Morse 53 einen libertär paternalistischen Ansatz für eine Studie. Sie untersuchen, ob durch Informationen über die Kosten und Risiken des Produktes und mögliche Alternativen, die Kreditaufnahme gesenkt werden kann. Die Studie zeigt, dass unter anderem durch die grafische Gegenüberstellung von alternativen Produkten und deren niedrigeren Kosten eine Senkung von 10 Prozent innerhalb von 4 Monaten erzielt werden konnte. Dieser Ansatz scheint den gewünschten Effekt nach sich zu ziehen. Jährlich werden auf der Welt für emotional unterlegte Werbung (z.B. für Tabakkonsum oder Bekleidung) exorbitante Geldsummen ausgegeben. Kann Werbung, abhängig davon wie sie gestaltet wird, einen Einfluss auf die Nachfrage nach nüchternen Finanzpro- 53 Bertrand, Morse, 2009 <?page no="333"?> 332 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance dukten haben? Eine Gruppe von Wissenschaftlern führte in Südafrika in diesem Zusammenhang eine Untersuchung durch. 54 Der Versuch wurde mit einem dort ansässigen Kreditunternehmen durchgeführt, das den Inhalt seiner Werbung, Kosten des Kredits und Zeitfristen der Angebote entsprechend des Versuchsaufbaus anordnete und an ehemalige Kunden verschickte. Das Ergebnis legt nahe, dass die Art und Weise, wie die Werbung gestaltet wird, einen großen Einfluss auf die Nachfrage der Verbraucher hat. Eine kleinere, übersichtliche Anzahl von Beispielkrediten, ein Bild einer attraktiven Frau oder der geschickte Umgang mit möglichen Verwendungszwecken haben den gleichen Effekt auf die Nachfrage wie eine Reduzierung des Zinssatzes um ein Viertel. Für Bertrand et al. bleibt zunächst ungeklärt, warum die Werbung in der Studie die Menschen so beeinflusst. Mögliche Gründe können darin liegen, dass die Werbung die Ambiguitätsaversion der Kunden anspricht. Die Komplexität der unübersichtlichen Entscheidungssituation wird durch die Werbung reduziert. So wird es dem Kunden ermöglicht, eine Entscheidung zu treffen, ohne sich in kognitiven Dissonanzen zu verfangen. 1 122. .22..33 KKr reeddiittkkaarrtteenn In vielen Ländern wie den USA, Großbritannien, Australien oder Schweden ist die Kreditkarte 55 ein intensiv genutztes Zahlungsinstrument. Die Zusammensetzung der Kosten einer Kreditkarte ist aber oft nicht transparent und wird nicht von jedem Verbraucher leicht verstanden. Aus diesem Grund führte die Regierung von Großbritannien im Jahr 2011 jährliche Kreditkartenauszüge ein, um den Verbrauchern diese Informationen näher zu bringen. Die jährlichen Auszüge beinhalten Informationen über Nutzung, ausstehende Beträge, Gebührenzusammensetzung und alternative Kreditkarten. Mit diesem Schreiben verschafft sie dem Kunden einen möglichst objektiven Überblick über die Nutzung der Kreditkarte. Zudem werden Verbraucher vor einer Änderung des Zinssatzes immer ausführlich informiert. 56 In den letzten zwei Jahrzehnten ist das Volumen der Kreditkartenverbindlichkeiten in Australien stark gestiegen. Kreditkarten sind hier nach den Hypotheken das zweitwichtigste Kreditprodukt. Der Großteil der Nutzer begleicht seine Schulden innerhalb der vertraglich vorgesehen Fristen und ohne weitere Konsequenzen. Ein kleiner Teil der Kreditkarteninhaber zahlt aber nur einen Mindestbetrag zurück und ist für den Großteil des Kreditvolumens verantwortlich. Durch die Verlängerung der Kredite werden sie mit höheren Zinssätzen belastet und sind damit einem steigenden Risiko der Zahlungsunfähigkeit ausgesetzt. Dies kann weitreichende soziale, bildungstechnische und ökonomische Konsequenzen nach sich ziehen, wie z.B. eine unzureichende Altersvorsorge. 54 Bertrand, Karlan, Mullainathan, Shafir, Zinman, 2009 55 Gemeint ist damit eine Kreditkarte, bei der am Ende der Abrechnungsperiode nicht der gesamte aufgelaufene Betrag zu bezahlen ist, sondern nur ein vertraglich vereinbarter Mindestbetrag. Die restliche Summe wird als Kredit gewährt. 56 Vgl. UK Department for Business, Innovation & Skills, Behavioural Insights Team und Cabinet Office (2011), S. 21 f. <?page no="334"?> 12.2 Financial Nudging/ Finanzielle Nudgingansätze 333 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Aus verhaltensökonomischer Sicht neigen solche Kreditkartennutzer zum Optimismus-Effekt und zur Kontrollillusion. Sie sind der übertrieben optimistischen Meinung, ihre Schulden zukünftig zurückzahlen zu können. Zudem glauben sie oft irrtümlich, dass sie die Situation kontrollieren können, dabei sind sie in ihrer Lage oft besonders anfällig für Schicksalsschläge oder andere kurzfristige Entwicklungen. Um diese Menschen zu unterstützen, wurde in Australien der National Consumer Credit Protection Amendment Act 2011 eingeführt, welcher aus einer Mischung von libertär paternalistischen Maßnahmen und harten paternalistischen Verboten besteht. Bei Abschluss eines neuen Kreditvertrages muss ein Informationsblatt über Kosten und Rückzahlungsmodalitäten vorgelegt werden. Außerdem muss eine Kredithöchstgrenze festgelegt und der Verbraucher informiert werden, wenn er diese erreicht oder wenn er nur Mindestrückzahlungen vornimmt. Ein hartes Verbot wurde für Schreiben eingeführt, die Verbraucher dazu einladen ihr Kreditlimit anzuheben, außer sie haben dem ausdrücklich und mit entsprechender Begründung zugestimmt. Durch die Aufschlüsselung der verschiedenen Kosten im Informationsblatt wird dem Optimismus-Effekt entgegengewirkt, da oft mit kurzfristig niedrigen Gebühren geworben wird, dafür aber langfristig höhere Kosten anfallen. Der Verbraucher kann nun besser beurteilen, ob er sich den Kredit leisten kann. Warnungen seitens des Kreditunternehmens bei Überschreitung des Limits wirken auf das Verhalten des Verbrauchers zum richtigen Zeitpunkt ein, da er sich selbst diese Grenze gesetzt hat und trotzdem möglicherweise die Kontrolle über seine Ausgaben verloren hat (vgl. Ali, McRae, Ramsay, 2012, S. 126 ff.). Ein etwas stärkerer Nudgingansatz ist ein opt out-Rückzahlungsprogramm. Dieses würde automatisch von einem Kreditkarteninhaber bei Erreichen des definierten Limits die benötigte Rückzahlungssumme einfordern. Wenn ein Verbraucher dies nicht möchte, kann er aus dem Programm aussteigen („opt out“) und eine andere Rückzahlungsfrist vereinbaren. Dieser Vorschlag hat aber auch eventuelle Nachteile. Solche Verbraucher, die dem Programm folgen, aber in der Lage wären ihre Kredite schneller zurückzubezahlen als es das „opt out“-Programm vorsieht und auf das Zahlungssignal warten, müssten höhere Zinskosten tragen als bei schneller Rückzahlung. In einer Arbeit von Barr, Mullainathan und Shafir sind auch Vorschläge enthalten, die im Jahr 2009 in den USA im Rahmen des Credit Card Accountability Responsibility and Disclosure Act (CARD) auf ähnliche Weise eingeführt wurden. Der CARD Act zielt darauf ab, verschiedene Arten von Kreditprodukten zu regulieren (vgl. Barr, Mullainathan, Shafir, 2008a, S. 12). Ebenfalls in den USA im Zusammenhang mit dem CARD Act wird ein Nudge angewendet, der ähnlich wie schon oben beschrieben an der Informationsaufnahme der Kreditkartenkunden ansetzt (vgl. Agarwal, Chomsisengphet, Mahoney, Stroebel, 2013). Da es durchaus möglich ist, dass Verbraucher nur Mindestrückzahlungen vornehmen, somit langfristig Schulden anhäufen und höhere Zinskosten tragen, wurde in jedem Kontoauszugsschreiben ein Informationsnudge hinzugefügt, der folgende Daten beinhaltet: Die kompletten Kosten der Rückzahlung und die Dauer der Rückzahlung in Monaten, wenn nur Mindestrückzahlungen getätigt werden; im Vergleich dazu die vollen Kosten und der monatliche Rückzahlungsbetrag, den es bedürfte, um schon in 36 Monaten die Schulden zu begleichen. Die Kosten des Kredits bei Rückzahlung innerhalb von 36 Monaten sind im Vergleich zu Mindestrückzahlungen mit längerer Laufzeit günstiger. Dies <?page no="335"?> 334 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance haben einige Verbraucher aber erst bewusst wahrgenommen, als sie darüber explizit informiert wurden. Dieser Nudge hat in den USA für die Kunden Zinsreduktionen von 0,5 Prozent pro Jahr generiert. 1 122. .22..44 HHy yppootthhe ekkeenn Eine der wichtigsten finanziellen Entscheidungen im Leben des Normalverbrauchers ist die Auswahl einer Immobilienfinanzierung. Der Traum vom Eigenheim ist in vielen Köpfen der Menschen auch im Hinblick auf die Altersvorsorge fest verankert. Hypotheken, die mit der Finanzierung verbunden sind, involvieren meist Kombinationen langer Laufzeiten und hoher Geldbeträge, bei denen eine sinnvolle Abwägung der Alternativen selbst für Fachleute schwierig ist. Während der jüngsten Finanzkrise hat sich der Umgang mit Hypotheken in den USA als problematisch und gefährlich erwiesen. Viele Hypotheken wurden von Nutzern nicht nur in den erwarteten Kosten, sondern auch in den damit verbundenen Risiken unterschätzt. Komplexe Kostenstrukturen und die Informationsasymmetrie zwischen dem Kreditgeber und Kreditnehmer trugen hierzu bei. Beispielsweise nutzten Kreditunternehmen psychologische Eigenschaften des Menschen aus, wenn sie einen niedrigen Anfangszins hervorhoben und langfristige Zinskostenrisiken in den Hintergrund rückten. Hinzu kommt, dass die Mehrheit der Verbraucher finanziell nicht ausgebildet genug ist, um Produktvariationen auf dem Markt zu verstehen, geschweige denn rational zu vergleichen (vgl. Barr, Mullainathan, Shafir, 2008b). Um den Hypothekenmarkt aus Sicht der Verbraucher zu verbessern, diskutieren Barr/ Mullainathan/ Shafir eine ganze Bandbreite von schwachen bis zu einschneidenden Politik-Maßnahmen. Die Bandbreite beginnt bei der einfachen Offenlegung von relevanten Informationen für die Verbraucher und endet bei dem Verbot von bestimmten Produkten. Dabei schlagen die Wissenschaftler mit dem sticky opt out Nudgingansatz eine Maßnahme zwischen den beiden Extremen vor. Er beruht auf einer Standardhypothek für Verbraucher, die an gewisse, einfache Regeln gebunden ist. Allerdings kann der Verbraucher aus dem Standardvertrag aussteigen, wenn es dies möchte, und eine andere Hypothek wählen. Der Vertrag wäre beispielsweise an einen fixen Zins, fixe Laufzeit und klare Risikoübernahme durch Standardvorgaben gebunden, die von einer unabhängigen Institution festgelegt werden. Denkbar wäre auch eine kleine Palette an Standardverträgen. Neben diesen könnten die Finanzdienstleister weiterhin andere, individualisierte Produkte anbieten. Der Verbraucher muss allerdings durch klare Informationsaufbereitung schnell überblicken können, welche Risiken und Kosten er im Falle der Abweichung vom Standardvertrag auf sich nimmt. Außerdem muss der Kreditgeber bei einem solchen Nicht- Standardvertrag nachweislich mehr Risiko übernehmen. Diese zusätzlichen Auflagen im Falle der Abwahl würden den Standardvertrag sticky 57 machen, da Kreditgeber durchaus auch einen Anreiz hätten, Verbraucher zu diesem zu ermutigen. Nur in den Fällen, in denen der individualisierte Nicht-Standardvertrag klare Vorteile für beide Seiten aufweist, wäre mit einer Beratung durch den Kreditgeber in Richtung des Nicht-Standardvertrags zu rechnen. 57 Eine Abweichung von Standardvertrag würde also erschwert; er hat dadurch quasi ein „starke Anziehungskraft“. <?page no="336"?> 12.2 Financial Nudging/ Finanzielle Nudgingansätze 335 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Ein solcher Nudgingansatz ist natürlich mit möglichen Nachteilen für beide Seiten verbunden. In der Praxis könnte sich z.B. herausstellen, dass für zu viele Kreditnachfrager aufgrund einer nicht vorhersehbaren, wirtschaftlichen Entwicklung eine andere Hypothek als der Standardvertrag optimal ist. In dem Fall wäre der opt out aus der Standardhypothek für beide Seiten nur eine bürokratische Belastung und mit Kosten verbunden. Zum anderen könnten Minderheiten oder Menschen mit niedrigem Einkommen benachteiligt werden, da gerade sie von flexibleren und innovativeren Produkten profitieren. Wenn die Standardverträge diese Besonderheit nicht abbilden, wären solche Bevölkerungsgruppen schlechter gestellt. Die meisten noch nicht ausgereiften Überlegungen lassen sich jedoch durch entsprechende Maßnahmen verfeinern, sobald erste Erfahrungen mit dem Ansatz gemacht werden. 1122..22..55 AAlltteerrssvvoorrssoorrggee Im Leben der meisten Menschen ist eine solide Altersvorsorge von enormer Bedeutung, um im Alter nicht in finanzielle Notlagen zu geraten. Dabei ist in vielen Ländern der Trend zu erkennen, dass sich die Verantwortung für die Altersvorsorge vom Staat immer mehr auf die Individuen verschiebt. Staatliche oder Arbeitgeberprogramme sichern die finanzielle Stabilität im dritten Lebensabschnitt meist nur unzureichend ab, sodass persönliche Vorkehrungen und Entscheidungen getroffen werden müssen, um im Rentenalter finanziell abgesichert zu sein. Den Zeitstrahl der Altersvorsorge kann man dabei in den Vermögensaufbau vor dem Renteneintritt und die Entspar-/ Ausgabenphase im Rentenalter unterteilen. Um eine solide Finanzbasis anzusparen, müssen Individuen oft Entscheidungen unter Unsicherheit treffen, denn kein Mensch kann korrekt voraussagen, wie sich Zinsen, Einkommen oder die eigene Gesundheit in Zukunft entwickeln werden. Dabei werden Menschen von vielen Faktoren wie Emotionen, der Informationsbasis oder der Entscheidungsarchitektur beeinflusst. Sie bedienen sich dabei nachvollziehbarerweise Daumenregeln oder auch Heuristiken, die in einigen Belangen zwar nützlich sind, aber systematisch zu irrationalen Entscheidungen und ergo zu einer mangelhaften Altersvorsorge führen können (vgl. Benartzi, Thaler, 2007, S. 82). Neben Heuristiken wie der selektiven Wahrnehmung, der Ambiguitätsaversion, dem Darstellungseffekt (Framing), der Verlustaversion (Loss Aversion), der Selbstüberschätzung (Overconfidence) oder dem Mental Accounting beeinflussen auch Faktoren wie Trägheit ( Status-Quo-Bias), Emotionen und die eingeschränkte finanzielle Kompetenz das Verhalten von Menschen im Entscheidungsprozess bei der Altersvorsorge. In den folgenden Beispielen wird dies näher beleuchtet (vgl. Knoll, 2010, S. 2). Oftmals bieten Arbeitgeber Programme an, welche die freiwillig gesparten Beträge des Arbeitnehmers durch weitere Einzahlungen bezuschussen. Solche Angebote sind für Arbeitnehmer dadurch potenziell sehr lukrativ. Dennoch nehmen bei weitem nicht alle Arbeitnehmer diese Angebote wahr, selbst wenn der komplette Altersvorsorgebeitrag vom Arbeitgeber bezahlt wird und lediglich eine Registrierung der Arbeitnehmer nötig ist. In Großbritannien traten in einer solchen Konstellation nur 51 Prozent der Arbeitnehmer dem entsprechenden Programm bei, obwohl es keinerlei finanzielle Belastung für den Arbeitnehmer beinhaltete. Dieses irrationale Verhalten kann z.B. in der Trägheit <?page no="337"?> 336 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance von Individuen begründet sein oder an der wahrgenommenen Komplexität des Antragsverfahrens liegen. Ein möglicher Nudgingansatz ist, dass man die Arbeitnehmer automatisch in das Programm aufnimmt, diese aber auf Wunsch ohne weitere Komplikationen wieder austreten können. Dies nennt man einen Wechsel von opt in auf opt out. Dieser Nudge gilt allgemein als sehr effektiv und wird in vielen Bereichen außerhalb der Altersvorsorge eingesetzt. 58 In einem Fall, bei dem ein opt in-Plan angeboten wurde, lag die Mitgliedschaftsrate anfangs bei 20 Prozent und steigerte sich nach intensiven konventionelle Werbemaßnahmen innerhalb von 36 Monaten auf 65 Prozent. Nach Einführung der automatischen Mitgliedschaft (opt out-Plan) stieg die Rate direkt auf 90 Prozent und steigerte sich auf 98 Prozent innerhalb von weiteren 36 Monaten. Durch diesen Nudge treten Arbeitnehmer nicht nur früher, sondern auch zahlreicher in Altersvorsorgeprogramme ein, ohne dass bei den bisher bekannten Beispielen wesentlich steigende Austritte zu verzeichnen wären. Ein ähnlicher, aber etwas schwächerer Nudge besteht darin, dass man die Arbeitnehmer nicht automatisch einschreibt, sondern ihnen die simple Frage stellt, ob sie das Programm wahrnehmen möchten oder nicht. So müssen Individuen in einer direkten Interaktionssituation ihre Präferenzen angeben und sich mit dem Thema auseinandersetzen. Die oben beschriebenen Erkenntnisse setzen die Regierungen von Neuseeland und Großbritannien in die Praxis um. In Neuseeland wurde im Jahr 2007 das KiwiSaver-Programm eingeführt. Ein Startzuschuss der Regierung von NZD$ 1000 und andere finanzielle Initiativen machen das Programm attraktiv. Alle Menschen mit einem neu geschlossenen Arbeitsvertrag werden automatisch Mitglied und Menschen in bestehenden Arbeitsverhältnissen können jederzeit eintreten. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass zwei Drittel der aktiv beigetretenen Arbeitnehmer auch eine aktive Investmententscheidung bezüglich ihrer Vorsorgestrategie trafen, während automatisch eingegliederte Arbeitnehmer nur zu 8 Prozent aktiv wurden. Der Rest beließ es bei einem Standardanlageprodukt. Dies lässt z.B. auf die Selbstattribution/ Kontrollillusion schließen. In Großbritannien trat im Jahr 2012 der National Pension Saving Scheme Act in Kraft, bei dem automatisch jeder Arbeitnehmer in ein Altersvorsorgeprogramm eingegliedert wird, bei dem er 4 Prozent seines Gehalts einzahlt während der Arbeitgeber 3 Prozent hinzuzahlt. Die Regierung war besorgt, dass trotz der finanziellen Attraktivität viele Arbeitnehmer das Angebot nicht wahrnehmen würden, da die Arbeitnehmer möglicherweise die Langzeitvorteile unterschätzen und lieber in der Gegenwart konsumieren. Deshalb nahm die Regierung die Arbeitnehmer automatisch in das Programm auf. Noch stehen belastbare Ergebnisse zur opt out-Quote aus. Es zeichnet sich allerdings ab, dass über 90 Prozent der Arbeitnehmer im Programm bleiben. Für viele Menschen ist es schwierig, ihren optimalen monatlichen Sparbetrag herauszufinden, da sich Faktoren wie zukünftige Zinsen, Einkommen, Präferenzen und Gesundheit nicht verlässlich prognostizieren lassen. Zudem fehlt es vielen Menschen an der Selbstdisziplin mehr zu sparen oder sie schieben es immer wieder auf. Eine populäre Hilfestellung in den USA sind die sogenannten 401(k) Programme. Bei diesen behält der Arbeitgeber für die Altersvorsorge einen Teil des Arbeitnehmergehalts ein und bezuschusst den Betrag meistens noch zu einem gewissen Grad. 58 Siehe dazu z.B. Reisch, Oehler (2009) <?page no="338"?