Ostseeküste – Ostseebad
Von der Entdeckung des Nordens zur Entstehung der deutschen Ostseebäder im 19. Jahrhundert
1121
2016
978-3-7398-0107-0
978-3-8676-4710-6
UVK Verlag
Hans-Christian Bresgott
Wie gelangt man von Arkadien nach Swinemünde? Galten noch bis zur Jugendzeit Goethes die Stätten der klassischen Antike als maßgebliche Reiseziele der Eliten, so wurden schon Ende des 18. Jahrhunderts die Küsten des Nordens zum neuartigen Faszinosum. Als wild galt ihre Natur, und diese Wildnis bevölkerte eine romantische Phantasie mit alten Heldengeschichten.
Aus dieser ideellen Verbindung von Natur und Geschichte entstand ein neuer Sehnsuchtsraum. Zugleich diente das Meer selbst mit seinen Seebädern dem Körper. Das kalte Wasser, im Barock noch verpönt, gewann im Spiel der Ozeanwellen eine Heilkraft, die das häufig wirkungslose Wissen der Ärzte beflügelte und den städtischen Eliten Genesung versprach.
Nach englischem Vorbild von engagierten Ärzten vorangetrieben, entstanden auch an der deutschen Ostseeküste Seebäder. Fortan galt es, den Küstenraum, bislang ein Ort des Fischfangs, als Therapieraum zu entwickeln. Wie aber sollte sich das Badeleben gestalten, wie die Anreise, wie die Finanzierung des Kurortes?
Erzählt wird hier die Geschichte einer mentalen wie körperlichen Aneignung des Nordens und des Meeres. Das Ostseebad wird dabei begriffen als Schnittpunkt von Natur- und Kulturgeschichte, als Wirtschaftsmodell und als Triebkraft neuer sozialer Dynamik: abzulesen an der Anlage neuer Orte am Meer, der Konzeption eines idealen Strandes, an Baderegeln und Verhaltensnormen, die teilweise bis heute gelten.
<?page no="2"?> Hans-Christian Bresgott Ostseeküste - Ostseebad <?page no="3"?> Dr. Hans-Christian Bresgott ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Fact & Files, Historisches Forschungsinstitut Berlin. Mit vorliegender Publikation wurde er 2014 an der TU Berlin promoviert. <?page no="4"?> Hans-Christian Bresgott Ostseeküste - Ostseebad Von der Entdeckung des Nordens zur Entstehung der deutschen Ostseebäder im 19. Jahrhundert UVK Verlagsgesellschaft Konstanz · München <?page no="5"?> Zugl.: Berlin, Technische Universität, Diss. 2014 u. d. T. „Ostseeküste - Ostseebad. Zur Entwicklung der deutschen Ostseebäder zwischen mentaler Disposition und gesellschaftlichem Kontext.“ Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-86764-710-6 (Print) ISBN 978-3-7398-0106-3 (EPuB) ISBN 978-3-7398-0107-0 (EPDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2017 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandmotiv: Postkarte Ostseebad Kahlberg. © Privatsammlung des Autors Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="6"?> 5 Inhalt 1 Einleitung .............................................................................................11 Forschungsstand ...................................................................................14 Quellenlage...........................................................................................16 Methode und Aufbau ...........................................................................18 2 Präformation - Voraussetzungen .........................................................25 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster .......................................25 2.1.1 Geografie ..............................................................................................31 2.1.2 Klimatische Faktoren............................................................................49 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen .......................................................................59 2.2.1 Das Meer im Kontext der gefallenen Natur ..........................................63 2.2.2 Theologie und Naturwissenschaft - auf dem Weg zur „guten Natur“...69 2.2.3 Physikotheologie...................................................................................72 2.2.4 Hydrotheologie ....................................................................................74 2.2.5 Der säkularisierte Heilsraum.................................................................79 2.2.6 Rituale im Grenzbereich .......................................................................82 2.2.7 Paradiese am Ufer.................................................................................84 2.2.8 Andauernde Gefährdung - Schiffbruch, Strandrecht, Freibeuter, Kriege .................................................................................88 2.3 Neue Räume - der säkularisierte Heilsraum .........................................93 2.3.1 Von der Idylle zur Wildnis - Geniebewegung und freie Natur .............96 2.3.2 Die Popularisierung des Nordens in der jungen deutschen Literatur ............100 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks.............................107 2.4.1 Rügensche Vorzeit - die Etablierung neuer Raumkonzepte ................109 2.4.2 Rügen als Feld der Naturwissenschaft.................................................122 2.4.3 Meeresblicke .......................................................................................126 Zwischenresümee I ..........................................................................................140 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades ...........................141 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes .....................................................141 <?page no="7"?> Inhalt 6 3.1.1 Medizinische Körperwelten ................................................................145 3.1.2 Wassertherapien .................................................................................154 3.1.3 Das öffentliche Seebad........................................................................156 3.1.4 Die Badeanstalt als hierarchisierter Sozialraum ...................................160 3.1.5 Badeärzte - Rolle und Funktion .........................................................167 3.1.6 Die Rolle des Kurgastes als Patient .....................................................187 3.1.7 Das Seebad in der ärztlichen Literatur ................................................190 3.1.8 Indikation und Therapie - Übersetzung von Körpervorstellungen in den Heilraum .................................................................................203 3.1.9 Geschlechterdifferenzen - Frauenkörper.............................................228 3.2 Der Ton der Kurgesellschaft - Etikette und gesellschaftliche Kurpraxis ............................................................................................240 3.2.1 Die Abkehr vom Alltag .......................................................................242 3.2.2 Vom guten Ton - Badegesellschaft als homogenisierte Geselligkeit ....244 3.2.3 Die Ausformung der Kurzeit im Tagesablauf......................................250 3.3 Badefreiheit ........................................................................................259 3.4 Vom Fischer zum Badediener - Transformation von Lebenswelten ...261 Zwischenresümee II.........................................................................................274 4 Formen der Verfügbarkeit ..................................................................275 4.1 Mobilität und Raumtransformation ...................................................275 4.1.1 Verkehrswege - Verkehrsmittel ..........................................................279 4.1.2 Dampfschifffahrt ................................................................................287 4.1.3 Eisenbahn ...........................................................................................291 4.2 Ökonomische Konzepte .....................................................................293 4.2.1 Fürstenbad, Fischerbad, Aktiengesellschaft .........................................298 4.2.2 Dauerhafte Finanzierung der Kuranlangen .........................................320 4.2.3 Auswirkungen auf die Wirtschaftsstruktur..........................................323 4.3 Konkurrenzmodelle ............................................................................325 4.3.1 Binnenkonkurrenz..............................................................................333 4.3.2 Die Etablierung schichtenspezifischer Bäder .......................................342 4.4 Herkunft und sozialen Stellung der Bäderbesucher.............................344 Zwischenresümee III .......................................................................................358 <?page no="8"?> Inhalt 7 5 Schluss - Ausblick ..............................................................................361 Archivalische Quellen ...................................................................................366 Literaturverzeichnis ......................................................................................368 Sekundärliteratur ................................................................................368 Zeitgenössische Literatur ....................................................................379 Karte der Ostseebäder...................................................................................388 Abbildungsverzeichnis ..................................................................................390 Personenverzeichnis ......................................................................................391 Ortsverzeichnis .............................................................................................393 <?page no="9"?> 8 Vorwort Die vorliegende Studie ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Juni 2014 von der Fakultät I - Geisteswissenschaften der Technischen Universtität Berlin unter dem Titel „Ostseeküste - Ostseebad. Zur Entwicklung der deutschen Ostseebäder zwischen mentaler Disposition und gesellschaftlichem Kontext“, angenommenen wurde. Mein herzlicher Dank gilt zunächst besonders meinem Doktorvater Heinz Reif, der stets geduldig motivierte und insistierte, sowie meinem Zweitgutachter Wolfgang Hofmann, für die aufmerksame und interessierte Begleitung dieser Arbeit. Daß dieses Buch nun erschienen ist, gelang nur mit der Unterstützung Vieler, denen ich hier pflichtgemäß und freudig meinen Dank abstatte. Auch wenn längst nicht alles mehr nachvollziehbar ist sei an dieser Stelle allen gedankt, deren Hilfe mir noch erinnerlich ist. Uneingeschränkt gilt dabei der erste Dank meinen Eltern, die noch weit vor Entstehen dieser Arbeit mir stets großmütig, geduldig und ohne Einschränkungen zur Seite standen. Den nötigen finanziellen Spielraum ermöglichte mir das Land Berlin mit der Gewährung eines Promotionsstipendiums (NaFöG), das die unentbehrliche Zeit und Muße brachte, um den Fragen zur Arbeit in Ruhe und mit manchen Zwischenstopps und Irrwegen nachgehen zu können. Für vielerlei praktische Ratschläge und Hinweise bin ich verbunden den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Archive; des Geheimen Staatsarchivs, Preußischer Kulturbesitz, Berlin, des Landesarchivs Greifswald, des Landeshauptarchivs Schwerin, des Stadtarchivs Rostock, des Staatsarchivs Stettin (Archiwum Państwowe w Szczecinie). Für die dankenswerte Anregung zum promovieren zeichnete Maren Ziese verantwortlich. Dafür, dieses Thema entdeckt und in den ersten Grundzügen entwickelt zu haben, darf ich mich bei Leon Hempel und Gunter Heinickel erkenntlich zeigen. Für gute Gespräche, Anregungen, Differenzen, Korrekturlesungen, Kürzung überbordender Abschnitte und Gedanken und anderweitige Unterstützung stehe ich in der Schuld von Albrecht Dröse, Mirjam Bonin, Ruth Jung, Rafael Klöber, Clara Rempe, Stefanie Roder und Jens Thiel. Im Besonderen sei aber Jan Brachmann und Sebastian Fuhrmann herzlich gedankt, dass sie über die Zeit des Entstehens dieser Arbeit wohlwollend aber genau <?page no="10"?> Vorwort 9 insistierten, wenn zuviel gewollt wurde, wenn sich sprachlich unklares häufte und es vonnöten schien, andere Blickwinkel in Betracht zu ziehen. Zu g ut er Letz t bote n mir S ebas tia n und F ried ric h Hil genf eld d ie unsc hät zb are und unvergessliche Gelegenheit, von Beginn dieser Arbeit an immer wieder eine unaufgeregte, dem Nachdenkenden wohlgesonnene zeitweilige Heimat in Friedrichsdorf bei Erfurt finden zu dürfen. Ohne die Lauterkeit dieses Ortes und die herzliche Aufnahme und Bewirtung wäre vieles nicht möglich gewesen! In der abschließenden Runde hat mich Uta Preimesser von der UVK- Verlagsgesellschaft stets freundlich und kompetent auf die letzte Etappe der Drucklegung geführt. Was jetzt noch an Unvollkommenheiten übrig geblieben ist, steht und bleibt ganz in meiner Verantwortung. Gewidmet ist dieses Buch meiner Frau Stefanie C. Bresgott, die mit Nachsicht, Genauigkeit und Geduld über die Jahre nicht nur die Entstehung der Arbeit befördert hat, sondern dem Autor ohne allzugroßes Murren immer wieder den nötigen Freiraum gewährt hat. <?page no="12"?> 11 1 Einleitung Am Beginn dieser Arbeit stand eine Studie zur Genese des Seebades Heringsdorf auf Usedom. 1 Im Zuge dieser Untersuchung stellte sich heraus, dass eine über das regionalhistorische Interesse hinausgehende Forschung zur Entwicklung der deutschen Seebäder bis dato nicht vorlag. Neben einigen wenigen Studien zur frühen Geschichte der Bäder waren bisher wissenschaftliche Arbeiten vor allem über das ausgehende 19. Jahrhundert zumeist sozialhistorischer Art entstanden, vielfach auch populär gehaltene Veröffentlichungen zur sogenannten Bäderarchitektur. Hinzu kam eine stetig wachsende Anzahl lokalhistorischer Studien engagierter Laien, die ihre Arbeiten häufig mit einer Fülle von Details angereichert haben, ohne die nachfolgenden Untersuchungen oft nur schwer möglich wären. In der Regel gehen diese Arbeiten aber nicht über eine beschreibende Darstellung hinaus. Wie stellt man sich also einem Phänomen, das zeitlich mindestens mit der ersten Seebadgründung 1793 in Heiligendamm zu fassen ist, dessen ideelle Vorläufer aber deutlich weiter zurückreichen? Und wie wird man der ganzen Breite der damit verbundenen Landschaftstypen mit ihren jeweiligen Eigenheiten geografischer, politischer und kultureller Art, die von der westlichen Ostseeküste Schleswigs bis weit in die ostpreußische Küstenregion reichen, gerecht? 2 An dieser Stelle sei kurz auf die verwendete Terminologie verwiesen: Es ist hier von den „deutschen“ Ostseebädern die Rede, obwohl dem Verfasser klar ist, dass es sich in staatsrechtlicher Hinsicht um einen Gegenstand handelt, der in den Zeitraum des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation und ab 1815 des Deutschen Bundes fällt. Zudem handelt es sich zumeist um Bäder im preußischen Königreich (in und außerhalb des Deutschen Bundes), um mecklenburgische Seebäder, aber auch um solche, die eine Zeit lang dem dänischen König unterstanden (Apenrade, Kiel). Dazu kommt für die frühe Phase die teilweise Eingliederung in Staatsgebilde nach Napoleonischem Recht (Danzig). Weiter kommt hinzu, dass in den östlichen Gebieten keine einheitlich deutsche Bevölkerung bestand, dazu wurden die Bäder auch u.a. von polnischen und russischen Gästen besucht, so dass hier von einem 1 Heringsdorf und seine historische Entstehung als eine Art „Vorort“ von Berlin waren Teil des Forschungsprojekts „Kontrasträume und Raumpartnerschaften“ des Zentrums Technik und Gesellschaft (GZT) der TU Berlin, an der der Autor mitwirkte. Veröffentlicht in: Hans-Liudger Dienel/ Hans-Peter Meier-Dallach/ Carolin Schröder (Hg.): Die neue Nähe. Raumpartnerschaften verbinden Kontrasträume, Stuttgart 2004. Die daraus resultierende Studie war die unveröffentlichte Magisterarbeit des Autors: Seebad Heringsdorf. Vom Idyll zum „Vorort Berlins“. 2 Zur besseren Orientierung für die Lage der einzelnen Ostseebäder ist am Ende dieser Publikation eine Karte der Ostseebäder angefügt (S. 388/ 389). <?page no="13"?> 1 Einleitung 12 transnationalen Phänomen gesprochen werden muss. Der Untersuchungsrahmen liegt also auf dem Ostseegebiet mit einer um 1800 mehrheitlich deutschsprachigen Bevöl keru ng. Wi e ab er s tell t m an s ich dem Phä nomen des See bades ? Zum einen wird hier das zeitlich fassbare Gründungsdatum des ersten deutschen Seebades Heiligendamm 1793 nicht als das die Epoche bestimmende Fanal zur Bädergründung betrachtet. Von Interesse erscheint vielmehr die mentale Disposition, in der und durch die auch die Ostseeküste in den Fokus der bildungsaffinen Eliten aus Adel und Bürgertum rückte. Damit verschiebt sich der Untersuchungszeitraum zurück bis ins 17./ 18. Jahrhundert, um sich anschließend bis zur Etablierung der Ostseebäder um die Mitte des 19. Jahrhunderts auszuweiten. Zum anderen geht es nicht um den Raum als geografischer Realie für die küstennahen Gemeinden, der in seiner jeweiligen speziellen Vorfindlichkeit zu beschreiben und zu analysieren wäre. Raum wird vielmehr in einer umfassenderen Form beschrieben als Objekt verschiedener Diskurse, als Referenz wechselnder Formen von Raumbeschreibung und Raumkonstruktion, deren Ergebnisse, die Anlage von Kurbauten und Wohnhäusern, bis heute das Bild der Ostseebäder bestimmen. Diesen Raum gilt es in seinen strukturellen Gegebenheiten und Fluktuationen zu analysieren. Dass die Seebäder aus heutiger Sicht eine Erfolgsgeschichte darstellen, ist unstrittig. In Zahlen ausgedrückt stellte das Statistische Bundesamt z.B. für die Gemeinde He ri ngsd orf f ür d as Jahr 2 011 f es t, da ss in di ese r kle inen G eme ind e mi t ca. 9 .0 00 Einwohnern 3 an der Usedomer Ostseeküste knapp 450.000 inländische Gäste weilten und Heringsdorf damit deutschlandweit Platz 20 der meistbesuchten Gemeinden einnahm. 4 Damit liegt Heringsdorf vor Städten wie Aachen, Trier, Potsdam, Würzburg oder der Insel Sylt. Heute hat die Ostseeküste Deutschlands eine Gesamtlänge von 2.582 Kilometern, der überwiegende Teil davon, nämlich 1.945 Kilometer, liegt in Mecklenburg- Vorpommern. 5 Damit ist eine weitere Eingrenzung des Themas für die vorliegende Untersuchung angezeigt: Sie beschränkt sich auf die Untersuchung der Ostseebäder, lässt also die nur wenig später gegründeten Nordseebäder, soweit sie das Thema nicht direkt tangieren, außen vor. Ziel ist es, die Ostseebäder aus dem Verständnis 3 Vgl. Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern (Hg.): Bevölkerungsentwicklung der Kreise und Gemeinden 2012, Schwerin 2013. 4 Vgl. Statistisches Bundesamt, Tourismus in Zahlen 2011, Wiesbaden 2012, S. 103 („Rangliste der Gemeinden bei Ankünften nach Wohnsitz der Gäste in Beherbergungsbetrieben 2011“). In der „Rangliste der Gemeinden bei Übernachtungen“ in der Kategorie inländische Gäste liegt Heringsdorf deutschlandweit auf Platz zehn, gefolgt von Stuttgart und dicht dahinter von den Ostseebädern Binz auf Rügen und Kühlungsborn bei Rostock. Ebd., S. 105. 5 Vgl. Ministerium für Landwirtschaft, Regelwerk, S. 15. <?page no="14"?> 1 Einleitung 13 der vorgegebenen Befindlichkeiten und der handelnden Akteure heraus zu begreifen und zu analysieren. Vergleichende Studien mit Nordsee- und Binnenbädern bleiben wei te re n For sch un ge n vo rb eha lte n. Aus dieser Gemengelage stellte sich die Aufgabe, den Blick von der Einzeluntersuchung auf den Komplex der Seebäder zu weiten, sowie, bei aller notwendigen Referenz auf einzelne und einzigartige Phänomene und trotz des zu verhandelnden Zeitrahmens von über 150 Jahren, so etwas wie eine Diskursgeschichte des Raumes der deutschen Seebäder zu skizzieren. Diese Skizze soll in folgender dreigeteilter Untersuchung entfaltet werden. Die Arbeit beginnt mit der Frage nach der mentalen Aneignung der Küstenregion. Hier liegt nach der Einschätzung des Autors der Schlüssel für die im späten 18. Jahrhundert einsetzende und sich im frühen 19. Jahrhundert rasant ausbreitende Gründungswelle von Ostseebädern. Diese war von den Zeitgenossen in eben jenem Umfang keineswegs erwartet worden und hing in ihrer Umsetzung von einer Vielzahl von Faktoren politischer, gesellschaftlicher und technischer Natur ab, die kaum abzusehen waren. Damit stellt sich die Kernfrage, warum Adel und Bürgertum sich nicht mehr (allein) im klassischen arkadischen Süden als Sehnsuchtsziel wiederfanden, sondern hoffnungsvoll die wilden, kalten Strände des nördlichen Raumes aufsuchten. Was bewegte den Mecklenburgischen Herzog und vor allem die bürgerliche Klientel, die nicht aus der Küstenregion stammte, dazu, Zeit und Geld zu investieren, um sich einer spärlich besiedelten Region mit zunächst sehr schlicht eingerichteten Bädern zuzuwenden? Welche Motivation stand hinter dem Verlangen, sich nach mühsamer Anreise in einer strandnahen, unbequemen Fischerkate unterbringen zu lassen um anschließend im kalten Seewasser zu baden? Wer sind die Akteure, wie wird der Raum für sie und durch sie popularisiert? Nicht zuletzt: Welche räumlichen Eigenschaften sind die notwendigen Versatzstücke, aus denen sich ein Wunschtraum an der Küste schließlich in idyllischen Bauten eindrücklich manifestiert? Was mit der mentalen Annäherung an die nördlichen Küsten im 17./ 18. Jahrhundert begann, endete zeitlich gleichfalls nicht mit einem festen Datum. Insgesamt umfasst diese Arbeit den Zeitraum bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, einem Zeitpunkt, an dem das neue Phänomen der Seebädergründungen soweit etabliert war, dass die später noch hinzutretenden Bäder zwischen den inzwischen existierenden Modellen der frühen Seebäder wählen konnten. Neben der Frage nach der mentalen Aneignung wird hier der praktischen Raumaneignung nachgegangen, die in der später ausführlicher dargestellten These einer „Medikalisierung des Raumes“ folgt. Zentral dafür ist m.E. der von Ärzten aus medizinischer Sicht konstruierte Raum des Seebades, der in seiner Vorstellung von <?page no="15"?> 1 Einleitung 14 Körpern und Genesungsprozessen den zeitgenössischen, aufklärerisch geprägten Vorstellungen folgt und damit einem explizit bürgerlichen Gesellschaftsideal, das sich ni cht in der Na chf olge höfisc h-ade lige r Kurb äder d es Bin nenla nde s begi bt. Und schließlich stellt die technische Aneignung und Verfügbarkeit, wie sie mit der Industrialisierung erst das 19. Jahrhundert zur Verfügung stellte, den Rahmen bereit, der die ungeahnte Expansion der Seebäderkultur ermöglichte. Dampfschiff und Eisenbahn erschlossen die Küste für das Binnenland, aus dem eine unerwartete Menge an Besuchern anreisen konnte und es so vielen Küstenorte erst ermöglichte, sich als Seebad zu etablieren, solange man mit einem guten Konzept und in wachsender Konkurrenz zu den anderen Bädern ausreichend Gäste anziehen konnte. Forschungsstand Die historische Forschung zur Geschichte der deutschen Seebäder hat erst in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen. Lange Zeit galt (und gilt in Teilen bis heute) das Diktum von Christian Tilitzki und Bärbel Glodzey aus dem Jahr 1984: „Die Entwicklung von Wirtschafts- und Sozialstruktur, Rechtsformen, Verwaltung, Medizinalwesen und Architektur in den Badeorten ist weiter Desiderat der Forschung.“ 6 Auch Olga Kurilo konstatierte noch 2009 in dem von ihr herausgegebenen Band „Seebäder an der Ostsee im 19. und 20. Jahrhundert“: „Die Ostseebäder, besonders in Osteuropa, waren bisher ein wenig beachteter Forschungsgegenstand. Sie waren in der Vergangenheit und bleiben in der Gegenwart oft ein Thema touristischer und populärer Betrachtungen.“ 7 Dementsprechend blüht bis heute die populäre und populärwissenschaftliche Literatur zu den Bädern, 8 vor allem lokalhistorische Studien. Seit den 1990er Jahren erschien dazu unter kunsthistorischem Blickwinkel eine Fülle von Arbeiten, deren Akzent auf der sogenannten Bäderarchitektur liegt. 9 Daneben gibt es eine große Anzahl an Veröffentlichungen aus kulturhistorischer und medizinischer Perspektive, 6 Tilitzki/ Glodzey: Die deutschen Ostseebäder im 19. Jahrhundert, S. 515. 7 Kurilow, Ostseebäder, S. 7. 8 Vgl. etwa Horst Prignitz: Vom Badekarren zum Strandkorb, Leipzig 1977; ders.: Wasserkur und Badelust, Leipzig 1986. In jüngerer Zeit z.B. die unter dem Untertitel „Die Entwicklung eines Badeortes“ bisher auf acht Einzelveröffentlichungen angewachsene Reihe des Rhino-Verlages zu Ostseebädern. 9 So z.B. Barbara Finke: Villen in den Kaiserbädern auf Usedom, Berlin 2012. Reno Stutz/ Thomas Grundner: Bäderarchitektur in Mecklenburg-Vorpommern, Rostock 2004. Dietrich Gildenhaar/ Volker Schrader: Ostseebäder auf der Insel Usedom. Geschichte und Architektur, Greifswald 2008. <?page no="16"?> Forschungsstand 15 etwa zur Thalassotherapie. 10 Auch für populäre Magazine ist die Ostsee wieder ein Thema geworden. 11 Das weite Feld der Badekultur der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ist in den letzten Jahren in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen bearbeitet worden. 12 Ein weiterer Bereich, in dem die Seebäder ein zunehmend wichtiger Untersuchungsbestandteil sind, ist die Tourismus- und Freizeitforschung. 13 Immer noch herausragend in ihrer mentalitätsgeschichtlichen Herangehensweise ist die Arbeit des französischen Historikers Alain Corbin zur Entdeckung der Küste. 14 Vor allem aus sozialhistorischer Sicht liegen für den englischsprachigen Raum bereits seit längerer Zeit umfangreiche Studien vor. Maßgeblich sind hier noch immer die Arbeiten John Waltons. 15 Dazu gesellten sich in den letzten Jahren einzelne Studien zu ökonomischen und sozialen Faktoren des englischen Badewesens. 16 10 Als frühes Beispiel einer an technischen Entwicklungen des Badewesens interessierten positivistisch gehaltenen Publikation siehe Alfred Martin: Deutsches Badewesen in vergangenen Tagen, Jena 1906; Siegbert Rummler: Medizinhistorische Aspekte der Spezialisierung in der akademischen Medizin des 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Einführung der Thalassotherapie in Brandenburg-Preußen durch Friedrich Wilhelm von Halem (1762-1835), Köln 2008; Angela Schuh: Klima- und Thalassotherapie: Grundlagen und Praxis, Stuttgart 2004. 11 So z.B. das GEO-Special „Deutsche Ostsee“, Nr. 2, 2004; Travelmag-Das Reisemagazin: „Deutsche Ostseeküste“, 2008. 12 Vgl. Birgit Studt: Baden zwischen Lust und Therapie. Das Interesse von Frauen an Bädern und Badereisen in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Sylvelyn Hähner-Rombach (Hg.): „Ohne Wasser ist kein Heil“. Medizinische und kulturelle Aspekte der Nutzung von Wasser, Stuttgart 2005, S. 93- 118. Mit umfangreichen Literaturangaben dazu auch Michael Matheus (Hg.): Badeorte und Bäderreisen in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Stuttgart 2001; Ute Lotz-Heumann: Kurorte im Reich des 18. Jahrhunderts - ein Typus urbanen Lebens und Laboratorium der bürgerlichen Gesellschaft: Eine Problemskizze. In: Raingard Eßer/ Thomas Fuchs (Hg.): Bäder und Kuren in der Aufklärung - Medizinaldiskurs und Freizeitvergnügen, Berlin 2003, S. 15-36. 13 Vgl. dazu u.a. Christoph Hennig: Der Wunsch nach Verwandlung. Mythen des Tourismus, Karlsruhe 2001. Rüdiger Hachtmann: Tourismusgeschichte, Göttingen 2007. Hasso Spode: Wie die Deutschen Reiseweltmeister wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte, Erfurt 2003. Hasso Spode ist auch Mitherausgeber der seit 1997 erscheinenden Zeitschrift „Voyage: Jahrbuch für Reise-und Tourismusforschung“, in der regelmäßig Beiträge zur Tourismusgeschichte erscheinen. Zur Reiseforschung vgl. Michael Maurer (Hg.): Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999. Zur soziologischen Freizeitforschung vgl. u.a. Hans-Werner Prahl: Soziologie der Freizeit, Paderborn 2002. 14 Alain Corbin: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste („Le territoire du vide. L'Occident et le plaisir du rivage 1750-1840“, Paris 1988), Berlin 1990. 15 John Walton: Resorts and Ports: European Seaside Towns since 1700 (hg. mit Peter Borsay), Bristol 2011; ders: The British Seaside: Holidays and Resorts in the Twenthieth Century, Manchester 2000; ders.: The English Seaside Resort. A Social History 1750-1914, New York 1983. 16 So Roy Porter (Hg.): The Medical History of Waters and Spas, London 1990; Phyllis Hembry: British Spas from 1815 to the Present. A Social History, Cranburry 1997. <?page no="17"?> 1 Einleitung 16 In der neuesten deutschen Forschung zu den Seebädern sind vor allem die Arbeiten Wiebke Kolbes zu nennen, deren Schwerpunkt auf der Körper- und Geschlechterg esch icht e lieg t. 17 Konstatieren lässt sich zudem, dass sich die bisherige Forschung vor allem auf die Zeit ab der Gründung des Deutschen Reiches konzentriert hat, quellengestützte Untersuchungen zur frühen Seebädergeschichte aber weiterhin ein Desiderat sind. Quellenlage Von einer Forschungslücke bei der Erforschung der frühen Seebäder zu sprechen heißt auch, über die Quellenlage Auskunft zu geben. Amtliche Dokumente, etwa zur Errichtung von Seebadeanlagen, oder über Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse, zur Finanzierung sowie über die Beteiligung verschiedener Akteure, sind nur spärlich überliefert. Bis auf die herrschaftliche Gründung von Heiligendamm, sowie zum Teil die Überlieferung für Warnemünde als Teil der Hansestadt Rostock, sind nur wenige Akten aus dem frühen 19. Jahrhundert verfügbar. Das hat mehrere Ursachen, wie schon der Verfasser von stadthistorischen Arbeiten zu Swinemünde Robert Burkhardt dem Heringsdorfer Pfarrer Hartwig mitteilte: „Leider läßt sich von den kleinen Orten, zumal wenn sie nach 1808 entstanden sind, recht wenig Material auftreiben. Auf dem Staatsarchiv kaum; denn zu jener Zeit - seit 1808 - wurden die Verhältnisse der kleinen Orte schon durch die Landräte erledigt, und gelangten gar nicht mehr, wie früher, zur Regierung bezw. zur Kriegs- und Domänenkammer. Auch auf dem Landratsamte war nichts zu holen; aus dem alten Archiv der Gemeinde Heringsdorf auch nichts Besonderes. Aus den kirchlichen Akten schon mehr wie aus der Pfarrchronik, die, was gerade die ältere Zeit betrifft, mein Vorgänger, der 1924 in Demmin als Superintendent verstorbene Pastor Berg angelegt hat und aus der ich vieles wörtliche bringe, teils von diesem, teils von mir verfaßt. Der als zuverlässiger Sachverständiger in den geschichtlichen Belangen unserer Insel durchaus zuständige Rektor Burkhardt bemerkt zu dem oben Gesagten, und meine Nachfrage in Stettin hat es bestätigt: ,Von Heringsdorf wird auch deshalb nichts oder äußerst wenig im 17 Wiebke Kolbe: Strandurlaub als liminoider (Erfahrungs-)Raum der Moderne? Deutsche Seebäder im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Hans-Jörg Gilomen/ Beatrice Schumacher/ Laurent Tissot (Hg.): Freizeit und Vergnügen vom 14. bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2005, S. 187-199; dies.: Körpergeschichte(n) am Strand. Bürgerliches Seebaden im langen 19. Jahrhundert. In: dies./ Christian Noack/ Hasso Spode (Hg.): Voyage. Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung. Bd. 8., München/ Wien 2009, S. 23-34; dies.: Deutsche Ostseebäder um 1900. Bäderregionen von Nordschleswig bis zur Kurischen Nehrung im Vergleich. In: Olga Kurilo (Hg.): Seebäder an der Ostsee im 19. und 20. Jahrhundert, München 2009, S. 15-31. <?page no="18"?> Quellenlage 17 Staatsarchiv sein, weil der Grund und Boden Privatbesitz war; an den alten ,Amtsdörfern' hatte der Staat mehr Interesse'.“ 18 Weitere Erläuterungen zu den Umständen der Überlieferung finden sich im Vorwort zum Bestand Saßnitz des Landesarchivs Greifswald: „Über die Vollständigkeit des Bestandes können wir nichts aussagen. Da aber der Umfang bei den älteren Akten sehr gering ist, muß angenommen werden, daß Kassationen durchgeführt wurden. Diese sind leider nicht nachweisbar. […] Aus der Zeit von 1867 bis 1915 sind allerdings nur Einzelstücke vorhanden.“ 19 Zu den nicht in die Archive gelangten Akten oder dort erfolgten Kassationen gesellen sich noch die zahlreichen Kriegsverluste, von denen die östlich gelegenen Orte besonders betroffen waren. Dies zwingt dazu, sich noch mehr den trotz aller Widrigkeiten überlieferten Beständen zuzuwenden, vor allem im Landeshauptarchiv Schwerin, dem Landesarchiv Greifswald, dem Stadtarchiv Rostock und dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem. Hier sind es dementsprechend die Akten der staatlichen Stellen, die zum Gegenstand der Seebadgründungen und deren Verwaltung respektive Förderung wichtige und bisher kaum erschlossene Erkenntnisse vermitteln. Dazu kommen die Bestände in den polnischen Archiven, vor allem im Staatsarchiv Stettin, die allerdings unter den gleich schlechten Vorzeichen für die Frühzeit der Bäder nur eine schmale Überlieferung vorweisen können. Auch hier sind es vor allem die Seebäder, die sich an die großen Seestädte anlehnen, wie etwa Kolberg, zu denen sich Quellenmaterial findet. 20 Aus dieser überschaubaren Überlieferung resultiert auch die zweite wichtige und bisher kaum rezipierte Quellengattung, auf die in dieser Arbeit zurückgegriffen wird; die publizierten Schriften der Badeärzte. Diesen Quellentyp als zweitrangig zu betrachten und hinter die Verwaltungsüberlieferung als Notbehelf zu stellen, wäre jedoch unangemessen. Es lässt sich in ihnen einiges entdecken, was in anderer Überlieferung fehlt. Stärker als anderswo erlebt man in den Ärzteschriften die wichtigsten Akteure der Seebadgründungen in ihrem ureigenen Feld; hier propagieren sie ihr Anliegen, buhlen, in Konkurrenz stehend zu den anderen Bädern und deren Ärzten, um ihre Badeklientel und die Anerkennung der Seebäder als Heilorte. Als Initiatoren, Finanziers und wichtige lokale Akteure beim Ausbau der Bäder sind ihre Schrif- 18 Hartwig, Heringsdorf, S. 20. 19 LA Greifswald, Bestand Rep. 38b, Saßnitz, Vorwort von Franz Scherer und Ute Kleinfeld, 1.9.1982. 20 Splitterbestände oder einzelne Akten zu Seebädern sind freilich auch in in Olsztyn (Allenstein), Gdansk (Danzig) und Koszalin (Köslin) zu finden. In den meisten Fällen beginnt die Laufzeit der Akten auch hier erst ab dem späten 19. Jahrhundert. <?page no="19"?> 1 Einleitung 18 ten von herausragender Bedeutung, um die Entstehungsphase der Bäder nachvollziehen zu können. Im Diskurs der Ärzte finden sich die entscheidenden Antworten auf d ie Fr age n rund u m di e Etab lie ru ng der Se ebä de r als K ur ort e eig en en Typ s, um die Frage der Medikalisierung, um soziale Verhaltensnormen am Strand, um die professionelle Entwicklung von Heil- und Lustorten. Mit dieser Quelle liegt ein Schwerpunkt dieser Arbeit auf der Frage, welche Rolle die Ärzte als Pioniere der Raumbeschreibung und als zentrale Akteure der sozialen Formung der Bäder spielten und wie ihr Versuch, die Seebäder zu einem medizinisch überformten Heilraum zu entwickeln, gelang oder inwiefern sie damit scheiterten. Schließlich werden neben den genannten Quellen für diese Arbeit auch Zeugnisse der zeitgenössischen Kommunikation, Briefe und Reiseberichte, herangezogen. Methode und Aufbau Ziel der hier vorliegenden Arbeit ist es, den Fragen nach dem Entstehungszusammenhang und den ersten Entwicklungsschritten der Ostseebäder nachzugehen. Dabei ist die Untersuchung in drei zentrale Bereiche - Kapitel - gegliedert, mit dem Ziel, allgemeine strukturelle Ähnlichkeiten dieser Entwicklung zu verfolgen und spezifische Einzelfragen, die als besonders wichtig erschienen, hervorzuheben. Andere Aspekte blieben dabei notwendig unterbelichtet. Das Thema der Ostseebäder lässt sich aus verschiedenen Perspektiven näher betrachten. 21 Am schlüssigsten für den zeitlichen und räumlichen Rahmen dieser Arbeit erschien schließlich die Anlehnung an den aus dem sogenannten spatial turn oder auch topographical turn 22 der 1980er Jahre hervorgegangenen Begriff der Raumsoziologie. Kern dieses Ansatzes ist das (wieder)gewonnene Bewusstsein, dass sich eine auf die zeitliche Fortentwicklung historischer Ereignisse beschränkte Forschung der Möglichkeit beraubt, gleichzeitig und nebeneinander im Raum stattfindende Phänomene zu analysieren. Nach Martina Löw ist Raum „eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten“ 23 . Für den Raum der Seebäder umfasst das die Konstruktion mentaler Dispositionen als Grundlage veränderter Raumwahrneh- 21 Nach Jürgen Kocka sind Theorien „explizite und konsistente Begriffs- und Kategoriensysteme, die der Erschließung und Erklärung von bestimmten historischen Phänomenen und Quellen dienen, aber nicht hinreichend aus den Quellen abgeleitet werden können.“ (Jürgen Kocka: Theorien in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte. Vorschläge zur historischen Schichtungsanalyse. In: Geschichte und Gesellschaft 1/ 1975, S. 9-41, hier S. 9). 22 Vgl. dazu, mit Bezug auf Sigrid Weigel, Jörg Dünne, Raumtheorie, S. 22. 23 Löw, Raumsoziologie, S. 224. <?page no="20"?> Methode und Aufbau 19 mung, die Etablierung von Gütern an den geografisch platzierten Orten und die Gestaltung und Einflussnahme der handelnden Akteure. Orte bezeichnen nach Löw „e inen P lat z, e in e Ste lle , ko nk ret b ene nnb ar, m ei st geog raph isch m ar ki er t “. 24 Aus den relationalen Beziehungen zwischen dem konkreten geografischen Raum, den auf ihm platzierten Gütern, auch symbolischer Art, und dem Handeln der Akteure entsteht ein eigener Raum. Dieser lässt sich symbolisch und kulturell verstehen und deuten, basiert jedoch auf den physischen Gegebenheiten, mit und in denen Menschen leben. Raumanalyse heißt darum auch, „immer das materielle Substrat erklären zu müssen“. 25 Darum steht am Beginn dieser Arbeit die Frage nach der geologischen Struktur des Küstenraumes, seines im besonderen Maße durch natürliche Prozesse beeinflussten Charakters. Diese materialen Substrate wie Sand, Meer und Wind prägen durch ihre das Land unmittelbar verändernden Eigenschaften nicht nur den natürlichen Raum, sondern damit einhergehend zugleich die Möglichkeiten der kulturellen Überformung und symbolischen Überschreibung der Landschaft. Landschaft sei dabei verstanden „nicht einfach [als] eine Wahrnehmung der Erdoberfläche, sondern [als] ein geistiger Akt, in dem mit Hilfe von Naturbeobachtung, Selbstreflexion und Stimmung der wahrgenommene Teil zum Abbild der ganzen Natur umgebaut und erlebt wird“. 26 Gleichwohl beinhaltet die Raumanalyse sozialhistorische Fragen, wendet sich der Mentalitätsgeschichte zu und verwendet, wie auch hier geschehen, tourismus- und verkehrshistorische Ansätze. 27 Daraus abgeleitet lässt sich in einem ersten Zugang fragen, warum der Küstenraum eines nördlichen Meeres, der Ostsee, im 18. Jahrhundert überhaupt das Interesse der Zeitgenossen geweckt hat. Schließlich war die Besiedlung der Küstenregion spärlich, ein Anreiz, an der rauen nördlichen Küste zu flanieren und zu baden, bestand ganz offensichtlich nicht. Diesem Komplex gehe ich in Kapitel 2.2 nach und verstärkt in Kapitel 2.3, um die Frage nach der Konsolidierung der Begehrlichkeiten und neuen Zuschreibungen des Küstenraumes durch die populäre Literatur des späten 18. Jahrhunderts beantworten zu können. Wie beim modernen Tourismus waren es die sogenannten Reisepioniere, die eine Gegend erkundeten, ihre Eigen- 24 Löw, Raumsoziologie, S. 224. 25 Löw, Raumsoziologie, S. 55. 26 Eberle, Individuum, S. 9. 27 „Die Vielfalt der Konzepte ist nicht als Manko, sondern als Chance zu sehen. Generell gilt: Wer sich dem Theorien- und Methodenpluralismus verschreibt, dem fällt es leichter, den Menschen in seiner Totalität in den Blick zu bekommen, das Beziehungsnetz, in das er eingebunden ist, aufzudecken und so mögliche Handlungsspielräume auszuloten. Gleichwohl ist es sinnvoll, hierbei einige Wegmarkierungen zu beachten.“ Spode, Prolegomena, S. 112. <?page no="21"?> 1 Einleitung 20 schaften in einen neuen Kodex fassten und als Vermittler den Raum popularisierten. Im Falle der Ostseeküste war es die Insel Rügen, die über prominente Intellektuelle wie Lud wig The obul K ose gar ten ( 1758 -1 81 8) oder W ilhe lm von H umb oldt ( 17 67- 1835) in das Bewusstsein einer breiteren gebildeten Öffentlichkeit rückte, nachdem jene das Bild der verwunschenen, wilden, deutschen Insel in die Salons und Stuben getragen hatten. Nicht zuletzt die bildende Kunst, allen voran die romantische Malerei und hier in besonderer Weise Caspar David Friedrich (1774-1840), transportierte eine der neuen Weltsichten in Gestalt der vorpommerschen Insel in die Künstlerkreise ihrer Zeit und bis in die Salons preußischer und russischer Königshäuser. Erhabene Küstenschluchten, funkelndes Meer am Rand der großen Kreidefelsenformationen wurden zum Spiegelbild nationaler Fragen und machten die Verknüpfung von gesellschaftlichen Entwicklungen und dem neuen Bild der wilden Küstenlandschaft begreiflich. Es taucht hier noch einmal die religiös überformte Vorstellung eines Heilsraumes auf, in der die Landschaft metaphysisch überhöht als quasi sakraler Ort vorgestellt wird. Im Anschluss an diese Beschreibung der mentalen Annäherung an die wilde Natur der Küste verhandelt das 3. Kapitel, das längste und Schlüsselkapitel des Buches, deren Inbesitznahme und Überschreibung im Sinne einer sozialen Aneignung des Raumes. Hier liegt der Schlüssel zur Wahrnehmungswelt, wie sie noch heute unser Bild von der Ostseeküste und ihren Seebädern prägt. Dabei folge ich in der Arbeit der These der „Medikalisierung des Raumes“, in diesem Falle derjenigen des Küstenraumes der deutschen Ostseeküste. 28 Was ist damit gemeint? In der Annäherung an den Kosmos einer nördlichen Landschaft und ihrer Umdeutung zum Quell einer vitalen Lebensenergie 29 entfaltet sich der Gedanke einer den Menschen vitalisierenden Lebensenergie. Diese explizit an den Raum gebundene Konzeption wird, so die These, von den handelnden Badeärzten übernommen, umgeformt und weiter ausgebaut. Aus dem Heilsraum wird der Heilraum. Die Küste wird definiert als Zwischenraum von Meer und Land, in dem der Versuch unternommen wird, relativ eigenständige soziale Strukturen zu etablieren, die wiederum eng mit dem medizinischen Verständnis des Raumes korrespondieren und die sich bis in die materiellen Güter, also die Bauten und Gerätschaften des Badebetriebes, hin ausweiten. Die Küste, den Strand zu betreten heißt damit, sich aus dem Alltag abzulösen und sich der Kontrolle eines im medizinischen Diskurs entstandenen Raumkonzeptes zu überantworten. Selbstdisziplinierung und Vorgaben der Ärzte gehen dabei Hand in Hand, durchdringen jedoch nicht alle Prozesse 28 Zum Begriff der Medikalisierung vgl. v.a. Loetz, Medikalisierung, S. 43ff.; Eckart/ Jütte, Medizingeschichte, S. 312ff. 29 Vgl. dazu Kap. 2.2 und 2.3. <?page no="22"?> Methode und Aufbau 21 und bleiben seitens der Badegäste auch nicht unwidersprochen, was zum permanenten Austarieren dieses Raumkonzeptes führt. Nicht zuletzt zeichnet sich hier eine Pr ofe ssi on al isi er ung sge sc hi cht e ab, i nd em a kad em isc h ge sc hul te Ärz te a uf ein em neuen Tätigkeitsfeld agieren und dort versuchen, mit dem Rückhalt des Staates die ihrer Profession entsprechenden Standards zu etablieren. 30 Die Rolle der Ärzte lässt sich dabei durchaus nicht eindeutig beschreiben. Sie bleiben zum einen eingebunden in staatliche Medikalisierungsbestrebungen, zum anderen können sie in der Schaffung eines relativ libertären Verhaltenskodexes im Seebad tendenziell freier agieren, als es etwa zunehmend in stationären Krankenhäusern der Fall war. Diese ungefestigte Position zeigt sich auch in der medizinischen Praxis. Man bleibt einerseits der medizinischen Praxis des frühen 18. Jahrhunderts treu, die sich nach sich widersprechenden theoretischen Axiomen ausrichtet, dabei aber letztlich enttäuschend wirkungslos bleibt. Auf der anderen Seite greifen moderne Methoden der aufklärerischen Medizin immer stärker um sich, die zunehmend auf technische Instrumente zur Messung von Zuständen, Temperaturen, chemischen Zusammensetzung etc. setzen und damit die Grundlagen evidenzbasierter Medizin schaffen. Mit den Badeärzten, das soll in dieser Arbeit gezeigt werden, etabliert sich am Strand eine Berufsgruppe, die aus einer standesmäßigen und gesellschaftlichkrisenhaften Suchbewegung heraus versucht, eine neue Legitimität auch in der Schaffung neuer Räume zu erreichen. Diese auf medizinischen Diskursen sich gründende Etablierung eines neuen Raumkonzeptes an der Küste lässt sich also auch als Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses um 1800 lesen, in dem sich die Unsicherheit zunehmend verlustig gegangener Weltgewissheiten paart mit neuen Konzepten, deren Vorstellungen und Methoden aber weder allgemein anerkannt waren noch in ihren Ergebnissen im Hinblick auf die medizinische Praxis zunächst befriedigen konnten. Dabei werden neben dem eigentlichen Badevorgang auch abseits dieser Landschaft eingeübte Verhaltensweisen wie der Spaziergang und das Promenieren in diesen aus medizinischer Perspektive beschriebenen Raum integriert. Die Entstehung der deutschen Ostseebäder ist damit ganz wesentlich eingebunden in den Prozess einer kulturellen Überformung der Küstenlandschaft. Gerade der an der Wasserscheide sich manifestierende Grenzcharakter verstärkt den Eindruck eines abgrenzbaren Raumes, der sich nur unwesentlich über den direkten Strandraum ausdehnt und sein Zentrum auf wenigen Metern diesseits und jenseits der Wasserscheide hat. 30 Vgl. zu Professionalisierungmerkmalen der deutschen Ärzteschaft Huerkamp, Ärzteschaft, S. 359. <?page no="23"?> 1 Einleitung 22 Bis heute bildet der Küstenraum für die zahlreichen Besucher einen herausgehobenen Ort, der mit seinen gleichbleibenden, gezeitenfreien - dies im Unterschied zur N or ds ee - b eso nd er en s in nli ch en R eiz en n och i mme r wi e se lb stv ers tä ndl ich auch als Heilraum angenommen wird, selbst, wenn das auf den entspannenden Horizontblick vom Strand aus beschränkt ist. Bis in die Architektur hinein bleibt der Küstenraum nicht nur Kontrastraum zum urbanen Raum, er behält den Charakter eines Sehnsuchtsraumes, eine sinnlich zu erlebenden Horizonterweiterung. Wie sich soziale Strukturen im Alltag der Seebäder manifestierten, wie Geschlechterrollen definiert wurden und wie dies binnen weniger Jahrzehnte in besonderem Maße für die alteingesessenen Bewohner einschneidende soziale, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen mit sich brachte, lenkt den Blick auf die Folgen der Seebädergründungen, was Gegenstand der Kapitel 3.2 bis 3.4 ist. Schließlich steht die Geschichte der Ostseebäder in enger Verbindung zu den gesellschaftlichen und damit einhergehend den technischen Veränderungen des 19. Jahrhunderts. Mobilität und eine sich entfaltende moderne Wirtschaft beeinflussten und prägten die Bäderentwicklung, was eine Fülle von Neugründungen nach sich zog und damit den Blick schließlich noch einmal auf die Frage lenkt, wie sich innerhalb der konkurrierenden Ostseebäder eine Ausdifferenzierung fortschreibt. Daraus resultiert die abschließende Betrachtung, mit welchen Größenordnungen wir es eigentlich bei den Besuchern zu tun haben. Diesen Fragen wird in den Kapiteln 4.1 bis 4.4 nachgegangen. Im abschließenden Teil (5) werden die Untersuchungsergebnisse dieser Studie gebündelt und im Hinblick auf folgende Fragestellungen konkretisiert: Welche Entwicklung haben die Seebäder genommen? Wie spiegelten sich in ihnen gesellschaftliche Entwicklungen und Konstruktionen? Wurden die Ostseebäder ans Meer verlagerte Vororte? Suburbia am Ostseestrand? Eine Nachbemerkung zum Aufbau der vorliegenden Arbeite. Ähnlich dem Ideal einer wilden Landschaft, die im Kontrast zum harmonischen Landschaftsideal mit dem späten 18. Jahrhundert an Raum gewinnt, die nicht von Gleichklang und idealen Verhältnissen, vielmehr von zum Teil schroffen Gegensätzen und Bedeutungsdiskrepanzen lebt, sind in dieser Arbeit die Kapitel weniger gleichförmig angelegt, sondern folgen frei den Interessensschwerpunkten des Autors. So sind die beiden Hauptkapitel zur mentalen Vorgeschichte sowie vor allem das Kapitel zur Gründungsphase umfangreicher und quellenmäßig tiefer erschlossen als das abschließende Kapitel zur Verfügbarkeit. 31 Mit dem vor allem geistesgeschichtlichen Zugriff im 31 Dieses letzte Kapitel erschien mir für das Verständnis des Phänomens Ostseebad unabdingbar, auf eine umfangreiche Ausarbeitung wurde hier aber verzichtet zugunsten der beiden schwerpunktmäßig erarbeiteten Komplexe und im Interesse eines angemessenen Gesamtumfangs; zudem liegt zum <?page no="24"?> Methode und Aufbau 23 ersten Kapitel und dem vorrangig sozialgeschichtlichen Zugang zum zweiten Kapitel sind zudem zwei ähnliche, aber doch spezifisch eigene Werkzeuge benutzt worden, um di e in te re ss ele ite nd en Fra ge n be an tw o rte n zu kön ne n. Thema des letzten Kapitels eine umfangreiche Literatur vor, wenn diese auch nicht raumspezifisch orientiert ist. <?page no="26"?> 25 2 Präformation - Voraussetzungen Bei der Frage nach der Beziehung zwischen Raum und Mensch sind es eben diese beiden Konstanten, die in ihren Eigentümlichkeiten als einerseits geografisch gegebene und andererseits gesellschaftlich strukturierte die Vorstellung des Menschen von Räumen definieren. Das heißt, die realen oder vermuteten geografischen Strukturen und die sozialen Gegebenheiten einer Gesellschaft beschreiben einen Raum, noch ehe er tatsächlich, das heißt sinnlich, erfahren sein muss. Bei der Frage nach dem Entstehungsprozess der Ostseebäder ist daher die erste Frage, wie spezifische räumliche Strukturen und die mentale Aneignung eines Raumes diesen in der Wahrnehmung soweit neu beschreiben können, dass er, wie am Beispiel der Ostsee zu sehen sein wird, negative Raumbeschreibungen umzuformen in der Lage ist. Welche Prozesse es sind, die es verschiedenen sozialen Gruppen ermöglichen, sich Räume als Identifikationsmedium anzueignen und auf welcher materialen Basis das erfolgt, ist Inhalt des folgenden Kapitels. 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster Eine Landschaft wie die Ostseeküste hat ihre natürliche, physische Geschichte, wie die menschliche Deutung und Beschreibung dieser Landschaft eine historisch jeweils eigene ist. Dabei ist diese Konstruktion des Raumgedankens zurückverwiesen auf die materiellen Gegebenheiten, die grundlegend sind für die Analyse dieses Raumes. Erst mit dem 18. Jahrhundert erfuhr die ganze Breite der deutschen Ostseeküste - abseits der alten Handelszentren der Küstenstädte - in der deutschen Öffentlichkeit ein ungeahntes Interesse. Das unberechenbare, dem Menschen in seiner dem Land zugewandten Existenz feindlich gegenüberstehende Meer, ist seit Menschengedenken immer auch Ort schrecklicher, lebensbedrohender Ereignisse gewesen: „Die frühesten Stimmen der Menschheit sprechen mit Schauder und Entsetzen vom Meer.“ 32 Eine ehemals im besten Falle als uninteressant, eher noch als abweisend und bedrohlich wahrgenommene Landschaft, ein nach Norden ins nackte Meer gerichteter Küstenstreifen, verlor langsam die ihm zugeschriebenen negativen Attribute. 32 Richter, Meer, S. 11. <?page no="27"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 26 Bevor in einem fulminanten Transformationsprozess der Küstenraum zu einem Sehnsuchtsraum wurde, bedurfte es aber zunächst eines veränderten Interesses, einer neuen Form der Wahrnehmung und Beschreibung dieses Raumes. Motiviert war dieser Wandel einerseits von der aufklärerisch-naturwissenschaftlichen Entdeckung der Naturgeschichte, abseits wie innerhalb christlicher Schöpfungsvorstellungen, 33 andererseits, zeitlich später, sich dabei überschneidend und zugleich der Zahlenverliebtheit der Aufklärer spottend, über die romantische Verklärung einer als ursprünglich gefeierten nördlich-erhabenen Landschaft. Der ästhetische Blick kehrt sich allmählich vom südlichen Arkadien hin zum sturmumbrausten Nordmeer. Wissenschaftliche Neugier vermengte sich mit der Sehnsucht bildungsbürgerlicher Kreise nach freien Räumen, nach Gestaltungsmöglichkeiten fern des gesellschaftlich reglementierten, kulturell besetzten städtischen Raumes. Wie zuvor bei der Entdeckung der Alpen als Landschaft waren es vielfach Künstler und Gelehrte, die dem Raum eine neue Identität zuschrieben, wobei diese neue Landschaftskonstruktion schließlich zu einer Voraussetzung für die spätere Entstehung der Seebäder werden sollte. Tititzky/ Glodzey haben diesen Umstand zusammengefasst: „Daß [...] Nord- und Ostseeküsten überhaupt zu Reisezielen wurden, läßt sich […] auf die von der Romantik genährten Sehnsüchte zurückführen, deren Erfüllung man an manchen Partien der Ostsee nahe zu kommen hoffte. Die Landschaftsentdeckung ist daher von der Seebäderentwicklung nicht zu trennen.“ 34 Die mit dem späten 18. Jahrhundert einsetzende Ausprägung des Küstenraumes als kurmäßig genutzter Raum, ebenso wie das Interesse an den hier aufzufindenden fossilen Relikten, wurde aber erst durch die vorhandene spezifische physische Struktur der Küstenregion ermöglicht. Zudem bietet das Küstengebiet der südlichen Ostsee, im Unterschied zu den nördlichen Teilen, mit seinen vielen flachen Küsten zu einem großen Teil die Möglichkeit, Siedlungen anzulegen. Allerdings bedurfte es für eine dauerhafte Besiedlung des Küstenstreifens erst der technischen Absicherung dieses labilen Grenzraumes zwischen Land und Meer. Bis in das 19. Jahrhundert lagen, sieht man von den für den Handel bedeutenden Häfen einmal ab, die meisten Siedlungen nicht an der Außenküste, deren Gefährdungen man sich nicht aussetzte, sondern zurückgesetzt an den Haffen respektive Bodden. 35 33 Vgl. dazu Kap. 2.2. 34 Tilitzki/ Glodzey, Ostseebäder, S. 515. 35 Haffe, auch Bodden oder Meerbusen genannt, sind flache innere Küstengewässer, die vom offenen Meer durch eine Landzunge oder Inseln abgetrennt sind und deren Salzgehalt wegen des Eintrags von Süßwasser meist gering ist. Vgl. Weiss, Schutz, S. 540. <?page no="28"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 27 Wenn aber ein Mentalitätswandel bezüglich der Küstenregionen stattfand, stellt sich die Frage, mit welchen Raumvorstellungen die Reisenden die Ostseeküste betr eten h abe n. Welc he natu rräu mlic he n Qua li täte n bo ten d ie Gr und lage f ür di e soz iale Konstruktion dieses Raumes, und wie gestalteten sich die damit verbundenen sozialen Praktiken? Für eine Analyse des Raumes heißt das aber zunächst einmal, das Substrat zu erklären. Dieses Substrat definiert sich dabei „neben der Menge der Menschen, die zusammen eine Gesellschaft ausmachen“ auch über die „Verteilung und Größe des Bodens, seine Beschaffenheit (Berge oder Flachland, Flüsse etc.) und die Konfiguration der Dinge, die das alltägliche Leben beeinflussen“ 36 . Es gilt also die geografischen Eigenschaften der Ostseeküste auf ihre Bedeutung für die Raumvorstellungen hin zu analysieren und die Raumerfahrungen und konstruktionen auf deren Verbindung zum materiellen Substrat hin zu untersuchen. Als erster Zugang soll dabei zunächst eine Klassifikation des Küstenraumes dienen. Das heißt, die materielle Struktur ist in den Bestandteilen zu beschreiben, die für die symbolische und konkrete Nutzung des Küstenraumes bedeutsam werden. Folgt man der klassischen Theorie der vier Elemente, setzt sich die materielle Struktur dieses Raumes aus drei von diesen, aus Land, Wasser und Luft, zusammen. Das alles ist an diesem Ort freilich nicht säuberlich voneinander geschieden, sondern in diesem Grenzraum miteinander verwoben und ineinander verschränkt. Der Strand ist Land, wechselnd sandige oder steinige Landzone, regelmäßig vom Wasser bedeckt, welches der Wind gegen das Land treibt. Die Dünen, häufig an der südlichen Ostseeküste, verstärken das ungewohnte Raumgefühl, indem sie selbst als Teil der Landmasse ebenso vom Meer verschluckt und an anderen Stellen wieder ausgespien werden, wie diese Sandberge durchaus nichts Festes an sich haben und vom Wind in alle Richtungen getrieben sich fortwährend davonschleichen, solange keine regulierende Hand ihnen Einhalt gebietet. Bis viele Kilometer ins Landesinnere hinein bestimmt das Aufeinanderprallen zweier Klimazonen, des terrestrischen und des maritimen Klimas, die Lebensbedingungen. In diesem, dem binnenländischen allgemein wie dem urbanen im Besonderen entgegengesetzten Raumgefüge spielte sich ab dem 18. Jahrhundert sowohl eine neue Form der Landschaftsentdeckung ab, so wie dieser Grenzraum später auch zum Ort einer neuen Form der Badekultur wurde. Besonders für die Etablierung des Seebades sind bestimmte Phänomene, seien es landschaftliche Eigenheiten oder klimatische Bedingungen, von zentraler Bedeutung. Die Wahrnehmung der Ostsee als eigenständiger Landschaftstyp folgte einer bereits länger vollzogenen Veränderung in der Rezeption von Landschaft. Schon weit 36 Löw über die Raumkonzepte bei Hamm. Vgl. Löw, Raumsoziologie, S. 55. <?page no="29"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 28 vor der „Entdeckung“ der Ostseeküste sind die Alpen im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts ästhetisch konzipiert, als Landschaft entdeckt und beschrieben worden. 37 Das 1729 vom Berner Patrizier und Arzt Albrecht von Haller (1708- 1777) verfasste philosophische Lehrgedicht „Die Alpen“ gilt gemeinhin als literarischer Beginn der ästhetischen Entdeckung des Hochgebirges. 38 Die „großartigen epischen Naturschilderungen“ Hallers werden „bedeutsam für den Wandel des Naturgefühls im 18. Jahrhundert und für die deutsche Lyrik bis Klopstock“. 39 Und dieser Wandel, weg von der klassischen hin zu einer Aufwertung der „wilden“ Landschaft, sollte auch für die Raumvorstellung der Ostseeküste von elementarer Bedeutung sein. Bis dahin aber, das hat für die abendländische Kultur Alain Corbin gezeigt, ist bis weit ins 18. Jahrhundert die Vorstellung vom Meer von Angst und Misstrauen geprägt gewesen. Diese Angst beruhte sowohl auf der realen Gefährdung menschlicher Kultur durch die zerstörerische Kraft des Meeres als auch auf tradierten Mythen, die das Meer als Hort des Bösen beschreiben. Corbin fasst diese alte Vorstellungswelt vom Meer so zusammen: „Im großen und ganzen dominieren zwei Haltungen: die Furcht von dem Meer und der Abscheu von dem Aufenthalt am Ufer. Das Bild des furchtbaren Meeres als einem chaotischen Überrest uralter Katastrophen und die unberechenbare Gewalt der bedrohlich sich bewegenden Wassermassen entsprechen den Gefahren und der Pestilenz des rätselhaften Strandes, jener ungewissen, ständig von Einfällen bedrohter Grenze.“ 40 Und obwohl man dem Meer und der Küste weiterhin respektvoll gegenübertrat, fanden auch die nördlichen Küsten ihren Platz in der neuen Erzählung von einer grundsätzlich „guten Natur“, 41 in der Vorstellung einer „einfachen Natur“, 42 die gut und im besten Falle sogar heilend ist. Unsere heutige Nähe und Vertrautheit mit den Küstenregionen gründet sich auf einen Mentalitätswandel, der auf der technischen und kulturellen Durchdringung und Beherrschung dieses Raumes seit dem 18. Jahrhundert beruht. Zuvor war das Meer fremd, unheimlich, unzugänglich. Der so häufig beschriebene überwältigende Eindruck, der den Betrachter beim ersten Anblick des Meeres erfasst, fußt genau auf diesem faszinierenden Perspektivenwechsel. 37 Vgl. dazu auch Kap. 2.3. 38 Vgl. zur Entstehung und Wirkungsgeschichte Wozniakowski, Wildnis, S. 243ff. Vgl. dazu auch Kap. 2.3. 39 Wilpert, Lexikon der Weltliteratur, Autorenlexikon, S. 607. 40 Corbin, Meereslust, S. 79ff.; vgl. auch Richter, Meer. 41 Vgl. dazu Kap. 2.2. 42 Vgl. Wozniakowski, Wildnis, S. 248f. <?page no="30"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 29 Von dieser Überwältigung des geradezu berauschenden ersten Meeresblickes, literarisch überhöht geschildert in einer Zeit hoher Empfindungen, berichtete Georg Fo rs ter ( 175 4-1 794 ), Beg rün der d er m ode rne n Re is eli te rat ur. I n se in en Anf an g de r 1790er Jahre erschienen äußerst populären „Ansichten vom Niederrhein“ bemerkte er zum Anblick der Nordsee bei Dünkirchen: „Ich werde Dir nicht schildern können, was dabei in mir vorging. Dem Eindrucke ganz überlassen, den dieser Anblick auf mich machte, sank ich gleichsam unwillkührlich in mich selbst zurück, […]. Die Unermeßlichkeit des Meeres ergreift den Schauenden finstrer und tiefer, als die des gestirnten Himmels. Dort an der stillen, unbeweglichen Bühne funkeln ewig unauslöschliche Lichter. Hier hingegen ist nichts wesentlich getrennt; ein großes Ganzes, und die Wellen nur vergängliche Phänomene. Ihr Spiel läßt nicht den Eindruck der Selbständigkeit des Mannichfaltigen zurück; sie entstehen und thürmen sich, sie schäumen und verschwinden; das Unermeßliche verschlingt sie wieder. Nirgends ist die Natur furchtbarer, als hier in der unerbittlichen Strenge ihrer Gesetze.“ 43 Gerade wegen der furchteinflößenden Gewalt der Nordmeere erheben sich diese in ihrem Reiz nun über die bisher begehrten südlichen Küsten Griechenlands oder Italiens. Corbin beschreibt den Wechsel der Faszination von den Mittelmeerstränden hin zu den nordischen Gestaden. „Unter Berufung auf den todbringenden Charakter der malariaverseuchten italienischen Küsten werden die von lauwarmen Meerwasser bespülten heißen Sandstrände vehement disqualifiziert. [...] Scarborough und Brighton werden eine unerwartete Zuflucht vor den Schädigungen der Zivilisation. Die überalterten Gestade des Tyrrhenischen Meeres hingegen haben ihre belebende Kraft im Laufe der Jahrhunderte derart schwinden sehen, daß sie nurmehr Bilder der Hölle sind: Als ungesunde Stätten der Sittenlosigkeit und der Entartung symbolisieren sie das Mißbehagen des Reisenden.“ 44 Der gewandelte Blick auch auf die Landschaft der nördlichen Küsten erfolgte im Umfeld und als Ergebnis der Aufklärung. Nach Joachim Ritter kann eine mögliche ästhetische Landschaftswahrnehmung überhaupt erst unter den materiellen und vor allem geistigen Bedingungen der Moderne einsetzen. „Die zum Erdenleben des Menschen gehörige Natur als Himmel und Erde wird ästhetisch in der Form der Landschaft zum Inhalt der Freiheit, deren Existenz die Gesellschaft und ihre Herrschaft über die zum Objekt gemachte und unterworfene Natur zur Voraussetzung hat. Der Naturgenuß und die ästhetische Zuwendung zur Natur setzen so die Freiheit und die gesellschaftliche Herrschaft über die Natur voraus. Wo Natur zu der Gewalt wird, die ihre Ketten zerbricht und den Menschen, den schutzlos gewordenen, fortreißt, da waltet im Furchtbaren 43 Forster, Georg: Ansichten vom Niederrhein. In: Forster, Werke, Bd. 2, S. 647ff. 44 Corbin, Meereslust, S. 196. <?page no="31"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 30 der Schrecken, der blind ist. Freiheit ist Dasein über die Gebändigte Natur. Daher kann es Natur als Landschaft nur auf dem Boden der modernen Gesellschaft geben.“ 45 Was mit der Bezwingung und ästhetischen Einverleibung der Alpen beginnt, setzt sich nun auch an Nord- und Ostseeküste durch. Sicher nicht zufällig fiel die beginnende, umfassende Küstensicherung mit der Neubeschreibung dieser Region zusammen. Ganz im Sinne erlesener Vorarbeiten aus Literatur und Philosophie blieb von der ehemals gefeierten idyllischen Landschaft nur noch ein resignativer Nachruf, „auch ich war in Arkadien geboren“, 46 dem nun das neue Lied einer freien, ungestümen Wildnis folgte, deren herausragendes Attribut „erhaben“ ist. Nach Hasso Spode gilt die „sedimentale Sehnsucht […] dem Unberührbaren, Ungezähmten, der ,erhabenen Wildnis’“. 47 Möglich - oder doch wenigstens erleichtert - wurde die Umsetzung der Idee einer „wilden“ Küstenlandschaft durch die bis dahin kaum ausgeprägte kulturelle Raumvorstellung. Betrachtet man Karten der Ostseeregion bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, fällt die spärliche Besiedlung des Küstenstreifens auf. Außerhalb der alten, ökonomisch und kulturell noch immer bedeutenden Hansestädte wie Lübeck, Wismar, Rostock, Kolberg, Danzig und Königsberg verirrten sich nur sehr vereinzelte Siedlungspunkte nahe oder gar direkt ans Meer. In einer sowieso schon dünn besiedelten Region lagen die kleinen Landstädte im Hinterland der Küsten von Schleswig, Mecklenburg, Pommern und Preußen. Dieses bisher als kulturell unwirtlich wie in seiner Landschaft als unharmonisch empfundene Gebiet bot im veränderten Wahrnehmungsraster eines positiven Verständnisses wilder Natur beste Möglichkeiten, als eigenständiger Raum entdeckt und beschrieben zu werden. Wie die Reisenden, die sich auf die Berge der Alpen begaben oder an den Strand der Nordsee, war man „auf der Suche nach unberührten Räumen, in denen die Freiheit von der Zivilisation vermeintlich realisierbar schien“. 48 Auch die öden Sandwüsten der Küste, die von Tang bedeckten Steinküsten sind das, „was über Jahrhunderte hin ungesehen und unbeachtet blieb oder das feindlich abweisende Fremde war“, das nun „zum Großen, Erhabenen und Schönen [wird], [...] ästhetisch zur Landschaft“ 49 wird. Die Bedeutung dieser Zuschreibung von Wildnis, Chaos und Unregelmäßigkeit spiegelte sich in dem Bemühen - trotz aller kulturellen und technischen Überformung -, den Anschein von Wildnis als existenziellen Bestandteil des Küstenraumes zu erhalten. So berichtete Dr. Heinrich Oswald, Badearzt von Misdroy auf der Insel 45 Ritter, Landschaft, S. 30. 46 Friedrich Schiller, „Resignation“. In: Schiller-Sämtliche Werke, Bd. 1, München 1987, S. 130. 47 Spode, Prolegomena, S. 117. 48 Tilitzky/ Glodzey, Ostseebäder, S. 515. 49 Ritter, Landschaft, S. 150f. <?page no="32"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 31 Wollin, 1855 von der Anlage von Pavillons und Ruhebänken. Aber: „alle Anlagen haben bei aller Bequemlichkeit und Schönheit dennoch dem hier vorherrschenden wilden Typus der Urwaldung keinen Abbruch gethan.“ 50 Bedingung für dieses emphatische Gebaren war gleichwohl das Einhegen der Wildnis mit den Mitteln der modernen Gesellschaft. Denn weder Räuberbanden noch wilde Tiere sind hier mehr zu fürchten. Übrig bleibt das Unzivilisierte daher nur in den idyllisch-schaurigen Landschaftsnamen wie der „Wolfsschlucht“, der „Räuberhöhle“ oder der romantischen „Waldeinsamkeit“. Und ähnlich wie in den Alpen oder am Rhein geschehen, waren es Bestandteile des nicht-urbanen Naturraumes, die als Grundlage für die neue Lust an der Entdeckung und Beschreibung der Küste dienten. 2.1.1 Geografie Bevor es nachfolgend um die literarische Form der Entdeckung und damit verbunden die kulturelle Überschreibung des Küstenraumes gehen soll, stellt sich die Frage nach den naturräumlichen Elementen, die als notwendiger Subtext fungieren. Wofür begeisterten sich die Reisenden, die ab dem späten 18. Jahrhundert immer stärker an die nördlichen Küsten drängten? Welche materiale Struktur, das heißt physische Substanzen der Landschaft wie Wasser, Steine, Wälder, Hügel etc., liegt unter den literarischen Zeugnissen der Reisenden? Wie verband sich die soziale Realität mit den materiellen Bedingungen vor Ort? Und was wurde wichtig als Grundlage für den späteren funktionierenden Kurbetrieb an der Küste? Um diese Fragen zu beantworten, bedarf es eines kleinen Ausflugs in die Geowissenschaften. 51 Einen Grenzraum zu definieren hat seine Tücken. Schwierig wird es bereits mit der Beschreibung der Küste, dem „am weitesten verbreiteten Landschaftselement der Erde“, 52 denn der Begriff der Küste ist über die Zeiten und Perspektiven hin vielfältig. Entgegen den Darstellungen in Kartenwerken lässt sich die ständige Bewegung dieses Zwitterraumes zwischen Land und Meer nicht in eine feste Definition zwängen. Und so überwiegen in naturwie in kulturwissenschaftlichen Arbeiten auch die Zuschreibungen, die die Küste als Raum des Uneindeutigen beschreiben, als „schmaler Übergangsraum“ (Schwarzer 53 ), als „mehr oder weniger breites Band“ oder „einen Grenzsaum“ (Kelletat 54 ), als „auffälligste und wichtigste Naturgrenze auf der 50 Oswald, Misdroy, S. 7. 51 Der Autor ist sich seiner Gastrolle in diesem Zweig der Wissenschaft bewusst, erachtet eine auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Beschreibung des Küstenraumes für die Fragestellung der Arbeit aber als zwingend notwendig. 52 Kelletat, Physische Geographie, S. 85. 53 Schwarzer, Dynamik, S. 25. 54 Kelletat, Physische Geographie, S. 84. <?page no="33"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 32 Erde“ (Tinz/ Hupfer 55 ), als „liminoiden Raum“ (Kolbe 56 ). Feldbusch fasst die Eigentümlichkeit dieses Grenzsaumes zusammen, der „im Vergleich zu den imaginären Linien wie Äquator oder Längengrad ein Grenzphänomen umreißt, das zwar wie jene kulturell geprägt ist, im Unterschied zu diesen aber stofflich sichtbar und begehbar ist. […] Er ist ein Thema für Geographen und ein Terminus für suggestiv metaphorische Vorstellungen zugleich.“ 57 Gerade im Gegensatz zu den Landschaftsformen im Binnenland, die „als etwas Beständiges“ erscheinen, unterliegt der Küstenstreifen „einem ständigen Formen- und Gestaltswandel“. 58 Dieser beruht auf dem Aufeinandertreffen und den Wechselwirkungen zwischen Atmosphäre, Hydrosphäre 59 und Lithosphäre 60 . Eine einheitliche geografische Struktur der süd-südwestlichen Ostseeküste, um die es hier geht, gibt es nicht. Prägend sind jedoch vier Faktoren: die eiszeitlichen Veränderungen, die fortdauernden geologischen Prozesse, die klimatischen Verhältnisse und der Wind. 61 Im Gegensatz zur vorwiegend von Schmelzwasserströmen geformten Nordsee ist die Ostsee ein Produkt der Eiszeit mit ihren Grund- und Endmoränenzügen, „die bis unter die Wasserlinie der heutigen Ostsee reichen und teilweise noch in Form von Untiefen oder Schwellen erhalten sind“. 62 Das Ergebnis verdeutlicht ein Blick auf die Karte, die eine äußerst heterogene, bewegte Struktur der Ostseeküste zeigt, geprägt von zahlreichen Buchten, Förden, Nehrungen und Bodden. 63 Teilweise reichen größere Mündungsdeltas, wie bei der Oder oder der Weichsel, tief ins Landesinnere. 55 Tinz/ Hupfer, Ostseeküste, S. 6. 56 Kolbe, Strandurlaub, S. 187f. 57 Feldbusch, Schreiben, S. 14. 58 Schwarzer, Dynamik, S. 26. 