> 12.2 Financial Nudging/ Finanzielle Nudgingansätze 337 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Ein auf Erkenntnissen der Behavioral Finance basierendes Sparprogramm heißt Save More Tomorrow (SMarT) und wurde von den Wissenschaftlern Shlomo Benartzi und Richard Thaler entwickelt. 59 Es zielt darauf ab, Menschen, denen es an Selbstdisziplin mangelt, beim Sparen zu unterstützen. Es hat vier Merkmale. Erstens: Arbeitnehmer werden möglichst lange vor einer Gehaltserhöhung mit SMarT vertraut gemacht. Hier macht man sich die Neigung des Menschen zunutze, dass zukünftige Handlungen oder Ereignisse unterschätzt werden. Der Arbeitnehmer muss für SMarT in der Gegenwart nur einwilligen und ist demnach eher bereit beizutreten. Zweitens tritt SMarT erst bei der nächsten Gehaltserhöhung in Kraft. Damit wird der Verlustaversion entgegengewirkt, da das Individuum keinen Verlust im Einkommen verspürt, sondern nur einen entgangenen Gewinn, welcher weniger Leid verursacht. Drittens erhöht sich die Sparrate bei jeder Gehaltserhöhung bis zu einer festgesetzten Höchstgrenze. Da Menschen zur Trägheit und zum Status-Quo Bias neigen, werden sie zumeist im Plan eingeschrieben bleiben und die Erhöhung hinnehmen. Zuletzt ist es wichtig, dass Individuen immer die Möglichkeit haben, aus dem Programm auszutreten. Damit wird die Hürde für den Eintritt ins Programm gesenkt, denn der Arbeitnehmer weiß, dass er jederzeit aus der Verpflichtung freikommt (vgl. Benartzi, Thaler, 2004, S. 170 ff. und Cussen, 2015). SMarT wurde in drei Unternehmen in unterschiedlichen Jahren und Orten auf unterschiedliche Weise vorgestellt und eingeführt. Dabei hat sich herausgestellt, dass es das Sparverhalten von Arbeitnehmern stark beeinflusst. Bei einem Unternehmen verdreifachte sich der Sparbetrag innerhalb von 28 Monaten. Auch in den anderen Unternehmen wurden positive Wirkungen auf das Sparvolumen verzeichnet. Sind Arbeitnehmer erst einmal beigetreten, verlassen aufgrund der Trägheit nur wenige das Programm wieder. Zudem erhöht sich die Sparrate bei jeder Gehaltserhöhung automatisch, was der menschlichen Eigenschaft des Aufschiebens solcher Handlungen entgegenwirkt. Es ist allerdings fraglich, ob eine automatische SMarT Mitgliedschaft nicht zu paternalistisch wäre, in seiner beschriebenen Form ist die Maßnahme aber gut mit dem libertären Paternalismus vereinbar. Überraschend viele Arbeitnehmer in den USA machen einen Bogen um traditionelle 401(k) Programme, obwohl die ökonomischen Vorteile auf der Hand liegen. Als Grund dafür wird u.a. die unterschiedlich weit reichende finanzielle Bildung und Kompetenz der Bevölkerung genannt. So ist einem großen Teil der Bevölkerung nicht bewusst, dass ein 401(k) Programm Arbeitgeberzuschüsse und Steuervorteile beinhaltet. Einfache Informationsnudges auf der Ebene der Informationswahrnehmung können die Teilnahme von Arbeitnehmern an 401(k) Programmen steigern. Wenn man Menschen auf die Vorteile des Programmes explizit hinweist und sie ihnen erklärt, kann das schon ihr Verhalten ändern. Verschiedene Studien zeigen, dass auch die Höhe des Arbeitgeberzuschusses einen positiven Einfluss auf das Verhalten der Arbeitnehmer hat. Insofern ist die Zielgruppe ökonomischen Anreizen durchaus zugänglich. Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung kann darin liegen, dass die Menschen temporär andere finanzielle Prioritäten verfolgen, wie z.B. das Abzahlen einer Immobilie oder die finanzielle Unterstützung studierender Kinder. Möglich ist auch, dass Menschen nicht an 401(k) Programmen teilnehmen, weil sie aus anderen Gründen bereits ausrei- 59 Siehe auch Kapitel 10. <?page no="339"?> 338 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance chend abgesichert sind, wie z.B. durch die Rentenansprüche des Ehepartners oder bereits gebildete Ersparnisse. Ein simple E-Mail oder ein Flyer mit Informationen über das 401(k) Programm und Beispielen von Zins- und Steuervorteilen ist bei unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen unterschiedlich effektiv. Z.B. junge Arbeitnehmer zwischen 18-24 Jahren sind am stärksten durch den reinen Informationsnudge beeinflussbar. Dieses Ergebnis spricht dafür, dass verschiedene Zielgruppen individuell unterschiedlich von oben genannten Informationsmaßnahmen angesprochen werden müssen, um die volle Wirkung zu entfalten (vgl. Clark, Maki, Sandler Morrill, 2014, S. 679 ff.). Auch Ciccotello und Yakoboski 60 vom Teachers Insurance and Annuity Association - College Retirement Equities Fund (TIAA-CREF) Institut, einem der größten amerikanischen Nonprofit-Finanzdienstleister, plädieren für unterschiedliche Nudgingansätze für unterschiedliche Altersgruppen. Sie untersuchten diese Frage im Hinblick auf zwei Generationen: Babyboomer 61 und Generation-Y 62 . Die Generation-Y scheint offener für Nudges zu sein, die Standardvorgaben beinhalten; beispielsweise wenn sie automatisch in ein Programm aufgenommen werden, welches eine vorgegebene Sparrate aufweist und diese in eine bereits ausgewählte Fondstruktur investiert. Die Generation-Y akzeptiert ein geringeres Maß an Privatsphäre und wird stärker von dem Verhalten von Menschen in der gleichen Situation beeinflusst. Zwar suchen sie nicht proaktiv nach Ratschlägen, dennoch scheinen Trainings und Workshops eine effektive Wirkung zu haben. Bei ihnen scheint es wichtig zu sein, dass man ihre Aufmerksamkeit weckt und sie miteinbezieht. Optionale Dinge scheinen nicht so wichtig zu sein, so dass automatische Mitgliedschaften ein effektiver Nudge sein können. Babyboomer hingegen haben viele bereits erste Altersvorsorgeentscheidungen getroffen und stehen deshalb vor recht unterschiedlichen Problemstellungen. Ein Einheitsnudge scheint für sie weniger effektiv. Sie schätzen die Privatsphäre mehr als die Generation- Y und benötigen deshalb einen Ratgeber, welchem sie vor allem vertrauen. Daher bieten sich für Babyboomer eher individuelle Nudgingansätze an. Der Ansatz des Nudging bei der Altersvorsorge ließe sich sogar noch weiterverfolgen. Menschen, die von Sozialhilfe leben oder nur über ein niedriges Einkommen verfügen, sparen selbst vor dem Hintergrund des geringen Einkommens besonders wenig, wie eine Studie aus Großbritannien aufzeigt. 63 Dabei haben zwei Drittel dieser Gruppe keine nennenswerten Ersparnisse aber drei Viertel waren der Meinung, dass sie mehr sparen sollten. In diesem Zusammenhang könnte ein Nudgingansatz zum Einsatz kommen, der auf dem Mental Accounting (mentale Buchführung) aufbaut. Er ist dann so organisiert, dass diese Menschen etwas mehr Miete bezahlen als nötig. Der überschüssige Betrag könnte dann vom Sozialamt oder einer anderen Institution auf einem Konto angelegt werden. So könnte über die Zeit die Altersvorsorge unterstützt werden. Die Heuristik des Mental Accounting wird hier insoweit genutzt, als die Miete automatisch einen ersparten Betrag beinhaltet. Die Sozialhilfeempfänger würden den Betrag nicht als Altersvorsorge wahrnehmen, sondern unter dem „Konto“ Miete einordnen. 60 Ciccotello, Yakoboski (2014) 61 Geburtsjahrgänge ca. Mitte 1950er bis Mitte 1960er Jahre 62 Geburtsjahrgänge ca. 1980 bis 1999 63 Lemos&Crane (2013) <?page no="340"?> 12.2 Financial Nudging/ Finanzielle Nudgingansätze 339 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1 122..22..66 AAkkttiieen n uunndd AAnnlleei ihheenn Die se s Kapi te l knüp ft d irek t an die v orange gange ne n Übe rl egun gen z ur A lt ers vorso ge und das Kapitel 10 an. Dabei geht es darum, wie Menschen, nachdem sie sich dazu entschlossen haben Geld zu sparen, dieses besser 64 investieren können. Grundsätzlich kann Geld in viele Vermögenswerte wie Immobilien, Rohstoffe, Kunst, Schmuck, Aktien oder Anleihen angelegt werden. Diese Arbeit beschränkt sich auf Aktien- und Anleiheprodukte, da diese oft für Altersvorsorgeprogramme vorgesehen sind. Zudem werden die Entscheidungen bei diesen Anlagekategorien von vielen Menschen als besonders komplex wahrgenommen. Für einen Investor ist zunächst entscheidend, wie viel Risiko er eingehen möchte. Für gewöhnlich bieten risikoreichere Produkte wie Aktien höhere Renditen, als sicherere Investments wie Bundesanleihen der Bundesrepublik Deutschland. Je nach Risikopräferenz des Investors kann nun in eine Kombination aus unterschiedlichen Aktien und Anleihen investiert werden. Daraus ergibt sich die sogenannte Portfoliostrukturierung. Für viele Menschen ist es eine komplexe Herausforderung, die optimale Portfoliozusammensetzung zu finden. Selbst wenn man die Zusammensetzung kennt, muss das Geld noch möglichst kostengünstig investiert werden. Um dies zu erleichtern, werden auch in der Altersvorsorge oftmals Investmentfonds angeboten. Diese können nach vielen Gesichtspunkten wie Branche, Risiko oder Unternehmen zusammengesetzt sein. Auch die Gebührenstruktur unterscheidet sich bei Fonds. Arbeitgeber bieten ihren Arbeitnehmern auch eigene Unternehmensanteile an. Die Investmentmöglichkeiten sind vielschichtig und haben nicht immer auf den ersten Blick offensichtliche Vor- und Nachteile. Thaler/ Sunstein nennen zwei häufige Fehlerquellen bei der Investition in Wertpapiere. Zum einen tendieren Anleger zu ungünstigem Timing beim Kauf und Verkauf von Aktien. Dem Herdentrieb folgend kaufen sie Wertpapiere, wenn sie auf einem Höchststand sind und verkaufen sie auf einem niedrigen Kursniveau. Zum anderen benutzen Investoren Daumenregeln wie die „1/ n“ Heuristik. Wenn sie „n“ Optionen haben, verteilen sie ihr Investment gleichmäßig darüber. Dieser stark vereinfachte Ansatz der Diversifizierung kann bei naiver Anwendung zu suboptimalen Ergebnissen kommen, wie z.B. die einfache Aufteilung des Portfolios in 50 Prozent Aktien und 50 Prozent Anleihen, ohne die Risiko-und Renditeerwartungen genauer zu analysieren. Zudem ist der Ansatz anfällig für Darstellungseffekt (Framing). So ist es denkbar, dass ein größerer Anteil des Vermögens in Aktien angelegt wird, falls besonders viele Anlagemöglichkeiten angeboten und wahrgenommen werden. Insofern sind in Bezug auf die Auswahl der Anlagekategorie eine ganze Reihe von Financial Nudging-Ansätzen denkbar. Da sich der Investmentprozess für die Altersvorsorge oft über Jahrzehnte hinzieht und die Zusammensetzung des Portfolios nach einer Anfangsentscheidung nur selten von den Anlegern verändert wird, ist allein schon regelmäßiges Feedback ein möglicher Nudgingansatz. Dadurch wird im Rahmen der Informationswahrnehmung das Verständnis für Auswirkungen der Anlageentscheidungen geschärft (vgl. Thaler, Sunstein, 2009, S. 128 ff). 64 Mit besser ist dabei gemeint, dass für eine individuelle Risikoneigung eine maximale Rendite bezogen auf das gesamte Anlageportfolio erzielt werden kann. <?page no="341"?> 340 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Ein weiterer Ansatz in diesem Zusammenhang, der die Informationsverarbeitung erleichtern kann, besteht darin, die zur Auswahl stehenden Fonds in drei Risikokategorien zu unterteilen: konservativ, moderat, aggressiv. So kann jeder Investor entsprechend seiner Präferenz in einen geeigneten Fonds investieren. Strategien könnten auch so aussehen, dass sie auf das Renteneintrittsdatum der Anleger hin ausgelegt sind. Je näher der Renteneintritt rückt, desto mehr wird in weniger risikoreiche Wertpapiere bzw. Fonds investiert (vgl. Benartzi, Peleg, Thaler, 2007, S. 22). Kenne t h Fr enc h und James Poterba 65 dokumentierten bereits 1991 den sogenannten Home Bias. Darunter ist die Neigung von Anlegern zu verstehen, nur in ihre „nationalen“ Wertpapiere zu investieren. Anleger überschätzen offensichtlich deren Renditeaussichten und ignorieren das „Klumpenrisiko“ das sich aus der mangelhaften Diversifikation ergibt. Wenn sie in internationale Wertpapiere investieren würden, könnten sie bei gegebenem Risiko eine höhere Rendite erwirtschaften. Als Nudgingansatz könnte im Rahmen eines Feedbackgesprächs die Länderverteilung des Portfolios analysiert und damit mögliche Ansatzpunkte für Verbesserungen herausgearbeitet werden. Arbeitnehmern werden oft auch Aktien des eigenen Unternehmens angeboten. In den USA investieren 11 Millionen Teilnehmer eines 401(k) Programms 20 Prozent und mehr ihres Ersparten in die Aktien ihrer Arbeitgeber; eine Teilgruppe von 5 Millionen Menschen sogar 60 Prozent und mehr. Das kann aus mehreren Gründen riskant sein. Zum einen stellen große Einzelinvestments im Sinne der Diversifizierung ebenfalls ein „Klumpenrisiko“ dar. Zum anderen besteht meist eine positive Korrelation zwischen der Entwicklung des Aktienkurses des Unternehmens und dem eigenen Arbeitsplatz. Im ungünstigsten Fall verlieren Arbeitnehmer nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch einen erheblichen Teil ihres Vermögens. Arbeitnehmer können beim Investment in eigene Unternehmensaktien zwar oft Steuervorteile realisieren, die bei anderen Investments nicht eingeräumt werden. Allerdings sind sich viele Arbeitnehmer dieses Vorteils nicht einmal bewusst. Außerdem überwiegen zumeist die Nachteile der fehlenden Diversifikation diese Steuervorteile, denn das Risiko durch größere Einzelpositionen von Unternehmensaktien im Portfolio des Arbeitnehmers wird nicht ausgeglichen. Um diese schädliche Verzerrung zu vermeiden, könnte man versuchen, die Portfolien von Anlegern automatisch stärker zu diversifizieren. Übersteigt ein Einzelinvestment eine gewisse Hürde, z.B. 8 Prozent, würde das weitere Engagement in diesem Investment eingestellt, bzw. eine schrittweise Rückführung eingeleitet (vgl. Benartzi, Thaler, Utkus, Sunstein, 2007, S. 45 ff.). Im Jahr 2000 wurde in Schweden ein Altersvorsorgeprogramm eingeführt, dessen Entscheidungsarchitektur Cronqvist/ Thaler 66 genauer analysierten. Das Programm ist grundsätzlich an einem laissez-faire Ansatz orientiert und ermutigte Teilnehmer, selbst Entscheidungen zu treffen. Sie können entweder einen Standardfonds wählen oder eine eigene Fondsstrategie (Mischung aus unterschiedlichen Fonds) zusammenstellen. Hierfür wurden den Teilnehmern umfangreiche Informationen über alle zulässigen 456 Fonds zur Verfügung gestellt und Fondsdienstleister durften für ihre Produkte werben. 65 French, Poterba (1991) 66 Vgl. Cronqvist, Thaler (2004), S. 424 ff. <?page no="342"?> 12.2 Financial Nudging/ Finanzielle Nudgingansätze 341 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Rund zwei Drittel der Teilnehmer entschied sich für den vorausgewählten Fonds, welcher von einem Expertengremium zusammengestellt wurde. Das andere Drittel, darunter vor allem Menschen mit höherem Investitionsvolumen, Frauen und jüngere Menschen, wählte ein eigenes Portfolio. Welche Gruppe hatte die bessere Wahl getroffen? Nach drei Jahren verlor der Standardfonds rund 30 Prozent im Vergleich zu rund 40 Prozent Verlust im Durchschnitt bei den aktiv gewählten Fonds. 67 Die Performance des Standardfonds in diesem Zeitraum war im Vergleich mit dem Benchmark und anderen Fonds so gut, dass er vom Ratingdienstleister Morningstar eine Bestauszeichnung verliehen bekam. Im Vergleich der beiden Anlegergruppen gab es einige weitere interessante Ergebnisse. Die selbstgewählten Portfolios hielten einen sehr hohen Anteil in Aktien: 96 Prozent (Standardfonds: 82 Prozent). Zudem tendierten Anleger bei aktiver Wahl zum oben genannten home bias, da sie rund 48 Prozent in schwedische Wertpapiere investierten (Standardfonds: 17 Prozent). Die Fondsgebühren waren 77 Basispunkte höher als die Kosten des Standardfonds. Somit investierten Menschen bei aktiver Wahl mehr in nationale Produkte sowie fast ausschließlich in Aktien. Und sie bezahlten höhere Gebühren. Aus dem schwedischen Beispiel lässt sich die Erkenntnis gewinnen, dass sich zu viele Entscheidungsmöglichkeiten für den Anleger nicht vorteilhaft auswirken. Für viele Anleger ist es im Rahmen ihrer Altersvorsorge vorteilhaft, wenn nur eine kleine Zahl an Fonds angeboten wird; beispielsweise drei Fonds, die wie oben beschrieben nach ihrer Risikoneigung gegliedert sind. Eine Abweichung von diesen Standardprodukten könnte ähnlich wie bei Hypotheken beschrieben, an eine bewusste opt out-Entscheidung geknüpft werden. Financial Nudging knüpft dort an, wo Konsumenten Entscheidungen über Finanzprodukte treffen müssen, die aus ihrer subjektiven Sicht komplex und undurchsichtig erscheinen. Dabei haben sich bisher vor allem Produktvereinfachungen mit opt out-Möglichkeit sowie gezielte Informationsaufbereitung (Informationsnudges) bewährt. 67 Die Verluste standen im Zusammenhang mit der internationalen Finanzkrise ab 2008 <?page no="343"?> 342 12 Financial Nudging - verhaltenswissenschaftliche Ansätze ZZuussaammmmeennffaassssuunngg Im vorliegenden Kapitel wurden sogenannte Financial Nudges vorgestellt, die Menschen bei Finanzprodukten und -dienstleistungen zu einem besseren Entscheidungsverhalten führen sollen. Im Rahmen des libertären Paternalismus ist Nudging ein Politikansatz, der Individuen in ihrem Entscheidungsverhalten für eine bestimmte, wünschenswerte Alternative beeinflusst und gleichzeitig die Wahlfreiheit des Individuums aufrecht erhält. Choice architects bestimmen, organisieren und formen durch die Entscheidungsarchitektur den Kontext, in welchem die Entscheidungssituation einem Individuum präsentiert wird. Im Sinne des libertären Paternalismus sollte ein Nudge nicht nur Wahlfreiheit einräumen, sondern auch transparent und effektiv sein. Ein Nudge kann daher nach dem „EAST“-Konzept (Effective, Attractive, Social, Timely) gestaltet werden. Typische Ansatzpunkte für Nudges sind Standardvorgaben (insbesondere der „opt out“), Warnungen und Grafiken, Mitteilung relevanter Informationen, Erinnerungen oder die Reduzierung der Komplexität der Aufgabenstellung. Zudem beeinflusst das Sozialverhalten anderer Menschen, z.B. Arbeitskollegen, Freunde oder die Familie, die eigenen Entscheidungen. Finanzielle Entscheidungen können für Individuen weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen. Im Leben eines Menschen werden eine Vielzahl von Finanzprodukten und -dienstleistungen genutzt, die aber oft sehr komplex aufgebaut sind und die Schwächen von Verbrauchern ausnutzen. Viele Menschen treffen irrationale Entscheidungen und hätten eine andere, ihren Präferenzen entsprechende Wahl getroffen, wenn ihnen in der Entscheidung eine kleine Hilfestellung gegeben worden wäre. Financial Nudging setzt an diesem Punkt an und versucht, das Entscheidungsverhalten von Individuen in diesem Sinne zu verbessern. Und zu guter Letzt sei noch auf einen Punkt hingewiesen, der in der bisherigen Diskussion wenig Beachtung findet, für die Akzeptanz von Financial Nudging allerdings von zentraler Bedeutung ist. Damit Financial Nudging politisch und gesellschaftlich akzeptabel ist, muss immer transparent bleiben, ob ein Nudge zu besseren Entscheidungen führen soll, oder ob ein Nudge dazu eingesetzt wird, durch das Ausnutzen einer Verzerrung politisch gewünschte Entscheidungen zu fördern. Dazu müssen die Frage der finanzökonomischen Rationalität und der Umgang mit Risiko viel stärker thematisiert werden, um auch gegebenenfalls die Befürchtung der Manipulation durch Nudging zu zerstreuen. <?page no="344"?