59 Hydrosphäre: Wasserumhüllung des Erdballs, Weltmeer, zwischen Lithosphäre und Atmosphäre. 60 Lithosphäre: äußere Erdkruste, Erdrinde. 61 Die südliche Ostseeküste vereint dabei trotz der regionalen Ausdifferenzierung gegenüber der nördlichen Ostseeküste einige charakteristische geografische Merkmale. „Von Dänemark bis zum Baltikum mit Ausnahme der Nordküste Estlands ist nahezu die gesamte Südwestbis Südostküste aus quartären und rezenten Sedimenten aufgebaut. Niederungen alternieren mit Kliff- und Dünenküsten, Abtragungsbereiche wechseln mit Anlandungsgebieten. Je nach Materialverfügbarkeit bilden sich dabei charakteristische Strand- und Vorstrandprofile aus.“ Schwarzer, Dynamik, S. 29. Vgl. zur Morphogenese der südlichen Ostseeküste auch Ministerium für Landwirtschaft, Regelwerk, S. 9ff. 62 Hoffman, Erdgeschichtliche Entwicklung, S. 13. 63 Vor allem die Ostseeküste Schleswig-Holsteins und des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns sind von einer vielfach zergliederten Küstenform geprägt. So sind von den 1.470 Kilometern der Küste Mecklenburg-Vorpommerns nur 23 Prozent (340 km) an der offenen Ostsee gelegen, während 77 Prozent (1.130 km) als Binnenküste an Bodden und Haffen liegen. Vgl. Weiss, Schutz, S. 537. <?page no="34"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 33 Für die Ausbildung der Seebäder, die Aktivitäten der Kurgäste, für das Bild vom Seebad gewann der Charakter des Binnenmeeres, der im Gegensatz zur von den Gezei ten g epräg ten N ords ee relat iv stabi le Zusta nd v on La nd, Stran d und Me er , stetig an Bedeutung. Fehlende Ebbe und Flut, die „gezeitenlose Küste“, 64 stabilisieren diesen (saisonalen) Blick auf das Meer und verleihen dem liminoiden Raum zwischen Land und Meer trotz seines „verschwimmenden“ Charakters eine klare Prägung. 65 Den landschaftlichen Charakter der Küste prägt aber auch die auf langen geologischen Prozessen beruhende Ausformung der einzelnen Küstenabschnitte. Von der letzten (Weichsel-)Eiszeit blieb der südlichen Ostsee als bestimmende Struktur die Lockergesteinsküste, die sich vorwiegend in lehmigen Böden und Sandstränden zeigt, während die nördliche Ostseeküste von zumeist felsigen Küstenbuchten geprägt ist. 66 Die südliche Ostseeküste formen vor allem zwei Küstentypen: die Ausgleichsküste, vor allem zwischen Oder- und Weichselmündung, zwischen Wismarer Bucht und der Warnow bei Rostock, und die Landschaften Angeln und Sachsen in Schleswig-Holstein. 67 Daneben die Boddenküste, die besonders die vorpommerschen Inseln Rügen, Usedom, Wollin sowie den Darß und Zingst umfasst. Viele Seen und Boddengewässer und verschiedene geografische Formationen auf kleinem Raum prägen diesen Küstentyp. Ganz im Osten bestimmen schließlich Nehrungsküsten (Putziger-, Frische- und Kurische Nehrung), ganz im Westen Fördenküsten die Ostseelandschaft. 68 Vielfach führt die permanent ab- und antragende Materialbewegung zur Form der Ausgleichsküste, die aber „kein von der Natur angestrebter Endzustand“ 69 ist. Direkt anschließend grenzt das Meer an die hügeligen Jungmoränen aus der letzten Eiszeit. Ein weiteres geologisches Phänomen bestimmt die Struktur der südlichen Ostseeküste. Bis auf den nördlichen Teil der Insel Rügen liegt die gesamte Küste im Bereich der Landsenkung, d.h. die Küste senkt sich hier permanent weiter ab, so dass der Wasserspiegel steigt und die Küste den Wetterverhältnissen an der Wasser- 64 Bülow, Küstendynamik, S. 16. 65 Manch einer, wie der erste Doberaner Badearzt Prof. Gottlieb Samuel Vogel, sah das bezeichnenderweise als Vorteil: „Ebbe und Fluth interessiren uns bey der Ostsee glücklicher Weise gar nicht.“ Ders., Handbuch 1819, S. 13. 66 Vgl. Newig, Ostsee, S. 175ff. 67 Küster, Ostsee, S. 112f.; Lampe, Küstentypen, S. 17ff. 68 Newig, Ostsee, S. 175ff. 69 Weiss, Schutz, S. 540. <?page no="35"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 34 grenze besonders stark ausgesetzt ist. 70 Aus diesem Grund verliert die südliche Ostseeküste jährlich einige Zentimeter an Landmasse an das Meer. 71 Anhand der zeitgenössischen Diskurse soll hier eine kurze Typologie der Küstenlandschaft auf ihrer materiellen Grundlage entworfen werden. Den Gegenstand dieser Landschaft zu erfassen erfordert die nähere Betrachtung einzelner, für soziales Handeln wie die Konstruktion von Räumen notwendiger Elemente. Diese liegen in der Übergangszone vom Meer zum Land, der Küste, mit ihren Bestandteilen des Strandes, der Düne und dem anschließenden Hinterland. Zudem sollen wichtige Wetterphänomene, die prägend für die Landschaft sind und zugleich bestimmte Handlungsweisen erst ermöglichen oder verhindern, mit untersucht werden. Zentraler Handlungsraum für die Küstenreisenden wie für die Protagonisten des Seebades war und ist die Strandküste, also die „Zone beiderseits der Berührungslinie von Wasser und Land, auf deren Gestaltung und Beschaffenheit einerseits das Meer, andererseits landbürtige Faktoren Einfluß nehmen“. 72 Strand und Düne sind das materielle Substrat, auf dem sich das Badeleben abspielt. Die Handlungen, in denen sich das Raumverständnis ausprägt, finden auf Grundlage dieser naturräumlichen Faktoren statt. Als Strand verstehe ich im Folgenden, nach Bülow, denjenigen „Landstreifen, der bei Wasserständen bis Mittleres-Hoch-Wasser unter Wasserbedeckung geraten kann“. 73 Hier findet der klimatische Übergang zwischen Land und Wasser statt. Mit verschiedenen Begrifflichkeiten ist immer wieder der Versuch unternommen worden, dem amorphen, undefinierbaren Ort zu begegnen. Der Strand ist die „undefinierte Zwischenzone”, 74 der „Durchdringungsraum oder, wenn man so will, der Kampfraum verschiedenartiger Naturvorgänge”. 75 Im beständigen Wechselspiel mischen sich Luft, Wasser und Erde. Mal feucht, mal trocken, alle Spuren verwischend, zur Verwehung des angeschwemmten Sandes neigend wie den Badegrund abgebend, spiegelt das Verhältnis zum Strand die Beziehung der Badegäste zum Naturraum wider. Auf dieser Ansammlung loser, kleinster Gesteinspartikel fand die reale Entdeckung der deutschen Küsten statt. 70 Vgl. Niedermeyer, Ostseeküste, S. 65ff.; Lampe, Küstentypen, S. 17f. 71 So im Bereich Schleswig-Holstein ca. 35-40 Zentimeter, für Mecklenburg-Vorpommern ca. 34 Zentimeter pro Jahr. Vgl. Schwarzer, Dynamik, S. 29. Für das Fischland-Darß, östlich von Rostock, betrug der in den letzten hundert Jahren ermittelte Durchschnittswert der landwärtigen Verschiebung im Mittel 50 Meter. Für einen zentral gelegenen Teil der Insel Usedom lag der Mittelwert der letzten drei Jahrhunderte bei 70 bis 90 Metern Landverlust im Jahrhundert. Vgl. Weiss, Schutz, S. 538. 72 Bülow, Küstendynamik, S. 4. 73 Bülow, Küstendynamik, S. 5. 74 Hennig, Reiselust, S. 28. 75 Bülow, Küstendynamik, S. 8. <?page no="36"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 35 Noch im Zuge der aufklärerischen und physikotheologischen Betrachtung dieses natürlichen Grenzraumes stellte der Strand die Zone des Überganges dar, an der die Be st an ds au fna hme v on Mine ral ie n mi t di le tt anti sche m Ei fe r betr iebe n wurd e, a n der Flora und Fauna, Seegras, Muscheln, Möwen, Quallen und Seehunde beobachtet, gesammelt und klassifiziert wurden. 76 Der öde anmutende Sandhaufen entpuppte sich als lebenspralles Reich. Die einzigartige Tierwelt erweckte die Vorstellung eines kraftstrotzenden Elementes. Corbin hat die Geschichte des im 18. Jahrhundert aufkommenden Wandels der Vorstellung einer nördlichen Lebenswelt mit der Hoffnung auf ein vitaleres Leben untersucht und die damit verbundene mentale Neugestaltung beschrieben: „Das unzähmbare und vor allem im Norden unendlich fruchtbare Meer kann die Lebensenergie erhalten, wenn der Mensch nur mit dem Schrecken, den es einflößt, umzugehen weiß. An seinen Küsten wird er wieder Appetit bekommen, dort wird er wieder schlafen können, dort wird er alle Grübelei vergessen.” 77 Die faszinierende Ansammlung merkwürdiger Tiere und Pflanzen fand schnell auch Eingang in die Seebadeliteratur, wo sie die Differenz des Küstenraumes zum Binnenland augenfällig dokumentiert. Heinrich von Held, 78 Kurgast in Kolberg, war beeindruckt von der unendlich scheinenden Fülle des Meereslebens. Mit der Unverfügbarkeit des Meeres für den Menschen findet hier aber auch dessen unersättliche Gier ihre natürlichen Grenzen. „Mich dünkt, das Meer ist bei Weitem mehr mit Thieren bevölkert als das Land, weil der Mensch nicht vermag, dessen Abgründe ebenso zu durchjagen und auszumorden, wie die Aecker, Wiesen und Wälder.“ 79 Hier, am Fuße des Meeres, wo kein Menschenwerk länger Bestand haben kann, wo jeglicher dauerhafter Eingriff sich nur auf den verschwindend kleinen Raum des Strandes beziehen kann, scheint der ideale Ort zur Rekreation zu liegen: „Mehr noch als das Land verkörpert der Ozean die unwiderlegbare Natur, die sich nicht schmücken läßt und keine Lüge duldet. So entsteht das Paradox, auf dem die Methode des Strandaufenthaltes beruht. Das Meer wird eine Zuflucht, es gibt Hoffnung, weil es Angst einflößt.“ 80 76 Vgl. dazu auch Kap. 2.4. 77 Corbin, Meereslust, S. 89. 78 Vgl. dazu auch Kap. 3.1.5. 79 Held, Colberg, S. 50. 80 Corbin, Meereslust, S. 88. <?page no="37"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 36 Doch auch der Strand musste erst aus seiner Rolle als unnützer, hässlicher Sandhaufen am Rande des Ozeans herausgelöst werden: „Der Sand bringt keine Ernten hervor, er widersetzt sich der Bildung anmutiger Flußläufe. Am öden Gestade tritt der liebliche Vogelgesang hinter dem heiseren Schrei der Möwe zurück, der die empfindsame Seele erschauern läßt. Der Strand, weder im Garten Eden noch in den Beschreibungen des Goldenen Zeitalters vertreten, widerspricht jeder Harmonie.” 81 Sandberge, Dünen, der tiefe Sand der Fahrwege, der alles überlagernde Flugsand, durchziehen die zeitgenössischen Schilderungen. In beständiger Bewegung ist der überall präsente Sand Sinnbild des gefahrwie lustvollen Küstenstreifens. Mit der ästhetischen Landschaftsbetrachtung, der beginnenden technischen Zähmung des Küstenstreifens durch den Dünenbau und dem in breiteren Schichten neu entstandenen wissenschaftlichen Interesse an den Petrefakten 82 begann das schwierige Material des Sandes interessant zu werden. So verbanden sich am Strand neuartige Raum- und Zeitempfindungen. Abseits kultureller und technisch fixierter Zeitmuster tritt der Beobachter hier in einen anderen Rhythmus ein. Zunächst entfallen am Strand (wenigstens für Besucher und Kurgäste) die alltäglich vollzogenen Arbeits- und Lebensrhythmen. Der Spaziergang am Strand, auch in der späteren Entwicklung mit dem Flanieren auf der Kurpromenade, behält doch mit der Fixierung auf den Meeresblick das wenigstens temporäre, an das kindliche Spiel erinnernde „zeitlose” Empfinden. Dazu trägt auch die immer ähnliche Ansicht der gezeitenlosen See bei. Aus dieser resultiert der am Strand stets wahrzunehmende gleichförmige akustische Reiz des Wellenschlages, der in seiner Eintönigkeit einen fast meditativen Charakter entfaltet und das Gefühl eines eigenen, natürlichen Zeitmaßes ermöglicht. Der visuell, akustisch und auch beim Bad über die Haut spürbare Rhythmus des Wellenschlages prägt so die Rezeption des Strandraumes in seiner organisch anmutenden Zeit- und Raumstruktur und verdeutlicht damit die konträre Eigenart der Küstenlandschaft zum urbanen Raum. Mit dem Aufkommen der Seebäder und dem damit verbundenen Baden in der offenen See änderte sich der Blick auf den Strand. Schnell gewann das Ideal eines feinkörnigen Strandes die Oberhand. Die Strände der Steilküste, wie auf Rügen, die reich sind an Geröll, Steinen und Muschelresten, verloren mit dieser Verschiebung der Handlung für Badereisende an Interesse. 83 81 Corbin, Meereslust, S. 162. 82 Versteinerung, vgl. dazu Corbin, Meereslust, S. 149f. 83 Im heutigen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern sind ca. 134 Kilometer (39 Prozent) der Außenküste Steilküste, ca. 206 Kilometer (61 Prozent) Flachküste. Vgl. Weiss, Schutz, S. 537. <?page no="38"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 37 Von der aufklärerisch stimulierten wissenschaftlichen Neugier ausgehend, begannen Reisende mit dem romantischen Blick den Küstenraum als idealen Raum zu ent dec ken , in d em die lite rar is ch v or fo rm uli er te I de al la ndsc ha ft d er „ wild en N atu r“ in einen realen Raum transformiert wurde. Die „leeren“, da kulturell nicht erschlossenen Gestade, erschienen den Beobachtern als Fundgrube für ihren Wissensdurst. Der Charakter des Nordischen „hatte auf frühere Generationen abschreckend gewirkt; jetzt wird gerade dieser Typ der Landschaft eine Art neuer locus amoenus. Denn die Romantik begeistert sich an den einsamen, den „leeren“ Landschaften, die nun zur Projektionsfläche der eigenen Einsamkeit des aus Tradition und Bindung sich lösenden Bürgers werden.“ 84 Für diesen romantischen Sehnsuchtsblick war ein vom Wasser ständig aufs Neue seiner Spuren beraubter Strand ideal. An dieser Stelle eines undefinierten Zwischen- und Grenzraumes setzten die romantischen Interpretationen des Strandes an, der sich klaren Abgrenzungen und Zuordnungen entzieht und die von den Romantikern bevorzugten unbestimmten Zwischenzustände hier in einen eigenständigen Raum- und Zeitwert umsetzt. „Es nimmt [...] nicht Wunder, daß die ästhetischen und metaphysischen Reize des Strandes zuerst von den Malern und Schriftstellern der Romantik entdeckt wurden, von den geschworenen Gegnern der ,festgefügten’ bürgerlichen Ordnungen.” 85 Die sinnliche Wahrnehmung, bei der jeder Badende mit der nackten Haut den Strand betritt, bestimmt auch die Wahrnehmung und qualitative Einordnung des jeweiligen Strandraumes. Sinnliche Gewissheit über die Haut wurde so mit ausschlaggebend zunächst für die Erfassung und schließlich für die ästhetische Konstruktion des Raumes. Wellenschlag, Temperatur, Windverhältnisse und die Struktur des Strandes sollten für das Bild eines Seebades ausschlaggebend werden. Dagegen verlor die Suche nach Petrefakten an Bedeutung. Die wissenschaftlich motivierte Suche nach Zeugnissen der Erdgeschichte war während des aufstrebenden Badebetriebes im 19. Jahrhundert nur noch bloßes Vergnügen für die Kurgäste und ähnelte mehr der Suche nach Devotionalien. Und so dienten den Kurgästen die am Strand gesammelten Hühnergötter und Bernsteine, die man den Daheimgebliebenen mitbrachte, als Nachweise eines erfolgreich absolvierten Kuraufenthaltes an der See. 86 84 Richter, Meer, S. 21. 85 Hennig, Reiselust, S. 28. 86 Die Nähe zu religiösen Bräuchen liegt hier nicht fern. Bernstein und Hühnergöttern, ausgewaschenen Feuersteinen, wurden früher magische Kräfte zugeschrieben. Vgl. Volker Storch: Evolutionsbiologie, Heidelberg 2007, S. 114. <?page no="39"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 38 Schnell etablierte sich ein Wertesystem, das die materiellen und sinnlich erfahrbaren Eigenschaften der Uferzone beschrieb. Für die Seebäder der südlichen Ostsee bildete sich der als Folge der Eiszeiten häufig anzutreffende Sandstrand als Ideal heraus. Während er noch für die gelehrten Sammler des späten 18. Jahrhunderts vornehmlich Unterlage für die Objekte der Sammelleidenschaft war, sollten seine Attribute mit der Entwicklung zum Badestrand folgende sein: frei von großen und kleinen Steinen, feinkörnig und doch nicht zu größeren Verwehungen neigend, ohne scharfkantige Muschelreste, ohne die verunreinigenden Auswürfe des Meeres. Ideal ist dazu ein sachter Abfall des Strandes vom Uferbereich in das Meer. In einem Visitationsbericht an das preußische Ministerium für das pommersche Deep bei Treptow im Jahre 1805 wird der geeignete Strand wie folgt beschrieben: „Das Seebad selbst ist der Strand der Ostsee, vorlängst dem Dorfe, das Ufer ist daselbst eben, flach, sandig, ohne Steine, und dergestalt sicher, daß die Möglichkeit Schaden zu nehmen, kaum denkbar ist.” 87 Steinige Strände, wie etwa in Heiligendamm und Warnemünde, ließen sich mittels der verbreiteten Badekarren oder Badestege, die weit ins Wasser führen, zwar leicht überbrücken, wurden aber immer als unangenehm und unbequem empfunden. In Warnemünde forderte man 1835 den Bau eines hölzernen Steges, da der Weg ins Wasser „um so beschwerlicher erscheint, als das Ufer beim Damenbade bis ca. 6 Schritt ins Wasser mit kleinen Steinen bedeckt ist“. 88 Es stellte sich hier auch ein anderes Problem der natürlichen Küstendynamik. Vor allem über seeseitigen Wind wurde an begünstigten Ortslagen der Strand weiter angehäuft. An den Rostocker Rat meldete man, dass die Badeanstalt für Frauen weiter in die See geführt werden müsse, „da sich seit dem letzten Jahre die Badestellen durch Anhäufung von Sand bedeutend abgeflacht haben”. 89 Mit der zunehmenden Kodifizierung des Strandraumes erlebte das Bild des idealen, weißen, steinfreien und feinkörnigen Strandes bald allgemeine Verbreitung. Er war die Basis für die sinnliche und ästhetische Qualifikation, wurde aber auch existentiell bedeutsam, wenn es um die Sicherheit des Badevorganges ging. In der ersten Schrift über das gerade entstandene Seebad Zoppot bei Danzig bemerkte der dortige Badearzt Johann Georg Haffner: „Da der Strand flach, ohne Steine, ohne Ebbe und Fluth und Brandung ist, gewährt er das größte Vergnügen, Sicherheit und Bequemlichkeit zum Baden in den Fluthen selbst.” 90 87 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 10.8.1805. 88 StA Rostock, Gewett Warnemünde, 1.1.3.23.-31, Schreiben vom 9.12.1835 an den Rostocker Rat. 89 StA Rostock, Gewett Warnemünde, 1.1.3.23.-31, Schreiben vom 22.9.1836 an den Rostocker Rat. 90 Haffner, Zoppot, S. 10. <?page no="40"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 39 Während im Laufe der Zeit immer weniger über den Salzgehalt und Wellenschlag verhandelt wurde, gehörte ein breiter und feiner Sandstrand auch später zu den Vorau ss etz ung en fü r ei n erf ol gr eic he s Se eb ad . 91 Den idealen Sandstrand verkörperte neben der passenden Konsistenz seine klinisch anmutende Reinheit. Mit einem gewissen Unbehagen, aber auch staunendem Interesse wurde das Seegras, meist nur Tang genannt, zunächst von den forschenden Reisenden wahrgenommen. Seine Konsistenz, die Farbe, der Geruch bestätigten noch eher die alte Vorstellung vom Meeresufer als Grenzraum, „an der die große Tiefe ihre Exkremente ablädt“. 92 Der Schweizer Theologe und Philosoph Johann Caspar Lavater (1741-1801), 1763 auf der Insel Hiddensee weilend, sammelte dort zunächst Muscheln und Fossilien und bemerkt auf der kargen Insel schließlich auch das „Meergraß, braun von Farbe, zähe.” 93 Wilhelm von Humboldt hatte während seines Rügenaufenthalts 1796 die olfaktorischen Ausdünstungen des zähen Meergrases zu erdulden: „Von dem Meere her kam ein schweflichter Pulvergeruch, der immer vorhanden seyn soll, sobald das Meer bewegt ist, und der, wie man sagt, vorzüglich durch den ausgeworfenen Tang erregt wird.” 94 Gerade das in vielerlei Hinsicht als unangenehm empfundene, verfaulende Seegras am Strand führt schließlich zur Stilisierung eines Strandraumes, in dem die dem idealen Muster zuwiderlaufenden natürlichen Vegetationsreste wie eben Tang, Totholz, tote Fische oder Quallen, später aber auch die Zeugnisse des Alltagslebens der einheimischen Fischer, aus dem Blick der Badegäste entfernt wurden. 95 Das „reinigende” Bad im Meer und die „gute” Meeresluft mündeten in der Vorstellung eines atmosphärisch reinen Strandraums. Alles trug den Charakter eines Läuterungsortes, der, selbst frei von äußeren Verschmutzungen, die innere vertreibt. Auch deshalb wurden das angeschwemmte Strandgut, Fische, Quallen, Seesterne und vor allem Seegras als unpassend empfunden und auf Geheiß der verantwortlichen Stellen entfernt. So weit wie möglich versuchte man dem inszenierten Bild vom „sauberen” Strand nachzuhelfen. In seinem „Taschenbuch für Brunnen- und Badereisende” von 91 So konstatiert Daebeler in seiner Untersuchung zur Entwicklung der mecklenburgischen Ostseebäder, dass „diejenigen Bäder, die den stärksten Besuch zu verzeichnen haben [...] auch über den breitesten und feinsten Badestrand verfügen“. Daebeler, Fremdenverkehr, S. 81. 92 Corbin, Meereslust, S. 79. 93 Lavater, Reisetagebücher, Eintrag vom 27.8.1763, S. 302. 94 Humboldt, Tagebuch, S. 39. 95 Eine ganz andere Karriere als Matrazenfüllung machte das Seegras Mitte des 19. Jahrhunderts als Ersatz für das teure Rosshaar. (Vgl. Alfred Bienengraeber: Statistik des Verkehrs und Verbrauchs im Zollverein für die Jahre 1842-1864, Berlin 1868, S. 353; Heinrich Beta: Die Bewirthschaftung des Wassers und die Ernten daraus, Leipzig 1868.) Auch über den Einsatz von Meergras als jodreicher Dünger diskutierte man zu dieser Zeit. Vgl. Löbe, William: Jahrbuch der Landwirtschaft und landwirtschaftlichen Statistik für das Jahr 1854, Leipzig 1855, S. 155. <?page no="41"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 40 1838 bemerkte der Autor Karl Christian Hille für das Seebad Appenrade in Schleswig: „Der Strand für die kalten Seebäder bietet einen festen und ebenen Grund dar, welcher freilich von dem sich ansetzenden Tang künstlich rein erhalten werden muß.” 96 Im Wunsch nach Reinheit und Ursprünglichkeit des Strandraums folgte man zunehmend der Herstellung eines reinen Sandstrandes. Damit verlor der Strand seinen ursprünglichen Charakter und wurde zum Kunstprodukt. „In einem allmählichen Prozess wurden Züge des Alltagslebens, aber auch jede natürliche Verunreinigung entfernt. [...] Das Bild des Idealstrandes entstand, wie es die touristische Werbung noch heute verbreitet: die unendliche (,kilometerlange’) Fläche reinen, sauberen Sands.” 97 Im Reisebericht Heinrich Laubes von 1833, in dem der Korrespondent der populären „Zeitung für die elegante Welt” auch über die jungen Seebäder an der Ostseeküste schrieb, versäumte er es nicht, seiner Enttäuschung über ein getrübtes Badeerlebnis Ausdruck zu verleihen. Im ersten Seebad Rügens, in Lauterbach, hatte er mit seinen Reisegenossen ein Bad genommen. Lauterbach aber entsprach nicht dem verbreiteten Bild einer romantischen Uferpartie mit erquickendem Meereswasser. „Die Sonne schien freundlich, wir [...] wateten in die See hinein. Nicht einmal das Meer hält heutzutage sein Wort; sein Anblick versprach Reinheit der Gesinnung, doch erfüllte schwarzer Schleim die Strandquellen und machte uns schmutzig.” 98 Eng mit dem Strandraum verbunden sind die durch Wind aufgeschütteten Sandablagerungen, die Dünen, ein Charakteristikum der südlichen Ostsee. 99 Besonders an ihnen verdeutlicht sich die Fragilität des Küstenraumes. Die von einer kargen, spezialisierten Flora geprägten Dünen verlängern den auf Bewegung ausgerichteten Strandraum. Mit der Düne bewegt sich der Sand durch den Wind zum Teil beträchtlich in das offene Land hinein. Bis am Ende des 18. Jahrhunderts an der südlichen Ostsee langsam ein organisierter Dünenschutz einsetzte, 100 blieb der Dünen- 96 Hille, Heilquellen, S. 157. 97 Hennig, Reiselust, S. 31f. 98 Laube, Biedermeier, S. 379. 99 „Unter Dünen versteht man vom Wind, meist unter Mitwirkung anderer Faktoren, besonders der windbremsenden und Sand zurückhaltenden Vegetation (z.B. Strandhafer) sowie des Reliefs, geschaffene und vorwiegend aus Feinbis Mittelsand […] aufgebaute Reliefformen. Natürliche, über längere Zeit beständige Küstendünen kommen fast nur auf breiten, immer von neuem mit Meeressand versorgten Sandstränden von Anlandungs-Flachküsten bzw. unmittelbar binnenwärts an solche Strände anschließend vor.“ Niedermeyer, Ostseeküste, S. 23. Vergl. auch ebd., S. 13. Im Gegensatz zu den Dünen der südlichen Ostseeküste prägen Schären die nördlichen Küsten. Vgl. Boedeker, Ökologie, S. 223. Dagegen kommen Dünen an der Ostseeküste von Schleswig-Holstein nur in geringem Umfang vor. Hier prägen Steilküsten und Förden die geografische Struktur. 100 Verschiedene Versuche, die Ostseeküste zu stabilisieren, sind bis zum 13. Jahrhundert nachzuweisen, doch blieben sie auf wenige herausragende Orte beschränkt und waren nachweislich bis ins 18. Jahr- <?page no="42"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 41 raum in ständiger, durch geologische und physikalische Prozesse initiierter Bewegung. 101 Erst der umfassende Küstenschutz, 102 eingeleitet durch die Schaffung von Strandkarten und den zunächst noch kleinteiligen Küstenschutz, führte im 19. Jahrhundert zur Konstruktion regulierter Dünen, die die natürlichen Materialbewegungen einschränkten und siedlungstechnische Maßnahmen ermöglichten. 103 So erfolgte an der Ostsee die Bedeichung auch zum Zwecke des Landerhalts und nicht, wie an der Nordseeküste, zur Landgewinnung. 104 Gerade an den Flachküsten, dort, wo die günstigsten Bedingungen für die Anlage eines Seebades herrschten, ist der Dünenbereich jahrhundertelang ein Problem für menschliche Ansiedlungen gewesen. Da keine Gegenwehr möglich war, verstand man das Meer wie den Sand als göttliche Strafe oder Schicksalsschlag. Für Zoppot berichtete der Badearzt in seinem 1823 erschienenen Reiseführer von den „hoch anschwellenden und mit Versandung der Weichsel drohenden Dünen“. 105 Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ist es der vom Strand und den Dünen kommende Treibsand, der die Anlage von Häusern und Gärten bis ins Hinterland erschwerte und zur Aufgabe einzelner Siedlungsobjekte führte. „In allen Küstenländern“, so Knaak, „haben die Dünenwanderungen in jener Zeit jedes wirtschaftliche Aufblühen unmöglich gemacht.“ 106 In seiner „Geographie des Norder-Teutschlands“ aus dem Jahr 1750 schilderte Albrecht Georg Schwartz die Folgen des Flugsandes auf der Insel Wollin: „Und, nur noch vor wenig Jahren, ist ein an dem Wasser gelegenes Bauer-Haus und Gehöffte, Cölzoer Kirch-Spiels mit Namen Swanthuß, in der kurtzen Zeit, da die Einwohner zur Kirchen gewesen, so gar vom Sande bedecket worden, daß sie, bey ihrer Rückkehre, kaum die Stelle mehr finden können, da sie es hinter sich verlassen haben.“ 107 hundert hinein nur von geringem Erfolg gekrönt. Während verschiedene Maßnahmen an den Flachküsten allmählich Erfolg zeigten, scheiterten vor allem die Versuche, die Steilküste vor Abbrüchen zu bewahren und führten stattdessen häufig zu vermehrtem Landverlust. Vgl. Cordshagen, Küstenschutz, S. 31f.; Weiss, Schutz, S. 542f. 101 „Erst seit dem Jahre 1820 wird […] die Kultur der Dünen regelmäßig betrieben, und sind seit dieser Zeit die besten Erfolge erzielt worden.“ Berghaus, Landbuch des Herzogthums Stettin, S. 1107. 102 Heute lautet die Definition folgend: „Küstenschutz ist grundsätzlich eine öffentliche Aufgabe und umfasst primär alle baulichen Vorsorgemaßnahmen gegen Überflutung und Küstenerosion.“ Vgl. Ministerium für Landwirtschaft, Regelwerk, S. 5. 103 So gliedert sich beispielsweise die Ostseeküste Schleswig-Holsteins in 387 Kilometer überflutungsgefährdete Flachküste und 148 Kilometer Steilufer. Vgl. Eiben, Schutz, S. 519f., auch Cordshagen, Küstenschutz, S. 37. 104 Eiben, Schutz, S. 520f. 105 Haffner, Zoppot, S. 17. 106 Knaak, Ostseebäder, S. 24. 107 Schwartz, Geographie, S. 349. <?page no="43"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 42 Siedlungen wurden dementsprechend, wegen des unfruchtbaren Sandbodens, dem Treibsand und der Gefahr von Überschwemmung, selten direkt an der See gebaut. Für die Insel Usedom „erscheint der Küstenstreifen an der Ostsee nahezu unbesiedelt. Landwirtschaft war hier nur bedingt möglich und für die Fischerei fehlten geeignete Hafenplätze. Selbst die bestehenden Ortschaften wie Koserow hatten mit den widrigen natürlichen Verhältnissen zu kämpfen. [...] Ähnlich ging es der Ortschaft Neukrug, die sehr unter dem Flugsand zu leiden hatte.“ 108 Mit der allmählichen Beherrschung des Flugsandes durch Küstenschutzmaßnahmen und mit der Perspektive eines romantischen Reisenden klingt die Schilderung des Flugsandes zur Mitte des 19. Jahrhunderts schon anders. In ihren „Wanderungen an Nord- und Ostsee“ von 1841 beschreiben Theodor von Kobbe und Wilhelm Cornelius das Phänomen der Wanderdünen als bewegtes und bewegendes Schauspiel. „Die Berge hier haben das Eigentümliche, daß sie wandern. Der Wind weht nach Gutdünken einen Sandberg hierhin, den anderen dorthin.” 109 Für den Badeort Misdroy auf der östlich von Usedom gelegenen Insel Wollin schilderte Georg Wilhelm von Raumer 1851 die andauernde Tätigkeit des Dünensandes. Da durch den Verlust von Bäumen „die Dünen beweglich werden”, entscheide sich hier „eine Lebensfrage für Misdroy”. 110 Nur wenig östlich, in Treptow Deep, vermissten die ersten Badegäste zwar eine „schattenreiche Promenade“, aber „die vor einigen Jahren schon auf Königliche Rechnung hier angelegte Bepflanzung der Sandberge, worin [...] mehrere Alleen und angenehme einzelne Partien angebracht [sind], und welches alle sehr guten Wachstum zeigt, [werden] bald schattenreiche Promenade genug gewähren“ 111 . Dass die Ostseeküste bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts direkt an der See praktisch nicht besiedelt war, ist zu einem nicht unwesentlichen Teil den unberechenbaren Dünenbewegungen und dem „Flugsand“ geschuldet. Die Stabilisierung des lockeren Sandes war eine Bedingung für die Ansiedlung von Vegetation direkt an der Küste und damit auch indirekt für die Anlage der Seebäder. Dünenbewegungen vergegenwärtigten die andauernde instabile Situation des Küstenstreifens, die die 108 Schleinert, Usedom, S. 84. 109 Kobbe/ Cornelius, Wanderungen, S. 78. 110 Raumer, Wollin, S. 370. 111 GStA Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben des Regiments-Chirurgus Schöning, Treptow an der Rega, vom 30.7.1805. Auch im nahen Henckenhagen bei Kolberg sorgte man sich um die Befestigung der Dünen. Die dafür nötigen Sträucher und Pfähle wurden von Dorfschulen wiederholt beim Kolberger Magistrat nachgefragt. Vgl. Staatsarchiv Stettin, Akta miasta Kołobrzegu/ Magistrat Kolberg, 65/ 202/ 0/ 1467, Schreiben vom 11.06.1814. <?page no="44"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 43 Anlage fester Häuser, Badeanlagen und Promenaden nur an ausgewählten, sicheren Punkten ermöglichte. Gewaltig und potentiell gefährlich waren etwa die teilweise ü be r 4 0 Meter hohe n Wander düne n bei Leba in Hinter pommern . Diese, so heißt es in den „Baltischen Studien“ von 1839, gereichten „den Anwohnern zum Schrecken und Verderben“, und es müssten „ernstliche Kämpfe gegen ihr vorschreitendes Verheeren gekämpft“ 112 werden. Dieses andauernde Bemühen zur Eindämmung des Landverlustes bestimmte auch die verwaltungstechnische Sicht auf den Küstenstreifen seit Jahrhunderten. Administrative Bau- und Sicherungsmaßnahmen gegen die anrollenden Fluten sind seit der Frühen Neuzeit belegt. „Seit dem 15. Jahrhundert gibt es an den südlichen Küsten der Ostsee Zäune als Sandfänger, seit dem 16. Jahrhundert sät man Strandhafer, Kiefern und Weiden an, um Dünen zu befestigen und das dahinter liegende Land zu sichern; für das Jahr 1579 ist eine solche Saataktion für die Warnemünder Ostdüne nördlich von Rostock überliefert.“ 113 1768 lobte eine Danziger Kommission einen Preis für das beste Mittel zum Dünenschutz aus, „ein Professor Titius erhielt den Preis. Er empfahl, die einst vorhandenen Waldungen wieder herzustellen, und gab die Art und Weise an, wie man junge Pflanzen im Schutze künstlicher Schirme gegen das Sandtreiben und Verwehungen schützen könne.” 114 Für den gesamten Küstenraum setzte sich der Dünenschutz, auch wegen mangelnder Umsetzung der Dünenverordnungen, nur langsam durch. So teilte Georg Wilhelm von Raumer über den Zustand der Dünen bei Misdroy mit: „Am gefährlichsten aber wird der Wind durch das Vorrücken der Sanddünen und unsere historische Darstellung hat ergeben, wie grade bei Misdroy seit Jahrhunderten der Sand verheerend gewirkt hat. Statt der alten nutzlosen Fangzäune hat man neuerdings zum Schutz der königlichen Forsten schöne Anlagen mit Strandhafer u.s.w. gemacht und überhaupt auf diese wichtige Sache große Mühe verwendet, leider aber gehört die Düne vor dem Orte Misdroy der Commune, es geschieht nicht nur nichts zur Sicherstellung, sondern Menschen und Vieh betreten die Sandberge überall, die schützenden Elsen [d.i. Erlen, H.B.], welche heilig gehalten werden sollten wie der Wald, der in der Schweitz ein Dorf vor Lawinen beschützt, verschwinden, ja man 112 Gesellschaft für Pommersche Geschichte (Hg.): Baltische Studien, Bd. 6, Stettin 1839, S. 181. 113 Küster fährt fort: „In Mecklenburg-Vorpommern verlagert sich die Küstenlinie in jedem Jahrhundert um 35 Meter ins Landesinnere, auf dem Fischland bricht in hundert Jahren ein 50 Meter breiter Uferstreifen ab, und auf Usedom ist dieser Streifen sogar bis zu 90 Meter breit. Schon seit Jahrhunderten werden Uferverbauungen und Dünen angelegt, um den Landverlust so gering wie möglich zu halten.“ Ders., Ostsee, S. 285. 114 Knaak, Ostseebäder, S. 24. <?page no="45"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 44 hat sogar ein Haus auf der Düne selbst erbaut, damit der Sand nicht zum Stillstand kommen könne. Geht es so weiter, so rückt die Düne in nicht gar langer Zeit mitten in's Dorf und macht der ganzen Herrlichkeit des Seebades ein Ende, es wird dies aber so wenig eingesehen, wie die Ge fahr en d er H olzv er wüstun g. ” 115 Die Bemühungen um den Schutz des Landes durch Dünenmaßnahmen waren seit Jahrhunderten auf wenige Punkte konzentriert, die entweder ökonomisch begründet waren, wie etwa der Schutz Warnemündes als Hafeneinfahrt für Rostock, oder, wenn es um den Bestand ganzer Regionen ging, wie im Fischland, östlich von Rostock. 116 Der Landverlust durch die Abspülung des Meeres erforderte auf Dauer gezielte Maßnahmen. Sie sollten auch die an bestimmten Stellen immer wieder auftretenden Durchbrüche zu hinter der Küstenlinie liegenden Gewässern verhindern, die z.B. wiederholt die Grenzregion zwischen Mecklenburg und Vorpommern, Fischland-Darß trennten. Die Insel Usedom war bei dem Ort Damerow seit 1736 sogar „neunmal in einen Nord- und Südteil getrennt worden“. 117 Diese punktuellen Maßnahmen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass für einen großen Teil der dünn besiedelten Küstenregion bis weit ins 19. Jahrhundert hinein „von einer systematischen Dünenkultur […] keine Rede [gewesen] sein“ 118 kann. Mit diesen allmählich einsetzenden Küstenschutzmaßnahmen, vor allem mittels der verstärkten Anpflanzung von schützenden Waldstreifen, entstand in der Folgezeit das Bild eines dicht bewaldeten Küstenstreifens. Um ursprüngliche, „natürliche“ Wälder, als welche sie später die Badegäste und romantischen Pilger bewundern sollten, handelte es sich hierbei aber nur selten. 119 Die seit dem Mittelalter starke Nutzung der europäischen Wälder war um 1800 auf einem Höhepunkt angelangt. 120 Auch die Insel Hiddensee besaß einigen Wald, bevor massive Abholzungen, wohl aus militärischem Interesse, eine karge und zu guter Letzt als „erhaben“ interpretierte Landschaft formte. 121 Auf Wittow, der nördlichsten Halbinsel Rügens, stand, so ein Reiseführer 1858, kein Wald mehr, dies aber nicht, weil, wie „es allge- 115 Raumer, Wollin, S. 377. 116 Vgl. dazu Cordshagen, Küstenschutz, S. 28ff. 117 Weiss, Schutz, S. 541. 118 Cordshagen, Küstenschutz, S. 25. 119 So wurde der ca. 60 Meter hohe markanten Streckelberg auf Usedom u.a. durch Aufforstung gesichert. Vgl. Schumacher, Geologische Entwicklung, S.166. Koch schrieb in seinem Reisebericht von 1867 u.a. über die Bepflanzung des Streckelberges auf Usedom Anfang des 19. Jahrhunderts. Der zu diesem Zeitpunkt bereits wieder bestehende Wald soll, wie an vielen anderen ufernahen Gegenden, während des nordischen und im Siebenjährigen Krieg abgeholzt worden sein. Koch, Coserow, S. 28ff. 120 Vgl. dazu Hansjörg Küster: Schöne Aussichten, München 2009, S. 66ff.; ebd., Geschichte des Waldes, München 1998, S. 176ff.; auch Fuhs, Mondäne Orte, S. 89f. 121 Vgl. Boll, Rügen, S. 6. <?page no="46"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 45 meiner Volksglaube auf Wittow“ ist, „die vielen Seestürme dort keinen Wald wieder emporwachsen ließen“, 122 sondern weil er abgeholzt und nicht wieder aufgeforstet wurde. 123 Die Küste Wittows, vor allem das nördliche Steilufer Arkonas, versuchte man seit den 1840er Jahren mittels großer Felsbrocken an der Uferböschung vor dem fortschreitenden Landverlust zu schützen. 124 Ebenso unternahm man auf dem Darß in Vorpommern bereits Mitte des 18. Jahrhunderts einige Anstrengungen, den jährlichen Landverlust von teilweise bis zu zehn Metern mit verschiedenen Schutzmaßnahmen aufzuhalten. 125 Küstenschutz durch wiederaufgeforstete Dünen setzte sich aber nur langsam an der gesamten Küste durch: Das „sehen wir bei den Dörfern Misdroy, Koserow u.a., die noch den größten Teil des 19. Jahrhunderts hindurch in schwerem Kampfe mit dem Flugsand liegen.“ 126 Nur vereinzelt wurden, wie in Warnemünde, bereits früher verschiedene Hölzer wie Akazien, Birke, Weide, Kiefer etc. zu Schutzzwecken gesetzt. Dabei war die Schutzwirkung beachtlich. Die hinter den Dünen angepflanzten Küstenschutzwälder banden das lockere Erdreich und hielten den Sand bei seeseitigem Wind auf der Düne fest. 127 In diesem Sinne trug man in einem Schreiben aus dem Jahr 1800 von Königsberg an das königliche Kabinett in Berlin über die erfolgreichen Arbeiten zur Dünenbefestigung bei dem kleinen Ort und späteren Seebad Rauschen vor: „Gräsereien, Gesträuche und Bäume sind ohne Unterschied gut fortgegangen und haben den Fuß dieser Düne vollkommen stehend gemacht, wie denn auch selbst auf der Nordseite der selben der Sand zur Ruhe gekommen ist.” 128 In besonderem Maße waren und sind Inseln, und hier vor allem die Insel Rügen mit ihrer exponierten Lage in der See, den Auswirkungen der Wellen und des Windes ausgesetzt. Dabei waren es weniger die seltenen Sturmfluten, 129 die die Gestalt des 122 Boll, Rügen, S. 38. 123 Johann Jacob Grümbke vermerkte im frühen 19. Jahrhundert, es sei bereits früh illegal viel Holz geschlagen worden. „Die den ehemaligen Gardevoigten von Jasmund anvertraute Aufsicht über die Stubnitz [Waldlandschaft auf Rügen, H.B.] muß eben nicht sorgfältig, oder strenge gewesen und diese Waldung schon in frühern Jahrhunderten stark gelichtet worden seyn, denn in dem Wendisch- Rugianischen Landgebrauche sind scharfe Verordnungen wegen ungebührlichen Holzfällens in derselben enthalten, und der Herzog Ernst Ludwig von Pommern beschwerte sich öffentlich über die unordentliche Bewirthschaftung und Verwüstung seiner Waldung, auch sind in folgenden neuern Zeiten in Betreff derselben geschärfte Holzordnungen gegeben worden.“ Ders., Darstellungen, S. 107. 124 Vgl. Boll, Rügen, S. 12f. 125 Vgl. Berg, Darß, S. 115. 126 Knaak, Ostseebäder, S. 25. 127 Weiss, Schutz, S. 546. 128 GStA, Rep. 96 A, 118 W, Schreiben an das Kabinett Königs Friedrich Wilhelm III. vom 3.5.1800. 129 Dabei können einzelne Sturmfluten durchaus zur Abtragung oder einem Küstenzuwachs von zehn bis zwanzig Metern innerhalb weniger Tage führen. Vgl. Niedermeyer, Ostseeküste, S. 73. <?page no="47"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 46 Küstenstreifens veränderten, sondern die tägliche Beanspruchung des Geländes und die Wirkung von Wasser und Frost, die ganze Steilhänge abbrechen ließen. Boll spricht in seinem Reiseführer von 1858 davon, dass auf der nördlichen Halbinsel Wittow das Dorf Vitte, „welches im Jahr 1618 noch vorhanden war, schon spurlos verschwunden, und an der östlichen Steilküste, wo das Ufer mehr lehmig wird, hat man [...] Gelegenheit, die zerstörende Einwirkung des Regenwassers auf derartige Ufer kennenzulernen“. 130 Andererseits bedeutete der Landverlust im Norden und Osten der Insel einen Landgewinn im Süden, so wie sich auch auf der Insel Hiddensee und dem Darß neben dem andauernden Abbruch an günstig gelegenen Stellen kontinuierlich neues Land bildete. Die Dünen, ob groß und gewaltig oder bloß in bescheidenem Umfang, waren nicht nur eine Gefährdung für die Anwohner, in ihrer ungezähmten Form wurden die Dünen auch für die Badegäste der Seebäder unangenehm. Das mühsame Durchschreiten des tiefen Sandes beklagte man nicht nur auf dem Weg zu den Badeanlagen. Besonders in den durch keinen Wald geschützten Badeorten bedeutete der Flugsand zudem ein Siedlungsproblem. Das Warnemünder Gewett 131 begründete 1845 seine Forderung nach dem Bau von befestigten Straßen und Wegen, „vorzüglich zu dem Zweck, damit die Badegäste ohne durch Schmutz und Sand zu waten, zu den Badeanstalten und ihren Wohnungen gelangen, auch vor letzteren ohne fortwährenden unerträglichen Flugsande ausgesetzt zu seyn, sich aufhalten können”. 132 Im Zuge des großen Aufschwungs der Ostseebäder zum Ende des 19. Jahrhunderts, mit der weitgehenden technischen Absicherung des Küstenstreifens, änderte sich die Problemlage grundlegend. Wie weit, lautete nun die Frage, dürfe man neue Häuser an das Ufer der Ostsee heranführen, um den begehrten Meeresblick bequem genießen zu können? Schließlich war der Macht des Meeres im Ernstfall nur mit stabilen Dünen etwas entgegenzusetzen. Ein Beispiel aus Mecklenburg verdeutlicht das Dilemma. In spekulativer Absicht widmete die Gemeinde Müritz, nahe Rostock, Dünenland zu Bauland um, so dass sich staatliche Stellen zum Eingreifen gezwungen sahen. Stellung bezog das Großherzogliche Finanzministerium in Schwerin zu den Bauanträgen: 130 Boll, Rügen, S. 157. 131 Das Gewett, abgeleitet vom niederdeutschen Wedde, d.h. Strafe oder Strafbestimmung, unterstand dem Rostocker Rat und war für die niedere Gerichtsbarkeit, Polizei und Verwaltung in Warnemünde zuständig. 132 StA Rostock, 1.1.3.23, Gewett Warnemünde 31, Badeanstalt in Warnemünde, Rat Warnemünde, Bd. I, Schreiben an den Rostocker Rat vom 8.10.1845. <?page no="48"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 47 „Es würde unbedingt ein Fehler sein, wollte man den Schutz, welchen die Natur durch die Bildung von Sanddünen dem hinterliegenden Lande geschaffen hat, dadurch schwächen, daß auf dem Dünengebiete Häuser, welche bei dem losen Boden nicht stärkend, sondern nur schwächend das Dünengebiet beeinflussen können, errichtet werden; man würde damit große Gefahr bei den - Gott sei Dank! - nur seltenen schweren Sturmfluten heraufbeschwören nicht nur für die auf den Dünengebieten stehenden Häuser, sondern auf das hinterliegende vielleicht weite Gebiet. So hat denn auch die Dominial-Verwaltung die Schwächung der Seeufer stets gehindert und noch jüngst, als von angesehener Seite die Erlaubniß zum Bau einer Villa auf der Düne vor Müritz an höchster Stelle erbeten ward, die Zurückweisung solchen Gesuches nur dringend befürworten können und erreicht.” 133 Eine durchaus berechtigte Zurückhaltung gegenüber diesen riskanten Bauvorhaben, lassen sich doch allein für einen Zeitraum von 1901 bis 1973 beispielsweise für Warnemünde 59 Sturmhochwässer, davon acht schwere, nachweisen. 134 Die technische Beherrschung des Flugsandes durch Dünenschutzanlagen wie Zäune, die Bepflanzung der Dünen (vor allem mit Strandhafer), die Anlage von Küstenschutzwäldern, muss als „notwendige Voraussetzung für die Entwicklung der Seebäder“ 135 gesehen werden. Dabei war die Durchsetzung von Sicherungsmaßnahmen mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Vereinzelte polizeiliche Verordnungen (Dünenordnungen), vorgesehen jeweils für einzelne Regionen und unter Einsatz von Strandvoigten und Dünenwärtern, stellten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein nur bedingt wirksames Instrument obrigkeitsstaatlicher Schutzmaßnahmen dar. 136 Auch vereinzelte Versuche, mit Zeitpachtverträgen ausgestattete Bewohner zu eigenständigem Küstenschutz zu motivieren, waren nicht von greifbarem Erfolg gekrönt, da das Interesse der „Pächter an der Erhaltung der Küstenlinie ihrer Ländereien nicht groß genug [war], um sie zu Maßnahmen zu veranlassen, die mit erheblichen Kosten verbunden waren“. 137 Ganz im Gegenteil: Sämtliche Materialien, die zur Sicherung der Küste hätten dienen können, wurden von der Bevölkerung und teilweise selbst von den Behörden zu anderen Zwecke verandt. In den holzarmen Gegenden stahl man 133 LHA Schwerin, No. 166, Ministerium des Innern. Acta betreffend die Landgemeinde Ostseebad Arendsee, Schreiben vom 17. Februar 1898. 134 Niedermeyer, Ostseeküste, S. 68. 135 Knaak, Ostseebäder, S. 25. 136 Vgl. die Strafbestimmungen für das Beispiel Rostock/ Warnemünde in Cordshagen, Küstenschutz, S. 32, 44. „Die Dünenordnung verbot für den Küstenstrich […] das Fahren, Reiten, Viehtreiben oder Weiden, ebenso das Sandgraben in den Dünen, das Gras- und Dünenkornschneiden, das Wegholen von Seetang und Feldsteinen. Eine Reihe von Paragraphen befaßte sich eingehend mit den z.T. sehr empfindlichen Strafen für Verstöße gegen die Dünenordnung. […] Bei Zahlungsunfähigkeit traten an die Stelle der Geldstrafen ,verhältnismäßige Gefängnisstrafen den Umständen nach bei Wasser und Brot oder körperliche Züchtigung’.“ Ebd., S. 38. 137 Cordshagen, Küstenschutz, S. 39. <?page no="49"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 48 munter das Holz der Fangzäune, der Sand der Dünen wurde für Stubensand und als Baukies verwendet, der Tang diente als Streu oder Dünger, auf den Dünen weidete trotz teils drakonischer Strafandrohungen das liebe Vieh. 138 Vor allem die am Ufer liegenden Steine, nötig für die Stabilisierung des Deichvorlandes, werden „von den Bewohnern des Küstengebietes […] als „res nullius“ angesehen“, also als herrenlose Sache, und dementsprechend nutzte man die Steine „für den Bau von Häusern und Stallungen, Einfriedungsmauern, für Hafenbauten, besonders auch für den Bau der Küstenchausseen“. 139 Dass es sich beim Dünenschutz um eine staatliche Aufgabe handelte, wurde erst über das Scheitern zahlreicher kleiner und kleinster Schutzprojekte an der Küste deutlich. Privates wie administratives Engagement vor Ort misslang so häufig, da man „im Grunde [wenig] von der technischen Bewältigung der Probleme des Wasserbaus am Meeresufer wußte“ und auch wenig „von der Wirkungsweise der See auf das Ufer bekannt war“. 140 So sollte erst das technikaffine 19. Jahrhundert entscheidend zur Sicherung des Küstenlandes beitragen. 141 Ein frühes Beispiel für einen auf privatem Engagement beruhenden organisierten Küstenschutz ist die Insel Usedom. Durch den Einsatz des zuständigen Inspektors Schrödter wurde die komplette Insel bereits 1826 einem planmäßigen Dünenbau unterzogen. Bis heute weisen alte Schutzwaldungen am Ufer auf sein Wirken hin. 142 Mit der an vielen Stellen der Küste erfolgten Wiederaufforstung entstanden auch große zusammenhängende Waldgebiete, teilweise bis direkt an den Strand. Neben ihrer Schutzfunktion sind sie auch bedeutend für die ästhetische Wahrnehmung und, in ihrer die Luft reinigenden Funktion, als Heilfaktor für die Bäder. 143 Der vegetationsarme Strand darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass an der südlichen Ostseeküste vielerorts eine gute Bodenqualität im direkten Hinterland dafür sorgt, dass, im Verbund mit dem milden Klima, anspruchsvolle Getreidesorten genauso gedeihen 144 wie Laubwälder mit Buchen und Eichen, die als typische 138 Cordshagen, Küstenschutz, S. 46. Cordshagen spricht hier etwas drastisch von den „Küstenschädlinge[n] Mensch und Tier.“ Ebd., S. 47. 139 Cordshagen, Küstenschutz, S. 44. 140 Cordshagen, Küstenschutz, S. 47. 141 Es blieb freilich weiterhin problematisch, mit den verschiedenen Besitzstrukturen einen einheitlichen Dünenschutz durchzusetzen. Im Staatsarchiv Stettin beschreibt eine Akte für die Dünen bei Misdroy auf Wollin das Dilemma, private und staatliche Eigentümer zu einer übergreifenden Strandsicherung zu bewegen. Vgl. ebd. Starostwo Powiatowe w Swinoujsciu/ Landratsamt Swinemünde, 65/ 118/ 0/ 17 (Laufzeit 1863-1893). 142 Vgl. Weiss, Schutz, S. 542f. 143 Küster, Ostsee, S. 88ff. 144 Schleinert, Usedom, S. 36. <?page no="50"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 49 Baumarten im „Buchenklima“ 145 vorherrschen. 146 „In vielen Küstenregionen der Ostsee“, so Hansjörg Küster, „wuchsen und wachsen, genau wie im westlichen Mitteleuropa, Laubbäume schneller als Kiefern, denn sie können das Sonnenlicht, die Wärme und die Wassermengen stets besser zu ihrer Entwicklung nutzen.“ 147 Nur direkt am Strand auf den Dünen ist der Boden so sandig, dass hier nur Nadelbäume ihren Standort haben können. 148 Als Ideal steht aber der Laubwald in üppigem Wuchs am besten bis direkt an den Strand, oder bis an das Steilufer, wie er eindrücklich und exemplarisch in Caspar David Friedrichs „Kreidefelsen auf Rügen“ von 1818 zu sehen ist. 149 2.1.2 Klimatische Faktoren Die Grenzlage zwischen Land und Meer prägt das Strandklima 150 in besonderer Weise. Hier vollzieht sich in Bodennähe der Übergang vom Land zum Meer. Häufigere Wechsel von ab- und auflandendem Wind sorgen für eine komplexe Luftzirkulation und eine damit einhergehende, zum Teil ausgeprägte Temperaturdifferenz. Neben mesoklimatischen Konstanten hängt die regionale Ausprägung des Strandklimas von den jeweiligen örtlichen Faktoren ab. Entscheidend für die Ostsee ist ihre Lage inmitten des nordeuropäischen Festlandes, womit sie einem Binnenmeer ähnelt und gelegentlich sogar als Fjord bezeichnet wird. 151 Sie weist aber auch typische Eigenschaften des Meeresklimas auf: „Besonders in den Küstenlandstrichen entwickelte sich ein maritim geprägtes Klima: Im Winter ist es an der Küste weniger kalt als im Binnenland, und im Sommer war es dort nicht so heiß. Allerdings ist das Klima an der Ostsee weniger stark maritim oder ozeanisch geprägt als das an der Nordsee und am Atlantik [...] an der Ostsee gibt es beständigeres Sommerwetter als an der 145 Kühle Sommer mit einer Monatsmitteltemperatur zwischen 10°C und 22°C, die im südlichen Ostseeraum weit verbreitet sind, werden nach Köppen als „Buchenklima“ bezeichnet. Vgl. Defant, Klima, S. 88ff. 146 Dazu auch: Boedeker, Ökologie, S. 222, 227. 147 Küster, Ostsee, S. 88. 148 „Direkt an der südlichen Ostseeküste wuchsen Kiefern weiterhin auf Dünen, wo die Trockenheit in lange dauernden Schönwetterperioden die Laubbäume verdursten ließ.“ Küster, Ostsee, S. 90. 149 Vgl. Abb. S. 132. 150 Vgl. dazu Tinz/ Hupfer, Ostseeküste, S. 9ff. 151 „Die Ostsee wird gelegentlich als großes Ästuar oder als Fjord bezeichnet, da sie als nicht sehr tiefes, vom Ozean durch flache Schwellen und Meerengen getrenntes Becken mit erheblicher Süßwasserzufuhr die übliche Definition für Ästuare oder flache Fjorde erfüllt.“ Wolfgang Fennel: Wasserhaushalt und Strömungen. In: Gerhard Rheinheimer (Hg.): Meereskunde der Ostsee, Berlin 1996, S. 56-67, hier S. 56. <?page no="51"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 50 Nordsee und am Atlantik und an der südlichen Ostsee auch oft höhere Temperaturen als an den Küsten der deutschen Bucht.“ 152 Für die hier relevante Ostseeregion zwischen Dänemark und den baltischen Staaten ist ein „Misch- oder Übergangsklima“ 153 vorherrschend. Dabei bleiben wegen der großen West-Ost-Ausdehnung der Küste auch innerhalb der südlichen Ostseeküste hinsichtlich des Klimas Unterschiede bestehen. So ist ungefähr auf der Höhe der Insel Rügen die Grenzmarke zwischen einem westlich davon vorherrschenden maritimen Klima, während sich östlich davon ein zunehmend kontinentaler Einfluss bemerkbar macht. 154 Die relativ kleine Fläche der Ostsee sorgt insgesamt für ein weniger ausgeprägtes maritimes Klima, als es noch in der Nordsee herrscht. 155 Mit der nur schmalen und im äußersten Westen über Kattegat und Skagerrak bestehende Verbindung mit den Weltmeeren wird zudem eine spürbare Ausbildung der Gezeiten verhindert. Lediglich in der westlichen Ostsee wird noch eine Hubhöhe von ca. zehn Zentimeter erreicht, während weiter östlich bei Arkona (Rügen) nur noch ca. zwei Zentimeter messbar sind und sich die Gezeiten bei Hanko im südlichen Finnland mit 0,5 Zentimeter verlieren. Die geringe Größe der Ostsee ermöglicht andererseits keine eigenständige Gezeitenanregung durch Mond und Sonne. 156 Daher ist in der Ostsee „allein der Wind für wechselnde Wasserstände größeren Ausmaßes verantwortlich“. 157 Durch das maritim geprägte Klima entstehen entlang der Ostseeküste günstige Bedingungen für den Wuchs von Laubbäumen, die das Bild vieler Seebäder prägen und damit den Kontrast zu den sandigen Böden im Hinterland, wie z.B. in Brandenburg, besonders augenfällig machen. Seiner Binnenlage geschuldet ist auch der große Anteil des Süßwassers in der Ostsee. Der stark eingeschränkte Wasseraustausch mit den Weltmeeren hat verschiedene Folgen. Nur etwa die Hälfte des Meereswassers, im westlichen noch deutlich mehr als im östlichen Teil, fließt über die Nordsee aus den Weltmeeren zu, der Rest ist Süßwasser aus den einleitenden Flüssen und Niederschlag. „Verglichen mit der Nordsee, deren Salzgehalt bei 34-35 ‰ liegt, nimmt der Salzgehalt in der Ostsee 152 Küster, Ostsee, S. 88. 153 Tiesel, Wetter, S. 47. Vgl. dazu auch Tinz/ Hupfer, Ostseeküste, S. 30ff. 154 Niedermeyer, Ostseeküste, S. 13. 155 Vgl. dazu Kiecksee, Ostsee-Sturmflut, S. 13. 156 Krauß, Hydrographische Besonderheiten, S. 80. 157 Kiecksee, Ostsee-Sturmflut, S. 13. Dazu auch: Hans Ulrich Laas,/ Lorenz Magaard: Wasserstandsschwankungen und Seegang. In: Gerhard Rheinheimer (Hg.): Meereskunde der Ostsee, Berlin 1996, S. 68-74. <?page no="52"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 51 von 20-30 ‰ in der Kieler Bucht auf ca. 10 ‰ in der zentralen Ostsee ab und erreicht im Bottnischen Meerbusen nur noch wenige Promille.“ 158 Auf dem geringen Salzgehalt und dem fruchtbaren Boden beruht auch die Besonderheit der südlichen Ostseeküste, dass hier Buchenwälder und Getreidefelder bis direkt an den Strand heran gedeihen, da keine zu salzige Gischt die Bodenqualität schmälert. Legen Urlaubsgäste heute wenig Wert auf den Salzgehalt der See, spielte er in der therapeutischen Debatte des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle in der Auseinandersetzung um die Qualität eines Seebades. 159 Der fast vollständige Festlandeinschluss der Ostsee, die Schichtung von Salz- und Süßwasser und die geringe Tiefe großer Teile der Ostsee lassen auch keine bedeutenden Strömungen entstehen. Daher bestimmen die Winde über der Ostsee maßgeblich die Höhe des Wasserspiegels und die Wassertemperaturen. Der auflandige Wind staut die Wassermassen auf und „führt zu einem Gefällestrom in die Regionen niedrigen Wasserstandes. [...] Der Wind bedingt an den Küsten starke Temperaturänderungen im Sommer. Ablandiger Wind treibt das Oberflächenwasser von der Küste weg, und aus der Tiefe wird kaltes Wasser emporgesaugt. Die Badetemperaturen an der Küste können daher sehr stark variieren.“ 160 Die Auswirkungen des mit dem vom Wind geprägten dynamischen Wettergeschehens können die klimatischen Eigenheiten bis zu 10 Kilometer ins Binnenland hinein bestimmen. 161 Das hat Folgen für die Badekultur an der Ostsee, ganz praktisch abgeleitet aus den natürlich bestimmten Faktoren von Wasserstand und Wassertemperaturen. Mit den vielfältigen Auswirkungen des Windes auf Geologie und Klima beeinflusste er auch die spezielle Ausprägung der Ostseebäder. Der relativ regelmäßige Wechsel zwischen ab- und auflandigem Wind war ein Garant für ein hohes Maß an Luftaustausch im Strandbereich, die einhergehen mit ausgeprägten Temperaturschwankungen. 162 Wie der Salzgehalt des Wassers avancierte der Wind damit zu einem elementaren Bestandteil zahlreicher Diskurse um die Heilfaktoren der Seebäder und wurde damit fester Bestandteil der medikalen Raumkonstruktion der Küste. 158 Krauß, Hydrographische Besonderheiten, S. 79. Zu den klimatischen Verhältnissen vgl. auch Küster, Ostsee, S. 92ff. Dazu auch Wolfgang Matthäus: Temperatur, Salzgehalt und Dichte. In: Gerhard Rheinheimer (Hg.): Meereskunde der Ostsee, Berlin 1996, S. 75-81. 159 Vgl. dazu Kap. 3.1 und 4.3. 160 Krauß, Hydrographische Besonderheiten, S. 80. Beides, eine schwach ausgeprägte Strömung und geringer Salzgehalt, führt in den Wintermonaten vermehrt zur Eisbildung. 161 Tiesel, Wetter, S. 47. 162 Vgl. dazu Tinz/ Hupfer, Ostseeküste, S. 24f. <?page no="53"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 52 Im konträren Empfinden zur Stadt stellt der Wind mit seiner reinigenden Wirkung die spürbarste Form eines hygienischen, innerlich und äußerlich reinigenden Prozesses dar, der ein wesentlicher Bestandteil für die Landschaftskonstruktion werden sollte. 163 In einem Raum, in dem Atmosphäre, Hydrosphäre und Lithosphäre direkt aufeinandertreffen, reicht schließlich bereits ein geruhsamer Spaziergang, um mit der Luft die urtümliche und heilende Kraft der See einzuatmen. Über den Bereich der urbanen Pathologie wird der Kontrast zum städtischen, als unrein empfundenen Raum, Bestandteil der Inszenierung des Seebades. Schließlich fügt sich auch das Wetter, verstanden in seinen Wechselwirkungen von Temperatur, Wind, Niederschlag und den damit verbundenen Folgen auf das Meer, in die Wahrnehmung und Raumvorstellung des Küstenraumes ein. 164 Da die Küste vorwiegend in den warmen Monaten besucht wird, liegt schon damit eine durch das jahreszeitliche Klima beschränkte Wahrnehmung des Küstenraumes vor. Die Saison dauert dann in der Regel von Mitte Juni bis in den September, mithin nur in einer Spanne von einem guten Vierteljahr. Bereits die zahlreichen Reiseberichte der Rügenbesucher des ausgehenden 18. Jahrhunderts erzählten ganz selbstverständlich nur von Aufenthalten in dieser warmen Jahreszeit. Die Schilderungen der Landschaft beziehen sich damit so gut wie ausschließlich auf die üppige Vegetationsperiode. Zudem herrscht in diesem Zeitraum das „tageszeitlich wechselnde atmosphärische Land-Seewind-System des Sommerhalbjahres“ 165 vor, bei dem tagsüber aufgrund der geringeren Wärmekapazität des Landes die erwärmte Luft aufsteigt und der kühleren Meeresbrise Platz macht, während aufgrund der schnelleren Abkühlung des Landes kühlere Landluft am Abend auf das Meer strömt und im Wechsel dieser Zustände in der Dämmerung Windstille herrscht. Auch die Wahrnehmung der ästhetischen Dimension der „schönen Natur“ vollzieht sich damit während des vegetativen Wachstumsprozesses. Ein durchschnittliches Wetter, ohne zu viel Sonne oder Regen, eine mittlere Temperatur, die den Reisenden nicht frieren oder schwitzen lässt, erscheint als optimales Beobachtungsumfeld und erinnert nicht von ungefähr an die Lehre vom harmonischen Verhältnis der Lebenssäfte als Grundlage eines guten Lebens. In seinem Badeführer für das junge Seebad Misdroy auf der gleichnamigen Insel betonte der Badearzt Dr. Oswald 1855 als herausragende Eigenschaft die großen „Waldungen, welche dem Patienten 163 Vgl. dazu Kap. 3.1. 164 „,Unter Klima verstehen wir den mittleren Zustand und gewöhnlichen Verlauf der Witterung an einem gegebenen Orte. Die Witterung ändert sich, während das Klima bleibt.’ (Köppen 1931) Diese Definition zeigt, daß mehrere Wetterereignisse die Witterung bilden und viele Witterungsabläufe das Klima ergeben.“ Hagen, Klima, S. 43. 165 Niedermeyer, Ostseeküste, S. 12. <?page no="54"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 53 selbst bei starkem Temperaturwechsel auf der See und am Strande ein mildes gleichmäßiges Klima darbieten“. 166 Vor allem für die Badenden in der See erlangte auch die Wassertemperatur eine große Bedeutung. Im Gegensatz zu den Küsten der Mittelmeerregion ist die nördliche Ostseeküste auch im Sommer nur mäßig warm. Die küstennahe Wassertemperatur kennzeichnet dabei ein „extremes Temperaturverhalten“, das sich durch eine deutliche Abkühlung im Winter und „auffällige Erwärmungen“ 167 im Sommer auszeichnet. Die insgesamt relativ kühle Temperatur der Ostsee ermöglicht ein therapeutisches Baden erst mit der späten Erwärmung der See und dem Abklingen der Frühjahrsstürme ab dem späten Frühjahr. Das Ende der Saison wurde hingegen lange mit dem Beginn der Herbststürme datiert. 168 In einem Katalog zur Verbesserung der Badeanstalten in Heiligendamm durch die Badeintendantur wurde dem Herzog von Mecklenburg-Schwerin die Veröffentlichung der besten Badezeit empfohlen, um Enttäuschungen der Badegäste und damit finanzielle Einbußen zu verhindern. „Sollte es einst rathsam sein, es in den öffentlichen Zeitungen bekannt zu machen, daß an der hiesigen Küste der Ostsee nur äußerst selten vor Johannis solche Witterung zu erwarten stehe, die den Fremden und Cur-Gästen behaglich sey, daher man alle Ausländer darauf aufmerksam zu machen sich verpflichten sollte. [...] In jeder Hinsicht ist also auch die zeitige Eröffnung der Bäder nicht rathsam. Der zeitiger ankommende Cur-Gast wird mißvergnügt, und also nur die wenigsten Cur-Gäste sich schon Anfang Juny auf den Weg machen, so leiden auch die Posten wirklich merklich durch das zu zeitige Eröffnungen der Bäder.“ 169 Im Duktus des Behaglichen vermittelte sich das Ziel, eine angemessene, eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Schließlich spielt, wie bereits erwähnt, für das Küstenklima auch der Wind eine wesentliche Rolle. In seiner formbildenden Kraft, direkt oder durch seinen Einfluss 166 Oswald, Misdroy, S. 32. 167 Tinz/ Hupfer, Ostseeküste, S. 18. 168 Bülow spricht von den „höheren Windstärken und häufigeren Stürmen im Winterhalbjahr, als im Sommerhalbjahr“, Bülow, Küstendynamik, S. 16. „Die starke thermische Beeinflussung hat zur Folge, daß das nach dem Winter noch kalte Ostseewasser ein kaltes Frühjahr und einen kühlen Sommerbeginn in der Küstenregion hervorruft. Umgekehrt verzögert der Wärmevorrat der Ostsee den Winterbeginn.“ Tiesel, Wetter, S. 50. 169 Schreiben vom 16.4.1804, LHA Schwerin, Badeintendantur Doberan, 2.21.11, 448. Allgemein setzte sich die Badezeit wegen der thermischen Verhältnisse für den Zeitraum zwischen Johanni (Ende Juni) bis Ende September durch. Nur unter besonderen Voraussetzungen begann man etwas früher, etwa in Apenrade: „Eine gut eingerichtete Apotheke findet man in Apenrade, wo die Badezeit, da viele warme Seebäder genommen werden, zeitig und Anfang Juni beginnt und Ende September schließt.“ Hille, Heilquellen, S. 158. <?page no="55"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 54 auf Seegang und Strömung, prägt er die Küstenformen, Ansandungs- und Abtragungsgebiete, die zum Teil innerhalb weniger Jahre zu beträchtlichen Landzunahmen oder -abnahmen führen können. 170 In der gezeitenfreien Ostsee bestimmt der vorherrschend westliche Wind den Wellengang und den damit „hauptsächlich nach Osten gerichteten Sedimenttransport“. 171 Im Wechsel von landwärts und seewärts wehendem Wind bestimmt er zudem deutlicher als im Binnenland die Temperatur an der Küste. Neben diesen geografischen und meteorologischen Phänomenen spielte der Wind auch in der Auseinandersetzung um wirksame Strategien der Heilung eine Rolle. Als Bestandteil der Kur trug er im 19. Jahrhundert mehr und mehr zur Aufwertung des Seebades in der Konkurrenz mit den binnenländischen Kurorten bei. 172 Zum einen verstand man neben dem Seebad die Seeluft als integralen Bestandteil der Kur, die das verbreitete Zivilisationsleiden der „Nervosität” linderte. 173 Zum anderen fegte der Wind die Überbleibsel zivilisatorischer und natürlicher Unreinheiten hinweg. 174 Heute wird die maritime Beeinflussung des Ostseeklimas als ein „den Menschen angenehmes Bio- und Urlaubsklima“ beworben, da vor allem die Zirkulation der Land- und Seewinde „zu einer ständigen Luftdurchmischung des Küstensaumes“ führt und „damit das Auftreten gesundheitsschädigender, stagnierender Großwetterlagen mit Föhn, Schwüle oder Smog“ 175 verhindert. Neben der symbolisch aufgeladenen reinigenden Wirkung der salzhaltigen Seeluft ging vom Seewind aber auch eine permanente Gefahr für die Stabilität des Küstenraumes aus. In den vor allem im Winterhalbjahr einsetzenden Stürmen zeigte sich die Abhängigkeit von den „Naturgewalten“. Zahlreiche Quellen beschreiben die Schwierigkeiten, vor allem in den Anfangsjahren der Seebäder, eine Infrastruktur in Strandnähe zu etablieren. Man sei sich bewusst, so ein Bericht der Medicinal- 170 Vgl. dazu Bülow, Küstendynamik, S. 14f.; Niedermeyer, Ostseeküste, S. 71f.; Kelletat, Physische Geographie, S. 90f.; Horst Sterr: Seegangsverhältnisse, Sedimenttransport und Materialbilanz in der Kieler Bucht, Ostsee. In: Klaus Schipull/ Dietbert Thannheiser: Neue Ergebnisse der Küstenforschung. Beiträge zur 6. Tagung des Arbeitskreises „Geographie der Meere und Küsten, Hamburg 1988, S. 99-119. 171 Ministerium für Landwirtschaft, Regelwerk, S. 10. 172 Vgl. dazu auch Kap. 3.1. 173 Elise von Hohenhausen bemerkte 1820 in ihren Reiseberichten vom Besuch im Seebad bei Kiel: „Das Seewasser hat wie die Seeluft eine nervenstärkende Gewalt.” Dies., Natur, S. 137. 174 Johann Carl Friedrich Rellstab pries in seiner „Reise nach Rügen“ von 1797 die jahreszeitlich wiederkehrenden Stürme als Teil der Heilkraft des Ortes: „Die häufigen Winde, im Früh- und Spatjahr Stürme, führen frische Seeluft herbey, und böse Dünste fort.“ Ders., Reise, S. 145 der Beilage. Dabei sind es tatsächlich die Küstenrand- und Insellagen, die besonders häufig von starken Winden betroffen sind. Vgl. Tiesel, Wetter, S. 52. 175 Tiesel, Wetter, S. 48. <?page no="56"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 55 Commission in Königsberg an das Berliner Innenministerium aus dem Jahr 1817, dass nur eine flexible Bebauung, mit auseinanderzunehmenden Badeanlagen, sinnvo l l s ei, „w eil uns ere Seeuf er den Wirku ngen der S ee ausge set zt, k eine f ests tehe nden Gebäude zu lassen“. 176 So wurde für den Eigentümer der Seebadeanstalt von Rügenwalde, Dr. Georg Büttner, um Unterstützung durch den preußischen König gebeten, denn „im vorigen Jahre hat diese Anstalt bei einem in der schlechten Sommer Witterung begründeten sehr geringen Besuche, einen bedeutenden Ausfall in der Einnahme erlitten, und in dem letzt verfloßenen Winter und Frühjahr habe[n] die anhaltenden und sehr heftigen Westwinde nicht nur einen Theil des Dachs, sondern auch die dadurch herbeigeführten mehrmaligen Überschwemmungen [...] auch das Fundament des Hauses zerstört“. 177 Auch in Swinemünde suchte man nach Unterstützung nach, da „leider ein großer Theil der hiesigen Badeanstalten bei dem am 4. September stattgefundenen Sturme ein Raub der Wellen geworden [ist]“. 178 In Warnemünde wurde von einem Sommersturm berichtet, in dem „die Badeanstalten durch Seesturm zerstört wurden“ und wegen der „ungünstigen Witterung [...] die Zahl der Badegäste bedeutend geringer war, wie im vorausgegangenen Jahre“ 179 . Das für den Badebetrieb einschneidenste Wetterereignis für den Ostseeraum war die Sturmflut von 1872, in der weite Teile des Küstenlandes überspült wurden, zahlreiche Menschen ertranken und viele Badeanlagen völlig verwüstet wurden. Der stets fragile Charakter des Küstenraumes fand damit eine weitere, sich im ökonomischen Feld widerspiegelnde Bestätigung. 176 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben vom 8.2.1817. Bericht der Medicinal-Commission Regierung Königsberg an das Innen-Ministerium Berlin betr. Anlegung einer Seebadeanstalt in Preußen. 177 Schreiben des Kultus-Ministeriums an König Friedrich Wilhelm III. Vom 22.7.1822, GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557. 178 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2558, Schreiben der Swinemünder Stadtverordneten vom 17.10.1843. 179 StA Rostock, Rat Warnemünde, Sign.: 1.1.3.23. - 31, No. 28, Schreiben an das Gewett in Rostock vom 22.9.1836. <?page no="57"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 56 Hoff, Rewahl (heute Trzęsacz), um 1930. Kirchenruine an der Steilküste, erbaut 2. Hälfte 15. Jahrhundert, damals Entfernung zum Strand: zwei Kilometer. Schließlich bestimmt an der gezeitenlosen Ostsee der Wind auch maßgeblich die Stärke des Wellenschlages. Die Kraft der Wellen war in der zeitgenössischen Diskussion um den Stellenwert des einzelnen Seebades, sowohl in der Konkurrenz mit den Nordseebädern als auch innerhalb der Ostseebäder, von herausragender Bedeutung. 180 In einer 1837 erschienenen Erwiderung auf die polemische Schrift des Badearztes von Heiligendamm, Dr. Johann David Wilhelm Sachse (1772-1860), erwiderte der Scheveninger Badearzt Dr. Aumerie, es träte „an der grossen Wasserfläche der Nordsee äußerst selten Windstille ein, so dass der Wellenschlag die Regel, ruhiges Meer aber die Ausnahme ist, was sich an der Ostsee wohl umgekehrt verhalten mag“. 181 Auch innerhalb der Ostseebäder wurde die Stärke des Wellenschlags als Distinktionsmittel eingeführt. In einem Schreiben der Stettiner Regierungs-Abteilung an das Preußische Ministerium der Medicinal-Angelegenheiten betonte man die Vorzüge Swinemündes: „Die Lage der Stadt Swinemünde […] genießt vor anderen und besonders vor Puttbus den großen Vorzug, daß es [...] unmittelbar an der See liegt und 180 Vgl. dazu auch Kap. 4.3. 181 Aumerie, Scheveningen, S. 155 <?page no="58"?> 2.1 Naturraum und neue Wahrnehmungsmuster 57 daher den wohltätigen Wellenschlag der offenen See hat.“ 182 Dagegen empfahl ein Visitationsbericht ein Jahr später Kolberg als förderungswürdiges Seebad, das wegen seines „kräftigeren Wellenschlages vor Swinemünde Vorzüge“ 183 besitze. Nicht nur die Fixierung von Bauten wurde in Strandnähe durch die Witterung solange verhindert, wie es nicht zu effektiven Dünenschutzmaßnahmen kam. Auch die Struktur des Strandes und der Dünen veränderte sich vor allem nach Stürmen so stark, dass die Küste zum Teil beträchtlichen Veränderungen unterlag und bekannte Verhaltensmuster, wie der Gang durch die Dünen zum Strand, nur mit Hilfe technischer Maßnahmen gewährleistet werden konnte. Im Seebad Cranz bei Danzig berichtete 1817 die Königliche Regierung von Königsberg: „Das starke Austreten der See im vergangenen Winter, hatte das bergichte Ufer so geändert, daß ohne bauliche Vorkehrungen die dadurch hervorgebrachte jähe Beschaffenheit desselben, nicht gut zuließ, von da hinter zum Vorlande und in die See zu können. Es wurden also drei Steige zum Hinuntersteigen von einer Zusammenfügung gelegt, die ihre Wegnahme, Zusammenlegung und künftige Benuzzung möglich machte. Diese Vorrichtung war durch die Ufer Veränderung jezund notwendig, weil ohne sie nicht zum Ufer zu können war ohne große Umwege zu machen, wurde aber auch schon früher wegen der Bequemlichkeit gewünscht.“ 184 Besonders die Inseln waren wegen ihrer großen Angriffsfläche durch Stürme gefährdet. So konstatierte Bernhard Oliver Frank 1816 von der Insel Greifswalder Oi, nahe Rügen: „Noch jährlich muß diese Insel gewisse Theile ihres Landes dem unersättlichen Ozean opfern. Vor etwa 10 Jahren war ich selbst ein gerührter Zeuge davon, als ein kleines Gebäude, das an der südwestlichen Ecke stand, niedergerissen werden mußte, weil das Meer einen Theil seines sonstigen Fundaments ihm geraubt hatte.“ 185 Der Ozean war und blieb hier weiterhin tätiger Widerpart des Menschen, der nur als „gerührter Zeuge“ dem wilden Treiben des Meeres zuschauen kann. Neben den bewegten Elementen bestach auch die Sonnenstrahlung als separater Wirkmechanismus für den Strandaufenthalt. Mit dem 20. Jahrhundert wurde der von der Sonne gebräunte Körper zum Zeichen von Wohlstand. Gebräunte Haut stand für Gesundheit und Erfolg. Dagegen galten Sonnenstrahlen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein als gesundheitsschädlich, da gebräunte Haut noch allzu deutlich an die arbeitende (Land-) 182 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 30.5.1822. 183 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 1.1.1823. 184 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben vom 23.9.1817. 185 Frank, Denkmäler, S. 41. <?page no="59"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 58 Bevölkerung erinnerte. 186 Dementsprechend wurde ein ganzes Arsenal von natürlichen und künstlichen Maßnahmen erdacht, um die Sonnenstrahlen nicht auf die blasse Haut gelangen zu lassen. „Wind und Sonne blieben seitdem stets Mächte, vor denen der Badegast sich zu schützen suchte - hinter Verandafronten, in Strandkörben, unter Wagenradhütten und Sonnenschirmen.“ 187 Und so war die Frühzeit der Seebäder auch geprägt von dem Bemühen um zahlreiche Schattenspender, die die Badegäste vor den Strahlen der Sonne schützen sollten. Bedeutender als die künstlichen Schutzschilde in Form von Veranden und Pavillons war während der Entstehung der Seebäder die Anlage natürlicher Schattenspender in Form von Sträuchern und Bäumen. Der preußische Diplomat und General Martin Ernst von Schlieffen (1732-1825) sprach im Namen honoriger Badegäste von Rügenwalde, als er 1818 das zuständige preußische Ministerium zur Anlage eines Parks aufforderte: „Auch wäre es wünschenswerth, daß die Bade Gäste irgend im Schatten ihre Promenaden machen könnten, daher die Anpflanzung von gewöhnlichen Baum Arten sehr wünschenswerth wäre, um sich vor der Sonne Strahlen, welche auf dem Sande noch stärker wirken, einigermaßen zu decken.“ 188 Als Zeichen einer „natürlichen“, unkonventionellen Badekur galt es indes auch, sich gerade nicht vor der Sonne zu verstecken, mit allen daraus resultierenden Folgen. Fanny Mendelssohn-Bartholdy berichtete in einem Brief an ihren Mann von der veränderten Nachmittagsgestaltung: „Den Nachmittagskaffee haben wir gemeinschaftlich abgeschafft, unsrer Nasen wegen, an denen man ohne Schwefelhölzchen und Feuerzeug Licht anzünden könnte. Verbrannt bin ich dabei, lieber Mann, eine Zitrone ist eine Lilie gegen mich.“ 189 Eduard Devrient, prominenter Berliner Schauspieler und Sänger, schrieb seiner Frau Therese vom Ende eines Tagesausfluges während seiner Rügenreise, überschattet von den versammelten Misslichkeiten des Wetters: „Wir fuhren dann in Wind, Staub und Sonnenbrand hierher zurück.“ 190 Dabei gilt die Insel Usedom als eine der sonnenreichsten Regionen Deutschlands, der Beginn der Saison in den Seebädern im Juni fällt zusammen mit dem zugleich wolkenärmsten und sonnenscheinreichs- 186 „Man kommt nicht hierher [an die See, H.B.] um sich den Sonnenstrahlen auszusetzen, die nur Blutandrang verursachen, das Gewebe austrocknen, der Haut die sonnenverbrannte Bräune der arbeitenden Bevölkerung verleihen und in jeder Hinsicht mißvergnüglich stimmen.” Corbin, Meereslust, S. 108. 187 Tilitzky/ Glodzey, Ostseebäder, S. 216. 188 GstA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 14.2.1818. 189 Hensel, Familie Mendelssohn, Brief vom 6.7.1839, S. 509. 190 Devrient, Briefwechsel, Brief vom 22.7.1834, S. 30. <?page no="60"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 59 ten Monat des Jahres - eine Eigenart, die sich später als Vorteil der Seebäder herausstellen sollte. 191 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen Abseits ihrer physischen Materialität wurde die Vorstellung und Bewertung von Räumen über ihre kulturelle, historisch gewachsene Zuschreibung geformt. Dabei spielte der Grenzraum zwischen Land und Meer eine besondere Rolle und bildete für verschiedenste Deutungen ein ideales Terrain, steht er doch als stets unsichere Scheidemarke zwischen dem festen Land und dem einerseits unsicheren und gefährlichen, andererseits fruchtbaren und neue Länder verheißenden Ozean. An dieser sich ständig bewegenden Grenzlinie, geprägt von einer geringen Besiedlung und einer schwachen kulturellen Durchdringung, entfalteten sich daher mühelos philosophische, literarische und vor allem theologische Diskurse. Über Raumvorstellungen ab dem 17. Jahrhundert lässt sich jedoch nicht sprechen, ohne auf den gesellschaftlich bestimmenden theologischen Diskurs Bezug zu nehmen. Aus dem Mutterboden von Kirche und Theologie ergaben sich auch für die Naturwahrnehmung relevante neue Erkenntnismuster. Der Küstenraum wurde zum Spekulationsraum für die ersten und letzten Fragen, für die drängenden Fragen zur Erdentstehung und die zunehmend in Frage gestellte Macht des Schöpfergottes. Kirche und Religion sind zugleich „Produkte und gestaltende Mächte“ 192 der Neuzeit. Und so nahmen religiöse Vorstellungen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auch auf die allgemeinen Raumvorstellungen. 193 Im 18. Jahrhundert vollzog sich in der Theologie eine Wende in der Naturdeutung, die in populären Schriften neueste Erkenntnisse der klassischen Naturwissenschaft mit einer Neuinterpretation der Schöpfungstheologie verband und damit massiv zur Verbreitung eines neuen Naturbildes beitrug. Hier vollzog sich der Schritt von der sündhaft gefallenen Welt zur „guten Schöpfung“. Ein neuer Blick auf das Meer und die Küsten wurde so erst 191 Tiesel, Wetter, S. 51. 192 Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 403. 193 Dafür spricht auch die im 18. vor allem im protestantisch geprägten Raum zunehmende Lesekultur breiterer Schichten. Mit der protestantischen Volksfrömmigkeit des 18. und 19. Jahrhunderts erlangte religiöse Literatur, vor allem Andachts- und Erbauungsliteratur, in den häuslichen Bibliotheken kontinuierlich über einen Anteil von 50 Prozent aller Bücher, wie Hans Medick für den südwestdeutschen Raum herausgestellt hat. Danach verdankte sich nach Medick auch die „gesellschaftlich verbreitete „Literalität“ des 18. Jahrhunderts […] eher spezifischen religiösen Impulsen […] als den gleichzeitig wirksamen Aufklärungsbestrebungen“. Medick, Volk „mit“ Büchern, S. 61. <?page no="61"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 60 möglich. Von dieser Verherrlichung der vollkommen göttlichen Schöpfung war es dann nur noch ein kleiner Schritt bis zur romantischen Natursehnsucht. Für die besondere Rolle, die die Landschaftskonstruktion für die „Entdeckung“ der Küsten und später auch für die Seebäder spielte, konnte der Wandel des Naturverständnisses während dieser „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) nicht ohne Folgen bleiben. Und so zeigten sich in der neuen Naturvorstellung, selbst als sie sich längst aus den theologischen Klammern gelöst hatte, die verborgenen religiösen Grundmotive. 194 Auch die medizinischen Vertreter einer vitalistischen Theorie des Lebens, wie sie etwa der prominente Befürworter der Seebäder, Christoph Wilhelm Hufeland, vertrat, argumentierten auf der Suche nach den seelischen Ursprüngen von Krankheiten mit den „Kategorien der Sündenlehre“. 195 Diese Vorstellung einer von religiösen Mustern durchwobenen Natur offenbarte sich noch in der späteren Badeliteratur wie auch in den Reiseberichten. Metaphern von Pilgerreisen, Wallfahrten und romantischen Paradiesen durchdringen diese bis heute. Auch die besondere Rolle des Badens im Meer erhielt über ihre Anspielung auf religiöse Motive, wie die Taufe, eine über das Medizinische hinausweisende Signatur. Grundlage einer neuen Wahrnehmung der Küste war dabei die Abkehr von der barocken natura lapsa, der nach dem Sündenfall mit dem Menschen verfluchten Natur. 196 Diese traditionsreiche Verfallsgeschichte der natura lapsa zeigt sich in vielfältiger Weise: „Alle Übel dieser Welt, Naturkatastrophen, Seuchen, Kriegszüge, Hungersnöte, unerklärliche Phänomene wie Sonnenflecken und Kometen galten als Zeichen für ein Fortschreiten des Verfalls der Natur und damit auch als Zeichen für das Nahen der Endzeit, des Jüngsten Gerichts. Eine so verstandene Natur konnte nur durch das permanente Eingreifen Gottes vor dem vorzeitigen Untergang bewahrt werden." 197 Das bedeutet aber auch, dass die gesellschaftliche Ordnung nur über das aktive Eingreifen weltlicher Instanzen in diesen Verfallsprozess wiederhergestellt werden konn- 194 Thomas Mann fasste in seinem 1926 gehaltenen Vortrag „Lübeck als geistige Lebensform“ dieses außerhalb des realen stehende Bild vom Meer in den prägnanten Satz: „Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit, des Nichts und des Todes, ein metaphysischer Traum; “ vgl. Thomas Mann: Gesammelte Werke in 12 (13) Bänden. Frankfurt/ Main 1960 [74], Bd. XI" S. 376- 398, hier S. 391. 195 Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 487. 196 Dabei besitzt die Vorstellung eines dämonischen Raumes als allgemeine Qualität des Nordens eine längere Tradition. Für antike wie mittelalterlich-christliche Deutungen verweist der Norden vielfach auf das Dunkel, die Kälte, auf den Zugang zur Unterwelt, zum Reich von Dämonen und der Hölle. Vgl. Peter Dinzelbacher: Die letzten Dinge, Freiburg 1999, S. 127ff. 197 Groh/ Groh, Außenwelt der Innenwelt, S. 104. <?page no="62"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 61 te. Dabei demonstrierte der Fürst die Ordnungsmacht, der sich auch die Natur zu fügen hat. T he olo gi sch g reif bar wi rd die A bk ehr v on dies er Vo rs tel lun g der per mane nt en Verfallsgeschichte durch die zunehmende Hinwendung zur oeconomia naturae, einer ausbalancierten Natur, in der es keine andauernden Verfallsprozesse gibt. Wirksam wurde diese Vorstellung mit der deutlichen Aufwertung der Schöpfungstheologie, deren Gewicht gegenüber der bis dahin prägenden Heilstheologie im 17. und 18. Jahrhundert spürbar zunahm. In der Schöpfungstheologie verdarb der Sündenfall zwar den Menschen, nicht aber die gesamte Natur. Ganz im Gegenteil: Im Abbild der Natur spiegelt sich die Schöpfung so, „daß sie als Selbstoffenbarung eines allmächtigen, gütigen und weisen Schöpfers gelten kann." 198 In der erkennbaren Regelmäßigkeit natürlicher Abläufe und dem Einpassen des Menschen in den Kreislauf des Naturgeschehens ist dies ganz offensichtlich zu erkennen. In dem Gewahrwerden dieser sinnvoll angelegten Regelhaftigkeit und der Möglichkeit des guten Lebens innerhalb dieser Schöpfung, die Gott mit den Worten „Und siehe da, es war sehr gut" (Genesis 1,31) beglaubigt hatte, bestätigt sich das positive Verhältnis des Menschen zur Natur. Im Rahmen der Natürlichen Theologie, die im Gegensatz zum Offenbarungsglauben die Erkenntnis Gottes durch die menschliche Vernunft postuliert, entwickelt sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Physikotheologie. 199 Von England auf den Kontinent übergreifend, betrachtete man darin die göttliche Schöpfung und den Weltzusammenhang mit den Mitteln der modernen Naturwissenschaft. Jenseits pietistischer Frömmigkeit oder atheistischer Naturerkenntnis strebte man eine Harmonisierung der Teleologie des Glaubens mit den modernen Erkenntnismethoden an. In der Natur spiegelte sich die Ordnung der göttlichen Schöpfung im Kleinen und Großen wider, und jede neu entdeckte Gesetzmäßigkeit der Naturabläufe bestätige nur per analogiam die göttliche Schöpfungsweisheit. Die Physikotheologie, entscheidend für die Popularisierung der Naturwissenschaften und für die Umdeutung ehemals „wilder“ und negativ besetzter Landschaften, verlor mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert an Bedeutung. Die Naturwissenschaft bedurfte schließlich keines alles erklärenden Prinzips mehr, schienen Naturgesetze doch auch ohne diese Annahme zu funktionieren. Die Physikotheologie hinterließ jedoch das Interesse an allen Naturgegenständen und die grundsätzlich positive Besetzung auch ehemals verachteter Natur, vor allem der Hochgebirge und des Meeres. Auf dieser grundsätzlich optimistischen Naturdeutung baute die romantische Naturinterpretation auf. Wenn die Natur auch nicht 198 Groh/ Groh, Außenwelt der Innenwelt, S. 105. 199 Vgl. dazu auch Kap. 2.2.3. <?page no="63"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 62 mehr direkt zu ihrem Betrachter spricht, so zielt das große Sehnen doch genau darauf hin. Damit spiegelt sich auch im Aufenthalt am Meer und im Seebad ein Abglanz der göttlichen Natur. Was aber heißt das nun genau für die Küste und das Meer? Für die Annäherung an das Meer im 18. Jahrhundert bedeutete es die allmähliche Umkehrung des Bildes einer terra terribilis in eine zunächst wundersame, schließlich erhabene und schöne Landschaft. Die Schrecken der Meere, Überflutungen, Stürme, Schiffsuntergänge, das gesamte Repertoire des von Monstern durchzogenen Schauerbildes, begann sich aufzulösen. 200 Mit der technischen Beherrschung durch Deichbau und neue Schifffahrtstechnik, mit dem Verständnis natürlicher Vorgänge verschwanden die Schrecken zwar nicht, sie büßten aber ihre beherrschende Rolle für die Wahrnehmung und Beschreibung von Meer und Küste ein. Die überwältigende Fruchtbarkeit der nördlichen Meere, die Fülle der hier vorkommenden Tiere und Pflanzen, die Rolle des Meeres als Mittler zwischen den Kontinenten, gewannen dagegen zunehmend an Gewicht. Damit gelang es, die Scheidelinie zwischen Meer und Festland, den Strand als Grenzraum, als Ort der Rekreation zu betrachten. Mit dem Übel verschwand auch manche große Erzählung von untergegangenen Städten und geheimnisvollen Inseln. Und doch: In den oft tagelangen, mühevollen Reisen zum Meer spiegelte sich die mühevolle Pilgerfahrt zum Reliquiar, in der Unendlichkeit des Horizontes lauerte noch immer - oder wieder - das Transzendente eines verborgenen Gottes. Mit dem Gang und dem Eintauchen in das Meer verband sich Weihe und Todesangst, erfolgte die physische und psychische Heilung. In der Medizin versteckte sich in der Thalassotherapie die Erbin eines nun säkularisierten Meerwassers, in dem der Schrecken des Bades zur Reinigung und Heilung führt. Ein strenges Regularium durchzog unter ärztlicher Aufsicht den Badeaufenthalt, als handele es sich um das willige Ableisten auferlegter Buße. Auf der anderen Seite sollten Landgeistliche, so die Forderung der Aufklärer, die Grundlagen medizinischer Praxis beherrschen. Die Pastoralmedizin, „eine Verbindung von Pastoraltheologie, also der Lehre von der Seelsorge, und Medizin“, 201 war sinnfälliges Bindeglied zwischen Theologen und Medizinern, Konkurrenten im Bemühen um Professionalisierung. 200 Nichtsdestotrotz blieben vor allem die Sturmfluten gefürchtet. So wurden beispielsweise für Warnemünde im Zeitraum zwischen „1901 bis 1973 insgesamt 59 Sturmhochwässer [nachgewiesen], davon acht schwere, und 71 Sturmniedrigwässer, davon vier schwere“. Vgl. Niedermeyer, Ostseeküste, S. 68. 201 Brockmeyer, Selbstverständnisse, S. 186. <?page no="64"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 63 Und schließlich setzte sich die religiöse Naturraum-Metaphorik von Paradies und Unendlichkeit in den Reiseberichten und Reiseführern des 19. Jahrhunderts ung eb ro ch en f or t, n ach dem s ch on die ro ma nti sch g esti mmt en Bade gä st e in dies er Stimmung ihren Aufenthalt verträumten. 2.2.1 Das Meer im Kontext der gefallenen Natur Corbin hat zu Recht auf die lange Tradition einer „ganze(n) Schicht abstoßender Bilder“ 202 hingewiesen, von der aus sich erst die veränderte Wahrnehmung des Küstenraumes entwickeln konnte. Bevor das 18. Jahrhundert damit beginnen konnte, die Küstenregion auch der Ostsee als eigenständigen, ästhetisch sublimierten, reizvollen Raum zu entdecken, bevor überhaupt ein Interesse an der Küste entstehen konnte, mussten sich eingeprägte Raumwahrnehmungen verändern. Denn bis dahin war die Sicht auf das Meer von negativen Vorstellungen geprägt. Blumenberg spricht davon, dass „unter den elementaren Realitäten, mit denen es der Mensch zu tun hat […] die des Meeres [...] die am wenigsten geheuere“ 203 ist. Nicht nur realiter ist das Meer ein solcher Raum des Ungewissen. Das Ärgste was dem Glauben passieren könne, so der Apostel Paulus, sei Schiffbruch zu erleiden. 204 Schon in den altorientalischen Schöpfungsmythen und mit ihnen später im Christentum der Kirchenväter war das Meer nicht nur gefährlich, sondern auch eine Heimstatt des Dämonischen. 205 Bis in die Neuzeit existierte die Vorstellung des vom Bösen beherrschten Elementes, sinnhaft ausgedeutet in der Figur des alttestamentlichen Chaosungeheuers Leviathan, das hier sein Zuhause hat. 206 Auch in den nordischen Ländern war das Meer ein dunkles, gefährliches Ungeheuer. So erscheint im angelsächsischen Heldenepos Beowulf der Held eben darum so stark, weil er als „Sieger über das Meer“ 207 triumphiert. Geprägt ist die Küste durch den Grenzraum Strand und das Meer, das selbst im Falle der relativ kleinen Ostsee über das ganze maritime Schreckensszenario verfügt. 202 Corbin, Meereslust, S. 13ff., hier S. 13. 203 Blumenberg, Schiffbruch, S. 9. 204 „Bleib in deinem Glauben fest, und bewahr dir ein reines Gewissen. Denn wie du weißt, haben einige ihr Gewissen zum Schweigen gebracht, und deshalb hat ihr Glaube Schiffbruch erlitten.“ 1. Thimoteus 1,19. 205 Grage, Chaotischer Abgrund, spricht mit Hinweis auf Hugo Rahners Untersuchung über die Seefahrtsmetaphorik der Kirchenväter (Ders.: Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964) von dem „bitteren Meer“, das die Gefährlichkeit des Elements für die Seefahrt verdeutlicht und andererseits dem „bösen Meer“, das Sinnbild für das Dämonische des Meeres ist. Vgl. ebd., S. 36ff., 44ff. 206 Grage, Chaotischer Abgrund, S. 45. 207 Vgl. dazu Meier, Seefahrer, S. 9. <?page no="65"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 64 Denn ganz im Gegensatz zum locus amoenus, der heiteren Landschaft der antiken und frühneuzeitlichen Pastoraldichtung, galt das Meer als abschreckender Ort par excellence: „Das Schaudern vor dem Unergründlichen und scheinbar Unendlichen des Meeres bewirkte, daß kein Element stärkere Angst auslöste als das Wasser in Meeresgestalt; trotz positiver Eigenschaften, die das Wasser im christlichen Kult als Mittel der Reinigung, Sühne und Neugeburt erhielt, wähnte man auch im Christentum das Meer als Behausung und Medium unheimlicher, verschlingender Dämonen.“ 208 Diese alten Vorstellungen transportierten nicht zuletzt zwei in ihrer Bedeutung herausragende Teile der Bibel. Zuerst steht in der Folge des menschlichen Sündenfalls die göttliche Strafe der Sintflut: „Denn siehe, ich will eine Sintflut mit Wasser kommen lassen auf Erden, zu verderben alles Fleisch, darin ein lebendiger Odem ist, unter dem Himmel. Alles, was auf Erden ist, soll untergehen.“ (Genesis 6,17) In der Flut von oben und unten ist die verschlingende und zerstörende Kraft des Wassers eindrücklich belegt. Auf der anderen Seite steht die Hoffnung auf das ewige Jerusalem, in dem das schreckliche Meer aufgehört hat zu existieren: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr.“ (Off. 21,1) Die „archaische Chaotik und schreckliche Feindseligkeit“ 209 des Meeres, die den Menschen an das ihm unheimliche Element ausliefert, blieb solange bestehen, bis er damit begann, es wissenschaftlich zu erkunden, zu begreifen und in der Folge technisch zu bezwingen. Bis dahin aber prägte die neuzeitliche europäische Tradition die erwähnte Vorstellung einer andauernden Verfallsgeschichte der Natur, der natura lapsa. 210 Mit Luther folgte man der Vorstellung eines Niederganges der Welt, die seit der Sintflutstrafe von Gott nur durch seine providentia noch vor dem Untergang bewahrt werde. Gottes Schöpfung ist dabei ebenso in die Strafe der Vergänglichkeit eingebunden und harrt ihrer Erlösung. So übersetzte Luther in paulinischer Tradition im Römerbrief: 208 Bredekamp, Wasserangst und Wasserfreude, S. 147f. 209 Böhme, Kulturgeschichte des Wassers, S. 28. 210 Zur neuzeitlichen Entwicklung unterschiedlicher Naturvorstellungen sind in den letzten Jahren eine größere Zahl von Veröffentlichungen erschienen. Vgl. dazu u.a. Groh/ Groh, Außenwelt der Innenwelt, v.a. S. 103ff.; Michael Kempe: Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) und die Sintfluttheorie, Epfendorf 2003, S. 30-55; Krolzig, Naturverständnis; Dirlinger, Bergbilder; Rolf Sieferle: Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, Frankfurt/ Main 1989; Stefan Mühr: Naturwahrnehmung - Fremderfahrung. Entwurf zum Textverständnis europäischer Naturals Fremderfahrung aus der Transformationsgeschichte ihrer Denkfiguren, Frankfurt am Main 2001. <?page no="66"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 65 „Sintemal die Creatur vnterworffen ist der Eitelkeit / on jren willen / Sondern vmb des willen / der sie vnterworffen hat auff die Hoffnung. Denn auch die Creatur frey werden wird von dem Dienst des vergenglichen wesens / zu der herrlichen Freiheit der kinder Gottes. Denn wir wissen / das alle Creatur sehnet sich mit vns / vnd engstet sich noch jmer dar.“ 211 So begreift Luther auch in seiner Genesis-Auslegung das Paradies und die Folgen der Vertreibung: „Damals war die Welt rein und unschuldig, weil der Mensch rein und unschuldig war. Jetzt beginnt auch die Welt anders zu sein [...] Alles ist nach dem Sündenfall entstellt worden, so daß alle Kreatur, auch Sonne und Mond, gleichsam einen Sack umgetan haben, und alles, was vorher gut war, wurde schädlich durch den Sündenfall.“ 212 Und mit der permanenten Sündhaftigkeit des Menschen verschlimmerte sich die menschliche wie die äußere Natur immer weiter. Im Sinne einer sich seit der Sintflut beständig verschlechternden Welt argumentierten auch die viel diskutierten Werke des Bischofs von Gloucester Godfrey Goodman (ca. 1582-1656), dem „wohl bekanntesten Verfallstheoretiker des 17. Jahrhunderts“, 213 mit seinem Buch „The Fall of Man, or the Corruption of Nature“ (1616) und Thomas Burnets (ca. 1635-1715), dem königlichen Kaplan am Hofe Williams III., mit seiner „Telluris theorie sacra“ von 1681 (dt. 1693). 214 Beide Schriften wurden ausgiebig diskutiert unter der Frage: „Kann der Mensch noch auf dieser Welt auf sein Heil hoffen oder muß er auf die Ankunft Christi warten? “ 215 In dieser bangen Erwartung bleibt das dauerhafte Eingreifen Gottes nötig, um die Welt vor dem Untergang zu retten, 216 denn „die einst harmonische und vollendete Natur ist durch den Sündenfall korrumpiert worden“. 217 Durch Tod und Auferstehung Christi ist der alle Harmonie zerstörende Sündenfall jedoch wieder ausbalanciert worden, so dass Gott dem Verfall durch seine providentia wenigstens bis zur Apokalypse und dem Jüngsten Gericht, der Neu-Schöpfung „am Ende“, Einhalt gebietet. Während für die Natur Gottes Eingreifen die einzige Möglichkeit zu ihrer Stabilisierung bedeutet, heißt es für die Gesellschaft, Ordnung 211 Luther-Bibel 1545, Brief des Paulus an die Römer 8, 20-22. 212 Martin Luther: Werke, Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar 1911, Bd. 42, S. 59, S. 68, Zit. nach Krolzig, Frühaufklärung, S. 199. 213 Kempe, Wissenschaft, S. 32. 214 Vgl. zu Burnet Dirlinger, Bergbilder, S. 53ff.; Kempe, Wissenschaft, S. 35ff. Kempe weist auch auf die Vielschichtigkeit des Burnetschen Entwurfs hin und sieht Burnet in seiner Argumentation in der Tradition einer physikalischen Erklärung der Sintflut auf Grundlage der cartesianischen Mechanik und damit eines Konzeptes, das „von vielen Gelehrten des ausgehenden 17. Jahrhunderts als Durchbruch eigentlicher Wissenschaftlichkeit“ gefeiert wurde. Ebd., S. 37. 215 Kempe, Wissenschaft, S. 30. 216 Vgl. dazu Groh/ Groh, Außenwelt der Innenwelt, S. 103f.; Sieferle, Bevölkerungswachstum, S. 12ff. 217 Sieferle, Bevölkerungswachstum, S. 12. <?page no="67"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 66 durch die starke Hand des Fürsten herzustellen. Nur durch eine regulierende und ordnende Instanz lässt sich das überall durchscheinende Chaos beherrschen. Worauf war dabei noch zu hoffen? Angesichts des Verfalls und des ständigen Kampfs mit der Natur, der sich bis in die Beherrschungsphantasien barocker Fürsten nachverfolgen lässt, die ihren Park ins starre Korsett geometrischer Zwangsjacken steckten. 218 „Die Auffassung vom Verfall und Altern war im 17. Jahrhundert weit verbreitet, während die Störung durch den Sündenfall speziell in der lutherischen Orthodoxie vertreten wurde. Beide Auffassungen verhinderten eine positive Bewertung der Naturerkenntnis, weil sie sich entweder nicht lohnte oder die wahre Natur seit dem Sündenfall verdunkelt ist wie übrigens auch die menschliche Erkenntnisfähigkeit.“ 219 Es blieb die Frage, ob man, wie Burnet, die Geschichte der Erde als beständigen Abfall seit den Zeiten der Sintflut zu werten hatte und die gegenwärtige Welt nicht viel mehr als ein Verfallsprodukt sei. Den Diskurs bestimmten dabei zwei Denkfiguren: Wie sind die Gebirge entstanden, und was hat es mit der Sintflut auf sich? 220 Dabei ging man, in der Nachfolge Descartes, davon aus, dass die Welt früher eben und schön, ohne Berge und Meer gewesen sei. 221 Mit der Sündenstrafe der Sintflut sei die Erde durch die Sonnenhitze aufgerissen und teilweise in den darunterliegenden Fluten versunken. Die verdrängten Wassermassen seien schließlich die Sintflut, die Gott im Höhepunkt höchster Sündhaftigkeit über die Menschheit ergießt. Damit erschien die gegenwärtige Erde als Ruine einer paradiesischen Vorzeit. Gottes Strafgericht hat, mittels nachvollziehbarer Ereignisse, die Menschen gezüchtigt, womit ihre Schuld am gegenwärtigen Naturzustand erwiesen sei. Die hässliche, wilde, lebensfeindliche Natur, wie die der Gebirge und Meere, ist also letztlich Produkt des gefallenen Menschen. In der Umschreibung der zerstörten Natur begann ungeachtet der negativen Zuschreibung bereits die Auseinandersetzung mit dem Überwältigenden in der Natur, das später in seiner Bedeutung transformiert und als Theorie des Erhabenen eben die hässlichen, wilden Gegenden als höchsten Gegen- 218 „So haben im 17. Jahrhundert die Höfe zunehmend nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Natur geordnet und geprägt. Entsprechend ist aus dem natürlichen Wasser das ,höfische Wasser’ in Schloßteichen, Kanälen und Wasserspielen geworden.“ Krolzig, Frühaufklärung, S. 201. Vgl. dazu auch Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997, S. 338. 219 Krolzig, Naturverständnis, S. 99. 220 Vgl. zum Folgenden Dirlinger, Bergbilder, S. 56ff.; Norbert Buchner/ Elmar Buchner: Klima und Kulturen. Die Geschichte von Paradies und Sintflut, Remshalden 2005, S. 31ff. 221 Vgl. dazu auch den Eintrag „Meer“ im Zedler, der Burnets Auffassung noch ausführt, allerdings mit dem folgenden Hinweis: „Es ist aber diese Meinung von verschiedenen wiederleget worden.“ Bd. 20, S. 89. Das von Johann Heinrich Zedler verlegte „Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste“ erschien in 64 Bänden und vier Supplementbänden im Zeitraum von 1731 bis 1754. <?page no="68"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 67 stand der Naturbewunderung aufnehmen sollte. 222 Die Sintflut behielt, inmitten ihrer Funktion als strafendes Werkzeug Gottes, zugleich auch das Moment einer heilsamen Reinigung. Hierbei wird, wie auf der Ebene des Individuums in der Taufe, das Böse und Schlechte im Wasser ertränkt, um dann gereinigt und geheilt wieder aufzuerstehen. 223 Selbst die „kleine“ Ostsee bot in der Sage die Geschichte einer sintflutartigen, strafenden Zerstörung. Die dem Untergang geweihte Stadt Wineta wurde vom Zedler-Lexikon zur „ersten und ältesten Stadt auf der Insel Usedom“ gemacht. Bereits im Mittelalter hatte der Domscholaster Adam von Bremen in seiner „Bischofsgeschichte der Hamburger Kirche“ (1075/ 81) die Stadt Wollin auf der gleichnamigen Insel zur „größten Stadt in Europa“ 224 erhöht. Daraus wiederum formte hundert Jahre später Helmold von Bosau in seiner Slawenchronik die Stadt Vineta, die die größte der Slawen sei und die bei dem Mönch Angelus von Stargard 1345 zur versunkenen Stadt in der Ostsee wurde. 225 Allmählich erwuchs so aus der Geschichte einer slawischen Handelsmetropole an der Ostseeküste ein moralisches Lehrstück. 222 Vgl. u.a. Mühr, Naturwahrnehmung, S. 97ff. 223 Vgl. dazu Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige. Frankfurt am Main 1986, S. 228ff. 224 Ebd., zit. nach Meier, Seefahrer, S. 89. 225 Vgl. dazu Meier, Seefahrer, S. 89; Schmidt, Das historische Pommern, S. 70ff. <?page no="69"?> 68 Karte Herzogthum Vorpommern von 1803, vor Usedom eingezeichnet: Wineta, eine versunkene Stadt. 2 Präformation - Voraussetzungen <?page no="70"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 69 Noch das Zedler-Lexikon erzählt diese Geschichte. Mit der Hybris ihrer Einwohner bahnte sich das Unheil an. Die „Bürger waren dem Christenthum spinnefeind“, in der wo h lh a be n de n St ad t s oll „ das S ilb er s o gem ein g ew es en sei n, daß m an es zu g em ei nen und ungeachteten Sachen verbraucht hat“. 226 Schließlich wird man in der Stadt und im Land von der Gier gänzlich überwältigt, so dass Zwist und am Ende der Krieg ausbrechen. Das Meer wird zur Vollstreckerin der fälligen Strafe, „denn dasselbe ist ausgerissen, hat ein groß Theil von den pommerschen Ländern versencket, und zugleich der Stadt Wineta den Garaus“ gemacht. 227 Für die Reiseliteratur wurde die Geschichte der untergegangenen Stadt später ein beliebter Topos, wenngleich man, aufgeklärt wie man war, eine ebenso unheimliche wie unglaubwürdige Geschichte dahinter vermutete. 228 Später wurde Wineta die romantisch überschriebene Geschichte der versunkenen Stadt, die „alljährlich am Ostermorgen“ aus den „grünblauen Wogen der Ostsee“ emporsteigt und „wo man aus der Tiefe die Glocken tönen hört, als wäre es das Grabesgeläut alter versunkender Herrlichkeit“. 229 2.2.2 Theologie und Naturwissenschaft - auf dem Weg zur „guten Natur“ Die Fragen nach dem Wesen der Natur und ihrem Verhältnis zum Menschen wurde bis in die frühe Neuzeit hinein im Wesentlichen von der Theologie und der Philosophie zu beantworten versucht. Leitend war dabei auch die antike Vorstellung von der Natur als eigenständigem, handelndem Subjekt. 230 Dabei begann sich mit der neuzeitlichen Naturwissenschaft seit Galileo Galilei und Johannes Kepler ein neues Verständnis herauszubilden, das statt des substantiellen Denkens einer von Qualitäten bestimmten Außenwelt funktional bestimmt ist und natürlichen Prozes- 226 Zedler, Bd. 57, S. 423. Im Zedler wird Stettin zur Nachfolgerin Winetas, „von dem Untergange der Handels=Stadt Wineta auf Usedom, welche 1124 überschwemmet worden, und ihre vormalige starcke Handlung sich von dar nach Stettin gezogen hat.“ Ebd., Bd. 39, S. 1023. 227 Zedler, Bd. 57, S. 423. 228 Ganz gegen diese „naseweisen“ Erklärungen moderner Rationalisten gerichtet waren Heinrich Laubes Bemerkungen zu Wineta (auch „Vineta“, die Schreibweise des Namens differiert) in seinen Reiseskizzen aus den 1830er Jahren. So heißt es auf seiner Schiffsreise von Usedom nach Rügen: „Da sollen versunkene Städte von wunderbarer Pracht und Herrlichkeit schlafen, mit goldenen Toren und silbernen Türmen, die schon mit den Griechen Handel getrieben hätten. An hellen, stillen Sonnentagen will man die Glocken von Vineta unter dem Meere läuten hören und die Turm- und Kirchendächer durch das Wasser leuchten sehen. [...] Wie überall haben auch hier die Rationalisten ihre Nase in das Meer gesteckt und wollen die unterirdische Welt mit der Bemerkung vernichten, die goldenen und silbernen Mauern, Tore und Türme der klassischen Handelsstadt Vineta seien einfach Felsenriffe, die man bei gutem Sonnenschein sehen können.“ Laube, Biedermeier, S. 370f. 229 Koch, Coserow, S. 2f. 230 Vgl. Groh/ Groh, Kulturgeschichte, S. 102. <?page no="71"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 70 sen kausal-mechanische Grundprinzipien zuordnete. Naturerkenntnis wurde bei Nicolaus Copernicus, Galilei und Kepler zum Lesen im „Buch der Natur“, das man, statt in Worten, nun in Zahlen und Verhältnissen beschreiben konnte. 231 Diese Form der Erklärung von Naturprozessen diente aber weiterhin dem „Nachdenken und Nachvollziehen des göttlichen und somit rationalen Schöpfungsplanes [...], als Gottesdienst und Gotteserkenntnis in einem“. 232 Theologie und Naturwissenschaft behielten so einen gemeinsamen, alles umfassenden Rahmen in der Anerkennung göttlicher Strukturen und kosmischer Einbindung. Doch wurde die theologische Interpretation der Naturabläufe zusehends „durch kausalmechanische Denkweisen verdrängt“ 233 . Die teleologische Ausrichtung christlicher Naturdeutung konnte sich nicht dauerhaft gegen den Reduktionismus eines naturwissenschaftlichen Weltverständnisses behaupten. Die vor allem aus der Physik hervorgehende klassische Naturwissenschaft verdrängte mit ihrer auf Mathematik und Mechanik basierenden Naturbetrachtung zunehmend den religiösen Offenbarungscharakter der Natur. Diesem Verlust an Welterklärung konnte weder die auf den wunderbaren Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift pochende Orthodoxie etwas entgegensetzen, noch das emphatische, „meditativ-intuitive Empfinden“ 234 des Pietismus, das mit innerer Hingabe noch im 19. Jahrhundert nach der persönlichen Erfahrung im liber naturae suchte. Einer vernünftigen und theologisch fundierten Erschließung der Welt, darin waren sich aber die Vertreter der natürlichen Theologie einig, könne man nur mit den vernünftigen Methoden der Naturwissenschaft nachkommen. Damit wurde aber auch das bis ins 17. Jahrhundert dominierende Konzept der natura lapsa hinfällig, da man nun statt einer hinfälligen Erde deren wunderbare Ordnung und Regelmäßigkeit in ihren mathematisch greifbaren Gesetzen sah. Das sich daraus entwickelnde neue Modell, mit vielen Vorläufern in der philosophisch-theologischen Tradition, war die oeconomia naturae. 235 Im Gegensatz zur dominierenden Rolle der göttlichen Offenbarung, niedergelegt in der Heiligen Schrift (liber scripturae), gelangte hier das Modell einer geordneten realen Welt in den Vordergrund, die sich in der Schöpfung, dem Buch der Natur (liber naturae), vor aller Augen zeigt. Das Zedler- Lexikon beschreibt das darin wirksame Analogieprinzip: „Das Buch der Natur lehre 231 Vgl. dazu Dijksterhuis, Mechanisierung, S. 556f. 232 Krafft, Naturwissenschaft, S. 5. 233 Dehmel, Arzneimittel, S. 1. 234 Krafft, Naturwissenschaft, S. 86. 235 Vgl. zur Bedeutung und Rolle der oeconomia naturae und der Physikotheologie für Natur- und Wissenschaftsverständnis u. a. Sieferle, Bevölkerungswachstum, S. 14ff.; Krolzig, Naturverständnis, S. 92ff.; Groh/ Groh, Außenwelt der Innenwelt, S. 108ff.; Dehmel, Arzneimittel, S. 47ff.; Kempe, Wissenschaft, S. 30-55. <?page no="72"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 71 uns die Würklichkeit und das Wesen GOttes, das ist, aus den Geschöpffen erkennet man den Schöpffer.“ 236 Zusammen dienten beide Bücher, liber naturae und liber scripturae, der Erkenntnis von Gottes Vorsehung in dieser Welt. 237 So reich wie die Bibel ist, findet in ihr nicht nur die gefallene Welt eine Begründung, sondern auch die „gute Schöpfung“. Gleich in der Genesis heißt es apodiktisch: „Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut.“ (Genesis 1,31) Gesucht wurde jetzt nicht mehr nach den Verfallserscheinungen einer verlorenen Natur, sondern nach den Zeichen der von Gott in die Natur gelegten Regelhaftigkeit, die ihn als den Begründer der zweckhaften lex naturae erscheinen lassen. Der Blick in die Zukunft war dementsprechend nicht mehr geprägt von der Gewissheit eines nahenden Jüngsten Gerichtes. Vielmehr muss die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, indem er Gottes weise Weltordnung erfassen kann und soll, dazu auffordern, Gott zu seinem Lob in der gegenwärtigen Welt aufzuspüren. Mit den Mitteln der frühen wissenschaftlichen Naturforschung versuchten daher auch die Physikotheologen, Gottes Wirken in den Strukturen der Natur nachzuweisen: „Dieses naturwissenschaftliche Arbeiten war theologisch begründet“, so Krolzig, „denn die Natur - auch in ihrer kausalmechanischen Betrachtung - war Thema der Theologie.“ 238 Grundlage für diese Umdeutung des theologischen Naturverständnisses ist die folgenreiche Trennung der Naturgeschichte von der Offenbarung. Mit dem liber naturae ließ sich, trotz des Vorranges der schriftlichen Offenbarung, die wissenschaftliche Naturforschung legitimieren. 239 Der Mensch als rationales Wesen sollte, als integraler Teil der Schöpfung, seine besondere Bestimmung nun darin erkennen, dank seiner Vernunft die Herrlichkeit Gottes in der zweckmäßigen Ordnung Gottes in der Natur zu entschlüsseln. 240 In der natürlichen - da vernünftigen - Religion konnte zugestanden werden, dass die neuen Entdeckungen im Buch der Natur nicht unabänderlich abgeschlossen sind, wie es für die Offenbarung in der Heiligen 236 Zedler, Bd. 23, S. 537. 237 „In der Geschichte der christlichen Theologie wurden im wesentlichen zwei Möglichkeiten erwogen, Gott in seiner Providentia zu erkennen und über diese einen Weg zu ihm zu finden, einerseits aus der Bibel, dem ,Buch der Offenbarung’ (liber scripturae), zum andern aus der planvollen Schöpfung Gottes selbst, dem ,Buch der Natur’ (liber naturae) - in letzterem Falle spricht man dann von einer ,Theologia naturalis’.“ Dehmel, Arzneimittel, S. 1. 238 Krolzig, Frühaufklärung, S. 190. 239 Kempe, Wissenschaft, S. 153. 240 „Der Mensch hat innerhalb der Schöpfung eine Vorrangstellung durch seine Fähigkeit, Gott auf tätige Weise zu verehren und sich so zu ihm in ein Verhältnis zu setzen.“ Erhard-Rein, Glaubenslehre, S. 128. <?page no="73"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 72 Schrift gilt. Die Geltung der Naturgesetze schränkte fortan die Möglichkeit göttlichen Eingreifens durch Wunder ein. 241 Was seit der Antike als „endlicher Kosmos und endlicher Bestand der Kenntnisse und Erkenntnisse über ihn“ 242 galt, war mit der Flut an neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mehr zu vereinen, so dass, so Blumenberg, „die Parität der ,beiden Bücher’ [...] ein für allemal zerstört“ 243 war. Für das Verhältnis von Gott und Natur, wie es die Vertreter der natürlichen Theologie im 18. Jahrhundert sahen, verlor Gott immer stärker an direkter Präsenz innerhalb seiner Schöpfung. Während die lutherische und calvinistische Orthodoxie noch von Gott als „direkter wie auch letzter Ursache sämtlicher Naturphänomene“ 244 ausging, wurde unter Naturforschern zunehmend nur noch eine seltene Intervention Gottes postuliert, bis schließlich im Deismus Gott „weder in die Natur noch in das Handeln der Menschen“ eingriff. Mit der damit verlustig gegangenen Gnade Gottes stand der Mensch der Natur jetzt allein und in voller Verantwortung gegenüber, und es stellte sich die Frage, wie man diesem fremden Gegenüber aus eigener Autorität begegnen konnte. 2.2.3 Physikotheologie Diesem zunehmenden Bedeutungsverlust des göttlichen Erscheinens in der Natur traten die Vertreter der sogenannten Physikotheologie entgegen. Ihr Hauptziel lag in der Bekämpfung des aufstrebenden Atheismus, wie er besonders im Materialismus erschien und der bewusst den bloßen „Zufall“ als Organisationsprinzip der Materie gegen die göttliche causa finalis stellte. 245 „Die Physikotheologie“, so Wolf Lepenies, „ist eine Theorie des Gleichgewichts: göttliche Weisheit und Vorsehung wird die Funktion zugeschrieben, die Welt in Balance zu halten. Alles hat sein rechtes Maß und die angemessene Zahl.“ 246 Für Kant ist die Physikotheologie „der Versuch der Vernunft, aus den Zwecken der Natur [...] auf die oberste Ursache der Natur und ihre Eigenschaften zu schließen“. 247 241 Vgl. Sieferle, Bevölkerungswachstum, S. 18. 242 Blumenberg, Lesbarkeit, S. 81. 243 Blumenberg, Lesbarkeit, S. 81. 244 Vgl. Sieferle, Bevölkerungswachstum, S. 20. 245 Vgl. Sieferle, Bevölkerungswachstum, S. 22f. Diese Theorie ist in ihrem Verweis auf den Ordnungscharakter des Göttlichen nicht neu und schließt in gewisser Weise an die scholastische Ansicht von der Harmonie der Welt an, die die biblische Schöpfungslehre mit der antiken Kosmologie zu versöhnen sucht und die auf dem alttestamentarischen Buch der Weisheit Salomonis basiert: „Du hast alles geordnet nach Maß, Zahl und Gesicht“. 246 Wolf Lepenies: Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert, München/ Wien 1988, S. 27. 247 Kant, Kritik der Urteilskraft, II, § 85. <?page no="74"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 73 In der Naturwissenschaft, getrennt von Offenbarung und teleologischer Notwendigkeit, sah man zunehmend keinen Grund mehr für ein umfassendes, die Natu r du rc hw alt end es all ge me ine s Pri nzi p. Die P hysi koth eo lo ge n ve rsu ch ten d ahe r, mit der Übernahme naturwissenschaftlicher Methoden ein übergreifendes göttliches Muster aus dem liber naturae herauszulesen. Nach der frühaufklärerischen Forderung der concordia scientiae cum fide wollten sie Wissenschaft und Glauben wieder zu einer Einheit zurückführen. Dabei betonten ihre Vertreter die erkenntnistheoretische Berechtigung naturwissenschaftlicher Erkenntnisformen bei der Erforschung der Natur. So sollte das Bedürfnis nach Naturforschung befriedigt werden, ohne die Substanz des christlichen Glaubens in Frage stellen zu müssen. Denn die Orthodoxie schien den klaren Widerspruch von Offenbarungsglauben und den Erkenntnissen der Naturwissenschaft nicht lösen zu wollen und zu können. Dagegen versöhnte die Physikotheologie „das neue Weltbild der Naturwissenschaft mit dem religiösen Bedürfniß eines Zeitalters, dem die überlieferte Offenbarung gerade wegen ihres Überlieferungscharakters fragwürdig zu werden begann und das deshalb mit wahrer Emphase bereit war, sich der unmittelbaren, durch keine menschlichen Irrtümer entstellten Offenbarung Gottes in der Natur voller Ehrfurcht zuzuwenden". 248 Gerade im norddeutschen protestantischen Raum war man aufgeschlossen gegenüber den aus England stammenden physikotheologischen Argumenten einer wohlgeordneten, nachvollziehbaren und naturgesetzlich funktionierenden Schöpfung. 249 Diese sollte auch dem symbolischen Feld der natura lapsa durch die Vorstellung von Konstanz und der tendenziellen Vervollkommnung der Natur durch den Menschen entgegenwirken. Verfallstheoretiker, so argumentierte man gegen Burnet, hätten die falschen Schlüsse gezogen, da sie eine äußerst mangelhafte Naturforschung betrieben. 250 Eine Fülle von Publikationen, häufig verfasst von Theologen, verband so das Interesse an naturwissenschaftlicher Beobachtung und Belehrung mit dem schöpfungstheologisch motivierten Glaubensbekenntnis. 251 Jedes neu entdeckte Naturgesetz, jede neu aufgefundene Regelhaftigkeit in Makro- und Mikrokosmos wurde so per analogiam zum Nachweis göttlicher Weisheit, Güte und Wohlwollens. Genauso 248 Theologische Realenzyklopädie, Bd. XIV, Berlin/ New York 1985, S. 749. 249 Krafft betont die anthropozentrische Zielsetzung der Physikotheologie: „Physikotheologie ist eine vor allem, wenn auch nicht ausschließlich protestantische Denk- und Argumentationsweise, die gegenüber der neuen, kausalmechanischen Naturwissenschaft die anthropozentrische Zweckmäßigkeit der Schöpfung (des liber naturae) betont.“ Krafft, Naturwissenschaft, S. 79. 250 Vgl. dazu Krolzig, Naturverständnis, S. 99ff. 251 Vgl. dazu Dehmel, Arzneimittel, S. 2. <?page no="75"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 74 selbstverständlich wurde es, die Selbstregulation in der Natur auf die Gesellschaft zu übertragen: „Für die bürgerliche Gesellschaft bedeutet dies, daß die Rolle der staatlichen Kontrolle und fürstlichen Herrschaft zugunsten der Selbstregierung herabgesetzt werden kann.“ 252 Damit gelang die Natur- und Gotteserkenntnis mittels empirischer Studien, die folgerichtig im geordneten, mechanischen Ablauf der Natur einen „klaren Hinweis auf das planende Tun eines göttlichen Baumeisters oder Künstlers“ 253 offenbarten. Man versuchte auf erfahrungswissenschaftliche Weise die Existenz Gottes nun nicht mehr a priori, „sondern a posteriori aus der Vielfalt und zweckmäßigen Ordnung des Weltganzen und jedes Geschöpfes abzuleiten“. 254 Naturerfahrungen konnten so im Einzelfall zwar als Verschlechterung empfunden werden - Orkane, Überschwemmungen, Erdbeben, Feuer -, im Gesamtzusammenhang sind sie aber immer notwendiger Teil eines gelungenen Ganzen, das es letztlich nur noch in seiner ganzen Fülle zu entdecken und zu entschlüsseln gilt. 255 Dieses Konzept prägte ein neues Naturverständnis, das von einem im Grundsatz nachvollziehbaren Organisationsprinzip bestimmt ist, mit der Folge, sich später dabei nicht mehr eines direkten Verweises auf einen Schöpfer-Gott bedienen zu müssen. Die rationale Konstruktion der Welt durch die Naturwissenschaften seit Newton, sinnfällig im gut geölten Maschinenmodell der Welt, erlangte durch die populären Schriften der Physikotheologen eine weite Verbreitung, vor allem im bildungshungrigen Bürgertum. Damit ließ sich gleichzeitig für einen gewissen Zeitraum der christliche Glaube in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess einbinden. In der anthropozentrischen Teleologie wurde der Mensch noch einmal zum Zentrum göttlicher providentia. Daneben gelang den Physikotheologen eine theologisch begründete optimistische Naturinterpretation, die sich explizit von den Verfallstheorien verabschiedet hatte. 2.2.4 Hydrotheologie Systematisierung, Ordnungsbestrebungen und Hierarchisierung in Flora und Fauna, auch durch die Physikotheologen vorangetrieben, erzeugten einen vernünftigen und logisch nachvollziehbaren Wissensraum, der Gottes große Weltordnung sichtbar machte. Auf die herausragende Bedeutung dieser Perspektive (und deren Neuar- 252 Groh/ Groh, Kulturgeschichte, S. 106. 253 Theologische Realenzyklopädie, Bd. XIII, Berlin/ New York 1984, S. 751. 254 Krafft, Naturwissenschaft, S. 77. 255 „Ist die Welt nach dem weisen Plan des Allmächtigen durchgängig teleologisch strukturiert, dann muß auch das Zweckwidrige auf einer höheren Ebene einen Zweck haben, das Negative letztlich positiv, Nutzloses nützlich sein und Unglück dem Glück dienen.“ Kempe, Wissenschaft, S. 250. <?page no="76"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 75 tigkeit) für die moderne Naturbetrachtung hat Michel Foucault hingewiesen. 256 Dieser für die Konstruktion von Naturräumen wichtige Wandel der symbolischen Zuschreibungen, blieb auch für die Küstenregion und das Meer nicht ohne Folgen. Prägend für den deutschsprachigen Raum wurden mit Beginn des 18. Jahrhunderts die Schriften des Kanonikers in Westminster, William Derham (1657-1735). Übersetzt und im deutschen Sprachraum publik gemacht wurden seine Werke vom Hamburger Professor Johannes Albert Fabricius (1668-1736), der „Zentralfigur der Frühaufklärung in Norddeutschland und der deutschen Physikotheologie“. 257 In seiner wegweisenden, vielfach aufgelegten „Physico-Theologie Oder Natur=Leitung zu GOTT“ 258 führte Derham in mehreren Abschnitten dem Leser auch das Bild des vollendet geplanten und funktionierenden Wasserkreislaufes der Erde vor Augen. Ganz nach dem physikotheologischen Muster zeigte sich das Wasser bei genauerem Hinsehen in einer über die ganze Erde verteilten vollkommenen Sinnhaftigkeit. Alles ist so angeordnet, dass es für sich, aber auch für den Menschen zum Besten dient. Im fünften Kapitel über „Die Eintheilung der Wasser und des trockenen Landes“ führte Derham dies näher aus: „Wenn man die Erde nur obenhin ansiehet, möchte einem vielleicht die Eintheilung der Wasser und des trockenen Landes vorkommen ziemlich schlecht und ohne Absicht zu seyn wie sich auch würcklich einige gefunden, die solches sich haben verlauten lassen: Alleine sie ist so gut, daß man sich darüber verwundern muß, auch zum Nutzen und Dienst der Welt über alle Massen wohl geordnet und eingerichtet. Denn vors erste ist die Eintheilung so wohl gemacht, Land und Wasser allenthalben so artig und kunstgemäß auf dem ganzen Erdboden vertheilet, daß die gantze Kugel eine richtige und accurate Balance hält. Die Nordsee hält das Gleichgewicht mit der Südsee […]. Das große Weltmeer und die kleinen Meere und Seen, die sind überall auf dem gantzen Erdboden so wohl und wunderbar vertheilet, daß sie Ausdünstungen genug geben zu Wolcken und Regen. [...] Alles ist aber so wohl angeleget und geordnet, daß es Land und Leute auf dem Erdboden nicht überschwemmet und ersäuffet; noch auch stehend und ohne Bewegung bleibet, folglich stinckend wird, die Lufft und Leute anstecket und vergifftet, oder ihnen sonst schädlich und beschwerlich ist.“ 259 256 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971. Für die veränderten Wahrnehmungen und Handlungsmuster siehe vor allem das 5. Kapitel („Klassifizieren“), in dem Foucault die Funktion und Rolle der neuartigen Ordnungssysteme, Klassifizierungen und Strukturen einer visualisierten Wahrnehmung beschreibt. 257 Krafft, Naturwissenschaft, S. 82. Vgl. zur Entwicklung der Physikotheologie u.a. auch Kempe, Wissenschaft; Krolzig, Naturverständnis; Sieferle, Bevölkerungswachstum. 258 William Derham: Physiko-Theology, London 1713; auf deutsch 1730 von Christian Ludwig Werner, nach der siebten Auflage neu übersetzt von Johannes Albert Fabricius. Bis 1764 folgten 13 weitere Auflagen des Werkes. 259 William Derham: Physico Theologie, übersetzt von Johann A. Fabricius, Hamburg 1741, S. 92ff. <?page no="77"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 76 Im Anschluß an Derhams Arbeiten verfasste Johannes Fabricius selbst eine Hydrotheologie, 260 deren Entwurf und erste Teile gedruckt werden. 261 Hierin findet sich in exemplarischer Weise die physikotheologische Deutung des Wasserkreislaufes der Erde, noch weiter als bei Derham ausgeführt bis in die Bewegungen und Eigentümlichkeiten der Weltmeere und Flüsse, vom Niederschlag bis zur Funktion des Wassers im menschlichen Körper. Sämtliche erkennbaren Eigenschaften und Besonderheiten des Wassers werden in einer möglichst vollständigen Weise betrachtet, so dass letztlich aus dem Zusammenhang aller Einzelfaktoren das Bild eines hoch komplexen, bei genauer Betrachtung jedoch jedem vernünftigen Betrachter zugänglichen Kreislaufes entstehen muss. Alles, so Fabricius, befindet sich in einem geordneten Zusammenhang, der den Menschen als eingebunden betrachtet, seinen Sinn aber nicht allein aus dem Nutzen für den Menschen bezieht. 262 Eine Folge dieser Interpretation ist die Lehre vom zweckmäßigen Gleichgewicht in der Natur. Auch die Weltmeere wurden von Fabricius so als Raum von wissenschaftlichem Interesse erschlossen. In seinem Entwurf der Hydrotheologie konzipierte er u. a. die Punkte „Von dem Abgrunde und der Tieffe des Meeres, der Flüsse und der Seen“ 263 und „Von des Meeres Boden“. Die angelegten empirischen Studien sollten dabei mit dem Handwerkszeug der modernen Naturwissenschaft, den technischen Messwerkzeugen, wie „Thermometris und Erfindungen, die Kälte und Wärme der Lufft abzumessen“, 264 durchgeführt werden. Die sinnlichen Qualitäten des Wassers wurden reduziert auf messtechnisch erfassbare, kausale Wirkmuster. Daneben führte Fabricius aber auch das menschliche Mitwirken an der Vervollkommnung der Schöpfung vor. Im zweiten Buch „Von der weisen und gütig=reichen Austheilung der Wasser in aller Welt“, skizzierte er zahlreiche menschliche Werke, die sich sinnvoll in die Schöpfung einbinden. Dazu gehörten „Von Deichen und Dämmen, durch Menschen Witz und Fleiß gemacht“, „Von der löblichen Bemühung ande- 260 Jo. Alberto Fabricio [Fabricius]: Hydrotheologie oder Versuch, durch aufmerksame Betrachtung die Menschen zur Liebe und Bewunderung des Gütigsten, Weisesten, Mächtigsten Schöpffers, zu ermuntern, Hamburg 1735. 261 Vgl. dazu Krolzig, Frühaufklärung S. 189-207. Krolzig weist auf die besondere Rolle Fabricius' hin: „Fabricius steht in dieser physikotheologischen Tradition und hat in Kenntnis der Werke Rays und der neueren naturwissenschaftlichen Arbeiten die Gegenposition zur burnetschen Sicht des Wassers vertieft und gestärkt. Im Gegensatz zu Burnet stellt Fabricius fast, daß die Welt nicht schlechter geworden ist, denn Gott wirkt noch heute wie vor Tausenden von Jahren.“ Ebd., S. 203. 262 Krolzig plädiert wegen dieser Einbindung des Menschen in den Naturkreislauf für den Begriff der „zirkulären Teleologie“, entgegen der sonst in der Forschung häufig so bezeichneten „anthropozentrischen Teleologie“. Vgl. Krolzig, Frühaufklärung, S. 197. 263 Fabricio, Hydrotheologie, S. 6. 264 Fabricio, Hydrotheologie, S. 12. An anderer Stelle (2. Buch, S. 6) verweist Fabricius auf die Möglichkeit, „durch Hülffe der Fern-Gläser“ das „Wasser im Monde und andern Planeten“ zu sehen. <?page no="78"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 77 rer, die zur Bequemlichkeit der Handlung und der Reisenden haben Flüsse zusammen graben lassen“, „Von dem Rechte, das sich Menschen nicht nur über Flüsse, sondern auch über Meere nehmen und zuwege bringen können“, „Von allerley Fahrzeugen auf dem Wasser, von dem kleinsten Kahn an biß auf die größten Krieges=Schiffe“. 265 So nüchtern Fabricius auch alle erdenklichen Fälle des Auftretens von Wasser zusammensuchte, blieb die theologische Rückbindung für ihn doch immer essentiell. Eine Fülle von Bibelzitaten stärkte nicht nur die theologische Verknüpfung mit der naturwissenschaftlichen Arbeit. In der beständigen Zusammenführung lebensweltlicher Ereignisse und biblischer Nachweise wurde zum einen Naturgeschichte historisiert und zum anderen Gottes beständige providentia permanent bestätigt. Gott hat dem Menschen mit der Einsicht in seine Schöpfung zugleich die Möglichkeit gegeben, diese zu seinem Nutzen weiter zu entwickeln. Die menschliche Kunst, die Natur zu vervollkommnen, wird also nicht nur geduldet, sondern zur Aufgabe: „So sind Natur und Kunst keine unüberbrückbaren Gegensätze, sondern Kunst ist eine Form der Natur.“ 266 Damit legitimierte sich auch, ganz zweckrational, die Suche „von Natur, Ursachen und Nutzen des See=Wassers“ 267 . Im Konzept des fünften Buches, „Von dem vielerley Nutzen der Wasser, und von den Erfindungen der Menschen, sich derselben klüglich mehr und mehr zu ihrem Besten zu bedienen“, entwirft Fabricius schließlich eine vielschichtige, anthropozentrische Apologie des Wassers. Er verweist in der Begründung auf antike Vorbilder und deren Hochschätzung des Wassers („Pindarisches Sprichwort, Nichts besser als Wasser“), die christliche Zuschreibung der Sündenreinigung durch das Wasser („Geistliches Bad der Wiedergeburt und Erneuerung, die heilige Tauffe von Christo unserm Heylande eingesetzt, der sich auch selbst von Johanne hat tauffen lassen“), die aber auch in heidnischen Religionen eine ähnliche Funktion erfüllt, und dies besonders mit dem Seewasser („Von der Meinung einiger Heydnischer Völcker, die dem See=Wasser sonderbare Krafft von Sünden zu reinigen beylegen“). Schließlich betonte Fabricius auch die Heilwirkung des Wassers. Dieses habe einen „grossen Nutzen, vielen Kranckheiten zu widerstehen, und die Gesundheit wieder herzustellen“. Und er belegte das mit dem Verweis auf die Meinung des angesehenen Hallenser Mediziners Friedrich Hoffmann, „dass das Wasser eine Universal-Medicin sey [...] oder Wasser das beste Mittel wider das Fieber“. Diese heilsame Wirkung des Wassers auf den menschlichen Körper könne man schließlich an den Orten ihres Auftretens, den „Gesund=Brunnen, Sauer=Brunnen, warmen Bädern […] untersu- 265 Fabricio, Hydrotheologie, S. 8f. 266 Krolzig, Frühaufklärung, S. 204. 267 Hier und folgend: Fabricio, Hydrotheologie, S. 12ff. <?page no="79"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 78 chen“, 268 um dort mit „kalten und warmen Baden zur Gesundheit“ zu kommen.Fabricius’ Argumentation einer zweckhaften göttlichen Ordnung in der Natur, wie überhaupt die physikotheologische Argumentation, verlor mit dem naturwissenschaftlichen Wissenszuwachs an Bedeutung, da man jetzt „Gott immer weniger für eine Erklärung“ 269 benötigte. Da die Heilige Schrift von der beobachtenden Naturerkenntnis verdrängt wurde, blieb als Erkenntnisquelle der Naturgeschichte nur das „Buch der Natur“ selbst, das mit naturwissenschaftlichen Methoden viel genauer zu entziffern ist: „Auf lange Sicht“, konstatiert Panadotis Kondylis, „errang die Physikotheologie für die Verteidigung der Bibel also nur einen Pyrrhussieg. Ja, vielleicht könnte man sagen, die Physikotheologie habe in gewisser Hinsicht für den Materialismus die Rolle des nützlichen Idioten gespielt.“ 270 Auch wenn die Physikotheologie Ende des 18. Jahrhunderts angesichts eines verzichtbaren Schöpfers kaum noch Anhänger besaß, blieben viele ihrer Vorstellungen in anderen Kontexten lebendig. Vor allem die symbolische Umdeutung des Meeres vom Ort des Verfalls, der Ungeheuer, Seeräuber und Schiffbrüche zum heilenden, fruchtbaren und ökonomisch wertvollen Raum blieb auch weiterhin wirksam. Spätere Bedeutungsfelder des Meeres, vor allem die ästhetische Dimension des Erhabenen, basierten letztlich auf der nun vorherrschenden positiven Naturbeschreibung. Der junge Johann Gottfried Herder gab diese unbändige Lust auf das Meer in seinen Reisetagebüchern wieder. Für ihn ist das Meer der große Befreier von der Studierstube. Hier, auf dem Meer während seiner Überfahrt von Riga nach Frankreich, versinnbildlichte der Ozean die ganze Fülle des dem freien Menschen Möglichen. Es ließ sich mitten darin sogar eine neue Welt zu entdecken: „Der Waßergrund ist eine neue Erde! Wer kennt diese? Welcher Kolumb und Galiläi kann sie entdecken? Welche urinatorische neue Schiffart; und welche neue Ferngläser sind in diese Weite noch zu erfinden? [...] Welche neue Welt von Thieren, die unten um Seegrunde, wie wir auf der Erde leben, und nichts von ihnen, Gestalt, Nahrung, Aufenthalt, Arten, Wesen, Nichts kennen! “ 271 268 Fabricio, Hydrotheologie, S. 16f. Adelungs Wörterbuch definiert den Gesundbrunnen als „eine mineralische Quelle, deren Wasser zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit getrunken wird“. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Leipzig 1796, Bd. 2, S. 640. Der Sauerbrunnen ist danach „ein Brunnen oder eine Quelle deren Wasser einen säuerlichen, zusammen ziehenden, vitriolischen Geschmack hat, welcher die Gegenwart eines feinen Eisen-Vitrioles verräth. Auch das Wasser dieser Art, welches auch Eisenwasser, Sauerwasser und Stahlwasser genannt wird, führet gleichfalls diesen Nahmen.“ Ebd., Leipzig 1798, Bd. 3, S. 1296. 269 Krafft, Naturwissenschaft, S. 93. 270 Panadotis Kondylis: Die Aufklärung des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, S. 244. Zitiert nach: Kempe, Wissenschaft, S. 186f. 271 Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769, Stuttgart 1976, S. 14. <?page no="80"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 79 Dabei war dieses so unvorstellbar fruchtbare Gebiet des Nordens auch Heimat des Monströsen, das noch ungebrochen zur hiesigen Welt gehört, so Herder weiter: „Der kalte Norden scheint hier der Geburtsort so gut der Seeungeheuer zu seyn, als ers der Barbaren, der Menschenriesen, und Weltverwüster gewesen. Wallfische und große Schlangen und was weiß ich mehr? “ Lag hier vielleicht letztlich gar die „vagina hominum“? 272 Bis in die spätere Badeliteratur finden sich Spuren physikotheologischer Deutungsmuster, transformiert in ein ökologisches Naturmodell. In seiner Badeschrift von 1822 erklärte der Kieler Medizinprofessor und Badearzt das ökonomischökologische Prinzip der Natur am Beispiel des Wellenschlages. Diese „mächtige Bewegung [hat] gewiß ihren großen Nutzen, sie trägt zur Reinigung der Luft bey, die dadurch in vielfachere Berührung mit dem Wasser des Oceans kömmt, das manche schädliche Ausflüsse des Landes aufnimmt, die in ihrer neuen Verbindung unschädlich werden, und vielleicht selbst zur Ernährung der vielen Seegewächse dienen können, sie gleicht die verschiedenen Regionen des Meers unter einander aus, und mäßigt die Folgen der Fäulnis der unzähligen Seegeschöpfe“. 273 Dabei lassen die Werke der menschlichen Kunst, vom Schiff bis zur Hafenmole und dem Deich, zwar die zunehmende Beherrschung des Ozeans erkennen, eine totale Unterwerfung unter den menschlichen Willen blieb aber unvorstellbar: „Die Natur scheint zuweilen einen Gefallen daran zu finden, den stolzen Menschen in seinen kühnen und ehrgeizigen Unternehmungen zu demüthigen; manchmal scheint sie zwar den Werken der Kunst weichen zu müssen, allein unversehens erhebt sie sich wieder in ihrer ganzen furchtbaren Macht, und trägt Siege davon, die weithin Schrecken und Entsetzen verbreiten.“ 274 Das Meer behielt so auch durch die den menschlichen Beherrschungsphantasien entgegengebrachte Skepsis einen ambivalenten Charakter. Die irrationale Furcht vor dem Meer schien zwar bloße Geschichte geworden zu sein, eine Unterwerfung aber war auch künftig nicht zu erwarten. 2.2.5 Der säkularisierte Heilsraum Bis in die entstehende Ostsee-Reiseliteratur und private Aufzeichnungen des 19. Jahrhunderts sollten die nun säkularisierten, aber noch immer religiös aufgela- 272 Herder, Journal, S. 15. 273 Pfaff, Kieler Seebad, S. 42. 274 Chatteau, Gemälde der Ostsee, S. 52f. <?page no="81"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 80 denen Metaphern gelangen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man die herausragende Bedeutung religiöser Literatur - auch physikotheologischer Provenienz - im 18. Jahrhundert als notwendige Bedingung für neue Raumvorstellungen betrachtet. 275 In der Reiseliteratur und der Belletristik, teilweise selbst in der medizinischen Literatur, wurde der Küstenraum häufig als Ort einer sakralisierten Natur beschrieben. Nach der Ablösung orthodoxer und physikotheologischer Naturkonzepte und in Abgrenzung zur naturwissenschaftlich-mechanistisch motivierten Medizinliteratur, wurden religiöse Motive und Erfahrungsweisen auf die „wilde“ Natur des Nordens übertragen. Eine dem Fortschritt huldigende, sich damit zugleich aber auch latent unwohl fühlende Gesellschaft transportierte ihre Sehnsüchte und Ängste in die „freie“ Natur. Das Versprechen von Reinheit, von freierer Lebensart (einem auf bloßer Gnade beruhenden Zustand) jenseits gesellschaftlicher Verpflichtungen, führte an der Küste und im Seebad zum Traum und dann zur Schaffung eines künstlichen Paradieses. Es musste nicht immer die ferne, exotische Südsee sein: Weiße Strände, dunkle Wälder, sanfte Hügel, ein erhöhter Blick auf den Meereshorizont reichen aus als Ingredienzen für diesen Traum. Die Ostsee mit ihren romantisch empfundenen Küsten, den Buchenwäldern bis an den Strand, Sonnenauf- und -untergängen und dem Meer bis zum Horizont, beschert die Verwirklichung eines Lebens fernab vom Alltag. Reisebeschreibungen folgen der ästhetischen Sublimierung eines archetypisch religiös konnotierten Raumes. Die einzelnen Objekte der Bewunderung, der Wald, der feine Sandstrand, das Meer, verraten als Bilder einer urbanen Sehnsucht nach dem Land viel über die Autoren und ihre Leser. Die Wahrnehmung und Gestaltung der Küste und des Seebades fußen stärker als andere Räume auf religiösen Deutungsmustern, besonders wegen der großen Symbolkraft des Meeres und, als Raum an der Grenze von Land und Wasser, aufgrund seiner Unverfügbarkeit für alles Dauerhafte. 276 Damit gelangte der hohe Ton des Sakralen in diese Landschaft. Dabei waren es vor allem zwei Bereiche, in die ehemals sakrale Vorstellungen einzogen: zum einen das Meer als Metapher des Unendlichen und Erhabenen, der 275 Hans Medick betonte dazu, dass die „Literalität des 18. Jahrhunderts sich eher spezifischen religiösen Impulsen als den gleichzeit wirksamen Aufklärungsbestrebungen“ verdanke. Medick, Volk „mit“ Büchern, S.61. 276 Hartmut Böhme fasst dies für den gesamten Bereich der Wasserheilkunde treffend zusammen: „Wie schwach müßte [...] eine Realgeschichte der Hydrotherapie ausfallen, wenn dabei die religiösen, magischen, symbolischen Wirkmächte des Wassers außer Blick gerieten! “ Böhme, Kulturgeschichte des Wassers, S. 19f. <?page no="82"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 81 alten ontologischen Bestimmung Gottes. 277 Zog sich noch bei den Physikotheologen das Unendliche als göttlicher Seinsgehalt durch die Natur, wurde es im ästhetisierten Naturverständnis zum Gehalt der Natur an sich. Johann Georg Sulzer sprach 1771 in seiner „Allgemeinen Theorie der Künste“ über das Erhabene, „wo das Gemüth mit starken Schlägen anzugreifen, wo Bewundrung, Ehrfurcht, heftiges Verlangen, hoher Muth“ 278 wirksam werden. Adelung vermerkte Ende des Jahrhunderts unter dem Stichwort des Erhabenen die allgemeinen Kennzeichen von „Ehrfurcht und Bewunderung“. 279 Genau mit diesen Begriffen wurde fortan das Meer beschrieben. Erhabenheit, Unendlichkeit, Bewunderung wurden aus dem transzendenten Raum auf den Naturraum der Küste überführt - ein Prozess, wie er sich Jahrzehnte früher bereits ähnlich bei der Entdeckung der Alpen abgespielt hatte. 280 Noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts war diese Perspektive des Meeresblickes praktisch unbekannt. Anton Friedrich Büsching und Albrecht Georg Schwartz, die Mitte des 18. Jahrhunderts in polyhistorisch-barocker Perspektive den norddeutschen Raum beschrieben, war dieser sublimierte Blick noch fremd. 281 Bei dem Schweizer Theologen Johann Caspar Lavater (1741-1801), der 1763 Rügen und das benachbarte Eiland Hiddensee besuchte, ist kein Interesse am Meeresblick auszumachen. Wenn er aber doch einmal darauf zu sprechen kam, war er im physikotheologischen Duktus schöpfungstheologisch eingehegt. 282 Erst mit der Popularisierung der nördlichen Landschaft durch den Theologen Ludwig Theobul Kosegarten (1758-1818), der physikotheologische Naturvorstellungen in geschickter Weise mit der modernen Ästhetik der Empfindsamkeit verband, gelang die Erhebung des Meeresblickes zur Leitperspektive der romantischen Reisenden. Karl Nernst postulierte in seinem 1800 erschienenen Reisebericht zur Insel Rügen dieses neue Verständnis: „Aber zwischen diesen beiden verschwisterten Halbinseln, zwischen den Vorgebürgen Arkon und Stubbenkammer hinaus staunt, das entzückte Auge, und verliert sich endlich in den weiten unermessenen Räumen der Ostsee. O ihr, die ihr immer so viel von todter Natur schwatzt! Erschüttert euch nicht dies ewig quellende Leben? Rührt euch nicht diese liebliche Einheit im 277 „Erhabenheit: Bezeichnung für die Überweltlichkeit Gottes“. Vgl. den Artikel im Biblisch-historischen Wörterbuch, Bd. 1, S. 427. 278 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, Leipzig 1771, S. 341. 279 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1793, S. 1897. 280 Vgl. u.a. Dirlinger, Bergbilder, S. 71ff. 281 Anton Friedrich Büsching: Neuer Erdbeschreibung dritter Theil, Hamburg 1759; Albrecht Georg Schwarz: Einleitung zur Geographie des Norder-Teutschlandes, Greifswald 1745. 282 Lavater, Reisetagebücher. Lediglich bei einem Besuch Hiddensees zeigte sich Lavater dem Meeresblick gegenüber aufgeschlossen, den er aber ganz als Abglanz göttlicher Weisheit beschreibt. Vgl. auch Kap. 1.4. <?page no="83"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 82 Mannigfaltigen? Bewegen sich nicht alle diese schönen Bilder auf euch zu, und erwecken die zartesten Empfindnisse? - Der sey mein Freund nicht, der hier raissonieren kann, wo er nur bloß empfinden sollte. Ich möchte mit ihm nicht aus Einem Becher trinken! “ 283 2.2.6 Rituale im Grenzbereich Neben der visuellen Erfassung des Meeres als Strategie der Raumkonzeption kam zum anderen die symbolisch sicher am stärksten aufgeladene Handlung hinzu: das Baden im Meer. Vielfältig sind die Bezüge, die auch und vor allem im christlichen Kulturkreis symbolisch auf den Taufakt als Reinigungs- und Übergangsritual verweisen. 284 Eliade zitiert Johannes Chrysostomos zum symbolischen Gehalt der Taufe: „Sie stellt den Tod und die Bestattung dar, das Leben und die Wiederauferstehung. [...] Wenn wir unser Haupt in das Wasser tauchen wie in ein Grab, so ist der alte Mensch untergetaucht und ganz begraben; wenn wir aus dem Wasser herauskommen, so erscheint zugleich ein neuer Mensch.“ 285 Beides, unterzugehen und wieder aufzustehen, gehörte von Beginn an zum festen Baderitual im Seebad. Entgegen dem freien und spielerischen Baden im Meer wurde das ritualisierte Bad in der See von Anfang an durch die ärztliche Leitungsfunktion bestimmt. Zeit- und Handlungsvorschriften betonten die Nähe zum kodifizierten Ritus, der durch seinen reglementierten Handlungsablauf die Heilung herbeiführen sollte. So beschrieb Vogel, Badearzt in Doberan, in seinen „Neuen Annalen des Seebades zu Doberan“ eine neue englische bath-machine. Diese werde in die See geschoben, „dann kommt ein Mann an die sich nun öffnende Thür der andern Seite geschwommen, der den mit Flanell bekleideten Badegast in seine Arme nimmt und zweymal eine Sekunde lang ins Wasser taucht“. 