> www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1133 WWeeiit teerre ennt twwi ic ckkl lu un ng g dde err BBeehha av viio or ra al l FFi inna an nc cee -- BBlliicckk iinn ddi iee ZZuukkuunnfftt Im letzten Kapitel dieses Buches soll ein Ausblick hinsichtlich neuer Forschungsrichtungen innerhalb der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung gegeben werden. Neue Denkanstöße und entsprechend neue Forschungsergebnisse haben jetzt schon die bestehenden Grenzen der Behavioral Finance verschoben. In diesem Sinne führt das Kapitel an die erwähnten Grenzen und stellt anschließend zwei neue Forschungsrichtungen aus der verhaltenswissenschaftlichen Forschung vor. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf der Neuro-Finance, welche die Zielsetzung verfolgt, die Ursachen für begrenzt rationale Verhaltensweisen auf Basis der Hirnforschung zu ergründen. Darüber hinaus wird die Emotional Finance als neueste Forschungsrichtung vorgestellt, in der unbewusst ablaufende mentale Prozesse erforscht werden. 1133..1 1 GGrreennzzeenn ddeerr BBeehhaav viioorraal l FFiinnaanncce e Die Erkenntnisse der Behavioral-Finance-Forschung führten zu erheblicher Kritik an neoklassischen Kapitalmarkttheorie. So wurde die unzureichende Beachtung der tatsächlichen Verhaltensweisen der Marktteilnehmer bemängelt. Ebenso wurde die korrekte Einpreisung der am Markt vorhandenen Informationen in die Wertpapierkurse Effizienzmarkthypothese von Fama anhaltender Kritik ausgesetzt wurde. Aufgrund der geäußerten Kritikpunkte seitens der Behavioral Finance ist es nicht verwunderlich, dass auch diese Forschungsrichtung intensiver Kritik ausgesetzt ist. Nachfolgend werden zwei zentrale Kritikpunkte diskutiert: 68 Fehlen eines konsistenten Theoriegerüsts und Zweifel am systematischen Bestehen von Marktanomalien Mit dem Kritikpunkt des fehlenden Theoriegerüsts wird das Fehlen eines umfassenden und eindeutigen Erklärungsmodells für die zahlreichen Verhaltensanomalien angesprochen. Die Prospect Theory gilt als die entscheidende Entwicklung, um das Verhalten des Marktteilnehmers im Investitionsprozess zu erfassen. Sie deckt aber nur einen Teil der in der Realität relevanten Investitions- und Entscheidungssituationen ab. Darüber hinaus wurden zahlreiche Verhaltensanomalien beschrieben, die eine breite Ausgangsbasis für die Entwicklung verhaltensorientierter Erklärungsansätze 68 Ein weiterer, eher forschungstechnischer Kritikpunkt beruht darauf, dass viele Verzerrungen und Heuristiken in Experimenten mit Studierenden erforscht wurden. Diese Versuchsgruppe ist sicher nicht repräsentativ für alle Marktteilnehmer. Neuere Forschungsarbeiten versuchen daher auch, andere Probanden in die Analysen einzubeziehen. <?page no="345"?> 344 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance bieten. Die große Anzahl psychologischer Phänomene und deren gegenseitige Abhängigkeit bzw. Widersprüchlichkeit stellt die Wissenschaftler der Behavioral Finance jedoch vor die Herausforderung, entsprechend sichere, standfeste Strukturen und Modelle zu entwickeln. So ergibt sich z.B. aus der Repräsentativitäts-Heuristik, dass die Marktteilnehmer in Abhängigkeit der historischen Aktienentwicklung auf Nachrichten entweder über- oder unterreagieren. Die gleiche Erscheinung wird im Sinne der Selbstüberschätzung (Overconfidence) dagegen unter dem Aspekt der eigenen Einschätzung des Marktteilnehmers bezüglich der zusammengetragenen Informationen beschrieben. Je mehr private Informationen der Marktteilnehmer hat, desto stärker ist die Überreaktion auf diese mit entsprechender Auswirkung auf die Entscheidungsfindung. Der Vorwurf, die bestehenden Erklärungsansätze der Behavioral Finance seien eher beliebig, ist somit durchaus verständlich. So kritisiert Fama (1998), dass die bisherigen verhaltensorientierten Konzepte nur sehr selektiv Marktanomalien erklären können (vgl. Jaunich, 2008, S. 64 f.). In der Reaktion auf diesen Kritikpunkt ist davon auszugehen, dass die Behavioral Finance in Zukunft weitere, leistungsstärkere Erklärungsansätze hervorbringen muss, die das Verständnis über die Auswirkungen von begrenzt rationalen Verhaltensweisen weiter vertiefen und helfen, mögliche Anomalien und Verzerrungen besser strukturiert zu erfassen. Neben dem Fehlen eines konsistenten Theoriegerüstes wird die schiere Existenz der erforschten Marktanomalien angezweifelt. Dieser Kritikpunkt wiegt gegenüber dem ersten noch schwerer, da diese zu den Grundsäulen der Behavioral Finance gehören. In diesem Sinne werden folgende Kritikpunkte geäußert: Vorwurf der gezielten Datensuche Die Wissenschaftler MacKinlay (1995) sowie Black (1993) argumentieren, dass die Erforschung von Marktanomalien durch reine Ex-post-Analyse der Daten begünstigt ist. So sind fast immer Marktverzerrungen festzustellen, wenn eine gezielte Auswahl der analysierten Daten getroffen wird. Nachweis von Marktanomalien in Abhängigkeit von der verwendeten Methodik Mit dem Vorwurf, dass die Nachweisbarkeit von Marktanomalien stark von der verwendeten Methodik abhängt und insbesondere langfristig angelegte Ereignisstudien fehleranfällig sind, konfrontiert Fama die verhaltensorientierte Finanzmarktforschung: “Reasonable changes in the approach used to measure abnormal returns typically suggest that apparent anomalies are methodological illusions.” (Fama, 1998) Außerdem ist zu klären, ob das Abklingen bzw. Verschwinden einiger Marktanomalien ein Indiz für über die Zeit rationaleres Anlegerverhalten und steigende Markteffizienz ist. In Kapitel 4.3.3 wurden kurzfristig andauernde Marktanomalien aufgeführt, deren Effekte sich zunehmend abgeschwächt haben. So dokumentiert Hirshleifer (2001) die Unbeständigkeit des Value-Effektes im amerikanischen Aktienmarkt zum Ende der 1990er Jahre. Des Weiteren wiesen Chordi und <?page no="346"?> 13.2 Entstehung der Neuro-Finance/ Neuroökonomie 345 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Shivakumar (2002) nach, dass der Momentum-Effekt nur in konjunkturellen Aufschwungsphasen signifikant nachweisbar ist. Dieser Effekt soll laut Henker, Martens und Huynh (2006) für den amerikanischen Markt seit 2000 nicht mehr existent sein (vgl. Jaunich, 2008, S. 68). Abschließend weist Fama auf die fehlende Alternative zu der etablierten, neoklassischen Finanztheorie hin: “My view is that any new model should be judged […] on how it explains the big picture. The question should be: Does the new model produce rejectable predictions that capture the menu of anomalies better than market efficiency? For existing behavioral models, my answer to this question […] is an emphatic no.“ (Fama, 1998) Die weiterhin erkennbare Bedeutung der Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie ist auch durch die breite Anwendung erkennbar. So merken Goedhart, Koller und Wessels an: “It takes a better theory to kill an existing theory, and we have yet to see the better theory. Therefore, we continue to use the CAPM while keeping a watchful eye on new research in the area”. (Goedhart, Koller und Wessels, 2005) Dennoch stellen sich einige der empirisch nachgewiesenen Anomalien als sowohl methodisch als auch zeitlich robust heraus (vgl. Kap 4.3.3). Anlagestrategien, die derartige systematische Marktverzerrungen ausnutzen (wie z.B. von Hedgefonds eingesetzt), haben somit das Potenzial, nachhaltig Überrenditen zu erzielen (vgl. Jaunich, 2008, S. 73). In diesem Kontext kann nun die Frage gestellt werden, ob die entsprechenden Marktanomalien auch künftig bestehen bleiben und für eine Überrendite sorgen können. Innerhalb der Diskussion um die Grenzen jeglicher ökonomischer Theorien ist festzuhalten, dass die verhaltenswissenschaftliche Finanzmarktforschung nach aktuellem Stand zumindest für das aktive Anlagemanagement von Privatanlegern konkrete Anhaltspunkte liefert. 1133..2 2 EEnnttsstteeh huunngg ddeer r NNeeuurroo--F Fiin naan ncce e/ / NNeeuurrooöökkoonnoommi iee Über die letzten 25 Jahre haben Wissenschaftler aus dem Bereich Behavioral Finance Erkenntnisse aus der Psychologie, der Soziologie aber auch der Spieltheorie genutzt, um die Entscheidungsfindung der Marktteilnehmer zu analysieren und zu begründen. Die Erkenntnisse ermöglichten die Identifizierung und Beschreibung von Marktanomalien und begrenzt rationalen Verhaltensweisen während des Informations- und Entscheidungsprozesses. Dieser erste wichtige Schritt der Erkundung des Marktteilnehmers und der Formulierung von Handlungsempfehlungen zur Begrenzung risiko-/ renditeschädlichen Verhaltens bleibt allerdings eine Antwort schuldig; nämlich der Erklärung der Ursachen für die beobachtbaren Verhaltensweisen. Im Laufe der Zeit haben Neurowissenschaftler aufgrund des technischen Fortschritts die Möglichkeit erlangt, die im Gehirn ablaufenden chemischen und elektrischen Pro- <?page no="347"?> 346 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance zesse während einer Entscheidungsfindung zu erfassen und zu analysieren. Die Kombination aus Behavioral Finance und der so entstandenen Forschungsrichtung der Neuro- Finance ermöglichen es heute, das Investmentverhalten der Marktteilnehmer besser zu verstehen. Die Neuroökonomie als Überbegriff für die Erforschung neuronaler Ursachen ökonomischen Handelns ist in der Lage, die grundlegenden biologischen und psychologischen Mechanismen aufzuzeigen, die maßgeblich die Anwendung der vorgestellten Heuristiken verursachen und u. a. auch zu Herdenverhalten führen können (vgl. Petterson, 2010, S. 73 f.). So sind die Neuroökonomen an den neuronalen Beziehungen interessiert, die für die in den Kapiteln 7 bis 9 aufgezeigten Verhaltensweisen verantwortlich sind (vgl. Walter/ Abler, 2005, S. 368). Die Neuroökonomie stellt insofern eine Subdisziplin der Volkswirtschaftslehre dar, welche u.a. die Erkenntnisse der Behavioral Finance aufgreift und die gewonnenen Erkenntnisse aus theoretischen und praktischen Untersuchungen auf der Grundlage neuronaler und biologischer Prozesse der Marktteilnehmer verfeinert. Hierbei erlaubt die Anwendung neurowissenschaftlicher Untersuchungsmethoden, wie des Magnetresonanztomografen (MRT), biologische Treiber für die Entscheidungsfindung zu erforschen und auf diese Weise den Ursprung für die begrenzt rationalen Verhaltensweisen zu ergründen. Diese Forschungsrichtung hat also die Zielsetzung, die neuronale Basis für Entscheidungen und das beobachtbare Verhalten der Marktteilnehmer zu entschlüsseln. Die dabei gewonnenen Ergebnisse sind besonders aufschlussreich, da sich die Grundlagen der ökonomischen Theorien bislang basierend auf Annahmen entwickelt haben, welche die neuronale Forschung nicht einbeziehen konnten. Durch die fortschreitende Untersuchung des Gehirns werden neue Einflussfaktoren auf den Informations- und Entscheidungsprozess der Marktteilnehmer sichtbar. Als Resultat wird das Bild des Homo Oeconomicus weiter zurückgedrängt und der Homo Oeconomicus Humanus tritt auf Basis der Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften als eine Art Homo Neurobiologicus noch weiter in den Vordergrund. Dieser Marktteilnehmer kennzeichnet sich durch Verhaltens-, Denk- und Entscheidungsmuster, die vor allem mit Hilfe der Neurobiologie erklärt werden können. So sind sowohl die Neuroökonomie als auch die Neuro-Finance in der Lage, die Ergebnisse, die aus experimentellen Spielen gewonnen wurden, einzuordnen und die dazugehörigen neuronalen Prozesse im Gehirn zu erklären. Diese Kenntnisse verhelfen den Wissenschaftlern, Annahmen darüber zu treffen, wie das Gehirn verschiedene Aufgaben löst. Auf diese Weise verbessern die Neurowissenschaften das Verständnis über die Fakneoklassischen Kapitalmarkttheorie während des Entscheidungsprozesses verantwortlich sind. Als Resultat können neue Modelle geschaffen werden, die auf einer realistischen Beschreibung des menschlichen Verhaltens basieren und dabei die treibenden Kräfte im Hintergrund berücksichtigen (vgl. Kenning/ Plassmann, 2005, S. 344). In der Erforschung neuronaler Prozesse beschäftigt sich die Neuro-Finance mit den folgenden drei zentralen Fragestellungen: Wie werden bestimmte Informationen von den Marktteilnehmern verarbeitet? Welche Auswirkungen haben diese auf mentale Prozesse der Marktteilnehmer? Welchen Einfluss hat die persönliche Risikowahrnehmung auf den Entscheidungsprozess? <?page no="348"?> 13.2 Entstehung der Neuro-Finance/ Neuroökonomie 347 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Mit Blick auf die Forschungsergebnisse ist allerdings nach jetzigem Stand anzumerken, dass die empirischen Ergebnisse durch bestimmte Begrenzungen in ihrer Aussagekraft eingeschränkt sein können. So lassen sich Forschungsergebnisse mit einer Versuchsperson mit gleichem technischen Aufwand (siehe unten) nicht wiederholen, da die Versuchsperson beim Folgetest bereits voreingenommen wäre. Ebenso ist anzumerken, dass die neuronale Forschung verschiedene Gehirnbereiche identifizieren kann, die oft gleichzeitig auf die Entscheidungsfindung einwirken. Entscheidet sich ein Wissenschaftler aufgrund seines Forschungsschwerpunktes oder aufgrund technischer Hindernisse für ein bestimmtes Gehirnbereich, so bekommt der Leser der wissenschaftlichen Publikation nur einen Teilausschnitt der im Gehirn ablaufenden Prozesse mit. Aus diesem Grund ist es sicher ratsam, die Forschungsergebnisse noch mit einer gesunden Skepsis zu betrachten und dieser noch jungen Forschungsrichtung Zeit zu geben, sich weiter zu entfalten. 1133..22..11 EErrffoorrsscchhuunngg ddeess mmeenns scchhlliicchheenn GGeehhiirrnns s Um die oben genannten Fragen zu beantworten, bedient sich die Neuroökonomie der Möglichkeiten, die aus der Neurologie bekannt sind. Hierbei unterscheidet man zwischen Verfahren zur Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns, Verfahren zur Messung der neuronalen Stoffwechselvorgänge und Verfahren zur Messung von psychophysischen Vorgängen im Körper des Probanden. Letzteres beschränkt sich auf die Messung von Körperaktivitäten wie Blutdruck und Pupillenerweiterung (vgl. Schilke & Reimann, 2007, S. 250). Die Verfahren zur Messung der elektrischen Aktivität hingegen messen die elektrischen Spannungsschwankungen auf der Oberseite des Gehirns. Sie eignen sich vor allem zur Beantwortung der Frage, wann eine bestimmte neuronale Aktivität auftritt. Das älteste Verfahren dieser Gruppe ist die Elektroencephalographie (EEG) bei der mittels Elektroden auf der Kopfhaut Spannungsschwankungen gemessen werden. Da bei diesem Verfahren nur oberflächennahe Aktivitäten gemessen werden, kann keine räumliche Darstellung der beteiligten Gehirnareale erfolgen. Das EEG ist jedoch in der Lage, die Reihenfolge des Einsatzes der beteiligten Gehirnareale exakt zu bestimmten (vgl. Ahlert & Kenning, 2006, S. 24). Die Verfahren zur Messung neuronaler Stoffwechselvorgänge bedienen sich der PET bzw. des fMRT-Verfahrens. Das PET-Verfahren (Positronen-Emissions-Tomographie) wird bedeutend weniger angewendet als die Untersuchung mit Hilfe des funktionellen Magnetresonanztomografen kurz fMRT (im englischen als fMRI functional magnetic resonance imaging bezeichnet) (vgl. Abb. 78). Dies ist dem Umstand geschuldet, dass im PET-Verfahren der Untersuchungsperson ein leicht radioaktives Mittel verabreichet wird, wodurch im Anschluss die aktivierten Gehirnareale gemessen werden. Die insgesamt am häufigsten angewendete Untersuchungsform ist die des fMRT. Diese Untersuchungsmethode gibt Aufschluss darüber, in welchem Areal die Sauerstoffkonzentration des Blutes aufgrund neuronaler Aktivitäten höher ist. Aktive Gehirnareale werden erkannt, indem die ausgesendeten Magnetresonanz-Signale vom fMRT aufgefangen und ausgewertet werden. Die Magnetresonanz-Signale haben in Abhängigkeit des Sauerstoffgehalts der betroffenen Gehirnareale eine unterschiedliche Intensität. Die Signale werden schließlich von Empfangsdetektoren aufgefangen und mit Hilfe eines <?page no="349"?> 348 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance statistischen Rechenverfahrens in Bilder umgesetzt. Die unterschiedlichen Abbildungen der Tätigkeit des Gehirns lassen Schlussfolgerungen auf die an der Problemlösung beteiligten Gehirnregionen zu. Abb. 78: Funktioneller Magnetresonanztomograf (fMRT) zur Messung von Gehirnaktivitäten Seit der Mitte der 1990er Jahre erfolgt die Untersuchung der Gehirnaktivitäten überwiegend durch die Anwendung des fMRT. Dieser erlaubt eine ambulante Anwendung und verursacht keine radioaktive Strahlung. Andere Untersuchungsmethoden beinhalten genetische Tests, Verhaltensmessungen, psychologische Tests sowie die Elektrophysiologie. Letztere basiert, wie oben schon erwähnt auf der Messung des Herzschlags, Blutdrucks bzw. der Hautveränderungen (Transpiration), die jeweils auf Aktivitäten in einzelnen Gehirnregionen hinweisen (vgl. Petterson, 2010, S. 78 f.). Für ein besseres Verständnis für die Auslöser bestimmter Verhaltensweisen und für die beteiligten Gehirnareale werden nachfolgend die wichtigsten Gehirnareale - Amygdala, Prefrontal Cortex und der Nucleus Accumbens sowie die beiden wichtigsten biogenen Amine, auch als Hormone bezeichnet - Dopamin und Serotonin - genauer betrachtet (vgl. Abb. 79; vgl. Pompian, 2006, S. 296 ff.). Die erwähnten Hormone haben bedeutenden Einfluss auf die Wahrnehmungsprozesse des Marktteilnehmers und führen entsprechend zu charakteristischen Verhaltensweisen. Präfrontaler Cortex Der präfrontale Cortex ist ein Teil des Frontallappens in der Großhirnrinde. Er ist an der Planung kognitiver, sozialer Verhaltensweisen sowie am Ausdruck der eigenen Persönlichkeit beteiligt. Dieser Bereich des Gehirns wird als oberstes Kontrollzentrum betrachtet, da er schlussendlich zur Generierung von Entscheidungen führt. <?page no="350"?> 13.2 Entstehung der Neuro-Finance/ Neuroökonomie 349 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Aufbau des menschlichen Gehirns - Seitenansicht Abb. 79: Aufbau des menschlichen Gehirns Sofern Marktteilnehmer kognitive Fehler in der Entscheidungsfindung begehen, hängt dies häufig mit fehlenden Informationen zusammen, die für eine korrekte Entscheidung notwendig wären. Erfährt ein Marktteilnehmer eine Verletzung dieses Gehirnbereiches oder wird seine Funktionsweise durch den Alterungsprozess beeinträchtigt, so führt dies oft zu Kurzsichtigkeit in der Schlussfolgerung/ Planungskapazität der Marktteilnehmer. Amygdala Die Amygdala ist ein mandelgroßes, paarweise vorkommendes Kerngebiet im Gehirn des Menschen. Sie nimmt eine Schlüsselfunktion in der Generierung primärer Emotionen wie Angst und Freude ein. Erkrankungen wie Depressionen oder Schizophrenie sind oft auf die abnormale Änderung/ Funktionsweise der Amygdala zurückzuführen. Der Einfluss auf den Marktteilnehmer ist insbesondere in Paniksituationen auf den Kapitalmärkten zu beobachten. Marktteilnehmer agieren hektisch und stoßen Positionen bei plötzlich stark fallenden Kursen ab. Dazu passt die Aussage des legendären Investors Sir John Templeton: „Buy when pessimism is at its maximum, sell when optimism is at its maximum.“ Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, in Zeiten stark fallender Kurse, wie im Herbst 2008, im Sommer 2011 oder im Januar 2016, tatsächlich den Mut zu haben und entsprechend zu investieren. Nucleus Accumbens Der nucleus accumbens ist eine Kernstruktur im unteren Vorderhirn mit einer breiten Sammlung an Neuronen. In Zusammenarbeit mit dem anterior cingulate hilft er, Muster zu erkennen und sich zwischen Alternativen zu entscheiden. <?page no="351"?> 350 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Für die Marktteilnehmer bedeutet dies, dass sie ständig nach bestimmten Mustern suchen, um Ihre Entscheidungsfindung zu beschleunigen bzw. zu erleichtern. Entsprechend der Funktionalität des nucleus accumbens ergibt sich daraus ein Ansatzpunkt für die Repräsentativitäts-Heuristik. Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren beachtliche Ergebnisse über die Funktionsweisen im Gehirn geliefert. So haben Kuhnen und Knutson 2005 Areale im Gehirn identifiziert, die aktiviert werden, wenn ein Marktteilnehmer eine risikoreiche An lag e täti gt (vgl. lin kes Bild A bb . 8 0 ) so wi e Gehi r na rea le , die erh öh te neur on ale Akti vität aufweisen, wenn ein Marktteilnehmer versucht, Verluste zu vermeiden (vgl. rechtes Bild Abb. 80). Bei der Erwartung eines Gewinnes reagiert der Nucleus accumbens, welcher sich tief hinter den Augen an der Rückseite des hinteren Teils des Frontallappens im Gehirn befindet. Im Falle eines Verlustes reagieren dagegen die beiden mandelförmigen, auf der linken und rechten Seite des Gehirns liegenden Amygdala. Investitionsentscheidungen führen zur Beanspruchung unterschiedlicher Gehirnregionen Abb. 80: Neuronale Aktivitäten eines Marktteilnehmers bei Tätigung einer riskanten Anlage (links) und bei Vermeidung eines Verlustes (rechts) Dopamin Dopamin ist ein Neurotransmitter, dessen Ausschüttung zu Glückgefühlen führt. In Erwartung einer entsprechend positiven Stimulation bewirkt Dopamin eine zunehmende Fokussierung auf das erwartete Ereignis (z.B. steigende Aktienkurse). Die Konzentration von Dopamin nimmt zu, sofern das positive Ereignis unerwartet eingetreten ist. Auf der anderen Seite wird die Ausschüttung von Dopamin sofort gestoppt, sobald das erwartete Ereignis nicht eingetreten ist. In diesem Fall erfolgt ein negativer Stimmungsumschwung. Dopamine sind für das Verhalten der Markteilnehmer auf den Finanzmärkten besonders wichtig, da sie das Risikoverhalten beeinflussen. Dopamin führt dazu, dass die Marktteilnehmer in Wachstumsaktien investieren oder an unterdiversifizierten Depots festhalten - jeweils in Erwartung steigender Kurse. Die Ausschüttung von Dopamin scheint folglich für die Entstehung bestimmte Heuristiken verantwortlich zu sein - so z.B. die Selbstüberschätzung, welche maßgeblich an der Verursachung von Gier beteiligt ist. <?page no="352"?> 13.2 Entstehung der Neuro-Finance/ Neuroökonomie 351 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Serotonin Serotonin ist ein Neurotransmitter, welcher im zentralen Nervensystem produziert wird. Die Reduktion des Serotoninlevels führt zur Senkung des Wohlbefindens, was zu Depressionen, Impulsivität und Ängstlichkeit führt. Erfährt der Marktteilnehmer eine unerwartete negative Wendung im Verlauf eines Investments, so sinkt das Serotoninlevel im Gehirn. Dies führt dazu, dass der Marktteilnehmer sich passiv verhält und die eingegangenen Risiken nicht richtig einschätzen kann. Ebenso kann es vorkommen, dass der Marktteilnehmer zu häufigem Handel verleitet wird, um erlittene Verluste ausgleichen zu können und das depressive Gefühl im Zuge von Verlusten durch mögliche Gewinne zu reduzieren. Ein niedriger Serotoninlevel kann möglicherweise mit den Ursachen für die Verlustaversion der Marktteilnehmer in Verbindung gebracht werden. Mit Hilfe der neurologischen Untersuchungsmethoden wurde eine Reihe von Faktoren als Ursache für die beobachtbaren Verhaltensweisen der Marktteilnehmer identifiziert. So spielt auch die genetische Grunddisposition des Menschen eine entscheidende Rolle für das Risikoverhalten in finanziellen Angelegenheiten. Außerdem erfährt die molekulare Zusammensetzung des Gehirns bei der Einnahme von chemischen Mitteln, wie Medikamenten oder Drogen eine Veränderung. Als Folge werden auch Veränderungen in der Verhaltensweise der Marktteilnehmer erkennbar. Schließlich können Verhaltensänderungen aus Sicht der anatomischen Veränderungen mittels des fMRT sichtbar gemacht werden. Diese treten auf, sobald Informationen auf eine bestimmte Art und Weise präsentiert werden (Framing) oder Entscheidungen auf Basis bestimmter Bezugspunkte getroffen werden (Reference points). 1133..22..22 EEnnt ts scchheeiidduunng gssp prroozzeesssse e aauuss SSiicchhtt ddeerr NNe euurroo--F Fi inna annc cee Obwohl die Neurowissenschaften ein relativ junges Forschungsgebiet sind, können sie wie eingangs erwähnt, bereits jetzt bestimmte Verhaltensweisen der Marktteilnehmer auf Basis neuronaler Prozesse erklären. Nachfolgend werden Erkenntnisse dargestellt, die bestimmte Entscheidungsprozesse aus Sicht der Neuro-Finance erklären und dadurch die Ursache für die Verhaltensweisen aus den Kapiteln 7 bis 9 beleuchten können. Die verhaltenswissenschaftliche Forschung zeigte bereits auf, dass der Marktteilnehmer seine Entscheidungen nicht nur auf Basis kognitiver Prozesse, sondern auch auf Basis emotionaler Prozesse trifft. Die Wissenschaftler Camerer, Loewenstein und Prelec (2005) konstruierten zur Unterscheidung menschlicher Reaktionen eine Vierfelder- Matrix, in der sie die Dimension kognitiv/ emotionaler Prozesse um eine weitere Dimension, der kontrolliert/ automatisch ablaufenden Prozesse, erweitert haben. Zusammen definieren die beiden Dimensionen die vier Quadranten in Abbildung 81. Die einzelnen Dimensionen bzw. die dazu gehörenden Quadranten, werden in unterschiedlichen Denkprozessen ausgeführt. Quadrant I kommt zur Anwendung, wenn der Marktteilnehmer über die Finanzierung eines Anschaffungsobjektes entscheiden soll. Quadrant II ist als eher untypisch anzusehen, da Emotionen in der Regel nicht kontrolliert ablaufen. Hier können Schauspieler als Beispiel genannt werden, die bei Bedarf eine bestimmte Emotion zeigen, indem sie sich in die jeweilige Situation hineinversetzen. Die Prozesse aus Quadrant III spielen dagegen bei sportlichen Aktivitäten eine wichtige <?page no="353"?> 352 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Rolle, die Prozesse aus Quadrant IV werden hervorgerufen, wenn eine Fluchtreaktion beim Menschen ausgelöst wird, da dieser z.B. erschreckt wird. In der Theorie können die hervorgerufenen Verhaltensweisen den einzelnen Quadranten zugeordnet werden, in der Realität basieren viele Prozesse jedoch auf dem Zusammenspiel aller vier Quadranten (vgl. Camerer, Loewenstein, Prelec, 2005, S. 29). Neuronale Prozesse auf Basis zweier Dimensionen - Überblick Abb. 81: Dimensionen neuronaler Prozesse nach Camerer et al. (2005) Kontrollierte und automatische Prozesse Kontrollierte Prozesse kennzeichnen sich dadurch, dass diese sequenziell, also nacheinander, ablaufen und vom Entscheidungsträger absichtlich hervorgerufen werden. Diese Art von Prozessen wird oft als „aufwendig“ empfunden. Der Mensch kann über diese kontrollierten Prozesse meist sehr gut selbst reflektieren, da diese bewusst erlebt werden. Der Grund für eine Entscheidung kann erklärt werden. Automatische Prozesse hingegen laufen parallel ab und werden reflexartig hervorgerufen. Sie laufen unbewusst ab und werden von den Menschen daher auch als mühelos empfunden. Da automatische Prozesse unbewusst ablaufen, fällt es den Menschen bzw. den Marktteilnehmern schwer, ihr Verhalten zu rechtfertigen (vgl. Camerer, Loewenstein, Prelec, 2005, S. 29). Herdenverhalten oder die Reueaversion sind daher rendite-/ risikoschädlicher als bewusst in Anspruch genommene Heuristiken, da der Marktteilnehmer diese unbewusst anwendet. Kognitive und affektiv/ emotionale Prozesse Innerhalb der zweiten Dimension werden Entscheidungsprozesse danach unterschieden, ob diese einen kognitiven oder affektiv/ emotionalen Ursprung haben. Affektive Prozesse führen zu einem motivierenden oder vermeidenden Verhalten. So wird bei af- Sequenziell Aufwendig Absichtlich hervorgerufen Bewusst ablaufende Prozesse Parallel Mühelos Reflexartig hervorgerufen Unbewusst ablaufende Prozesse I II IV III kognitiv affektiv/ emotional Art des Prozesses - Dimension 2 automatisch kontrolliert Art des Prozesses - Dimension 1 <?page no="354"?> 13.2 Entstehung der Neuro-Finance/ Neuroökonomie 353 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance fektiven Prozessen danach entschieden, ob die Entscheidung ausgeführt oder nicht ausgeführt wird (ja/ nein). Bei kognitiven Prozessen steht dagegen die Frage nach „richtig“ oder „falsch“ im Vordergrund (vgl. Camerer, Loewenstein, Prelec, 2005, S. 18). Die Verarbeitung von Informationen auf Basis der vier Quadranten kann demnach zu unterschiedlichen Reaktionsarten beim Menschen führen. Werden dem Gehirn zwei unterschiedliche Informationen zur Verfügung gestellt, kann während der Beurteilung der Informationen nur eine der beiden Information genutzt werden, wobei die andere möglicherweise unterdrückt wird (vgl. LeDoux, 1996, S. 19). Diese Erkenntnis kann eine Erklärung für die beobachtbaren Verhaltensweisen im Rahmen der kognitiven Dissonanz sein (selektive Wahrnehmung aus Kap. 7.1.2 und selektive Entscheidung aus Kap. 9.1.1). Demnach spielt die Konkurrenz zwischen kognitiven und affektiv/ emotionalen Prozessen eine Rolle für begrenzt rationales Verhalten. Rationales Entscheidungsverhalten erfolgt nämlich nur durch ausgewogene Zusammenarbeit und Aktivität in allen vier Quadranten. Den Ursprung vieler Verzerrungen im Entscheidungsprozess vermutet die Wissenschaft deshalb in der „falschen Arbeitsverteilung“ zwischen den einzelnen Quadranten (vgl. Camerer, Loewenstein, Prelec, 2005, S. 28 f.) Die neuronalen Prozesse aus den vier Quadranten können zudem das Entscheidungsverhalten der Marktteilnehmer in Risikosituationen erklären. Die Vierfelder-Matrix von Camerer, Loewenstein und Prelec kann eine Erklärung für die Fehlinterpretation objektiver Wahrscheinlichkeiten seitens der Marktteilnehmer liefern. In diesem Sinne wird der Wettbewerb der einzelnen Quadranten sichtbar, da der Marktteilnehmer während des Entscheidungsprozesses sich zwischen den einzelnen Dimensionen (automatisch/ kontrolliert vs. kognitiv/ emotional) bewegt. So versuchen die Marktteilnehmer einerseits, wie von der neoklassischen Kapitalmarkttheorie vorgeschlagen, Risiko nach objektiven Gesichtspunkten zu evaluieren (Quadrant 1). Andererseits reagieren sie auch auf einer emotionalen Ebene (Quadrant 4). Diese affektiven Reaktionen haben einen großen Einfluss auf das kognitive System und damit auf das Verhalten eines Marktteilnehmers (vgl. Camerer, Loewenstein, Prelec, 2005, S. 43). Übertragen auf den Entscheidungsprozess bedeutet dies, dass der Marktteilnehmer trotz rationaler Überlegungen des kognitiven Systems durch das affektive System gestört werden kann. Diese neurowissenschaftlichen Erkenntnisse könnten z.B. erklären, weshalb der Marktteilnehmer beim Entscheidungsprozess objektive Wahrscheinlichkeitsverteilungen fehl- Probability Weightings ungerechtfertigt mehr Risiko eingeht oder bedacht ist, weniger Risiko einzugehen (vgl. Sunstein, 2003, S. 122 f.). Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse lassen vermuten, dass eine rein rationale Entscheidung entsprechend der Erwartungsnutzentheorie von Morgenstern und von Neumann (vgl. Kap. 1.2.3) nicht gibt. Der Entscheidungsprozess basiert vielmehr auf rationalen bzw. kognitiven und begrenzt rationalen bzw. affektiven Vorgängen im menschlichen Gehirn. Diese erfolgen sowohl kontrolliert als auch automatisch. Der Entscheidungsprozess kann insbesondere durch affektive Prozesse, die unbewusst ablaufen, erschwert werden. Die Vermeidung von Emotionen zur Verbesserung der Entscheidungsfindung ist nach Erkenntnissen von Damasio keine Lösung. Demnach ist das Zusammenspiel aller Quadranten notwendig, um unter Risiko und Unsicherheit eine Entscheidung treffen zu können. So haben Untersuchungen von Damasio gezeigt, dass <?page no="355"?> 354 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance hirngeschädigte Patienten, die keine Emotionen mehr empfanden, nicht in der Lage waren, trivialste Entscheidungen zu treffen (vgl. Damasio, 1997, S. 262 f.). Die Ergebnisse lassen vermuten, dass die neuronalen Systeme für Vernunft und Emotionen nicht unabhängig voneinander funktionieren und deshalb der Entscheidungsprozess eng an Emotionen geknüpft ist. Diese Vermutung verdeutlicht, dass der Homo Oeconomicus Humanus nicht in der Lage sein kann, rein rationale Entscheidungen zu treffen, da Emotionen für die Entscheidungsfindung unabdingbar sind. Die Auswirkung von Emotionen auf die Entscheidungsfindung erfährt im Rahmen der Emotional Finance (vgl. Kap. 13.3) besondere Aufmerksamkeit. Menschliche Gehirnsysteme Neben der Erforschung verhaltensbeeinflussender Prozesse, ermöglicht die Neuro- Finance auch die Erforschung der Systeme im Gehirn, die für das Verhalten und Entscheiden in finanziellen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung sind. Es handelt sich dabei um vier Systeme - Belohnungssystem, Verlustvermeidungssystem, Gedächtnissystem und Entscheidungssystem - die nachfolgend näher beschrieben werden (vgl. Elger & Schwarz, 2009, S. 157 ff.). Grundsätzlich ist anzumerken, dass das menschliche Gehirn zwar nur zwei Prozent der Körpermasse ausmacht, jedoch bis zu 20 Prozent der Energie verbraucht. Die meiste Energie wird für bewusste Denkprozesse verwendet, ein Teil wird jedoch für unbewusste Aktivitäten verbraucht. Das ist auch die Ursache, weshalb die Marktteilnehmer bestimmte Entscheidungen mit Hilfe von abkürzenden Heuristiken bewältigen. Diese mögen zwar energieeffizient sein, führen allerdings, wie in den Kapiteln 7 bis 9 verdeutlicht wurde, zu systematischen Verzerrungen im Informations- und Entscheidungsprozess an Finanzmärkten. Das Belohnungssystem Das Belohnungssystem verstärkt, moduliert, modifiziert oder hemmt unbewusst Gedankenprozesse. Es wird aktiviert, sobald der Mensch eine potenzielle Belohnung wahrnimmt. Dieses System führt vom Mittelhirn durch das limbische System zum Cortex und koordiniert die Beurteilung von und Ausrichtung an potenziellen Belohnungen. Die Ausschüttung von Dopamin bewirkt, dass der Mensch die potenzielle Belohnung erreichen möchte und ermöglicht so, dass er sich bei Sicherung der Belohnung freut. Neurologische Untersuchungen (Knutson et. al., 2001) wiesen neuronale Aktivitäten in drei Gehirnbereichen nach, die eine Aktivität anzeigen, sobald die Probanden eine Erwartung auf Gewinnen ausbildeten. Diese Regionen beinhalteten den Thalamus, den Nucleus caudatus und den Nucleus accumbens. Der Nucleus accumbens (NAcc) zeigte ausschließlich Aktivität bei steigenden Gewinnen, Thalamus und Nucleus caudatus waren aber auch in Antizipation eines Verlustes aktiv (vgl. Knutson et al., 2001, S. 3 f.). Neben den drei erwähnten Gehirnbereichen, wurden zudem Bereiche des präfrontalen Großhirns (PFC) identifiziert, die eine erhöhte Aktivität nach der Realisierung eines Gewinnes aufwiesen. Diese Bereiche beurteilen demnach, ob die Erwartung an einem Gewinn erfüllt wurde (vgl. Knutson/ Fong et al., 2001, S. 3685). <?page no="356"?> 13.2 Entstehung der Neuro-Finance/ Neuroökonomie 355 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Das Belohnungssystem liefert außerdem eine Erklärung, weshalb die Marktteilnehmer bei Finanzentscheidungen in relativen statt in absoluten Ergebnissen denken. Dieser Mechanismus wird z.B. in der Preissetzung für Konsumgüter beachtet. So verwundert es nicht, dass Preise sehr oft mit einer unrunden Zahl aufhören. Diese werden als niedriger empfunden als die nächsthöhere runde Zahl. Das Belohnungssystem nimmt auf diese Weise bei einer Differenz von lediglich einem Cent (im Falle von 9,99 EUR und 10,00 EUR) direkt eine Differenz von 1 EUR war, während diese in Wirklichkeit nur 0,01 EUR beträgt. Das Belohnungssystem weist eine weitere Eigenschaft auf, die als Fehlerquelle in Geldentscheidungen interpretiert werden kann. Es erliegt der Geldillusion. Es rechnet in nominalen Werten eines Geldbetrages und nicht in den realen. Das Verlustvermeidungssystem Das Verlustvermeidungssystem basiert auf vier elementaren Reaktionsmustern: Erwartung, Wut, Furcht und Panik. Mit Erwartung verbindet das Gehirn die Neigung zu Vorhersagen; dabei handelt es sich z.B. um die treibende Kraft der Vorfreude. Wut als zweites Reaktionsmuster wird durch Frustrationen aktiviert, also durch die Unmöglichkeit, ein zielgerichtetes Verhalten ausführen zu können. Zu den am besten erforschten Reaktionsmustern gehören Furcht und Angst. Deren Grundfunktion ist die Verbesserung der Reaktionsgeschwindigkeit sowie die Erhöhung der Aufmerksamkeit auch für körperliche Reaktionen. Angst hat die Eigenschaft, die Leistungsfähigkeit des Gehirns zu bündeln, da sich der Marktteilnehmer in dieser Situation nur noch auf die Verarbeitung der angstbesetzten Situation konzentriert und alles andere zurückstellt. Angst führt folglich an Finanzmärkten zu begrenzt rationalen Handlungen und erhöht das Risiko für Panikreaktionen, die dann den gesamten Markt ergreifen können. In anderen Lebensbereichen kann Angst dagegen überlebenswichtig sein. Der Hauptbestandteil des Verlustvermeidungssystems sind die beiden Amygdala. Serotonin dient als Aktivierungsmittel des Systems. Die Verlustaversion des Marktteilnehmers wird in diesem System durch die Aktivierung der Amygdala hervorgerufen. Neben der Amygdala lassen neurowissenschaftliche Untersuchungen zudem vermuten, dass die erhöhte Aktivität im Bereich der Insula, eingesenkter Teil der Großhirnrinde, Anhaltspunkte für Verlustaversion geben kann. Paulus et al. zeigen in einer Studie einen Zusammenhang zwischen Insula-Aktivität und dem Grad der Risikobereitschaft, den ein Marktteilnehmer zeigt. Wenn eine risikoreiche Alternative gewählt wurde, war die Aktivität im Vergleich zu einer sicheren Alternative deutlich höher. Die Aktivität in der Insula war außerdem davon abhängig, wie stark der Proband die potenziellen negativen Auswirkungen vermeiden wollte (vgl. Paulus/ Rogalsky et al., 2003, S. 1444 f.). Das Gedächtnissystem Das Gedächtnissystem eines Menschen entwickelt sich im Kindesalter und hat auf die künftige Lebensweise des Marktteilnehmers eine entscheidende Auswirkung. So wird die Einstellung zum Geld im Elternhaus geprägt, mit der Folge, dass der Marktteilnehmer <?page no="357"?