286 Als profaner Priester, vertraut mit dem Element, nahm der Badediener den Badegast, wie ein kleines Kind, in die Arme und tauchte ihn zweimal unter das Wasser. Dabei trug der „Täufling“ Flanell, also ein grobes Wolltuch, das gewöhnlich für Unterkleider benutzt wurde. 287 283 Nernst, Wanderungen, S. 16. 284 Vgl. u.a. Eliade, Die Religionen und das Heilige, S. 230f.; Dazu auch den Artikel „Taufe“ in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, Tübingen 1963, S. 626ff. 285 Zit. nach Eliade, Die Religionen und das Heilige, S. 231 (Auslassung im Original). 286 Vogel, Neue Annalen, 1804, S. 7. 287 „Flanell (frz.), glattes oder geköpertes, auf der rechten Seite einmal gerauhtes, wenig oder gar nicht geschorenes, schwach gewalktes Wollgewebe, zu Unterkleidern.“ Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, Bd. 1, Leipzig 1911, S. 587. <?page no="84"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 83 In der Travemünder Badeschrift von 1803 wurde das traditionelle Bad als eine in vielen Nationen gebräuchliche „gottesdienstliche Handlung“ vorgestellt, die „bey ande rn [m it de r] Befol gung geset zli che r Vorsc hrift en ver knüp ft “ 288 wurde. Der Kieler Badearzt Dr. Christoph Heinrich Pfaff (1773-1852) spricht in seiner Badeschrift von 1822 vom „schnellen Untertauchen in die verhältnißmäßig kalte Fluth“, was einen „gedoppelten wohlthätigen Einfluß“ habe, nämlich „einen mehr physischen und einen in gewisser Hinsicht moralischen“. 289 Neben der physischen Abhärtung wurde auch an die moralische Anforderung einer inneren Disziplinierung appelliert. Dies galt vor allem für „die delicate, empfindliche Dame“, die nach der Überwindung ihrer Angst vorm Untertauchen sich „gleichsam als Heldin aus dem kalten Seebade“ erhebt, mit dem Gefühl, „ihre Weichlichkeit überwunden zu haben, und […] sich im Gebrauche von Kraft dieser selbst wieder bewußt geworden“ 290 ist. Der physischen Überwindung folgte das - hier bürgerlich-moralische - Heilsversprechen. Pfaff verlangte auch das schnelle Eintauchen ins kalte Wasser und die Überwindung der Furcht, denn damit ist „fast in dem Augenblicke des Untergetauchtseyns [...] alles Peinliche vorüber, und bald tritt das wohlthätige Gefühl der Stärkung ein“. 291 Noch stärker an das alte Ritual der christlichen Taufe erinnert die Formulierung, die der Heringsdorfer Badearzt Dr. Schmige in seiner Badeschrift von 1852 verwendete. Dort heißt es, man solle vor dem ersten Bad einen Tag aussetzen, um zur inneren Ruhe zu kommen, dann aber in das Meer gehen, „man befeuchte bald Stirn und Brust, gehe schnell vorwärts, um in gehörige Tiefe zu gelangen, tauche dann sogleich unter“. 292 Von der fast wundersamen Wirkung dieser Wiedergeburt im Bad zeugen viele Fallbeispiele. Vogel berichtete von einem jungen Mann, der schwer gelähmt ins Bad reiste und nach wenigen Bädern eine „beynahe wunderbare Veränderungen“ 293 erlebte, so dass er schließlich geheilt das Seebad verlassen konnte. Dass ein Bad im Meer neben dem versprochenen Heil jedoch ambivalent und gefährlich blieb, zeigen die immer wieder auftauchenden Badeunfälle. So wurde von der königlichen Regierung in Cöslin über einen Fall im hinterpommerschen Rügenwalde berichtet, in dem ein „Einziger, welcher durch Zufall und Unvorsichtigkeit nach dem Gebrauch des Bades am Nervenfieber gestorben“, und nun „steht zu fürchten, daß jenes in der Person, oder vielleicht in dem unrichtigen Gebrauch des Bades sich gründende unglückliche Ereignis des bemerkten plötzlichen Todesfalles, der Frequenz 288 O.V., Travemünde, S. 3. 289 Pfaff, Das Kieler Seebad, S. 74f. 290 Pfaff, Das Kieler Seebad, S. 76. 291 Pfaff, Das Kieler Seebad, S. 87. 292 Schmige, Heringsdorf, S. 90. 293 Vogel, Neue Annalen, 1804, S. 12. <?page no="85"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 84 künftig nachtheilig seyn werde“. 294 Auch in der Erinnerungsliteratur ist immer wieder die Rede von Badeunfällen. 295 Und selbst dort, wo diese Unfälle vermieden werden konnten, erinnerte das Schicksal der Fischer, die „oft bei Sturm und Unwetter meilenweit in die Ostsee [...] hineinfahren müssen, bei welcher Gelegenheit schon mancher den Tod in den Wellen gefunden“ 296 hat, an die realen Gefahren des Meeres. Die Erfahrung, trotz aller modernen Erfindungen das Meer nicht beherrschen zu können, wurde hier jedermann vor Augen geführt. Jeder Ertrunkene, ob Badegast oder Fischer, verkörperte mit der Gefahr aber auch die Freude, der tödlichen Bedrohung entronnen und stattdessen mit der Kraft des Meeres das Bad erholt und geheilt verlassen zu können. Und so war der Weg zu diesem Ort der Genesung bereits Teil des Heilsversprechens. Folgt man den Begrifflichkeiten der Pilgerfahrt, wie sie in der frühen Badeliteratur immer wieder vorkommen, begann bereits mit der Loslösung von der alltäglichen Heimat der Kurprozess. In der Natur des Nordens, im Bad in der See, fand sich die Läuterungsmöglichkeit, und der Weg zu diesem Ziel diente der inneren Loslösung vom Gewohnten wie der Vorbereitung des Heilsaktes. So sind es die „ermüdeten Pilger”, 297 die sich auf die lange Reise zur erhofften „Quelle des segensvollsten Genusses” machen. Und der einsame Wanderer auf Rügen geht nicht einfach spazieren, sondern begibt sich auf eine „Wallfahrt“. 298 Im Seebad selbst zeugte die „jährlich sich mehrende Anzahl der Gesundheit und neue Lebenskraft in den schäumenden Wellen findenden Pilger“ 299 von der erlösenden Kraft des Meerbades. 2.2.7 Paradiese am Ufer Von der sinnlichen Ebene des Bades in die tradierte sprachliche Überlieferung besonderer Räume reicht die bald inflationär gebrauchte Rede von den paradiesischen Verhältnissen am Strand. Dass diese eine so breite Bedeutungsspanne aufwies und gelegentlich in einem allgemeinen Wohlfühlen verharrte, ändert vor allem in unserem Zusammenhang nichts an ihrer Aussagekraft für die spezielle Konstruktion des Raumes. Hennig spricht von dem „gleichsam innerweltlich gewendete[n] Paradiesmy- 294 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 31.12.1817. 295 Vgl. u.a. Carl Bindemanns „Rückblicke auf Leben und Amt“ (S. 274), in dem seine Frau von einem gemeinsamen Bad mit der Tochter in Zingst berichtet, bei dem Tochter und Mutter wegen einer plötzlichen Vertiefung des Seebodens nur knapp dem Ertrinken entronnen. Ders., S. 274. 296 Loewe, Dievenow, S. 11. 297 Stierling, Annalen Travemünde, S. 1. 298 Nernst, Rügen, S. 1. 299 Mühry, Über das Seebaden, S. 1. <?page no="86"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 85 thos“, 300 der mit den Bildern der unberührten Natur, dem edlen Wilden, der Abkehr von gesellschaftlichen Zwängen einhergehe. Besonders über ihre Naturgestalt herausragende Orte wurden so immer wieder mit den paradiesischen Zuständen in Zusammenhang gebracht. Therese Devrient schrieb im Sommer 1836 ihrem Mann aus dem kleinen Seebad Heringsdorf. 301 Mehrfach wurde ihr die Natur, die sie „hier verstehen gelernt“ hat, zum irdischen, alle Sinne ansprechenden Paradies. Es ist so, als würde die Natur mit dem aufmerksamen Beobachter reden: „Wie paradiesisch ist es hier, wüsste ich nur, wie ich es genug preisen soll, alle Worte, Töne, Farben, nichts ist hinreichend, auch nur ein schwaches Bild davon zu geben“. 302 Es ist aber nicht die Natur allein, die das Paradiesische ausmachte. Devrient beschwert sich über neu angekommene Gäste, „berlinisch und dreist“. 303 Ähnlich wie die Kritiker des Sonnenaufgangs fühlte sich hier der elitäre Reisende von den „kulturlosen“ Nachfolgern aus seinem Paradies vertrieben. Paradies war hier eben genau der abgegrenzte, glückselige Gartenraum, in dem keine Veränderungen stattfinden, in dem alles in glücklicher Eintracht und Ruhe verharrt. Eine mangelnde Verwandtschaft dieser Empfindungen, verbunden mit der Unfähigkeit, diese angemessen auszudrücken, sorgt dann dafür, dass Kultur nicht „als einigendes Band“, sondern als „Praxis sozialer Distinktion“ 304 wirkt. Devrient besaß klare Vorstellungen, welche Konsequenzen ihr romantischer Wunsch nach einer einsam erlebten Naturerfahrung 305 haben sollte: „Überhaupt habe ich immer den geheimen Wunsch, daß alle die Badegäste auf der Herreise verschlagen würden, es ist mir, als ob sie mein schönes Paradies hier zerstörten.” 306 Privation, also Rückzug in Stille und Einsamkeit, waren die Ingredienzen des romantischen Traum-Raumes, wie Edmund Burke schon im Erhabenheitsdiskurs 300 Hennig, Mythen, S. 20. 301 Vgl. Hartwig, Heringsdorf. 302 Devrient, Briefwechsel, S. 44f. 303 Devrient, Briefwechsel, S. 46. 304 Kaschuba, Bürgertum, S. 100. 305 Für Apel ist besonders im deutschen Kulturkreis die einsame Landschaftserfahrung Bestandteil einer antigesellschaftlichen Idee: „In Deutschland zeigt sich die Landschaftserfahrung durchtränkt von Vereinzelungsgefühlen und dem Streben nach Autonomiegewinn, die zusammen das antigesellschaftliche Moment der Landschaftslektüre ausmachen. Gerade in der Landschaft möchte sich das Subjekt als mündig im Sinne Kants erfahren. Nicht Machtstreben und repräsentative Erfahrung, sondern gerade der Wunsch nach einem Selbstsein jenseits gesellschaftlicher Zwecksetzung und Ziele, jenseits von konformistischer Kommunikation und verordneter Wahrnehmung kennzeichnet das deutsche Paradigma der Landschaftsanschauungen.“ Apel, Deutsche Landschaft, S. 18. Carl Gustav Carus beschreibt dies für seinen Besuch 1819 auf der kleinen Insel Vilm bei Rügen: „Ich kann sagen, ich habe kaum jemals wieder dies Gefühl so ganz reinen, schönen und einsamen Naturlebens gehabt wie damals auf diesem kleinen Eilande, das sonst niemand zu sehen pflegt, der Rügen besucht.“ Carus, Lebenserinnerungen, Bd. 1, S. 214. 306 Devrient, Briefwechsel, S. 46. <?page no="87"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 86 hervorgehoben hatte: „Nie sprich die Phantasie lauter, als wenn alles um sie her schweigt“. 307 Besonders das idyllisch gelegene Heringsdorf scheint eine besondere Assoziation an das Paradiesische geweckt zu haben. Eine schwärmerische Beschreibung von Heringsdorf, verbunden mit dem kulturpessimistischen Szenario von Verlust und Vertreibung, zeichnete Rebecca Mendelssohn-Bartholdy 1839 in einem Brief an ihren Mann: „Es ist eine zum Nachdenken geschaffene Gegend; wenn ich das sogar sage und empfinde, wie würde es Dir gehen. Nur kann ich mich der Wehmut nicht erwehren, wenn ich das reizende, idyllisch ländliche Dorf mit seinen Strohdächern und den anspruchslos einfachen Häusern ansehe und bedenke, wie unfehlbar in einigen Jahren die verschönernde Hand des Menschen dieses harmonische Winkelchen Erde verunstalten wird; ich sehe schon Belvederes statt Storchennestern, faule Blumengärten statt Kornfeldern und auf dem Buchenberg ein Kaffeehaus mit Regimentsmusik, besonders aber die freundlichen, fleißigen Bauern in Bettler verwandelt. Alles im Geist, denn noch ist es ein Stückchen Erde, wo nicht nur Gott die Welt, sondern auch die Bauern ihre Wohnhäuser und Äcker erschaffen haben.” 308 Knapp zwanzig Jahre später sorgte sich 1857 eine Gruppe von gut situierten Heringsdorfer Hausbesitzern um den Erhalt des dortigen, von massiven Einschlägen bedrohten Buchenwaldes, einem besonderen Teil des Landschaftsbildes. In einer Petition an den preußischen König griff man zu einem drastischen Bild: „Freilich hat Gott den kleinen Flecken Erde mit so unverwüstlichem Reiz gesegnet, daß weder Mangel an Pflege noch wirkliche Angriffe bisher ihn wesentlich hätten schaden können, - aber es gibt eine Grenze, die nicht überschritten werden darf, oder der Zauber schwindet und das Paradies wird zur Wüste! ” 309 Etwa zur selben Zeit war das Paradies zum schlichteren Schlaraffenland geronnen. Bernhard von Lepel, Lyriker und Dramatiker aus dem Berliner literarischen Verein „Tunnel über der Spree“, schrieb seinem Freund Theodor Fontane von seinem Heringsdorf-Aufenthalt: „Hier bin ich vor lauter Schlaraffenleben zu nichts gekommen und habe von dem vielen Umhertreiben im Freien wenigstens den Vortheil gehabt, meine Gesundheit gegen die Angriffe des Winters etwas befestigt zu haben.” 310 307 Zit. nach Zelle, Nachwort, S. 97. 308 Mendelssohn, Briefwechsel, S. 507. 309 LA Greifswald, Rep. 60, Nr. 12, Acta des Königlichen Ober-Präsidiums von Pommern, Schreiben vom 23.9.1857. Zu den Hausbesitzern gehört u.a. ein Rechtsanwalt, eine Frau Professorin, der Badearzt von Wallenstedt und Franz von Lepel-Wiek, Mitglied des preußischen Herrenhauses. 310 Petersen, Freundschaftsbriefwechsel, Brief von Lepels vom 5.9.1854, S. 92. <?page no="88"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 87 Der vertraute Ort wurde für Lepel schließlich zum Refugium: „Ich hoffe bald nach Heringsdorf zu kommen, wo ich einsamer sein werde.” 311 Es blieb überall das Bild einer Landschaft, die weiterhin besonders stark an den paradiesischen Mythos anklang. Für den Doberan-Heiligendammer Badearzt Prof. Vogel befand sich hier natürlich auch der landschaftlich ideale Ort für das erste deutsche Seebad. Und so mischte sich in seinen sonst sehr nüchternen Ton dann und wann auch ein Anklang an die glückliche Vorsehung, die Heiligendamm zu dem machte, was es nun ist. Dass hier „in diesem Paradiese so vieles vereinigt“ 312 sei, was zur Anlage und dem Gelingen eines Bades nötig sei, dankte man nicht nur dem Herzog. Vogel, dem geschickten Vermarkter von Doberan-Heiligendamm, gelang es auch, den bei den Gästen ungeliebten, kilometerlangen Weg zwischen Doberan und dem Seebad in Heiligendamm in einen paradiesischen Pfad zu verwandeln. In seinem Handbuch von 1819 heißt es: „Der überaus anmuthige Weg, der einen großen Theil der Straße von Doberan durch das Holz nach dem Bade führt, verdient noch besonders erwähnt zu werden. Es ist eine himmlische Partie, bey großer Sonnenhitze durch diesen paradiesischen Hain zu fahren.“ 313 Eingebettet zu sein in eine paradiesische Landschaft, nahmen viele Akteure für ihr Seebad in Anspruch, so auch der Zoppoter Badearzt. Wieder war diese Zuschreibung verbunden mit den Attributen der ländlichen Einsamkeit, der Einmaligkeit und einer romantischen empfundenen Natur. Es „kann sich Zoppot mehr als jeder andere Seebadeort der stillen ländlichen und der höchsten Freuden an der großen herrlichen Natur rühmen, welche die paradiesische, Sinn und Herz erhebende Umgegend nach dem Urtheile jedes Fremden in solcher Fülle und Abwechslung gewährt, wie wohl wenige Oerter in Europa aufzuweisen haben.“ 314 Natur heißt aber nicht nur Landschaft, sondern auch menschliche Natur. Paradiesische Zustände verhießen hier die Stunden vor der Erkenntnis der eigenen Nacktheit. 315 Das „Paradisische dieser Lebensweise“, 316 das heißt das Baden in der See durch beide Geschlechter, wie vor allem in kleineren Stranddörfern gehandhabt, dürfte in seiner außergewöhnlichen Leibeserfahrung und in dem ebenso riskanten wie lustvol- 311 Petersen, Freundschaftsbriefwechsel, Brief von Lepels vom 7.7.1856, S. 159. 312 Vogel, Annalen, S. 3. 313 Vogel, Annalen, S. 36. 314 Haffner, Zoppot, 1823, S. 2. 315 Nicht ohne Grund sprechen Badeärzte wie Hufeland im Zusammenhang mit der leichten Badekleidung von Frauen auch über den „Stand der Unschuld“, dem hier im Ostseestrand nur „die Umgebung des Paradieses fehlt“. Hufeland, Praktische Übersicht, S. 242. Vgl. dazu auch Kap. 3.3. 316 Zeitschrift „Sundine“, Stralsund 1829, zit. nach Prignitz, Badekarren, S. 80. <?page no="89"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 88 len Anblick der je Anderen für manche zweifelsohne etwas Paradiesisches gehabt haben. 2.2.8 Andauernde Gefährdung - Schiffbruch, Strandrecht, Freibeuter, Kriege Auf eine letzte Ebene, auf der sich der fortschreitende Wandel des Küstenbildes zeigt, sei hier noch verwiesen, nämlich die Schifffahrt. Das offene Meer blieb auch im 19. Jahrhundert Teil einer nicht beherrschbaren Natur. Schiffsunglücke waren das beredte, viel beschriebene und gemalte Zeugnis des „ewigen Kampfes“ zwischen dem sich leichtsinnig vom Land trennenden Menschen und dem gefährlichen Meer. Carl Friedrich Zelter (1758-1832), Leiter der Berliner Singakademie und Goethe- Intimus, schrieb an diesen mit dem Blick von der Rügenschen Stubbenkammer aufs Meer: „segelnde Schiffe geben von Zeit zu Zeit Erinnerung an das Verhältnis menschlicher Kunst und Kraft zu dem unendlichen Meere“. 317 Symbolischer und realer Handlungsraum zugleich, transportierte das Meer trotz aller Fortschritte im Küstenschutz und Schiffsbau weiterhin eine Fülle negativer Bilder. Auf verschiedene Weise kann der Mensch durch das Meer gestraft werden - zum einen durch die Meeresflut selbst, zum anderen auch durch den gottlosen Menschen, den Seeräuber. Nicht durchdrungen vom Licht der Aufklärung behielt das Meer die Aura geheimnisvoller Dunkelheit. So erwähnt das Zedler-Lexikon in seinem Artikel „Meer“ die „Meer-Wirbel und Schlunde“, die, „was sie ergreifen können, in den Abgrund verschlingen, andere das verschlungene an demselben oder an einem anderen Orte wieder auswerffen“. Nicht nur von den Alten kenne man diese riesigen Wirbel der Scylla und Carybdis, sondern „auch in der Nord-See“ treffe man sie an, mit einem Umfang, „der 12 Meilen im Umkreis haben“ soll. 318 Damit verbunden war die Gefahr des Schiffbruchs, die als Metapher weit über das eigentliche Ereignis hinaus vom frevelhaften Verlassen des sicheren Landes handelt und damit auch den selbst verschuldeten Verlust und Untergang bezeichnet. 319 Bereits in der Gattung des niederländischen Strandbildes ab dem frühen 17. Jahrhundert, in dem Städter sich am Seeufer verlustierten, spiegelte sich die wieder erwachte Lukrezsche Lust, den Untergang eines Schiffes vom sicheren Land aus anzuschauen. 320 317 Zelter, Briefwechsel, S. 634. 318 Zedler, Bd. 20, S. 91. 319 Zur Metapher des Schiffbruchs in der abendländischen Literatur vgl. Blumenberg, Schiffbruch. 320 Berühmt in diesem Zusammenhang ist das Lukrezsche Verdikt aus dem Beginn des zweiten Buches „De rerum natura“, in dem es heißt: „Wonnevoll ist's bei wogender See, wenn der Sturm die Gewässer/ Aufwühlt, ruhig vom Lande zu sehn, wie ein andrer sich abmüht,/ Nicht als ob es uns freute, wenn jemand Leiden erduldet,/ Sondern aus Wonnegefühl, daß man selber vom Leiden befreit ist.“ Über die <?page no="90"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 89 Im Gegensatz zum „glücklichen Hafen“ bezeichnete die Schifffahrt die schlechthinnige Abhängigkeit vom Element, das in seiner grundlosen Tiefe, seinem unberec he nb ar en V erhal ten La st und Bes atzun g nac h Belie ben in die T iefe reißt o der zu r glücklichen Fahrt weiterziehen lässt. In der metaphorischen Aneignung des Schiffbruchs als „Lebensfahrt wird der Schiffbruch als Standardmotiv des Scheiterns odes des völligen Neubeginns gelesen“, 321 so Thorsten Feldbusch. Die verschlingende Tiefe aber gebiert noch Schrecklicheres. Es lauern „mythische Ungeheuer“ 322 hier, die das Schiff mit ihren gigantischen Tentakeln umschlingen und in die grauenhafte Tiefe zerren. 323 Noch Kant berichtete in seiner Spätschrift „Physische Geographie“ (1802) von „Polypen“, die Matrosen in die Tiefe des Meeres ziehen, deren abgeschlagene Arme gewaltige Ausmaße erreichen und versehen sind mit „Schröpfköpfen von der Größe eines Schöpflöffels“. 324 Der Zedler befasste sich aber folgerichtig auch ausführlich mit dem realen und dem metaphorischen Schiffbruch. 325 Dieser war auch an der Ostseeküste nicht selten. Die flachen Küstengewässer der auch an ihren tiefsten Punkten vergleichsweise flachen Ostsee sorgten bei schlechtem Wetter auch noch im 19. Jahrhundert regelmäßig für Schiffsunglücke. 326 Und abseits moralischer Gefahren und ferner Meere war das sichtbare Unglück immer wieder sehr nah. Zelter berichtete 1820 an Goethe von seiner Rügenreise und einem Besuch beim dort ansässigen Pfarrer Frank: „Das Haus war in großen Freuden und eine rote Fahne war ausgesteckt. Der Sohn, ein junger Ostindienfahrer, war gestern nach dreijähriger Abwesenheit angekommen. Das Schiff war gestrandet, der Capitain und viele Mannschaft waren umgekommen und die ganze Ladung verloren, der junge Frank mit wenigen andern hatten sich gerettet. Vater, Mutter und Schwestern Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 61. Vgl. dazu auch Müller-Wusterwitz, Susan: Strandung, Schiffbruch und Schaulust. In: Norbert Fischer (Hg.): Land am Meer. Die Küsten von Nord- und Ostsee, Hamburg 2010, S. 73-79. 321 Feldbusch, Land, S. 32. 322 Blumenberg, Schiffbruch, S. 10. 323 Vgl. dazu Bredekamp, Wasserangst und Wasserfreude, S. 151ff. 324 Kant, Immanuel: Physische Geographie, IV. Band, Mainz/ Hamburg 1805, S. 93. 325 Vgl. Zedler, „Schiffbruch geschiehet, wenn das Meer von unten auf beginnet zu sieden, wie die Toepffe, wenn der Wind mit dem Schiffe anhebt, grausam und ungeheuer zu spielen, und dasselbe bald hie, bald dorthin schleudert, eine Seegel, eine Stange nach der andern zerbricht, Ancker ausreist, den Mastbaum zerschmettert, aslo daß das Schiff endlich zu brechen anfängt, leck, oder löchrig, und zugleich voller Wasser wird, in eine Klippe anschmeist, oder gantz in Grund sincket.“ Zugleich bezeichnet der Schiffbruch metaphorisch den Abfall vom Glauben etc., Bd. 34, S. 760. 326 Die westliche Ostsee, von Rügen bis Schleswig-Holstein, ist nicht tiefer als 17 bis 27 Meter. Vgl. dazu Kiecksee, Ostsee-Sturmflut, S. 16. <?page no="91"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 90 erzählten uns eben angekommen wild Fremden heulend, jauchzend, schreiend das große Glück.“ 327 Boll schrieb in seinem Rügen-Reiseführer von 1858, er hätte bei seinen letzten Besuchen der Stubbenkammer jedes Mal vom Sturm an den Strand geworfene Schiffe gesehen. 328 Caspar David Friedrichs Sepia „Blick auf Arkona mit Schiffbrüchigen“ von 1803 bezieht sich vermutlich auf einen an dieser Stelle im Winter 1802 stattgefundenen Schiffbruch einer dänischen Yacht, bei dem nur ein Teil der Besatzung gerettet werden konnte. 329 Es sind aber nicht nur die großen Schiffsreisen, die Gefahren bergen. Bereits kleine Bootsfahrten mit den Fischerbooten in Küstennähe stellten eine potentielle Bedrohung dar. In den Seebädern gehörten kleinere Schiffstouren auf die Ostsee zum regelmäßigen Programm der Badegäste. Der Swinemünder Badearzt Dr. Richard Kind empfahl diese ebenfalls, wenngleich mit einer sprechenden Zahl von Sicherheitsvorschriften: „Den Seefesten, d.i. denen, die nicht seekrank werden, gewährt so eine kleine Lustfahrt auf der See ein außerordentliches Vergnügen, und ist jene, wenn die See nicht zu unruhig, das Boot nicht zu klein und die Führer des Bootes sachkundige Leute sind, ohne alle Gefahr.“ 330 Dabei war nicht einmal nur der Schiffbruch an sich lebensgefährlich. Selbst wenn man das rettende Land erreichte, konnte das noch üble Folgen zeitigen. Das sogenannte Strandrecht verhieß im schlimmsten Fall den Verlust von Gut und Freiheit. Adelungs Wörterbuch definierte: „Das Recht, welches der Grund- oder Eigenthumsherr eines Strandes oder eines Theiles desselben hat, die an demselben gestrandeten Güter und Personen als sein Eigenthum anzusehen und zu behalten, das Uferrecht; welches alte Recht noch in manchen Gegenden Nieder- Deutschlandes, Dänemarkes u.s.f. üblich ist, dagegen an andern Orten dafür ein bestimmtes Bergegeld eingeführet ist.“ 331 Wilhelm von Humboldt schildert in seinem Tagebuch der Rügenreise von 1796 die Relikte des Strandrechtes an der vorpommerschen Küste: „Das Strandrecht ist auf Rügen längst abgeschafft. Indeß gehen bei der Einforderung des sogenannten Bergegeldes wohl manchmal Misbräuche vor. Doch ist hierüber eine eigne Gerichts- 327 Zelter, Briefwechsel, S. 635. 328 Boll, Rügen, S. 49. 329 Zschoche, Rügen, S. 33. 330 Kind, Swinemünde, S. 127. 331 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 4, Leipzig 1801, S. 422. Das Stettiner Staatsarchiv verwahrt unter im Bestand Akta miasta Kołobrzegu/ Magistrat Kolberg unter der Signatur 65/ 202/ 0/ 3635 eine Akte, in denen der Pommersche Herzog wiederholt dem Kolberger Adel für das späte 16. und frühe 17. Jahrhundert das Privileg der Strandgerechtigkeit zusichert. <?page no="92"?> 2.2 Metamorphosen der Landschaft - von sakralen und legendären Räumen 91 barkeit angestellt. Es stranden jährlich einige Schiffe bei Rügen, vornemlich im Prorer und Tromper Wyck. Der Pastor von Wyllich hatte vor einigen Jahren das Glück, die Mannschaft und einen Theil der Güter eines gestrandeten Schiffes dadurch zu retten, daß er eines seiner Pferde hergab, um damit dem Schiff zu Hülfe zu schwimmen.“ Den Rügenschen Einwohnern unterstellte man, dass sie in Gottesdiensten für den Strandsegen, also die Strandung von Schiffen beteten, um dann die zerschollene Ladung am Strand für den eigenen Bedarf einzusammeln. Humboldt zeigte sich aber durch Berichte beschwichtigt: „Das Gebet um Strandsegen ging zwar lediglich nur auf einen guten Fischfang, ist jedoch auch abgeschafft.“ 332 Aber noch 1846 berichtete der Kreisphysikus von Cammin, dass die Einwohner von Dievenow auf der vorpommerschen Insel Wollin „das Strandrecht oft in etwas egoistischem Sinne“ 333 auslegten. Im Gebrauch des Strandrechtes entstand so ein vielschichtiges Bild des Küstenraumes. Für den Betrachter verbindet sich hier das Schiffsunglück mit dem unberechenbaren Verhalten der Küstenbewohner zu einem potentiell gefährlichen Raum, der erst in seiner gesellschaftlichen und technischen Beherrschung zum romantischen Topos transformiert werden konnte. Die wilden Figuren der schmuggelnden und das Strandrecht ausübenden Fischer fanden auf diese Weise schließlich auch ihren Platz in der zeitgenössischen Belletristik. 334 Aber nicht nur die alten Sitten der Strandbewohner mussten im Binnenländer Unbehagen wecken. Viel bekannter, präsenter und unheimlicher waren die Geschichten der Freibeuter. So waren im frühen Mittelalter die slawischen Ranen auf Rügen als Seeräuber berüchtigt, 335 während im späten Mittelalter die Vitalienbrüder oder Likedeeler mit Kaperbriefen und auf eigene Faust in der Ostsee auf Beutezug gingen. 336 Obwohl im 18. Jahrhundert in der Nord- und Ostsee praktisch nicht mehr vorhanden, lebten die schaurigen Seeräubergeschichten fort. 337 Beredtes Beispiel hierfür war erneut die Insel Rügen. Bereits 1745 schrieb Albrecht Georg Schwartz in seiner „Kurze[n] Einleitung zur Geographie des Norder=Teutschlandes Slavischer Nation“ von der geheimnisvollen Höhle im Kreidefelsen der Stubben- 332 Humboldt, Tagebuch, S. 50. 333 Loewe, Dievenow, S. 11. 334 Vgl. u.a. Philipp Galens Roman „Nach zwanzig Jahren.“, Bd. 2, Leipzig 1868, S. 29. 335 Vgl. Meier, Seefahrer, S. 83. 336 Vgl. Meier, Seefahrer, S. 143ff. 337 Vgl. dazu Ortwin Pelc: Seeräuber auf Nord- und Ostsee. Wirklichkeit und Mythos, Heide 2005, S. 74: „Noch in den napoleonischen Kriegen wurden Kaperschiffe eingesetzt, im weiteren 19. Jahrhundert wurden dann aber die Marinestreitkräfte der einzelnen Großmächte so stark, dass kaum noch Kaperfahrer in Anspruch genommen wurden und auch Seeräuber in der Nord- und Ostsee kein Auskommen mehr hatten. Die Großmächte erklärten die Kaperei, also die staatlich gestützte Piraterie, 1856 für abgeschafft.“ <?page no="93"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 92 kammer, wo „noch grosse Schätze zu seyn vorgegeben werden“. 338 Obwohl schon bei Schwartz als „Histörchen“ bezeichnet, wurde in der Ende des Jahrhunderts bereits breiten Reiseliteratur zur Insel Rügen die Geschichte immer weiter ausgemalt, Klaus Störtebeker und Gödeke Michel, die legendären Vitalienbrüder, hätten an Rügens Küste einen großen Teil ihrer Beute versteckt. 339 Johann Carl Friedrich Rellstab schrieb: „Hinter diesen Pfeilern findet man eine Höhle. Die Sage lautet, in der Höhle hinter den Felsen habe sonst eine Seeräuberbande ihre Wohnung gehabt, deren Anführer Claß Störtenbeck und Gädeke Michael gewesen. Hier verbargen sie ihre Beute, die sie von diesem Lauerorte, denen auf der Ostsee segelnden Schiffen abgenommen hatten.“ 340 Und selbst Humboldt begab sich, skeptisch, aber voller Elan, während seiner Rügenreise 1795 auf die Suche nach der Seeräuber-Schatzhöhle. 341 Auch auf der Nachbarinsel Usedom wurde eine kleine Schlucht nach dem legendären Seeräuber „Störtebeckers- oder Räuberkuhle“ 342 benannt. Albrecht Georg Schwartz führte in seinem Werk zur Geschichte Norddeutschlands Mitte des 18. Jahrhunderts die Anlage von Städten an der Küste auf die herrschenden besonderen Bedingungen durch die Piratengefahr zurück: „Vermuthlich ist sie [die Stadt Wollin auf der gleichnamigen Insel, H.B.], nach Art fast aller Städte, zuerst eine blosse Burg gewesen, deren es in dieser Gegend gebrauchte, da die Freybeuter zu der Divenow, ins frische Haff einlaufen, und auf denselben, unsern Küsten viel Schaden zufügen konnten.“ 343 Pfarrer Frank berichtete dann später in 338 Schwartz, Geographie, S. 97. 339 Vgl. dazu Pelc, Seeräuber, S. 81f. 340 Rellstab, Insel Rügen, 1797, S. 73; vgl. dazu auch Zöllner, Insel Rügen, 1797, S. 271f.; in der Sagensammlung von Johann Georg Theodor Grässe (Sagenbuch des Preußischen Staats. Deutsche Märchen und Sagen, Glogau 1868/ 71) finden sich Räubersage und romantische Meerjungfrau verwoben, so in der Geschichte „Die Jungfrau am Waschstein bei Stubbenkammer“, wo es zum Beginn heißt: „Dicht am Ende der Kreidewand von Groß-Stubbenkammer auf Rügen erhebt sich der sogenannte Waschstein, ein großer Granitblock, etwa hundert Schritt vom Ufer aus der See hervorragend. Hier soll nach der Erzählung der dortigen Fischer alle 7 Jahr ein Meerweibchen hinaufsteigen und sich auf ihm waschen. Unter demselben soll sich aber auch eine tiefe Höhle befinden, wo einst der berüchtigte Seeräuber Störtebecker seine überall zusammengeraubten Schätze verbarg. Nun erzählt dort das Volk, es sei in dieser Höhle bis auf den heutigen Tag nicht geheuer, um Mitternacht steige aus ihr eine trauernde Jungfrau“. Grässe, Bd. 2, S. 479f. 341 „Von unten stieg ich bis zu den mittelsten Pfeilern in die Höhe [...] um zu sehen, ob ich Spuren einer Höle daselbst bemerkte. Ich fand indeß nichts. Der Sage nach sollen nemlich die beiden Seeräuber Störtebecker (Claus Sturzenbecher) und Gäte Michel (Gödeke Michael) ihr Raubnest und ihre Wohnung hier gehabt haben.“ Humboldt, Tagebuch, S. 37. 342 Hartwig, Heringsdorf, S. 86f. 343 Schwartz, Geographie, S. 341. <?page no="94"?> 2.3 Neue Räume - der säkularisierte Heilsraum 93 einem historischen Exkurs davon, dass die Bewohner der Insel Oi bei Rügen ihr kleines Eiland nicht „bewohnbar halten konnten [...] wegen der Seeräuberey, welche da s Ha upt ges chä ft de r ba lt isch en Ufer bewo hn er wa r“ . 344 Es waren, wie Corbin zusammenfasst, die „Schandtaten der Piraten und natürlich auch die der Schiffsplünderer, der Schmuggler und der Strandräuber“, die „dem Küstenbild ein unheilvolles Gepräge“ 345 verliehen. Freilich geronnen in Zeiten von Aufklärung und Befriedung des Landes diese Geschichten immer mehr zum Topos von abenteuerlichen Erzählungen, deren phantastischer Gehalt auf keiner realen Gefahr mehr beruhte und zum bloßen Schauergemälde wurde. Besonders die reizvollen Piratengeschichten klangen aber noch lange nach. Theodor Fontane, der seine Kindheit in Swinemünde verlebte, schrieb in seinen Erinnerungen von den Erzählungen über ein im Hafen liegendes, geheimnisvolles Kaufmannsschiff. Dieses habe, so hieß es, „einen Kampf mit chinesischen Seeräubern siegreich bestanden“ 346 und es sei ihm darum das liebste Schiff seiner ganzen Kindheit geworden. Nicht zuletzt blieb der Küstenraum in besonderer Weise gefährdet durch seine gute Zugänglichkeit von See. Kriegszüge waren von Seeseite aus seit Jahrhunderten auch an den Ostseeküsten bekannt, am bekanntesten ist bis heute wohl die Landung des schwedischen Königs Gustav II. Adolf im Juli 1630 auf der pommerschen Insel Usedom. Mit dem schwedischen Eintritt auf den deutschen Kriegsschauplatz ging das blutige Morden im Dreißigjährigen Krieg in eine neue Runde. Überhaupt war der Seeverbindung mit den skandinavischen Reichen seit Jahrhunderten geprägt von regem Handel und kriegerischen Auseinandersetzungen. Nur mit der engen Verbindung zum südlichen Ostseeraum ist auch die frühneuzeitliche Zugehörigkeit sowohl des dänischen als auch des schwedischen Königshauses zum Heiligen Römischen Reich möglich gewesen. 347 2.3 Neue Räume - der säkularisierte Heilsraum Die Grenzlinie zwischen Meer und Land war und ist eine Markierung, die in ihrer Uneindeutigkeit, dem Übergang zwischen dem sicheren Land und dem unsicheren, wie in eine neue Welt hinüberweisenden Meer eine große Faszination auf die menschliche Vorstellungskraft ausübte und ausübt und sich geradezu unausweich- 344 Frank, Denkmäler der Vorzeit. In: Greifswaldisches-Academisches-Archiv, hg. von Johann Erichson, Greifswald 1816, S. 41. 345 Corbin, Meereslust, S. 30. 346 Fontane, Kinderjahre, S. 54. 347 Vgl. dazu North, Michael; Riemer, Robert (Hg.): Das Ende des Alten reiches im Ostseeraum. Wahrnehmungen und Transformationen. Köln 2008. <?page no="95"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 94 lich auch in der Literatur niederschlug. Der Küstenraum als Grenz(-erfahrungs)ort ermöglicht wie wenige andere, Themen wie Unendlichkeit, Freiheit, oder die Situierung des Selbst in Raum und Zeit zu meditieren, zu reflektieren und literarisch zu verarbeiten. Dazu tragen auch die im Meer und seinem Grenzbereich zum Land angesiedelten sagenhaften Bewohner bei. Nach antiker, mittelalterlicher und selbst neuzeitlicher Vorstellung tummelten sich in und an den Meeren zwanglos mythische Wesen. An den südlichen Küsten des Mittelmeeres aalten sich die Nereïden, schöne und heitere Meeresnymphen als Schutzpatrone der in Seenot Geratenen. Die nördlichen Meere boten weniger appetitliche Bewohner. An Seeungeheuer gemahnenden gewaltigen Walfischen, so zeigen es noch Karten wie die große Lubinsche Karte von Pommern 1618 oder die 1635 erschienene Karte des historischen Herzogtums Pommerns, herrschte hier kein Mangel. 348 Mit der Aufklärung gewann eine rationale, nicht-theologische Welt-, Geschichts- und Naturdeutung an Bedeutung. Dieser komplexe Prozess begründete letztlich die Vorherrschaft logischer, nachvollziehbarer Verstandeswahrheiten als Grundlage menschlicher Erkenntnis, die auch dem nassen Element und seinen Bewohnern jegliche übernatürliche Komponente austrieb. Motor für diesen Prozess war die Philosophie. Grundlegend für die Aufwertung der Natur war die „Durchsetzung der mathematischen Methode und der dadurch erreichten Vereinheitlichung des Weltbildes“, 349 wie Kondylis mit Blick auf die Philosophie des 17. Jahrhunderts konstatiert. Philosophische Spekulationen über das Naturerhabene 350 transformierten die transzendente Naturüberhöhung in die sich etablierende naturwissenschaftliche Weltvorstellung. Die Physik verdrängte die Theologie und bedurfte ihrer auch immer weniger als Letztbegründung. 351 Was sich in der „Aufwertung der Natur als Gegenstand systematischer, hauptsächlicher oder sogar ausschließlicher Beschäftigung“ 352 herauskristallisierte, war aber schließlich die Verwandlung der Natur „in ein ödes Reich blinder Notwendigkeit; sie stand den Wünschen und Hoffnungen des Menschen verständnislos gegenüber.“ 353 Im Betrachten der Natur als das Andere, das Gegenüber 348 Lubinsche Karte 1618 von Eilhard Lubinus im Auftrag des pommerschen Herzogs Philipp II. und die „Pomeraniae Ducatus Tabula“-Karte, abgedruckt im Atlas Blaeu, auf Basis der Lubinschen Karte, 1635 von den niederländischen Kartographen Willelm Janszoon Blaeu und dessen Sohn Joan Blaeu herausgegeben. 349 Kondylis, Aufklärung, S. 111. 350 Zu Begriff und Genese des „Naturerhabenen“ vgl. Hartmut Böhme: Natürlichkeit/ Natur. In: Karlheinz Barck/ Martin Fontius (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 2002, S. 490f. 351 Vgl. Kondylis, Aufklärung, S. 116. 352 Kondylis, Aufklärung, S. 119. 353 Kondylis, Aufklärung, S. 120. <?page no="96"?> 2.3 Neue Räume - der säkularisierte Heilsraum 95 des Menschen, die erst möglich ist mit dem Abstand des aufgeklärten, vernünftig denkenden und argumentierenden Menschen, wurden „der Natur“ verschiedene neu f orm ulier te Quali täte n zuge sch rieb en. Für den Raum des Nord ens soll te vor allem der Begriff des Erhabenen und die Rezeption der Wildnis bedeutungsvoll werden. Im Diskurs um das Naturerhabene stützt man sich zunächst noch auf antike Quellen, vor allem den Pseudolonginus, Platon und Aristoteles. Über die ursprüngliche literarische Figur des Erhabenen vollzog sich ein Bedeutungswandel, der die Sinne überwältigende Größe des Erhabenen auf das Universum und schließlich natürliche Figuren der Erde bezog. Herausragend für die Einordnung des Meeres als ausgezeichnetes Beispiel des erhabenen Gefühls, war die Transformation einer theologisch fundierten Zuschreibung des Unendlichen an den allmächtigen Gott, der sich über verschiedene Verwandlungsschritte in unendliche Dimensionen ausrichtete, das heißt in eine sinnlich nicht zu erfassende Größe natürlicher, irdischer Phänomene, wie die endlos scheinende Wasserfläche. Dabei sind die Strukturen von Phänomenen denen das Erhabene zugesprochen wurde so komplex, dass sie die Einordnung in die Maßstäbe euklidischer Geometrie nicht mehr gestatten und sich so nicht in die Ordnung bringen lassen. Nachdem das Naturerhabene zunächst als tatsächliche Eigenschaft der Natur interpretiert wurde (z.B. durch Edmund Burke), verband Kant die Beziehung des Erhabenen mit der Vernunft des Subjekts. Die sittliche Größe des Menschen subsumiert seine physische Schwäche, die sich beim Anblick erhabener Natur offenbart. Hinter allem zeigte sich eine neue Verbindung von Selbstvergewisserung, Naturgefühl und Natürlichkeit, Empfindsamkeit und Individualisierung. So setzte sich im späten 18. Jahrhundert, verbunden mit der zunehmenden Literarisierung in Gestalt einer bürgerlichen Lesegesellschaft, eine ästhetische, aus Philosophie und Kunst erwachsene Begegnung mit der Natur durch. 354 Damit wurden auch die Küste und das Meer zum eigenständig wahrgenommenen Naturraum, der literarisch-ästhetisch in einen symbolischen Raum von neuen gesellschaftlichen und individuell erlebten Freiheiten umschrieben und erfahren wurde. Beide Gattungen repräsentierten einen bereits etablierten literarischen Typus, der sich für den Ostseeraum in seiner besonderen lokalen Bindung als eigenständig erweisen sollte. 354 Vgl. dazu u.a. Werner Faulstich: Die bürgerliche Mediengesellschaft 1700-1830, Göttingen 2002. <?page no="97"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 96 2.3.1 Von der Idylle zur Wildnis - Geniebewegung und freie Natur Die Transformation von der barocken Ideallandschaft des locus amoenus hin zum Ideal der rauen, „wilden“ Landschaft des Nordens und zu Rousseaus Naturmenschen ist angesichts des damit vollzogenen Bruchs mit dem antiken Ideal ebenso erstaunlich wie sich in ihr der allgemeine Trend einer Abwendung vom Prinzip der Nachahmung der Alten spiegelt. Nicht nur aus der Enge barocker Idyllen und Schäferdichtungen brachen die jungen Dichter des Sturm und Drang aus. Das seit der Antike gängige antithetische Paar der beiden Naturfelder „locus amoenus“ und „locus terribilis“ beschrieb ja bekanntlich keine konkret-realistischen Landschaften, sondern stilisierte Formen, die sich in Gegensatzpaaren begründeten. Schön und hässlich, fruchtbar und öde, Sommer und Winter stehen symbolisch für divergierende Gemütszustände. In der „schönen Natur“ der idealen Landschaft sangen Vögel, plätscherten Bäche, säuselten Winde über eine Blumenwiese. Das alles entspricht dem Ideal einer konfliktfrei funktionierenden, hierarchisch organisierten Gesellschaft ebenso wie der Sehnsucht nach Harmonie im Sinne einer für den Menschen lebensfreundlichen, zweckmäßigen und nützlichen Natur und schließt an das antike Modell der arkadischen Kunstlandschaft an. Mit Vergils bucolischen Dichtungen prägte sich ein literarisches Idealbild von Landschaft, die sich aus Versatzstücken mediterraner Natur zusammensetzt und dessen Vorbildwirkung von der römischen Kaiserzeit bis zu Goethe reichte. 355 Mit dem „locus terribilis“ verhält es sich entsprechend andersherum. Grauenvolle Orte sind die ebenso unnützen wie lebensfeindlichen Gegenden, deren Anblick höchstens Melancholie hervorrufen kann. Das Erbe dieses gespaltenen Naturbildes von „locus amoenus“ und „locus terribilis“ trat im 18. Jahrhundert auf der einen Seite die „schöne Natur“, auf der anderen Seite die „erhabene Natur“ an. Dabei trat die „erhabene Natur“ in die Fußstapfen der schrecklichen Natur und wertete diese schließlich soweit auf, dass die nicht-schönen Orte wie das Gebirge und das Meer zu musterhaften Ideallandschaften wurden. Die unkultivierte Natur entwarf man als neuen Sehnsuchtsort. Der moderne Mensch suchte geradezu verzweifelt nach einer unkultivierten, möglichst wilden Natur, deren bisherige metaphorische Zuschreibung Platz ließ für eine positive Umschreibung. So gewannen zunächst die Alpen, von der Antike bis ins Mittelalter die „montes horribiles“, aus wissenschaftlichem wie ästhetischem Interesse an Bedeutung und Strahlkraft. 356 355 „Vom ersten Jahrhundert der Kaiserzeit bis zur Goethezeit hat alle lateinische Bildung mit der Lektüre der ersten Ekloge begonnen.“ Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1993, S. 197. 356 Vgl. dazu Dirlinger, Bergbilder. <?page no="98"?> 2.3 Neue Räume - der säkularisierte Heilsraum 97 Berühmt wurde Albrecht von Hallers Gedicht „Die Alpen“, in dem die Berge zu Schutzräumen für die Schweizer Einwohner werden, indem sie sie vor den verderblic he n We ltl äu fe n abs chi rme n. 357 Haller, Schweizer Arzt und Dichter, veröffentlichte das Gedicht 1732. Knapp 30 Jahre nach Hallers Dichtung, 1761, erschien „Julie oder Die neue Héloise“ von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Dieser Sensationserfolg des 18. Jahrhunderts, das Buch erlebte über 70 Auflagen, trägt im Untertitel die Bemerkung „Briefe zweyer Liebender aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen“. Auf Rousseau, so Rüdiger Hachtmann, geht „nicht allein, aber doch wesentlich […] eine Begeisterung für ,die Natur’ zurück, die schon bald epidemische Ausmaße annahm und charakteristisch auch für den modernen Tourismus ist“. 358 Über die Entdeckung der alpinen Bergwelt als ästhetisches Phänomen und deren vielfältige literarische Bearbeitung, beginnend mit Hallers Alpenepos, hat sich die früher wegen ihrer Unberechenbarkeit gefürchteten Natur im zeitgenössischen Diskurs bereits etabliert. 359 Naturwissenschaftliche Erkenntnis wie deren Popularisierung durch unzählige physikotheologische Schriften hatten im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts neben den alpinen Bergwelten auch die Schreckensbilder vom Meer zugunsten eines lebhaften Interesses zurückgedrängt. 360 Die Rätsel der Natur schienen im Gestus der neuen Naturwissenschaften nur „noch nicht“ gelöst, ihre Beherrschung nur eine Frage des Aufwandes an Forschung und Zeit. Wildnis als Folge einer „zunehmend rationalisierten und urbanisierten Lebensrealität“ 361 gewann damit als Gegenentwurf sowohl zum urbanen wie zum beherrschten und genutzten Landschaftsraum an Bedeutung. Die eigenständige Entwicklung der Natur, die sich von der anthropozentrischen Ausrichtung der Schöpfungstheologie emanzipierte, faszinierte die Zeitgenossen. Dazu gehörte seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend auch der Küstenraum der Ostsee. Seinen Niederschlag fand dies in der Transformation der 357 „Zwar die Natur bedeckt dein hartes Land mit Steinen,/ Allein dein Pflug geht durch, und deine Saat errinnt; / Sie warf die Alpen auf, dich von der Welt zu zäunen,/ Weil sich die Menschen selbst die grösten Plagen sind; […] Dann, wo die Freiheit herrscht, wird alle Mühe minder,/ Die Felsen selbst beblümt und Boreas gelinder./ Glückseliger Verlust von schadenvollen Gütern! / Der Reichthum hat kein Gut, das eurer Armuth gleicht; / Die Eintracht wohnt bei euch in friedlichen Gemüthern,/ Weil kein beglänzter Wahn euch Zweitrachtsäpfel reicht“. Albrecht von Haller: Gedichte, hg. und eingeleitet von Ludwig Hirzel, Frauenfeld, 1882. 358 Hachtmann, Tourismusgeschichte, S. 60. 359 Vgl. dazu auch Groh/ Groh, Kulturgeschichte der Natur, Bd. 2, S. 108f., die auch hier die theologisch implizierten Vorbedingungen einer zweckorientierten Betrachtung der Bergwelt ab dem 16. Jahrhundert an den neuzeitlichen Beginn dieses mentalen Wandels der Bergbilder setzen. 360 Vgl. dazu Kap. 2.2. 361 Dirlinger, Bergbilder, S. 29. <?page no="99"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 98 vormals rein rhetorischen Figur des Erhabenen in theologische und philosophische Spekulationen. Über den Topos des Erhabenen gelangte die mit Kopernikus entdeckte Unendlichkeit des Kosmos als göttliche Dimension in die irdische Natur - und zwar in poetisierter Form, wie bei der „zweifellos […] herausragenden Gestalt unter den Naturlyrikern der Frühaufklärung“, 362 Barthold Heinrich Brockes (1680- 1747), oder bei Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) , dessen „bis dahin in Deutschland nicht gehörtes lyrisches Pathos“ 363 die folgende Dichtergeneration von Goethe bis Friedrich Hölderin begeisterte. 364 Auch das vormals schreckliche Wesen der natürlichen Welt wurde über die Idee der allgemeinen Nützlichkeit in einen positiv besetzten Ort verwandelt. 2.3.2 Hinwendung zum Norden Eine der markantesten Bedeutungsverschiebungen des 18. Jahrhunderts war die mentale Ausrichtung zum Norden. Norden meinte jetzt den Gegenbegriff zum südlichen Arkadien, zur Idylle mit ihren heiteren Landschaftsbildern und harmonischen Kompositionen. Ein herausragender Teil dieser nördlichen Landschaftskonzeption bündelte sich im Begriff der Wildnis. Wildnis, das zeigen die zeitgenössischen Beispiele, spielt sich dabei vorrangig eben nicht in den traditionell idyllischen Landschaften des Südens ab, sondern findet seinen Raum explizit in den unwirtlichen Gegenden des Nordens. Wie genau der Begriff „Norden“ dabei zu definieren ist, wo seine eigene Substanz liegt oder wo er nur das Gegenbild zum südlichen Arkadientradition bildet, blieb auch für die Zeitgenossen wenig mehr als eine Metapher. 365 Stabil blieb dagegen zunächst die alte klimatheoretische Vorstellung des Nordens als „Ort einer Grausamkeit herbeiführenden Unwirtlichkeit“. 366 Prägend für den Wandel der Nord-Metapher im deutschen Kulturkreis und dort bald als literarisches Vorbild dienend sollte Johann Gottfried Herder (1744-1803) und dessen „dezidiert antirationalistische(s) Bild vom Menschen“ 367 werden. Herder nahm in seinen frühen geschichtsphilosophischen Schriften wiederholt Bezug auf den Norden als Quelle einer neuen Lebenskraft, die ihre Energie aus der unkultivierten, wilden Natur speist. Norden stand hier für die Revitalisierung einer erschöpften südlichen Kultur - im Raum des Nordens. So konstatierte Herder in seiner 1774 erschienenen geschichtsphilosophischen Abhandlung „Auch eine Philosophie zur Geschichte der Bildung der Menschheit“ mit Bezug auf das untergehende Römische Reich: „Alles war erschöpft entnervt, zerrüttet: von Menschen verlassen, von 362 Alt, Aufklärung, S. 129. 363 Alt, Aufklärung, S. 153. 364 Vgl. Killy Literaturlexikon, Bd. 14, Stichwort Natur, S. 147f. 365 Vgl. dazu Laudin, Norden, S. 19f. 366 Laudin, Norden, S. 25. 367 Alt, Aufklärung, S. 11. <?page no="100"?> 2.3 Neue Räume - der säkularisierte Heilsraum 99 entnervten Menschen bewohnt, in Üppigkeit, Lastern, Unordnungen, Freiheit und wildem Kriegesstolz untersinkend […] also Tod! “ 368 Aus diesem - zyklentheoretisch notwendigen - Untergang resultierte der Aufstieg einer neuen Welt, „da ward in Norden neuer Mensch geboren“. 369 Der Norden wurde in der Herderschen Lebenskraftkonzeption zur Quelle neuer Inspiration. Laudin fasst Herders grundlegende Überlegungen so zusammen: „Die Germanen brachten eben die Kraft, die Energie, die das alte System zuerst überflutete und die Voraussetzungen für die spätere, auf der antiken Kultur aufbauenden, Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften’ im Hochmittelalter sowie im 16. Jahrhundert schuf. Von der frischen ,Nordluft’ hatten die Germanen die nötige Kraft bekommen, um eine neue Kultur bzw. ein neues kulturelles Paradigma zustande zu bringen, das nach einiger Zeit das antike Erbe übernehmen und umdeuten konnte. Damit macht sich Herder die geschichtsphilosophische Tradition des translatio imperii ad Germanos zu eigen.“ 370 Dabei spiegelte sich die neue Fokussierung auf Landschaft und deren spezifische Nördlichkeit, nach dem Verlust einer ganzheitlich sakralen Weltordnung. Tuchtenhagen spricht von der Landschaft als „Rahmen für ein Interesse am Spezifischen und Individuellen, wie es sich mit den Phänomenen der Säkularisierung, das heißt dem Verlust einer ganzheitlichen Weltdeutung, dem Zusammenbruch der sakralisierten Ständeordnung und der Entlassung des Menschen aus deren kollektiven Handlungssystemen ergeben hatte“. 371 368 Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie. In: Herders sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, 33 Bände, Berlin 1877-1913, Bd. 5 (1891), S. 514. 369 Ebd., S. 514. 370 Laudin, Norden, S. 26. 371 Tuchtenhagen, Landschaft, S. 129. Tuchtenhagen hierzu weiter mit der Betonung auf den neuen Möglichkeiten des aufs individuelle gestimmten Menschen: „Gleichzeitig lieferte die Erforschung des Verhältnisses zwischen »Natur« und menschlicher Vorstellungskraft in den Schriften deutscher und englischer Denker zahlreiche Anhaltspunkte für einen Wandel der Naturauffassung im 18. Jahrhundert. Sie schlug damit eine Brücke zurück zur modernen Naturphilosophie, Landschaftsdichtung und Landschaftsmalerei. Entscheidend war dabei die Verbindung des ästhetischen Landschaftserlebnisses mit der Möglichkeit, durch die Landschaft Gedanken und Gefühle zu evozieren und daraus Inspiration für Kunst und Literatur zu erfahren. Die so entstandene Vorliebe für Natur und Landschaft muss rückblickend in einen größeren Kontext gestellt werden. Die Landschaft bot nämlich den Rahmen für ein Interesse am Spezifischen und Individuellen, wie es sich mit den Phänomenen der Säkularisierung, das heißt dem Verlust einer ganzheitlichen Weltdeutung, dem Zusammenbruch der sakralisierten Ständeordnung und der Entlassung des Menschen aus deren kollektiven Handlungssystemen ergeben hatte. Der Bezug zwischen dem einzelnen Menschen und seiner natürlichen Umgebung, der die alten sozialen Ordnungen und die kirchlich vermittelten Weltbilder teilweise substituierte und für die Romantiker - in Anschluss vor allem an Rousseau - eine so zentrale Rolle spielte, benötigte eine räumliche Dimension, die mit der Erforschung der Natur <?page no="101"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 100 Im neuen Diskurs um die nördliche Natur zeigen sich literarische Präformationen in einer sich habitualisierenden Form der Landschaftswahrnehmung. Über den konsensualen Charakter einer aufgeklärten Bildung erfolgte die Raumbeschreibung immer auch als Definition eines aufgeklärten Bildungshintergrundes und damit, betrachtet man die Wahrnehmung der Küstenregion, in Distanz sowohl zum adeligen als auch zum bäuerlichen Verständnis der Küstenlandschaft. 2.3.2 Die Popularisierung des Nordens in der jungen deutschen Literatur Wie Götz Großklaus in seiner quantitativen Analyse einschlägiger europäischer Publikationen gezeigt hat, liegt ein Höhepunkt des Interesses an der Natur als Gegenkultur zum rational-wissenschaftlichen Fortschritt zwischen 1750 und 1840 - also in einem Zeitraum, als die Ostseeküste als eigenständiger „nordischer Naturraum“ mit der sich anschließenden Gründung der Seebäder formiert wurde. 372 Auch eine der anderen Seiten der Aufklärung, nämlich die empfindsame Literatur, gehört schließlich zur Zeit eines nicht mehr verinnerlichten Schöpfungsglaubens. 373 Diese vielfach untersuchte Epoche blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Vorstellung von den nördlichen Meeren. Kurz soll hier vor allem auf den literarischen Niederschlag dieses Prozesses eingegangen werden, der sich vor dem Aufkommen der Bäderkultur an der Ostseeküste etabliert hatte und den man getrost als mentales Reisegepäck der ersten wie der folgenden Gästegenerationen betrachten darf. Der gemeinsame Code dieses neuen emphatischen Naturempfindens war zunächst die Figur des Ossian, des alten, blinden Barden aus McPhersons Ossian- Dichtungen, 1760-1765 erschienen und bereits 1768/ 69 vom Wiener Jesuiten Michael Denis erstmals ins Deutsche übertragen. 374 Die Poetisierung der deutschen Meereslandschaft erfolgte gleichsam unter dem Schutzmantel des Ossianischen Heldenepos. Mit dem in Deutschland begeistert aufgenommenen Pathos des „nordischen Homer“ prägte ein Text die neue Sehnsucht nach dem rauen, ungestümen Naturerlebnis an der nordischen Küste. Ossian galt zum Ende des 18. Jahrhunderts bis in und der Erfindung der ,Landschaft’ ihren adäquaten wissenschaftlichen und künstlerischen Ausdruck fand.“ 372 Großklaus, Naturraum, S. 172ff. Vgl. dazu auch Dirlinger, Bergbilder, S. 15ff. 373 Vgl. dazu Sauder, Theorie der Empfindsamkeit. 374 Zur aktuellen Ossian-Rezeption vgl. v.a. Schmidt, Ossian. <?page no="102"?> 2.3 Neue Räume - der säkularisierte Heilsraum 101 die Romantik hinein neben Shakespeare und Homer 375 als literarischer Hohepriester, wie Schmidt dies auch im Hinblick auf das antike Dichtungsideal hervorhebt: „Macphersons Dichtung [markiert] - wie kein anderer Text - das poetische Bindeglied zwischen Empfindsamkeit, Sturm und Drang und Romantik und auch Ossians genieästhetischer Impetus [ist] dem Pindars zumindest ebenbürtig, wenn er diesen nicht sogar übersteigt.“ 376 Künstlerisch schlug sich das auch in Deutschland in den literarischen Produktionen junger Männer aus besserem Hause nieder. Die Sehnsucht nach dem Leben der einfachen Leute, nach kraftvoller, bodenständiger Natur und ungezähmter Wildnis drängte sie hinaus. Nicht „Vernünfteley“ und abgeklärte, detailverliebte Wissenschaft lockten sie, sondern empfindsames Fühlen. 377 Machte sich die literarisch bewegte Jugend zu neuen Ufern nun auch tatsächlich auf, und in welcher Form machte sie dies? Klopstock, Leitfigur der Geniebewegung, 378 hatte es vermocht, aus der vertrauten Tradition der biblischen Psalmen eine weltliche Form des Naturlobs zu erschaffen, das sich zugleich gelehrt-rhetorischer Muster entledigte und das Bild des genialen, kraft seiner Natur herausragenden Dichters mit erschuf. Abseits der konventionellen Gesellschaft öffnet sich in Klopstocks Natur die wahre Identität des Menschen, in geradezu überbordender Sinnesfülle. Gefühle, Empfindungen wurden zu den herausragenden Schlagworten, die nicht zum Widerspruch neigende Natur zum Spiegel einer sich ganz sinnlich erlösenden Gedanken hingebenden Kultur. Auf Ebenmaß und eingrenzende Traditionen wurde fortan verzichtet. Nicht zufällig treffen sich in Goethes „Werther“ Lotte und Werther in der Begeisterung von Klopstocks „Die Frühlingsfeier“ (1. Fassung 1759) wieder. 379 Der junge Goethe vollzog in seinem Werther von 1774 den literarischen Befreiungsschlag von der antikisierenden Ästhetik mit dem Perspektivenwechsel vom klassischen Arkadien hin in den stürmischen Norden: „Am 12. Oktober. Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt. Welch eine Welt, in die der Herrliche mich führt! [...] Wenn ich ihn dann finde, den wandeln- 375 Christian Heinrich Schmid bezeichnet diese Drei als „Triumvirat der größten Genies“. Ders., Oßian. In: M. Christian Heinrich Schmids Zusätze zur Theorie der Poesie und Nachrichten von den besten Dichtern. Dritte Sammlung, Leipzig 1769, S. 218-230, hier S. 218. Zit. nach Schmidt, Ossian, S. 299. 376 Schmidt, Ossian, S. 299. 377 Vgl. Spode, Prolegomena, S. 117. 378 Vgl. Polke, Selbstreflexion, S. 301. 379 „Sie stand auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: „Klopstock! “ - Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen den sie in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrug's nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen.“ Goethe-HA, Bd. 6, S. 27. <?page no="103"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 102 den grauen Barden, der auf der weiten Heide die Fußstapfen seiner Väter sucht und, ach, ihre Grabsteine findet und dann jammernd nach dem lieben Sterne des Abends hinblickt, der sich ins rollende Meer verbirgt, und die Zeiten der Vergangenheit in des Helden Seele lebendig werden, da noch der freundliche Strahl den Gefahren der Tapferen leuchtete und der Mond ihr bekränztes, siegrückkehrendes Schiff beschien“. 380 Goethe folgte hier in seinem Jugendwerk dem „erstaunlichen Siegeszug der ossianischen Dichtungen innerhalb des europäischen Geisteslebens“, 381 der bis in das frühe 19. Jahrhundert währen sollte. Für Deutschland hatte schon 1773 Johann Gottfried Herder mit einem „Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker“ in der von ihm herausgegebenen Schrift „Von deutscher Art und Kunst“, diese Annäherung an den „nordischen Homer“ 382 eingeleitet. Wenige Jahre später (1778/ 79) wurden einige dieser übersetzten Gesänge in Herders Sammlung „Volkslieder“ abgedruckt und damit die Volkslyrik gegenüber einer antikisierenden Bildungslyrik aufgewertet. Damit wandte sich auch das Interesse einer lesenden, bildungsbürgerlichen Schicht hin in Richtung Norden und das heißt auch: in Richtung Ostseeküste. Nicht in den höheren Lehranstalten, den Universitäten, fand sich jetzt die Weisheit der jungen Genies, sondern vor deren Toren lag die „natürliche“ Weisheit des Lebens. Beispielhaftes für die frühe Rezeption der Natur des Ostseeraumes aus dem Geiste Ossians (wenngleich weiterhin auch der klassischen Antike) findet sich in den Gedichten von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750-1819) und beim Prediger Ludwig Theobul Kosegarten. 383 Stolberg, mit Goethe 1775 noch auf einer Reise durch die Schweiz, wo man u.a. Voltaire und Lavater traf, stand mit seinen frühen Oden, in denen viele das Meer und speziell die Ostsee thematisierten, unter dem Einfluss Klopstocks. 384 Eine Episode mag das verdeutlichen. Anfang August 1776 hielten sich Stolberg und Klopstock in Kiel auf. Weit vor der Etablierung der Ostseebäder zeigt sich hier ein offensichtlich emphatisch genossenes Bad von Mitgliedern eines literarischen Freundeskreises in der Ostsee. 385 Stolberg schrieb von hier aus an den Freund und Literaten Gottlob Schönborn (1737-1817) eindringlich und voller Vorfreude von „denen die sich nun gleich mit Klopstock, Carl Cramer u mir im Meere baden wer- 380 Goethe, Die Leiden des jungen Werther, Goethe-HA Bd. 6, S. 82. 381 Roters, Romantische Landschaft, S. 7. 382 Roters, Romantische Landschaft, S. 7. 383 Vgl. zu Kosegarten Kap. 2.4. 384 Vgl. Killy Literaturlexikon, Bd. 11, S. 218. 385 Vgl. dazu auch Rüdiger, Baden. <?page no="104"?> 2.3 Neue Räume - der säkularisierte Heilsraum 103 den“. 386 Im selben Brief schließt Carl Friedrich Cramer 387 an Schönborn: „Da soll ich fort zum Baden in der Ostsee mit Klopstocken“. 388 Klopstock, der mit Abstand Älteste in der Runde und von seinen Verehrern der „jungen Generation als ,Vater’ angesprochen“ 389 , berichtete im selben Brief an Schönborn von dem Aufsehen, dass die Badenden in den städtischen Kreisen verursachen. Klopstock berichtet: „Wir sind 8 Tage dort [Kiel, H.B.] gewesen. Manchen Tag haben wir uns zweymal dem Kieler Jungfernstiege gegen über an einer Stelle, wo sich die Küste erhebt, gebadet. Einmal sind wir von Leuten mit einem Teleskope bekukt, u ein ander mal von Professoren bemäkelt worden, u zwar folgender maassen: Da sind nun diese Herren hergekommen, um ihre geistigen Aufwallungen in der Ostsee abzukühlen.“ 390 Die Vertreter der jungen bürgerlichen Literatur, ganz im Impetus genieästhetischen Hochgefühls, erregten offensichtlich Ärgernis. Die Form ihrer literarischen Arbeiten und ihr Auftreten schien für die außenstehenden Honoratioren mit dem Bad im Meer kongruent zu sein - es zeugte von übersteigerten Empfindungen, die es dringend wieder abzukühlen galt. Dies dürfte bestärkt worden sein durch die Art der Beschäftigung der wilden jungen Männer im Wasser. Klopstock fuhr in seinem Brief fort: „Stolberg declamirte einmal Verse aus Homeren; (bald aus dem Original, bald aus seiner Übersetzung) u ich machte die Gestus dazu, auf der Fläche des Wassers näml. u ihm oft ins Gesicht. Wenn er es mit dem Poseidon zu laut machte, u es gar selbst seyn wolte; so bekam er solche Wellen ins Gesicht, daß er fliehen musste.“ 391 Eine seltsam anmutende Mischung: Die Heroen der zeitgenössischen Dichtung deklamieren emphatisch Verse des klassisch-griechischen Bildungsideals und tollen dabei in geradezu kindischer Manier im kalten Ostseewasser herum. Klopstock scheint sich auch der zumindest ungewöhnlichen, wenn nicht provozierenden Handlung des öffentlichen Badens in der See bewusst gewesen zu sein, denn er fährt fort: 386 Stolberg an Gottlob Friedrich Ernst Schönborn, einen engen Freund der Brüder Stolberg und Klopstocks, Brief vom 1./ 8./ 10./ 17.8.1776. In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe: historisch-kritische Ausgabe. Klopstocks Briefe 1776-1782, Bd. 1: Text, Briefe, Bd. VII, Nr. 46, S. 47. 387 Carl Friedrich Cramer (1752-1807) war Professor der griechisch-orientalischen Sprachen in Kiel und ein großer Anhänger Klopstocks. 388 Stolberg an Gottlob Friedrich Ernst Schönborn, wie Anm. 33, S. 47. 389 Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Aufklärung, Hamburg 2008, S. 69, Anm. 290. 390 Klopstock an Gottlob Friedrich Ernst Schönborn, wie Anm. 33, S. 48. 391 Klopstock an Gottlob Friedrich Ernst Schönborn, wie Anm. 33, S. 48. <?page no="105"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 104 „Warum ich Ihnen von nichts als vom Baden erzähle? Dazu habe ich […] 3 Ursachen. 1) Weil mirs Vergnügen macht. 2) weil ich in der grossen hize, die wir hatten, ohne Baden die Freuden des Wiedersehens nur halb würde geniessen können 3) u weil ich Ihnen kein Buch schreiben mag.“ 392 Damit ist die scharfe Trennlinie zwischen der aus der Einsicht in die ökologischen Vorgänge innerhalb der Natur durch die Physikotheologen und den Literaten von Empfindsamkeit und Sturm und Drang gezogen. Während die theologisch begründete und auf empirischer Naturbeobachtung beruhende Argumentation der Physikotheologen, verbunden mit ihrem lehrhaften, moralisch-didaktischen Ton, ein neues Lehrgebäude errichtete, übersprangen Vertreter einer neuen Generation alles Räsonieren, gebärdeten sich selbst als Schöpfer eines neuen Geistes und machten dazu sinnlichen Ernst. Dass den jungen Mitgliedern der Geniebewegung Gegenwind von alten Institutionsmitgliedern entgegenschlug, dürfte ihre Freude am Bad in der See eher noch gesteigert haben. Was sich hier zeigt, ist die bewusste sinnliche Aneignung eines neuen Raumes, eines Grenzraumes, die Behauptung einer völligen sinnlichen Freiheit. Und es verwundert nicht, dass die sinnliche Freude und Erkenntnis vorvermittelt war durch Literatur, Raumaneignung also nicht per se als vorurteilsfreie Handlung erfolgte. Hier ist es Homer, also noch einmal ein Verweis auf das alte arkadische Ideal, das die Höhe auch des neuen nördlichen Ideals anzeigt. Bald war es dann der neue, der nordische Homer, McPhersons Ossian, der alle sinnliche Zurückhaltung und allen „unnatürlichen“ Widerwillen gegen die wilde, nordische Natur bei einer schwärmerischen Jugend davon fegte. Für die beiden dichtenden Brüder Grafen Stolberg-Stolberg, Christian und Friedrich Leopold, war der ihnen über die Freundschaft der Mutter lange vertraute Klopstock schließlich auch zum „poetischen Vorbild“ 393 geworden. Beide Stolberg-Brüder waren Mitglieder des Göttinger Hains, dem „geschlossensten Dichterkreis des Sturm und Drang“. 394 Stolberg verfasste später selbst Gedichte in Anlehnung an Ossian, heroisch und sentimental zugleich, und mit der Ostsee als Handlungsraum. Wie Gerhard Hoppe in seiner 1929 erschienenen Studie „Das Meer in der deutschen Dichtung“ gleich eingangs bemerkte, lässt sich Friedrich Stolberg nicht lediglich als „Sänger des Meeres“ bezeichnen, sondern als „erste(r) deutsche(r) Dichter, bei dem man von einer Mee- 392 Klopstock an Gottlob Friedrich Ernst Schönborn, wie Anm. 33, S. 48. 393 Polke, Selbstreflexion, S. 301. 394 Annette Lüchow: Die heilige „Cohorte“. Klopstock und der Göttinger Hain. In: Kevin Hilliard/ Katrin Kohl (Hg.): Klopstock an der Grenze der Epochen, Berlin 1995, S. 152-220, hier S. 152. <?page no="106"?> 2.3 Neue Räume - der säkularisierte Heilsraum 105 reslyrik sprechen kann“. 395 Während Stolbergs erste veröffentlichte Gedichte noch explizit und in der Nachfolge des großen Vorbildes Klopstock von klassischen und christlichen Themen geprägt waren, die freilich schon der äußeren und vor allem inneren Dramatik wegen den Handlungsraum ans Meer verlegten (Kain am Ufer des Meeres, 1774), 396 transportierte Stolberg eine zwischen Sturm-und-Drang und Ossian-Rezeption changierende Stimmung in seine späteren Seegedichte. In seinem „Badeliede - zu singen im Sunde“ (1777) blieb die Reminiszenz an die klassische Antike in den Anrufen an Nymphen, Titanen, Luna erhalten. Gleichwohl gewann die heimische Natur - Stolberg wurde in Bramstedt/ Holstein geboren - deutlich an Kontur. Für den Rezipienten Stolbergscher Gedichte wie das „Badelied“ wurden Ortsbezeichnung wie „Sund“ sowie der später erwähnten „östlichen Meere“ zu Hinweisen auf Ost- und Nordsee. Gleichzeit waren Verse wie „Auf, Jünglinge, tauchet / Die Glieder ins Meer! “ mehr als nur klassizistische Versatzstücke. Mit dem folgenden „Hier, wo sich zwei Meeresstrande / Begegnen wie Heere, / Stürz ich mich hinab! “ waren es die auch mit dem Bad im Kieler Ostseewasser belegten Erfahrungen, die das ausgesprochen unklassische Ostseegefilde zum Ort poetisierter leiblicher Erfahrungen machten. Stolberg, in Holstein und Kopenhagen aufgewachsen und dort erneut ab 1777 als Gesandter des Fürstbischofs von Lübeck als Gesandter tätig, kannte die Ostsee von Kindesbeinen an. Im selben Jahr entstanden zwei weitere Gedichte mit dem Bezug zum Meer: „Die Meere“ und „An das Meer“. Auch diese beiden leben von der Begeisterung für die nordische Natur und das Meer. Aus dem Anblick des Meeres werden mit großer Empathie belegte Erinnerungsorte, so in „An das Meer“: Wohl mir, daß ich, mit dir vertraut, Viel tausendmal dich angeschaut! Es kehrte jedesmal mein Blick Mit innigem Gefühl zurück.“ 395 Hoppe, Meer, S. 5. Zu Hoppes noch sehr teleologisch geprägter Auffassung von Raumkonzeptionen und Wahrnehmungsmustern vgl. Feldbusch, Land, S. 45f. 396 Wie die folgenden Gedichte 1794 in Karlsruhe erschienen im Band „Gedichte der Brüder Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg“, hg. von Heinrich Christian Boie. <?page no="107"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 106 Und auch hier wird die körperliche Hinwendung zum Gegenstand der Betrachtung: Oft eil' ich, aus der Haine Ruh, Mit Wonne deinen Wogen zu, Und senke mich hinab in dich, Und kühle, labe, stärke mich. Anschließend verdeutlichen die Strophen die Stolbergsche Melange klassischer Dichtung mit dem neuen nordischen Homer Ossian: Der blinde Sänger stand am Meer; Die Wogen rauschten um ihn her, Und Riesenthaten goldner Zeit Umrauschten ihn im Feierkleid. Es kam zu ihm auf Schwanenschwung Melodisch die Begeisterung, Und Ilias und Odüssee Entstiegen mit Gesang der See. Den Höhepunkt - betrachtet aus der Perspektive des Ostseeliebhabers - bildet freilich die erste Strophe aus „Die Meere“. Du schmeichelst mein Ohr, Ich kenne dein Rauschen, Deiner Wogen Sirenengesang! Ostsee, du nahmst mich oft mit schmeichelnden Armen In den kühlenden Schooß! <?page no="108"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 107 Stolberg blieb noch lange dem Ossianschen Rufe treu und veröffentlichte 1806 seine Übersetzung des Ossian. 397 Auch Kosegarten, 398 für die Etablierung der Insel Rügen als Sinnbild einer speziell deutschen Variante der nordischen Landschaft maßgebend, stand zunächst unter dem Einfluss des enorm populären Dichters des „Messias“ und verwendet die neue Sprache in seinen Rügen-Gedichten auf eine bis dahin nicht bekannte Art der konkreten Raumzuschreibung. 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks Rügen, wie übrigens auch die nächstgrößeren deutschen Inseln Usedom 399 und Fehmarn, besaß keinen bedeutenderen Hafen- und damit Handelsort. Die flachen Gewässer um Rügen und die unmittelbare Nähe der deutschen Ostseeinseln zum Festland verhinderte lange Zeit die Anlage größerer Hafenanlagen, da das nahe Festland dafür bessere Möglichkeiten bot. 400 Für die Erreichbarkeit der Insel bleibt die Nähe zum Festland indes ein Vorteil, da sich das Risiko der Seereise nur auf die Überquerung einer kurzen Gewässerstrecke beschränkt. Fehmarn, Usedom, Hiddensee und Rügen sind die einzigen größeren deutschen Ostseeinseln, wobei Usedom und Rügen durch ihre von den Bodden- und Haffgewässern geprägte Geografie eine landschaftlich vielfältige Struktur zu eigen ist. Auf engstem Raum fallen hier 397 Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg: Die Gedichte von Ossian dem Sohne Fingals. Nach dem Englischen des Herrn Macpherson ins deutsche übersetzt, Hamburg 1806. 