> 356 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance tendenziell entsprechend der im Elternhaus beobachteten Maxime handeln wird. So verhält sich ein Marktteilnehmer, der zum Sparen erzogen wurde, später oft als ein defensiver Investor, der darauf bedacht ist, seine Ersparnisse in risikoarme Anlagen zu investieren. Das Entscheidungssystem Das Entscheidungssystem nimmt annähernd die Hälfte des menschlichen Gehirns in Anspruch. In diesem Bereich werden alle Informationen für eine Entscheidungsfindung zusammengetragen. Das Entscheidungssystem übernimmt im Grunde die Endkontrolle darüber, welche Absichten der Marktteilnehmer hat und wie er sich verhält. Das Zusammenspiel aller vier Gehirnsysteme ist für das Treffen einer Entscheidung von eminenter Bedeutung. Dabei wird sichtbar, dass der Marktteilnehmer zu begrenzt rationalen Entscheidungen neigt, da seine Entscheidungen nicht nur auf dem reinen Rationalkalkül, sondern auch auf Emotionen und Erfahrungen basieren. Zusammenfassend können die Erkenntnisse der Gehirnforschung, nämlich der Nutzung unterschiedlicher Gehirnareale und unterschiedlicher Botenstoffe, womöglich eine neurologische Erklärung für die unterschiedlichen Verhaltensweisen der Marktteilnehmer bieten, die im Rahmen der Behavioral Finance sichtbar wurden. Die Erkenntnisse insbesondere über das Belohnungs- und Verlustvermeidungssystem zeigen, dass Menschen sowohl unterschiedliche Vorgehensweisen als auch verschiedene neuronale Mechanismen benutzen, wenn sie Gewinne beziehungsweise Verluste erwarten. Auch laut Prospect Theory zeigen die Marktteilnehmer unterschiedliche Verhaltensweisen, abhängig davon, ob sie mit einem möglichen Gewinn oder Verlust konfrontiert sind (vgl. Kahneman/ Tversky, 1979, S. 278). Die Tatsache, dass das menschliche Gehirn zwei verschiedene Bereiche des Gehirns nutzt, um Gewinne und Verluste zu verarbeiten, erklärt möglicherweise das differenzierte Risikoverhalten, das im Rahmen der Behavioral Finance herausgearbeitet wird. Die Neuroökonomie zeigt, dass der Entscheidungsprozess maßgeblich davon beeinflusst wird, ob der Entscheidungsträger durch das „Erreichen-wollen“ einer Belohnung oder das „Vermeiden-wollen“ eines Verlusts motiviert wird. Demnach ist zu vermuten, dass die erhöhte Aktivität des Nucleus accumbens im Zuge eintretender Gewinne, und die erhöhte Aktivität der Insula anterior im Zuge eintretender Verluste die Verschiebung der Risikopräferenz der Marktteilnehmer erklären kann. Der Marktteilnehmer verhält sich entsprechend der Erkenntnisse aus der Prospect Theory im Gewinnbereich der Wertfunktion risikoscheu und im Verlustbereich der Wertfunktion dagegen risikofreudig. Das Phänomen der Verlustaversion, dass in der Prospect Theory durch den steilen Kurvenverlauf im Verlustbereich der Wertfunktion dargestellt wird, beruht demnach möglicherweise ebenfalls auf einer erhöhten Aktivität der Insula anterior. In der Behavioral Finance wurde auch deutlich, dass die Marktteilnehmer durch den Darstellungseffekt ihr Risikoverhalten gegenüber einem Anlageprodukt veränderten. Obwohl es keine eindeutigen neurowissenschaftlichen Ergebnisse zum Darstellungseffekt gibt, lassen sich aus bisherigen Erkenntnissen Vermutungen über die neurologischen Ursachen ableiten. <?page no="358"?> 13.2 Entstehung der Neuro-Finance/ Neuroökonomie 357 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance So haben Untersuchungen von Kuhnen und Knutson (2011) gezeigt, dass sich bestimmte Gehirnareale verändern, sobald den Probanden Bilder gezeigt werden, die einen starken Einfluss auf ihren emotionalen Zustand haben. Sie konnten durch ihre Experimente eine direkte Verknüpfung zwischen bestimmten Gefühlen und dem daraus folgendem Risikoverhalten herstellen. Dabei wurde der emotionale Zustand der Probanden durch das Zeigen von Bildern direkt von außen beeinflusst. Die Bilder, die entweder in hohem Maße stimulierend und positiv (z.B. erotische Szenen), in hohem Maße stimulierend und negativ (z.B. verdorbene Lebensmittel) bzw. neutral (z.B. ein Buch) waren, wurden jeweils kurz vor der Finanzentscheidung gezeigt. Dem Entscheidungsprozess gingen demnach Reize voraus, die in keinem Zusammenhang zur tatsächlichen Finanzentscheidung standen. Aus rationalen Gesichtspunkten sollte die Entscheidung, ob ein Marktteilnehmer sich für ein risikoreiches Investment (Aktie) oder für ein risikoarmes Investment (Staatsanleihe) entscheidet, unabhängig von Informationen oder Reizen sein, die nicht das Investment betreffen. Bei den Versuchen konnte jedoch gezeigt werden, dass Objekte, die mit positiven und stimulierenden Emotionen wie „Erregung“ assoziiert werden, zu einer risikofreudigeren Entscheidung führen. Dagegen konnte die Risikobereitschaft durch negative und stimulierende Emotionen wie „Unbehagen“ reduziert werden (vgl. Kuhnen/ Knutson, B., 2011, S. 623). Die Veränderung der Risikoeinstellung wurde zudem durch die Aktivität bestimmter Hirnregionen untermauert. Wurden den Probanden im positiven Sinne stimulierende Bilder gezeigt, reagierte der Nucleus accumbens, mit der Folge, dass die Probanden im Vorfeld der Investition risikofreudig wurden. Wurden stattdessen im negativen Sinne Bilder gezeigt, so reagierte die Insula anterior, und die Probanden wollten das Investment nicht eingehen. Die Reaktion der beiden Gehirnareale auf äußere Einflüsse bietet damit eine neurologische Grundlage für beobachtete Verhaltensmuster aus der Behavioral Finance. Grundsätzlich lässt sich zeigen, dass bestimmte Gehirnstrukturen auf die Risikopräferenz eines Entscheidungsträgers einwirken. Ein Entscheidungsablauf auf neuronaler Ebene beinhaltet zwei wechselseitige Prozesse, welche die Informationen sowohl auf emotionaler als auch auf kognitiver Ebene evaluieren. Dieser Austauschmechanismus bietet eine mögliche Erklärung für den Ablauf des neuronalen Entscheidungsprozesses und auch einen möglichen Ansatz zur Erklärung der Anwendung von vereinfachenden Heuristiken. Konkrete Beispiele für Erklärungsansätze auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse neuronaler Prozesses haben die Wissenschaftler Arman Eshragi und Adam Moore von der University of Edinburgh 2016 veröffentlicht. So scheint der Fokus auf vereinzelte Wertpapiere im Gegensatz zu einem mit Blick auf den Diversifikationseffekt erstelltem Portfolio aus einer Vielzahl von Wertpapieren zu einer höhren Rendite zu führen. Die Analyse einer Vielzahl von Wertpapieren kann das menschliche Gehirn schnell überfordern und im Zuge der sich erhöhenden Auswahlmöglichkeiten zu stark verzerrten Entscheidungen führen. Zudem zeigen Untersuchungen im Bereich Neuromarketing, dass es einen emotionalen Einfluss auf unsere Entscheidungsfindung durch bekannte Marken (beispielsweise Apple oder Tesla) geben kann, da diese Marken unterschiedliche Gehirnareale ansrechen. Die Wissenschaftler führen an, dass beinflussende Emotionen und unbewusste <?page no="359"?> 358 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Neigungen durch eine veränderte Bezeichnung der Wertpapaiere als A, B oder C reduziert werden können. In der Praxis wird die Veränderung der Bezeichnung sich jedoch als schwierig erweisen, da Marktdatensysteme die Wertpapiere ansonsten nicht erkennen können. Vielmehr können die Nutzung sowie die Gewichtung unterschiedlicher Selektionskriterien den Einfluss von Emotionen bei der Auswahl von Einzeltiteln gleichermassen reduzieren. fMRT Scans haben im Weiteren deutlich aufgezeigt, dass potenzielle Verluste weitaus mehr Gehirnregionen aktivieren als potenzielle Gewinne. Um die schädlichen Auswirkungen der Verlustaversion (s. Kapitel 9.2.1 im Rahmen des Dispositionseffektes) zu vermeiden, befürworten einige Investmentmanager (darunter AthenaInvests CIO Dr. Tom Howard) die Einstandskurse für Wertpapiere zu „vergessen“ (siehe Podcast von Mai 2014). Hierduch vermeidet der Anleger das Übergewichten kurzfristiger Volatilitäten und die darauf abgeleiteten renditeschädlichen Handelsaktivitäten. 1133..33 EEnnttsstteehhuunngg ddeerr EEmmo ottiioonnaal l FFiinnaan ncce e Das letzte Unterkapitel dieses vierten Abschnittes hat zum Ziel, die Verhaltensweise der Marktteilnehmer aus einem neuen, der Behavioral Finance verwandten, Blickwinkel zu erklären. Wie im ersten Abschnitt (Kap. 1 und 2) sichtbar wurde, weist die neoklassische Kapitalmarkttheorie erhebliche Schwächen in der Erfassung der Verhaltensweisen der Marktteilnehmer auf. Die Entwicklung der Behavioral Finance, die genau diese Schwächen durch die Interpretation des beobachtbaren Verhaltens der Marktteilnehmer auszugleichen versucht, kommt bei der Interpretation begrenzt rationaler Verhaltensweisen einen beachtlichen Schritt weiter. Hierbei spielt die Entscheidungsfindung unter Unsicherheit die zentrale Rolle und wird durch die Erforschung zumeist kognitiver Begrenzungen analysiert. In einem nächsten Schritt wurden im Rahmen der Neuroökonomie die Ursachen für begrenzt rationale Verhaltensweisen erforscht. Die neuronal ablaufenden Prozesse sowie die beteiligten Gehirnareale bieten zusätzliche Ansatzpunkte für die Erklärung der zum Teil risiko-/ renditeschädlichen Verhaltensweisen der Marktteilnehmer. Bei der Erforschung und Begründung der begrenzt rationalen Verhaltensweisen wurden dem Wirken unbewusst ablaufender Prozesse, wie den Emotionen, im Rahmen der Erforschung von Heuristiken bereits entsprechende Bedeutung beigemessen. Diese Aufmerksamkeit blieb dem Wirken von so allgemeinen Emotionen wie Phantasien und Ängsten jedoch bislang versagt. Erste Anzeichen für das Erkennen der Bedeutung emotional getriebener Entscheidungen wurden durch die Arbeiten von Keynes (1936) im Rahmen der Beschreibung der Animal Spirits sichtbar. Darüber hinaus wurden Forderungen nach einem stärkeren Einbezug von Psychologie und Sozialwissenschaften durch Shiller und Akerlof (2009) laut. Die beiden Wissenschaftler identifizierten im Rahmen der Erforschung von Finanzkrisen Schlüsselattribute (Glauben, Zuversicht und Vertrauen), welche die Entscheidungsfindung der Marktteilnehmer entscheidend beeinflussen und die Animal Spirits auf den Kapitalmärkten aufleben lassen (vgl. Tuckett, 2011, S. 14 f.). Besondere Aufmerksamkeit für die Interpretation von Emotionen wird von der neuen Forschungsrichtung, der Emotional Finance aufgebracht. Diese Forschungsrichtung, geprägt von den Forschungsergebnissen der Wissenschaftler Richard Taffler und David Tuckett, basiert auf den mentalen Prozessen, die ursprünglich von Sigmund Freud <?page no="360"?> 13.3 Entstehung der Emotional Finance 359 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance beschrieben wurden. Zentraler Ansatzpunkt ist die Wirkung unbewusst ablaufender Prozesse auf die Entscheidungsfindung der Marktteilnehmer. Emotional Finance beschreibt die Folgen unbewusst und höchst komplex ablaufender Prozesse, die den Marktteilnehmer zu emotional getriebenen Verhaltensweisen führen und versucht so unbewusst ablaufende Prozesse ins Bewusstsein zu rücken (vgl. Taffler/ Tuckett, 2010, S. 95 f.). Die Bedeutung des Emotional Finance kann insbesondere an der Interaktion der Marktteilnehmer festgemacht werden. Diese Interaktion resultiert in bestimmten emotionalen Reaktionen wie Unsicherheit, Besorgnis und Stress. Die Bewertung von Wertpapieren basiert u.a. wie bereits aufgezeigt wurde, auf der Erwartungsbildung als Massenphänomen. Die Unsicherheit über die Bewegung durch die Anlegermassen führt zu emotionalen Reaktionen, wie die der Besorgnis, woraus sich schließlich Stress entwickelt. Emoti- Herdenverhaltens sichtbar, sondern auch während der Informationsaufnahme und der anschließenden Bewertung der Informationen. Aufgrund der hohen Komplexität, die mit der Bewertung von Wertpapieren verbunden ist, werden nach Auffassung von Taffler und Tucket die Marktteilnehmer dazu gedrängt, auf ihre Intuition zurückzugreifen. Durch die wahrgenommene Unge- Stress mit der Folge, dass begrenzt rationale Verhaltensweisen sichtbar werden (vgl. Abb. 82). Abb. 82: Übersicht emotionale Reaktionen im Investmentprozess Die Unsicherheit, die mit einer Investition verbunden ist, verdeutlicht in den Augen von Tuckett die zentrale Bedeutung der Emotional Finance: „The central implication of Emotional Finance is that, if the future is taken as inherently uncertain, conventional equilibrium modeling isn’t a useful way to start and, especially as far as understanding instability, isn’t helpful.“ (Tuckett, 2011, S. 184). So wird deutlich, dass auch die Erforschung der menschlichen Emotionen und der daraus gewonnenen Erkenntnisse nicht wieder als Paradigmenwechsel gewertet werden soll, neoklassischen Kapitalmarkttheorie. Die Besorgnis des Marktteilnehmers über die künftige Entwicklung seiner Investitionen kann zudem als Inbegriff für emotionale Reaktionen angesehen werden (vgl. Taffler/ Tuckett, 2010, S. 100 f.). 1133..33..11 EEmmootti ioonne enn aallss GGrruunnddllaaggee ffüürr IInnvveesst tiitti ioonnsse ennt tsscchhe eiidduunng geenn Das Zusammenspiel von Emotionen in der menschlichen Psyche wurde u.a. von Sigmund Freud systematisch erforscht. Seiner Ansicht nach können gegensätzliche Gedanken zeitweilig im Unterbewussten verharren, bis diese durch Emotionen wieder an die Oberfläche der menschlichen Psyche gelangen. Ein Kernaspekt seiner Forschungsarbeit stellt die Interaktion zwischen Gedanken und Gefühlen dar: Gedanken Investition Unsicherheit Besorgnis Stress <?page no="361"?> 360 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance führen zu Gefühlen und diese Gefühle führen zu Gedanken. Die Gefühle, die durch die Gedanken hervorgerufen werden, verkörpern erfreuliche (aufregende) und schmerzhafte (besorgniserregende) Gefühle. Die Wahrnehmung von erfreulichen oder besorgniserregenden Gefühlen ist nach Freud (1908) ein konstanter Entwicklungsprozess des menschlichen Geistes, bei dem die Tendenz, besorgniserregende Gefühle zu unterdrücken, permanent besteht: „But whosover understands the human mind knows that hardly anything is harder for a man than to give up a pleasure which he has once experienced. Actually we can never give anything up; we only exchange one thing for another.“ (Freud, 1908, zit. nach Taffler/ Tuckett, 2010, S. 96) Diese ambivalenten Gefühle spielen aus Sicht der Emotional Finance im Investitionsverhalten der Marktteilnehmer eine bedeutende Rolle. Investoren sind sich der Gefahr, eine Aktie als ihre Lieblingsaktie anzusehen und folglich zu lange zu behalten, bewusst, verdrängen jedoch den Schmerz, die Aktie unter Umständen schnell verkaufen zu müssen - und verkaufen diese unter Umständen aufgrund der Verlustaversion nicht bzw. zu spät. Schmerzhafte oder unliebsame Gedanken werden ins Unterbewusstsein verdrängt und sind daher besonders gefährlich, da der Marktteilnehmer diese Gedanken, die erheblich Investitionsentscheidungen beeinflussen, nicht aktiv beachtet. Unbeachtete Emotionen gelten in der Psychoanalyse jedoch als grundlegender Bestandteil unbewusst ablaufender mentaler Prozesse und sind damit auch für die Entscheidungsfindung der Menschen verantwortlich. Entscheidungstreibende Faktoren aus Sicht der Emotional Finance Abb. 83: Überblick entscheidungstreibende Faktoren aus Sicht der Emotional Finance Konzeption aus kindheitlicher Erwartungsbildung Wunsch des Marktteilnehmers mit einer Investition ungeahnte Renditen zu erwirtschaften Verlust der objektiven Sicht über aktuelle Situation; Aktivierung des paranoid-schizophrenem Geisteszustandes Informationsverarbeitung auf Basis des depressiven (D) oder paranoid-schizophrenen (PS) Geisteszustandes: D: Beachtung pos./ neg. Informationen PS: Trennung pos./ neg. Gefühle und Projektion auf Außenstehende Übergewichtung von Informationen, die in der Gruppe als richtig angesehen werden Treiber für Herdenverhalten Unbewusst empfundenes Sicherheitsgefühl gegen Sorgen und Ängste Ansicht: „This time is different“ <?page no="362"?> 13.3 Entstehung der Emotional Finance 361 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Im Zuge der Emotional-Finance-Forschung wurden drei Faktoren ausgemacht, die maßgeblich am unterbewussten Entscheidungsverhalten der Marktteilnehmer beteiligt sind (vgl. Taffler/ Tuckett, 2010, S. 99 f.) Hierbei stehen der Geisteszustand der Marktteilnehmer, das Gruppendenken als Vorstufe für das Gruppenverhalten und die Suche nach phantastischen Objekten im Vordergrund der Betrachtung (vgl. Abb. 83). Geisteszustände Entscheidungen, und damit auch Investitionsentscheidungen, werden durch die Aktivität von Geisteszuständen verursacht. Nach Klein (1935) können zwei Geisteszustände unterschieden werden - der depressive und der paranoid-schizophrene Geisteszustand. Im depressiven Geisteszustand sehen die Menschen sich und ihre Umgebung mehr oder weniger wie sie tatsächlich ist. In der paranoid-schizophrenen dagegen werden positive und negative Gefühle voneinander getrennt betrachtet. Hierbei besteht die schizophrene Denkweise in der strikten Trennung positiver oder negativer Erfahrungen mit der gleichzeitigen Projektion dieser Erfahrungen auf Personen, die entweder idealisiert oder gefürchtet bzw. gehasst werden. Die paranoide Denkweise ergibt sich aus dem Gefühl, von den Personen, die nun gefürchtet bzw. gehasst werden, verfolgt zu werden. Tuckett und Taffler beschreiben das Zusammenspiel dieser ambivalenten Gedanken wie folgt: „… a depressive state involves giving up the feeling that one is all-powerful and all-knowing, … feeling a certain amount of regret about the consequences of past actions, and a potential anticipatory feeling of depressive anxiety or guilt when contemplating potentially repeating past actions which led to failure or suffering. In a paranoid-schizoid state all such feelings are evaded by evacuating them from awareness…“ (Tuckett/ Taffler, 2010, S. 98) Wendet man die Forschungsergebnisse der Emotional Finance auf das Investmentverhalten der Marktteilnehmer an, kristallisieren sich zwei Strategien heraus, wie mit Ungewissheit und Stress umgegangen werden kann. Grundsätzlich begibt sich der Marktteilnehmer mit jeder Investition in eine emotionale Bindung mit ambivalentem Charakter - bewusst oder unbewusst. Neigt der Marktteilnehmer zur Informationsverarbeitung im Rahmen des depressiven Geisteszustandes, so wird er sowohl die Chancen als auch die Risiken erkennen und sich dementsprechend über die Unsicherheit bzgl. der Rentabilität des Investments bewusst sein. Es ist aber jedoch auch möglich, dass sich der Marktteilnehmer während der Informationsverarbeitung im paranoid-schizophrenem Zustand befindet und folglich negative Informationen von den positiven getrennt betrachtet. In diesem Fall idealisiert der Marktteilnehmer unbewusst die Investition auf Basis der ausschließlich positiven Informationen. Entwickelt sich die Investition entgegen der Erwartungen, werden die verdrängten negativen Assoziationen hervorgerufen und der Marktteilnehmer reagiert mit Stress bis hin zu Panik. “Actually the pressure can be horrendous, a trade goes badly wrong, you are staring into black hole, frozen, knowing you should get out but just hoping the market will turn. I rushed off the desk and threw up in the toilet - I was terrified”. (ein anonymer Wertpapierhändler, zitiert nach Fenton-O’Creevy, 2015) <?page no="363"?> 362 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Mark Fenton-O’Creevy, Professor für Organisational Beheaviour an der Open University Business School, hat zahlreiche Studien und Interviews zur Erforschung des Verhaltens von Tradern (Wertpapierhändler) durchgeführt. In einem Interview äußerte sich ein junger Trader wie im Zitat oben über die Emotionen, die ihn ergriffen, als ein Trade entgegen seinen Erwartungen entwickelte. Mit Blick auf die geschilderten Reaktionen könnte die bewusste Förderung der Kenntnisse über die emotionalen Reaktionen während eines Investments, die risiko-/ renditeschä dli chen F ol g en beg re nz en . M ar ktteiln eh mer , welch e die U r sach e für die emo tion alen Vorgänge kennen, könnten mit der Unsicherheit und dem daraus resultierenden Stress besser umgehen. Dies stände im Widerspruch zum Ansatz „Anpassen“ aus Kapitel 10. Gruppendenken Die psychoanalytische Forschung identifizierte nicht nur ambivalente Denkweisen des Marktteilnehmers, sondern auch die Art des Zusammenwirkens der Marktteilnehmer. Bion (1952) unterscheidet hierbei zwischen zwei Arten von Gruppen - die Arbeitsgruppen (work groups) und die Gruppen basierend auf elementaren Annahmen (basic assumptions groups). Während die Mitglieder einer Arbeitsgruppe einen individuellen Beitrag zur Zielerfüllung leisten und aktiv untereinander kooperieren, erbringen die Mitglieder der basic assumption groups keine individuelle Denkleistung, sondern beschränken sich auf das kollektive Gruppendenken (Janis, 1982). Hierbei fördert das Gruppendenken das unbewusste Sicherheitsgefühl, welches von der Gruppe durch die Verarbeitung von Informationen an die Mitglieder der basic assumptions groups ausgestrahlt wird. Die Verarbeitung von Informationen gestaltet sich bei beiden Gruppen unterschiedlich. In der Arbeitsgruppe sind die Mitglieder darauf bedacht, positive und negative Informationen zu analysieren und auf diese Weise eine möglichst objektive Einschätzung vom jeweiligen Sachverhalt zu erhalten. In der Gruppe basierend auf elementaren Annahmen werden dagegen die angesammelten Informationen von den Mitgliedern nicht für eine aktive Denkweise genutzt, sondern vielmehr zur Verdrängung von Informationen, welche die Mitglieder z.T. auch nicht wissen möchten. Im Zuge dieser selektiven Informationsverarbeitung wechselt der Geisteszustand der Mitglieder der basic assumptions groups in den paranoid-schizophrenen Zustand. Informationen werden danach ausgewertet, ob sie für die Entwicklung positiver, aufregender Gefühle genutzt werden können. Alle Informationen, die diesem Zweck nicht dienlich sind, werden von der bewussten Wahrnehmung abgetrennt. Diese Verhaltensweise führt zum Gruppenverhalten mit den entsprechenden Makrophänomenen wie in Kapitel 5 dargestellt. Diese Art des getrennten Geisteszustandes ist nicht nur im Rahmen des Herdenverhaltens erkennbar, sondern auch bei der Bewertung der Renditechancen neuer Investitionsmöglichkeiten. Die Marktteilnehmer beginnen unterbewusst Wunschvorstellungen zu entwickeln, wobei die Risiken von der Informationsmenge getrennt und oft nicht beachtet werden. Diese Denkweise führt zur Entstehung von phantastischen Objekten. <?page no="364"?> 13.3 Entstehung der Emotional Finance 363 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Phantastische Objekte Investitionen in Wertpapiere sind unsicher und bergen für die Marktteilnehmer großes Aufregungspotential. Emotional Finance greift die Aufregung der Marktteilnehmer auf und nutzt diese für die Erklärung begrenzt rationaler Verhaltensweisen. Hierbei wird das Konzept der „Phantastic Objects“ (Tuckett & Taffler, 2008) eingeführt. Das Konzept steht für den unbewussten Wunsch der Marktteilnehmer, eine unterbewertete Aktie bzw. eine neue Investitionsart (z.B. New Economy) zu finden, mit der sie hoffen, ungeahnte Renditen erreichen zu können. Das Konzept der Phantastic Objects gründet auf zwei Ideen aus der psychoanalytischen Forschung. Der Term Objects steht für die mentale Repräsentation eines Symbols in unserer Vorstellung. Das Objekt kann dabei jegliche Form annehmen, es ist nicht genau definiert. Der Term Phantastic steht im Weiteren für unbewusste Wünsche und Vorstellungen, die sich in der frühkindlichen Entwicklung gebildet haben. Folglich ist ein Phantastic Object die mentale Repräsentation von etwas (oder jemandem bzw. einer Idee), was die innersten Wünsche eines Marktteilnehmers, eine bestimmte Sache zu einer bestimmten Zeit zu haben, erfüllt. Als Beispiel kann hier die Dotcom-Blase genannt werden. Die Aktien am Neuen Markt verwandelten sich in der unbewussten Phantasie der Marktteilnehmer von gewöhnlichen Wertpapieren, in höchst aufregende. Alte Bewertungsansätze wurden als unzureichend und nicht weiter relevant bei Seite geschoben. Die Marktteilnehmer ließen ihre subjektive Wahrnehmung von den neuen Bewertungsansätzen prägen und glitten somit von der Realität in die Phantasie ab. Die neue Gedankenwelt der Marktteilnehmer hatte auch nachhaltige Auswirkung auf das Portfoliomanagement vieler Asset-Management-Häuser. Anleger zogen ihre Liquidität ab, wenn die Zielfonds nicht in die als aussichtreich geltenden Branchen investiert hatten. Portfoliomanager änderten schlagartig ihren Investitionsansatz, um ihre Anstellung nicht zu gefährden. Die Berichterstattung einiger Analysten über die bewerteten Wertpapiere erweckte den Eindruck, dass der Analyst eine seiner Lieblingsaktien anpreist und vollkommen von deren positiven Aussichten überzeugt ist (Fogarty & Rogers, 2005). Analysten wie Abby Cohen oder Henry Blodget wurden zur Zeit der Dotcom-Blase zu Internetstars und übten mit ihren Einschätzungen großen Einfluss auf die Aktienmärkte aus. Im Nachhinein können aus Sicht der Emotional Finance alle Spekulationsblasen, angefangen von der Tulpenmanie und der South Sea Bubble bis hin zur Subprime Blase, als phantastische Objekte bezeichnet werden. Auf diese Weise wurden auch die Collaterized Debt Obligations (CDO) und Credit Default Swaps (CDS) zu phantastischen Objekten erhoben. Folglich können alle Investmentprodukte oder Investitionsrichtungen (u.a. Biotechnologie, erneuerbare Energien etc.) als Phantastic Objects erscheinen, wenn im Zuge der medialen Berichterstattung die Marktteilnehmer das Gefühl bekommen, dass sie an einer außergewöhnlichen Investition teilnehmen können. Werden die Erwartungen an eine Investition nicht erfüllt bzw. platzt die Spekulationsblase, wechseln die Ansichten der Marktteilnehmer sobald die Wertpapierkurse signifikant an Wert einbüßen. Ehemals als Phantastic Objects angesehene Wertpapier werden nun verachtet. Im Zuge ihrer paranoid-schizophrenen Denkweise machen die Marktteilnehmer andere für die herben Verluste verantwortlich. <?page no="365"?> 364 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 1133..33..22 IInntteer rp prreet taat ti ioonn vvoonn MMaar rkkttb beew weeg guunnggeen n aau uss SSiicchhtt d deer r E Emmootti io onnaal l FFi innaannccee Emotional Finance hat erst in jüngster Vergangenheit, etwa seit 2009 zu beachtenswerten Forschungsergebnissen geführt, denen dann auch infolge der Subprime-Krise etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Aus diesem Grund ist die Hoffnung auf weit reichende praktische Anwendungsmöglichkeiten noch verfrüht. Sie ist jedoch bereits im Stande, bestimme Marktbewegungen zu erklären und dadurch die Marktteilnehmer für die unbewusst ablaufenden Phänomene zu sensibilisieren. Risikobewertung aus Sicht der Emotional Finance Die Interpretation von Risiko kann aus der Perspektive der Emotional Finance und der traditionellen Ökonomie nicht unterschiedlicher sein. In der neoklassischen Kapitalmarkttheorie kann eine Vielzahl an Modellen angewendet werden, um das Risiko einer CAPM zu einer der bekanntesten und am häufigsten verwendeten Berechnungsmethoden, um das Risiko einer Anlage zu bewerten. Weitere Möglichkeiten (in Summe bis zu 63 verschiedene Ansätze nach Ricciardi (2008)) ergeben sich durch die Betrachtung der Standardabweichung der Renditen, der Beta-Faktoren Value at Risk (VaR). Alle verwendeten Methoden haben das gemeinsame Ziel, zwischen Risiken und Renditen abzuwägen und so für oder gegen eine Investition entscheiden zu können. Das Risiko wird entsprechend der angewendeten Methoden quantifiziert. Die Unsicherheit über die tatsächlichen Risiken und die erwarteten Renditen können die zahlreichen Modelle und Formeln jedoch nicht erfassen. Diese Unsicherheit, die oft weder bewertet noch richtig identifiziert werden kann, ist für die teilweise belastenden Sorgen der Marktteilnehmer verantwortlich und führt in Einzelsituationen zu panikartigen Verhaltensänderungen. Emotional Finance ist in diesem Sinne in der Lage, den Marktteilnehmern die wirkliche Tragweite von Risiko zu verdeutlichen. Aus der Sicht der Emotional Finance handelt es sich bei der Quantifizierung von Risiko um den unbewusst angestrebten Schutz gegen Unsicherheit. Statt die Unvorhersagbarkeit der Rendite- und Risikoentwicklung von Wertpapieren bewusst zu verstehen, versuchen die Marktteilnehmer durch die Messung von Risiken die im Unterbewusstsein verankerte Panik über die Unberechenbarkeit der Zukunft zu beherrschen (vgl. Taffler/ Tuckett, 2010, S. 101). Negative Nachrichten aus Sicht der Emotional Finance Gewinnankündigungsdrift, erforscht durch Bernhard (1993), zeigte bereits, dass die Marktteilnehmer Informationen erst mit Verspätung in die Bewertung einfließen lassen. Negative Informationen scheinen die Marktteilnehmer noch langsamer in die Wertpapiere einfließen zu lassen, als dies mit positiven Informationen geschieht. So haben Forschungsarbeiten ergeben, dass Aktien mit einer negativen Analystenprognose bis zu ein Jahr nach Veröffentlichung der Prognose noch Wertverluste erleiden, während Aktien aufgrund positiver Nachrichten nur eine kurze Zeit Kurssteigerungen erleben (Womack 1996, Mokaleli-Mokoteli/ Taffler/ Agarwal 2009). Dieses Phänomen war auch im Zuge der Bonitätsherabstufungen durch die Ratingagenturen während der <?page no="366"?> 13.3 Entstehung der Emotional Finance 365 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Finanz- und Verschuldungskrise ab 2010 beobachtbar. Die Herabstufung einzelner Länder hat sich durch signifikant fallende Bondpreise der betroffenen Anleihen in den Folgemonaten bemerkbar gemacht. Der nach dem Schuldenschnitt Griechenlands im März 2012 erfolgten Höherstufung der Staatsanleihen des Landes wurde dagegen nur kurz Beachtung geschenkt. Diese nachlaufende Bewertungsanpassung kann auf der einen Seite mit den Grenzen der Arbitrage zusammenhängen (Lesmond, Schill und Zhou; 2004). Demnach kann die Arbitrage dadurch begrenzt werden, dass die Arbitrageure schlichtweg kein Interesse an der Rückführung einer möglichen Fehlbewertung haben. Vielmehr haben sie den Anreiz, die Fehlbewertung durch ihre Handlung aufrechtzuerhalten bzw. auszuweiten statt diese durch ihr Wirken zu begrenzen. Aus Sicht der Emotional Finance ergibt sich eine andere Erklärung für die nachlaufende Bewertungsanpassung. Demnach verarbeitet der Marktteilnehmer die Informationen im depressiven bzw. im paranoid-schizophrenen Geisteszustand. Im oben aufgeführten Fall der Bonitätsanpassung von Griechenland erfolgt die Informationsverarbeitung im paranoid-schizophrenen Geisteszustand, wobei negative Informationen von den positiven getrennt werden. Die Trennung der Informationen hat das Ziel des eigenen Schutzes vor dem Eingeständnis, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Schlechte Nachrichten werden emotional als Stress und mit Sorge betrachtet, weshalb die Marktteilnehmer diese vermeiden wollen und es dadurch länger dauern kann, bis entsprechende Nachrichten akzeptiert werden und in die Bewertung einfließen. Gute Nachrichten werden dagegen mit Freude bewertet. Das kann ein Grund sein, weshalb die Märkte dazu neigen, positive Nachrichten schneller in die Bewertung der jeweiligen Wertpapiere einfließen zu lassen als negative Nachrichten. Obwohl die Prospect Theory bereits aufgezeigt hat, dass Verluste doppelt so stark bewertet werden wie Gewinne, dürfte dieses emotionale Phänomen so stark in der Psyche verankert sein, dass es auch weiterhin zur verzögerten Einpreisung negativer Informationen führen wird, selbst wenn es von Anlegern erkannt wird (vgl. Taffler/ Tuckett, 2010, S. 102 f.). Spekulationsblasen aus Sicht der Emotional Finance In Kapitel 5 wurden neben bedeutenden Spekulationsblasen auch die fünf Phasen einer Spekulationsblase vorgestellt. Es wurde ersichtlich, dass am Höhepunkt des spekulativen Investitionsverhaltens auch die vorsichtigsten Marktteilnehmer im Rahmen der sozialen Ansteckung durch das Boom-Denken in den Bann steigender Kurse gezogen wurden. Zur besseren Verdeutlichung der nachfolgenden Ausführungen, wird die Dotcom-Spekulationsblase Anfang 2000 als Beispiel herangezogen. Der Dow Jones Internet Index, vergleichbar mit dem Nemax für den Neuen Markt in Deutschland, stieg bis zu seinem Höchststand im März 2000 innerhalb von 18 Monaten um 500 Prozent. Die Marktkapitalisierung der gelisteten Unternehmen, die überwiegend auf im Nachhinein unrealistischen Geschäftsmodellen basierten und stark defizitär waren, erreichte annähernd 1.000 Mrd. USD. Sechs Wochen nach dem Höchststand verlor der Dow-Jones-Internet-Index 50 Prozent des bis dahin erreichten Kursstandes. Bis Ende 2002 betrug der Kursverlust sagenhafte <?page no="367"?> 366 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance 92 Prozent. Die Marktteilnehmer haben im Laufe der annähernd zwei Jahre die scheinbar unbewusst verdrängten negativen Informationen akzeptiert und die Kurse der Wertpapiere ihrer wahrscheinlichen Fundamentalbewertung angeglichen. Diese emotionale Kehrtwende der Marktteilnehmer lässt sich an der Entwicklung einer Spekulationsblase nachvollziehen. So wie die Spekulationsblase nach Kindleberger/ Minsky fünf Phasen umfasst, verläuft die emotionale Gratwanderung zwischen Aufregung und Verzweiflung der Marktteilnehmer auch in fünf Phasen ab: Aufregung - Manie - getrübte Manie - Panik - Verzweiflung. Die schrittweise Abkehr von der objektiven Betrachtung der Realität beginnt, wenn Marktteilnehmer aufgrund der medialen Berichterstattung von der Möglichkeit, in ein phantastisches Objekt investieren zu können, fasziniert werden. In dieser Phase der Aufregung beginnt der Geisteszustand sich vom depressiven in den paranoid-schizophrenen Zustand zu verschieben. Plötzlich werden die Unternehmenslenker der betroffenen Unternehmen als wahre Superstars angehimmelt. Die Marktteilnehmer glauben fest daran, dass durch die Investition in die entsprechenden Aktien ihre tief liegenden unterbewussten Wunschvorstellungen erfüllt werden können. Die Marktteilnehmer waren sich sicher, dass die Unternehmen der New Economy alle bis dahin geltenden Ansichten über die Bewertung von Unternehmen von Grund auf verändern würden. Alte Bewertungsansätze hatten ausgedient. So äußert sich Mary Meeker, „Star-Analystin“ der Investmentbank Morgan Stanley 1997 euphorisch über die neuen Bewertungsansätze: „ … we believe that we have entered a new valuation zone, … (the internet) has introduced a brave new world for valuation methodologies.