398 Kosegarten, 1758 Grevesmühlen - 1818 Greifswald, Theologe, Lyriker, Idyllendichter, Übersetzer, Pastor in Altenkirchen auf Rügen, Professor für Geschichte und Theologie in Greifswald. Vgl. Killy, Literaturlexikon. Ab 1796 wird hier der national gestimmte Ernst Moritz Arndt für einige Jahre Kosegartens Kinder erziehen, bevor er ab 1801 an der Universität Greifswald lehrt. Seine Schrift ,Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen’, 1803 erschienen, kritisiert die Leibeigenschaft und das Bauernlegen und macht Rügen auf eine andere als poetische Art in der Öffentlichkeit bekannt. Wegen seiner antifranzösischen, national gestimmten Schriften, floh er 1806 nach Schweden. Überhaupt spielte für die anti-napoleonische Emanzipationsbewegung in Preußen der Ostsee-Raum eine zentrale Rolle in Malerei, Literatur und Musik um 1810. Vgl. u.a. Dirk Alvermann, Nils Jörn, Jens E. Olesen (Hg.): Die Universität Greifswald in der Bildungslandschaft des Ostseeraums. Berlin 2007. 399 Auf Usedom wurde unter Friedrich II. zwar Swinemünde als preußischer Hafenort am Ausfluss der Oder angelegt, seine Bedeutung verlor sich aber über längere Zeit mit dem Ausbau des Stettiner Hafens zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 400 Boll konstatierte schon 1858 die geologischen Schwierigkeiten Rügens: „Um Rügen herum ist die Ostsee nur seicht, voller Sandbänke und Riffe, die aus großen erratischen Blöcken bestehen. Das Fahrwasser um die Insel herum ist daher sehr unsicher […]. Rügen hat wegen dieser Seichtigkeit seiner Küsten von Natur keine Häfen und auch durch Kunst sind bisher, obgleich schon mehrfach beabsichtigt worden ist, noch keine hergestellt.“ Boll, Rügen, S. 178f. <?page no="109"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 108 die Merkmale der Boddenküste, Steilufer, Flachküste, Inseln und Halbinseln, Hügel, Binnenseen, Boddengewässer, Flussmündungen, sandige Küstenstreifen und fruchtbare Binnenlandpartien zusammen. Neben diesen geografischen Besonderheiten lag Rügen aber auch mental an der äußersten Peripherie Deutschlands. Als Wilhelm von Humboldt 1796 seine Reise nach Rügen unternahm, schaute man auch aus dem klassischen Weimar in Richtung Norden. Goethe und Schiller begleiteten Humboldts Reise, genauer sein Ziel Rügen, nur mit sachtem Spott und Unverständnis. So schrieb Schiller: „Humboldt hat eine große Reise nach dem nördlichen Deutschland biß auf die Insel Rügen angetreten, wird die Freunde und Feinde in Eutin und Wandsbeck besuchen und uns allerley kurzweiliges zu melden haben. Ich konnte nicht recht begreifen, was ihm auf einmal ankam, sich dorthin in Bewegung zu setzen.“ 401 Und Goethe setzte nach: „Herr von Humboldt ist nun auch wieder zurück, er hat im Herbst eine Reise nach der Insel Rügen um das Meer zu begrüßen gemacht, ist von da nach Hamburg und dann über Berlin hierher zurück gekommen. Er hat manches Interessante an Menschen und Dingen gesehen, das aber mehr Stoff zur Unterredung in Deutschland als zu einem Brief nach Florenz geben könnte.“ 402 Goethe zielte damit gleich auf das zu diesem Zeitpunkt herausragende Manko einer Rügenreise - es besitzt nicht die Qualitäten eines klassischen Reisezieles. Was soll man als gebildeter Weltbürger auf dieser Insel finden? Eine Reise nach Rügen gilt als wenigstens ungewöhnliches Reiseziel. Weit entfernt vom klassischen Italien liegt Rügen hoch im Norden, noch dazu im deutschen Norden. Damit blieb es „ein rein deutsches Thema“ 403 , geografisch wie mental unendlich weit von Florenz wie von Arkadien entfernt. Dabei zeigt gerade die Reise Humboldts, dieses „gräkophilen Klassizisten“, 404 den schrittweisen Wandel der Wahrnehmung und Rezeption der nördlichen Peripherie von Deutschland. Entgegen den Reisemotiven der klassischen Bildungstour zielte Humboldts Reise nicht nach den kulturellen Höhepunkten einer Region. Seine Rügenreise steht zunächst ganz im Kontext naturwissenschaftlichen Interesses, in das sich zunehmend eine ästhetische Naturbetrachtung mischte. Das Unverständnis der beiden Weimarer Klassiker für dieses Reiseziel steht dabei symptomatisch für die bis dahin ausgeprägte Skepsis gegenüber einer bildungsaffin 401 Brief vom 8.8.1796, Schiller NA, Bd. 28, S. 280. Vgl. dazu auch Schieb/ Wedekind, Rügen S. 67ff. 402 Zitiert nach Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 67. 403 Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 68. 404 Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 58. <?page no="110"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 109 motivierten ästhetischen Wertschätzung der norddeutschen Küstenregion, ja für deren offene Ablehnung. Was aber war es genau, was den klassisch gebildeten und in ter es si ert en H umb ol dt nac h Rü ge n zo g? V or sei ne r Re is e sc hri eb der d ama ls 19- Jährige an Friedrich Schiller: „Ich verspreche mir von der ganzen Reise, besonders von Rügen, Eutin, Hamburg viel Vergnügen; in Rügen durch die nach allen Beschreibungen wunderbar schöne Natur. [...] Auf Rügen spreche in Kosegarten gewiß.“ 405 Neben den Orten Eutin und Hamburg, wo Humboldt vor allem mit Bekannten wie den Grafen Stolberg oder Johann Heinrich Voß zu sprechen wünschte, reizte ihn als erstes Reiseziel Rügen, seiner „schönen Natur“ wegen. 406 Und er kannte und folgte den Beschreibungen des großen Laudatoren der Insel, dem „berühmten Skalden Rügens“ 407 , Kosegarten. Ähnlich seiner Leidenschaft für die Antike näherte sich Humboldt also auch dem Norden anhand literarischer Bilder. Während seiner Reise führte er ein ausführliches Tagebuch. Und es ist tatsächlich die Rügensche Natur, das Meer, die ihn besonders interessiert und deren Betrachtung viel Raum in seinem Tagebuch einnimmt. So vermerkte er, gerade auf der Insel angekommen: „Am meisten aber fesselte uns der Anblick des Meeres, von dem wir uns lange nicht losreißen konnten.“ 408 Die gesamte Rügenreise, eine stetig in Bewegung vollzogene, dynamische Raumerkundung, durchzieht das Interesse am Naturraum. Blickrichtungen, Ausblicke, Einsichten bestimmen das Niedergeschriebene. 2.4.1 Rügensche Vorzeit - die Etablierung neuer Raumkonzepte Die literarische Entdeckung Rügens geschah auch Ende des 18. Jahrhunderts nicht als creatio ex nihilo. Humboldts Interesse an Rügen war bereits durch die Lektüre der Kosegartenschen Werke geweckt. Dieser stand in der literarischen Nachfolge von Klopstock und MacPhersons Ossian, stützte sich aber auch ganz konkret auf 405 Zitiert bei Schieb/ Wedekind: Rügen, S. 57. 406 Schiller betonte in einem Brief an Körner die eingeengten persänlichen Verhältnisse Humboldts als Reisemotiv: „Er wollte diese Gegenden jetzt noch mitnehmen, weil er späterhin nicht mehr dahin zu gelangen hoffte, und eine Reise wollte und mußte er machen, um sich von dem Druck und Elend, das er bey seiner Mutter ausgestanden, etwas zu erholen.“ Schiller, Brief vom 15.8.1796, Schiller NA, Bd. 28, S. 283. Humboldts Mutter Maria Elisabeth war zu diesem Zeitpunkt schwer krank und verstarb am 14.11.1796, vgl. Anm. Schiller NA, Bd. 36 II, S. 314. 407 So bezeichnete ihn, bewusst auf die nordeuropäische mittelalterliche Sängertradition Bezug nehmend, der schwedische Reisende Per Daniel Atterbom in seinen „Reisebildern aus dem romantischen Deutschland“ von 1817, Atterbom, Reisebilder, S. 28. 408 Humboldt, Tagebuch, S. 25. <?page no="111"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 110 bereits vorhandene Werke zur Rügenschen Geschichte. 409 So veröffentlichte 1745 Albrecht Georg Schwartz, Lehrer und Rektor der Königlichen Akademie in Greifswald, seine „Kurze Einleitung zur Geographie des Norder-Teutschlandes Slavischer Nation und mittlerer Zeiten insonderheit der Fürstenthümer Pommern und Rügen aus beglaubigten Geschichts-Büchern“. Schwartz blieb dabei zum einen, wie aus dem Titel hervorgeht, einer Herrschaftsgeschichte Rügens in klassischer Weise verhaftet. Zum anderen erweist er sich, neben der Wiedergabe historischen Geschehens durch Geschichtsschreiber wie Saxo Grammaticus, als ein durch „Neugier als auch die Augenlust legitimierter “ 410 aufgeklärt sachlich bleibender, ganz dem naturwissenschaftlichen Ideal des auf der Subjekt-Objekt Perspektive bedachten Betrachters verpflichtet. Es geht darum, die Naturgeschichte anhand ihrer Quellen, besonders der steinernen Zeugen, zu verfolgen. Nützlichkeitserwägungen - Fischreichtum, guter Boden, fette Wiesen - markierten zunächst die ökonomische Perspektive. Daneben aber prägte die Landschaft die Aura einer geheimnisumwitterten Frühgeschichte, wie der Slawenburg Arkona oder der „großen Handelsstadt Wineta, welche nebst einem ansehnlichen Stücke Landes im 8ten oder 9ten Jahrhunderte von einer starken Meeresfluth verschlungen worden“ 411 war. So nüchtern und gelehrt der Ton der Rügen-Beschreibungen bis zu diesem Zeitpunkt erscheint - der Grundstein für die Rügeneuphorie war damit gelegt. Landschaft wurde hier in ihren besonderen Formen wahrgenommen, und mit Naturwissenschaft und Historie wurden die symbolischen Felder für eine neue Raumkonstruktion abgesteckt. Und ein weiteres Feld sollte hinzukommen. Jenseits einer geografischen Raumerfassung stand 1763 ein Reisebericht des aus der Schweiz angereisten Theologen und Schriftstellers Johann Kaspar Lavater (1741-1801). 412 In dem kleinen schwedisch-pommerschen Städtchen Barth besuchte Lavater den dort wirkenden Theologen und Moralphilosophen Johann Joachim Spalding (1714-1804). 413 Neben ausführlichen theologischen Gesprächen über Erziehung, die Auslegung von Psaltern und der Lektüre „aus dem Hypochondrist, einer neuen Wochenschrift“, 414 machte sich die Reisegesellschaft für einige Tage nach Rügen auf. Von Stralsund aus setzte man auf die Insel über und fuhr „über angenehme Ebenen“ 415 nach Poseritz zum ersten Halt bei einem ortsansässigen Pfarrer. Kam die 409 Vgl. Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 24. 410 Spode, Prolegomena, S. 113. 411 Büsching, Erdbeschreibung, S. 2149. 412 Lavater, Reisetagebücher, hg. von Horst Weigelt, Göttingen 1997. 413 Vgl. dazu auch Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 33f. 414 Lavater, Reisetagebücher, S. 281. 415 Lavater, Reisetagebücher, S. 283. <?page no="112"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 111 Rede auf die Insel Rügen, so wurde ihr eine außerordentliche Bodenfruchtbarkeit und die moralische Integrität der Einwohner zugeschrieben: „Über dem Mittagessen redeten wir von Rügen. Diese Insel, die ungefehr sieben Meilen lang u. ebenso breit seyn mag, war hinreichend genug, das erste Jahr im Krieg die ganze schwedische Armee, Mann u. Pferde, zu verproviantieren u. doch seine Einwohner und einen Theil von Pommern noch zu ernähren. Es soll kein natürlicher Rügianer ein Bettler seyn. Es herrsche da eine solche allgemeine Ehrlichkeit, dass man bey Nacht Haus und Hof ohne Gefahr könne offen stehen laßen.“ 416 Damit tauchte in zivilisationskritischer Perspektive auch die später immer weiter ausgeführte Zuschreibung der unverdorbenen Inselbewohner auf. Abseits der Städte, inmitten des fruchtbaren Landes und durch ihre Insellage abgeschirmt von schlechten Einflüssen, präsentierte sich hier ein Menschenschlag ganz nach dem Ideal des einfachen Lebens, wie ihn die moralischen Wochenschriften predigten. Eine dezidierte Landschaftsbeschreibung, die auf geografische oder ästhetische Eigentümlichkeiten der Insel abhebt, findet sich dagegen nicht bei Lavater. Die wenigen Landschaftsbilder werden ganz beherrscht von den klassischen Topoi des locus amoenus: „Das stille temperierte Wetter, die Weidenalleen, die sanften beschatteten Teiche, die ausgebreiteten Felder, alles trug sehr viel zu unserm Vergnügen bey.“ 417 So deutlich die Schönheit der fruchtbaren Natur bemerkt und hervorgehoben wird, so scheint das Meer als eigenständiges Landschaftselement doch nicht vorhanden zu sein. Lavater berichtet von seinem Blick „durch einen 5schuhigen Dollonschen Tubum“, ein Teleskop, mit dem er die Kirche samt ihrer Uhr in Rügens Hauptstadt Bergen sah und „eine Stange auf der Spitze von Argons, so ungefehr 3 ½ Meilen von hier ist, war etwas merkbar.“ 418 Anstatt wie Kosegarten nur ein gutes Jahrzehnt später mit tiefster Ergriffenheit zur Stubbenkammer und nach Arkona zu pilgern, las Lavater seinen Shakespeare und im Leben Virgils. Auch die Gespräche mit dem jungen Landschaftsmaler Jakob Philipp Hackert, dessen „künstlerische Laufbahn“ auf Rügen „in gewissen Sinne ihren Anfang“ 419 nahm, lenkten Lavaters Blick nicht vom gepflegten Garten und von gelehrter Literatur ab. Interessiert nahm er aber die bei einem Spaziergang gefundenen Feuersteine und Petrefakten zur Kenntnis: „Ich fand in einem eine kleine, halb ausgedruckte Venusmüschelgen mit Kreide überzogen. In einem andern bemerkte ich die Basis von einem Belemniten.“ 420 Einen gewissen Kontrast zum bisherigen Desinteresse am Meer bildet Lavaters Reise zur Rügen benachbarten Insel 416 Lavater, Reisetagebücher, S. 285. 417 Lavater, Reisetagebücher, S. 286. 418 Lavater, Reisetagebücher, S. 292f. 419 Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 107ff. 420 Lavater, Reisetagebücher, S. 296. <?page no="113"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 112 Hiddensee, mit dem ausdrücklichen Ziel, „um von der Insel Hüttensee das offene Meer zu sehen.“ 421 Auf Hiddensee angekommen, besteigt die Gesellschaft einen „ziemlich hohen Berg“, um die „ganze länglichte, an vielen Orten von dem Waßer zu beiden Seiten halb durchbrochene Insel, die ungefehr 8 Meilen lang, aber nicht breiter als eine viertel Meile ist, übersehen“ 422 zu können. 423 Nach den bisher erfolgten Landschaftsbeschreibungen Lavaters kommt das nun Folgende unerwartet. In einem emphatischen Ausbruch schließt er, im physikotheologisch geschulten Analogieschluss, von der unendlichen und überwältigenden Fläche in allen Dimensionen auf Gottes Allmacht und wunderbare Schöpfergabe: „An dem hohen Rand eines Hügels erblikten wir einsmals in der Tiefe die Fläche des offenen Meers von der Gestad an bis es sich in den Himmel verlor. Gott! Welch ein großer erhebender Anblik! Welch ein Umfang deiner Macht! Welche Unendlichkeit von Wundern! Welche Breite, welche Länge, welche Tiefe voll deiner Allmacht, Unendlicher! Wer kann sie ohne Erstaunen ansehen? Wer ohne die tiefste Anbetung bewundern? “ 424 Hier klingt noch einmal Barthold Heinrich Brockes deistisch inspiriertes neunbändiges „Irdisches Vergnügen in Gott“ an, erschienen zwischen 1721-1748, sein Lob des Schöpfers im Geschöpf, die physikotheologisch motivierte Begründung des nachweislich Nützlichen. „Siehet man des Meeres Breite: Muß man nicht erstaunt gestehn, Daß die ungeheure Weite fast entsetzlich anzusehn? Dennoch schwimmt, samt dem Gefässe, Dieses Welt-Meer's Tief' und Grösse in der Sonnen Meer von Gluht, Wie ein Tropf' im Welt-Meer ruht.“ 425 Einen bleibenden Eindruck scheint der Anblick auf Lavater trotzdem nicht gemacht zu haben. In der folgenden Beschreibung ging er wieder zu einer nüchternen Beschreibung ökonomischer und sozialer Umstände auf der Insel über. Die erschreckende Armut der Bevölkerung, deren erbärmliche Hütten von ihnen „meist aus Torfstücken aufgeführt“ 426 wurden, wird aufgefangen durch die Behauptung, die Zufriedenheit der Bewohner sei so groß, dass „kein Hüttenseer [...] außer seinem Va- 421 Lavater, Reisetagebücher, S. 301. 422 Lavater, Reisetagebücher, S. 301. 423 Hiddensee erstreckt sich, bei einer Entfernung von maximal 5 Kilometern zu Rügen, auf einer Länge von ca. 17 Kilometern und einer durchschnittlichen Breite von 800 Metern und einer Fläche von ca. 18,6 km². Vgl. Niedermeyer, Ostseeküste, S. 104. 424 Lavater, Reisetagebücher, S. 301f. Schieb/ Wedekind bemängeln hier, dass bei Lavater die „Landschaft selbst [...] kein eigenes Gesicht, keine Farbigkeit, keine Kontur“ erhält. Das ist richtig, wenn man allein auf den Maßstab der klassischen Ästhetik abhebt, sagt aber letztlich nichts über die Besonderheiten einer primär theologisch bestimmten und zu interpretierenden Landschaftswahrnehmung aus. 425 Brockes, Irdisches Vergnügen in Gott, Brockes Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Nachdruck der Ausgabe von 1738, Stuttgart 1965, S. 195. 426 Lavater, Reisetagebücher, S. 302. <?page no="114"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 113 terland“ 427 stirbt. Für das spätere Rügenbild lag damit zwar ein bereits positiv beschriebener Landschaftsraum vor, von einer idealisierten Sehnsuchtslandschaft kann aber noch keine Rede sein. Humboldts Reiseziel blieb noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, wie das Urteil von Goethe und Schiller zeigt, außergewöhnlich, doch konnte er zu diesem Zeitpunkt bereits auf einen prominenten Wegbereiter verweisen. Beginnend mit den Dichtungen des Theologen und Dichters Ludwig Theobul Kosegarten, der ab 1792 in Altenkirchen auf Rügen eine Pfarrstelle versah, nahm die Insel, und mit ihr die Ostseeküste, eine ästhetisch greifbare Gestalt an. Kosegarten war es, dem schon vor Humboldts Reise die „poetische Entdeckung“ 428 Rügens glückte. Er verwandelte die Insel in „eine wilde ossianisch-vorgeschichtliche Landschaft“. 429 Durch Kosegarten wurde „Rügen zum ersten Mal mit Deutschlandbegeisterung, sentimentalem Freundschaftskult, schwärmerischen Todes- und Jenseitsgedanken aufgeladen“. 430 Und schließlich war wegen seiner schlechten Gesundheit nur fünf Jahre später auch Schiller bereit, Richtung Norden aufzubrechen um „das Seebad zu versuchen“. 431 Ästhetisierende Diskurse verlieren offenbar an Bedeutung, wenn die leibliche Existenz auf dem Spiel steht. Ganz besessen von der Suche nach einer neuen Form der Naturbeschreibung seiner Heimat blieb Kosegarten. Seine Lyrik war geprägt von den religiös inspirierten wie detailversessenen Naturdichtungen eines Barthold Heinrich Brockes wie von Friedrich Gottlieb Klopstocks in die Naturlyrik eingewobenen Ton religiöser Ergriffenheit. Deren grundsätzlich optimistisch gestimmte Naturwahrnehmung, wobei 427 Lavater, Reisetagebücher, S. 302. 428 Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 25. 429 Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 25. 430 Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 56. 431 Brief an Goethe vom 28.6.1801. Schiller plante für den August des Jahres 1801 eine Reise nach Berlin, ins Seebad Doberan und nach Dresden. Schließlich blieb es aber bei einem kurzen Dresden- Aufenthalt. Die Passage im Brief lautet: „Aber auch mir droht eine lange Zerstreuung, denn mein Entschluß ist nun ernstlich gefaßt, in etwa 3 Wochen an die Ostsee zu reisen, dort das Seebad zu versuchen und dann über Berlin und Dresden zurückzugehen. Viel Vergnügen erwarte ich zwar nicht von dieser Reise, ja in Berlin erwarte ich peinliche Tage […] ich muß einen entscheidenden Versuch über meine Gesundheit machen […] Übrigens hoffe ich, etwa den 10. September wieder zurück zu sein, denn ich werde schnell reisen und mich nur 12 Tage in Dobberan, ebenso lang in Berlin und 6 Tage in Berlin verweilen.“ In: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Dritter Band: 1799-1805, hg. von Heinz Amelung, Berlin 1913, S. 222. Einen Tag später, am 29.6.1801, hält Schiller in einem Brief an den Direktor des Königlichen Nationaltheaters in Berlin, August Wilhelm Iffland (1759-1814), ebenfalls die geplante Reise mit dem Seebadeaufenthalt fest: „Ich hoffe, wenn es meine Gesundheit erlaubt, im August nach Berlin zu kommen, vorher geh ich an die Ostsee um das Seebad zu gebrauchen. […] Von Doberan aus melde ich Ihnen noch bestimmter die Zeit meines Eintreffens.“ Johann Valentin Teichmanns literarischer Nachlass, hg. von Franz Dingelstedt, Stuttgart 1863, S. 213. <?page no="115"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 114 auch hier das Meer und damit der Küstenraum ins Blickfeld rückten, konkretisierte Kosegarten durch die Verortung in einer realen Landschaft. Als der junge Kosegarten, einem „empfindsamen Kreis von Jünglingen in Greifswald“ 432 vorstehend, 1775 zu seiner ersten Rügenwanderung aufbrach, war sein ideales Naturbild zudem von den literarischen Stimmungen von Goethes Werther und der romantischen Melancholie des Ossian (ab 1760) erfüllt. 433 Seine Wanderung begann er also nicht nur mit der Lektüre historischer Quellen über Rügen, vielmehr hatte er bereits Werthers innere Seelenlandschaften und Ossians wildes, schottisches Hochland erwartungsvoll vor Augen. Kosegarten gelang mit diesem Werkzeug die ästhetische Ausformung der Rügenschen Landschaft. Die „wilde“ Landschaft diente ihm dabei als empfindsamer Spiegel der Seele. Nicht in den heiteren, bewirtschafteten Gegenden im Inselinneren, sondern an ihren bedrohlichen Randlagen, mit den Steilufern der Stubbenkammer oder Arkonas, fand Kosegarten die geeigneten Orte. Alles was stürmt, kippt, sich dem einfachen, harmonischen Schönen widersetzt, gewann für ihn akute Präsenz und Substanz. Im Kampf mit einer subjekthaft agierenden Natur läuterten sich Kosegartens literarische Figuren, weiteten sich Insel und Natur gar zum symbolischen Feld eines erwachenden Nationalbewusstseins. Zum Abschluss der „Ode über die Stubbenkammer“ heißt es: „Steh/ Und neig dein Haupt und beug dein Knie/ Vor Deutschlands Herrlichkeit,/ Denn groß ist Deutschland. Seine Kraft/ Ist voll wie Meeresflut, und wild/ Wie diese Uferwand.“ 434 Kosegarten verknüpfte im Landschaftsbild geschickt zeitgenössische religiöse, ästhetische und nationale Vorstellungen. 435 Der emphatische Naturbegriff des Sturm und Drang, die starke Betonung sinnlicher Wahrnehmung prägten Kosegartens Rügenbild, oder, wie Kosegarten es in seinem Gedicht „Wonna. Auf Stubbenkammer. 1777“ nennt, „Neugier und Naturgefühl“ 436 . Diese seelenvolle Zuwendung 432 Frenssen, Menschen, S. 13. 433 Vgl. Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 23ff. 434 Kosegarten, zit. nach Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 185. 435 Wie dauerhaft die Konstruktion von nationalem Mythos und nördlicher Natur in Bezug auf Rügen war, zeigt der „Baedeker“ von 1846. Dort heißt es zu Rügen: „Das Meer, die prächtigen Wälder, die mythischen Spuren des altdeutschen Herthadienstes, die geschichtlichen Erinnerungen - das kleine Eiland und die benachbarte Küsten von Pommern war die Wiege Odoakers und der Rugier, die das römische Reich nach einem 1200jährigen Bestehen stürzten - gewähren Rügen besonders für den Bewohner der flachen sandigen Marken, einen eigenthümlichen Zauber, der aber nicht allenthalben auf der Insel vorhält. Doch bleiben immer Stubbenkammer und Arcona zwei Puncte von hoher Schönheit, besonders das erstere.“ 2. Handbuch für Reisende in Deutschland und dem Österrreichischen Kaiserstaate, hg. von Karl Baedeker. Coblenz 1846, S. 496. 436 Kosegarten, zit. nach Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 186. <?page no="116"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 115 blieb dabei stets, Kosegarten verweist explizit auf sein Vorbild Klopstock, 437 religiös eingebunden. Und diese Einbindung des Transzendenten in die Natur sollte darüber hinaus zu einem dauerhaften Bestandteil der Landschaftskonstruktion werden. Noch knapp achtzig Jahre später, als Kosegartens Lyrik längst als zweitrangig und schwülstig apostrophiert nur noch Kennern geläufig war, traten Reisende weiterhin mit religiösen Bildern an die Höhe der Stubbenkammer, die „mit nichts besser zu vergleichen [ist], als mit der Ehrfurcht, die sich beim Betreten eines großen gothischen Domes unserer Seele bemächtigt“. 438 Für Carl Gustav Carus (1789-1869), Maler und Naturphilosoph, war es bei seiner Rügenreise im Sommer 1819 bereits die „gepriesene Stubbenkammer“ 439 . Ohne sich an die orthodoxe Schultheologie zu binden, schwelgte Kosegarten in religiöser Metaphorik, wobei er sich zunehmend auch mit den alten, heidnischen Gottheiten Rügens beschäftigte. Frühes Zeugnis von Kosegartens Zuwendung zur Geschichte ist sein 1778 entstandenes Gedicht „Das Hünengrab“. Die „literarische Entdeckung der Hünengräber“, so Schieb/ Wedekind, „ist allein Kosegarten zuzuschreiben.“ 440 Mit der Einbindung der zahlreichen Rügenschen Artefakte in seine Raumkonstruktion verlieh er der Insel eine zusätzliche Tiefenstruktur. Abseits eines textualen Gefüges 437 Im Gedicht „Rugard im Sturm“ schließt er die abenteuerliche Besteigung eines mittelgroßen Hügels im Zentrum Rügens mit dem begeisterten Ausruf „Freyheit! Majora! Klopstock! Oßian! ah! ! “, zit. nach Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 190. 438 Boll, Rügen, S. 48. 439 Carus, Lebenserinnerungen, Bd. 1, S. 219. 440 Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 39. Kosegartens Poesieen, erschienen 1798, mit den stilisierten Rügenschen Kreidefelsen als Leitmotiv. <?page no="117"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 116 literarischer Quellen hob Kosegarten damit die Hünengräber auf die Stufe sinnlichhistorischen Begreifens. Überhaupt lassen viele seiner Rügen-Gedichte klare räumliche Bewegungsmuster erkennen, die auf dem literarischen Nachempfinden einer bewusst körperlichen Aneignung der Natur basieren und sich damit explizit gegen die Ausschließlichkeit rationaler Erkenntnismethoden richten. 441 Der ins mythische Dunkel zurückreichende Zeitstrahl der Artefakte, oder, um mit Odo Marquard zu sprechen, „die historiographische Mentalexkursion in die Vergangenheit, die Vorzeit“, 442 gehört von nun an zu den bestimmenden Fixpunkten einer Rügenreise. Hielten Kreidefelsen und der Strand mit seinen Versteinerungen die Relikte der neuentdeckten Naturgeschichte bereit, so boten die Hünengräber eine Kulturgeschichte, deren Hintergrund so geheimnisvoll erschien, dass man die Fackel der Phantasie zur nationalen Erleuchtung anlegte. Deutschlands nördliche Spitze Arkona wurde so zum „Heldengedicht in zwanzig Gesängen“. 443 So gerieten die Bestatteten der Hünengräber zu ehrwürdigen Zeugen von Freiheit und urwüchsiger Kraft, die jetzt nur noch schwache, aber aus dem Dämmerschlaf allmählich erwachende Abkömmlinge gebar: „Steiget herauf, und reicht mir die Hand/ Voll Schwielen für die Freiheit, die ich liebe, wie ihr,/ Ich, eurer Enkel einer,/ Der Späteren, der Schwächeren einer! [...] Bei der Eich' auf dem Hügel, und dem Denkstein,/ Bei der Asch' in den Urnen des Hügels,/ Gelob' ich der Ahnentugend/ Unverbrüchliche Treue! “. 444 Mit dieser in der Natur präsenten, ursprünglichen Kraft verband Kosegarten auch in seiner Funktion als Prediger einen Missionsauftrag. Für seine Gemeinde hielt er im Anblick der See bei dem kleinen Fischerdorf Vitt die schnell berühmt gewordenen Uferpredigten, 445 um „den einfachen Fischern Gott mittels der ihnen vertrauten Natur 441 Dabei stammen Kosegartens bevorzugte Metaphern aus dem Umfeld der Bergbesteigung, wo man dementsprechend wahlweise die Stubbenkammer, Arkona oder den Rugard „erklimmt“. Angesichts der eher bescheidenen Höhenunterschiede zeugen diese Passagen vom Bemühen, eine intensive Körpererfahrung durch die Überhöhung von Naturgewalten zu erbringen. Nicht zufällig dürfte zudem die Nähe zur alpinen Bergmetaphorik sein. Beschreibungen wie der Ab- und Wiederaufstieg zur Stubbenkammer gerieten letztlich zum „gerafften Emanzipationsprozeß“ (vgl. Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 26). 442 Marquard, Der angeklagte und entlastete Mensch, S. 53. 443 So der Titel eines pathetischen Rügen-Gedichts von Friedrich Furchau, Berlin 1828. 444 Kosegarten, Das Hünengrab, zit. nach Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 194. 445 Kosegarten veröffentlichte 1803 „Jucunde. Eine ländliche Dichtung in fünf Eklogen“, die sein größter Erfolg werden sollte. Der idyllischen Dichtung verlieh Kosegarten u.a. mit den Uferpredigten lokales Kolorit. <?page no="118"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 117 nahezubringen“. 446 In seinen Ausführungen über das göttliche Wirken in der Natur - Meer, Strand, Kosmos - schloss Kosegarten an die physikotheologische Argumentation an und endet mit dem Theodizee-Argument, „dass Gott die Welt allen Zweifeln zum Trotz sinnvoll eingerichtet hat und alles Teil der vast chain of being ist“. 447 Natur ist Gottes-Ort und damit radikale Entgegensetzung zur menschenfeindlichen Stadt. Dagegen zeigten die Uferpredigten mit einem „Redner voll Gefühls für die Schönheit der ihn umgebenden Natur und Erhabenheit der Handlung, wie Kosegarten es war“ 448 , die wunderbar göttliche Durchdringung der Natur. So predigte Kosegarten die einsame, heilsame, erhabene und damit sittliche Prägung dieser Insellandschaft: „Ferne von jenen getümmelvollen Zirkeln, welche innerhalb des engen Ringes von Mauern und Wällen einander drängen und jagen, sind wir auch fern von dem Strudel der Torheiten, der dort über lang oder kurz auch den festeren Menschen dahinreißt, fern von den Rasereien des Luxus, welcher dort den Wohlstand so mancher friedlichen Familie untergräbt, fern von jener alles auf sich selbst beziehenden Eigensucht […] fern von jener traurigen Verderbnis, welche die Sitten einer großen, zu eng zusammengedrängten Menschenmenge leider noch allzeit, es sei früher oder später, vergiftete. [...] Ein […] Vorzug unserer Heimat ist die Nähe des Meeres! - Gewiß eine sehr wohltätige Nachbarschaft. Wohltätig für unsere Gesundheit. Denn dieses Element ist, wie ihr sehet, keinen Augenblick in Ruhe. Unablässig wallt und wogt und strudelt es […] und befördert auf diese Weise deren Frische und Federkraft zum höchsten Vorteile für jedes tierische Leben. […] Einfach ist die Natur, die uns umgibt, aber erhaben. Unsere Gestade sind hochgebürgt und schöngebogen. Unsere Buchten sind einsam und vertraulich. Und der nie ermüdende Anblick der See entschädigt jeden Liebhaber und Betrachter der Natur für jeden anderen Mangel. So erhebt, so erschüttert, so erfüllt keine andere Naturansicht das Auge und das Herz, als die Ansicht des freien weiten Meeres. Indem wir jene ungemeßne, lebendige Fläche hinüberschauen, so ergreifen uns die Schauer der Unendlichkeit.“ 449 Da es aber in der freien Natur allzuoft regnet und stürmischer Wind die Worte verweht, wurde am Ufer beim Fischerdorf Vitt auf Anraten Kosegartens eine achteckige Kapelle nach den Entwürfen des Rügenliebhabers Karl Friedrich Schinkel errichtet und 1816 geweiht. Auch die Inneneinrichtung sollte höchsten Ansprüchen genügen. Kosegartens Wunsch, für die Kapelle ein Altargemälde von Caspar David Friedrich oder Philipp Otto Runge (1777-1810) zu erhalten, ging indes nicht in 446 Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 48. Noch Boll verwies in seinem Rügenführer 1858 auf diese Kosegartensche Tradition, die sich in abgeschwächter Form auch noch in jener Zeit erhalten hatte. Boll, Rügen, S. 37. 447 Zit. nach Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 48. 448 Schneider, Reisegesellschafter, Berlin 1823, S. 52f. 449 Kosegarten, Uferpredigt, S. 113ff. <?page no="119"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 118 Erfüllung. 450 Dass Kosegarten die beiden großen Maler aus Schwedisch-Pommern auswählte, hing dabei nicht nur mit deren guten Kenntnissen der Rügenschen Landschaft zusammen. Kosegarten hatte als Rektor der Wolgaster Stadtschule das Talent des jungen Runge gefördert, während Kosegartens Jugendfreund, der akademische Zeichenlehrer an der Universität Greifswald Johann Gottfried Quistorp (1755-1835), 451 den jungen Caspar David Friedrich in den Grundlagen der Malerei unterrichtet hatte, dies auch bei Streifzügen durch die Insel Rügen. 452 Runge, Quistorp und Kosegarten gehörten darüber hinaus zu den ersten Käufern von Friedrichs Rügen-Sepien. 453 Für Kosegarten war es selbstverständlich, angesichts einer die Sinne überwältigenden Natur, dem Besonderen auch in künstlerischer Hinsicht zu entsprechen. Auch seine Leidenschaft für die Rügenschen Artefakte wurde bald von anderen geteilt. Schinkel selbst war bewegt von der in Rügen noch präsenten alten Kunst und bemerkt in einem Brief von seiner Rügenreise vom September 1821 an Christian Rauch, es sei nicht zu leugnen, dass die „Menge von Hünengräbern, welche man in Rügen auf allen Höhen erblickt, die höchst sonderbaren Erdwälle, die ehemals die Heiligthümer einschlossen und deren Lage in Wäldern, an tiefen Seen oder an der hohen Meeresküste, auch wohl auf den höchsten Punkten des innern Landes etwas Dunkel und Abentheuerliches hat, in diesem Lande mit der ganzen Natur so in Harmonie treten, daß das Ganze doch gewissermaßen als ein sonderbares, aber großartiges Kunstwerk wirkt und die Stimmung recht aufs Gemüth nicht verfehlt“. 454 Doch während Kosegartens auf Dauer ermüdende Emphase in der Öffentlichkeit zunehmend an Wirkung verliert, bleibt der Topos von der erhabenen Insel, die auf den Schöpfer verweist, zunächst erhalten. Gott fand sich darin freilich nur noch als 450 Kyllikki, Landschaften, S. 203. Zschoche spricht davon, dass Friedrich und Kosegarten im Sommer 1806 auf Rügen zusammentrafen und Friedrich bereits „Pläne für die Kapelle gezeichnet“ hatte, die aber „aus finanziellen Gründen nicht verwirklicht wurden“. Zschoche, Rügen, S. 53. Runge malte für die Kapelle einen „Petrus auf dem Meer“, der aber, wie Friedrichs Entwurf, letztlich nicht in Vitt landete. Kosegartens Plan für die Kapelle in Vitt kam auch auf einer Ausstellung der Werke Runges 1805 in Wolgast zur Sprache, an der neben Kosegarten und Runge auch Ernst Moritz Arndt, mit dem Caspar David Friedrich lange Zeit über Fragen von Kunst und Nation in Kontakt stand, und andere Vertreter der Universität Greifswald teilnahmen. Vgl. Frenssen, Menschen, S. 24; Alvermann, Kunstfreunde in Vorpommern, S. 55ff. 451 Kosegarten hatte gemeinsam mit Quistorp 1777 eine Rügenreise unternommen, die den Beginn seiner poetisch-leidenschaftlichen Zuneigung zu dieser Insel markierte. Vgl. dazu auch Alvermann, Kunstfreunde in Vorpommern, S. 48f. 452 Frenssen, Menschen, S. 11f. 453 Lexikon der Kunst, Stichwort: Caspar David Friedrich, Leipzig 1994. 454 Schinkel, Briefe, Brief vom 1.9.1821, S. 102f. <?page no="120"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 119 „Weltenschaffer“ in der (bereits national gestimmten) Naturverehrung am Strand von Vitt bei Altenkirchen wieder: „Vor dem Dorfe wird ein Thal von zweien Bergen gebildet, an deren Abhang die Zuhörer, die Männer zur Rechten, die Frauen zur Linken, gelagert sind, im Thalgrunde steht der Prediger, vor sich in der Tiefe das Dorf Vitte, im Hintergrund die Ostsee und Jasmunds waldigte Ufer, zur Seite in geringer Entfernung die hohen Erdwälle von Arkona. - Schon durch diese Aussicht ringsum wird die Seele zu religiösen Empfindungen gestimmt; und wahrlich mögte wohl kaum eine zweite Stelle in unserm Deutschen Vaterlande gefunden werden, die so einladend zur Gottesverehrung wäre, und wo es also einem Prediger der nicht ganz vom Geiste verlassen ist, so leicht würde, die Seele seiner Zuhörer zum Preise und zur Anbetung des Weltenschaffers zu entflammen.“ 455 Kosegarten hat mit seiner literarischen, naturhaft-religiösen Entdeckung der Insel zweifellos in großem Umfang zur Popularisierung nicht nur Rügens, sondern der gesamten deutschen Ostseeküstenregion beigetragen. Die bald einsetzende Rügenbegeisterung, begleitet von einer Fülle von Publikationen, kam lange nicht ohne den Verweis auf Kosegarten aus, „welcher zuerst dem Auslande Rügen bekannt machte“. 456 Dass Kosegarten sich einige Zeit als literarisch erfolgreich erwies und damit über Rügen und Pommern hinaus bekannt wurde, zeigen auch seine Veröffentlichungen in Schillers „Musenalmanach“ und den „Horen“ sowie seine Bekanntschaft mit zahlreichen Größen der klassischen Literatur. 457 Damit erreichte er die für die „Entdeckung“ Rügens notwendige literarische, bildungsaffine Öffentlichkeit, 458 die von nun an wusste, dass die „Nordspitze Deutschlands“ 459 das „Vorgebirge Arkona“ ist. Es ist aber bezeichnend, dass es neben Kosegarten noch einige seiner lutherischen Amtsbrüder auf Rügen waren, die auf verschiedene Weise das sich neu entstehende Rügenbild mit entwarfen, da sie aber nicht literarisch tätig waren, blieb ihre Ausstrahlung weitaus geringer. Die soziale Stellung der Rügenschen Pfarrer, ihre ökonomischen Verhältnisse und ihr Bildungshintergrund schilderte der französische Reisende Jean-Pierre Chatteau-Calleville in seiner Schrift „Gemälde der Ostsee in physischer, geographischer, historischer und merkantilischer Rücksicht“ von 1815: 455 Schneider, Reisegesellschafter, S. 52. 456 Schneider, Reisegesellschafter, S. 48. 457 Vgl. Michael Behnen: Eintrag Kosegarten. In: Killy, Literaturlexikon, Bd. 6, Gütersloh/ München 1990, S. 506f. 458 In der „Reise eines Gesunden in die Seebäder Swinemünde, Putbus und Dobberan“ berichtete der Verfasser in Briefform seiner Frau von einer „köstlichen Zeit auf Arkona [...] von wo ich Dir, Lorchen, eine Blume mitbringe, da du Kosegartens Gedichte liebst“. o.V., Berlin 1823, S. 118. 459 Boll, Rügen, S. 12. <?page no="121"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 120 „Die Pfarrwohnungen dieser Insel zeichnen sich durch ihre Schönheit vor denen in allen andern Ländern aus, und die dazu gehörigen beträchtlichen Ländereien sind sogleich bei Einführung der lutherischen Religion damit verbunden worden. Die Pfarrer sind größtentheils sehr wohlhabend, und es ist bemerkenswerth, dass sie zuerst Menschenliebe gegen die leibeigenen Bauern geübt, und ihnen ohne Lösegeld die Freiheit geschenkt haben. Die meisten derselben haben auf teutschen Universitäten studiert, und schicken gewöhnlich auch wieder ihre Söhne dahin, die sich größtentheils durch Talente und gute Aufführung auszeichnen. Es ist nichts Seltenes, dass man bei den Landgeistlichen auf der Insel Rügen zahlreiche Bibliotheken, so wie physikalische und naturhistorische Cabinette antrifft.“ 460 Die Pfarrer der Insel pflegten volksaufklärerische Ambitionen, standen aber als typische Vertreter ihres Berufsstandes „auch deswegen im Blick, weil das Dorf als Ganzes mit all seinen Bewohnern, Lebensverhältnissen und Eigenarten zu einem Gegenstand des öffentlichen Diskurses avanciert war“. 461 Eine besondere Rolle spielte Heinrich Christoph von Willich (1759-1827), Pfarrer in dem kleinen Rügenschen Städtchen Sagard auf der Halbinsel Jasmund. Mit der Wiederanlage eines Gesundbrunnens auf seinem Pfarrgrundstück und mit Unterstützung seines Bruders, des Landphysikus' von Rügen und schwedischen Leibarzt Moritz von Willich (1750-1810), sorgte er ab dem Jahr 1794 dafür, dass Rügen als medizinisch wirksamer Heilraum wahrgenommen wurde und damit auch als Reiseziel an Beliebtheit gewann. Dazu trug auch bei, dass Moritz' Sohn, der Pfarrer Ehrenfried von Willich, eine umfangreiche Korrespondenz mit seinen Berliner Freunden, darunter der Gastgeberin einer der prominentesten Salons Henriette Herz (1764-1847) und dem Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834), führte, die immer wieder den Reiz der Insel Rügen thematisierte. 462 Henriette Herz war es dabei offensichtlich ein Anliegen, die von ihr geliebte Insel in den Berliner Salons bekannt zu machen: „Vor einigen Tagen war ich einen Abend bei Fichte, ich sprach von Rügen, wie ich dann mit jedem davon spreche, und er sagte, daß er wahrscheinlich nächsten Sommer dorthin reisen 460 Chatteau, Gemälde, S. 238f. 461 Kuhn, Thomas: Religion und Neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung. Tübingen 2003, hier S. 194. 462 Vgl. zur Anlage des Gesundbrunnens und Willichs Zielen, Moritz von Willich: Vorläufer einer künftigen ausführlichen Beschreibung des Gesundbrunnens zu Sagard auf der Insel Rügen, nebst Anzeige von dessen Bestandtheilen und den bey und um denselben gemachten Anlagen, Stralsund 1795; Zu Henriette Herz, Willich und Schleiermacher vgl. Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 80ff., und Rainer Schmitz: Bis nächstes Jahr auf Rügen. Briefe von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und Henriette Herz an Ehrenfried von Willich 1801 bis 1807, Berlin 1984. <?page no="122"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 121 würde, er kenne einige Menschen dort. Er war erfreut, als ich ihm alle die nannte, die er kennt und die ich großen Teils, die Greifswalder mit eingerechnet, auch kenne.“ 463 Moritz und Heinrich von Willich kamen mit der Anlage eines Gesundbrunnens schließlich dem Bedürfnis der Gäste nach, die die Insel mit ihren Naturschönheiten erkunden wollten. 464 Zudem folgte man damit der Konstruktion einer erwünschten Mischung von „wilder“ Natur und gewohntem Habitus, indem der Weg zur berühmten Stubbenkammer für Fuhrwerke ausgebaut wurde und, wie Humboldt berichtet, dort „Veranstaltungen zur Bequemlichkeit und dem Vergnügen der Reisenden gemacht, Ruheplätze angelegt, einen eigenen Boten dahin bestellt, Küchen und andres Geräth, das man, um dort zu essen gebraucht, angeschafft und für die Fuhre und den Boten eigne Taxen festgesetzt“ 465 wurden. In das Sagarder Stammbuch, in das sich die Reisenden von der Stubbenkammer aus kommend eintrugen, hatte Kosegarten einst auf die erste Seite seine „Ode an die Stubbenkammer“ geschrieben, die damit „eine gewisse Popularität“ 466 erhielt. Moritz von Willich verband in seiner Schrift über den Gesundbrunnen von Sagard diesen mit der Stubbenkammer und Kosegartens literarischer Vorarbeit. Mit der Heilquelle hätte das „vom großen Dichter Kosegarten so fürtrefflich besungene Stubbenkammer auf Jasmund, eine Meile von Sagard, einerley Schicksal gehabt, wenn nicht plötzlich ein guter Genius beyde aus der Vergessenheit hervorgesucht, und aufs neue seinen Mitbürgern und Nachbaren ins Gedächtniß zurückgeführet hätte“. 467 Landschaft und Heilquelle potenzierten ihre je eigene Wirkung hier durch die enge räumliche Verknüpfung und die unterschiedliche, einander aber ergänzende Heilwirkung des innerlich wirksamen Wassers mit dem die „Nerven erschütternden“ Anblick der Stubbenkammer. Neben Willich war es der Pfarrer Bernhard Oliver Frank aus Bobbin, der seit Beginn der 1790er Jahre als Naturforscher dilettierte und damit zum viel besuchten Mittelpunkt wissenschaftlich interessierter Reisender wurde. 468 463 Schmitz, Rügen, Brief vom 4. Februar 1805 an die Freunde auf Rügen, S. 132. 464 Zu Recht verweisen Eckart/ Jütte in ihrer Medizingeschichte auf die nötige und noch ausstehende Untersuchung zur Rolle der Geistlichkeit im Medikalisierungsprozess. Ebd., S. 315. 465 Humboldt, Tagebuch, S. 33. 466 Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 26. 467 Willich, Gesundbrunnen, S. 10f. 468 Frank (1759-1833), studierte Theologie in Greifswald und Göttingen. Er unternahm später in Schweden naturhistorische Studien, die sich in seinen umfangreichen naturhistorischen und archäologischen Sammlungen niederschlugen, dazu zahlreichen Veröffentlichungen die ihn über seine Wirkungsstätte hinaus bekannt machten. Seit 1791 bis zu seinem Tod Pfarrer in Bobbin auf Rügen. Vgl. Adolf Häckermann, Eintrag in Allgemeine Deutsche Biographie, hg. von der Bayerischen Aka- <?page no="123"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 122 Wie man Kosegarten allgemein die literarische Erschließung Rügens zuerkannte, so stieß Frank als Altertums- und Naturforscher bei den Reiseschriftstellern auf Anerkennung. Keine Rügenreise kam fortan ohne den Besuch seines Naturalien- und Altertumskabinettes aus. 2.4.2 Rügen als Feld der Naturwissenschaft Die Peripherie des Küstensaums wurde Ende des 18. Jahrhunderts zum Ort einer aufgeklärten Suche nach den Grundlagen der Naturgeschichte und damit der Vergewisserung der Stellung des Menschen im Kosmos. Gerade in der Ungleichzeitigkeit zwischen urbaner Gesellschaft und der „leeren Landschaft“ der Küste manifestierte sich eine Spannung, die ihren Reiz aus der Erreichbarkeit und geografischen Nähe und der dagegen im Kontrast dazu erscheinenden Ferne der urzeitlichen Steine und Einschlüsse erhielt. „Die Nähe der viele tausend Jahre alten Fossilien und der Zoophyten zeigt an“, so Corbin, „was dieser lange sich selbst überlassene Ort alles mitzuteilen hat. Die libido sciendi löst eine forschende Suche aus, die auf ihre Weise Aufschluß über das wachsende Verlangen nach der Meeresküste gibt. Sie ruft Praktiken hervor, die im allgemeinen mehreren Absichten gleichzeitig dienen, die den ästhetischen Genuß mit der Lust der wissenschaftlichen Beobachtung und dem befriedigenden Gefühl einer körperlichen Anstrengung verbinden.“ 469 Reisebeschreibungen und Entdeckerlust verbanden sich und führten in den Kreis der großen Reiseberichte, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch in Deutschland zahlreich erschienen. Naturgeschichte, verstanden als die Loslösung vom christlichen Verständnis des Ineinanderfallens der Erd- und Menschheitsgeschichte in der göttlichen Schöpfung, heißt die aufgeklärt-philosophische Auseinandersetzung um den Ursprung und die Vergewisserung um den ontologischen Standort der Menschen. 470 Die Scheidelinie des Meeresufers markierte wissenschaftdemie der Wissenschaften, Bd. 7, 1878. Die Schreibweise in den Quellen wechselt zwischen „Frank“ und „Franck“ und wird hier nach einem veröffentlichten Aufsatz, außerhalb der entsprechenden Zitate, mit „Frank“ vereinheitlicht. 469 Corbin, Meereslust, S. 133. 470 George-Louis Leclerc de Buffons (1707-1788) Werk „Histoire naturelle générale et particulière“ (1749-1789) erschienen auf Deutsch in Hamburg ab 1752 mit einem Vorwort Albrecht von Hallers, fasste das Wissen über die Naturgeschichte in einem gewaltigen Kompendium zusammen. Grundlegend war der Gedanke einer evolutionären Stufenleiter in der Naturentwicklung. Ihm folgte der alles in ein taxometrisches System zwingende Carl von Linné (1707-1778), der mit seinem Systema Naturae (1735; 1758-68) die Grundlagen der modernen biologischen und zooligischen Nomenklatur erschuf. Darin gliederte er das quasi überzeitliche System der drei Naturreiche der Tiere, Pflanzen und Mineralien durch die fünf aufeinander aufbauenden Rangstufen Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Varietät. <?page no="124"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 123 liche Erkenntnis und Bekenntnis und drängte die Menschheitsgeschichte in die Position eines bescheidenen Augenblickes der Naturgeschichte: „Die Französische Revolution hat der Katastrophentheorie, die den Lauf der Weltgeschichte in dramatischen Episoden beschrieb, neuen Auftrieb gegeben. Umgekehrt hat die moderne Geologie das Gefühl der Vergänglichkeit, das Bewußtsein von der Unbeständigkeit der Dinge tief in den Menschen verankert. [...] Für den Gelehrten, der die allmähliche Abnutzung des beweglichen Riffs spürt und voraussieht, dass es dereinst zusammenbrechen wird, ist das Ende der alten Ordnung in den Strand geschrieben.“ 471 So beginnt die Idealisierung der nördlichen Küstenlandschaft mit dem unermüdlichen Suchen nach möglichst alten Zeugen der Naturgeschichte: Versteinerungen von Muscheln und Korallen, inselhaftes Auftreten von Flora und Fauna, Einschlüsse von urzeitlicher Flora und Fauna im Bernstein. 472 Mit „einer fast wissenschaftlichen oder doch protokollarischen Exaktheit“ 473 sammelte man Zeugnisse der Vergangenheit, gleich ob der Naturoder, wie bei Rügens Hünengräber, der vorgeschichtlichen Menschheitsgeschichte. Für die Ostseeküste war die Insel Rügen bald zentraler Ort der dilettierenden Gesteinssammler. Abseits der Akademien suchte man hier vor Ort nach Beweisen und Erkenntnissen zur Naturgeschichte, die sich in den Gesteinskabinetten der Mineralienjünger anhäuften. Ganz rational gestimmt, „besessen von der Taxonomie und ohne wirkliches Forschungsprogramm“ 474 sammelte man mit Akribie, was die Küste „ausspuckt“, vermaß und beobachtete voller Erstaunen. Die Macht des Zählbaren und des Faktischen, von erkennbaren Gesetzmäßigkeiten, verdrängte den allmächtigen und verstandesmäßig nicht fassbaren Gottesentschluss. Bevor die romantische Naturvorstellung mit ihrer Poetisierung der Natur diese dem Gesetzmäßigen wieder entziehen sollte, begeisterte sich die Aufklärung an der Faszination akribischen Sammelns. Beobachtende Erfahrung und sinnliche Entdeckungen waren es, die die weite Welt der Naturgeschichte aufzeigten. So berichtete Rellstab von seiner Rügenreise 1797: 471 „Trotz der vielfältigen Theorien liefert die Geologie eine gewisse Anzahl von Begriffen, Bildern und Affekten, die eine neue Sicht der Menschheitsgeschichte ermöglichen, und zwar im gleichen Maße, in dem diese sich dank geologischer Erkenntnisse von der Geschichte der Erde löst. So kommt es zu einem subtilen Austausch zwischen Politik und Wissenschaft.“ Corbin, Meereslust, S. 159. 472 Bernstein fand sich vor allem an der Hinterpommerschen Küste, vereinzelte Funde gab es aber auch an der gesamten Küste. Vgl. u.a. Sitzungsberichte der naturwissenschaftlichen Gesellschaft ISIS in Dresden. Dresden 1867, S. 84; Friedrich Wilhelm Barthold: Geschichte von Rügen und Pommern, Hamburg 1839, S. 50; Heinrich Karl Wilhelm Berghaus: Landbuch des Herzogs von Pommern und des Fürstenthums Rügen, Bd. 1, Anklam 1865. 473 Wozniakowski, Wildnis, S. 15. 474 Corbin, Meereslust, S. 149. <?page no="125"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 124 „Hier kann man nun unten das Ufer auf einem Steinauswurf des Meeres umgehen, welches unaufhörlich gegen die Brandung braußt und schäumt; man sieht wie eine Welle die andre verschlingt, und nachdem der Wind stark oder schwach ist, die darin liegende große Steine überspült, oder sich daran zerschlägt. Mineralisten würden hier für ihre Cabinette wohl seltene Versteinerungen finden.“ 475 Auf Rügen war es der bereits erwähnte Pfarrer Frank in Bobbin, dessen leidenschaftlicher Sammlerehrgeiz in seinem Kabinett zu bestaunen war und das bis zu dessen Tod 1833 zum Anlauf- und Kommunikationspunkt vieler Rügenreisender wurde. 476 Pastor Frank führte die Reisenden aber nicht nur durch sein Rügen-Kabinett, sondern besaß auch den Blick für neue Perspektiven auf die Landschaft Rügens. Humboldt berichtete von einer Anhöhe, deren Aussicht „erlaubt keine Beschreibung. Sie übertrifft die vom Rugard an Größe und Majestät. [...] Diese Aussicht und den Opferstein hat Pastor Frank bei Gelegenheit einer Jagd entdeckt.“ 477 Der Berliner Professor Christian Gottfried Daniel Stein, der 1827 ein Buch über seine „Reise nach Berlin, Rügen, den Hansestädten, Ostfriesland und Hannover“ veröffentlichte, konstatierte 30 Jahre nach Humboldt zum einen das Ende des Sagardschen Gesundbrunnens, besuchte aber ebenso wie Humboldt Pastor Frank und „sein ansehnliches Kabinet von hiesigen Versteinerungen [...] von Urnen, Streitäxten, Kugeln von Feuersteinen und anderen Überresten des grauen Alterthums aus diesen und anderen Gegenden“. 478 Rügens Natur wurde durch Franks naturwissenschaftliches Interesse, ganz in der Tradition der Physikotheologen, beispielhaft für die Verbindung von Natur- und Menschheitsgeschichte durch forschendes Interesse. Entwicklung und Fortschritt zeigten sich in den gesammelten Petrefakten ebenso wie in den aus Hünengräbern ausgegrabenen Streitäxten und Schwertern. Klassifizierend wurde die heimische Natur und Kultur in eine Chronologie und entsprechende Ordnungssysteme gefasst. 479 Wilhelm von Humboldt, der wenige Jahre vorher in Göttingen bei Georg Christoph Lichtenberg Naturwissenschaften studiert hatte, lobte Franks „seltnes Naturalien- und AlterthumsCabinett, das sich meistentheils auf Rügen bezieht. Der größte Theil besteht aus sehr schönen Versteinerungen, die auf Rügen auf den Steinlagern am Meer, oder sonst gefunden sind. Es sind bloß versteinerte Conchylien, aber von der seltensten 475 Rellstab, Rügen, S. 77f. 476 Noch Boll bezog sich 1858 bezüglich der Sammlung von Petrefakten und Artefakten auf des Pastors große Sammlung, die aber, so Boll, nach dessen Tod bedauerlicherweise nach England gekommen war. Vgl. Boll, Rügen, S. 15f. 477 Humboldt, Tagebuch, S. 32. 478 Stein, Reise, S. 76. 479 Zur Entstehung und Funktion von Naturalienkabinetten im 18. Jahrhundert vgl. auch Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 179f. <?page no="126"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 125 Art. Unter den Alterthümern ist eine auf Wittow ausgegrabene Urne, die noch ganz unversehrt ist, merkwürdig. [...] Ein paar geheime Amulette, ein anders zerbrochnes, kleine mit Zeichen bemahlte Metallplatten, vielleicht ist es die Urne eines Priesters oder Zauberers. Ein ganz erhaltenes Opfermesser von Stein. Eine Art eiserner Bande, die um einen Schädel befestigt gewesen sind. Pastor Frank hält dieß für eine Strafe der Blasphemie vielleicht.“ 480 So wurde der Inselstrand zum Laboratorium von Forschungsexkursionen. Bewegung in der Landschaft hieß für die Reisenden jetzt „forschende Suche. [...] Jeder Küstenspaziergang kann sich als fruchtbar erweisen, sei es durch ergötzliche Wahrnehmungen, durch unverhoffte Entdeckungen von Fossilien, Algen oder Muscheln, durch merkwürdige Beobachtungen oder - bald - durch Träumereien. Solche Unternehmungen haben noch nichts Alltägliches an sich.“ 481 Carl Gustav Carus, Universalgelehrter und berühmter Maler der Romantik, besuchte 1819 Rügen, wanderte und fühlte sich hier „still und träumerisch wie eine altschottische Ballade, zur Rechten das Meer, oft weit hinaus am Strande mit unzähligen Granitblöcken bestreut, welche urweltliche Fluten mit ihrem alten Eise einst von Skandinavien herüber auf diese Küste geführt haben“. 482 Der Naturforscher und romantische Schriftsteller Adalbert von Chamisso (1781- 1838) bereiste ein Viertel Jahrhundert nach Humboldt (1823), ebenfalls Rügen und wünschte „die Aufmerksamkeit der Geognosten auf diese Insel zu ziehen, die sie in hohen Maaße zu verdienen scheint”. 483 Auch er besucht Franks Kabinett: „Die besonders an Versteinerungen reiche Sammlung, die der Herr Pastor Frank zu Bobbin für die Naturgeschichte und die Antiquitäten von Rügen angelegt hat, läßt dem Naturforscher nur zu wünschen übrig, dass Hr. Frank das geognostische Vorkommen der aufbewahrten Stücke sorgfältiger beobachtet hätte.” 484 Die Suche nach Versteinerungen und Bernstein mit seinen prähistorischen Einschlüssen verdeutlichte schließlich das neuartige Empfinden, das man im „Auseinanderklaffen der Menschen- und Erdgeschichte spürt”. 485 Die Begegnung mit den 480 Humboldt, Tagebuch, S. 30f. 481 Corbin, Meereslust, S. 149f. 482 Carus, Lebenserinnerungen, Bd. 1, S. 215. 483 Chamisso, Blick auf Rügen, 1823, S. 8. 484 Chamisso, Blick auf Rügen, 1823, S. 8. 485 Corbin, Meereslust, S. 80. <?page no="127"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 126 Überbleibseln der Erdgeschichte ließ die Vertreter der Neptunismus-Theorie 486 triumphieren, womit die Beobachtung und Sammlung am Strand schließlich zu einem Beweismittel im Kampf um die Deutung der Erdgeschichte wurde. In der Zeitschrift „Greifswaldisches Academisches Archiv“ von 1816 schreibt Frank über die „Denkmäler der Vorzeit der Insel Rügen“ und resümierte: „Man betrachte nur Arkona, Stubbenkammer, Granitz, alle Höhen, die über dem Ocean hervorragen - was erblicken wir da? Denkmäler großer Wasserrevolutionen - nichts vulkanisches auf der Oberfläche - […]. Die kleinen Trümmer, durch Wassergewalt von ihren Bruchkanten geschliffen und gerundet! Da sind sie aufbewahrt alle in unzerstörbaren Kopien die Geschöpfe der Vorzeit! ” 487 Nernst konstatierte mit dem Blick auf Rügen: „An vulcanischen Ursprung ist jedoch kein Gedanke; Alles Bildung auf nassem Wege.“ 488 2.4.3 Meeresblicke In besonderer Weise fruchtbar für die neue Konstruktion der Küstenlandschaft wurde aber die Formung der ästhetischen Perspektive, die sich mit Kosegarten an der Rügenschen Landschaft ausbildete und bald zum beherrschenden romantischen Blick wurde. 489 Mit Kosegartens ästhetischer Formung der Rügenschen Landschaft setzte die Vorherrschaft des fokussierten Meeresblickes ein, der die Unendlichkeit im Horizont verortete. Mitte des 18. Jahrhunderts, bei Schwartz, Büsching oder Lavater, besaß der Meeresblick keine exponierte Bedeutung. Wenn ein Blick auf die Landschaft in ästhetischer Absicht geworfen wurde, so diente er der Suche nach einer schönen, vielfältigen und durch ihren Nutzen sinnvollen Natur. Auch nach Kosegartens Neubeschreibung der Insel änderte sich dies zunächst nur zaghaft. Man näherte sich Rügen als Gesamtpanorama. Dies zeigt sich im Besonderen an dem hohen Stellenwert, den der Rugard, eine Anhöhe ziemlich mittig auf Rügen, nahe der Stadt Bergen gelegen, noch eine Zeitlang besitzen sollte. Von hier aus lässt sich bei guter Witterung die gesamte Insel übersehen und bietet dem Be- 486 Bis ins 19. Jahrhundert stritten Gelehrte darüber, ob der Erdentstehungsprozess vor allem über die Wirkung des Wassers (Neptunisten) oder in besonderem Maße auch mittels der Wirkung des Feuers, vor allem von Vulkanen (Vulkanisten, auch Plutonisten), vorangetrieben wurde. 487 Frank, Denkmäler, S. 31f. 488 Nernst, Rügen, S. 26. 489 Zur Konstruktion des romantischen Blickes vgl. auch John Urry: The Tourist Gaze. Leisure and Travel in Contemporary Societies. London 1992, S. 40ff.; Koschorke, Horizont. <?page no="128"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 127 trachter „das weit umfassende, zum Theil recht wunderhübsche Landschaftsgemälde“. 490 In alle Richtungen schweifte der Blick bis zu den Uferzonen der Insel und, so bemerkte der Berliner Konsistorialrat Johann Friedrich Zöllner 491 in seinem Reisebericht voller Staunen: „Überall, wo man weiter hin das Ufer erblickt, scheint ein nachdenkender Künstler der Einförmigkeit vorgebeugt zu haben: bald ist es bergigt, bald flach, hier decken blos Steine, dort Gebüsche oder Waldungen den Boden.“ 492 Auch Humboldt war beim ersten Betreten des Rugard angenehm überrascht von der Vielfältigkeit des Panoramas: „Die Aussicht ist unbeschreiblich schön. Rund herum lag das schöne, fruchtbare Land wie ein Garten zu unsern Füßen. Aecker, Wiesen, Gebüsche, Dörfer und einzelne Höfe wechseln unaufhörlich mit einander ab. [...] Die Abwechslung des mannigfaltigen Grüns und des gelben reifen Korns gewährte einen überaus angenehmen und lachenden Anblick.“ 493 Humboldts Perspektive beschränkte sich nicht auf das Meer, wenn sich auch hier das Ziel seiner Blickrichtung ausmachen lässt. Er genoss die vielfältige Zusammensetzung dieser Landschaft, die das Schöne mit dem Unattraktiven verbindet. In seinem Tagebuch notierte er: „Eine schöne Eigenthümlichkeit von Rügen ist es, dass man hier so viele verschiedene Gegenden zusammen findet, die man sonst nur zerstreut antrift, fruchtbare unbebaute Fluren, öde Heiden, Landengen, Vorgebirge, Meerbusen, Gebirge, Wälder u.s.f.“ 494 Auch die panoramatische Schau auf die gesamte Insel besteche durch ihre Beschränkung auf den Naturraum. Humboldts Beschreibung hebt die Rolle der Küstenlandschaft aus der Siedlungsgeschichte der Insel heraus. Goethes Kommentar zu dieser Reise zeigt die Vorstellung von Rügen als einem Ort, wo man „das Meer begrüßt“. 495 Das herausragende Interesse bezog Rügen also aus seiner landschaftlichen Qualität. Trotz des rauen Klimas, das dem südlichen Klima nicht nur in der symbolischen Atmosphäre nachsteht, sondern immer auch mit der Unwirtlichkeit des Nördlichen, 490 Nernst, Rügen, S. 25. 491 Johann Friedrich Zöllner (1753-1804), Theologe, Prediger an der Berliner Charité, ab 1788 Probst an der Berliner Nikolaikirche. Zöllner gehörte zum Kreis der Aufklärer, war Freimaurer und u.a. Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin und der Berliner Mittwochsgesellschaft. Seine 1783 in der „Berlinischen Monatsschrift“ (in der Fußnote) aufgeworfene Frage „Was ist Aufklärung? “ beantwortete ein Jahr später Immanuel Kant mit seinem berühmten Essay „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? “. 492 Zöllner, Reise, S. 209. 493 Humboldt, Tagebuch, S. 24. 494 Humboldt, Tagebuch, S. 28. 495 Zit. nach Schieb/ Wedekind, S. 67. <?page no="129"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 128 Öden, Kalten in Verbindung gebracht wird, gewann die Ostseeküste als Landschaft eine eigene symbolische Qualität. Aber auch hier gibt es nicht „die“ Landschaft. Sie wird zusammengesetzt aus wertvoll erscheinenden Einzelteilen. Rügen als Mythos bedeutet daher auch niemals die Insel als Ganzes. Eine Route, die vom Festland, vor allem Stralsund, kommend über den zentral gelegenen Rugard bei Bergen Richtung Ostküste zum bewaldeten Höhenrücken Granitz, von dort zur Stubbenkammer und schließlich zur nördlichsten Inselspitze Arkona führt, wurde schnell zum festen Reiserepertoire. Karte der Insel Rügen mit zeitgenössisch eingetragener Reiseroute (rot markiert), die die landschaftlichen Höhepunkte, v.a. der östlichen Küste, nachzeichnet. <?page no="130"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 129 An dieser nördlichsten Landpartie entstand so auch 1826/ 27 als Kristallisationspunkt der Karl Friedrich Schinkel zugeschriebene Leuchtturm, nach Travemünde de r zweit älte ste Leu chttu rm an der d euts chen Os tsee küste . 496 Er ist markante Landmarkierung wie Symbol der Hoffnung und Errettung in einem. Andere Gegenden der Insel, vor allem im südlichen und westlichen Teil, fallen dagegen ab. Nernst schreibt 1800: „Der Weg von Stralsund hieher [Bergen, H.B.] ist äußerst einförmig und uninteressant, so wie der ganze südwestliche Distrikt der Insel. [...] Solche leeren Gegenden ermüden nur die Geduld des Reisenden und lassen in dem Gedächtniße nichts, als das dürftige Bewußtseyn zurück, sie bereiset zu haben.“ 497 Ausdruck dieser selektiven Landschaftswahrnehmung ist die für die Küste typische Fixierung des symbolisch reich besetzten Blickes auf den Meereshorizont. Von der Nähe der heiteren Wiesen und üppigen Felder wandert das Interesse sehnsuchtsvoll zum nie erreichbaren Verschmelzungspunkt von Himmel und Wasser. Und die wachsende Distanz verändert auch die Relation zwischen dem betrachtenden Subjekt und dem Zielobjekt. Das Ziel des Blickes ist nicht mehr erfahrbar, bleibt unerreichbare, romantische Sehnsucht. In einer Zeit, die sich um die mechanische Bändigung der Natur bemühte, erscheint dieser Blick als nötige konträre Erfahrung, um mit Odo Marquard zu sprechen, als „Kompensat der Versachlichung“. 498 Bereits bei Kosegarten, Zöllner und Humboldt machte sich die Hinwendung zum zentralen Meeresblick bemerkbar. 499 Ein Beispiel für die bewusste Annäherung, Verwirrung und gesteigerte Empfindung des Meeresblicks gibt 1795 Zöllner, sonst mit abgeklärt-nüchternem Tonfall seine Reise schildernd, beim Besuch der Stubbenkammer. Er wird zum überwältigenden inneren Erlebnis, das sich in seinem Rausch bis zur Todessehnsucht steigert und nur durch die Aufgliederung des Blickes überhaupt zu bewältigen ist. Zöllner kommt auf der Höhe des Felsen an: „Etwa hundert Fuß tief wird der Abgrund steiler, und die feste weiße Kreide liegt nackt zu Tage. [...] Diesem Thore [...] gegen über, hat Herr Pastor v. Willich oben auf dem Rande unter dem Schatten der Buchen eine Rasenbank angelegt, auf der man in sicherer Ruhe umher sehen kann. Man weis in der That nicht, wohin man sein Auge zuerst wenden soll. Man möchte alles auf einmal fassen und hat alle Besonnenheit nöthig, um nicht im ersten Entzücken immer weiter vorwärts in den steilen Abgrund hinunter zu gehen. Ich hatte mehrere Minuten im stummen Erstaunen das Ganze überschaut, ehe ich es über mich erhalten konnte, an die Zergliede- 496 Vgl. dazu Horst Auerbach: Die Leuchttürme am Kap Arkona. Berlin 2002. Die Zuschreibung an Schinkel als Architekt des Turmes ist bis heute ungesichert. 497 Nernst, Wanderungen, S. 3. 498 Marquard, Schwierigkeiten, S. 93. 499 Vgl. dazu Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 127ff. <?page no="131"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 130 rung des Einzelnen zu denken. Der Anblick dieser grotesken Gestalten der Kreidepfeiler, und der mannichfaltigen Gruppen von Bäumen und Gebirgsmassen umher würde an sich schon groß und erschütternd seyn; aber nun kommt noch etwas hinzu, was bei allen ähnlichen hohen Standpunkten, die ich jemals betrat, mangelte: das offene unübersehbare Meer, das sich bis an den Fu ß des schr offen Ufers ergießt, und mit seiner uner meßlichen , majestätischen Fl äche, das Gefühl der Unendlichkeit in der Seele weckt. Das Gefühl der Unendlichkeit, wodurch wir gleichsam über uns selbst erhoben werden, begleitet zwar überall den Anblick des Weltmeeres, so lange uns derselbe noch nicht alltäglich geworden ist; aber es kommt auch dabei ungemein viel auf den Standort an, von welchem man es sieht.“ 500 Zöllner ordnet diese Erfahrung sogleich in die seit Kant geläufige Vorstellung des Erhabenen ein: „Je höher man nämlich steht, eine desto größere Masse des furchtbaren Elements umspannt das Auge, und indem das Gemüth sich vergeblich bestrebt, dies ungeheure Bild in Eins zusammen zu fassen, schwebt die Phantasie mit desto mächtigerem Fluge in die Unbegränztheit hin! Hierzu kommt, dass man in dieser Höhe das Rauschen des tobenden Wellenschlags zu sehen glaubt, und es nicht hört, sich folglich desto sicherer, unverletzlicher dünkt [...] hoher Stand giebt Muth! “ 501 Besonders der erste Eindruck des hohen Blickes auf das Meer sollte lange emotionaler, die Sprache eliminierender Höhepunkt der Reise bleiben. Der Reisebegleiter und Freund Caspar David Friedrichs, Friedrich Gotthelf Kummer, berichtete von einer Wanderung mit Friedrich an die Rügensche Steilküste: „Diese Berge, Täler und Hügel, diese rastlos gebärende und verschlingende grüne Flut, wie sie mit düsterm Ernst zum fernsten Horizont aufsteigt, von solcher Höhe herab zum ersten Male zu schauen, gewährt einen Anblick, dessen Erhabenheit wohl empfunden, aber nicht geschildert werden kann.“ 502 Aber zurück zu Zöllners Bericht. Seine Schilderung des Meeresblicks gewinnt nicht nur wegen seiner den Leser überraschenden emotionalen Schilderung an Überzeugungskraft. Noch bevor er die Stubbenkammer besuchte, weckte er selbst Zweifel an einem unvoreingenommenen Eindruck der Landschaft. Der Stubbenkammerblick galt Zöllner zu jenem Zeitpunkt bereits als literarisiert und eine echte sinnliche Überraschung, die aus der völlig unerwarteten und plötzlichen Ansicht des Meeres resultierte, erschien in keinem Fall mehr möglich: 500 Zöllner, Reise, S. 265f. 501 Zöllner, Reise, S. 266. 502 Brief vom 11.8.1815, zit. nach Zschoche, Rügen, S. 82. <?page no="132"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 131 „Etliche hundert Schritte von dem Burgsee nordwestlich ist die berühmte Stubbenkammer, die man den Juwel der Insel Rügen nennen könnte. Ich wünschte in dem Augenblicke, dass ich nichts davon gehört oder gelesen hätte, und ganz unbefangen an diese zaubervolle Stelle gekommen wäre. Dieser Eindruck hätte außerordentlich seyn müssen! So viel ich indessen auch davon wußte, so sehr ward ich doch überrascht.“ 503 Gerade die Doppelbödigkeit der Empfindung - Kenntnis vom literarischen Topos zu haben und den damit einhergehenden Mangel an „natürlichen“ Empfindungen zu verspüren: und dann doch noch überwältigt zu werden, wurde bald zum Sujet des gebildeten Reisenden. Humboldt, skeptisch gegenüber dieser emotionalen Überwältigung, wurde trotzdem und fast wider Willen vom Blick von der Stubbenkammer in den Bann gezogen und kam dann in seiner Schilderung nicht ohne ins Erhabene gewendete religiöse Metaphern aus. Die Stubbenkammer nach anstrengender Wanderung erreichend, sah er sich plötzlich „am Rande einer schwindelerregenden Tiefe im vollen Anblick derselben. Zwei fünftehalbhundert Fuß hohe Kreidewände lagern sich in vielfachen Seulen einander gegen über, und in der Oefnung die sie bilden, liegt das Meer vor dem Auge in seiner unermeßlichen Größe da. Dies ist die Stubbenkammer. Es ist nicht möglich einen einfacheren und erhabeneren Anblick zu finden, eine bloße Oefnung ins Meer, aber die unendliche Ebene so frei und groß daliegend, und der Schauplatz, von dem man sie sieht so kühn und fest gegründet, so wunderbar gestaltet durch die Ecken und Winkel der Felsen, so abstechend von Farben mit den weißen Kreidewänden gegen das blaue Meer, und so freundlich und schauervoll heilig durch den grünen, schattichten Wald, aus dem man nur so eben hervortritt. Lange bleibt man bei diesem Anblick stehen.“ 504 Dieser Topos hat sich fest im Rügenbild verankert. Man kann heute diese Schilderung kaum lesen, ohne an Caspar David Friedrichs Bild „Kreidefelsen auf Rügen“ von 1818 zu denken. 503 Zöllner, Reise, S. 263. 504 Humboldt, Tagebuch, S. 36. Dieser Topos des die Seele erschütternden Anblicks zieht sich durch die Rügen-Literatur des 19. Jahrhunderts. Carl Gustav Carus formulierte in seinen Lebenserinnerungen diesen Augenblick während der Rügenreise 1819 so: „Hier gegen Abend verabschiedeten wir das leichte Bergensche Fuhrwerk und wanderten nun den Fußweg durch die grünen Laubgänge, indem von weitem schon das Rauschen des Meeres mit dem nahen Spiel des Windes in den Blättern sich mischte. Mit eins öffnet sich der Wald, wir stehen an den jäh abstürzenden Kreideklippen des Königsstuhls, junge Rotbuchen wehen mit ihren weit hinabhängenden Ästen über der tief unten brausenden Brandung, und in breiter Ausdehnung bis an die feine Linie des Horizonts dehnt sich der blaugraue Spiegel der Ostsee, während feiner Regen herabsprüht und unter fernem Donner ein Regenbogen östlich über der Wasserfläche sich auferbaut.“ Carus. Lebenserinnerungen, Bd. 1, S. 219. <?page no="133"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 132 Caspar David Friedrich, Kreidefelsen auf Rügen, 1818. In der gesamten Anlage der Landschaftsschilderungen ist auch bei Humboldt das Visuelle dominierend. Von einem erhöhten Standpunkt aus wird die umgebende Natur in einzelne Blickachsen zergliedert. Der Blick wird dabei immer stärker auf <?page no="134"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 133 den Meereshorizont fokussiert und gibt dem Raum das, was Jean Paul als „eine ins Schöne frei gelaßnen Phantasie“ 505 als Kennzeichen romantischer Landschaft definiert. Verstärkt wird dieser Eindruck, und darum gewann die Stubbenkammer so an Bedeutung, durch die Einrahmung des Blickfeldes durch die Felsen und Bäume, womit der freie Blick in die Ferne, auf den zwischen Himmel und Meer verschwimmenden Horizont, wie durch ein Fernglas fokussiert und verengt wird. Die empfundene Größe der Naturerscheinungen wird aber zunehmend geschmälert, sobald der exklusive Geschmack des Kenners sich inmitten einer Anzahl schlichter Gaffer wiederfindet. Mit der zunehmenden Popularisierung Rügens verlor der erhebende Meeresblick seine auserlesene Intimität. Eduard Devrient berichtete 1834 seiner Frau Therese enttäuscht von einem Sonnenuntergang, bei dem er außer „einer sehr schönen lila Färbung des Meeres [...] wenig Außerordentliches“ 506 gefunden habe. Nun hoffte er auf einen größeren Eindruck durch den Sonnenaufgang auf dem Leuchtturm von Arkona: „Um 3 Uhr versammelten wir uns auf der Galerie. Es waren noch bis 11 Uhr nachts Gäste gekommen, [...] ein Berliner Kaufmann mit seiner Schwiegermutter, seiner jungen Frau, die er kaum ansah, und die auch weder für die Sonne noch für ihren Mann Interesse zu haben schien, und ein älterer Herr, der laut und salbungsvoll die Naturschönheiten pries. Nach einer sehr zauberischen rötlichen Färbung des Meeres kam dann die Sonne in einem am Horizont auf der See lagernden Nebelstreifen, ohne Strahlen wie der Mond, doch rot, herauf. Das Erscheinen des ersten Stückchens der Scheibe ist wieder sehr plötzlich, wie mit einem Sprunge. Als sie den Nebelstreifen überstiegen, bekam sie Strahlen. Sieh, das hat wieder keinen großen Eindruck gemacht, vielleicht auch, weil es durch die ganze Welt zu sehr gepriesen wird.“ 507 Banale, sentimental-gefühlige Abhandlungen gefährdeten das elitäre Selbstgefühl und den pilgerhaften Ernst der bürgerlichen Reisepioniere, die so auch ihren „symbolischen Kampf um soziale Überlegenheit“ 508 führten. Dabei ist es die allerletzte Steigerung des Meeresblickes, wenn der Sonnenaufgang (und etwas weniger exponiert auch der Sonnenuntergang) den Meeresblick im Streit der Elemente noch einmal symbolisch auflädt. 509 Die schwelgerischen Schilderungen der Sonnenaufgänge am Meer waren schnell allgemeiner Bestandteil der 505 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, 1. Abt., Bd. 5, S. 87. 506 Devrient, Briefwechsel, Brief vom 22.7.1834, S. 26. 507 Devrient, Briefwechsel, Brief vom 22.7.1834, S. 27f. 508 Hennig, Reiselust, S. 18. 509 Auch der Sonnenaufgang wurde später Teil des medizinischen Konzepts der Seebäder. So schreibt die „Allgemeine Realencyclopädie oder Conversationslexikon für das katholische Deutschland“ unter dem Artikel „Seebad“, es wäre „schon das Wohnen an der See und die damit verbundenen herrlichen Schauspiele des Auf- und Unterganges der Sonne, des Sturms u.s.w. curiren.“ Ebd., Regensburg 1846, S. 774. <?page no="135"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 134 Raumkonstruktion an der Küste. In Reiseführern und privaten Aufzeichnungen gehörte er zum Standardrepertoire und führte dazu, dass der „gebildete“ Besucher, wie Eduard Devrient, der ehemals erhabenen und nun allzu profanen Erscheinung zwar nicht regungslos, aber doch mit einer gewissen Distanz gegenüber zu stehen begann. Heinrich Laube, wie Devrient auf Arkona den Sonnenaufgang erwartend, konnte den Lesern seiner „Reisenovellen“ einen verpassten Sonnenaufgang nur noch lakonisch schildern: „Wir schliefen gut, und als wir zum Sonnenaufgang geweckt wurden, war alles vorbei. Den Lesern wird hier die Beschreibung eines Sonnenaufganges erlassen, den sie in jedem leidlichen Roman nachlesen können.“ 510 Und am feinsten hat die Kritik an der romantisch-taumelnden Begeisterung des Meeres-Sonnenuntergangs wohl Heinrich Heine in seinen Neuen Gedichten auf den Punkt gebracht: „Das Fräulein stand am Meere/ Und seufzte lang und bang,/ Es rührte sie so sehre/ Der Sonnenuntergang./ Mein Fräulein! sein Sie munter,/ Das ist ein altes Stück; / Hier vorne geht sie unter/ Und kehrt von hinten zurück.“ 511 Trotz dieser elitären Kritik gehörten Sonnenauf- und -untergang zum festen Repertoire der Seereise, so dass der Baedeker 1846 für den Rügenbesuch empfahl: „Ein Sonnenunter- oder -aufgang vom Königsstuhl ist wunderbar anregend.“ 512 Das Repertoire des hohen Blickes mit seiner besonderen Fassung des Meeresblickes, setzte sich schnell für die gesamte Küste durch. In den Badeschriften der Ärzte wie in der Reiseliteratur wurden die vorhandenen Anhöhen, von denen man den Blick auf das Meer mit einem gewissen Höhenabstand zum Horizont gleiten lässt, zu den herausragenden Besucheraussichtspunkten. Vielfach entstanden hier kleine Restaurationen oder Ruhepunkte mit Sitzgelegenheiten, die selbstverständlich, so möglich, auf den Meereshorizont hin ausgerichtet waren. 513 Therese Devrient berichtete ihrem Mann aus Heringsdorf vom überwältigenden Eindruck des glücklich, weil einsam erlebten Naturschauspiels: „Mir ist, als wäre es das Majestätischste, was Gott geschaffen, diese unendliche Weite, auf der der Himmel so bekannt und vertraut ruht, die großen weißen Schaumwellen, die sich erst so wild überstürzen und dann ruhig ans Ufer schwimmen.“ 514 Bis in die Badeliteratur übernahm 510 Laube, Biedermeier, S. 380f. Die Reisenovellen erschienen zwischen 1833 und 1837. 511 Heine, Werke und Briefe, Bd. 1, Nr. 10, S. 240. 512 Handbuch für Reisende in Deutschland und dem Österreichischen Kaiserstaate, hg. von Karl Baedeker, Coblenz 1846, S. 498. 513 Vgl. Stierling für Travemünde: „Aus einer in ihrer Mitte oben auf dem Berge befindlichen Rotunde, so wie in den meisten Gängen, genießt das Auge einer durch Größe und Anmuth entzückenden Aussicht, und gerade hier ist es vorzüglich, wo theils der mit stillem Erstaunen erfüllende Anblick der majestätisch großen Natur, theils das Einathmen der köstlichen reinen Luft, Geist und Körper gleich wohlthätig werden.“ Stierling, Idee, S. 117. 514 Devrient, Briefwechsel, Brief vom 20.7.1834, S. 37. <?page no="136"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 135 man die ästhetischen und symbolisch aufgeladenen Vorgaben, um den Rang des Seebades zu demonstrieren. Dr. Johannes Christoph Schmiege aus Heringsdorf de mo nst rie rte d en Me erbl ick a ls Ab keh r vo m Allt ag un d Hi nw end ung zum T rans zendenten: „Immer neu und anziehend ist der Anblick des unbegränzten Horizontes, der immerwährenden wechselnden Färbung der ungeheueren ruhigen Wasserfläche, oder wie erhaben und erst bestimmt das bewegte und brausende Meer! Unmöglich kann an einem andern Kurorte, als im Seebad, die Aufmerksamkeit so entschieden vom Alltäglichen abgezogen und zu dem Allgewaltigen der Schöpfung hingeleitet werden. Nirgends anders wird der Kurgast so, wie hier, durch den Anblick der erhabensten und neuen Erscheinungen in immerwährendem Wechsel angenehmer Gemüthsbewegungen gehalten.“ 515 Kritisch führte der zum Kreis der Berliner Literaten gehörende Franz Freiherr von Gaudy (1800-1840), in der Erzählung „Der moderne Paris“ die ermüdende Vulgarisierung des Meerblickes vor. Die Intrigen und Kapriolen einer vornehmlich adeligen Badegesellschaft betrachtete Gaudy mit Ironie und Spürsinn für die Masken gelangweilter Pflicht-Gucker. Swinemünde und Heringsdorf dienten dabei als Hintergrund, der Kontrast zwischen reizvoller, „echter“ Natur und den bereits der ästhetischen Konvention folgenden Mitgliedern der Badegesellschaft betonten den Konflikt. Gaudys Intention ist deutlich: Der Raum bietet derart sprechende Vorteile, dass die trivialen, „falschen“ Badegäste durch ihre Intrigen den Reiz der idealen Landschaft erhöhen, indem sie gleichzeitig die Berechtigung verlieren, Zuschauer dieses Naturschauspiels zu sein. Die Besucher, am Abhang mit Blick zum Meer stehend, verfolgten das „großartige Schauspiel“ eines Seglers auf dem Meer bei untergehender Sonne, „nach besten Kräften mit mark- und seelenlosen Ausrufungen und banalen Bewunderungsfloskeln“. 516 Und um den rechten Blick zu finden, bediente man sich hier bereits des Perspektivenwechsels in der Nachahmung eines nicht vorhandenen Bilderrahmens: „Die Herren schauten mit dem Kopf durch ihre gespreizten Beine auf das Meer, um durch die verkehrte Richtung der Pupille eine neue überraschende Ansicht zu gewinnen. Ein ältlicher Berliner Rentier, zu dergleichen Leibesübungen durch seine Corpulenz unfähig, begnügte sich damit, seinem auf der Bank stehenden Gefährten durch die geöffneten Beine zu gucken, in der Voraussetzung, ein Piedestal sei so gut als das andere.“ 515 Schmiege, Heringsdorf, S. 65. 516 Gaudy schilderte die Landschaft als Raum von Wahrhaftigkeit und Klarheit, er rühmte den „ewig neuen Anblick der unermeßlichen Meeresfläche“, die „träumende See“ und „feuchte Wüste“, wogegen die Badegäste grotesk und gestellt erschienen: Der Blick durch die Beine schuf der Gesellschaft einen Bilderrahmen, womit die Natur, in Nachahmung des gemalten Vorbildes, erst genießbar wurde. (Gaudy, Der moderne Paris, S. 134f). <?page no="137"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 136 Die Einrahmung des Blickes wie in einem Bilderrahmen diente als Filter, genauer dem Willen zur Ordnung der Landschaft und ihrer Überschaubarkeit. Gleich der Systematisierung von Flora und Fauna wurde die unüberschaubare und den Einzelnen überwältigende Erfahrung klassifiziert, verstärkt und zugänglich gemacht. Gerade im Blick auf die scheinbar unendliche Weite des Meeres sollten verschiedene einschränkende Zugriffe schnell populär werden. Bis in die Architektur der Seebäder hinein wirkte sich der Meerblick aus. Repräsentative Bauten entstanden, wenn möglich, mit Blick auf das Meer. Wer diesen vorweisen konnte, demonstrierte damit mehr als nur sein ästhetisches Bewusstsein. Eindeutig, etwa so wie Häuser am Marktplatz auf diesen ausgerichtet sind, orientierte sich die erste Reihe der neu errichteten Häuser an den Promenaden der Seebäder nach der Meereslinie. Und auch bei den Bauten der Badeanstalten schätzte man den Meeresblick. Dr. Stierling, Badearzt in Travemünde, rühmt das neue Gesellschaftshaus des Seebades, denn von „hier aus, so wie von allen Zimmern, genießt man der freiesten Aussicht nach dem offenen Meere“. 517 Das der „hohe Blick“ ein bereits bekanntes Phänomen war und auf den Blick von hohen Bergen hinab wie bei den Alpen verweist, verwundert nicht. Es finden sich wiederholt Zeugnisse, die auf die empfundene naturräumliche Ähnlichkeit Rügens, aber auch anderer Küstengegenden verweisen. Danach hätten diese eher hügeligen Gegenden, „wie wenigstens ein Norddeutscher sich ausdrücken kann, etwas Schweitzerisches“. 518 Für Pfarrer Frank stützte sich dieser Vergleich auf die Tatsache, dass Rügen das Überbleibsel eines in Vorzeiten riesigen Gebirges ist, wo jetzt nur noch die „Trümmer und Bruchstücke einer ungeheuren Felsmasse sind, die einst als kolossales Gebirge hier in der Nähe, sey es, wo es sey, gethront haben“. 519 Ein Bild wie Caspar David Friedrichs heute verschollene Sepia „Stubbenkammer“ 520 von 1803 verdeutlicht hier die ungeheure Faszination eines kreideweißen, alpin anmutenden Gebirgszuges, wie er erhaben in die weite Fläche des Meeres ragt. 521 Bei Joseph von Eichendorff wurde in „Der Glückliche“ diese Gegenüberstellung von Gebirge und Meer zur Metapher für die ungeheure Spannung und zugleich Erfüllung des menschlichen Seins schlechthin: „Wie vom Gebirge ins Meer zu schauen,/ Wie wenn der Seefalk, hangend im Blauen,/ Zuruft der dämmernden Erd, wo sie 517 Stierling, Ideen, S. 116. 518 Raumer, Wollin, S. 372. Vgl. dazu auch Schneider, Reisegesellschafter, S. VI; Nernst, Rügen, S. 142; Humboldt, Tagebuch, S. 50. 519 Frank, Denkmäler, S. 38. 520 Sepia, 64 x 94, Werkverzeichnisnummer 90 nach Bösch-Supan. In: Ders.: Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphiken, München 1973. 521 Vgl. zu dieser Sepia Zschoche, Rügen, S. 40. <?page no="138"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 137 blieb? / -So unermeßlich ist rechte Lieb! “ 522 Die Bedeutung dieses Blickes war dabei immer auch existentiell aufgeladen. Der immer wieder mit heiligem Schauer und Todesmetaphern beschriebene Blick von der einsamen Höhe der Stubbenkammer auf das Meer fand dann seine makabre Verwirklichung, wenn den Sturz in diese Tiefe ein „Verzweifelter wirklich ausführt“. 523 Kosegartens Lyrik und die anschwellende Flut von Reiseberichten haben Rügen ins Bewusstsein einer interessierten Öffentlichkeit gebracht. Berühmt gemacht hat die Insel Caspar David Friedrich. Bis heute sind seine Rügenbilder Teil des nationalen Gedächtnisses. Friedrich, 1774 im nahen Greifswald geboren, besuchte wiederholt Rügen. 524 Fußend auf seinen Wanderungen über die Insel und den dabei geschaffenen Skizzen, 525 entstand eine Vielzahl an Bildern unterschiedlichster Ausführungsweise, so dass letztlich die Rügensche Küste „eine hervorragende Stellung“ 526 in seinem Gesamtwerk einnimmt. Alle bereits markierten, für die Konstruktion der Insel wichtigen Punkte wurden bereits von Friedrich hervorgehoben, 527 zu allererst die Stubbenkammer und Arkona, die als Motive für viele Sepien und Gemälde dienten, 528 die Insel damit bildhaft in die Öffentlichkeit trugen - und Friedrich sein Auskommen sicherten. 529 Diese Motive sind es auch, die bald und zahlreich kopiert wurden. 530 Daneben zeichnete Friedrich aber auch die Perspektive vom Rugard, nach Mönchgut, die benachbarte kleine Insel Vilm und ebenso die Hünengräber, Fischerhäuser und Mönchguter in ihren Trachten sowie Artefakte aus der Sammlung des Pfarrers Frank. 531 522 Eichendorff, Gedichte, Bd. 1, 1847, S. 206. 523 Boll, Rügen, S. 50. 524 Nachgewiesen sind Aufenthalte in den Jahren 1801, 1802, 1806, 1815, 1818, 1826, vgl. Börsch- Supan, Caspar David Friedrich, S. 65f. Zschoche, Rügen. 525 Die ersten erhaltenen Skizzen stammen von seiner ersten Rügenreise aus dem Jahr 1801. Vgl. Zschoche, Rügen, S. 17. 526 Holsten, Friedrichs Bildthemen, S. 30. 527 Vgl. zu Friedrichs Rügenbilder u.a. Zschoche, Rügen, S. 45ff.; Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 110ff.; Zacharias Kyllikki: Landschaften. In: Caspar David Friedrich. Die Erfindung der Romantik. Ausstellungskatalog, Essen/ Hamburg 2007, S. 195-222. 528 Holsten verweist zum einen auf die bereits bestehende Tradition der Küstenbilder und betont zugleich Friedrichs sich entwickelnde eigenständige Ausformung dieser Art der Landschaftsmalerei. Vgl. Holsten, Friedrichs Bildthemen, S. 30f. 529 Erste Besitzer dieser frühen Sepien waren u.a. Graf Wilhelm Malte von Putbus, Philipp Otto Runge, Kosegarten und Prinzessin Marianne von Preußen. In Berlin wie in Dresden fanden früh viel beachtete Ausstellungen mit Friedrichs Rügenbildern statt. Vgl. Zschoche, Rügen, S. 32ff. 1810 kaufte die preußische Krone die berühmten Gemälde „Mönche am Meer“ und „Abtei im Eichwald“, zwei Jahre später noch weitere Bilder Friedrichs. In den 1820er Jahren folgten Verkäufe an das russische Zarenhaus. 530 Zschoche, Rügen, S. 37ff. 531 Zschoche, Rügen, S. 46ff. <?page no="139"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 138 Friedrichs Bilder dienen seither zur Illustration der Rügenschen Ideal-Natur. Wilhelm Müller (1794-1827), bekannt geworden als Unterstützer der Griechen in ihrem Unabhängigkeitskampf und seitdem mit dem Namen „Griechen-Müller“ versehen, zudem berühmt mit seiner „Winterreise“ als Vorlage für Franz Schuberts Liederzyklus, besuchte zur Genesung 1825 Rügen. 532 Auch hier war er fleißig und verfasste die Sammlung „Muscheln von der Insel Rügen“, 15 kurze Gedichte, vor allem über die Küstennatur und die Eigenheiten seiner Bewohner. Sein Zyklus bietet damit das Repertoire der Zeit - Natur, vor allem die Tierwelt der Küste („Muscheln“, „Die Mewe“, „Der Seehund“), Petrefakte („Der Feuerstein“, „Eiersteine“), geheimnisumwitterte Geschichte („Das Hünengrab“) und Sagenwelt („Vineta“), um schließlich die schon erwähnten exotischen Bräuche und Trachten der Bewohner Mönchguts vorzuführen („Einkleidung - Mönkgut“, „Bräutigamswahl“, „Die Braut“). 533 Müller selbst hätte seinen Zyklus gerne mit den Rügen-Sepia von Caspar David Friedrich ausgestattet. 534 Zurück zu Caspar David Friedrich: Dominierend blieben auch bei Friedrichs Themenauswahl die peripheren Lagen der Insel. Der schroffe Gegensatz der Steilküste mit dem spiegelglatten, in der Ferne sich verlierenden Meer bilden den Rahmen für die symbolisch stark aufgeladenen Bilder Friedrichs. Landschaft wird poetisiert, im Sinne eines Hervorbringens, und wird tendenziell transzendiert. Die von Friedrich erschaffenen Bildkompositionen setzten so den Naturraum Rügens zu einem artifiziellen Sehnsuchtsgebilde zusammen. In der Verschmelzung von erhabener Bergwelt mit dem Ozean, von schneeweißen Kreidefelsen mit dem tiefblauem Meer, wurde die Steilküste Rügens zum Fixpunkt romantisch-fantastischer Landschaftsproduktion. Bereits ein knappes Jahrhundert vor Friedrich hatte Jakob Philipp Hackert die Stubbenkammer gezeichnet, blieb aber in der vedutenhaften Darstellung und dem Bemühen um eine klassische Umsetzung barocker Landschaftskompositionen „in traditionellen ästhetischen Strategien“ verhaftet und bildet, so Schieb/ Wedekind, daher im Vergleich zu Friedrich nur die „Vorgeschichte“ der „visuellen Mythifizierung“ 535 Rügens. Friedrich erweiterte die materialen Versatzstücke der Insel um eine transzendete Landschaftsdeutung. Der Horizont, Schiffe, Lichtspiegelungen wurden zu Hinweisen auf die mit der Aufklärung verloren gegangene göttliche Umwölbung des Seins. Mit dieser Transformation gelang es Friedrich schließlich, für die Küste eine neue Raumdeutung zu popularisieren. 532 Vgl. dazu Borries, Müller, S. 245. 533 Wilhelm Müller: Lyrische Reisen und epigrammatische Spaziergänge, Leipzig 1827. 534 Borries, Müller, S. 245. 535 Schieb/ Wedekind, Rügen, S. 110. <?page no="140"?> 2.4 Die Insel Rügen, oder: Die Schule des neuen Blicks 139 Aber nicht nur der künstlerische Umgang der romantischen Malergeneration mit dem Meer war ein neuer. Ebenso wie später Schinkel 536 bekannte Friedrich gerne, in Rügen nicht nur die Landschaft gezeichnet zu haben, sondern auch „zu öftern sich in die grünlichen Fluthen getaucht“ 537 zu haben. 536 Im Brief Schinkels an Philipp Otto Runge vom 11.7.1820 heißt es zu seinem Rügenaufenthalt: „Die dort von mir gebrauchten Seebäder sind mir vortrefflich bekommen, und wenn ich so fortfahre, mich wohl zu befinden, so werden Sie mich [wiedersehen] wie einen Zigeuner braun […].“ In: Schinkel, Briefe, S. 103. 537 Brief Friedrichs an Louise Seidler vom 18.10.1815. In: Friedrich, Briefe, S. 99. <?page no="141"?> 2 Präformation - Voraussetzungen 140 Zwischenresümee I Zwei Dinge, so lässt sich das bisher gesagte zusammenfassen, waren vonnöten, um aus dem Strandraum einen Kurraum gestalten zu können. Da wäre zum einen die physische Komponente der südlichen Ostseeküste. Auf diesem Grenzgebiet zwischen Land und Meer ermöglichten es die spezifischen geologischen Voraussetzungen, vor allem die für den Badebesuch günstigen feinkörnigen Sandstrände, dazu das milde Klima mit einer relativ ruhigen See, nicht nur ein Bad im Meer zu nehmen, sondern bis dicht an das Wasser heran Kuranlagen zu errichten. Aus therapeutischer Sicht waren ebenso Wälder, die wegen des geringen Salzgehaltes der Ostsee bis dicht an die Wassergrenze wuchsen, geeignet, den Kurraum um das Instrument heilsamer Waldluft zu ergänzen. Ohne diese spezifischen geologischen Eigenheiten der südlichen Osteeküste hätte sich das Ostseebad nicht zum prägenden Phänomen dieser Landschaft entwickeln können. Auf diese materiale Struktur baute die intellektuelle Aneignung des Küstenraumes ab dem frühen 18. Jahrhundert auf. Diese ist nicht einfach als konkrete, geografisch eindeutig zu lokalisierende Entität zu fassen, vielmehr näherte man sich den nördlichen Küsten von zwei Hauptrichtungen. Zum einen war da die Wiederentdeckung des Wassers, besonders des kalten Wassers, als Therapeutikum. Dabei wurden dem kalten Wasser nicht nur physische Stärkung und Reinigungskraft zugeschrieben, es diente zudem in seiner asketischen Ausrichtung als symbolische, aufklärerische Speerspitze gegen adelig-höfische Lebenswelten. Zum zweiten gewann die ästhetische Aneignung des „wilden Nordens“ eine Dynamik, die das arkadische Landschaftsideal wanken ließ. Schlagwortartig heißt das: Die Theologie bereitete mit einer verstärkten schöpfungstheologischen Ausrichtung einem positiven Naturbild Vorschub, die aufklärerische Philosophie emanzipierte und befreite die Naturdeutung von mythologischen Erklärungsmustern, die empfindsame Literatur bereitete die Natur als emotionales Spiegelbild des modernen Menschen vor. Und schließlich machte die romantische Malerei daraus eine bis heute wirksame Melange aus Empfindung, Landschaftskult, Sehnsucht nach Ferne und Wildheit. Aus diesen Hauptindigrienzien, geologischer Verfasstheit und kultureller Zuschreibung, entstand schließlich eine kognitive Landkarte der Ostseeküste, die einen vormals als uninteressant und gefährlich geltenden Naturraum mit tendenziell sakral aufgeladenen Sehnsuchtsmetaphern beschrieb und damit die Voraussetzung für eine reale Erkundung schuf. Der Strandraum als Heilraum war infolgedessen ein Kind sowohl geologisch realer Strukturen als auch der intellektuellen Neubeschreibung spezifischer Naturräume im 18. Jahrhundert. <?page no="142"?> 141 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades Als der Weg einer mentalen Aneignung des Raumes erst einmal beschritten war, als durch die Literatur der neue Raum erst einmal begehbar und interessant geworden war, sollte seine reale Aneignung nicht mehr lange auf sich warten lassen. Während der Strom der Rügen-Besucher um 1800 immer breiter wurde, entstand nur unweit der romantischen Insel ein völlig neues Siedlungsphänomen direkt an der Küste: das Seebad. Als 1793 in Doberan-Heiligendamm das erste Mal „offiziell“ in einem deutschen Seebad im Meer gebadet wurde, war der Übergang von der sakralen zur ästhetischen und schließlich medikalen Wahrnehmung des Raumes vollzogen, ohne dass die neue Beschreibung des Raumes der ästhetischen Konfiguration zuwiderlief oder diese gar verdrängte. Poiniert gesprochen wurde der Heilsraum damit zum Heilraum. Ärzte predigten nun Gesundheit in der schönen Natur. Aber, und das soll in diesem Kapitel gezeigt werden, mit der medikalen Interpretation des Küstenraumes gewann dieser eine zusätzliche, neue Ebene, die noch weit stärker als theoretische Reflexionen um das Landschafts-Erhabene und die visuelle Eroberung des Raumes auf eine völlig neue Körpererfahrung hinzielte, nämlich auf das Baden in der See. Dieser Prozess war zudem verbunden mit anderen Akteuren und neuen Verhaltenspraktiken. Nicht mehr Dichter und Reiseschriftsteller bestimmten diesen Prozess, sondern in herausragender Weise die neue Kaste der See-Badeärzte. Mit ihnen hielten medizinische Vorstellungen Einzug, die den Küstenraum vorrangig als Rekreationsraum definierten. Die ästhetische Bestimmung des Meeres blieb nicht länger die allein mögliche. Neben die romantischen Sehnsuchtsbilder trat nun die Vorstellung einer physisch wirksamen, heilenden Natur. Jetzt wurde die kalte, tobende See nicht mehr philosophisch als Möglichkeit einer vernünftigen Beherrschung der überwältigten Sinne begriffen, sondern durch das Baden in der See unmittelbar und sinnlich erfahren. 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes Um dieses mit der ästhetischen Funktion konkurrierende Modell der medikalen Beschreibung der Landschaft zu begreifen, ist es nicht nur notwendig, die vorausgehende sakrale und literarische Umdeutung der Landschaft nachzuvollziehen, sondern auch die Voraussetzungen für die medikale Raumaneignung in den Blick zu nehmen. Dafür bedarf es zum einen der Analyse zeitgenössischer Krankheits- und Körpervorstellungen, die von sozialen Strukturen und kulturellen Deutungsmustern <?page no="143"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 142 geprägt waren. Ferner ist der Frage nachzugehen, in welchem Umfang u.a. die Badeärzte in der Lage waren, diese Bilder auf den neuen Raum des Seebades zu übertragen und wirksam umzusetzen. Denn die Gründung der Ostseebäder fiel für die Mediziner in eine ungünstige Zeit. Auch die Medizin machte sich zum ausgehenden 18. Jahrhundert auf den Weg, eine neue, effektive Art der Empirik als Leitstern zukünftiger naturwissenschaftlicher Forschung zu etablieren. Dagegen mussten sich die wenigen Ärzte der Seebäder auf ein traditionelles Heilmittel - Wasser - einlassen. Und sie versuchten, nicht ohne Erfolg aber auch nicht ohne Widerspruch, das Dilemma zu meistern, einen modernen, neuen Typ von Badeort zu kreieren und gleichzeitig traditionelle medizinische Praktiken anzuwenden. 538 Als herausragender Protagonist der ersten deutschen Seebadgründung fungierte der Rostocker Medizinprofessor und Leibarzt des Herzogs von Mecklenburg- Schwerin, Prof. Samuel Gottlieb Vogel (1750-1837). Als Mediziner, der sich um die Entstehung und Ausgestaltung eines Seebades bemühte, blieb Vogel zwar kein Einzelfall, doch begründete er auf vielfältige Weise die ärztliche Rolle im Prozess der Medikalisierung der Küste. Vor allem seine Publikationen, in denen sich zeittypische Patientenberichte mischen mit Beschreibungen der Badeanlagen und den gesellschaftlichen Vergnügungen, wurden beispielhaft für die deutsche Seebäderliteratur.Vogel und seine Kollegen standen dabei inmitten der medizinischen Diskurse des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Nach dem Erfolg mechanistischer Körpervorstellungen seit dem 17. Jahrhundert tauchten nun zunehmend Zweifel auf, in welchem Umfang mit diesem Modell die Fülle des menschlichen Lebens beschrieben werden könne. So entstanden, neben der immer noch weit verbreiteten antiken Lehre von den Lebenssäften (Humoralpathologie), vitalistische Lebensmodelle, die die Verbindung zwischen Physis und Psyche mit nicht eindeutig zu identifizierenden „Lebenskräften“ zu erklären suchten. Immer stärker veränderten neue Körpervorstellungen, die mit naturwissenschaftlichen Modellen aus der Physik, Chemie und Anatomie arbeiteten, die Wahrnehmung und Interpretation von Krankheiten und deren Behandlung. Neue Heilverfahren wurden angewandt, wobei diese sich noch lange lediglich in einem Umfeld 538 „Im Laufe des 19. Jahrhunderts verändern sich die Medizin und die Stellung von Arzt und Patient grundlegend. Durch den Einbezug der Naturwissenschaften, von Physik und Chemie und mit der Anwendung quantifizierender Methoden in Physiologie und Pathologie wird die populäre Säftelehre abgelöst und durch ein System der Krankheitserklärung und -behandlung, das den allermeisten Patienten fremd und unverständlich ist. Der Arzt seinerseits löst sich aus der Abhängigkeit verwirrlicher Patientenangaben, indem er in zunehmendem Mass eine objektivierende Diagnostik einsetzt. [...] Alle diese Entwicklungen, die mit einschneidenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen einhergehen, vermindern die früher bestehende relative Autonomie des Kranken.“ Boschung, Patienten, S. 18. <?page no="144"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 143 mit heute obskur anmutenden Praktiken wie dem Magnetismus und traditionellen Verfahren wie dem Aderlass u.ä. wiederfanden. Zu fragen ist also, wie man sich in di ese m Umfel d im ausge hen den 18. Jah rhu nder t Kra nkhei t 539 und Heilung vorstellte, welche sozialen Konstruktionen dabei eine Rolle spielten und wo hier der Platz für die neue Kurform des Seebades war. Zu den Errungenschaften des 18. Jahrhunderts zählt die Wiederentdeckung des kalten Wassers als Reinigungs- und Therapieinstrument. Mit der bis dahin verbreiteten Ablehnung des kalten Wassers, zumal im Sinne eines Ganzkörperbades, hätte die Meereskur kaum Akzeptanz gefunden. Daneben sprachen die Mediziner auch der Seeluft in wachsendem Maße eine besonders heilsame Wirkung zu. Mit den beständig wehenden Seewinden wurden die gefürchteten Miasmen vertrieben, die man für eine Vielzahl von Krankheiten verantwortlich machte. Die Einführung der heilsamen Seeluft in den medizinischen Diskurs wurde wichtiger, da mit diesem Therapeutikum der Heilraum auf den gesamten Küstenstreifen ausgeweitet wurde. Neben dem Bad in der See wurden während sowohl der Strand wie auch das nahe Hinterland Teil des neu konzipierten Heilraumes. Damit wurde bereits hier die Grundlage für die spätere Promenadenkur gelegt, die den Spaziergang zum Therapieinstrument erklärte. Mit dieser Ausweitung des medizinisch begründeten Heilraumes wurde mehr als eine bloß symbolische Besetzung des Raumes vollzogen. Sowohl die Badeanlagen als auch die Räumlichkeiten für geselliges Miteinander, Unterkunft und Verpflegung gehören zum Gesamtensemble des Seebades und entziehen dieses damit einer allgemeinen Verfügbarkeit. Das Seebad ist ein exklusiver Raum. Es wird nach außen hin abgegrenzt, indem nur Mitglieder der Badegesellschaft hier Zugang haben. Mit dieser Abgrenzung nach außen findet zugleich die Integration dieser nur auf kurze Zeit miteinander verbundenen Gesellschaft statt. Die Badegesellschaft ist so über den begrenzten Raum und den Status als Kurgast eine miteinander verbundene soziale Gemeinschaft. Andererseits bleiben auch innerhalb dieser Gruppe vorhandene Differenzen, etwa bezüglich des sozialen Status und des Geschlechts bestehen. So wurden die Badeanlagen räumlich nach den Geschlechtern separiert, zudem fand häufig eine weitere Trennung innerhalb der Badeanstalt für die Mitglieder verschiedener sozialer Schichten statt. Diese medizinisch begründete Raumkonstruktion ist für die Entstehungsphase der Seebäder von herausragender Bedeutung, denn erst sie ermöglichte unkonventi- 539 Hier nach Hans-Georg Hofer verstanden als „eine Wissensformation [...] die in einem bestimmten historischen Kontext konstruiert und unter bestimmten Bedingungen wirkmächtig wurde“. Hofer, Nerven, S. 225. <?page no="145"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 144 onelle Verhaltensformen der Badegäste und trägt damit bis heute wesentlich zur Popularität der Seebäder bei. Voraussetzung für diese Umgestaltung ist die symbolische Bedeutung der Küste, die auf deren materialer Struktur basiert. Mit dem Eintauchen des ganzen Körpers in das Meer machte der Badegast eine völlig neue Körpererfahrung, wie sie weder in Flüssen noch in den binnenländischen Bädern möglich ist. Vor allem für Frauen, die einer strengen sozialen Kontrolle unterlagen, muss das Bad in der offenen See eine äußerst ungewöhnliche Erfahrung gewesen sein. Dazu ermöglichte es die Vorstellung einer „leeren“, kulturell nicht besetzten Küstenlandschaft, die auch mit der ästhetischen Zuschreibung noch keine materielle Gestalt gewonnen hatte (da diese von der „reinen“ Landschaft lebt), mit den Gebäuden der Seebäder diesen Raum als Kurraum festzuschreiben. Durch die Badeanlagen, die direkt am Wasser liegen oder sogar bis ins Wasser reichen, wurde dem Raum zwischen Land und Meer eine neue Funktion und Bedeutung zugewiesen. Diese Konstruktion erfolgte, so die These, indem die Ärzte in ihrer durch den Staat legitimierten ordnungspolitischen Funktion und aufbauend auf die forschend oder ästhetisch motivierten Reisenden, den Raum für das Badepublikum und damit für die Öffentlichkeit zu erschließen begannen. Indem ihnen mit dem öffentlichen Seebad ein Raum gegeben wurde, in dem sie hier Patienten behandelten, wurde dieser Raum, ähnlich dem Krankenhaus, zu einem sozialen Ausnahmeraum. Da der Kurgast hier eben nicht seinen Alltagsgeschäften nachgeht, auch nicht nachgehen kann und soll, vielmehr für den Kurzeitraum sich der besonderen Unterstützung durch einen Arzt versichert, ist er für diesen Zeitraum gleichsam aus der gesellschaftlichen Kontrolle in diesen Schutzraum entlassen. Das äußert sich beispielsweise in dem zugleich reglementierten und dennoch nicht nach den gewohnten sozialen Regeln vollzogenen Tagesablauf. Einerseits besteht dieser aus den praktischen Kuranwendungen, die mit ungewohnten Körpererfahrungen verbunden sind, andererseits lässt er viel Freiraum für private Beschäftigung. Dabei war es das Anliegen von Ärzten und Badedirektionen, innerhalb der Badegesellschaft einen von höfischem Standesdünkel freien Kommunikationsraum zu etablieren. Aufregungen und große Anstrengungen galten als schädlich für den Kurerfolg und rechtfertigten so die Rede von der „Badefreiheit“, die sich besonders in einem freieren körperlichen Verhalten äußerte. 540 Erst mit der Einstellung von Badeärzten und deren therapeutischer Invasion konnte sich im Seebad als Kurort ein eigenständiger sozialer Freiraum etablieren, da in der Krankheit „der Mensch repräsentativ zum Patienten wird“. 541 So wurde das Seebad als Raum de- und rekon- 540 Vgl. dazu Kap. 3.3. 541 Marquard, Der angeklagte und entlastete Mensch, S. 54. <?page no="146"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 145 textualisiert - durch die Entlastung des Alltagsanspruches entstand ein gesellschaftlich akzeptierter Freiraum. 542 Unter diesem Vorzeichen kann die Eingangsfrage der vorliegenden Arbeit spezifiziert und erweitert werden, nämlich: Welche Rolle spielten die Ärzte für das funktionierende Seebad, wie prägte die medizinische Praxis diesen Raum, und wie reagierten die Kurgäste auf die ordnungspolitisch motivierte Medikalisierung des Seebades? Ein weiterer, damit verbundener Fragekomplex ist mit dem Problem verbunden, in welchem Maße sich an diesem exzentrischen Ort Körpervorstellungen manifestierten, veränderten, zur Sprache kamen. Die öffentliche Zurschaustellung des eigenen Körpers war es schließlich, die das Seebad zu einem herausragenden Ort körperlicher Repräsentation machte. Öffentlicher Raum und der private Körper trafen hier aufeinander und es ist daher zu fragen, in welchem Maße sich ein zeitgenössischer, sozial-, geschlechts- und alterspezifischer Ausdruck als „kulturelle Plastizität körperlicher Ausdrucksformen“ 543 feststellen und analysieren lässt. 3.1.1 Medizinische Körperwelten Die Ärzte der Seebäder bewegten sich inmitten der zeitgenössischen medizinischen Diskurse. Da sie für die Etablierung des Seebades von entscheidender Bedeutung waren, werden auch die zeitgenössischen Körperbilder und die Fragen nach Gesundheit und Krankheit bedeutsam für die Erforschung des Phänomens Seebad. So ist zu fragen, in welcher Form es der ärztliche Diskurs über Körperbilder, über Krankheit und Heilung vermochte, das Seebad als herausragenden Heilraum zu konstruieren. In welchem Umfang drang die Medizin überhaupt in diesen Raum vor, und unter welchen Voraussetzungen vermochte sie ihn als Heilraum zu besetzen? Welche Rolle spielte dabei die im 18. Jahrhundert wiederentdeckte Rolle des Wassers, vor allem des kalten, als Heilmittel? Gängige Körpervorstellungen der akademischen Medizin des ausgehenden 18. Jahrhunderts spielten hierbei, das ist in der Folge zu zeigen, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Grundlegende Aufgabe der Medizin der Aufklärung war die Lösung vom christlichen Wohltätigkeitsgedanken hin zu einer „materiellen wie geistigen Verbesserung der menschlichen Existenz mit Hilfe der Vernunft“. 544 Herausgelöst aus dem christlichen Begriff des „Einen“ Menschen stellte sich als zentrale Frage das Problem der Verbindung eines nach mechanistischem Muster funktionierenden Körpermodells mit 542 Vgl. Freidson, Ärztestand, S. 190. 543 Sarasin/ Tanner: Physiologie, S. 15. 544 Luyendijk-Elshout, Medizin, S. 448. <?page no="147"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 146 der Frage nach der „Beseelung“ des Organismus, abseits der bloßen mechanischen „Körpermaschine“. Im 18. Jahrhundert entstanden verschiedene Theorien, die die neuen, vor allem aus den aufstrebenden naturwissenschaftlichen Fächern Physik und Chemie gewonnenen Erkenntnisse auf die Funktion des menschlichen Körpers zu übertragen suchten. Traditionelle Vorstellungen von der Funktion des Körpers, wie die bis in das 19. Jahrhundert hineinreichende und weit verbreitete, bereits auf antiken Modellen fußende Lehre von der Harmonie der Körpersäfte (die sogenannte Humoralpathologie 545 ), verloren angesichts der zunehmenden naturwissenschaftlichen Forschung zusehends an Einfluss, ohne freilich gänzlich zu verschwinden. Trotz zahlreicher naturwissenschaftlicher Entdeckungen konnte sich die Medizin nur langsam „aus dem Boden jahrhundertelanger philosophischer Verankerungen“ lösen und „war damit nicht auch schon mit einem Schlage Wissenschaft im modernen, methodologisch präzis explizierbaren Sinn mit einer theoretischen Grundlage eigener spekulationsfreier Prinzipien“. 546 Trotz der revolutionären Erkenntnisse der Zellularpathologie und vieler praktischer Verbesserungen wirkte sich der überwältigende Fortschritt der naturwissenschaftlichen Medizin in breiter Form nur zögerlich aus. 547 Bestimmend, vor allem für die an den Universitäten gelehrte Medizin, blieb vorerst die in der Neuzeit entwickelte Konzeption des menschlichen Körpers. In der Nachfolge von René Descartes (1596-1650) und Christian Wolff (1679- 1754), die in ihren einflussreichen philosophischen Systemen den menschlichen Körper und die menschliche Vernunft separierten und damit auch die Leidenschaften als der Vernunft gegenübergestellt sahen, hatte man den Körper in den kausalmechanischen Nexus der Newtonschen Mechanik gesteckt und erwartete demgemäß nach der Erforschung der Naturgesetze deren logische Abfolge auch in der Körpermechanik. „Durch diese auf die Methodik naturwissenschaftlicher Epistemologie begrenzte Erkenntnisfrage ist ,der Körper’ zum Forschungsobjekt der Medizin gewor- 545 Herders-Conversations-Lexikon von 1854 definierte die Humoralpathologie als traditionelle, durch moderne Mittel gleichwohl bestätigte Theorie: „Humoralpathologie, Humorismus, medicin. Theorie, welche die Entstehung der Krankheiten aus Fehlern der Säfte erklärt, wohl die älteste Anschauungsu. Erklärungsweise, später in ein förml. System gekleidet, wobei man, entsprechend den 4 Elementen, 4 Hauptsäfte (humores) im Körper annahm: Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle; aus Fehlern in Menge und Mischung derselben entspringen die Krankheiten. Die neueste Medicin hat durch genaue Untersuchungen in gewissen Krankheiten ganz bestimmte Mischungsfehler der Säfte aufgefunden, z.B. Eiter, Zucker, Harnstoff, Harnsäure etc. im Blute.“ Ebd., Bd. 3, S. 368. 546 Ströker, Elisabeth: Natur und ihre Wissenschaft in der Philosophie des 19. Jahrhunderts. In: Lothar Schäfer/ Elisabeth Ströker (Hg.): Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft, Technik. München 1995, S. 255-292, hier S. 257. 547 Vgl. auch Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 141. <?page no="148"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 147 den.“ 548 Ansätze dieser Entwicklung lassen sich schon bei dem an der Universität Halle lehrenden Friedrich Hoffmann (1660-1742) ausmachen. Der Leibarzt des preußischen Königs Friedrich I., einer der meistgelesenen medizinischen Autoren des 18. Jahrhunderts, präsentierte in seiner „Fundamenta medicinae“ (1695) die Vorstellung eines umfassenden chemisch-mechanistischen Systems, das den Körper als hydraulische Maschine konstruiert. Neben die dort wirkenden mechanischen Gesetzmäßigkeiten stellt Hoffmann als weiteren wesentlichen Vorgang verschiedene chemische Prozesse, um die „Verdauungsvorgänge als Lösungs- und Fermentationsvorgänge zu begreifen“. 549 Auch wenn damit die Funktionsweise des Organismus in der Zusammenführung mechanischer und chemischer Prozesse neu konzipiert wurde, behielt das traditionelle humoralpathologische System der ausgewogenen Säfteverhältnisse bei Hoffmann seine angestammte Bedeutung. In besonderer Weise für die Balneotherapie bedeutsam wurde Hoffmann aber durch seine Ansicht, dass das Wasser, dem er wegen seiner Inhaltsstoffe eine heilsame Wirkung zusprach, bei Kontakt in komplexer Weise auf den Körper reagiere. 550 Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) sprach denn auch in seiner „Practischen Übersicht über die vorzüglichsten Heilquellen Teutschlands“ (1815) davon, dass ihm die „erste Veranlassung“ zur Beschäftigung mit dem therapeutischen Nutzen des Wassers „Fr. Hoffmann's Schriften, den man mit Recht als den wissenschaftlichen Instaurator ihres Gebrauchs ansehen kann“ 551 , gegeben habe. Für Dr. Sachse, Badearzt in Doberan, war Hoffmann „wieder der Erste, der sie [die kalten Bäder, H.B.] als grosses Heilmittel anpries“. 552 In Hoffmanns „Gründlicher Anweisung wie ein Mensch vor dem frühzeitigen Tod und allerhand Arten Kranckheiten durch ordentliche Lebens-Art sich verwahren könne“ heißt es, der Körper bestehe aus „allerhand schwefelichen, saltzigen, hitzigen-schleimigen auch irrdischen Theilgen, welche mit Feuchtigkeit vermischet in der Wärme gar leicht in eine Fäulniß und Gestanck gerathen“. 553 Nur durch die Bewegung 548 Geyer-Kordesch, Pietismus, S. 259. 549 Zu Hoffmann vgl. Ingo Wilhelm Müller: Das mechanistische Körpermodell in der Praxis. Die „Fundamenta“ des Friedrich Hoffmann. In: Heinz Schott (Hg.): Meilensteine der Medizin, Dortmund 1996, S. 227-233, hier S. 229. 550 Hoffmann dient auch Badeärzten als anerkannte Autorität, vgl. Lieboldt, Travemünde 1837, S. 49f. 551 Hufeland, Practische Übersicht, S. 1. 552 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 27. Auch Sachses Vorgänger als Badearzt in Doberan, Samuel Gottlieb Vogel, erwähnte Hoffmann in seiner ersten Schrift zum Seebad Doberan als anerkannte Autorität. Ders., Gebrauch der Seebäder, S. 54. 553 Friedrich Hoffmann: Gründliche Anweisung wie ein Mensch vor dem frühzeitigen Tod und allerhand Arten Kranckheiten durch ordentliche Lebens-Art sich verwahren könne, Halle 1715, S. 288. Zit. nach Heinz Schott (Hg.): Der symphatetische Arzt. Texte zur Medizin im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 267. <?page no="149"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 148 des flüssig-wässrigen Blutes könne der Körper seine Funktionsfähigkeit erhalten. Wasser sei nach Hoffmann Universalkraft und Universalmittel: „Zuletzt ist noch übrig dass ich zeige, wie das Wasser sey ein Universal-Mittel, welches bey allen Menschen und bey allen Kranckheiten bequem zu gebrauchen“ 554 ist. Danach sei das Wasser geeignet, die Säfte wieder in ein harmonisches Verhältnis zu bringen und damit bei praktisch allen Krankheitsbildern hilfreich zu wirken. Hoffmanns Schüler Georg Ernst Stahl (1659-1734) 555 entwickelte im Umfeld des Halleschen Pietismus ein animalistisch-vitalistisches System, dessen Grundlage die menschliche Seele als belebendes, die Vitalität garantierendes System, war. Das gravierende Problem der Physiologie jener Zeit, die Verbindung von Leib und Seele, löste Stahl im Begriff des Organismus auf. Entgegen der Theorie der Iatromechaniker 556 erforderten die spezifischen Körperphänomene für Stahl eine letztlich immaterielle Begründung des Lebens. Stahl formulierte zudem die erste praxistaugliche Theorie der Verbrennungsvorgänge durch die Etablierung des Brennstoffes Phlogiston, der allen brennbaren Körpern inhärent sei. Damit schuf er die Basis für die chemische Analyse der Atemluft und des Sauerstoffs, die später für die neuartige Konzeption der Hautfunktionen und der allgemeinen Luftgüte grundlegend werden sollte. 557 Die Arbeiten von Hoffmann wie von Stahl beruhten auf der empirischiatrochemischen Methode 558 des Niederländers Hermann Boerhaave (1668-1738), „de(m) Standartautor in praktisch allen Medizinfakultäten“, 559 der noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Entdecker des Seewassers galt. 560 Dieser prägte mit seiner Devise „Das Vordringen zu den letzten metaphysischen und ersten physischen Ursachen ist für den Arzt weder notwendig, noch nützlich, noch möglich“ 561 den neuen empirisch-rationalen Zugang zur Erforschung von Krankheiten. Auch Richard Russell 554 Hoffmann, Gründliche Anweisung, S. 307f., zit. nach Schott; Schott, Symphatetischer Arzt, S. 267. 555 Zu Stahl vgl. u.a. Geyer-Kordesch, Pietismus, S. 255ff.; Schipperges, Leiblichkeit, S. 79; Brockliss, Lehrpläne, S. 490. 556 Das medizinische System der Iatromechanik, auch Iatrophysik, versuchte das Leben aus mechanischen Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. 557 Vgl. Frey, Bürger, S. 106f. Stahls Theorie einer einheitlichen Deutung chemischer Vorgänge bestimmte bis zu Lavoisiers Oxydationstheorie das 18. Jahrhundert. 558 „Die auf Paracelsus zurückgehende Richtung der Chemie, die die chemische Forschung in den Dienst der Heilkunde stellte. Die Iatrochemie führte die Lebensfunktionen auf chemische Vorgänge zurück und versuchte dementsprechend, Krankheiten mit chemischen Mitteln zu heilen.“ Vgl. Brockhaus 2006, Stichwort Iatrochemie. 559 Brocklis, Lehrpläne Medizin, S. 491. 560 So schrieb Schmige 1852 zur Geschichte des Seebades, erst nach dem Mittelalter „erhoben sich einzelne Stimmen, welche die Aufmerksamkeit der Aerzte wieder auf dies grosse Heilmittel zu lenken bemüht waren, so Boerhave und van Swieten“. Schmige, Heringsdorf, S. 25. 561 Boerhaave, Hermann: Institutiones medicae, 1721,8, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XIV, Berlin/ New York 1985, S. 749. <?page no="150"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 149 (1687-1759), Verfasser der 1753 auf Englisch erschienenen Grundlagenschrift für den Gebrauch des Seewassers „Dissertation of the Seawater”, 562 nannte Boerhaave, der als „erster Professor offiziell klinischen Unterricht erteilte“, 563 als seinen Lehrer. 564 Von hier aus entwickelte sich in der Medizin allmählich ein naturwissenschaftliches Selbstverständnis, das schließlich 1858 in Rudolf Virchows revolutionär neuer Vorstellung vom menschlichen Körper und seiner Funktionsweise in der Zellularpathologie mündete. Ein andere Schüler Boerhaavens, Albrecht von Haller, 565 war nicht nur bedeutender Vertreter einer empfindsamen Literatur, der mit dem Gedicht „Die Alpen“ (1729) die Begeisterung für die „wilden Alpen“ und die Schweiz weckte. 566 Zugleich war Haller, der „bedeutendste Physiologe des Jahrhunderts“, 567 Professor der Medizin (Anatomie, Chirurgie und Botanik) in Göttingen mit europaweiter Ausstrahlung und Begründer der durch Tierversuche erkannten Reizphysiologie. 568 In der Reizbarkeit der Nerven, der „Sensibilität und Irritabilität“, wurden die neuen Schlagworte der Erregungstheorie benannt. Mit dieser Entdeckung glaubte man die Grundlage allen menschlichen Lebens gefunden zu haben. Damit ging die Dominanz der Vorstellung einer geordneten „Maschine des Organismus“ 569 zu Ende, und es setzte der Siegeszug der Krankheitsmetaphern um die verschiedenartigsten „Nervenleiden“ ein. Eine weitere wichtige medizinische Theorie, die die Frage der Verknüpfung von mechanischen Funktionen und organischen Prozessen zu klären beabsichtigte und auf Hallers physiologischen Erkenntnissen gründete, formulierte der schottische 562 Richard Russell: A Dissertation of the Sea Water in Diseases of the Glands pp, Oxford, 1753. Die Schrift erschien 1750 in Latein und wurde drei Jahre später ins Englische übersetzt. Russell führte die Wirkung des Seewassers auf die organischen und mineralischen Substanzen zurück, die im Meer vorhanden sind: „That great Body of Water therefore, which we call the Sea, and which is rolled with such Violence by Tempests round the World, passing over all the submarine Plants, Fish, Salts, Minerals, and in short, whatsoever else is found betwixt Shore and Shore, must probably wash off some parts of the whole, and be impregnated, or saturated with the Transpiration, if I may so term it, of all the Bodies it passes over; the finest Parts of which are perpetually flying off in Steams, and attempting to escape to the outward Air, till they are entangled by the Sea, and make Part of its Composition. Whilst the Salt also are every Moment amparting some of their Substances to enrich it, and keep it from Putrefaction.“ Ders., S. VII. 563 Brocklis, Lehrpläne Medizin, S. 488. 564 Russell, Dissertation, S. V. 565 Zu Haller vgl. u.a. Frey, Bürger, S. 104; Rothschuh, Physiologie, S. 134ff. 566 Vgl. dazu auch Kap. 2.3. 567 Bergdolt, Leib und Seele, S. 253. 568 Veröffentlicht in der Schrift „De partibus corporis humani sensilibus et irritabilibus“, Göttingen 1752. 569 Vgl. zur Ablösung der mechanistischen Organismusbilder Rothschuh, Physiologie, S. 164ff. <?page no="151"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 150 Mediziner John Brown (1735-1788) mit seinem System der Reizbarkeit des Organismus. In den beiden Polen von Überreizung und Reizmangel (Sthenie und Asthenie) erblickte Brown die Grundlage von Krankheiten, die, um die Lebensprozesse weiter zu unterhalten, mit entsprechend zu verabreichenden Gegenreizen wieder ins Gleichgewicht zu bringen seien. Browns System der Erregbarkeit, „bei weitem keine experimentell bewiesene physiologische Eigenschaft“, 570 fand in Deutschland viele Anhänger, da es versprach, sämtliche Krankheiten auf der Grundlage der Reizbarkeit zu erklären. Dagegen polemisierte Hufeland jahrelang in seinem „Journal der practischen Arzneykunde“ gegen die seiner Meinung nach zwar in sich logische, praktisch aber unwirksame Theorie. 571 Alle Erklärungsmodelle und auf neuen Entdeckungen beruhenden Erkenntnisse blieben in der medizinischen Praxis aber noch lange ohne tiefgreifende Wirkung: „Aderlaß, Schwitzen, Zugpflaster, Diät, Abführmittel blieben in Gebrauch.“ 572 Das mag die Notiz des Medizinprofessors Friedrich Wilhelm von Hoven (1759-1838), einem Jugendfreund Friedrich Schillers, illustrieren. In seiner Autobiografie beschrieb Hoven die Vielfalt der um 1800 grassierenden Theorien und deren letztlich bescheidenen Einfluss auf die ärztliche Praxis: „So war ich zuerst, dem Beispiel meiner Lehrer folgend, ein Humoralpatholog. So war ich, angeregt durch Cullen und andere, ein Nervenpatholog. So war ich weiterhin, vorzüglich angeregt durch Weikard [...] ein Brownianer, so durch das Studium der Röschlaubschen Schriften ein Erregungstheoretiker geworden. Aber wenn ich mich frage, ob ich am Krankenbette ein Humoralpatholog, ein Nervenpatholog, ein Brownianer, ein Erregungstheoretiker war, so muss ich mir die Frage mit nein beantworten. Zum Leitfaden bei meinem Verfahren am Krankenbette diente mir einzig und allein das empirisch-rationelle System, das ich mir gleich beim Beginn meiner Praxis zu bilden angefangen hatte“. 573 Das „Damen Conversations-Lexikon“ von 1835 äußerte sich dagegen bewundernd zur Vielzahl der medizinischen Theorien: „ Hofmann gab den Aerzten sein mechanisch-dynamisches System, seinen Sternenäther und begeisterte selbst Laien; Stahl schuf das physische System, Haller, dieser ungeheure Wisser, stellte die Reizbarkeit, Unzer und Cullen die Nerventheorie, Brown die Sthenie und Asthenie auf, ein 570 Cosmacini, Der Arzt, S. 154. 571 Hufeland kritisierte die spekulativen Grundannahmen des Brownschen Systems und verfasste in seinem „Journal der practischen Arzneykunde“ von 1797 die „Bemerkungen über die Brownische Praxis“: „Das Brownische System ist kein System, denn es hat so viele Lücken und seine Prämissen sind so wenig im Stande, alles zu erklären, dass es diesen Namen durchaus nicht verdient.“ Ebd., S. 138. 572 Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 143. 573 Friedrich Wilhelm von Hoven: Lebenserinnerungen, hg. von Hans-Günther Thalheim, Berlin 1984, S. 107. <?page no="152"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 151 System, das Girtanner als sein eigenes System directer und indirecter Schwäche nach Deutschland verpflanzte und Röschlaub zur Erregungstheorie umgestaltete. Die neueste Zeit hat Broussais Blutsaugesystem und die homöopathische Heilkunde geboren.“ 574 Auch das populäre Hufelandsche „Journal der practischen Arzneykunde“, in dem Ärzte aller Gattungen neueste Erkenntnisse und Fallbeschreibungen veröffentlichten, war letztlich diesem „sorglosen Theorie-Eklektizismus verpflichtet“. 575 Medizinische Theorien, spekulative Systeme wie die Ergebnisse empirisch-rationeller Praxis, vorgetragen in ebenso uneinheitlichen Sprachgebilden, besaßen, das war auch den Zeitgenossen einsichtig und noch selbstverständlich, nur eine relative Gültigkeit. Die bis zum 18. Jahrhundert in der Praxis noch immer vorherrschende hippokratisch-galenische Tradition ging so nur sehr langsam und gleitend in die verschiedenen mechanisch-vitalistisch-erregungstheoretischen Konzepte über. 576 Was bedeutete diese Fülle verschiedener Erklärungsmodelle nun für das medizinische System der Seebäder? Ein für die Ärzte in den Seebädern lange Zeit bestimmendes Erklärungsmodell und Behandlungsmuster beruhte auf dem Reiz-Reaktions-Schema der Erregungstheorie, ohne dass dadurch die Einflüsse von Humoral- und Solidarpathologie gänzlich verschwanden. 577 Die Bedeutsamkeit von äußeren Reizen, wie Wasser und Luft, für die menschliche Physiologie, lag als vernünftige Erklärung von Ursache- Wirkungszusammenhängen bei einer Therapie im Seebad nahe. Eine Zusammenfassung dieser Vorstellung liefert das „Conversations-Lexikon“ Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Reizfähigkeit und das Reaktionsschema sind nach diesem spekulativen Modell Grundlage des Lebens. Mangel oder Übermäßigkeit von Reizen damit Ursachen für Krankheit, gleich wie sie sich im Einzelfall äußert: „Der Organismus ist begabt mit einer gewissen Summe von Erregbarkeit: [...] Wenn diese Erregbarkeit durch innere oder äußere Reitze in Thätigkeit versetzt wird, so entsteht das Product, was wir Leben nennen. Zum gesunden Leben gehört, dass die Summe der Erregbarkeit den 574 Damen-Conversations-Lexikon, Artikel Heilkunde, 1835, Bd. 5, S. 217. 575 Wöbkemeier, Erzählte Krankheit, S. 126. 576 Vgl. dazu auch den Überblick in Robert C. Olby u.a. (Hg.): Companion to the History of Modern Science, London/ New York 1990; Bergdolt, Leib und Seele, S. 301ff.; Cosmacini, Der Arzt, S. 155ff. 577 So postulierte der Badearzt von Putbus auf Rügen, Dr. Hecker, 1822 die Verbindung der traditionellen Humoralpathologie mit der moderneren Theorie der Solidarpatholige über die Reizbarkeit und Funktion von Nerven: „Die Nervenpathologie ist von der Humoralpathologie unzertrennlich“. Hecker, Seebad bei Putbus, S. 116. Vgl. zur Rolle der Erregungstheorie als Versuch, dem humoralpathologischen Erklärungsmuster wissenschaftlich zu begegnen, auch Wöbkemeier, Erzählte Krankheit, S. 26f. <?page no="153"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 152 Reitzen angemessen sei. Ist der Grad des Reitzes zu schwach, um eine gehörige Regung zu bewirken, so entsteht Asthenie, und im entgegengesetzten Falle Sthenie“. 578 Zur Reizphysiologie gehörte auch die am Ende des 18. Jahrhunderts von Luigi Galvani (1737-1798) entdeckte sogenannte „tierischen Elektrizität“, nach der bestimmte Reize auf den menschlichen Organismus wirkten und man im Krankheitsfalle mittels künstlich herbeigeführter Stimulationen anregen oder beruhigen konnte. Mit der „tierischen Elektrizität“ glaubte man am Ende des 18. Jahrhunderts endlich den Schlüssel für die Verbindung organischer und anorganischer Strukturen im Organismus gefunden zu haben. Die Elektrizität und ihren Einfluss auf das Lebendige entdeckte man nun überall. Der Lebensprozess im Tierreich sei von einem dauerhaften Galvanismus begleitet. 579 Hufeland band das elektrische Prinzip schließlich auch in sein Verständnis von Wirkungszusammenhängen im Organismus ein und schätzte das Seebad wegen seiner ihm eigenen „electrischen und magnetischen Strömungen“. 580 Mitten in diesem Umfeld von psychodynamischen Lebenskonzepten bewegten sich die ärztlichen Autoren der Schriften über das Seebad. Um die nicht zu fassenden Phänomene des Organischen in den mechanistischen Modellen, wie die Fortpflanzung, Regeneration und Selbstbewegung, erklären zu können, griffen sie als Kritiker einer mechanistischen Vorstellung auf die Ideen der Erregungstheorie und einer umfassenden, im Organismus selbst wirkenden Urkraft, der „Lebenskraft“, zurück. So veröffentlichte Dr. Christoph Heinrich Pfaff, Badearzt in Kiel, mehrere Schriften zur Erregungstheorie, 581 Joachim Dietrich Brandis (1762-1845), ebenfalls Arzt in Kiel, und vor allem Hufeland propagierten das vitalistische Modell einer allem zugrunde liegenden vis vitalis, der „Lebenskraft“, 582 ein, wie „Herders Conversations-Lexikon“ schreibt, „Name für die unbekannte Ursache, welche das Leben eines Organismus bewirken und erhalten soll“. 583 Diese sei aber nicht metaphysisch zu be- 578 Artikel „Sthenie-Ashtenie. In Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch, Bd. 5, Amsterdam 1809, S. 393. 579 Vgl. Wöbkemeier, Erzählte Krankheit, S. 33; Rothschuh, Physiologie, S. 183ff. 580 Hufeland, Practische Übersicht, S. 252. 581 „Über thierische Elektrizität und Reizbarkeit“ (1795); „Revision der Grundsätze des Brown'schen Systems mit besonderer Hinsicht auf die Erregungstheorie“ (1805), Artikel Pfaff, Deutsche Biographische Enzyklopädie, hg. von Walther Killy und Rudolf Vierhaus, Bd. 7, München 1998, S. 633. 582 Vgl. u.a. Rothschuh, Pysiologie, S. 173ff. Hufeland schreibt in seiner Autobiographie, er wolle „die ganze Medizin unter ein Prinzip, das Prinzip des Lebens oder der Lebenskraft zu bringen, und so Einheit in den verschiedenen Teilen derselben zu begründen, und den Unterschied von Solidar- und Humoralpathologie, Materialisten und Dynamisten gänzlich aufzuheben“. Hufeland, Selbstbiographie, Berlin 1863, S. 83f. 583 Herders Conversations-Lexikon, Bd. 3, S. 724. <?page no="154"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 153 greifen, sondern dem Organischen inhärent und letztlich nur „noch nicht“ wissenschaftlich zu fassen. 584 Hufeland verband als wichtiges Moment die Lebenskraft als angelegte Fähigkeit und mit der „Bewegung und Wirksamkeit der Organe“ das „Leben selbst [als] Handlung“ 585 . Dabei bewegte sich der Begriff der Lebenskraft als vitale Grundlage des Lebens ebenso in ästhetischen und philosophischen Konzepten wie bei Herder, der in seiner „Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (1774) wiederholt von der Lebenskraft sprach, wenn es um den Neuanfang von Individuen und Gesellschaften im Rückgriff auf dynamische Lebenskonzepte ging. 586 Wenn sich die Badeärzte auch vorwiegend der praktisch-empirischen Arbeitsmethode verpflichtet sahen (und viele bis Mitte des 19. Jahrhunderts in Versatzstücken auch der alten Säftelehre), blieben die in aufklärerischem Impetus erfolgten physiologischen Erklärungsmodelle nicht ohne Folgen für die zeitgenössischen Körpervorstellungen. Noch war man weiterhin, was das innere „Funktionieren“ des menschlichen Körpers betrifft, weitgehend auf das „Lesen“ von Krankheiten angewiesen. 587 Aber Vivisektion und Anatomie lieferten ebenso wie Physik und analytische Chemie immer mehr und immer schneller neue Erklärungsmuster für die Lebensprozesse. 588 Trotz der Fülle von medizinischen Diskursen zu Beginn des 19. Jahrhunderts blieben die praktischen Konsequenzen für den Patienten letztlich zweitrangig, da „vorzüglich [die] innere Medizin am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht einem Lotteriespiel glich“. 589 Im Gegensatz dazu spiegelte sich, für das Seebad bedeutsam, die naturwissenschaftliche Objektivierungs- und Normierungsdoktrin von Beginn an in der Analyse chemischer Bestandteile von Seewasser und Seeluft, den beiden herausragenden Therapieinstrumenten, wider. Die Definition von Krankheitsbildern und deren angemessener Therapie sicherte den Ärzten die Gefolgschaft der Kurenden, die annehmen durften, die Ärzte könnten mit solchen Phänomenen angemessen umgehen. So äußerte sich das professionelle Handeln der Ärzte schließlich auch in Details wie dem täglich mehrfachen Messen der Wassertemperatur und der Richtung des 584 Vg. Bergdolt, Leib und Seele, S. 278. 585 Hufeland, Makrobiotik, S. 72, zit. nach Rothschuh, Physiologie, S. 175. 586 Vgl. z.B. Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, hg. von Johannes von Müller, Bd. 1, S. 368. Auch Friedrich Schlegel (Über das Studium der griechischen Poesie, 1797 erschienen) oder Tieck (William Lovell, 1795/ 96 erschienen) verwendeten den Begriff der Lebenskraft in diesem Sinne wiederholt in ihren Schriften. 587 Vgl. zum Wandel vormodernen „Lesens“ der Krankheit zur modernen Grundlagenwissenschaft Wöbkemeier, Erzählte Krankheit, S. 121. 588 Vgl. Foucault, Geburt der Klinik, S. 137ff. 589 Wöbkemeier, Erzählte Krankheit, S. 118. <?page no="155"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 154 Windes, die auf Tafeln dem Badepublikum öffentlich angezeigt wurden und damit den therapeutischen Charakter verdeutlichten. 590 Daraus erwuchsen schließlich umfangreiche und dauerhaft geführte meterologische Beobachtungen, die als Basis einer wissenschaftlichen Balneologie dienten. 591 3.1.2 Wassertherapien Nachdem man in der Neuzeit verstärkt die innere Anwendung von Wasser propagiert hatte, waren es in der Mitte des 18. Jahrhunderts u.a. die Mitglieder der schlesischen Ärztefamilie Hahn, deren „unkonventionelle Heilerfolge mit kaltem Wasser überregionale Beachtung gefunden“ 592 haben sollen. In einer Mischung aus vernunft- und erfahrungsgeleitetem Handeln etablierte sich allmählich ein neuartiger Umgang mit kaltem Wasser, das den vorherrschenden angstbesetzten Bildern eines gefährlichen, den Körper zersetzenden Wassers entgegengesetzt wurde. 593 Das kalte Wasser, so Johann Sigmund Hahn (1696-1773) in seinem erstmals 1738 erschienenen „Unterricht von Krafft und Würckung des frischen Wassers“, diente ebenso zur Hautpflege wie zur Vitalisierung des Körpers, die durch den Reiz des Wassers auf die Haut erfolgte. Dabei wurde das Wasser nicht mehr nur für ausgewählte Körperpartien - Gesicht, Hände, Füße -, sondern für den gesamten Körper dienlich, womit sich Hahn gegen die bisher dominierende höfische Puder- und Parfümkultur wandte. Neben der Hautreinigung sei damit auch eine Heilfunktion für Ausschläge und gegen Ungeziefer verbunden, außerdem erhöhe die Körperwaschung, die ins Äußere gespiegelte Reinlichkeit, das gesellschaftliche Ansehen. Beispielhaft erkenne man die günstige Wirkung des kalten Bades an den Gewohnheiten fremder Völker oder einheimischer Unterschichten wie der Fischer. Das kalte Wasser erhöhe mit seiner Einwirkung auf die Haut die Vitalität des Körpers und sichere damit auch das wichtige Gut der Arbeitskraft. 594 Die Hahnschen Reinigunskonzepte bewegen sich damit im Umfeld der zeitgenössischen Diskurse von Hygiene und Reinlichkeit, in der sich Gesundheitslehren und moralische Forderungen durchdrangen und ergänzten. Daneben entstanden seit 1780 auch in Deutschland Flussbadeanstalten, die auf einer neuen „Verbindung von Reinlichkeit und Geselligkeit“ 595 gründeten. „Baden“, so konstatiert Kaschuba, „avanciert zum Grundmodell neuer bürgerlicher Gesundheits- 590 So Hille, Heilquellen, z.B. für das Seebad Putbus, S. 226. 591 Vgl. Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 95ff. 592 Frey, Bürger, S. 112. 593 Zur Verbreitung des neuen Verständnisses der Wirkung von kaltem Wasser vgl. Corbin, Meereslust, S. 92; Kaschuba, Deutsche Sauberkeit, S. 313f. 594 Frey, Bürger, S. 112f. 595 Frey, Bürger, S. 219. <?page no="156"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 155 pflege, sowohl im Sinne des Reinigungsbades in Badehäusern [...] wie auch als Reiztherapie im kalten und fließenden Wasser von Flußbadeanstalten und künstlichen Sturzwasser-Einrichtungen.“ 596 Dabei blieb das Bad in den neuen Anstalten den privilegierten Schichten vorbehalten. Ein Bad der in Bremen, Berlin, Wien oder Frankfurt um die Jahrhundertwende angelegten Badeanstalten kostete „rund den Tagesverdienst eines Handarbeiters“ 597 und war so mitnichten für breitere Volksschichten bestimmt. 598 Die unter dem Diktum der Heilwirkung des kalten Wassers von Hahn und dem Wiener Arzt Pascal Joseph Ferro 599 (1749-1807) auf körperliche Abhärtung zielenden Badeanstalten fanden zunächst regen Zuspruch. Die Akzeptanz dieser Anlagen durch das Bürgertum währte freilich nicht lange, man forderte statt der spartanischen Körperzüchtigungsanstalten warme Bäder und mehr Bequemlichkeit. 600 Auch in den Seebädern wurde das erwärmte Seewasser schnell als eigenständiges Therapeutikum eingeführt, doch war es, wie Mediziner postulierten, „in mehr als einer Hinsicht mit einem eigentlichen kalten Seebade nicht vergleichbar“, da weder freie Bewegung, Wellenschlag, frische Luft noch „andere Verhältnisse der großen freien See“ 601 im Warmbad möglich seien. Das Baden im kalten Seewasser behielt hier zumindest seine therapeutisch herausragende Stellung. Man beobachtete, „dass das sogenannte kalte Baden im offenen freien Meere - wenn es irgend die Umstände des Kranken zulaßen - bei weitem würcksamer und hülfreicher sind, als das Baden im erwärmten Seewasser in den Wannen“. 602 Dr. Kind, Badearzt in Swinemünde, begründete dies mit der „Vertheidigung (Reaction) des Körpers gegen die auf ihn einwirkenden Kälte“, durch die eine „Stärkung der Kraft des ganzen Körpers und aller seiner einzelnen Theile sehr wohlthätig wirken muss“. 603 Damit aber erreicht der Kurgast „das naturgemäße Fortschreiten des Lebensprocesses“. 604 Das kalte Meerbad diente „naturgemäß“ dem vernünftigen Bürger zur Abhärtung seines Körpers, der durch „Verfütterung, Ver- 596 Kaschuba, Deutsche Sauberkeit, S. 313. 597 Kaschuba, Deutsche Sauberkeit, S. 313. 598 In Berlin entstanden erste öffentliche Badeanstalten mit polizeilicher Genehmigung ab dem Ende des 18. Jahrhunderts. So wurde bereits 1781 das „vermutlich erste Russische bzw. Englische Dampfbad Deutschlands“ vor dem Königstor von dem Arzt Konrad Ferdinand Uden eröffnet. Vgl. Thiel, Urbane Räume, S. 56. 599 Vgl. zu Ferros Konzept Frey, Bürger, S.114ff., 221ff. Ferro veröffentlichte 1781 seine Schrift „Von dem Gebrauche der kalten Bäder“. 600 Vgl. Frey, Bürger, S. 220ff. 601 Pfaff, Seebad, S. 33f. 602 Bericht des Regiments-Physikus Schönberg zum Seebad Deep an das preußischen Medizinal- Collegium vom 30. 7.1805. GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557. 603 Kind, Swinemünde, S. 17. 604 Kind, Swinemünde, S. 34. <?page no="157"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 156 weichlichung, Ausschweifungen in jeder Art von Genüssen, Leiden des Gemüths, Anstrengungen des Geistes und der Willenskraft, Krankheiten aller Art den robustesten Menschen in kurzer Zeit zum Schwächling“ 605 werden lasse. Ähnlich wie Ferro ging es auch Kind mit dem Seebad um die Stärkung eines der Gefahr der „Verweichlichung“ ausgesetzten Bürgertums. Das Seebad diente damit zugleich als medizinisches wie als soziales Heilmittel. Kaltes Wasser wurde zum Kampfmittel eines sich selbst vergewissernden Bürgertums gegen die Schminkpülverchen und den Parfümrausch des Adels wie gegen den verschmutzten Körper der niederen Schichten. Verbunden damit entsprach der reinliche und abgehärtete Körper dem tugendhaften Bürger, der sich mit seiner äußerlich sichtbaren Reinheit zugleich ein sichtbares Distinktionsmittel schaffte. 606 Mit dem Bad in der See als Höhepunkt der Seebadekur bestand jedoch dauerhaft das Problem, in besonderem Maße auf die Witterungsverhältnisse angewiesen zu sein. Dem angestrebten Ziel einer permanenten körperlichen Abhärtung zur Verstetigung der Gesundheit als „Methodik und Leitwert der durchdisziplinierten Lebenspraxis des autonomen Bürgers“ 607 standen dem Seebad an den nördlichen Küsten die klimatischen Verhältnisse entgegen. Trotz der Anlage und Etablierung von Badehäusern für die warmen Bäder blieb das Seebad vor allem wegen der kühlen Wassertemperaturen nur während der Sommermonate vom Juni bis zum September Kurraum. Die reizende Wirkung des Seewassers war als saisonales Heilmittel nur eingeschränkt verfügbar, damit aber auch eine Form von Exklusivität, indem sie sich einem permanenten Zugriff entzog. Dies dürfte einer der Gründe gewesen sein, warum die Seebäder nicht, wie die städtischen Badeanstalten oder die um 1800 aufkommenden privaten Badezimmer, zum zentralen Bestandteil des Reinlichkeitsdiskurses wurden. 608 Vielmehr steht das Seebad in seiner Anlage sowie mit dem Diskurs um das Seewasser und die Seeluft für den Versuch, einen der Stadt entgegengesetzten, temporären bürgerlichen Rekreationsraum zu schaffen. 3.1.3 Das öffentliche Seebad Mit den Bädern des Binnenlandes hat das Seebad gemeinsam, dass es von der Öffentlichkeit lebt, in sozialer Hinsicht also nicht oder nicht gänzlich abgeschlossen sein kann. Heilung findet hier als Konzept innerhalb der Badegesellschaft statt, und zwar außerhalb eines privaten oder exklusiven Rahmens. Da Geselligkeit zuneh- 605 Kind, Swinemünde, S. 35. 606 Döcker, Die Ordnung der bürgerlichen Welt, S. 109. 607 Barthel, Medizinische Polizey, S. 38. 608 Zur Entwicklung des Reinlichkeitsdiskurses vgl. Frey, Bürger, S. 162ff. <?page no="158"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 157 mend Teil des geforderten Verhaltens im Bad wurde, das heißt soziale Praxis in Form von Selbst- und Fremdkontrolle stattfindet, war Öffentlichkeit eine Beding ung für da s See bad . Ein kurzer Blick auf Georg Christoph Lichtenbergs 609 Aufsatz von 1793 „Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad? “ ist für die Analyse der Stellung des Seebades hilfreich. Lichtenberg hatte diesen Aufsatz bereits 1788 dem Direktor des Wasserbaus zu Cuxhaven, Reinhard Woltmann (1757-1837), angekündigt. 610 Diese erste öffentliche und Aufsehen erregende Forderung zur Seebädergründung in Deutschland wurde, das ist bemerkenswert, nicht von einem Arzt erhoben, sondern von einem Naturforscher, der als Kurgast im (englischen) Seebad weilte. Sein im populären „Göttinger Taschenkalender“ 611 erschienener Beitrag, verfasst in Erinnerung an seinen Aufenthalt im englischen Seebad Margate, dem er „die gesündesten Tage seines Lebens verdankt“, 612 fand großen Widerhall, 613 und das nicht nur in den medizinisch interessierten Kreisen Deutschlands. Schon im Titel forderte Lichtenberg ein „großes öffentliches Seebad“ und fragte: „Denn wo gibt es in Deutschland ein Seebad? “, um sogleich zu antworten: „Hier und da vielleicht eine kleine Gelegenheit sich an einem einsamen Ort, ohne Gefahr und mit Bequemlichkeit in der See zu baden, die sich allenfalls jeder, ohne jemanden zu fragen, selbst verschaffen kann, mag wohl alles sein.