“ (Meeker, 1997 zit. nach Taffler/ Tuckett, 2010, S. 104) Es ist nicht verwunderlich, dass in einem Umfeld des Aufbruchs, der überschäumenden Euphorie der Realitätssinn der Marktteilnehmer durch das nun real werdende phantastische Objekt signifikant getrübt wurde. Realitätsorientierte Gedanken, die Fähigkeit sich mit der Möglichkeit eintretender Verluste und realer Risiken auseinanderzusetzen, wurden gänzlich zurückgedrängt. Marktteilnehmer gaben auf, selbstständig zu denken und die Ereignisse zu hinterfragen - sie agierten auf Basis von basic assumptions groups, mit der Folge der extremen Herdenbildung. Die zweite Phase endet damit in der Manie der Marktteilnehmer, in der jegliche negativen Informationen unbewusst verdrängt und ignoriert wurden. Die Dotcom-Blase wurde auch zum Symbol eines Generationenkampfes, bei dem junge, technologieaffine Marktteilnehmer die gefühlte Überlegenheit gegenüber älteren Marktteilnehmern mit Hang zur Old Economy (Industrieproduktion) offen zur Schau stellten. Exemplarisch ist diese Einstellung am erklärten Ziel von Josh Harris, Gründer der Web-TV-Seite Pseudo.com, im Interview mit CBS 1997 deutlich zu erkennen: „… to take you guys out of business. I’m in a race to take CBS out of business.” (Harris, 1997, zit. nach Taffler/ Tuckett, 2010, S. 104) Die dritte Phase der getrübten Manie zeigt sich im zunehmenden Schmerz, der sich aus der Notwendigkeit, unrealistische Erwartungen hinsichtlich des phantastischen Objekts aufgeben zu müssen, ergibt. Die Sorge über eintretende Verluste, insbesondere für Anleger, die als letzte in die Technologieaktien investiert hatten, nimmt verstärkt zu, sobald unbewusst ablaufende Verdrängungsmechanismen des paranoid-schizophrenen Geisteszustandes nicht mehr in der Lage waren, die objektive Realität zu verdrängen. <?page no="368"?> 13.3 Entstehung der Emotional Finance 367 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Sobald die verdrängten Ängste und Sorgen durch eintreffende und unübersehbare Informationen aus dem Unterbewusstsein befördert werden, setzte Panik ein, und die Kurse beginnen schlagartig einzustürzen. Die Dotcom-Blase platze über Nacht und das Verhältnis zum phantastischen Objekt kippte schlagartig ins Negative. Technologieaktien wurden nun verachtet, die Marktteilnehmer waren von ihrer Hilflosigkeit traumatisiert. Analysten und ehemals schillernde Unternehmenslenker fühlten sich verfolgt und wurden für die erheblichen Wertminderungen verantwortlich gemacht. In diesem schizophrenen Geisteszustand wurden die aus dem Unterbewusstsein aufgetauchten Sorgen auf andere projiziert. Die Marktteilnehmer sahen auch in diesem Moment die Schuld nicht bei sich. So wurden in einer Artikelreihe der New York Times die Analysten beschuldigt, durch ihre neu entwickelten Bewertungsmethoden die Spekulationsblase weiter verstärkt zu haben. Im Zuge strafrechtlicher Untersuchungen, wurden zehn Wall Street Investmentbanken zu einer Strafe von insgesamt 1,4 Mrd. USD verurteilt. Emotional Finance zeigt am obigen Beispiel eindrucksvoll, wie die Marktteilnehmer sowohl im Zuge der Entstehung einer Spekulationsblase als auch bei ihrem Platzen im paranoid-schizophrenem Geisteszustand verharren und dabei negative Gefühle bzw. die Verantwortung für das Fehlverhalten auf andere projizieren. Die Rückkehr in den integrierten Geisteszustand ist erst möglich, wenn die Marktteilnehmer die Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen. Dies geschieht zwar, jedoch oft recht spät, wie man es am Wertverlust der Technologieaktien bis Ende 2002 sehen konnte (vgl. Taffler/ Tuckett, 2010, S. 104 f.). Emotional Finance beschreibt die Folgen unbewusst und höchst komplex ablaufender Prozesse, die den Marktteilnehmer zu emotional getriebenen Verhaltensweisen führen, und versucht so unbewusst ablaufende Prozesse ins Bewusstsein zu rücken. Die zentrale Erkenntnis der bisherigen Forschungsergebnisse ist die bewusste Wahrnehmung der mentalen Prozesse, um dadurch möglicherweise schneller risiko-/ renditeschädliche Verhaltensweisen begrenzen zu können. Biographien von Taffler und Tuckett Richard Taffler gilt gemeinsam mit David Tuckett als Begründer der Emotional Finance. Nach Studium an der LSE, hat er an der City University Business School promoviert. Seine akademische Laufbahn setzte er mit Lehrtätigkeiten an der University of Edinburgh Business School, Manchaster Business School und seit Januar 2011 an der Warwick Business School fort. Taffler gilt im Bereich Behavioral Finance als ausgewiesener Experte. Er hat über 100 akademische Aufsätze und Bücher verfasst. Gegenwärtig entwickelt er gemeinsam mit David Tucket Emotional Finance als neues Paradigma, um die traditionelle und verhaltenswissenschaftliche Perspektive der Entscheidungsfindung zu ergänzen. Hierbei liegt sein Fokus auf der Rolle von Emotionen und unbewußt ablaufenden Entscheidungsprozessen. <?page no="369"?> 368 13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance - Blick in die Zukunft Nach dem Studium an der Cambridge University und dem Bedford College von Economics, Medical Sociology und Psychoanalysis hat David Tuckett seit 1977 zahlreiche Positionen im Bereiche Psychoanalyse inne gehabt. Seit 2014 hat er seine akademische Laufbahn am Center for the Study of Decision-Making and Uncertainty an der UCLA als Direktor fortgesetzt. 2006 gewann Tuckett für seinen Aufsatz „Psychoanalytic study of investment markets“ den Leverhulme Research Fellowship Award. 2007 erhielt er für seinen Beitrag zur Psychoanalyse den Sigourney Preis. Mit zahlreichen Wissenschaftlern, inbesondere mit Richard Taffler, erforscht er psychoanalytische Vorgänge im Entscheidungsprozess und gilt als Vorreiter der Emotional Finance. <?page no="370"?> Zusammenfassung 369 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Z Zuussaammmmeennffaassssuunngg Das letzte Kapitel widmete sich einerseits der Diskussion möglicher Grenzen der Behavioral Finance, andererseits der Entwicklung der Neuro-Finance und der Emotional Finance als nächste Schritte in der Erkundung des Homo Oeconomicus Humanus. Innerhalb der Grenzen der Behavioral Finance wird das Fehlen eines konsistenten Theoriegerüstes angemerkt. Es ist davon auszugehen, dass die Behavioral Finance in Zukunft weitere, leistungsstärkere Erklärungsansätze hervorbringen muss, die das Verständnis für die Auswirkungen von begrenzt rationalen Verhaltensweisen weiter vertiefen und gleichzeitig auch rationaleres Handeln von Marktteilnehmern fördern werden. Zudem bestehen Zweifel am systematischen Bestand von Marktanomalien. Hierbei ist anzumerken, dass die Anlagestrategien, die derartige systematische Marktverzerrungen ausnutzen, scheinbar immer noch das Potenzial haben, nachhaltig Überrenditen zu erzielen. In der fortschreitenden Erkundung des Homo Oeconomicus Humanus ermöglichen die Ergebnisse der Neuro-Finance, die gewonnenen Erkenntnisse aus theoretischen und praktischen Untersuchungen auf der Grundlage neuronaler und biologischer Prozesse bei den Marktteilnehmern zu verfeinern. Somit ergibt sich die Möglichkeit, die Ergebnisse durch neuronale Prozesse im Gehirn zu erklären. Außerdem ermöglicht die Erforschung der Funktionsweise bestimmter Hormone, die neuronalen/ biologischen Ursachen für die beobachtbaren Verhaltensweisen der Marktteilnehmer zu ergründen. Die besondere Bedeutung der Interpretation von Emotionen wird durch die neue Forschungsrichtung der Emotional Finance hervorgehoben. Diese Forschungsrichtung, geprägt von den Forschungsergebnissen der Wissenschaftler Richard Taffler und David Tuckett, basiert auf den mentalen Prozessen, die ursprünglich von Sigmund Freud beschrieben wurden. Zentraler Forschungspunkt ist die Wirkung unbewusst ablaufender Prozesse auf die Entscheidungsfindung der Marktteilnehmer. Emotional Finance beschreibt die Folgen unbewusst und höchst komplex ablaufender Prozesse, die den Marktteilnehmer zu emotional getriebenen Verhaltensweisen führen, und versucht somit, unbewusst ablaufende Prozesse ins Bewusstsein zu rücken. Im Zuge der Forschungsergebnisse wurden drei Faktoren hervorgehoben, die maßgeblich am unterbewussten Entscheidungsverhalten der Marktteilnehmer beteiligt sind. Hierbei stehen der Geisteszustand der Marktteilnehmer, das Gruppendenken als Vorstufe für das Gruppenverhalten und die Suche nach phantastischen Objekten im Vordergrund der Betrachtung. Emotional Finance kann den Marktteilnehmer in der objektiven Einschätzung der Situation unterstützen, bzw. bei der Identifikation von Phantastic Objects helfen. Die zentrale Erkenntnis der bisherigen Forschungsergebnisse ist die bewusste Wahrnehmung der mentalen Prozesse, um dadurch wiederum schneller rendite-/ risikoschädliche Verhaltensweisen begrenzen zu können. <?page no="371"?> 370 Schlussbetrachtung Abschnitt IV SSc chhl luussssbbeettrra acchht tuunngg A Abbsscchhnniitttt I IVV Nach Studium des vierten Abschnitts schließt sich der Kreis der Betrachtung des Marktteilnehmers. Er ist entgegen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie keineswegs perfekt und seine Verhaltensweisen entsprechen nicht den theoretischen Erwartungen. Wie es kaum möglich ist, von einem Homo Oeconomicus in der Praxis zu sprechen, ist es auch nicht zutreffend, den Marktteilnehmer als ein Individuum zu beschreiben, das seine Entscheidungen einzig aufgrund von Emotionen und Impulsen trifft. Vielmehr ist der Marktteilnehmer in all seinen Facetten zu betrachten und zu beurteilen. Er kann allerdings nach neuesten Forschungsergebnissen auf jeden Fall nicht in der Lage sein, alle Informationen zu überblicken und zu bewerten. Es ist davon auszugehen, dass die Behavioral Finance in Zukunft weitere, leistungsstärkere Erklärungsansätze hervorbringen wird, die das Verständnis für die Auswirkungen von begrenzt rationalen Verhaltensweisen weiter vertiefen und gleichzeitig auch „rationaleres“ Handeln von Marktteilnehmern fördern werden. Hierbei ist auch die Finanzmarktregulierung gefragt, um der Kundenberatung Vorgaben zu machen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise, ausgelöst durch die Treiber des Homo Oeconomicus Humanus - nämlich Gier und Angst - haben vor Augen geführt, dass die vernünftige Regulierung die Entwicklung auf den Kapitalmärkten genau überblicken muss - sowohl bei der Entwicklung neuer Produkte als auch in der Risikovorsorge für unvorhersehbare Entwicklungen. Die im Zuge der Krise verabschiedeten Eigenkapitalregeln nach Basel III, welche die Unterlegung der Risikoaktiva mit erhöhtem Eigenkapital regeln sollen, ist ein erster, allerdings sehr grober Schritt, aus den Versäumnissen der früheren Jahre zu lernen, in denen das Risiko scheinbar irrationaler Verhaltensweisen unterschätzt wurde. MiFID II (Markets in Financial Instruments Directive) geht hier einen Schritt weiter. Die EU Kommission hat als Antwort auf die Finanzkrise 2008 mit MiFID II sehr ambitionierte Reformen angestoßen, welche die Zielsetzung haben, riskante Finanzgeschäfte zu begrenzen sowie die Transparenz auf den Finanzmärkten zu erhöhen. Die Directive soll im Januar 2018 zur verbindlichen Einführung kommen. Eines wird jedoch keine Regulierung in Grenzen halten können - das Verhalten der Marktteilnehmer, die getrieben von Gier und Angst ihre Anlageentscheidungen tätigen. Hierbei ist vielmehr Verständnis für die Verhaltensweisen gefordert sowie die Schulung der Marktteilnehmer, um risiko-/ renditeschädliche Verhaltensweisen begrenzen zu können. <?page no="372"?> www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance GGlloossssaarr i ss inh t it n i ch Ambiguitätsaversion Diese Heuristik (Ambiguity Aversion) kognitiven Ursprungs stellt die Abneigung des Marktteilnehmers gegenüber unbekannten Anlagen dar. Er zieht das Bekannte dem Unbekannten vor. Diese Form der Aversion tritt auf, sobald der Marktteilnehmer eine Information als nicht bekannt bewertet und den Grad der Unwissenheit nicht genau überblicken kann. RRS- Index: 8 230, 261, 332, 335 Animal Spirits Irrationale Elemente im Wirtschaftsgeschehen, wie unreflektierte Instinkte, Emotionen und Herdenverhalten. Sie können nach Auffassung von Keynes zu konjunkturellen Schwankungen und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit führen. 358 Arbitrage Arbitragegeschäfte werden zur Ausnutzung von Kursunterschieden derselben Handelsobjekte an verschiedenen Märkten genutzt. Da es hierbei auf schnelles Handeln ankommt, werden diese Geschäfte vor allem an den Wertpapiermärkten einschließlich der Devisen- und Derivatemärkte getätigt. In der Praxis unterliegt die Arbitrage aufgrund von Risiken und Kosten zunehmenden Beschränkungen. 365 Bayes Theorem Teil der Wahrscheinlichkeitstheorie, benannt nach dem Mathematiker Thomas Bayes. Das Bayes Theorem verdeutlicht, wie sich die Wahrscheinlichkeitseinschätzung eines Marktteilnehmers verändern sollte, wenn neue Informationen empfangen werden. Dabei erfolgt die Anpassung von A-priori-Wahrscheinlichkeiten zu A-posteriori Wahrscheinlichkeiten. 176 Begrenzte Rationalität Eigenschaft des Homo Oeconmocius Humanus, welche an den Märkten zu substanzieller und langanhaltender Abweichung des Kurses vom Fundamentalwert der Wertpapiere führen kann. Bezeichnet in den Wirtschaftswissenschaften ein Verhalten, das einerseits abgegrenzt wird von unbeschränkter Rationalität und Optimierung unter Nebenbedingungen, andererseits aber auch von Irrationalität. 41, 176, 216, 236 <?page no="373"?> 372 Glossar www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Behavioral Finance Forschungsrichtung der Finanzmarktforschung, die sich mit der Psychologie der Marktteilnehmer beschäftigt. Dabei werden kognitive wie emotionale Faustregeln untersucht, die zur Erleichterung der Entscheidungsfindung Verwendung finden. Behavioral Finance basiert auf der Erkenntnis, dass Marktteilnehmer nur zu einem begrenzt rationalem Verhalten in der Lage sind. Es kristallisiert sich ein Homo Oeconomicus Humanus heraus, der häufig durch kognitive und emotionale Aspekte beeinflusst wird. 33, 179, 306 Behaviorismus Ein wissenschaftstheoretischer Standpunkt, der darauf aufbaut, dass das Verhalten von Menschen und Tieren mit den Methoden der Naturwissenschaft untersucht werden kann. 24 Besitztumseffekt Der Besitztumseffekt (Endowment Effect) beschreibt die Neigung der Marktteilnehmer, den Wert ihrer Anlage höher einzuschätzen, wenn sie diesen erworben haben, als wenn sie die Anlage noch nicht erworben haben. Er führt dazu, dass der Marktteilnehmer seine Anlage nicht nur nach dem eigentlichen Wert bewertet, sondern auch nach seiner Bindung oder Gewöhnung an die Anlage. RRS-Index: 5 291 Bestätigungsneigung Diese Verzerrung (confirmation bias) beschreibt, wie die Marktteilnehmer ihre getroffenen Einschätzungen durch Konsultation mit anderen Marktteilnehmern zu bestätigen versuchen. Es handelt sich hierbei um eine der selektiven Wahrnehmung eng verwandte Verzerrung. 204 Beta-Faktor Der Beta-Faktor drückt das systematische Risiko eines Wertpapiers relativ zum Markt aus und kann mittels linearer Regression geschätzt werden. Es handelt sich folglich um ein Sensitivitätsmaß für die Rendite einer Anlage bezüglich der Veränderungen der Marktrendite. 57, 121, 364 Bias Resultat der Anwendung von Heuristiken zur Verringerung der Informationen. Biases sind Verzerrungen im Informations- und Entscheidungsprozess, die systematisch durch die Anwendung von bestimmten Faustregeln (Heuristiken) entstehen können. 34, 180 CAPM Kapitalmarktgleichgewichtsmodell, das die Portfoliotheorie um die Frage erweitert, welcher Teil des Gesamtrisikos eines Investitionsobjekts nicht durch Risikostreuung zu beseitigen ist. Es erklärt, wie risikobehaftete Anlagemöglichkeiten im Kapitalmarkt bewertet werden sollten. 59, 121, 364 <?page no="374"?> Glossar 373 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Charttechnische Analyse, Chart-Analyse Die Chart-Analyse besteht aus einer Vielzahl einzelner Techniken, die eine Vorhersage zukünftiger Börsenkurse anhand historischer Kursentwicklungen anstreben. Während im Bereich der Fundamentalanalyse gefragt wird, „ob“ ein Investment eingegangen werden soll, steht bei der Chart-Analyse die Frage nach dem „wann“ das Investment getätigt werden soll, im Vordergrund. Die zentrale Kernannahme der technischen Wertpapieranalyse besteht darin, dass die Aktienkurse in Trends verlaufen. Diese Annahme basiert auf dem Verhalten von Anlegern, welches aus der Sicht der Chartisten oft durch den Herdentrieb gekennzeichnet ist. 27, 41 Darstellungseffekt Der Darstellungseffekt (Framing Bias) als Heuristik kognitiven Ursprungs beschreibt die Erscheinung, dass die Präsentation ein und desselben Sachverhaltes auf eine unterschiedliche Art und Weise zu unterschiedlichen Entscheidungen führt. RRS-Index: 5 193, 227, 285, 318, 339, 356 Dispositionseffekt Der Dispositionseffekt entfaltet als Heuristik emotionalen Ursprungs seine renditeschädliche Wirkung im Rahmen der Verlustaversion. Der Marktteilnehmer hält an Verliereraktien fest, verkauft jedoch zu früh die Gewinneraktien. Der Dispositionseffekt steigt mit zunehmender Selbstverpflichtung zu dem eingegangenen Engagement. Er lässt sich an der Steigung der Wertfunktion im Verlustbereich erkennen, welche betragsmäßig deutlich größer ist als im Gewinnbereich. RRS-Index: 5 230, 248 Diversifikationseffekt Der Diversifikationseffekt basiert auf der Andersartigkeit von Unternehmen, die im Ergebnis das arithmetische Mittel der Einzelrisiken (Varianz) senken, sobald ein Portfolio aus mehreren Wertpapieren besteht. Der Diversifikationseffekt wird durch den Korrelationskoeffizienten der betrachteten Wertpapiere beschrieben. 49, 73, 229 Dividend Discount Modell Der Grundgedanke des DDM beruht auf dem aus der Investitionstheorie bekannten Barwertkonzept. Die Dividenden werden zu den Eigenkapitalkosten abdiskontiert, wodurch die Aktien eines Unternehmens im Blickpunkt der Betrachtung stehen. Der Wert einer Aktie setzt sich aus der Summe der Barwerte aller zukünftig erwarteten Dividenden zusammen. 97 <?page no="375"?> 374 Glossar www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Effizienzmarkthypothese Die Effizienzmarkthypothese beschreibt einen Markt als effizient, wenn die Wertpapierkurse alle vorhandenen Informationen komplett widerspiegeln. Die schwache Form der Markteffizienz kennzeichnet einen Markt, in dem die Preishistorien der gehandelten Titel in den gegenwärtigen Preisen enthalten sind. Die mittelstrenge Form beruht auf dem Gedanken, dass auch alle sonstigen, öffentlich verfügbaren Informationen in den Kursen der Wertpapiere eingepreist sind. Die strenge Form schließt die korrekte Verarbeitung aller erdenklichen Informationen in die Wertpapierkurse ein (neben Preishistorien und allen öffentlich verfügbaren Informationen auch die nicht öffentlichen Insiderinformationen). 62, 91, 121, 308, 343 Eigenkapital Mittel, die einem Unternehmen von dessen Eigentümern unbefristet zur Verfügung gestellt werden. Zum Eigenkapital zählen neben dem eingezahlten Kapital bei einer AG (Aktiengesellschaft) Grundkapital, bei einer GmbH (Gesellschaft mit beschränkter Haftung) Stammkapital genannt die offenen und stillen Rücklagen sowie ein etwaiger Gewinnvortrag. 