“ 614 609 Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), Professor (a.o. Professor ab 1775) für Physik, Mathematik und Astronomie in Göttingen, gab seit dem Ende der 1770er Jahre den „Göttinger Taschen Calender“ heraus, in dem 1793 sein Aufsatz „Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad“ erschien. 610 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Eulner, Meeresheilkunde, S. 118f. 611 Harro Segeberg beschreibt den Taschenkalender als Instrument der populären Aufklärung, „Während sich die Funktion solcher Almanache normalerweise auf die alljährliche Sichtung und Sammlung kurioser Neuigkeiten aus allen Wissensgebieten beschränkte, hat Lichtenberg hieraus ein Instrument zur unterhaltsamen Aufklärung gewonnen, das auch dort noch wirken konnte, wo kein Interesse an schöngeistiger Literatur bestand.“ Ders., in: Geschichte der deutschen Literatur: Die Spätaufklärung. Geschichte der deutschen Literatur, S. 865 (Zmegac-GddL, Bd. I/ 1, S. 369). Die große Beliebtheit dieses Blattes bestätigt auch das Damen-Conversations-Lexikon, „Ein außerordentlich großes Publikum hatte auch der Göttinger Taschenkalender (von 1776-1813), vorzüglich durch Lichtenberg's Beiträge.“ (vgl. ebd., Bd. 10), S. 33. 612 Lichtenberg, Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad? , Göttingen 1793, SuB, Bd. 3, S. 95. 613 Samuel Gottlieb Vogel eröffnete seine Badeschrift von 1819 mit den Worten: „Den ersten Gedanken zur Errichtung einer Seebadeanstalt zu Doberan weckte im Jahr 1793 ein Aufsatz des Hrn. Hofr. Lichtenberg's im Göttingischen Taschencalender von demselben Jahre, mit der Überschrift: Warum hat Deutschland noch kein öffentliches großes Seebad? “, Vogel, Handbuch zur richtigen Kenntniß und Benutzung der Seebadeanstalt zu Doberan, S. 1. 614 Lichtenberg, Seebad, SuB, Bd. 3, S. 95. <?page no="159"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 158 Was aber Lichtenberg, und mit ihm der aufgeklärte Badegast, forderte, war das Gegenteil dieses „wilden“ Badens. Es war die öffentliche (also auch nicht volkstümliche) Seebadeanstalt, die den inländischen Kurplätzen zumindest im gesellschaftlichen Anspruch und der therapeutischen Form ähneln sollte, 615 zu dem (auch das lässt Lichtenberg einfließen) der das Badeverhalten regulierende und kontrollierende Arzt gehörte. 616 In diesem Sinne bemerkte Dr. Karl Christian Hille in seiner 1838 erschienenen Bäder-Übersicht über das kleine hinterpommersche Seebad Leba, dieses könne „blos ein wildes Seebad“ 617 sein, denn „eine wirkliche Anstalt“ sei nicht vorhanden, zudem sei kein Arzt in der Nähe und man könne ja nicht „jeden Küstenpunkt der Nord- und Ostsee, wo Jemand irgend einmal in die See gewadet ist“, als Seebad betrachten. Das freie Baden in der See, ganz ohne Badeanlagen oder in den kleinen, privaten Seebädern, in denen kein Badearzt praktizierte und keine polizeiliche Ordnung existierte, ist spätestens für die Jahre um 1800 nachzuweisen, obwohl das Quellenmaterial hierzu spärlich ist. Man muss mit Anmerkungen Vorlieb nehmen wie dem bereits 1800 erfolgten Bericht an den preußischen König über die Anlage eines öffentlichen Seebades. Darin wird bemerkt, es gebe „zahlreiche mehr oder weniger kostbare und gerathene Versuche zu Privat Etablissements dieser Art in einigen kleinen Seestädten Pommerns“. 618 Für Swinemünde 619 lassen sich bereits 1795 Badegäste nachweisen. Ein Brief Friedrich Schleiermachers von 1803 zeigt sein Vorhaben, im kleinen hinterpommerschen Ort Stolpmünde zu baden. 620 Beide Orte wurden erst deutlich 615 So fährt Lichtenberg, im Hinblick auf die gepriesenen englischen Verhältnisse fort: „Allein wo sind die Orte, die, wie etwa Brighthelmstone, Margate und andere in England, in den Sommermonaten an Frequenz selbst unsere berühmtesten einländischen Bäder und Brunnenplätze übertreffen? “, Ebd. S. 95. Öffentlichkeit meinte also auch die kulturelle Besetzung des Küstenstreifens durch die Schaffung von Badeanlagen. In Meyers Großem Konversations-Lexikon von 1905 wird das Seebad definiert als ein „in offener See genommenes Bad, besonders auch zu diesem Zweck eingerichtete Örtlichkeit an der Meeresküste und auf Meeresinseln.“ In welchem Umfang die einfache Bevölkerung der Küstenregion bereits vorher im Meer badete und es sich bei den öffentlichen Seebädern nur um eine neue soziale Konstruktion handelte, lässt sich angesichts der schlechten Quellenlage nicht sagen, wobei eine gänzliche Wasserscheu der Küstenbewohner nicht wahrscheinlich sein dürfte. 616 „Es gehört für den Arzt zu bestimmen, wie lange man diesem Vergnügen (denn dieses ist es in sehr hohem gerade), nachhängen darf.“ Lichtenberg, Seebad, Bd. 3, S. 98. 617 Hille, Heilquellen, S. 245f. 618 GStA, Rep. 96 A, 117Q, Schreiben vom 22. 12.1800. 619 Vgl. Zöllner, Reise, S. 112. 620 Schmitz, Rügen: „Meine einzige, ich will nicht sagen Erholung, sondern nur Abwechslung für diesen Sommer wird wohl darin bestehen, dass ich ein paar Wochen in Stolpmünde an der See wohne und dort baden werde. Vielleicht hilft das meiner Gesundheit etwas auf, doch habe ich wenig Hoffnung dazu und halte sie eigentlich für ganz zerrüttet.“ Brief vom 15.6.1803, S. 83. <?page no="160"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 159 später, Swinemünde 1824, Stolpmünde gar erst 1870, 621 „offizielle“ Bäder mit Badeanlagen und Badedirektion. Dagegen nahmen schon die Zeitgenossen die Veränderung des Küstenraumes wahr, da sich innerhalb kurzer Zeit jeder noch so kleine Flecken an den Küsten Deutschlands zum Seebad rüstete. So schrieb Dr. Neumann in „Hufelands Journal“ 1832: „Es gibt wohl nicht viele, wenn auch nur etwas bedeutendere Dörfer an der Küste, besonders der Meere, die den Norden Teutschlands bespülen, welche nicht während der Sommermonate, von Badegästen besucht und als Badeörter benutzt werden sollten.“ 622 Und Dr. Sachse, Badearzt in Doberan, konstatierte wenig später dasselbe Phänomen, nicht ohne auf die vermeintlichen Nachteile dieser freien Bäder hinzuweisen: „Grade so erheben sich mehrere [Badeorte] alljährlich an unserer Ostseeküste, und die Kranken baden hier nicht nur mit höchster Unbequemlichkeit, sondern auch ohne alle ärztliche Aufsicht.“ 623 Dr. Büttner, Arzt in Rügenwalde in Pommern, beobachtete, nachdem er 1809 dort seine Stellung antrat, zwei Sommer hindurch, wie sich Einheimische und Fremde im Meer badeten, „theils aus Mode, theils weil es ihr Arzt, aber meistens sie sich's selbst verordnet hatten“. Er fühlt sich deshalb, da „die letztern [...] auch in der Regel so baden, dass sie oft nur üble Folgen davon tragen konnten“ 624 verpflichtet, selbst tätig zu werden, und gründete daher 1812 dort eine Seebadeanstalt. 625 Offensichtlich gab es um 1800 auch an der preußischen Küste einige kleinere Privatanstalten, deren Einbeziehung in eine geplante staatliche Seebadgründung man seitens des federführenden Ministeriums erwog. 626 Für die Anlage eines offiziellen Seebades sprach aber nicht nur der öffentliche Wille eines zunehmend auf seine Gesundheit achtenden Bürgertums, sondern, damit verbunden, auch die wissenschaftliche Legitimation des Kurmittels. Die entstehende analytische Chemie, die von nachweisbaren Einzelelementen ausging, die sich von alchemistischen Vorstellungen gelöst hatte und im Bad nicht mehr nur auf Kräuter setzen wollte, galt als Prototyp moderner Wissenschaft. Für die Ärzte und Patienten im Seebad war die Einbeziehung chemischer Analysen des Seewassers damit auch gleichbedeutend mit dem Nachweis seiner Modernität und Wirksam- 621 Vgl. Zessin, Ostsee-Bad Stolpmünde, Stolp 1892, S. 13. 622 Neumann, Über die Seebäder Westpreußens, in: Journal der practischen Heilkunde, Bd. 75, 1. St., S. 87. 623 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 51. 624 Büttner, Seebade-Anstalt, S. 120. 625 Hille berichtet von Dr. Büttner, der 1812, „nachdem jeden Sommer Fremde in der See, aber nur so zu sagen wild gebadet hatten, zwei bretterne Häuschen [...] bauen ließ [...] und paßte Vogel's Badereglement [...] seiner höchst bescheidenen, von den Sparpfennigen eines Provinzialarztes und auf Credit gebauten Anstalt an“. Hille, Heilquellen, S. 242. 626 GStA, Rep. 96 A, 117 Q, Schreiben vom 22.12.1800. <?page no="161"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 160 keit. Die Hauptakteure dieses Gedankens einer öffentlichen Seebadeanstalt, die Ärzte, zogen daher in zunehmendem Maße unterschiedliche chemische Analysen von Wasser und Luft als Legitimationsmittel heran. So wurde für eine Untersuchung, ob der Strand bei Danzig zur Anlage eines Seebades taugte, mit dem Bürgermeister eine Visitation des Geländes vorgenommen, um dann „auch den Seestrand selbst durch den geschickten Doctor Bleck, welcher Mann wegen seiner medizinischen als chemischen Kenntniße bekannt, auch von den Anlagen bey Doberan, wie nicht weniger von den ungleich bedeutendern englischen See-Bädern unterrichthet ist, noch besonders untersuchen zu lassen“. 627 Bezeichnend war auch, dass die Ärzte in aller Regel Mitglieder der Badedirektionen waren, die die administrative Leitung des Bades wahrnahmen und u.a. die badepolizeilichen Aufgaben mit verantworteten. So hieß es in Paragraf 1 des „Reglement für die Bade-Anstalt zu Swinemünde“ von 1825, die Badedirektion „führt die polizeiliche Aufsicht, über die Bade-Anstalt sowohl in der Stadt und in der Plantage, als am Strande, und es gebührt daher derselben auch die Cognition von allen polizeilichen Contraventionen in dieser Hinsicht, insofern einzelne Fälle sich nicht zur Untersuchung und Entscheidung des Gerichts eignen“. 628 Diese Verzahnung medizinischer und öffentlicher Belange in der Person des Badearztes prägte das Bild des Seebades als öffentlicher Heilraum. So wurde die öffentliche Wahrnehmung der Seebäder von Beginn an durch die mit ausreichend finanziellen Mitteln und politischer Unterstützung ausgestatteten Badeanstalten geprägt, ob als landesherrliche Gründungen wie Heiligendamm und Putbus oder in der Hand von Vereinen und Aktiengesellschaften wie in Apenrade, Travemünde und Swinemünde. Das Seebad erhielt seine nun mittels der Definition eines nachweisbar therapeutisch wirksamen Kurmittels, sowie durch die Anwesenheit eines Arztes und die Formierung einer Badegesellschaft. Therapeutische und soziale Normen formten damit den Heilraum des Seebades und legitimierten ihn als Ort bürgerlicher Rekreation. 3.1.4 Die Badeanstalt als hierarchisierter Sozialraum Die Öffentlichkeit im Seebad blieb aber eine eingeschränkte, da das Seebad einerseits quantitativ nur begrenzt aufnahmefähig war und auf der anderen Seite sozial 627 GStA, Rep. 96 A, 118 X, Visitationsbericht vom 25.2.1802. 628 Reglement, Stettin 1825, S. 3. <?page no="162"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 161 nicht völlig offen war. Damit handelte es sich auch bei der Badegesellschaft der Seebäder nur um eine „hermetische Öffentlichkeit“ 629 . Im Gegensatz zum „wilden“ Baden gründete sich das öffentliche Seebad also als exklusiver Raum, dessen Bewohner die Mitglieder der Badegesellschaft waren. In der Badeanstalt wurden die Ein- und Ausschlüsse praktiziert, die das Seebad nach außen hin abgrenzten und der Badegesellschaft nach innen eine stabile Struktur verliehen. Durch die Zuweisung besonderer Räume wurden bestimmten Gruppen festgelegte Plätze zugewiesen, während anderen der Zugang verschlossen blieb; Inklusion und Exklusion prägten den Raum. Dieses Prinzip erfolgte nach außen als disktinktive Abgrenzung gegenüber den nicht zur Badegesellschaft Gehörenden, und nach innen als soziale und geschlechtsspezifische Raumzuweisung. Diese Form der Raumkonstruktion sei hier am Beispiel der Swinemünder Badeanstalten nachvollzogen. Dr. Richard Kind, seit 1824 Kreisphysikus in Swinemünde, 630 dort dann auch Badearzt und Mitglied der Badedirektion, lässt uns in seiner Schrift über das Seebad von 1828 teilhaben an der Konzeption einer Badeanstalt als einem hierarchisch organisierten Raum.Kind begann die Vorstellung der Badeanstalt mit den Details zur baulichen Abgrenzung des gesamten Badeareals, das für den Kurverlauf zur Verfügung gestellt wurde: „Der Badeplatz fängt am Strande in grader Linie mit der Königsallee der Plantage an, und endet diesseits des Albecker Weges.“ 631 Der ausschließende Charakter der Badeanlage (und die damit verbundene Gefährdung durch außerhalb liegende Einflüsse auf den sensiblen Badeprozess, vor allem voyeuristische Blicke) wurde im Swinemünder Badereglement von 1825 durchaus benannt. In ihm hieß es, man werde „die Badenden gegen Störungen durch Reisende [...] sichern“. 632 Kind gliederte dieses nun über das Badereglement nach außen gesicherte Gebiet in einzelne kleinere Funktionsbereiche, wobei auch die festgelegten Grenzen markiert wurden: „Die ganze Fläche, die derselbe einnimmt, ist in fünf Abtheilungen eingetheilt, und die Grenze einer jeden innerhalb durch Pfähle, welche mit den nöthigen Inschriften versehen sind, an den beiden äußersten Enden aber durch eine Umzäunung von Latten bezeichnet.“ Nach dieser ersten Unterteilung, die durch die „Umzäunung von Latten“ den Baderaum blickdicht abschloss, stellte Kind die einzelnen Bereiche vor. „Die erste Abtheilung, rechter Hand der Königsallee von der Plantage ab, enthält den sogenannten freien Badeplatz für das männliche Geschlecht.“ Diese erste räumliche und zugleich geschlechtsspezifische Untergliederung implizierte zudem ein soziales Aus- 629 Geisthövel, Promenadenmischungen, S. 213. 630 Vgl. Friedrich, Volkswirtschaft, S. 96. 631 Für dieses und das Folgende siehe Kind, Swinemünde, S. 113ff. 632 GStA, Rep. 93 B, Nr. 2039, S. 75. <?page no="163"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 162 schlussverfahren, denn „es bedienen sich desselben nur die niederen Klassen, welche ohne Badehütten oder Badekutschen baden“. Den an den Rand verwiesenen „niederen Klassen“ folgte in der „zweiten Abtheilung“ der Badeplatz „für Herren, welche sich der Badehütten oder Badekutschen bedienen“. Die nun folgende „dritte Abtheilung“ war eine verbotene Leerzone, die der schambesetzten öffentlichen Badekultur der Geschlechter im offenen Meer einen (auch sexuell) neutralen Freiraum schaffen sollte. Als eigenständige Abteilung blieb sie gleichwohl (größter) Teil des Gesamtensembles und erfüllte als Distanzraum ihre Funktion. „Die dritte Abtheilung des Badeplatzes, [...] ist ein freier Platz von etwa 500 Schritten Breite; er trennt beide Geschlechter, und wird daher von Niemanden zum Baden benutzt, noch dient er während der Badestunde zur Promenade“. 633 Gerade in der fragilen Zone des Strandraumes, in der man den Körpern ihre Hüllen nahm, bedurfte es dieser räumlichen Segregation, um sich der geschlechtlichen Ordnung zu vergewissern und sie aufrechterhalten zu können. Die anschließende „vierte Abtheilung“, man ahnt es, „ist für die Damen bestimmt, welche sich einer der daselbst befindlichen Badehütten oder Badekutschen bedienen“. Den zahlreichen Frauen im Seebad stand, in ihrer Rolle als dem „schwaches Geschlecht“, auch der besondere Komfort eines „chaussirten Fahr- und geebneten Fußweges“ bis kurz vor den Badeplatz zu. Für besonders kränkliche Frauen bestand, allerdings nur mit der „schriftlichen Erlaubniß“ 634 des Badearztes, darüber hinaus die Möglichkeit, direkt bis an die Badehütte gefahren zu werden. Abschließend die „fünfte Abtheilung“, die Kind nur knapp als „freier Badeplatz für das weibliche Geschlecht“ bezeichnet, deren Äquivalent die entsprechende Abteilung der Männer der „niederen Klassen“ war. Auch in dem offiziellen „Reglement für die Bade-Anstalt zu Swinemünde“ vom Mai 1825 findet sich unter Paragraf 5 die Einordnung dieses äußersten Badeplatzes. Dort hieß es: Neben den inneren Badeplätzen „finden auf jeder Seite desselben noch 2 sogenannte freie Badeplätze für die hiesigen Einwohner, und überhaupt für alle diejenigen statt, welche nicht Badehütten oder Badekarren beim Baden benutzen“. 635 Zur sozialen Abgrenzung der einzelnen Badeabschnitte kam hier noch die Trennung von einheimischen und fremden Badegästen hinzu. Allerdings handelte es sich bei den erwähnten „hiesigen Einwohnern“ nicht 633 Kind, Swinemünde, S. 114. 634 Kind, Swinemünde, S. 114. 635 GStA, Rep. 93 B, Nr. 2039, S. 74-79. In Doberan begann das Baden in der See mit zwei Schaluppen, schwimmenden Badeanstalten, wie man sie bereits von den Flussbädern kannte. Auch in Wendorf bei Wismar bediente man sich ab 1821 eines großen Badeschiffes. Beide Varianten konnten sich aber wegen des großen Aufwandes gegenüber den Badekarren und Badeanstalten nicht lange halten. Vgl. dazu Prignitz, Badekarren, S. 85ff. <?page no="164"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 163 um die gesellschaftliche Elite von Swinemünde, die den ihr zustehenden Platz in „ihrem“ Seebad zu wahren wusste. Wa s be de ute te di es e räu ml ich e St ruk tur ie run g der B ad ean sta lt f ür di e so zia le Ordnung des Seebades? Im Wesentlichen, so lässt sich die soziale Differenzierung beschreiben, wurden bürgerliche Gesellschaftsmuster bis in die räumliche Struktur der Badeanstalt übertragen. Körper- und Geschlechterkonstruktionen fanden im Kurbereich ebenso wie die soziale Differenzierung ihren Platz. Trotz aller Unterschiede, die zwischen Kurzeit und Alltag bestanden, beruhte die soziale Konstruktion dieser Gesellschaft auf der Durchsetzung sozialer und moralischer Normen ihrer Protagonisten. Freilich wurden ältere Badegewohnheiten durch die im öffentlichen Seebad durchgesetzte strenge Trennung nach Geschlecht und gesellschaftlichem Stand verdrängt. So verschwand das längere Zeit hauptsächlich von Männern bevorzugte und betriebene freie Baden in der See durch den disziplinierenden Charakter der Badeanstalt immer mehr. 636 Die soziale Distanz wurde durch diese räumliche Anordnung gewahrt, allerdings umschloss sie trotzdem einen gemeinsam genutzten und abgeschlossenen Raum, der der größeren Gefährdung, der Verletzung der Tugendsphäre durch fremde Blicke, Einhalt gebot. Das „gehobene“ Publikum erhielt dabei mit seinem Platz direkt an der mittleren Leerfläche den verletzungsanfälligeren Raum, da er trotz der Freifläche an den andersgeschlechtlichen Badebereich grenzte. Damit wurde dieser sozialen Gruppe aber auch die Fähigkeit zu größerer Eigenverantwortung und Selbstdisziplinierung zugesprochen. Ein gewisses egalitäres Moment blieb hier aber erhalten, indem auch die „niederen Klassen“, zu denen Kind an anderer Stelle auch das Badehilfspersonal rechnete, 637 selbst wenn sie an den Rand gedrängt waren, von Beginn an einen Platz in der Badeanstalt besaßen. Die vier äußeren Abteilungen zeichneten sich also durch den Ausschluss aller jeweils anderen Abteilungen aus, während die mittlere für alle Personen tabuisiert war und als eine freie Fläche vor allem eine Schranke für das lustvolle Sehen darstellte. Für die Abteilungen der höheren Klassen, also der zweiten und vierten Abteilung, differenzierte sich diese räumliche Abgrenzung noch weiter. Ihr Platz am Strand war 636 In einem Bericht an den preußischen König über das Seebad von Doberan 1801 heißt es: „Man bedient sich des Bades an der Ostsee, welche nach ¾ Meilen von Dobberan entfernt ist, teils ganz frei in der offenen See, welches doch nur von Seiten des männlichen Geschlechts geschieht und dennoch immer ein Übelstand ist, dem man abhelfen sollte.“ GStA, Rep. 96 A, 117 Q, Schreiben vom 26.7.1801. 637 „Die niedere Klasse der hiesigen Einwohner leistet den Fremden [...] beim Bade in der See nöthige Dienste.“ Kind, Swinemünde, S. 112. <?page no="165"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 164 nur bis zum Erreichen der Badehütte oder des Badekarrens ein mit den anwesenden Anderen geteilter. Ab diesem Punkt wurde aus dem öffentlichen Badeplatz, wie ihn die „niederen Klassen“ am Rande erfuhren, der fast schon wieder private bürgerlichschambesetzte Baderaum. Timmendorfer Strand mit Badekarren, z.T. mit Sichtschutz, 1907. Noch stärker präsentierte sich der private Rückzugsbereich in den Badezellen der Badeanstalt, die über einen Steg direkt in das tiefere Wasser führten und es dem Badegast auch noch ersparten, fremden Blicken während des Weges über den Strand ausgesetzt zu sein. Seine höchste Vollendung fand das unsichtbare Baden für „sehr schwächliche Personen“ 638 in Badekutschen, die am Ende des Steges standen und von denen aus man direkt ins Wasser gelangte. Wenn der Badegast sich hier aus- und ankleidete, hatte dies „die Annehmlichkeit, dass man keines Bademantels 638 Kind, Swinemünde, S. 57. Badekutschen verbreiteten sich in England und den Nordseebädern schnell. Auch in Doberan und anderen Ostseebädern waren sie im Gebrauch, allerdings in geringerem Umfang. Vor allem da die Ostsee keine Gezeiten kennt, bevorzugten viele Ostseebäder Badehütten oder -stege. Für schamhaftere Personen erwies sich die Badekutsche aber als idealer Rückzugsraum, um sowohl der gewünschten Nacktheit während des Badens nachzukommen, als auch gänzlich den Blicken der Anderen entzogen zu sein. <?page no="166"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 165 bedarf und also von Niemand im Bademantel gesehen wird“. 639 Im Wasser „selbst sind alle ohne Ausnahme ganz entkleidet“, und unter einem Schirm war man gänzlich vor den Blicken der anderen Badegäste geschützt. Damit wurde in gewissem Umfang die Tatsache des egalitären Moments der Nacktheit aufgehoben, da sie unter diesen Bedingungen den Blicken der Öffentlichkeit vollständig entzogen blieb. Gleichwohl wurde auch mittels der selbst im Wasser gezogenen Grenzen, „kleine rothe Fahnen zur Bezeichnung der Grenzlinien“, 640 für die meisten der Badenden das Seewasser zum Element, in dem sich die vorgeschriebene Trennung nur mit Mühe aufrechterhalten ließ. Freilich sorgte gerade die geschlechterhomogene und sozial differente Struktur der Badeabteilungen dafür, dass eine Annäherung zwischen den Geschlechtern räumlich erschwert und zugleich das distinktive Verhalten innerhalb der geschlechterhomogenen Zone erhalten blieb. Damit dies auch dauerhaft gewährleistet war, oblag es im gesamten öffentlichen Baderaum den von der Badedirektion angestellten Badewärtern, diese „Ordnung auf dem Badeplatze zu erhalten“. 641 Aber noch bevor die räumliche Trennung überhaupt vollzogen werden konnte, regulierte der Besitz ökonomischen Kapitals den Zutritt zur Anstalt, dies auch ohne eine kostspielige Anreise. Nach dem Eintritt konnte der Besuch sämtlicher Abteilungen der Badeanstalt erst mit dem Erwerb „eines Billets zum Gebrauche der Anstalt“ erfolgen, dessen Höhe festgelegt war „nach § 21 des Badereglements, welches jeder Badegast bei seiner Ankunft von der Bade-Direction zugeschickt erhält, [und] bei dem Rendanten der Badekasse“ erwerben konnte. Diese Zutrittskarten mussten beim dafür angestellten Personal vorgezeigt werden und „sind nur für die darauf benannten Personen gültig“. 642 Auch für die jeweils 20 bis 30 Badehütten der Abteilungen zwei und vier der Badeanstalt, die zumeist von den Einwohnern Swinemündes gestellt wurden, zahlte der Badegast eine Gebühr, die für die ganze Badezeit ungefähr zwei Reichstaler betrug. 643 Abschließend kam Dr. Kind noch einmal auf die Sonderregelung für Kinder zu sprechen. Auch sie sollten ab einem bestimmten Alter in das System der geschlechtlichen Differenz eingefügt werden. 644 Es durften „Knaben, welche älter als 4 Jahre 639 Kind, Swinemünde, S. 57. 640 Kind, Swinemünde, S. 115. 641 Kind, Swinemünde, S. 115. 642 Kind, Swinemünde, S. 115. 643 Kind, Swinemünde, S. 114. 644 Norbert Elias spricht von der wachsenden Distanz zwischen Eltern und Kindern, die „das, was wir ,sexuelle Aufklärung’ nennen, zu einem ,brennenden Problem’“ werden lässt. Im Seebad mit seiner öffentlichen zur Schau-Stellung des Körpers muss gerade die Geschlechterdifferenz und die damit verbundene irritierende Körperwahrnehmung auch von fremden Personen zu einer Herausforderung für den Umgang mit den heranwachsenden Kindern werden. Vgl. dazu ders.: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, Amsterdam (1939) 1997, S. 338ff., hier S. 338. <?page no="167"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 166 sind, von ihren Müttern nicht mit auf den Damen-Badeplatz gebracht werden [...] sondern [müssen] auf dem Badeplatze der Herren unter männlicher Aufsicht baden“ 645 . Für das Seebad Brösen bei Danzig bestimmte die Königliche Regierung zu Danzig die Mitnahme von Kindern bis zu sechs Jahren durch Mütter oder andere weibliche Personen. „Für ältere Kinder bestimmt ihr Geschlecht den Platz, wohin sie zu bringen sind.“ 646 3.1.4.1 Ausweitung des Heilraumes Da die Heilkraft des Seebades sich nach Meinung der Ärzte nicht allein aus dem Baden in der See speiste, sondern auch aus seiner Funktion als nicht-alltäglicher Raum, in dem der Badegast weniger (oder anderen) Einschränkungen unterlag, weitete sich auch der Raum der Heilung über die eigentliche Seebadeanstalt aus. Und so führte Dr. Kind im Kapitel „Von den Vergnügungsorten“ die Badegäste schließlich in die weitere Umgebung von Swinemünde hinaus. Der beschränkte Raum der Badeanstalten wurde verlassen und um verschiedene Ziele mit jeweils unterschiedlichen Handlungsoptionen erweitert. Dies begann mit der wichtigsten und den Badeanlagen nächstgelegenen Örtlichkeit, dem Gesellschaftshaus. Hier war der zentrale Ort des gesellschaftlichen Lebens, und zwar in räumlicher wie in kommunikativer Hinsicht. Die Kommunikation innerhalb der Badegesellschaft fand hier ebenso ihren Platz wie die über den Baderaum hinausgehende erweiterte Kommunikation durch die Lektüre der ausliegenden Zeitungen. Gästezimmer boten einen privaten Rückzugsraum und gemeinsame Mahlzeiten und vor allem die Abendveranstaltungen (Tanz, Spiele etc.) verstärkten die Bindekraft innerhalb der Badegesellschaft. Direkt am Swinemünder Gesellschaftshaus errichtete man „in der Form eines sehr eleganten Pavillons“ eine „Camera obscura“, auf der „die belebte Umgegend im verjüngten Maaßstabe“ 647 zu sehen war. Diese künstliche Inszenierung der Umgebung wurde in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung nochmal verstärkt, indem der Besitzer der Kamera sich bereit erklärte, die Eintrittskosten für arme Familien zu spenden. 648 Nachdem die Badegäste hier also die Umgebung bereits über raffinierte technische 645 Kind, Swinemünde, S. 117. Dabei waren es bezeichnenderweise die Jungen, denen im Alter zwischen vier und sechs Jahren der Zugang zum Frauenbad verboten wurde, während es selbstverständlich war, dass die jungen Mädchen nicht bei ihren Vätern badeten, also auch keine Regelung bezüglich eines Wechsels in das Frauenbad nötig erschien. 646 Veröffentlicht im Amtsblatt der Königlichen Regierung 1823, Stück 26, S. 389, hier aus: Augustin, Preußische Medicinalverfassung, S. 874. 647 Kind, Swinemünde, S. 122. 648 Kind, Swinemünde, S. 122. <?page no="168"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 167 Spielereien kennen lernen konnten, begann die weitere Erschließung des Raumes. In Swinemünde besichtigte man regelmäßig den Hafen, Bootsfahrten führten zu en tle ge ne n Eta bl is sem ent s, Wan de run gen v er lie fe n zu erh öht en A uss ic hts pu nkt en mit Blick auf das Meer, und schließlich folgt der Besuch des „von den Fremden am meisten besuchten Vergnügungsortes Heringsdorf“. 649 Allen diesen Orten war die räumliche Orientierung auf die Ostsee gemeinsam und gleichgültig wie groß die reale Entfernung vom Seebad zu den Ausflugszielen war, gehörten sie im räumlichen Verständnis zum Seebad Swinemünde, hatten teil an dessen Raumkonstruktion. Auch die Erschließung des Naturraumes durch die Anlage von Promenaden und Wegen machte diesen zu einem zwar weniger exklusiven, trotzdem aber sozial definierten und kulturell besetzten Raum. Die so in den Kurraum eingeschlossene Umgebung wurde als „,gesunde’ Landschaft“ 650 mit in das Heilkonzept des Seebades einbezogen. Luft, Licht, Bewegung, gesellschaftliche Freiräume und das Naturschauspiel des Meeres verbanden sich mit dem eigentlichen Kurbetrieb zu einem Gesamttherapieraum. Zu dieser Ausweitung des Baderaumes gehörten auch die Gebäude für Unterkunft und Verpflegung außerhalb des Gesellschaftshauses, die Anlage von Parks und Vergnügungsorten. Bis hin zur Erschließung der umgebenden Landschaft mit der Schaffung von Restaurationen, Aussichtspunkten, Ruheplätzen usw. wurde der bislang symbolisch unbesetzte Raum mit diesen markanten Bausteinen als neuer Ortstypus des Seebades festgeschrieben. Es entstanden so auch in und um das Seebad „sehr viel mehr Raum und Räume für die Öffentlichkeit“. 651 Selbst dort, wo die kleinen Seebäder sich keinen aufwendigen Ausbau der Infrastruktur leisten konnten, zeigte sich in der Anlage von Wegen und Ruheplätzen und dem Anspruch, ein über das Bad in der See hinausgehendes gesellschaftliches Leben zu organisieren, diese schnell zur Selbstverständlichkeit werdende Raumkonstruktion. 3.1.5 Badeärzte - Rolle und Funktion Der Badearzt als Exponent einer staatlich legitimierten, medikalen Kontrollinstanz, war und ist ein bestimmender Akteur der Verhaltenspraxis und Ordnungsproduktion im öffentlichen Seebad. Pointiert gesprochen liegt auch im Seebad die „Definition, wer gesund, krank, arbeitsunfähig, invalid oder tot ist“, 652 in der Befugnis des Badearztes. Das verweist auf seine herausgehobene Stellung bei der fortschreitenden 649 Kind, Swinemünde, S. 129. 650 Fuhs, Mondäne Orte, S. 97. 651 Eßer/ Fuchs, Bäder in der Aufklärung, Einleitung, S. 12. 652 Gurtner, Machtwechsel, S. 48. <?page no="169"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 168 sozialen Disziplinierung im Kontext einer „verstärkten Ordnungs- und Normenproduktion um die Wende ins 19. Jahrhundert“. 653 Ärzte waren zudem aktiv in den Gründungsprozess vieler Seebäder eingebunden und waren bis ca. 1830 in vielen Fällen auch finanziell beim Aufbau der Seebäder engagiert. 654 Schon Lichtenberg fügte, wie erwähnt, in seinem Aufsatz den Arzt als Träger und Verantwortlichen dieses Prozesses an. 655 Dieses öffentliche Engagement verstand sich dabei unter der Prämisse eines vor allem durch die Profession des Arztes geprägten Heilraumes. Der gesellschaftliche Raum des Seebades unterlag von Beginn an einer Dualität von Arzt und Patient mit allen sich daraus ableitenden Verhaltensoptionen. Indikationen wie das „Nervenleiden“ veranlassten den Patienten, aus der empfundenen Unmündigkeit seines Krankheitszustandes heraus den Badearzt als Autorität zur Wiederherstellung der gewünschten Befindlichkeit anzuerkennen. Damit wurde zum einen auch seitens des Patienten die so benannte Krankheit als Abweichung von der Norm anerkannt, ihm zum anderen jedoch die Möglichkeit gegeben, durch seine Bereitschaft, sich dem professionellen Bemühen des Arztes zu unterwerfen, diesem Übel auf bewährte Weise abzuhelfen. Deviantes, nicht-alltägliches Verhalten des Patienten erhielt damit aber im Rahmen der Therapie im Seebad die Gelegenheit, bis zu einem gewissen Grade ausgelebt zu werden. Abweichende Lebenspraxis gehörte aus therapeutischer Sicht also zum grundsätzlich anerkannten Verhalten im Seebad. Es fand demnach eine Art Umkehrung von angedrohter Sanktion in Sympathie statt, jedoch unter der Voraussetzung, dass sich der Patient „von dem die Verurteilung hervorrufenden Merkmal oder Verhalten zu befreien sucht“. 656 Von dieser Übereinkunft zwischen Patient und Arzt hing letztlich auch die Position und Legitimation des Arztes im Seebad ab. 657 Und der Arzt, ungeachtet der Vehemenz, mit der er wiederholt auf die Einhaltung der aufgestellten Regeln drängte, wusste sich so in einer Position, die gegenüber dem Patienten einerseits fordernd, andererseits nur in einem dienenden Verständnis auftreten konnte. Die soziale und gesellschaftliche Position des Arztes, aber auch sein Selbstverständnis als altruisti- 653 Kaschuba, Deutsche Sauberkeit, S. 318. 654 Vgl. Tilitzky/ Glodzey, Ostseebäder, S. 519. 655 Lichtenberg, SuB, Bd. 3, S. 98. 656 Freidson, Ärztestand, S. 211. 657 Sicher hängt die Position des modernen Arztes immer von der Definition der Dialogpartner als Patient und Arzt, als Laie und Professioneller, ab. Für das Seebad bedeutet aber die spezifische Einordnung des Raumes als Kurort am Meer eine ungleich stärkere Abhängigkeit des Arztes von der Bereitschaft der Gäste, sich seiner ja zeitlich nur begrenzten Autorität zu beugen. Anderenfalls bleibt das Seebad als Kurort zurück, in dem sich Laien als mündige Verwalter ihres eigenen Lebens ohne ärztliche Unterstützung betrachten und damit auch der Kontrolle einer legitimierten Instanz stärker entziehen können. <?page no="170"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 169 scher Diener einer leidenden Menschheit, erforderten die Bereitschaft zur Hilfe, nicht aber den Zwang zur Erfüllung aufgestellter Regeln. Vogel formulierte das expl iz it : „Da es ganz gegen die Grundsätze eines edlen Arztes anstößt, sich unberufen in fremde Curen zu mischen, und zumal der geringste Schein eines schmutzigen Eigennutzes unverträglich mit seinen Gesinnungen ist; so kann ein jeder Badegast in Doberan sicher darauf rechnen, dass er durch mich deshalb nie in Verlegenheit kommen wird. Ohne ausdrückliche Aufforderung lasse ich einen Jeden ungestört nach seiner Weise verfahren, so lange ich nicht offenbare und grobe Mißgriffe, wovon irgend eine Gefahr zu besorgen seyn könnte, dabey wahrnehme.“ 658 Den hohen Anspruch, den man den Ärzten auch von außen zumutete, zeigte eine Forderung von Hufeland. Darin forderte dieser vom Arzt die unbedingte Kopplung seines Berufsethos an eine verstandesüberschreitende Religion. „Es giebt, nach meiner Meinung, nur ein Princip, woraus dieser höhere Theil seines Berufs hervorgehen mus […] und dies ist - das Princip der Religiosität, die Erhebung des Gemüths über das Gemeine und Irdische zu einer höheren geistigen Welt, das Leben in der Idee, und zwar in der höchsten, göttlichen.“ 659 In diesem Sinne zeigte das Bemühen der Ärzte aber auch, wie sie um den Zugriff auf das Verhalten der Kurgäste ringen mussten. Das widerstrebende Verhalten von Badegästen, die ohne ärztlichen Rat badeten, verstieß damit nicht nur gegen den ärztlichen Anspruch auf Kontrolle, sondern verhinderte auch die behördlich angestrebte Erfassung der genommenen Bäder. 660 Die Ende des 18. Jahrhunderts an den Universitäten dominierende Lehrmeinung beruhte auf den von den Aufklärungsphilosophen schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts geforderten neuen Umgangsformen mit dem Körper. 661 Es oblag danach dem Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft die Pflicht, seinen Körper gesund zu erhalten. 662 Gesundheit bedeutete die Möglichkeit des Aufstiegs und der sozialen Anerkennung. Hygiene, Selbstkontrolle und die Beseitigung unnatürlicher Lebensbedingungen gehörten zum Selbstverständnis einer aufgeklärten Gesellschaft, die sich mit den Mitteln des sittlichen Individuums auch gegen die alte aristokrati- 658 Vogel, Allgemeine Baderegeln, S. 50. 659 Hufeland: Über die moralische Wirksamkeit des Arztes. In: Ders.: Kleine medizinische Schriften, Bd. 4, Berlin 1828, S. 162. Zit. nach Brockmeyer, Selbstverständnisse, S. 187. 660 „Eine genauere Angabe [der genommenen Bäder, H.B.] ist indess, bei der mangelnden badepolizeilichen Statistik, um so weniger möglich, als viele Personen ohne eigentlich ärztlichen Beirath baden.“ Lieboldt, Privat-Seebadeanstalt, S. 351. 661 Vgl. Frey, Bürger, S. 121. 662 „Der Körper in Bewegung war die Voraussetzung der wirtschaftlich selbständigen Existenz des Bürgers.“ Frey, Bürger, S. 122. <?page no="171"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 170 sche Ordnung richtete: „Der bürgerliche Blick auf soziale wie hygienische Verhältnisse wird kritischer, analytischer, auch selbstkritischer.“ 663 Die Vervollkommnung des Menschen auf medizinischem Wege, eine bisweilen „dogmatische Medizinierung der Gesellschaft“, 664 wurde in Deutschland u.a. von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646- 1713) und später Johann Peter Frank (1745-1821) mit seinem Werk „System einer vollständigen medicinischen Polizey“ (1779) propagiert. 665 Franks Werk, so Barthel, war ein „polizey-staatliches Reformprogramm“ das „obrigkeitlichen Dirigismus und aufklärerisch motivierte Zivilisationsprogrammatik“ zusammenführte um „ein herrschaftsstabilisierendes, produktives Untertanenmaterial herzustellen“. 666 Franks Programm schloss sich Jean-Jacques Rousseaus zivilisationskritischem Blick auf die menschliche Gesellschaft an, die vor allem in den Städten die „Brutstätten der Krankheit“ 667 verortete. Im Sinne eines eigenverantwortlichen Bürgers im aufklärerischen Sinne verlagerte sich der Schwerpunkt der gesellschaftlichen Autorität des Arztes im Sinne der medizinischen Polizey hin zu einer eigenverantwortlichen Praxis, einer „vernunftdisziplinierten Mündigkeit“ 668 des Bürgers. So begründete Johann Benjamin Erhard (1766- 1827) in seiner „Theorie der Gesetze“ die Kritik an der Verknüpfung obrigkeitlicher Lenkung mit einer zweifelhaften ärztlichen Praxis: „Es lässt sich nur mit vermessener Dreistigkeit behaupten, dass die Menschen im Durchschnitt mit ihrer Gesundheit besser daran wären, wenn sie die oft durch Begünstigung von oben herab unter ihnen verbreiteten Vorschriften der Ärzte befolgen würden. [...] Die Stimme der Ärzte, wenn sie nicht von der allgemeinen Erfahrung gestützt wird, ist ein schwacher Beweis für die Güte einer Behauptung, die die Gesundheit betrifft.“ 669 Eine derart kritische Einstellung gegenüber dem Ärztestand gab auch Hans Heinrich Ludwig von Held 1804 (1764-1842) 670 in seiner Beschreibung des Seeba- 663 Kaschuba, Deutsche Sauberkeit, S. 311. 664 Foucault, Geburt der Klinik, S. 49. 665 „Im späten 18. Jahrhundert beherrschte das Konzept der ,medicinischen Polizey’ Verwaltungen und medizinische Fakultäten, vor allem in Mitteleuropa, Deutschland und Italien, galt jedoch um 1850 als ebenso überholt wie der politische Absolutismus angesichts des Aufkommens einer liberalen industriellen Gesellschaft.“ Luyendijk-Elshout, Medizin, S. 449f. 666 Barthel, Medizinische Polizey, S. 79. 667 Luyendijk-Elshout, Medizin, S. 449. 668 Barthel, Medizinische Polizey, S. 92. 669 Johann Benjamin Erhard, Theorie der Gesetze, S. 6. Zit. nach Barthel, Medizinische Polizey, S. 91. 670 Held, Sohn eines preußischen Offiziers, Beamter und Publizist aus Breslau, wegen seiner veröffentlichten Anklage gegen korrupte Beamte in der preußischen Verwaltung verurteilt und nach Kolberg gebracht, wo er seinen Bericht über das Meerbad verfasste. Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 50, Leipzig 1905, S. 159f. <?page no="172"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 171 des Kolberg wieder, wenn er zwischen einer prinzipiell guten Heilkunde und den unfähigen Ärzten unterschied: „Von der Arzneykunde verstehe ich grade soviel, als nöt hi g is t, u m überz eug t zu seyn , daß sie a n sic h, sam t ihren H ülfs wiss ensch aft en höch st achtungswerth ist, die meisten Ärzte hingegen sehr lächerlich und verächtlich sind.“ 671 In der medikalen Praxis blieb man aber an einer staatlich legitimierten ärztlichen Vormundschaft über den Patienten und klaren hierarchischen Strukturen interessiert. So forderte im Jahre 1828 der Badearzt der Eisenquelle im pommerschen Polzin, Dr. Simon, beim preußischen Ministerium für Medicinal-Angelegenheiten die Etablierung eines staatlich bestellten Badearztes für die gesamte preußische Ostseeküste. Unter diesem mit Disziplinarfunktionen versehenen Amt sollten Bezirksbadeärzte die Arbeit in den einzelnen Seebädern leisten. Damit könne man dem Übel, dass in einzelnen Anstalten das Seebad „zum Nachtheile vieler Kranker [...] häufig ohne alle ärztliche Aufsicht gebraucht“ werde, abhelfen und zugleich im Namen der Wissenschaft wirken, „indem durch die Menge aufmerksamer Beobachtungen der Indicationen zum Gebrauche der Seebäder festgestellt werden können“. 672 Mit diesem Wechselverhältnis, des gegenseitigen Aufeinanderangewiesenseins wie einer aus kommunikativen Machtstrukturen erwachsenen gewissen Distanz, waren die Badeärzte wie ihr gebildetes Publikum bestens vertraut. Selbstkontrolle und Fremdkontrolle innerhalb des Seebades griffen nicht immer problemlos, aber letztlich wirksam ineinander. Die Funktion des Badearztes für das Erreichen einer sozial geforderten Gesundheit waren also Arzt und Patienten durchaus bewusst. „Die Ärzte als maßgebliche Protagonisten dieses Diskurses“, so Barthel, „sind damit nicht seine Initiatoren, sondern allenfalls Träger - Multiplikatoren einer gesellschaftlichen Dynamik, an der sie teilhaben und die sie in aufklärungstypischer Emphase und mit professionspolitischen Ambitionen sich zu eigen machen.“ 673 Erst mit der Etablierung von Verhaltensnormen durch die ärztliche Instanz und unter Einbeziehung des Strandraumes als Ort medikativer Präsenz vollzog sich der entscheidende Schritt vom „wilden“ Baden zum offiziellen Seebad. Die sozial relativ homogene Gruppe der Badeärzte bestimmte in ihrer amtlichen Funktion die Formen von Krankheit, die am Ort behandelt werden konnten und definierte ebenso die Kontraindikationen und die Form der Therapie. Damit übten die Ärzte im Seebad eine entscheidende, wenn auch weder unumstrittene noch allgemein anerkannte, gesellschaftliche Ordnungsfunktion aus. Mit ihrer legitimierten Autorität besaßen sie die Möglichkeit, sowohl die räumliche Struktur des Seebades als Ort der Heilung mittels der Definition von spezifischen Heilräumen als auch 671 Held, Colberg, S. 2. 672 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben des Brunnenarztes Dr. Simon vom 1.1.1828. 673 Barthel, Medizinische Polizey, S. 41. <?page no="173"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 172 durch Handlungsanweisungen festzulegen. Auch konnten sie die zeitliche Struktur des Heilungsprozesses für die Patienten vorgeben. Ihre stärkste Waffe in diesem Prozess ist aber die Festlegung von Indikationen, d.h. die Bestimmung von Krankheiten und deren Symptomen und des damit verbundenen spezifischen Heilungsinstruments, des Seebades. In der Durchsetzung ihrer Autorität vor dem Badepublikum zeigte sich die soziale Rolle des Arztes, der mittels seines Bildungskapitals in der Lage war, sich vor allem gegenüber dem Kurgast als legitimer Kenner der Heilkräfte des Meeres zu behaupten. Übertretungen der von den Ärzten aufgestellten Regeln konnten dementsprechend „die fürchterlichsten Folgen“ 674 nach sich ziehen. Nicht nur an die Durchsetzung von aufgestellten Bade- und Verhaltensregeln mussten die Ärzte immer wieder mahnend erinnern. Erschwerend kam hinzu, dass man auch bei dem gutwilligsten Patienten darauf angewiesen war, mühsam die vollständige Krankengeschichte in Erfahrung zu bringen und in die medizinische Sprache und anschließend praktische Handlungsanweisungen zu übersetzen. Vogel sprach von den Schwierigkeiten, „die der Kranke durch die Dunkelheit, Unsicherheit und Unvollständigkeit seiner Relation macht“. 675 Diffuse Symptomatik und schwammige Krankheitsbilder erforderten, da eine effektive Therapeutik nur begrenzt möglich war, allgemeine diätetische und sozial-psychologische Handlungsanweisungen für den Patienten. Medizin und Moral wurden so zum gemeinsamen Instrument ärztlichen Handelns im Bad. 3.1.5.1 Karrieren Betrachtet man die erste Generation der Badeärzte an der Ostseeküste fällt vor allem eines auf: Es waren vielfach Ärzte, die, als sie ihre Funktion als Badeärzte antraten, im Zenit ihrer Laufbahn standen. Alle hatten eine akademische Karriere durchlaufen, gehörten als humanistische Gelehrte dem Bildungsbürgertum an und rangierten hinsichtlich ihres sozialen Ansehens über der Masse der Wundärzte. 676 Samuel Gottlieb Vogel, dessen Nachfolger in Doberan Johann David Wilhelm Sachse, die beiden Kieler Badeärzte Joachim Dietrich Brandis und Christoph Heinrich Pfaff studierten in den 1770er und 1780er Jahren an der renommierten medizinischen Fakultät der Universität Göttingen, einer der „Fixsterne am Firmament der Medizin“, 677 oder, wie Hufeland später in seiner Selbstbiografie schrieb, „einer Universität, die 674 Kind, Swinemünde, S. 54. 675 Vogel, Fortgesetzte Bemerkungen. In: Journal der practischen Arzneykunde, 6. Bd., 1. St., Jena 1798, S. 4f. 676 Vgl. zum Stand und zur Professionalisierung der Ärzte vor allem Huerkamp, Aufstieg, S. 60ff. 677 Brockliss, Lehrpläne, S. 490. <?page no="174"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 173 damals, besonders in der Medizin, allen anderen vorstand“. 678 Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836), in Göttingen u.a. Schüler Georg Christoph Lichtenbergs, galt als „einer der einflussreichsten Ärzteerzieher zu Beginn des 19. Jahrhunderts“, 679 war ab 1801 Leibarzt der preußischen Königsfamilie und vor allem als Herausgeber des ab 1795 erscheinenden „Journal der practischen Arzneykunst“ prominenter Förderer der Seebäder. 680 Im von der preußischen Regierung in Königsberg geförderten Seebad Cranz wurde zunächst der Regierungs- und Medizinalrat Dr. Kessel mit der Suche nach dem passenden Badeort in der Nähe Königsberg bestimmt, bevor der Wundarzt und Gebietschirurg Dr. Herbrandt [Heerbrandt] „mit Wahrnehmung der Geschäfte eines Bade-Komissarius beauftragt“ 681 wurde. In Travemünde praktizierte Dr. Gisbert Swartendyck Stierling, „Badearzt daselbst, mehrerer gelehrter Gesellschaften Mitglied“, 682 in Zoppot war der Danziger Arzt Dr. Haffner Badearzt, 683 in Putbus-Lauterbach Dr. Hecker. 684 Bereits im Juli 1793 hatte im „Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung“ der Königsberger Professor Johann Daniel Metzger (1739-1805) die Einrichtung eines preußischen Ostseebades gefordert. 685 Eine herausragende Stellung unter diesen Ärzten nimmt der bereits mehrfach erwähnte Samuel Gottlieb Vogel ein. Er war nicht nur Mitinitiator von Deutschlands erstem Seebad in Heiligendamm und dort erster Badearzt. Vor allem durch seine umfangreiche Publikationstätigkeit prägte er über sein regionales Einflussgebiet hinaus auf besondere Weise die medizinische, soziale und kulturelle Bedeutung der Seebäder.Vogel steht dabei als Arzt stellvertretend für eine ganze Reihe seiner Kollegen. Männlich, aus dem Bürgertum stammend, akademisch, d.h. nach staatlichen Regeln geschult und damit „in einem halb öffentlich-rechtlichen Status“ 686 . Viele der Badeärzte veröffentlichen Badeschriften, d.h. sie kommunizieren über ihren je eige- 678 So notierte es später Hufeland, Selbstbiographie, S. 55. Vgl. zu Haller und zur Geschichte der medizinischen Fakultät Göttingen auch Zimmermann, Facultät, S. 15f. 679 Steudel, Geschichte der Bäder- und Klimaheilkunde, S. 13. 680 Zu den Ärzten vgl. die entsprechenden Lexikonartikel in: Deutsche Biographische Enzyklopädie, hg. von Walther Killy und Rudolf Vierhaus, München. Zu Sachse Allgemeine Deutsche Bibliographie, Bd. 30, 1970 (1890), S. 144f. Sachse selbst bezeichnete Lichtenberg als „meinen vortrefflichen Lehrer“, dem es hinsichtlich des Seebades in Deutschland vorbehalten war, „deutsche Saumseligkeit zu wecken“. Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 43. 681 GStA, Seebäder Ostpreußen, 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben vom 28.3.1854. Vgl. auch Elvira Jurcenko: Die Seebäder Samlands und ihre Darstellung in Museen des Kaliningrader Gebiets. In: Kurilo, Seebäder, S. 223-254. 682 Stierling, Annalen des Seebades Travemünde. 683 Haffner, Die Seebadeanstalt zu Zoppot. 684 Hecker, Das Friedrich-Wilhelms-Seebad bei Putbus auf der Insel Rügen. 685 Vgl. Eulner, Meeresheilkunde, S. 125. 686 Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bürgerwelt, S. 260. <?page no="175"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 174 nen Raum hinaus mit den ärztlichen Kollegen und dem anvisierten Publikum. Dazu bestimmen sie auch über ihre finanzielle Einbindung den materiellen Aufbau der Seebäder und prägen deren Ausgestaltung in vielerlei Hinsicht. Ihr Kapital ist in erster Linie die akademische Ausbildung, von hier aus gründet sich ihr sozialer Status, ihr Handeln und ihre Legitimation vor Ort. So erklärt Vogel, die Badeärzte seien „der eigentliche Geist aller Brunnen und Bäder” 687 . Mit ihnen etabliert sich von Beginn an eine professionelle medizinische Leitung (und Hierarchie) im Seebad. Daraus resultierend bestand nun im öffentlichen Seebad der ordnungspolitisch legitimierte Versuch einer Dominanz der professionellen Ärzte gegenüber den als Laien verstandenen Kurgästen. 688 Mit Hilfe verschiedener Techniken, wie der Aufstellung von Baderegeln, der Veröffentlichung von Publikationen, der Mitgliedschaft in den Badekommissionen etc. wirken die Ärzte nach innen wie außen als Repräsentanten des neuen Kurtypus ohne sich freilich dabei gänzlich von der finanziellen Abhängigkeit der häufig wohlhabenderen Patienten befreiten zu können. 689 Gottlieb Samuel Vogel wurde mit der Gründung Heiligendamms und seiner Popularisierung zum berühmten und von vielen Kollegen nachgeahmten „Gründungsvater“ des Seebadewesens in Deutschland. Noch Jahrzehnte später wurde sein Name zusammen mit dem Lichtenbergs in diesem Zusammenhang angeführt. 690 An Vogel lässt sich auch, beispielhaft für viele Badeärzte der ersten Generation, die Verbindung aus professionellen und wissenschaftspolitischen Ambitionen ablesen. Vogel war 1750 in Erfurt gebürtig. 691 Er studierte in Göttingen, wo bereits sein Vater Rudolf Augustin Vogel (1724-1774) Professor der Medizin war, 692 promovierte dort bereits mit 21 Jahren und habilitierte sich 1776. Im Jahr 1784 erhielt er den Titel eines Großbritannischen Hofmedikus und wurde 1789 Hofrat und Professor der 687 Vogel, Handbuch 1819, S. 45. 688 Wobei auch hier der Konflikt des bis wenigstens in die Mitte des 19. Jahrhunderts andauernden Wandels vom Arzt-Patienten-Verhältnis besteht. Wissenschaftliches Expertentum bleibt solange anhängig von der Gunst des Patienten, bis die Heilung des Patienten tatsächlich mittels Untersuchung und Therapie häufig von Erfolg gekennzeichnet ist. Solange bleibt, so Huerkamp, „Die Beziehung der gelehrten Ärzte zur ihren Patienten […] durch eine strukturelle Asymmetrie gekennzeichnet.“ Vgl. dies., Aufstieg, S. 131. 689 Vgl. Huerkamp, Aufstieg, S. 131ff. 690 Vogel wird im Großteil der ärztlichen Schriften des 19. Jahrhunderts als Begründer des deutschen Seebadewesens benannt. So bezeichnet ihn Pfaff 1822 als den „vorzüglich verdienten Veteran unter den Aerzten“, Pfaff, Seebad, S. 3; Kind preist ihn als den „unsterbliche(n) Leibarzt des Großherzogs von Mecklenburg“, Ders., Seebad Swinemünde, S. 5. 691 Zu Vogel Kreuter, Alma, In: Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), Hg. von Walther Killy und Rudolf Vierhaus, München 1999, Bd. 10, S. 228. 692 Vgl. Zimmermann, Facultät, S. 29. Nach Euler behandelte Rudolf Augustin Vogel den Studenten Georg Christoph Lichtenberg, auch später seien die Familien befreundet gewesen. Ders. Meeresheilkunde, S. 115f. <?page no="176"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 175 Medizin an der Universität in Rostock. Er nahm mit einer regen Publikationstätigkeit an den zeitgenössischen medizinischen Diskussionen teil, wobei er sich stets als Pra kt ik er be ze ic hne te un d de n th eor eti sc hen D uel len d er Ro ma nti ke r, Er re gu ng stheoretiker und der anderen Strömungen zwar nicht gänzlich unbeeinflusst, aber eher reserviert gegenüberstand. 693 Für die Geschichte der deutschen Seebäder und ihre medizinische Ausprägung wurde Vogel aber vor allem darum interessant, weil er mit der Gründung des Ostseebades Heiligendamm bei Doberan eine Jahrzehnte währende Publikationsreihe zur Entstehung und Entwicklung des Seebades verfasste. Eröffnete wurde die Reihe bereits 1794, ein Jahr nach der ersten Badesaison, mit der Schrift „Über den Nutzen und Gebrauch der Seebäder“. Vogel wurde 1797 herzoglicher Leibarzt und Badearzt des Seebades Doberan, 1815 Geheimer Medizinalrat, seit 1830 ordentliches Mitglied der Medizinialkommission, 1832, sieben Jahre vor seinem Tod, schließlich vom bayerischen König nobiliert. 694 Dass Vogels Funktion als Badearzt zu Doberan, einer „ihm allerhöchst aufgetragenen Function“, ihn an der Abhaltung von Vorlesungen an der Universität Rostock hinderte, kann man in der Allgemeinen Literatur-Zeitung von 1829 nachlesen. 695 Vogels Schriften wurden die heiligen Bücher der Seebadeärzte und seine Doberaner Seebadgründung ein, wie Hufeland bemerkte, „Muster einer in aller Rücksicht vortrefflichen Badeanstalt“ 696 . Seine Karriere, auch das haben bereits die Zeitgenossen bemerkt, verdankte Vogel zu einem nicht unwesentlichen Teil seinem schriftstellerischen Engagement für das Doberaner Seebad. Wirkungsweisen, Therapien, Verhaltensregeln der ersten Seebadeanstalt wurden zu Richtlinien für die nachfolgenden Badeärzte. Auch praktische Anleitungen, etwa für Bau und Benutzung der Badeschiffe oder Badekarren, fanden durch Vogels z.T. bebilderte und erklärende Zeugnisse direkte Nachahmung. 697 Schließlich gelang es Vogel auch, Lichtenbergs in seinem Artikel geäußerte Forderung, Seebäder in Deutschland seien sinnvoller Weise an der Nordseeküste anzulegen, 698 zugunsten einer Anlage an der Ostsee abzumildern. 699 Vogel selbst 693 Besonders durch sein mehrbändiges, ab 1785 erscheinendes Standardwerk „Handbuch der practischen Arzneywissenschaft zum Gebrauche fur angehende Aerzte“ erlangt Vogel überregional Aufmerksamkeit. Bereits hier legt er Wert darauf, die gesammelte Erfahrung als Grundlage ärztlichen Handelns zu nehmen und rein theoretische Modelle mit Vorsicht zu betrachten. 694 Vgl. Kreuter, Alma, In: Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), Hg. von Walther Killy und Rudolf Vierhaus, München 1999, Bd. 10, S. 228. 695 Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Mai 1829, S. 554. 696 Hufeland, Praktische Übersicht, S. 236. 697 Vgl. u.a. Pfaff, Seebad. Die Badekarren der dortigen Badeanstalt seien „ganz nach dem Muster der Doberaner eingerichtet“. Ebd., S. 16. 698 „Die ganze Küste der Ostsee ist mir unbekannt, und ich für mein Teil würde sie dazu nicht wählen, solange nur noch ein Fleckchen an der Nordsee übrig wäre, das dazu taugte, weil dort das unbeschreiblich <?page no="177"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 176 wurde zur Vorbereitung und Verbesserung, und „um die Badeanstalt so zweckmäßig als möglich einzurichten wiederholt mit einem Baumeister auf Reisen geschickt“ 700 . Später reiste man zu ihm nach Doberan, um hier, wo in rascher Folge das ganze Set von Badeanlagen und Vergnügungseinrichtungen errichtet wurde, Maß zu nehmen für die neu zu gründenden Seebäder. 701 Vogels unaufdringliche, pragmatische, konsequent mit Erfahrungsberichten und anschaulichem Material gesättigten Veröffentlichungen, auch die Unterstützung seiner Bemühungen durch den Herzog, waren für die Etablierung der deutschen Ostseebäder von enormer Bedeutung. Dass andere Badeärzte bis ca. 1830 (hier dann v.a. Kind für Swinemünde und Sachse für Doberan) keine umfangreichen Monographien zu Seebädern veröffentlichten, lag nicht zuletzt an der erschöpfenden Behandlung, die Vogel in diesen Jahrzehnten auf diesem Gebiet geleistet hatte. Die Kenntnis vom Seebad als Heilraum war zu diesem Zeitpunkt bereits historisch geworden. Vogels hervorragender Ruf mag dazu beigetragen haben, dass das Engagement für die Gründung eines Seebades auch an anderen Orten von herausragenden Ärzten ausging. Vogels Kollege in Kiel, Joachim Dietrich Brandis, 702 beteiligt an der Gründung des dortigen Seebades im Düsternbrooker Holz, war ab 1803 Professor der Medizin in Kiel und wurde einige Jahre später Leibarzt der dänischen Königin. Auch er durchlief die akademische Schulung in Göttingen, wurde 1790 Brunnenarzt der Mineralquellen in Driburg und veröffentlichte zu den Fragen von Wasserkuren. 703 Sein Nachfolger als Badearzt in Kiel, der Professor für Medizin und Chemie Dr. Christoph Heinrich Pfaff, 704 betonte in seiner Schrift „Das Kieler Seebad“ Brandis' die besondere Qualifikation für sein Amt als Seebadearzt mit dessen Erfahrung als Brunnenarzt, da er „aus eigener Erfahrung große Schauspiel der Ebbe und Flut, wo nicht fehlt, doch nicht in der Majestät beobachtet werden kann, in welcher es sich an der Nordsee zeigt.“ Lichtenberg, SuB, Bd. 3, S. 96. 699 Vogel schreibt 1794 zur Frage nach der Lage der deutschen Seebäder und der Eignung der Ostsee: „Außerdem weiß ich seitdem aus dem Munde des Hrn. Hofrath Lichtenbergs selbst, dass Er hiegegen nun weiter nichts einzuwenden habe.“ Vogel, Gebrauch der, S. 19. Vogel weilte 1793 noch bei Lichtenberg in Göttingen, dem er die maßgebliche Anregung zur Bädergründung verdankte, um über Einzelheiten der Bädergründung und praktische Belange zur Anlage und Pflege der Bäder zu sprechen. Der Kontakt dauerte auch danach weiter fort. Vgl. Eulner, Meeresheilkunde, S. 126f. 700 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 297. Vor allem bei den berühmten Pyrmonter Mineralbrunnen holt sich Vogel Anregungen. Vgl. dazu Prignitz, Badekarren, S. 22. 701 Vgl. u.a. den Bericht zur Anlage eines Seebades in Pommern in dem genau über die Zustände im Doberaner Seebad berichtet wird, GStA, Rep. 96 A, 117 Q, Schreiben an Friedrich Wilhelm III. vom 26.7.1801. 702 Vgl. zu Brandis Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), Hg. von Walther Killy, München 1995, Bd. 2, S. 65. 703 Vgl. dazu Martin, Deutsches Badewesen, S. 377ff. 704 Vgl. zu Pfaff, Kreuter, Alma, In: Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), Hg. von Walther Killy und Rudolf Vierhaus, München 1998, Bd. 7, S. 633. <?page no="178"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 177 sehr genau wußte, wovon der Flor einer Badeanstalt vorzüglich mit abhänge“ 705 . Brandis war, wie einige seiner Kollegen in den Seebädern, überzeugter Vertreter eines wirkenden Prinzips der „Lebenskraft“. 706 Auch in Travemünde, der zweiten Seebadgründung an der Ostseeküste, prägen die Badeärzte Dr. Stierling („mehrerer gelehrter Gesellschaften Mitgliede“ 707 ) und Dr. med. et chir. F. Lieboldt 708 mit ihren Publikationen die Wahrnehmung und das Profil des Seebades nach innen und außen. Endlich gehört auch Dr. Richard Kind, „Königlicher Kreis=Physikus und Bade=Arzt“ 709 in Swinemünde, dem Theodor Fontane in seinen Kindheitserinnerungen ein Denkmal gesetzt hat, 710 zum Kreis dieser akademisch ausgebildeten Mediziner. Neben den von den Besitzern der Anstalten angestellten Ärzten der größeren Bäder 711 waren es vor allem die für die Regionen staatlicherseits zuständigen „Kreis- Physiki“, die in abgelegenen Orten den Aufbau von Seebädern vorantrieben. So verdankt auch Zoppot bei Danzig die Etablierung seines Seebades einem Mediziner. 712 Die Seebadeanstalt in Warnemünde bei Rostock wurde auf Anraten des Rostocker Rates 1834 vom Chirurgen Schütz aus Privatmitteln errichtet. 713 705 Pfaff, Seebad, S. II. 706 Vgl. Rothschuh, Physiologie, S. 173f. 707 Stierling, Annalen Travemünde, Deckblatt. 708 Lieboldt, Travemünde, Deckblatt. 709 Kind, Richard: Das Seebad zu Swinemünde. Stettin 1828, Deckblatt. 710 Fontanes Familie zog 1827 nach Swinemünde, wo Badearzt Dr. Kind zum Hausarzt wurde: „Ein anderer aus der Honoratiorenschaft war Hofrat Dr. Kind. [...] Das damals erst aufblühende Swinemünder Seebad verdankte dem Eifer Kinds sehr viel; unter anderem war er auch schriftstellerisch in dieser Richtung tätig. [...] Er war unser Hausarzt, und meine Mutter hielt große Stücke auf ihn. ,Die anderen’, sagte sie, ,sind Witzbolde, Doktor Kind ist aber ein feiner Mann, und wenn ich da wählen soll, wird mir die Wahl nicht schwer.’“ Fontane, Theodor: Meine Kinderjahre. Autobiographischer Roman. Berlin/ Weimar 1984, S. 62f. 711 Eine einheitliche Regelung für die Besetzung von Badeärzten in Seebädern besteht im Untersuchungszeitraum nicht. So wird einem Antrag der Stadt Königsberg an die preußische Regierung, den für die Badezeit in Cranz bei Königsberg als Badearzt abgestellten Wundarzt zu finanzieren, abschlägig beschieden, da Staatsfinanzen dazu nicht bereitgestellt würden. Auch wenn man die Notwendigkeit des Badearztes einsehe, müssen diese Kosten u.a. durch z.B. eine „geringe Vermehrung der Bade- Kosten“ selbst beschafft werden. (Vgl. GStA Rep 76, Nr. VIII A Nr. 2546, Schreiben vom 17.6.1820 und Antwortschreiben vom 1.8.1820.) Dr. Lieboldt schreibt für die Travemünder Regelung: „Der Staat hat keinen besonderen Bade-Arzt ernannt, weil die hiesige Bade-Anstalt eine Privat-Besitzung ist, und dem jedesmaligen Eigenthümer derselben das bisher unbestrittene Recht zusteht, sämmtliches beim Bade angestellte Personal, inclusive den Bade-Arzt, zu wählen; es wird aber so wenig der Besitzer, wie der Staat es thun könnte, wenn die Bade-Anstalt Eigenthum desselben wäre, weder dem Bade-Arzte noch anderen hieselbst ansässigen Aerzten, ein ausschließliches Privilegium auf die alleinige Besorgung der Bade- Gäste ertheilen, auch wenn der Eine oder der Andere anmaaßend genug wäre, solches für sich in Anspruch nehmen zu wollen.“ Ders., Heilkräfte, S. Vf. 712 Dr. Haffner schreibt die eigentliche Gründung eines Seebades in Brösen bei Danzig dem französischen Gouverneur Rapp zu, die aber 1813 von den Russen zerstört worden sei, woraufhin es 1822 <?page no="179"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 178 Aber nicht allen Versuchen von Ärzten, die häufig philantrophisch motivierte Seebadgründung dauerhaft zu etablieren, war Erfolg beschieden. 714 Für die Anlage und den Unterhalt eines Seebades in Rügenwalde/ Hinterpommern durch Doktor Georg Büttner findet sich ab 1813 mit den zuständigen amtlichen Stellen der pommerschen Regierung in Stettin ein umfangreicher Schriftverkehr. 715 Als zu diesem Zeitpunkt einzigem Seebad an der langen pommerschen Küste förderte die preußische Regierung in Stettin die Anlage, zumal Dr. Büttner für die Badeanlagen erhebliche Beiträge zur Verfügung stellte. 716 Büttners Badeanstalt in Rügenwalde benötigte die finanzielle Unterstützung des Staates, da, so konstatierte das Pommersche Medizinalkollegium, „alle Bemittelten die Seebäder zu Dobberan und Puttbus vorziehen dürften“ und „Doct. Büttner, welcher einen bedeutenden Theil seines Vermögens, vielleicht alles, auf die Anstalt verwandt hat, wird [...] unbedenklich Banquerott machen, wenn ihm nicht ansehnliche Unterstützung zu Theil wird“ 717 . Der Kreis-Physikus von Treptow an der Rega in Hinterpommern, Dr. Schmidt, richtete 1805 an das Pommersche Provinzial Collegium Medicum & Sanitatis eine Eingabe, um die Eignung des Fischerdorfes Deep bei Treptow zur Anlage eines Seebades darzustellen. Seiner Bitte um eine finanzielle Unterstützung zum Ausbau der seit kurzem bestehenden schlichten Badeanlagen wurde aber nicht entsprochen. 718 Ähnlich wie in Rügenwalde erging es dem Arzt von Apenrade im nördlichen Schleswig. Zusammen mit anderen Bürgern wurde unter Leitung des Arztes ein Verein gegründet, auf dessen Betreiben ein Badehaus angelegt wird. Zwecks Vergrößerung und Verbesserung der Badeanstalten plante man die Gründung einer Aktiengesellschaft. Da die erforderlichen Beträge aber nicht annähernd gezeichnet wurden, scheiterte schließlich auch der Ausbau des Bades. Der Arzt, der sich wie „dem praktischen Arzte und Besitzer der Badeanstalt in Danzig, Herrn Dr. Haffner, gelungen [sei], in Zoppot, anderthalb Meilen von Danzig“, eine Badeanstalt zu etablieren. Vgl. Haffner, Zoppot, S. 8. 713 StA Rostock, Gewett Warnemünde, 1.1.3.23-35, „Badeanstalt des Chirurgen Schütz in Warnemünde, Schreiben vom 12.5.1873 zur Geschichte der Verpachtung der Warmbadeanstalt. 714 Vgl. dazu auch Kap. 4.2. 715 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Seebäder in Pommern, Schreiben vom 14.2.1813, 25.3.1815, 22.4.1816 u.a. 716 „Der Dr. Büttner hat darauf bereits 1500 rth bezahlt und zwar durch Zuschuß von 800 rth aus eigenen Mitteln und durch eine Anleihe von 700 rth. Es sind mithin noch 1391 rth zuzuschießen. Wir haben uns davon überzeugt, dass Ew. Exzellenz diese so sehr nützliche Anstalt als die Einzige der Art in Pommern zu befördern geneigt sind und schmeicheln uns um so mehr, dass Hochdieselben die Kosten zu genehmigen geruhen werden.“ GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 25.3.1815 an das Medizinal- Ministerium in Berlin. 717 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 2.10.1819. 718 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Seebäder in Pommern, Zusammenfassendes Schreiben des Collegiums an den preußischen König vom 10.8.1805. <?page no="180"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 179 viele seiner Kollegen auch finanziell engagierte und die verbleibenden Teile der Badeanlage übernommen hatte, musste sich nun mit „der Anerkennung weniger, vielleicht sogar nur einiger Berufsgenossen trösten, das Gute redlich gewollt zu haben, einer an und für sich nützlichen Sache, wenn auch ohne Dank und Lohn, seine Kräfte und selbst Geldmittel geopfert zu haben; ja vielleicht kommt noch eine Zeit, wo seine Mitbürger und Landsleute bedauern werden, seine wohlgemeinte und treu gepflegte Schöpfung nicht mit mehr Ausdauer unterstützt zu haben.“ 719 In Wustrow, auf dem Fischland östlich von Stralsund gelegen, versuchte der Mediziner Christian Boldt in den 1840er Jahen vergeblich, da gegen die Interessen der noch gut von der Schifffahrt lebenden Einwohner, eine Badeanstalt zu etablieren. 720 Gelegentlich gab es aber auch Schwierigkeiten, überhaupt einen passenden Badearzt zu finden. Nachdem die zuständige preußische Regierung für das nahe Königsberg gelegene Seebad Cranz eine Badedirektion eingesetzt hatte, hielt es diese für ihre Pflicht, „zuerst für Anstellung eines geeigneten Bade-Arztes Sorge zu tragen“ 721 , um den Ansprüchen der Badegäste nachzukommen. Von den Königsberger Ärzten mit fester Praxis wolle sich niemand, so die Badedirektion, der zusätzlichen Arbeit als Badearzt unterziehen. Daher „bleibt nur die Wahl unter den jenigen unverheiratheten Ärzten. Mit Recht spricht sich aber gegen diese die Stimme des Publicums sehr lebhaft aus.“ In dem sich länger hinziehenden Findungsprozess schien die Jugendlichkeit der Kandidaten, verbunden mit deren Ehelosigkeit, der besonderen Rolle eines von der sittlichen Seite aus betrachtet nicht ungefährlichen Seebades entgegen zu stehen. Da einer der jungen Kandidaten allerdings „nur von einer sehr guten moralischen Seite bekannt ist“, fand man zwischen Regierung und Badedirektion schließlich in diesem den geeigneten Badearzt. Es zeigt sich hier, in welchem Maße der Badearzt im Raum des Seebades als moralisch integre Person zu fungieren hatte und als Repräsentant einer staatlichen Ordnung wahrgenommen wurde. Schließlich gehörte zu den entschiedensten Verfechtern des Seebades auch Christoph Wilhelm Hufeland. Durch die Herausgabe von Mitteilung zu den Seebädern und eigenen, unterstützenden Artikeln in seinem „Journal der practischen Arzneykunde“, 722 förderte Hufeland entschieden die Entwicklung der Seebäder. 723 Be- 719 Hille, Heilquellen, S. 155. 720 Schulz, Friedrich: Wustrow auf dem Fischlande, Ahrenshoop 1990, S.32f. 721 Hier und folgend aus GStA, Rep 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben der Badedirektion an den König. Preuß. Ober Medizinal-Rath Prof. Rust vom 16.4.1834. 722 „Hufeland hat etwa 400 medizinische Abhandlungen publiziert u. mit dem »Journal der praktischen Arzneikunde und Wundarzneikunst« (1795-1836; seit 1808 u. d. T. ,Journal für praktische Heilkunde’) sowie mit der ,Bibliothek der praktischen Wundarzneikunst’ (1799-1843; ersch. seit 1808 u. d. T. ,Bibliothek der praktischen Arzneikunde und Heilkunde’) wichtige Periodika begründet.“ Artikel Hufel- <?page no="181"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 180 reits 1793 fragte er in den „Annalen der französischen Arzneykunst“: „Warum nutzt man in Deutschland noch nicht die schöne Gelegenheit, welche uns unsre nördlichen Küsten geben, da es doch erwiesen ist, dass das Seebad in mehreren Krankheiten fast durch nichts zu ersetzen ist? “ 724 Als herzoglicher Hofarzt in Weimar befreundet mit den Größen der deutschen Klassik, Goethe, Schiller, Herder, ging Hufeland 1801 nach Berlin, wurde Direktor der Berliner Charité, königlicher Leibarzt und ab 1810 Dekan der medizinischen Fakultät an der von ihm mitbegründeten Universität. Hufeland war sicher einer der populärsten und umtriebigsten Mitglieder der deutschsprachigen medizinischen Fachwelt. Bereits 1796 veröffentlichte er das vielfach aufgelegte Standwerk moderner Diätetik, die „Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“. Mit seiner Schrift „Praktische Übersicht der vorzüglichsten Heilquellen Deutschlands nach eigenen Erfahrungen“, 1815 erstmals erschienen, in denen auch den Seebädern ein größerer Artikel gewidmet war, trug Hufeland wesentlich zur öffentlichen Wahrnehmung und zugleich Anerkennung des Seebades als Kurmittel bei. So erschien die Anlage von Seebädern, und das manifestiert den mit der Entstehung der Seebäder einsetzenden Prozess der Medikalisierung dieses Raumes, den Zeitgenossen nicht ohne ärztliche Teilnahme und medikale Ordnung möglich gewesen zu sein. Schließlich war es, so die Travemünder Badeschrift von 1803, „den Ärzten unseres Zeitalters [...] vorbehalten [...] das Baden überhaupt in seine gleichsam verjährten Rechte wieder einzusetzen“ 725 . In den zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Preußen angestellten Überlegungen zur Anlage von Seebädern erschien eben auch die Anwesenheit „guter Aerzte“ 726 selbstverständlich erforderlich. Im Zuge der forcierten medikalen Durchdringung der Gesellschaft etablierte sich damit auch das Seebad als ein Programmpunkt staatlicher Gesundheitsfürsorge. Es darf andererseits nicht übersehen werden, dass in vielen, vor allem kleineren Seebädern, entfernt von größeren Städten, lange kein Arzt vor Ort war bzw. nur an and, Killy Literaturlexikon,Bd. 5, S. 505. Die pommersche Regierung bezieht sich in ihren Stellungnahmen zur Anlage von Seebädern auf Hufelands positive Veröffentlichungen zu den Seebädern im Journal. Vgl. GStA, 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 25.3.1815. 