23, 161 Erwartungsnutzentheorie Die Erwartungsnutzentheorie hat die Zielsetzung, rationales Verhalten unter Berücksichtigung von Risiken (Unsicherheit) zu analysieren. Zentraler Gegenstand der Betrachtung ist das Treffen von Entscheidungen, ohne dass deren Ergebnisse/ Konsequenzen bekannt sind. Die Erwartungsnutzentheorie bildet gemeinsam mit dem Bayes-Theorem der Informationsverarbeitung die Grundlage für die Effizienzmarkthypothese. 19, 79, 107, 180, 353 Fremdkapital Fremdkapital ist das durch Schuldenaufnahme finanzierte Kapital einer Unternehmung; es umfasst diejenigen Teile der Passivseite einer Bilanz, die Gläubigeransprüche darstellen. Fremdkapital umfasst im Gegensatz zum Eigenkapital fremde Mittel, die der Unternehmung von außen durch die Gläubiger im Wege der Kreditfinanzierung oder von innen im Wege der Rückstellungsfinanzierung kurz-, mittel- und langfristig zur Verfügung gestellt werden. 23, 112, 113, 142 Fundamentalanalyse Die Fundamentalanalyse geht im Gegensatz zur charttechnischen Analyse davon aus, dass der Kurs einer Aktie vom Gewinn und der Gewinnentwicklung des Unternehmens abhängt. Zentraler Ansatzpunkt der Fundamentalanalyse ist die Bestimmung des „inneren Wertes“ einer Aktie. Dies kann u.a. auch als die 26, 27, 198, 223 <?page no="376"?> Glossar 375 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Summe der Barwerte aller zukünftig erwarteten Dividenden interpretiert werden oder im Rahmen der DCF-Analyse durch die Diskontierung der gesamten Unternehmens-Cashflows und nachfolgendem Abzug der Fremdkapitalkosten ermittelt werden. Gewinnankündigungsdrift Verzögerte Preisanpassung nach Bekanntgabe einer kursrelevanten Information. Zurückhaltende Einstellung gegenüber Ergebnismeldungen der Unternehmen führt zu weiteren Zugewinnen bei positiven Meldungen und weiteren Verlusten bei negativen Meldungen. 219, 364 Herdenverhalten Verhaltensweise, die in der Masse der Marktteilnehmer zu beobachten ist und Spekulationsblasen antreibt. Gustave Le Bon, Begründer der Massenpsychologie, formulierte folgende Aussagen zum Herdenverhalten (RRS-Index: 5): - Massen entwickeln eine Kollektivseele - Handlungsweisen werden aufeinander abgestimmt. Es herrscht hohe Verbundenheit innerhalb der Masse. - Gesamtinteresse infiziert Einzelinteressen - emotionale Ansteckung im Rahmen der Feedback-Theorie. - Einfache Gefühle herrschen vor - Individuen in der Masse sind durch Impulsivität und Reizbarkeit gekennzeichnet. - Meinungen und Gerüchte schaukeln sich hoch und führen zu Meinungsbildung auf Basis einzelner Gerüchte, Vermutungen. 68, 73, 171, 266, 286, 310, 359 Heuristiken Faustregeln, mit deren Hilfe Schlussfolgerungen gezogen werden, ohne komplizierte und vergleichsweise langwierige Rechen-/ Entscheidungswege einsetzen zu müssen. Der Vorteil der Heuristiken liegt darin, dass sie ressourcensparend zu Schlussfolgerungen führen, die in den meisten Lebenssituationen eine hinreichende Güte besitzen. 41, 81, 211 Home Bias Heuristik kognitiven Ursprungs, bei der die Marktteilnehmer sich auf die inländischen Kapitalmärkte konzentrieren. Diese Ausrichtung suggeriert den Anlegern einen erhöhten Grad an Kontrolle, wodurch sie ungewollt risikofreudig werden. Die Übergewichtung inländischer Wertpapiere senkt die Portfoliodiversifikation mit Blick auf die regionale Streuung der Anlagen, wodurch sich das Portfoliorisiko signifikant erhöht. 254, 340 <?page no="377"?> 376 Glossar www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Homo Oeconimicus Humanus Konzept des Marktteilnehmers in der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung; der Marktteilnehmer verhält sich begrenzt rational und unterliegt in der Entscheidungsfindung kognitiven und emotionalen Heuristiken. 25, 61, 79, 295 Integration Vorgehensweise der Marktteilnehmer, entstehende Verluste zusammenzufassen, um das Gefühl einen Fehler gemacht zu haben, durch die Zusammenfassung zu minimieren. Auch das Gefühl des Bedauerns soll durch diese Verhaltensweise gemindert werden. 256 Konservatismus Konservatismus als kognitive Heuristik ist die Einstellung, bestehende Ansichten bzw. Erwartungen bei Eintreffen neuer Informationen nicht anzupassen. Neue Informationen werden tendenziell zu wenig beachtet und erst mit Verzögerung in die Wertpapierkurse eingepreist. RRS-Index: 2 122, 288 Kontrollillusion Die Kontrollillusion (Illusion of Control) erweckt beim Marktteilnehmer das Gefühl, die Märkte besser prognostizieren bzw. stärker kontrollieren zu können, als dies tatsächlich der Fall ist. Sie ist eng verknüpft mit der Selbstüberschätzung und steigert diese zusätzlich. RRS-Index: 5 87, 289, 333 LIBOR Als London Interbank Offered Rate bezeichneter Referenzzinssatz für den Interbankenhandel. Es handelt sich um den Referenzzinssatz, welche die wichtigsten international tätigen Banken der British Bankers' Association in London festlegen. Dieser Zinssatz verkörpert den Angebotszinssatz zu denen sie am Markt Gelder von anderen Banken aufnehmen können (beziehungsweise angeboten bekommen). Der Libor wird für sehr kurze und monatliche, bis hinauf zu einjährigen Notierungen fixiert. So stellt der 3-Monats-Libor den heutigen Zinssatz für ein über drei Monate laufendes Geldmarkt-Geschäft dar. Libor-Zinssätze werden für 10 verschiedene Währungen berechnet, es handelt sich hierbei um den australischen Dollar, kanadischen Dollar, Schweizer Franken, die dänische Krone, den Euro, das Pfund Sterling, den Yen, den Neuseeland-Dollar, die schwedische Krone und den US-Dollar. 150 Marktportfolio Gesamtportfolio, das von allen Marktteilnehmern in gleicher Ausprägung/ Gewichtung gehalten wird, wenn „lending and borrowing“ (Anlage und Leihen zum risikolosen Zinssatz) möglich ist. 41, 57, 188 <?page no="378"?> Glossar 377 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Mean-Reversion-Effekt Mean-Reversion-Effekt steht für die Tendenz von Aktienkursen längerfristig zu ihren „Mittelwerten“ zurückzukehren. Dabei entspricht dieser Mittelwert häufig dem fundamentalen Wert eines Wertpapiers. Die Abweichung von fundamental gerechtfertigten Bewertungen ist durch die von Marktteilnehmer innerhalb der Entscheidungsfindung angewendeten Heuristiken erklärbar. 276, 308 Mentale Buchführung, Mental Accounting, mentale Konten Die mentale Buchführung (Mental Accounting) steht für die begrenzt rationale Neigung der Marktteilnehmer, ihren Vermögen in Abhängigkeit bestimmter Kategorien in mentalen Konten zu verbuchen. Die verbuchten Anlagesummen werden unabhängig voneinander entsprechend der Prospect Theory bewertet. RRS-Index: 7 247, 256, 262, 276, 288, 305, 314, 335, 338 Neoklassische Kapitalmarkttheorie Forschungsrichtung aus dem 20. Jhd. Sie geht von einem vollkommenen und vollständigen Kapitalmarkt aus, dessen Grundlage das Konzept des rational agierenden Homo Oeconomicus ist. Die postulierten Annahmen stellen die Maximierung des Marktwertes des aus einer Investition fließenden Zahlungsstroms als einen Ansatz dar, durch den die Zielvorstellungen aller Kapitalgeber verfolgt werden. 19, 107, 121, 253, 343, 346, 359 Optimismuseffekt Der Optimismuseffekt kennzeichnet die Verhaltensweise der Marktteilnehmer, positive Marktentwicklungen als wahrscheinlicher einzuschätzen als negative. Diese Heuristik ruft zudem Selbstüberschätzung sowie Investitionen in geografisch oder anderweitig bekannten Gebieten hervor. RRS-Index: 8 291, 333 Podcast https: / / youtu.be/ kELdi8pqa1g 358 Portfoliotheorie Ist eine Finanztheorie, die einen Zusammenhang zwischen dem Risiko und der Rendite mehrerer innerhalb eines Portfolios befindlicher Wertpapiere darstellt. Sie geht auf den US-Ökonomen Harry M. Markowitz zurück. Die Portfoliotheorie basiert auf dem Zwei-Parameter-Ansatz, der durch den Erwartungswert und die Standardabweichung die zukünftige Rendite von Investitionen zu beschreiben vermag. 116, 280 Probability Weighting Bestandteil der Prospect Theory. Hierbei werden objektive Wahrscheinlichkeiten über eigene Einschätzungen transformiert. Dabei werden niedrige Wahrscheinlichkeiten überbewertet, hohe Wahrscheinlichkeiten dagegen unterbewertet. Durch die Missachtung objektiver Wahrscheinlichkeiten verändert sich die Risikoeinstellung der Marktteilnehmer. 202, 221, 230, 312, 353 <?page no="379"?> 378 Glossar www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance Prospect Theory Die Prospect Theory stellt das Fundament der Behavioral Finance dar. Sie wurde 1978 von Kahneman und Tversky als deskriptive Entscheidungstheorie entwickelt. Die Theorie wurde als Alternative und Verallgemeinerung der Erwartungsnutzentheorie konzipiert. Sie erlaubt die Beschreibung der Entscheidungsfindung in Situationen der Ungewißheit. Dazu gehören Entscheidungen, bei denen Risiken bzw. die Eintrittswahrscheinlichkeiten der künftigen Umweltzustände unbekannt sind. 24, 90, 223, 227, 247, 276, 309, 313, 356 Random Walk Theory Sie ist eine unmittelbare Folgerung der Markteffizienz-Theorie. Die Random Walk Theory bzw. Theorie der symmetrischen Irrfahrt beschreibt den zeitlichen Verlauf von Marktpreisen mathematisch. Diese Theorie besagt, dass die Kursverläufe von Finanzinstrumenten einem nicht berechenbaren Zufallsprinzip unterliegen. Die Verfechter dieser Theorie stellen sich damit gegen die Meinung, dass Finanzmärkte Trendverläufe und immer wiederkehrende Muster aufweisen, mit denen ein überdurchschnittliches Ergebnis bei der Aktienanlage erzielt werden kann. 41, 73, 91, 124, 131 Reflection Effect Nach diesem Effekt, der auch als Umkehr der Risikobereitschaft bezeichnet wird, verändert sich die Risikoeinstellung des Marktteilnehmers, wenn er mit Verlusten konfrontiert wird. Dieser Effekt ergibt sich aus der abnehmenden Sensitivität im Verlustbereich. Dies führt dazu, dass der Marktteilnehmer im Verlustbereich riskante Alternativen bevorzugt und dadurch risikofreudiger wird. RRS-Index: 3 191, 255, 289 Repräsentativität Heuristik kognitiven Ursprungs während der Informationswahrnehmung. Der Marktteilnehmer integriert durch persönliche Erfahrungen eine Beobachtung in ein bestimmtes Schema und gelangt dadurch zu einer verzerrten Wahrscheinlichkeitseinschätzung. Es handelt sich um eine Abschätzung über das Endresultat einer vollumfänglichen Analyse aller Informationen, bevor alle Informationen tatsächlich verarbeitet wurden. RRS-Index: 3 287, 350 Rezenzeffekt Der Rezenzeffekt (Recency Effect) beschreibt die Neigung der Marktteilnehmer, sich an kürzlich erlebte Ereignisse besser zu erinnern und diese höher zu gewichten als Ereignisse, die weiter in der Vergangenheit zurückliegen. Durch diese Verhaltensweise wird 288, 325 <?page no="380"?> Glossar 379 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance die objektive Realität verzerrt und der Marktteilnehmer trifft seine Entscheidung basierend auf kürzlich veröffentlichte Daten. RRS-Index: 5 Risikowahrnehmung Die Risikowahrnehmung ist ein zentraler Aspekt für die Entscheidung für oder gegen eine Investition. Es ist zu beobachten, dass sich Risikowahrnehmungen temporär ändern. Dieses Phänomen beruht darauf, dass Marktteilnehmer in Abhängigkeit eines eingetretenen Verlustes bzw. Gewinnes ihre Risikowahrnehmung und Risikobereitschaft verändern. Diese Änderung erfolgt auf Basis nicht-objektiver Wahrscheinlichkeitsbewertungen. RRS-Index: 2 285 Rückschaueffekt Der Rückschaueffekt führt dazu, dass Marktteilnehmer im Nachhinein glauben, die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines Ereignisses höher eingeschätzt zu haben. Daher lernen sie nicht aus ihren Fehlern. RRS-Index: 3 290 Segregation Diese Verhaltensweise führt dazu, dass der Marktteilnehmer die Freude am positiven Ergebnis seiner Investition über einem längeren Zeitraum oder verschiedene Analgen hinweg erleben kann. Verantwortlich hierfür ist die abnehmende Sensitivität im Gewinnbereich der Wertfunktion. Je höher der Gewinn einer Anlage ist, desto geringer wird ein Gewinnzuwachs wahrgenommen. Folglich wird die hohe Sensitivität für anfängliche Gewinne genutzt, um Gewinne über möglichst viele Anlagen gestreut wahrzunehmen. 256 Selbstattribution Die Selbstattribution führt dazu, dass die Marktteilnehmer Erfolg ihrem eigenen Können zuschreiben, für Misserfolg jedoch andere, äußere Umstände verantwortlich machen. RRS-Index: 7 290, 296, 301, 310 Selbstkontrolleffekt, Selbstkontrolle Der Selbstkontrolleffekt steht für die Schwäche des Marktteilnehmers, nicht immer konsequent und ohne Unterbrechung ein Investitionsziel, wie z.B. die Altersvorsorge, zu verfolgen. Er führt zu unausgewogener Depotzusammensetzung und Missachtung grundsätzlicher Investitionsprinzipien, wie dem Zinseszins-Effekt. RRS-Index: 4 256, 292, 305 Selbstüberschätzung Selbstüberschätzung (Overconfidence Bias) zeigt sich als ungerechtfertigter Glaube in die eigenen kognitiven Fähigkeiten. Marktteilnehmer überschätzen ihren Kenntnisstand, unterschätzen Risiken und neigen zu 164, 249, 289, 295, 309, 324, 335 <?page no="381"?> 380 Glossar www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance übertriebenem Glauben, Marktbewegungen kontrollieren zu können. RRS-Index: 4 Selbstverpflichtung Selbstverpflichtung (Commitment) gilt als Gradmesser für die Betroffenheit des Marktteilnehmers im Rahmen der selektiven Wahrnehmung. Ist die Selbstverpflichtung hoch, nehmen die Marktteilnehmer nur die Informationen wahr, die ihre getroffene Entscheidung stützen. 204 Selektive Entscheidung Die selektive Entscheidung hat die Zielsetzung, eine frühere Entscheidung, welche unter hoher Selbstverpflichtung getroffen wurde, auf jeden Fall zum gewünschten Erfolg zu führen. Diese Heuristik verstärkt den Dispositions-Effekt und den Sunk-Cost- Effekt. RRS-Index: 5 35, 290 Selektive Wahrnehmung Die Selektive Wahrnehmung wird von den Marktteilnehmern im Rahmen der kognitiven Dissonanz angewendet. Es werden bewusst oder unbewusst Informationen vernachlässigen, mit der Zielsetzung, eine Bestätigung für eine zu treffende Entscheidung bzw. eine bereits getroffene Entscheidung zu erlangen. RRS-Index: 4 35, 285 Status-Quo- Effekt, Status-Quo-Bias Der Status-quo-Effekt führt dazu, dass Marktteilnehmer die Zusammensetzung ihrer Portfolios unverändert belassen, obwohl eine Anpassung der Einzelgewichte im Zuge von Marktveränderungen notwendig wäre. Er verstärkt die Verlustaversion, die Ambiguitätsheuristik und auch den Besitztums-Effekt. RRS-Index: 7 230, 253, 292, 335 Stress Den Begriff Stress hat der österreichisch-kanadische Forscher Hans Selye in die Psychologie eingeführt, um die Reaktion von biologischen Systemen also Tieren und Menschen auf Belastung zu beschreiben. Stress ist ein Symbol für Belastung ganz allgemein geworden. Ursprünglich sollte der Begriff nur beschreiben, was im Körper passiert, wenn er belastet wird. „Stress“ ist also zunächst ein neutraler Ausdruck. Die negative Komponente hatte Selye ursprünglich Disstress genannt, während er positiven Stress als Eustress bezeichnete. 174, 359 Sunk-Cost- Effekt Dieser Effekt führt dazu, dass der Marktteilnehmer eine getätigte Investition, welche sich im Verlustbereich befindet, nicht veräußert, sondern vielmehr zusätzliches Kapital nachschießt, um die Investition zu 246 <?page no="382"?> Glossar 381 www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance einem späteren Zeitpunkt doch noch gewinnbringend abschließen zu können. RRS-Index: 3 Theorie der kognitiven Dissonanz Die Theorie der kognitiven Dissonanz (RRS-Index: 5) beschreibt das Ungleichgewicht zwischen einzelnen psychologischen Kognitionen, wie Einstellung, Emotionen oder Glauben an eine getroffene Entscheidung. Der Marktteilnehmer versucht im Rahmen der kognitiven Dissonanz, diese Ungleichgewichte zu beheben, indem er negative Informationen zu einer Anlageentscheidung verdrängt und positive hervorhebt. Der Versuch die kognitive Dissonanz zu vermeiden, beeinflusst das Investitionsverhalten in zweierlei Hinsicht: - Zum einen wird durch die Selektion von Informationen die Fähigkeit, eigene Investmententscheidungen zu überwachen und zu überprüfen, beeinträchtigt. - Zum anderen wird die aktive Investitionshandlung durch die Unbehaglichkeit der Situation überschattet. 73, 266, 353 Value at Risk Spezifisches Risikomaß mit Anwendungen im Bereich der Finanzrisiken. Ausgehend von einem fixierten Zeitintervall und einer vorgegebenen Ausfallwahrscheinlichkeit (Konfidenzniveau) ist der VaR einer Finanzposition diejenige Ausprägung der Verlusthöhe, die mit der vorgegebenen Wahrscheinlichkeit nicht überschritten wird (Probable Maximum Loss). 77, 364 Verankerungseffekt, Verankerung und Anpassung Beim Verankerungseffekt (Anchoring & Adjustment) wird von den Marktteilnehmern eine Art Richtwert verwendet, mit dessen Hilfe sie die Bedeutung eines Problems oder Sachverhaltes einzuschätzen versuchen. Er zeigt seine Auswirkung darin, dass der gesetzte Anker nicht ausreichend angepasst wird, sobald neue Informationen verarbeitet werden. Diese Heuristik verstärkt zudem den Konservatismus-Effekt. RRS-Index: 5 287 Verfügbarkeitsheuristik Heuristik kognitiven Ursprungs im Rahmen der Informationswahrnehmung (Availability Bias). Sie beschreibt die Neigung der Marktteilnehmer, die Bedeutung von Informationen von der Vorstellungskraft bzw. der geschätzten Eintrittswahrscheinlichkeit abhängig zu machen. RRS-Index: 6 34, 125, 224, 284, 297, 308 Verlustaversion Diese Verhaltensweise (Loss Aversion) gilt als die Ursache des Dispositionseffektes. Der Marktteilnehmer versucht in einer Verlustsituation, die Verlustrealisierung zu vermeiden, in dem er zum einen risikofreudiger wird, zum anderen an Verliererpositionen festhält. 179, 255, 314, 335 <?page no="383"?> 382 Glossar Winner-Loser- Effekt Marktanomalie, bei der eine überdurchschnittliche Entwicklung von ehemals Verliereraktien und eine unterdurchschnittliche Entwicklung von ehemals Gewinneraktien über mehrere Jahre zu beobachten ist. Dies entspricht der Korrektur einer anfänglichen Überreaktion auf positive wie negative Nachrichten. Als Konsequenz nähern sich die Marktpreise der Wertpapiere wieder ihren Fundamentalwerten an. 41 <?page no="384"?> www.uvk-lucius.de/ behavioralfinance LLiitteerraattu urrv veerrz zeeiicchhnniiss Empfohlene Literatur ACKERT, L.F./ DEAVES, R. (2010) Behavioral Finance. Mason: South-Western. BODIE Z./ KANE A./ MARCUS A. (2009) Essentials of Investments. New York: McGraw Hill. GEHRIG, B./ ZIMMERMANN, H. 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