723 So schreibt der Ärztekritiker Held über Hufelands Stellung zum Seebad: „Der edle, über den kleinlichen Eigendünkel beschränkter Köpfe weit erhabene Menschen= und Naturfreund Hufeland, zwar gehaßt von einem großen Theil seiner Zunft, aber geliebt von allen Menschen, die die verständliche Sprache der Natur, der scharlatanisirenden Kesselflickerey vorziehen, hat dringend dazu gerathen.“ Held, Colberg, S. 2. 724 Ebd., Bd. 2, S. 302, zit. nach Vogel, Gebrauch der Seebäder, S. 20. 725 O.V., Travemünde, S. 6. 726 GStA, Rep. 96 A, 118 X, Visitationsbericht vom 25.2.1802. <?page no="182"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 181 bestimmten Tagen als Badearzt tätig war. 727 Eine regelmäßige medizinische Versorgung gab es nur in oder nahe den Städten. 728 Die enge Anbindung der ersten Seebäder an die Stadt ermöglichte erst den, wenigstens saisonalen, Rückgriff auf urbane Medizinstrukturen, die auf dem Land bis weit ins 19. Jahrhundert kaum vorhanden waren. 729 In Zoppot, dem Seebad der Danziger, eröffnete und leitete der Mediziner Dr. Haffner die Badeanstalt und bemerkte dazu in seiner Badeschrift von 1823, er selbst wäre „promovierter Arzt und wird seinen Aufenthalt während der Badezeit zwischen Danzig und Zoppot teilen.“ 730 Die sich später ohne bedeutende öffentliche Förderung aus Bauern- und Fischerdörfern entwickelnden Badeorte besaßen dagegen lange Zeit weder eine regelmäßige medizinische Betreuung noch die in größeren Bädern üblichen Badeanlagen. Allerdings kann man davon ausgehen, dass bei vielen Badegästen, auch ohne Anwesenheit eines Badearztes, bis zu einem gewissen Grad eine medizinisch indizierte Verhaltenspraxis bereits internalisiert gewesen war. 731 Nur mit der finanziellen Absicherung und dem Ausbau als Badeanstalt konnten Badeärzte während der ganzen Saison für die Badegäste bereitstehen. Die Anwesenheit eines Badearztes wiederum erhöhte die Reputation des Seebades. 732 Und schließlich verlangte das Hauptagens des Bades, das kalte Seewasser, allein wegen seiner „nervenreizende[n] Wirkung [...] eine strikte medizinische Aufsicht“ 733 . 3.1.5.2 Ärzte und Quacksalber Die Schlüsselfunktion der Ärzte, „Hüter und wahre Priesterschaft der somatischen Kultur der Gesamtgesellschaft“ 734 zu sein, gründete auf ihrer Einbindung und Funkti- 727 So betont die anonym erschienene erste Veröffentlichung zu Travemünde 1803: „Wer über diesen, oder andere Punkte Zweifel hat, der findet die meiste Zeit einen Lübecker Arzt zur Stelle, welcher, so viel seine übrigen Geschäfte nur irgend erlauben, den Badenden, auf Verlangen, mit seinem Rathe beyzustehen pflegt.“ Ebd., Lübeck 1803, S. 60. 728 Vgl. Bergdolt, Leib und Seele, S. 265ff. 729 Vgl.dazu Heischkel-Artelt, Edith, Die Welt des praktischen Arztes im 19. Jahrhundert. In: Der Arzt und der Kranke in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1967, S. 1-16, hier S. 2ff. Die Frage, in welchem Maße sich Badeärzte bei Bedarf und Nachfrage auch um die einheimische Bevölkerung kümmerten, lässt sich wegen der schlechten Überlieferung kaum beantworten. 730 Haffner, Zoppot, S. 67. 731 So berichtet Haffner, dass die Danziger Badegäste, bereits vor der Einrichtung der Badeanstalt, „seit vielen Jahren [...] der Seestrand bei Danzig von den Einwohnern der Stadt zum Vergnügen und zum diätetischen Gebrauche benutzt“ worden sei. Haffner, Zoppot, S. 2. 732 So betont Eßer „Brunnenärzte erlangten im 18. Jahrhundert zunehmende wirtschaftliche Bedeutung“, die sich dann auch in der Reputation und dem Ausbau des Bades widerspiegeln. Vgl. Ders., Brunnenfreiheit in Pyrmont, S.61. In: Eßer/ Fuchs (Hg.): Bäder und Kuren in der Aufklärung. 733 Frey, Bürger, S. 117. 734 Barthel, Medizinische Polizey, S. 41. <?page no="183"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 182 on im etablierten, gelehrt-akademischen Medizinalwesen. Über ihren legitimierten Status waren auch die Ärzte im Seebad bestrebt, gültige Verhaltensnormen für die Kurgäste zu erlassen. Ihre Funktion und Professionalität 735 grenzte sie im Seebad damit sowohl von den sogenannten Quacksalbern, als auch von der umfassenderen Gruppe der Laien ab, zu der jeder außerhalb des Ärztestandes zählte. Von den Ärzten als Mitglieder der Badedirektionen und im Verbund und mit Rückendeckung der zuständigen städtischen Funktionsträger aufgestellte Baderegeln waren das Waffenarsenal für die soziale Kontrolle. 736 Im Hinblick auf die Professionalisierungsbestrebungen der Badeärzte kamen hier wesentliche Punkte zusammen, die, nach Huerkamp, für diesen Prozess stehen: die Etablierung des Monopols ärztlicher Praxis im Seebad, erste Versuche standardisierter Ausbildung und die „Maximierung beruflicher Autonomie, also die Durchsetzung größtmöglicher Freiheit von Fremdkontrolle durch Laien, sei es nun seitens des Staates, oder seitens der Abnehmer der Leistungen, der Patienten“ 737 . Gefährlich wurde es dann, wenn dieser Status in Frage gestellt wurde. Scharfe Polemiken gegen unlautere Methoden und die weit verbreiteten Heiler gingen daher von den Badeärzten aus. 738 Innerhalb der zeitgenössischen Medizinaldiskurse beriefen sich die meisten der bereits etablierten Badeärzte auf eine erfahrungsgesättigte Praxis, enthielten sich aber weitgehend den großen systematischen Theorien der sogenannten „romantischen Medizin“. Hufeland, der mit seiner Schrift „Practische Übersicht über der vorzüglichsten Heilquellen Teutschland's“ erstmals an prominenter Stelle auch die Seebäder in den Kanon der Wassertherapien aufgenommen hatte, kritisierte, dass „bei einem großen Theile der jüngeren Ärzte eine auffallende Gleichgültigkeit und Unwis- 735 Zur Frage der Professionalisierungsbestrebungen u.a der Ärzteschaft im 19. Jahrhundert vgl. Stichweh, Rudolf: Wissenschaft, Universität, Professionen, Frankfurt/ Main 1994, v.a. Kapitel III; 736 Dr. Kind räsoniert in seiner Badeschrift darüber, ob „das Baderegelement einer wohlbeaufsichtigten Badeanstalt das Baden ohne Zustimmung des Badearztes überhaupt zu verbieten habe“. Zwar sei das „Vertrauen zu einem bestimmten Arzte nicht erzwingbar“, doch kämen immer wieder viele Gäste mit falschen Vorstellungen und Empfehlungen ihrer Hausärzte in das Seebad, die „von deren bedeutendem Mangel an Kenntniß des Seebadwesens überhaupt und seiner Einzelheiten“ zeugten. (Ders., Swinemünde, S. 51) In diesem Sinne gehören auch die Baderegeln zu „Konstruktionen spezieller Gruppen, und wenn sie gesetzlich anerkannt sind, dann sind sie zumindest zum Teil die Normen von Gruppen mit politischen Privilegien (z.B. Professionals), wenn nicht sogar von solchen mit Macht (z.B. Arbeit und Kapital).“ Freidson, Ärztestand, S. 184. 737 Huerkamp, Ärzteschaft, S. 359. 738 So spottet der Verfasser der ersten Travemünder Badeschrift gegen „Arkana [Geheimmittel, HB] und andre übernatürliche Albernheiten, woran leider noch jetzt mancher glaubt und - stirbt“, O.V., Travemünde, S. 4. <?page no="184"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 183 senheit“ in Bezug auf balneotherapeutische Verfahren herrsche. Dies habe seinen Grund „theils in dem mangelhaften Unterrichte, der hierüber auf Academien gegeben zu werden pflegt, theils und vorzüglich in den herabsetzenden Machtsprüchen mancher neuen Systematiker [...], welche den Werth der Mittel mehr nach hypothetischen Voraussetzungen, als nach Erfahrung, würdigen.“ 739 Mit der immer stärker naturwissenschaftlich-experimentell ausgerichteten Medizin geriet die Balneologie, fußend vorrangig auf einem ständig wachsenden Erfahrungswissen, unter einen fortdauernden Rechtfertigungsdruck. 740 Besonders die Badeärzte sahen sich der Kritik ausgesetzt, pseudo-wissenschaftlich oder wenigstens nicht nach den neuen Maßstäben wissenschaftlicher Praxis zu handeln. 741 Das Problem bestand für die Ärzte darin, daß ihnen mit der Seebadekur kein wissenschaftlich anerkanntes Heilmittel mit rational nachvollziehbarer Nützlichkeit zur Verfügung stand. Im dem bloßen Vorhandensein von Mineralien im Wasser sahen die Kritikern keine hinreichende Grundlage für ein wirksames Heilverfahren. Um dieser Kritik etwas entgegenzusetzen suchten die Ärzte mit ihren zahlreichen Publikationen eine breitere Öffentlichkeit für sich und das Seebad zu gewinnen, daneben stand das Bemühen, sich durch staatliche Förderung und institutionelle Einbindung zu legitimieren. Dessen ungeachtet gerieten die Indikationen wie die Therapien im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend unter Rechtfertigungszwang. Es galt, trotz unbezweifelbarer Erfolge der Seebadekur, sich den neuen Paradigmen innerhalb der Medizin zu stellen und exakte, objektiv nachvollziehbare Wirkungsmuster zu finden und zu belegen. Ohne eine umfangreiche naturwissenschaftliche Grundlagenforschung war das aber unmöglich. Es dauerte letztlich bis ins 20. Jahrhundert, ehe durch die institutionelle Verankerung im Lehr- und Laborbetrieb eine anerkannte Wissenssicherung möglich wurde. 742 739 Hufeland, Practische Übersicht, S. 4. 740 Vgl. dazu Johannes Steudel, Therapeutische und soziologische Funktion der Mineralbäder im 19. Jahrhundert. In: Artelt, Walter; Rüegg, Walter (Hg.): Der Arzt und der Kranke in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1967, S. 82-97, hier S. 88f. 741 Die gesamte Bäderheilkunde, die wegen des äußerst heterogenen Wirkkomplexes der Balneologie nicht dem Weg der experimentellen Medizin folgen konnte, verlor so innerhalb der Ärzteschaft an Reputation. Steudel bemerkt, dass „trotz reicher literarischer Produktion [...] die Bäderheilkunde im 19. Jahrhundert nicht zu den angesehendsten Zweigen der Medizin gehört. [...] Unbewiesene Spekulationen, die sich als wissenschaftliche Erklärung ausgab, musste gegen das Gebiet mißtrauisch machen.“ Steudel, Geschichte der Bäder- und Klimaheilkunde, S. 16. 742 Vgl. dazu A. Loewy; Franz Müller; W. Cronheim; A. Bornstein: Über den Einfluss des Seeklimas und der Seebäder auf den Menschen. In: Zeitschrift für die experimentelle Pathologie und Therapie, <?page no="185"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 184 Beispielhaft sei hier die traditionelle Begründung der Wirkungsmechanismen und die zunehmende Kritik daran dokumentiert. Samuel Gottlieb Vogel reagierte auf ärztliche Kritik an der Wirkung des Seewassers im Vergleich mit Quellwasser, und untermauerte noch einmal die Qualität und Wirkung des Seewassers: „Ungleich wichtiger ist eine Schrift eines deutschen berühmten Arztes, worin derselbe durch eine zwischen dem Seewasser und gewissen kochsalzhaltigen Quellenwassern angestellte Vergleichung auf Kosten jenes diese erhoben hat. […] In der That muss es befremden, dass ein Arzt, wie der Verfasser jener Schrift, solche Wege geht. [...] So viel kann nicht zweifelhaft seyn, dass ausser dem fixen Gehalte des Seewassers noch mehrere andere Dinge in Betrachtung kommen, welche an den Wirkungen desselben bey seinem Gebrauche zum Baden wesentlich Antheil haben, und die sich ausser dem Bezirke der See nirgends finden, und auf irgend eine Art nicht ersetzen lassen. [...] auch ein etwas Belebendes, Erregendes, gleichsam Lebendiges in dem Seewasser selbst, was sich durch die ganz eigenen und charakteristischen Wirkungen zu erkennen gibt, welche ein jeder einiger Maßen aufmerksamer Beobachter beym Baden in der offenen See bemerken wird, und die sich aus dem bloßen Salzgehalte des Wassers nicht begreifen lassen. Es lässt sich auch kaum bezweifeln, dass die von der Natur unnachahmlich aufgelösten und gemischten Bestandtheile des Seewassers, zumahl bey der fast unaufhörlichen großen Bewegung desselben und in Verbindung mit so vielen sichtbaren und unsichtbaren, darin lebenden Geschöpfen aus dem Thier- und Pflanzenreiche, etwas ganz Anderes constituieren, als was sich durch irgend eine Kunst nachmachen ließe, oder woraus man seine sinnlichen Eigenschaften und Wirkungen erklären könnte. Jene kochsalzhaltigen Quellwasser mögen ihren sehr guten Nutzen haben, den ich keineswegs bestreiten will; aber das Seebad werden und können sie nimmermehr ersetzen.“ 743 Der Nutzen des Seebades stützte sich nach Vogel also auch auf wissenschaftlich nicht vollständig erklärliche (aber im Bad leiblich spürbare), weil hoch komplexe und analytisch nicht zugängliche animalische Zerfallsprodukte. Die vitalistische Erklärung schloss, da das Wesentliche sich nicht „durch irgend eine Kunst nachmachen“ lässt, eine eindeutig mechanistische, kausal nachvollziehbare Erklärung aus. Selbst auf dem Hintergrund einer noch schwach entwickelten chemischen Untersuchungspraxis erklärte Vogel hier die Wirkungsweise klar (und metaphernreich) vitalistisch. Im Gegensatz zum „kochsalzhaltigen Quellwasser“ wäre allein das Meer mit der nicht fassbaren „Lebenskraft“ gesättigt. Damit nicht genug, blieben auch die sich aus dem Gebrauch des Seebades ergebenden „sinnlichen Eigenschaften und Wir- Vol. 7, Nr. 3, Berlin 1910; dazu auch Steudel, Geschichte der Bäder- und Klimaheilkunde: „Das 19. Jahrhundert hat der Balneologie den Beginn einer methodischen Forschung gebracht, die infolge der Schwierigkeiten des Gegenstandes nur langsam vorangegangen ist. Das Interesse, das der Balneotherapie und dem Bäderwesen in den Ländern Europas wegen der medizinischen Bedeutung wie wegen der wirtschaftlichen Valenz entgegengebracht wird, ließ die Gegenwart auf diesen Anfängen weiterarbeiten.“ S. 17. Ders., Therapeutische und soziale Funktionen, S. 92. 743 Vogel, Neue Annalen, 1811, S. 30. <?page no="186"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 185 kungen“ mehr als diffus. Es verwundert nicht, dass die Vertreter einer auf kausalen, experimentell nachvollziehbaren Methodik basierenden modernen Medizin gegen s olc h e Be gr ünd ung en z u Fel de z ogen . Es war en da bei n ich t ein ma l die imm er wi eder dokumentierten Heilungsverläufe im Seebad, die prinzipiell angezweifelt und kritisiert wurden, sondern das der modernen Medizin nicht genügende traditionelle Erklärungsmuster, verbunden mit einer bildhaften, d.h. nicht naturwissenschaftlich legitimierten Sprache. Hier zeichnet ein Wechsel der sprachlichen Diskurshoheit bereits an. Ein Beispiel für diese Form der Kritik findet sich in der Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, 1821, im Lexikoneintrag von G. H. Ritter zum Stichwort „Seebad“: „Von der Anwendung der Seebäder gilt alles das Gute, was vom gemeinen kalten Wasserbade gesagt worden ist, und in manchen Fällen mögen die in ihnen gelösten Mineralien den Nutzen bedeutend erhöhen. Allein auf der andern Seite verbinden sich gar nicht selten so große Nachtheile mit ihrem Gebrauche, dass dieser nicht allein ganz vernichtet, sondern oft ein bedeutener Schade, Verlust der Gesundheit daraus erwächst. Der Verf. sah in Achen, Wiesbaden, Nendorf Personen Hilfe suchen gegen Krankheiten, die ihnen der Gebrauch teutscher oder englischer Seebäder zugezogen hatte. Das Klima dieser Länder ist nur zu oft dem im Meere Badenden ungünstig, [...] dass es vielleicht Herkules nicht ohne Nachtheil unternehmen würde, sich Luft und Wasser bloß zu stellen. Selbst da, wo man Häuser erbaut hat, um im Seewasser zu baden, kann dieser nachtheilige Einfluss nie ganz aufgehoben werden. Man lasse sich doch ja von den schönen ästhetisch medizinischen Luftgebilden, ,den elektrischen und magnetischen Strömungen, den zahllosen organischen Wesen, durch deren Absterben dem Meere sogar eine Menge seiner (! ) flüchtiger, heilsamen Stoffe mitgetheilt werden sollen’, nicht blenden! Es klingt bloß hübsch, weil's neu ist.“ 744 Ritter verweist hier explizit auf die Redeweise der „blendenden“, mithin Scharlatanen gemäße, bloß schön klingende „ästhetisch medizinischen Luftgebilde“, die keinem wissenschaftlichen Anspruch genüge. Damit wandte er sich gegen den gängigen und noch lange vorherrschenden Sprachgebrauch, um, selbst noch in einem blumigen Sprachgewand, die Unhaltbarkeit dieser Rede (und damit zugleich den therapeutischen Wert) für den medizinischen Diskurs heraus zu stellen. Er versuchte also letztlich „eine ganz bestimmte Redeweise als die ,wahre’ zu etablieren und konkurrierende auszuschließen“. 745 Ritters ohne Nachweis angeführtes Zitat ähnelt dabei auffällig 744 Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste. Hg. von J. S. Ersch und J. G. Gruber, Leipzig 1821, S. 58. 745 Sarasin, Philipp; Tanner, Jakob: Physiologie und industrielle Gesellschaft, Einleitung, S. 12-43. In: Dies. (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, S. 35, mit Verweis auf Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München 1974. <?page no="187"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 186 einem ein Jahr zuvor erschienenen Abschnitt zu den Seebädern in Hufelands „Praktische Übersicht über der vorzüglichsten Heilquellen Deutschlands nach eigenen Erfahrungen“. Darin hieß es unter anderem, im Meer wimmele es von einer Menge „zahlloser organischer Wesen, und eben durch das Leben und Absterben derselben in ihm, [werde] noch eine Menge seiner, animalische[n] und flüchtige[n] Stoffe mitgetheilt“, durch die während des Bades auf den menschlichen Organismus eingewirkt würde und „von denen die Chemie nichts weiß“ 746 . Ein Standpunkt, der aber, ungeachtet aller Kritik, schnell Eingang in zeitgenössische Lexika fand. 747 Ein anderer Kritikpunkt Ritters betrifft das „bloß Neue“ als Ausgangspunkt eines allgemeinen Interesses am Bad. Mit dem Schlagwort des „Modebades“ verband sich für das Publikum der Reiz des Ungewohnten, der in den professionellen Medizinerkreisen dagegen bestenfalls Skepsis auslöste. Mit dem Vorwurf, eine Modeerscheinung zu sein, wurde der Kurort zum bloßen Vergnügungspark und der Badearzt zum Unterhaltungskünstler degradiert. In der Balneologischen Zeitung klagte 1854 deren Herausgeber und Badearzt in Ems, Ludwig Spengler: „Es ist doch ein wahrer Jammer, wie es bis jetzt zugegangen: Badeorte kommen in und aus der Mode wie Leibröcke und Damenhüte. Ein Bad, das vor wenigen Jahren noch ein großes Renomée hatte, ist jetzt vergessen; neue, früher fast gar nicht benutzte Badeorte kommen dagegen in Gunst; andere werden bloße Vergnügungsorte. Sieht das nicht aus, als ob das Ganze nur ein Spiel sei? Soll es wirklich so bleiben, dass Ärzte und Publikum lediglich der Gunst des Augenblicks und der Mode huldigen in einem Lustrum hierhin, in einem anderen dorthin getrieben werden? Der Mangel an festen Anschauungen über die eigentlichen Indikationen für die einzelnen Heilquellen, das Herumtappen der Ärzte in Benutzung derselben […]. Es ist zu fürchten, dass der Schwindel unsere herrlichen Quellen, diesen großen Heilschatz, immer mehr in Verruf bringe.“ 748 Diesem Verfall und Verruf entgegenzuwirken, bemühte man sich in den medizinischen Badeschriften über das Seebad um einen betont wissenschaftlichen Duktus. So wäre das Seebad, wie der Travemünder Badearzt Dr. Stierling 1816 schrieb, auch ohne Zweifel „eine Anstalt, die einen wissenschaftlichen - medizinischen - Zweck hat“ 749 . Und die Badeärzte waren auf diesem Feld die Experten, die sich dank ihrer speziellen Kenntnisse und Qualifikationen von anderen Ärzten absetzten. Dr. Kind 746 Hufeland, praktische Übersicht, S. 251. 747 Vgl. u.a. Neues Rheinisches Conversations-Lexikon, Bd. 10, Köln 1835, S. 775; Allgemeine Realencyclopädie oder Conversationslexikon für das katholische Deutschland. Bd. 1, Regensburg 1846, S. 904. 748 Spengler, L.: Was wir bringen? Balneologische Zeitung I, 1855, S. 2. 749 Stierling, Annalen Travemünde, S. 4. <?page no="188"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 187 sprach wiederholt von den Hausärzten, die ihre Patienten mit Vorschriften ins Seebad schickten, die „oft Beweise von deren bedeutendem Mangel an Kenntniß des Seebadewesens überhaupt und seiner Einzelheiten sind. Mit diesen Einzelheiten bekannt zu seyn, ist auch nicht jedem Arzte, der nicht Seebadearzt ist, zuzumuthen, wenn er nur weiß, in welchen dringenden Fällen das Seebad heilsam ist. Weiß er aber auch dies nicht zu beurtheilen, und schickt Leute in das Seebad, die sich gar nicht dafür eignen [...] dann verdient sein Leichtsinn den strengsten Tadel.“ 750 Andererseits sah Vogel auch das Dilemma der praktizierenden Ärzte. Man benötige als Arzt „viel Muße, Geduld und scharfe Untersuchung [...] um gewisse Erscheinungen des kranken Körpers bis zur untrüglichen Ueberzeugung und Evidenz zu erkennen, das lehren die Verstecktheit, Zweydeutigkeit und Verwicklung so vieler Uebel deren zusammenhängende Geschichte zur Bestimmung ihres Wesens, wo möglich, nur mit der äussersten Mühe kann aufgefunden werden.“ 751 So blieb das Bemühen um eine Anerkennung des Seebades als wirksames Therapeutikum ein beständiger Antrieb für die Badeärzte, die damit nicht nur die Konstruktion des Heilraumes fortschrieben, sondern auch ihre Stellung in der medizinischen Welt zu festigen suchten. 3.1.6 Die Rolle des Kurgastes als Patient Erklärtes Ziel der Badeärzte war, ihr therapeutisches Instrumentarium beim Kurgast in Anwendung zu bringen. Dafür bedurfte es aber solcher Kurgäste, die sich nach den Verhaltensvorgaben der Ärzte richteten und damit auch die Stellung des Arztes als professioneller Heiler und ihre eigene Stellung als Patienten mit allen Folgen anerkannten. 752 Aus den Schriften der Badeärzte sprach folgerichtig das Bemühen, die Badegäste auf ein bestimmtes Verhalten gegenüber dem Arzt und den anderen Kurgästen einzustimmen. Eine erfolgreiche Badekur konnte demnach nur stattfinden, wenn sich der Kurgast als Patient verhielt und sich im Seebad in die von den Ärzten in ihrer Stellung als Ordnungsinstanz eingeforderte Hierarchie einordnete. Mit der Gründung der Seebäder ergab sich für die Badeärzte die Gelegenheit, von Anfang an ein klares Verhältnis von Arzt und Patient, im Sinne einer Beziehung 750 Kind, Swinemünde, S. 51. 751 Vogel, Fortgesetzte Bemerkungen. In: Journal der practischen Arzneykunde, Bd. 6, 1. Stück, Jena 1798, S. 4. 752 Vgl. zum Arzt-Patienten Verhältnis im 18./ 19. Jahrhundert auch Boschung, Patienten, S. 16ff. Dazu auch Geyer-Kordesch, Der „Galante Patient“. <?page no="189"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 188 zwischen Professionellen zu Laien, zu etablieren. Hierfür musste aber vor allem der Kurgast seine von den Ärzten geforderte Rolle erkennen und annehmen. Zur Durchsetzung dieses Ziels verknüpften die Ärzte moralisch legitimierte Verhaltensweisen mit Unsicherheiten des Patienten bei der Einordnung seiner Krankheit zum Bild des idealen Patienten. So fasste Vogel die Forderungen an den Kurgast wie folgt zusammen: „Ein redlicher offener Character, Sinn für Wahrheit, Vernunft und ruhige duldsame Ergebung, sind, nebst treuer Folgsamkeit, vorzüglich die Eigenschaften, deren Besitzer dem Arzte sein schwehres Geschäft besonders erleichtern und gewiß auch auf die kräftigste und treffendste Hülfe desselben rechnen dürfen“ 753 . Der ideale Patient war also nichts anderes als der aufgeklärte, vernünftige Bürger, der die Fachautorität des Arztes anerkennt. 754 Dem Bemühen um die Erziehung eines einsichtigen und vertrauensvollen Patienten stand aber die Erkenntnis entgegen, nicht überall eine anerkannte Stellung zu genießen. Denn, „während die Ärzte als gebildete Angehörige der Elite respektiert wurden“, so Freidson, und diese anerkannte gesellschaftliche Position auch im Seebad besaßen, genossen sie in ihrer Stellung als Heiler „nur wenig Autorität“ 755 . Vogel sprach dieses ärztliche Dilemma in einem Artikel in Hufelands „Journal der practischen Arzneykunde“ aus. „Wie viel Sçavoir faire liegt nicht ferner in der Behandlung kranker Gelehrten, Soldaten, Fürsten und Hofleuten, Bauern u.s.w.? Ihre Art zu leben, zu denken, zu handeln, führt auf so mancherley Maasregeln, die das medicinische und politische Benehmen des Arztes auf sehr verschiedene Art bestimmen müssen, wenn es seinem Zwecke entsprechen soll. Der Gelehrte, besonders der Philosoph, will von allen Dingen zu genau den Zusammenhang wissen, der Soldat ist 753 Vogel, Nachricht, S. 20. 754 Freidson sieht die medizinische Professionalisierung und Legitimation der medizinischen Kontrollinstanz auch als Folge des Verlustes religiöser und juristischer Deutungshoheit. Da von hier aus keine normative Verhaltenskontrolle mehr greift, übernimmt die Medizin die Lenkung des Individuums. „Die Ketten sind gefallen, und überall wurde der Gesundheitsprofessionalismus aufs Podest gehoben, um die Forderung zu legitimieren, dass der richtige Umgang mit der Abweichung die „Behandlung“ in den Händen einer verantwortungsvollen und kundigen Profession sein. Nachdem die Bezeichnungen Sünde und Verbrechen beseitigt worden sind, wird nun gern behauptet, dass das, was für den Abweichenden getan wird, um seines eigenen Wohles willen geschieht - um ihm zu helfen, nicht um ihn zu strafen - , auch wenn die Behandlung selbts dem gleichkommt, was unter normalen Umständen schwere Entbehrungen bedeutet. Seine eigenen Ansichten über seine Behandlung werden nicht berücksichtigt, weil er als Laie gilt, dem das spezielle Wissen und die Objektivität fehlen, die ihn für eine Mitsprache qualifizieren würden.“ Freidson, Ärztestand, S. 209. 755 Freidson, Ärztestand, S. 19. <?page no="190"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 189 das Commandiren, oder commandirt zu werden, gewohnt. [...] Die Fürsten lassen sich nicht regieren. Die Hofleute folgen diesem Beispiele. Der Bauer versteht nur eine Sprache.“ 756 Sich in diesem Umfeld zu behaupten, bedarf es tugendhafter Standhaftigkeit. Daher muss der Arzt „freilich ein Mann von großen Talenten, feiner Klugheit, ausgebreiteter Menschenkenntnis, scharfen Augen, und festem Character seyn.“ 757 Demgegenüber stand das Bild vom Wunsch-Patienten als aufgeklärter Bürger: selbstverantwortlich, gebildet, wohlhabend und sich der Verpflichtung für die Erhaltung seiner Gesundheit bewusst. Denn es würde bei aller Ignoranz und mangelnder Disziplin mancher Gäste um das Seebad nicht gut stehen, „wenn nicht der gebildete Theil der Menschen eben der wäre, welcher am häufigsten in der Lage und im beglückten Wohlstande sich befindet, das Bad zu besuchen, den Rath ihrer gewöhnlichen Ärzte früher ein holen und sich übrigens nach den Vorschriften und Anweisungen richten zu können“ 758 . Dieser „besser unterrichtete Theil der menschlichen Gesellschaft“ vermöchte es eben kraft seines sozialen und kulturellen Kapitals auch, „Mittel und Zweck nicht zu verwechseln; das Bad keineswegs als Krankenhaus, aber auch auf der andern Seite nicht wie eine Redoute zu betrachten, wo Ergötzung der einzige Zweck ist“ 759 . Angesichts der beschränkten praktischen Möglichkeiten der Medizin gehörte zur erfolgreichen Betreuung in bedeutendem Umfang psychologisches Einfühlungsvermögen. Samuel Gottlieb Vogel betonte daher auch die besondere psychologische Funktion des Badearztes für den Patienten. Denn der Badearzt wäre Teil einer strukturellen Veränderung der Lebensverhältnisse, die „nicht selten unerwartete Folgen hat“, mit der es aber dem Badearzt gelingen könne, „durch Worte des Trostes und der Hoffnung den Muth des Kranken zu beleben.“ 760 Vogel erweiterte den Rahmen über die direkten Beziehung Arzt-Patient hinaus. Die Reise ins Bad, die veränderten sozialen Umstände außerhalb des gewohnten Umfeldes, ermöglichen erst die „von neuem geweckte Hoffnung“, der neue Arzt und das noch „nicht durch irgend eine Störung [...] geschwächte Vertrauen [...] können eine glückliche Veränderung in dem kranken Zustande hervorbringen.“ 761 Vogel suchte die Position des Badearztes weiter zu 756 Vogel, Einige allgemeine Bemerkungen, S. 319f. 757 Vogel, Einige allgemeine Bemerkungen, S. 320. 758 O.V., Travemünde, S. 7. 759 O.V., Travemünde, S. 7. 760 Vogel, Neue Annalen, 1805, S. 104. 761 Vogel, Neue Annalen, 1805, S. 105. <?page no="191"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 190 festigen, indem er feststellte, dass „aber auch wirklich öfters [...] der Patient in bessere Hände kommt und mit Recht sich dessen freut.“ 762 Diese Anerkennung der professionellen Arbeit der Badeärzte lasse sich aber durch das richtige Verhalten des Patienten im Sinne einer erfolgreichen Kur noch weiter verstärken. Es erfordert die Bereitwilligkeit des Patienten, sich besonders während einer Kur, „welcher er sich nun einmal ganz hinzugeben und zu unterwerfen beschlossen hat, dem neuen Arzte genauer“ zu folgen und „seine Vorschriften püncktlicher“ 763 zu beobachten. 764 Die Badezeit im Seebad verlangte in ihrer durch die Saison beschränkten Dauer und durch die räumliche Begrenzung ein hohes Maß an Selbstdisziplin, das zudem durch die strengere Beobachtung, der der Patient am Kurort unterliegt, verstärkt wurde. Dies wäre das Kapital, auf das der Badearzt im besten Fall in der kurzen Saison setzen könne und müsse, und damit, so Vogel, ginge es ihm sogar besser als dem heimischen Arzt, denn „der Hausarzt ist oft gar nicht im Stande über den Kranken gehörig zu gebieten.“ 765 In diesem „Wunsch nach medizinalherrschaftlicher Machtausübung“ 766 , wie in den eben so oft geäußerten Beschwerden der Ärzte über Patienten, die sich der ärztlichen Vollmacht entzögen, und damit „für die Gesundheit vieler Individuen von eben so nachtheiligen Folgen als für den Ruf des Heilmittels selbst“ 767 wären, dokumentierte sich das permanente Ringen um die eigene Position und eine Stabilisierung der gesellschaftlichen Rolle der Ärzte. Als „zentrale Appelationsinstanz sanitärer Menschwerdung“ beanspruchten die Ärzte auch mit der Disziplinierung der Patienten einen Zugriff auf die „gesamte (individuelle und kollektive) Lebensführung“ 768 . Mit der Kontrolle der Köpfe konnte die „Normierung der Körper“ 769 erfolgen. 3.1.7 Das Seebad in der ärztlichen Literatur Wie Knaak 1922 etwas zugespitzt bemerkte, blieb bis in die 1880er Jahre „Literatur über die Ostseebäder [...] ausschließlich medizinischer Art“ 770 . Als prägende Literatur- 762 Vogel, Neue Annalen, 1805, S. 105. 763 Vogel, Neue Annalen, 1805, S. 106. 764 In der 1820 anonym erschienen Schrift „Wie müssen Seebäder eingerichtet werden? “ lautet der auf ein dezidiertes Rollenverhalten hinweisende Untertitel: „Den folgsamen Badgästen gewidmet.“ 765 Vogel, Neue Annalen, 1805, S. 107. 766 Barthel, Medizinische Polizey, S. 41. 767 Kind, Swinemünde, S. 6f. 768 Barthel, Medizinische Polizey, S. 41. 769 Frey, Bürger, S. 121. 770 Knaak, Entwicklung der Ostseebäder, Würzburg 1922, S. 1. Diese Feststellung beschränkt sich auf wissenschaftliche Literatur (deren Anspruch für die Ärzte auch nur in begrenztem Umfang galt), <?page no="192"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 191 gattung bestimmte sie, und das heißt v.a. die Badeärzte als Verfasser, die öffentliche Wahrnehmung von den Seebädern. B ere its m it der G rün dung des erste n öffe ntli chen Seeba des k am es zur Verö ffen tlichung der ersten Badeschrift durch den Doberaner Badearzt Vogel. Als Vorbild dienten in erster Linie nicht die Bäder des Binnenlandes und deren Praxis, sondern die Seebäder Englands, die zudem, so kann man es der deutschen Ärzteliteratur entnehmen, ein Resultat aufklärerischen, medizinisch-wissenschaftlichen Literaturbetriebs gewesen wären. England, zumal in der seit 1714 bestehenden Personalunion mit Hannover, war auch im Bezug auf neueste medizinische Forschungen vor allem in Norddeutschland en vogue. Vor allem die Schriften des Londoner Arztes Sir John Floyer (1649-1734) über das Baden mit kaltem Wasser revolutionierten das Verhältnis zum kalten Bad. 771 Noch 1835 fasste Dr. Sachse die zeitgenössische Hochschätzung von Floyers Methode zusammen: „Ihm verdanken wir die neue, allgemeinere Anwendung aus Erfahrung und theoretischen Gründen“ 772 . Dazu kamen bald Richard Russels Schrift über das Seebaden von 1750 773 und Robert Whites Werk von 1779 774 , die schnell zum Kanon der deutschen Badeliteratur gehörten. Für Deutschland wurde es dann in besonderem Maße Johann Sigismund Hahns Werk „Traktat von der Krafft und Würkung des kalten Wassers“ von 1738, das Ärzte und Laien in die allgemeine Wasserheilkunde einführte. In besonderem Maße fanden in der ärztlichen Literatur neue bürgerliche Körpervorstellungen ihren Ausdruck, weg von einer „darstellenden, repräsentativen Körperlichkeit, hin zum gesunden, nützlichen, leistungsfähigen Körper“ 775 . Dabei berief man sich auf tradiertes Wissen. Die seit der Antike bekannte Hydrotherapie wurde von den englischen Ärzten des 18. Jahrhunderts letztlich nur wiederentdeckt. 776 Dabei ging es jetzt bei deren Gebrauch nicht mehr nur um ein medizinisches Heilversprechen, sondern auch um die moralische Dimension körperlicher Abhärtung. Wie die schließt damit aber sowohl die mit der Mitte des Jahrhunderts aufkommende Reiseliteratur, wie den Baedecker, aus, als auch die früh einsetzende belletristischen Produktionen. 771 Floyer, John: „An Enquiry into the right Use and Abuses of the hot, cold and temperate Baths in England“, London 1697; „The Ancient Psychrolusia revived: or, an essay to prove Cold Bathing both safe and useful. In four letters; Also, a letter of Dr. Baynard’s, containing an account of many eminent cures done by the cold baths in England“, London 1702. Das Werk erschien bis 1732 in sechs Auflagen, 1749 erfolgt die deutsche Übersetzung. 772 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 26. 773 Russel, Richard: „De tabe glandulari, seu de Usu Aquae marinae in M. Glandul“, Oxford 1753 (englisch „A Dissertation of the Sea water in diseases of the glands“), deutsch 1760. Vgl. dazu Sachse, Medicinische Bemerkungen, S. 25ff. 774 Whites, Robert: The Use und Abuse of Seawater. London 1779. 775 Kaschuba, Deutsche Sauberkeit, S. 312. 776 Vgl. Steudel, Geschichte der Bäder- und Klimaheilkunde, S. 17. <?page no="193"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 192 rege Beschäftigung mit der Hydrotherapie und deren Deutung als aufklärerische Körpervorstellungen auch in Deutschland zeigt, handelte es sich dabei um eine „eindeutig [...] bürgerlich-aufklärerische Rückbesinnung“ 777 . Zum Ausgangspunkt der literarischen Auseinandersetzung wurde Lichtenbergs bereits mehrfach erwähnter Aufsatz „Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad? “ von 1793. Erst mit Lichtenbergs Beschreibung der englischen Seebäder in einer populären Zeitschrift begann man auch in Deutschland über das Seebad und seine Anlage an den deutschen Küsten zu reden. Zunächst folgte man auf Anraten Lichtenbergs in Hamburg der Idee, an der nahen Nordseeküste ein Seebad anzulegen, eine Kommission entschied jedoch schließlich dagegen, und Lichtenberg nahm es in Kauf, dass ein Arzt an der Ostsee das erste deutsche Seebad gründete. 778 Samuel Gottlieb Vogel machte es sich denn auch als Erster zur Aufgabe, den Ruf des neuen Jungbrunnens in die Welt zu tragen. 779 Nicht nur in medizinischen Kreisen nahm man Vogels Schriften wahr. 780 Beginnend mit denen Vogels erschienen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine Fülle weiterer ärztlicher Badeschriften. Neben den praktischen Informationen zum Seebad, der Umgebung, Reisewegen und Ausflugszielen waren es dabei immer auch die medizinischen Einlassungen, die diese Literaturform in besonderem Maße prägten. 781 Für Vogel selbst gehörten seine periodisch erscheinenden Badeschriften, mit dem im ersten Jahrgang beschriebenen bescheidenen Anliegen, den „Anfang eines Beytrages zur Arzneymittellehre“ zu liefern, zum selbstverständlichen Teil seiner Funktion als Pionier des deutschen Seebadewesens. In seinem „Handbuch zur richtigen Kenntniß und Benutzung der Seebadeanstalt zu Doberan“ von 1819 konstatierte er: 777 Kaschuba, Deutsche Sauberkeit, S. 313. 778 Vgl. dazu Eulner, Meeresheilkunde, S. 120ff. 779 Corbin spricht zu Recht davon, dass die die aus England stammende Tradition der Wasser- und Bäder-Literatur in Deutschland „von dem unermüdlichen Samuel Gottlieb Vogel fortgesetzt“ wird. Ders., Meereslust, S. 122. 780 Vgl. u.a. die Rezensionen zu Vogels erster Veröffentlichung zum Seebad Heiligendamm-Doberan von 1794 in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Anh. 1797-1803. 1799, Anh. 1-28. 4. Abt., S. 67f; Rezension von C. E. Weigel In: Magazin für Freunde der Naturlehre und Naturgeschichte, Scheidekunst, Land- und Stadtwirthschaft, Volks- und Staatsarznei. 1795, Bd. 3, 1. St., S. 117f. 781 Es lässt sich daher auch für Deutschland mit Corbin festhalten, dass „der Erholungsaufenthalt am Meer eine unerschöpfliche Menge medizinischer Fallbeschreibungen hervorgebracht“ hat. (Ders., Meereslust, S. 122) Man muss einschränken, dass das Seebad sich zwar schnell in der Literatur etabliert, dabei aber in der sich immer stärker spezialisierten Literatur zu Bädern und Heilquellen auch nicht überproportional vertreten ist. Eßer und Fuchs sprechen in größerem Rahmen von einer „Explosion auf dem Markt der heilwissenschaftlichen Bücher“. Dies., Bäder und Kuren in der Aufklärung, S. 10. <?page no="194"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 193 „Seit dem Jahre 1797 habe ich jährlich von den Erfolgen des Seebades, so wie von der allmähligen Ausbildung der Badeanstalt, und den wichtigsten Begebenheiten, die sich in Doberan zugetragen haben, öffentlich Bericht abgestattet.“ 782 Diese zunächst eher an Fachkollegen gerichteten Werke, denen er immer wieder Anhänge zu besonderen Themen zur Seite stellte, änderten ab 1814 auch offiziell ihre Ausrichtung. Von nun an war Vogel explizit daran gelegen, seine Schriften an breitere gebildete Kreise zu richten, weshalb er sie unter dem Titel „Kleine Schriften zur populairen Medicin. Für gebildete Leser, die der Arzneiwissenschaft unkundig sind“ überschrieb und dem obligatorischen Jahresbericht vom Doberaner Seebad verschiedene, populär gehaltene Beiträge anfügte. 783 Von 1794 bis 1819 erschienen insgesamt 23 Schriften Vogels, die ausschließlich oder zum überwiegenden Teil das Doberaner Seebad zum Thema hatten. 784 Ab ca. 1815 erschienen dann auch aus der Feder von anderen Badeärzten in rascher Folge Publikationen zu den neu entstandenen Seebädern in Travemünde, Putbus, Swinemünde, Kiel, Apenrade und Zoppot. 785 Dabei handelte es sich, mit Ausnahme von Travemünde, 786 um einmalige Veröffentlichungen, deren Hauptanliegen es war, die Seebadekur und - vor allem - den neuen Kurort der Öffentlichkeit vorzustellen. Form und Umfang der Vogelschen Periodika zu wiederholen, wurde angesichts der erschöpfenden Fülle von keinem der anderen Badeärzte mehr angestrebt. Auch inhaltlich verließ man sich bereits auf das von Vogel Erarbeitete. Die bei ihm noch häufig vorkommenden Fallbeispiele, in der Tradition einer wesentlich erfahrungsbasierten Medizin standen, traten in den teilweise umfangreichen Monographien seiner Kollegen später deutlich zurück und tauchten um die Mitte des Jahrhunderts praktisch nicht mehr auf. Statt des Rückgriffs auf Einzelfälle handelte man jetzt nach objektivierten und, so jedenfalls der Duktus, allgemein anerkannten Therapieverfahren. Im medizinischen Diskurs war zu diesem Zeitpunkt die Wirksamkeit der Seebadekur, abgesehen von dauerhaften Unstimmigkeiten zu Einzelfragen besonders der Wirkungsmechanismen, unbestritten. Bei der Frage nach den genauen Wirkungszusammenhängen berief man sich zumeist pragmatisch auf die nachgewiesene Wirksamkeit des Seeba- 782 Vogel, Handbuch 1819, S. 40. 783 Vogel, Handbuch 1819, S. 42. 784 Vgl. dazu die Literaturaufstellung bei Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 44ff. 785 So erscheint 1815 von Stierling „Über den richtigen Gebrauch der Seebäder.“, 1816 „Annalen des Seebades zu Travemünde“, 1815 in Hufelands ,Journal der practischen Heilkunde’ Bd. 40 ein erster Artikel von Dr. Büttner zur Seebadeanstalt in Rügenwalde, 1820 erscheint Dr. C. G. Heckers „Beschreibung des Seebades zu Putbus“, 1822 Leibarzt Dr. Formey „Die Seebäder und Heilquellen zu Doberan und Warnemünde“. 786 Für Travemünde liegt die erste Badeschrift bereits 1803 vor, ab 1815 bis in die 1840er Jahre folgen in loser Reihe von den Badeärzten verfasste weitere Schriften. <?page no="195"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 194 des für bestimmte Krankheitsbilder und zog daneben Vogels Schriften als wissenschaftlichen Beleg heran. 1816 betonte der Travemünder Badearzt Dr. Stierling die wichtige Funktion von Vogels Badeschriften und bestätigte zudem die zweifache Ausrichtung von dessen Publikationen, einerseits an den „gebildeten Laien“, anderseits für den Mediziner. Stierling lobte die „Annalen dieses einsichtsvollen Arztes, so reich an aufgeklärten Ideen denen eine reife Erfahrung den Stempel der Wahrheit aufdrückt, [sie] haben hierin ein neues Licht angesteckt, welches einen um so allgemeineren Schein verbreitet, dass es zugleich dem gebildeten Laien und dem in die Mysterien der Heilkunde Eingeweihten leuchten soll.“ 787 Vogel war die allgemein anerkannte erste Autorität für die Ärzte der Seebäder, von den Kollegen auch selbstverständlich als „unser Veteran Vogel“ 788 betitelt. Die Rolle dieser von Ärzten verfassten Schriften für die Etablierung des Seebades in Deutschland kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Erst mit der schnell wachsenden Zahl der Publikationen aus der Feder der Mediziner erreichte der Ruf vom deutschen Seebad überhaupt eine breitere Öffentlichkeit. Und erst damit konnte ein Publikum auch außerhalb des lokalen norddeutschen Küstenraumes gewonnen werden. In einer Zeit allgemeinen Interesses an neuesten wissenschaftlichen Forschungen waren es neben der medizinischen Fachliteratur auch Literaturzeitschriften, die die neuesten Erscheinungen zu den Seebädern vorstellten und sich an den Debatten um Wirkungsgrade und Indikationen beteiligten. 789 Adressaten waren der gebildete Bürger und, wie die Widmungen zeigen, auch noch die fürstliche Obrigkeit, also beide „maßgeblichen Instanzen medizinpolizeylicher Menschwerdung“ 790 . Das Seebad im Küstenraum als Ort der Rekreation im Verständnis des lesenden Publikums zu verankern, es zugleich als gelungene Verbindung einer heilenden Natur mit bürgerlicher Geselligkeit zu konstruieren, war letztlich das zentrale Anliegen dieser Badeliteratur. Daneben prägten die Veröffentlichungen das Bild vom Seebad als medikalisierten Raum. Über Definitionen, Verordnungen, Verhaltensregeln und die damit ver- 787 Stierling, Annalen Travemünde, S. 8. 788 Stosch, Nachschrift, S. 805. 789 Vgl. u.a. Göttingische gelehrte Anzeigen, Bd. 2, Göttingen 1836, S. 859; Kritisches Repertorium für die gesammte Heilkunde, Bd. 3, Berlin 1824, S. 248f; Heidelberger Jahrbücher der Literatur, Bd. 30, Heidelberg 1837, S. 1018f; Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medizin. Bd. 3, Leipzig 1834, S. 7; Allgemeine Literatur-Zeitung, Mai 1839, Nr. 87, S. 88, Nr. 88, S. 89f.; Literarische Zeitung, Berlin 1835, S. 439f.; Repertorium der gesammten deutschen Literatur, Jahrgang 1835, Bd. 5, Leipzig 1835, S. 35ff.; Blätter für literarische Unterhaltung, Bd. 1, Leipzig 1839, Nr. IV. V. 790 Barthel, Medizinische Polizey, S. 42. <?page no="196"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 195 bundene Einbindung in eine bestimmte soziale Praxis diente die Badeliteratur anderen Ärzten als Vorlage und stellte auf der anderen Seite potentiellen Kurgästen berei ts v or d em Be su ch e in es S ee ba des e ine n kl ar reg uli er ten R au m vor . Dab ei wur de im Kontext der Literatur das Seebad ein Raum sozialer, geschlechtlicher, zeitlicher und räumlicher Zuordnungen. Denn nicht nur die den Ärzten zugestandenen Bereiche der medizinischen Praxis fanden sich in ihren Schriften. Von der Anreise bis in die Gestaltung und Ausprägung der kurfreien Zeit hinein war in den Badeschriften alles festgelegt, was den Tagesablauf und, darüber hinaus, die mehrwöchige Zeit der Badesaison möglich und empfehlenswert erscheinen ließ. Wie in der bekannten Reiseliteratur fanden sich auch in der Badeliteratur der Seebäder neben der Kurpraxis verschiedene Strategien des Zeitvertreibs. Bereits die publizierenden Ärzte des frühen 19. Jahrhunderts, „wechselten allmählich in eine andere Fachlichkeit hinüber, nämlich in die sich erst viel später professionell ausprägende Fachlichkeit der Animation, der Freizeit und der Kultur und in die des Marketing.“ 791 Diese, von Samuel Gottlieb Vogel für Deutschlands Seebäder sehr erfolgreich eingeführte Strategie, prägte auf Jahrzehnte das Bild vom Seebad als Kurort, dessen Ziel die produktive Korrektur abnormer Verhaltensmuster war. Mit ihren Schriften besetzten die akademisch gebildeten Ärzte einen bisher kulturell weitgehend unbeachteten und ungeachteten Raum und konstruierten ihn mit literarischen Mitteln als bürgerlichen Rekreationsraum. Und erst über die Publikationen, die die räumliche Begrenzung aufhoben, wurde die Ausweitung des Raumes über das eigene Seebad in die fachwissenschaftliche Diskussion und eine breitere Leserschaft möglich. Ganz selbstverständlich war es so zunächst der Arzt, der den Raum des Seebades in seiner sozialen Struktur und der medikalisierten Ausprägung zum Text werden ließ. Die Sprachbilder des medizinischen Diskurses prägten die Vorstellung vom Seebad, von seiner gesellschaftlichen Rolle und Funktion, von Verhaltensmustern und, nicht zuletzt, von Körpervorstellungen, die auf ein liberales Publikum zugeschnitten waren. Vogel und seine Kollegen übertrugen den Diskurs um die (Fehl-)Funktionen des menschlichen Körpers aus der physiologischen Debatte in den Kontext des Heilraumes Seebad. Belletristik und, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, zunehmend die Reiseliteratur 792 Karl Baedekers und seiner Nachfolger, markierten später den allmählichen 791 Rüdiger, Baden gehen, S. 88. 792 Dazu zählen auch die in populären Magazinen erscheinenden Reiseberichte aus den englischen Bädern, die neben Klatsch und Tratsch der englischen Gesellschaft als beliebtes Sujet den egalitären Charakter der Seebadegesellschaft hervorheben. Vgl. u.a. Anonym, Der Prinz von Wallis in Brigthon. In: London und Paris, eine Zeitschrift mit Kupfern. Bd. 7, Weimar 1801, S. 315-319. Auch Aubigniy, Nina de: Allerlei Bemerkungen und Ansichten. Das Seebad zu Margate. In: London und Paris, eine Zeitschrift mit Kupfern. Bd. 12, Weimar 1803, S. 15-22. <?page no="197"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 196 Niedergang des medikalen Diskurses. In Zwischenstufen wurde die ärztliche Literatur in immer stärkerem Maße Reiseliteratur mit medizinischen Anmerkungen. Verfolgt man die ärztlichen Publikationen der nächsten Jahrzehnte weiter, lassen sich zwei Formen der Badeschriften unterscheiden. Zum einen entwickelte sich eine immer stärkere naturwissenschaftlich-medizinische Beschreibung des Seebades, die die Bedeutung chemisch-physikalischer und physiologischer Komponenten hinsichtlich einer auf das Seebad zugeschnittenen Heilform ausführte. 793 Zum anderen gewannen poetische Strukturen der Reiseliteratur und Reiseführer in ärztlichen Schriften an Bedeutung. Der therapeutische Aspekt des Seebades ging dabei hinter landschaftsästhetische Raumzuschreibungen und die Vorstellung geselliger Vergnügungen im Bad zurück. 794 Da den Badeärzten gerade der kleineren Seebäder aber immer noch, auch aus Eigeninteresse, an Veröffentlichungen ihres Seebades gelegen sein musste und sie intime Kenner der Region waren, blieben sie bis in das 20. Jahrhundert hinein wichtig für die mediale Präsenz der Seebäder. 795 Wie genau funktionierten nun diese Badeschriften? Welche Rolle spielten die einzelnen sozialen Gruppen, wie wurde das Seebad inszeniert und mit welchen Textstrategien versuchte man die Anliegen im zusetzen? 3.1.7.1 Badeliteratur Erst seit jüngerer Zeit hat sich die Forschung aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive verstärkt der Bäderreise und damit verbunden der Bäderliteratur zugewandt. Zunehmend ist dabei Fragen nach dem sozialen Wandel in der Badeklientel, nach neuen Konzeptionen der Stadt-Land-Beziehung, veränderten Verhaltensstrukturen während der Badereise, dem Einfluss medizinischer Diskurse, von Körperkonstruktionen im Raum des öffentlichen Bades sowie der Rolle von Arzt und Patient im Bad nachgegangen worden. 796 Obwohl hier in umfangreichem Maße Badelitera- 793 Vgl. u.a. Fleischer, „Das Ostseebad. Seine physiologische und therapeutische Bedeutung. Nebst einer gründlichen Anleitung zum Gebrauche der Seebäder mit besonderer Berücksichtigung des Ostseebades Kahlberg.“ Danzig 1863. 794 Vgl. u.a. Schmige, Das Seebad Heringsdorf. Kurze Anleitung zum Gebrauch des Seebades für Kurgäste, Berlin 1852. 795 Müller begründet seine Badeschrift von 1869 mit der Aufgabe, „eine fühlbare Lücke in der practischen Reiseliteratur auszufüllen“, denn die Gäste fragten „nach einem Buche, welches zur Vorbereitung für den Besuch dieser Badeorte, wie auch als Führer durch die schönen Umgebungen derselben dienen könnten“, denn es gäbe nur „spärliches Material, welches die Literatur über die Inseln Usedom und Wollin“ bietet, und er greife für das vorliegende Werk nun „im Wesentlichen auf eigene Anschauungen“ zurück. Ders., Swinemünde, Heringsdorf, Misdroy, S. 1. 796 Vgl. dazu u.a. Michael Matheus (Hg.): Badeorte und Bäderreisen in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Stuttgart 2001; Eßer/ Fuchs (Hg.): Bäder und Kuren; Kolbe, Körpergeschichte(n); Bresgott, Suburbia. <?page no="198"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 197 tur als Quelle hinzugezogen wird, stehen umfassende Forschungen zur Form und Gattung bis heute aus. Au ch fü r das See bad s pie lt e die e nt spr ec he nde B ade lit er at ur e ine her aus rag end e Rolle. Sowohl im Verständnis der schreiben Ärzte, denn häufig verfassten sie die für lange Zeit einzigen und gültigen Monographien zu „ihren“ Bädern, als auch für die zeitgenössische Leserschaft bildete die Badeliteratur den ersten Zugang zum Seebad. Damit verbunden handelte es sich nicht um eine rein medizinische Literatur, sondern um eine Mischform aus Reisebeschreibung, Fremdenführer, Anstandsbuch und ärztlichem Begleiter. Die von Prof. Vogel als dem ersten und prägenden publizierenden Seebadearzt verfassten Werke bauten in ihrer Anlage auf dieser Tradition der binnenländischen Badeliteratur auf, wie etwa für Pyrmont 797 oder Wiesbaden 798 belegt ist. Um die Struktur und die Funktion der Badeschriften zu illustrieren, folge ich hier pars pro toto einer in ihrer Anlage typischen Badeschrift von Dr. Richard Kind, Badearzt in Swinemünde, mit seinem 1828 in Stettin gedruckten Werk „Das Seebad zu Swinemünde“. Gemäß dem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Badeärzte eröffnete Kind mit dem Hinweis auf Lichtenbergs Aufsatz zu den öffentlichen Seebädern, um anschließend die bereits erschienene Literatur zum kalten Baden allgemein und dem Seebad im Besonderen zu besprechen. 799 Schon Vogel hatte seine erste Badeschrift von 1794 als akademische Schrift angelegt. Er führte als Einleitung in das Thema eine ausführliche Literaturschau an, dass alle für ihn erreichbaren, auch internationalen Werke auflistete, die sich direkt oder auch nur am Rande mit dem Seebad, dem Kaltwasserbad, daneben der Physiologie, der chemischen und physikalischen Eigenschaften der Meere, der Meeresgeografie u.ä. befassten. 800 Mit seinen später bekundeten, der praktischen Anschauung dienenden Besuchen von Kurbädern im In- und Ausland, stellte sich Vogel bewusst in den internationalen wissenschaftlichen Diskurs zur Balneotherapie. Mit Vogel ist sich die junge Bal- 797 Vgl. dazu etwa Kuhnert, Urbanität, S. 23ff. 798 Vgl. Hase, Ulrike von: Wiesbaden - Kur- und Residenzstadt. In: Ludwig Grote (Hg.): Die Deutsche Stadt im 19. Jahrhundert, München 1974, S. 129-149. 799 Kind spricht davon, „daß nur die Angabe der diesen Gegenstand betreffenden Bücher einige Seiten füllen würde.“Kind, Swinemünde, S. V. 800 Noch der Nachfolger von Prof. Vogel in Doberan, Dr. Sachse, veröffentlicht in seiner Badeschrift „Über die Wirkung und den Gebrauch der Bäder, besonders der Seebäder zu Doberan“ 1835 noch einmal eine umfassende historische Darstellung der Balneo- und Thalassotherapie, bevor diese Legitimationsformeln zunehmend verschwinden. So schreibt 1837 Dr. Lieboldt aus Travemünde, man könne nun „eine geschichtliche Übersicht“ übergehen, da sie von Dr. Sachse „so vortrefflich dargestellt ist und nichtärztlich Leser kaum interessieren dürfte.“ Ders., Heilkräfte, S. IV. <?page no="199"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 198 neotherapie in Deutschland im Klaren darüber, dass man hier, vor allem im Hinblick auf England, in puncto Seebädern ein Nachzügler war. Damit verbunden stand das leuchtende Vorbild England für die Modernität des Phänomens Seebad. Daneben zeigte der Verweis auf England und auf die nun auch in Deutschland vorhandenen Zeugnisse zu den Seebädern das Entstehen einer eigenständigen Tradition. Diese erschien um so notwendiger, da man in den konkurrierenden Bädern des Binnenlandes auf eine jahrhundertealte Badetradition und ein reiches Erfahrungswissen zurückgreifen konnte. Zurück zu Kinds Schrift. Nach seinen Vorbemerkungen eröffnete Kind den Hauptteil seines Werkes mit dem ersten Kapitel „Von dem Seebade, dessen Wirkungsweise, Nutzen und Anwendungsart im Allgemeinen“. Hier führt Kind in die Geschichte des Badens in der See und in die Balneotherapie im Allgemeinen ein. Wie auch die Ärzte der binnenländischen Bäder 801 beriefen sich die Ärzte des Seebades auf die antike Tradition der Wasserkur. Denn mit den antiken Verweisen lässt sich dem Leser die Relevanz der Thematik nahebringen. Der therapeutische Gebrauch von Quellen ist u.a. durch Galen (2. Jahrhundert) und Caelius Aurelianus (4. Jahrhundert) belegt, und die spätantike Badetradition ist, wie Steudel bemerkt, als „Vorbild [...] ungleich wichtiger geworden als jede lokale Tradition“ 802 . Kind war bemüht, das kalte Bad als gewichtiges Erbe einer antiken Tradition zu präsentieren. Und er tat dies mit Verweis auf Melampus, der mythologischen Gestalt des „ältesten Sehers, Heilmittelkenners und Sühnepriesters“ 803 , der, so Kind, „150 Jahre vor dem Argonautenzuge lebte“ 804 und durch die Verordnung von kalten Bädern die Tochter des Königs von Argos heilte. Das Mittelalter brach, Kind und seinen Quellen zufolge, mit der Tradition des Seebades, und „bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts“ sei das Seebad in Europa „noch ganz unbekannt“ 805 gewesen. Erst mit den Engländern fände das Seebad im 18. Jahrhundert wieder die ihm gebührende Aufmerksamkeit. Nach diesem historischen Exkurs, der in dem Verweis auf die nur unterbrochene klassische Tradition die Legitimation des Seebades schon vorformulierte, fand Kind zurück zu seinen Zeitgenossen und damit zur Renaissance des Seebades. Für Deutschland wären es die „Entdecker“ Georg Christoph Lichtenberg und Samuel Gottlieb Vogel, die in der Literatur zu den deutschen Seebädern bald als segenspen- 801 Vgl. dazu aus medizinhistorischer Sicht Steudel, Geschichte der Bäder- und Klimaheilkunde; populärwissenschaftlich Horst Prignitz: Wasserkur und Badelust, S. 7-26. 802 Steudel, Geschichte der Bäder- und Klimaheilkunde, S. 1. 803 Der kleine Pauly, Lexikon der Antike in fünf Bänden, Bd. 3, München 1979, S.1160. 804 Kind, Swinemünde, S. 3. 805 Kind, Swinemünde, S. 5. <?page no="200"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 199 dende Dioskuren auftauchten. Beide wurden emphatisch als Gründungsväter des deutschen Seebadewesens gepriesen. 806 Als Beleg dafür diente zunächst Lichtenbergs schon mehrfach erwähnter Aufsatz, dem Kind ein ganz besonderes Verdienst auch darum zuerkannte, da es sich hier um „die Aufforderung eines Nichtarztes“ handelte, der in seiner Rolle als Patient eines englischen Seebades nun dieses Kurmittel auch für Deutschland einforderte. Der theoretischen wurde die praktischen Autorität zur Seite gestellt, Samuel Gottlieb Vogel, der Vollender von Lichtenbergs Idee. Mit den Autoritäten Lichtenberg und Vogel war zugleich die Stoßrichtung der ärztlichen Publikationen vorgegeben: Das öffentliche Seebad sei das zeitgemäße, das moderne Heilinstrument für ein aufgeklärtes Bürgertum. Gut dreißig Jahre nach Vogels ersten Veröffentlichungen gäbe es dann bereits eine eigenständige Tradition, geschaffen von einer Anzahl deutscher Badeärzte. So führte Kind die „kenntnißreiche[n] und wahrheitsliebende[n], bei Seebadeanstalten beschäftigen Ärzte“ Deutschlands auf, „unter ihnen besonders Vogel, v. Halem, Neumeister, Ruge, Pfaff“, die eine „große Menge der interessantesten und wichtigsten Beobachtungen von durch den Gebrauch des Seebades geheilten Krankheiten und ihren diesen Gegenstand betreffenden Schriften dem ärztlichen und nichtärztlichen Publikum“ 807 mitgeteilt hätten. Damit war bereits in den 1830er Jahren ein nationaler Diskurs um das Seebad und seine Möglichkeiten und Grenzen etabliert, dessen entscheidende Akteure bis ins späte 19. Jahrhundert hinein die Ärzte der Nord- und Ostseebäder waren. Auch in den zahlreichen Enzyklopädien und Lexika tauchten jetzt Beschreibungen zu den Seebädern und ihrer Wirkungsweise auf. Vogel, Hufeland, Kind, Lieboldt und die anderen Badeärzte wurden zu den am meisten zitierten Autoritäten für das Seebad. 808 Kinds Verweis auf eine eigenständige Tradition deutscher Seebadeärzte zielte aber auch darauf ab, deren Verdienste gebührend herauszustreichen und die Besonderheiten der Badetherapie an der Ostsee in das allgemeine Konzept des Seebades eingeführt zu haben. 806 So bezeichnet Kind Vogel als den „durch seine Verdienste um das Seebadewesen unsterbliche Leibarzt des Großherzogs von Mecklenburg“. Kind, Swinemünde, S. 5. 807 Kind, Swinemünde, S. 6. Der Medizinalrat Dr. Friedrich Wilhelm von Halem propagierte seit Ende des 18. Jahrhunderts die Anlage eines Seebades auf der Nordseeinsel Norderney („Die Insel Norderney und ihr Seebad nach gegenwärtigem Standpuncte“, 1801), Erdmann Gottwerth Neumeister und A. Ruge schrieben über das Seebad Cuxhaven („Beobachtungen über das Seebad zu Cuxhaven im Sommer 1818“), Christoph Heinrich Pfaff über Kiel („Das Kieler Seebad“, 1822). 808 Vgl. etwa Brockhaus, 26. Theil, 1835, oder Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon. Neue Originalauflage. In fünfzehn Bänden. Leipzig, 1847, Lexikoneintrag Dobberan, Swinemünde, Rügen. Neben den genannten Autoren etwa auch Dr. Carl Hanmann: Warnemünde, dessen Seebad und die Wirkung der Seeluft, 1843. Artikel „Seebad“. In: Neues Rheinisches Conversations-Lexikon, 1835; Artikel „Doberan“ in: Pierer, Ausgabe 1858. <?page no="201"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 200 Die ausführlichen Verweise sowohl auf die Tradition als auch auf die Modernität der Seebäder dienten dabei nicht allein der historischen Begründung. Sowohl mit dem Nachweis einer europäischen Tradition wie mit deren moderner, nationaler Ausprägung argumentierte Kind gegen die Kritiker der Seebäder. Es wüssten nun „alle mit dem Geiste der Zeit fortgehenden Aerzte Deutschlands [...] die vortrefflichen Wirkungen des Seebades zu schätzen“, und „sein Ruf ist unter den gebildeten Nichtärzten Deutschlands, wenigstens des nördlichen, so verbreitet, dass die Empfehlung dieses Heilmittels und der Beweis seiner Wirksamkeit durch Mittheilung einzelner Fälle ganz überflüssig geworden“ 809 ist. Mit der Definition des Seebades als modernes Heilmittel versuchte Kind, in seiner Rechtfertigung noch an eine Verteidigung gemahnend, Kritik am Seebad als Zeugnis überholter Denkmuster zu diskreditieren. Das Seebad, so Kind und seine Kollegen, war eben darum besonders wirksam, weil die Ärzte der Seebäder sich einem aufgeklärten Menschenbild verschrieben hatten. Da diese medizinische Elite noch klein war, habe sie sich den Angriffen der Traditionalisten zu erwehren, die „übereilte nachtheilige Urtheile über die Wirkung der Seebäder fällten“. 810 In diesem ersten Abschnitt zeigte Kind sich ganz als Typ des gelehrten Badearztes. Er wies seine wissenschaftliche Qualifikation nach, die Kenntnis der Autoritäten und der modernen Medizin inklusive der Therapie und stellte darüber hinaus auch komplizierte Sachverhalte für den Laien dar. Ziel war es aber auch hier, die Skeptiker eines wunderwirksamen Seebades, denen die vielfältigen Indikationen und Therapeutika „unbegreifliche“, ja „unglaublich“ 811 seien, mit verschiedenen Argumentationslinien - wissenschaftlicher Analyse, Fallbeispielen, akademischer Vorgehensweise - zu überzeugen oder wenigstens deren Argumente zu entkräften. Dieser Intention folgend begann Kind den medizinischen Teil mit dem „menschlichen Organismus und seiner Einrichtung“, indem er sich auf den Stand der zeitgenössischen Medizin berufend, den Körper nach „gewissen Einrichtungen“ unterteilte, die wiederum „gewissen Gesetzen“ gehorchten. 812 Nervensystem, Verdauungsorgane, Blutgefäße, Muskeln wurden abgehandelt und nach der Theorie des Reiz-Reaktion- Schemas (Erregungstheorie) deren jeweilige mechanische Funktionsweise in das organische Leben eingebunden. Ausgehend von dieser Analyse des menschlichen Organismus und dessen potentiellen pathologischen Störungen entwarf Kind das Bild vom Seebad als einem harmonisierenden Heilungsraum. Kind argumentierte auch hier auf mehreren Ebenen. Dabei vermengten sich äußere Faktoren (Umwelt, 809 Kind, Swinemünde, S. 6. 810 Kind, Swinemünde, S. 7. 811 Kind, Swinemünde, S. 7. 812 Dies und für das Folgende Kind, Swinemünde, S. 8ff <?page no="202"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 201 Klima) mit gesellschaftsimmanenten, sozialen Komponenten. Dementsprechend wurde der Raum von Kind als eine Verbindung objektiver äußerer und gesellschaftl ic h wir ks a mer F akt or en best immt . Diese Faktoren, „welche zusammen [...] ein untrennbares, unnachahmliches Ganzes bilden“, waren „1. Die Temperatur der See und ihr Verhältnis zur Temperatur der Luft. 2. Der Wellenschlag. 3. Die Eigenthümlichkeit der Seeluft. 4. Die chemische Composition des Seewassers. 5. Die veränderte Lebensweise des Fremden, während seines Aufenthaltes am Badeorte.“ 813 Die ersten vier Abschnitte widmeten sich den regional spezifischen, aus der Topografie und den damit verbundenen klimatischen Besonderheiten des Küstenraumes abgeleiteten Heilfaktoren. Indirekt argumentierte Kind damit aber auch gegen die zu diesem Zeitpunkt durchaus ernsthaft konkurrierenden städtischen Flussbäder, die spätestens mit dem Ende des 18. Jahrhunderts auch in Deutschland Fuß gefasst hatten und deren Gebrauch allgemein bekannt war. 814 Dagegen setzte Kind die Vorzüge des Seebades: Temperatur und Salzgehalt des Wassers, Seeluft und Wellenschlag, die als Beleg für den herausragenden Nutzen dienten. 815 Besonders die chemische Analyse des Seewassers galt als wissenschaftlicher Garant, als Beleg einer modernen, naturwissenschaftlich fundierten Medizin. Die Menge und prozentuale Verteilung der verschiedenen analysierten Mineralien belegte die therapeutische Qualität des Seewassers, wobei der höhere Salzgehalt lange als Zeichen größerer Wirksamkeit galt. 816 Die Bestimmung chemischer Bestandteile und deren therapeutischer Nutzen beim Bad in der offenen See dienten, in Anlehnung an die traditionellen binnenländischen Mineralwasserkuren, der Etablierung des Seewassers als adäquates Heilmittel. Damit wurde zugleich aber auch eine Differenzierung innerhalb der Seebäder möglich, die sich anhand „sicherer“ Meer- 813 Kind, Swinemünde, S. 15f. 814 Vgl. dazu auch Frey, Der reinliche Bürger, S. 219f.; Kaschuba, Deutsche Sauberkeit, S. 314. Nur wenige Jahre vor Kinds Schrift klagte ein Reisender über den verschwindend geringen Salzgehalt der Ostsee bei Swinemünde, die damit eben nur an ein gewöhnliches Flußbad erinnere. „Der Wellenschlag war nicht groß und der Salzgeschmack fehlte so sehr, dass ich glaubte, ein gewöhnliches Flußbad zu nehmen. [...] Nur dem, welchen ökonomische Ursachen hindern, berühmtere Örter zu besuchen, ist es zu raten, hierher zu reisen, um sich in der See zu baden, so ungesalzen diese auch ist.“ o.V.: Reise eines Gesunden in die Seebäder Swinemünde, Putbus, Dobberan, Berlin 1823, S. 66. 815 Das Seebad hat, so Kind, „vor anderen kalten Bädern, namentlich den Flußbädern, - denn die gute Wirkung kalter Bäder in Wannen genommen wird mit Recht gar sehr bezweifelt, - den wesentlichen Vorzug, dass die See überhaupt wärmer wird als das Flußwasser“. Kind, Swinemünde, S. 17. 816 So entschied sich nach einem Bericht der Königlichen Regierung die Bewohner Königsbergs für das weiter entfernte und weniger romantische gelegene Cranz und gegen die nähere Bademöglichkeit in Neukuren wegen „der geringen Salzhaltigkeit des dortigen Seewassers“, die Ärzte und Publikum verschreckten. GStA,Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben der Königlichen Regierung zu Königsberg vom 8.2.1817. <?page no="203"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 202 wasseranalysen als vorteilhaft im Konkurrenzkampf erweisen konnten. Dem wenig streitlustigen Professor Vogel aus Heiligendamm kam es daher gelegen, dass, was „in der That sehr merkwürdig ist, [...] die Ostsee überall, wo man sie untersucht hat, beynahe den gleichen Gehalt gezeigt hat. Hr. Prof. Kastner hat z.B. eine sehr genaue und schätzbare Zerlegung des Wassers der Ostsee bey Swinemünde angestellt, wovon der Erfolg bis auf eine Kleinigkeit übereinstimmend mit dem Resultate ist, welches die Analyse unseres Ostseewassers geliefert hat.“ 817 Von diesen Analysen ausgehend wies Dr. Kind als verantwortungsvoll handelnder Arzt sowohl auf die Indikationen wie auch auf die Kontraindikationen hin, die mit einem Bad in der See verbunden waren. Mit diesen im ersten Kapitel abgehandelten allgemeinen medizinischen Wirkungsprinzipien der Thalassotherapie war Raum für das Eigene der Lokalität geschaffen. Dabei beschränkte sich Kind, wohl wissend um die Herkunft eines wachsenden Teils der Kurgäste, nicht auf eine Darstellung der Stadt und des Seebades Swinemünde. Der zweite Abschnitt beginnt folgerichtig mit dem Kapitel „Reise von Berlin nach Stettin“, gefolgt von den Kapiteln „Kurze Beschreibung der Stadt Stettin“, „Reise von Stettin nach Swinemünde“, „Von der Stadt Swinemünde und der Entstehung der Seebade-Anstalt daselbst“. Erst nach dieser Einführung, die den Transitraum vom Quellgebiet eines wichtigen Teils der Kurgäste, nämlich der Berliner, als Ausgangspunkt nahm und von hier aus, als bekannte Konstruktion der Reiseliteratur, den Weg zum Seebad als Teil des Erfahrungsraumes Seebad umfasste, richtete Kind seine Aufmerksamkeit auf den eigentlichen Kurort. Hier, in Swinemünde, ging Kind zuerst auf die Bedürfnisse der Gäste an einen Kurort ein: „Von den Quartieren für Badegäste“, „Von der Speisung der Badegäste“, „Von der Bedienung der Badegäste“ heißen hier die einschlägigen Abschnitte. Diese Aspekte der Betreuung wurden in den Schriften immer wichtiger. Da, wie es 1801 in einem amtlichen Schreiben an den preußischen König heißt, das Interesse am Seebad sich „besonders auch von den bemittelteren Bewohnern“ 818 größerer Städte zeigte, erschien die Anpassung an die Ansprüche dieser Klientel für ein überregional erfolgreiches Seebad unabdingbar. So folgte erst in den Schlusskapiteln von Kinds Abhandlung die eigentliche Vorstellung der in Swinemünde gebräuchlichen Seebadeanstalten („Von den Anstalten zum Gebrauche der kalten Bäder“ und „Von den Anstalten zum Gebrauche der warmen Bäder“).Kinds Swinemünder Badeschrift, wie die Badeliteratur der Zeit insgesamt, reiht sich ein in die aufklärerische Hochschätzung der Druckkultur, mit deren 817 Vogel, Handbuch, 1819, S. 11. 818 GStA, Rep. 96 A, 117 Q, Schreiben vom 26.7.1801 an den preußischen König. <?page no="204"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 203 Hilfe Wissen vermittelt und bewahrt werden sollte. 819 Als Adressat der Badeliteratur darf man das im 18. Jahrhundert schnell wachsende Lesepublikum aus gehobenem Bürgertum und Adel als potentielle Badegäste annehmen. Damit traten die schreibenden Badeärzte nicht nur als Heiler, Kurbad-Entwickler und Geldgeber auf, sie waren gleichzeitig wichtige Wissensvermittler einer gebildeten Öffentlichkeit. 3.1.8 Indikation und Therapie - Übersetzung von Körpervorstellungen in den Heilraum Mit der Übernahme und Übertragung gängiger, gesellschaftlich anerkannter Krankheitsmuster und deren wissenschaftlicher Ausformulierung entsprachen die Badeärzte den Ansprüchen und Befürchtungen ihres Publikums ebenso, wie sie mit der Produktion bestimmter Praktiken den Raum des Seebades zum Ort der Heilung formten. Freilich ließ sich die angestrebte Deutungshoheit nicht durchgängig aufrechterhalten, und spätestens mit dem beginnenden Massentourismus entzog sich das Badepublikum auch der Definition des Seebades als medizinisch determinierter Raum mit einer entsprechenden Verhaltenspraxis. Dies lag auch darin begründet, dass klare Indikationen fehlten und eindeutige, nachweisbare Erklärungen des Wirkungsmechanismus der Seebadekur auf die Funktion des menschlichen Körpers kaum vorhanden waren. Als Mittel zur Durchsetzung des ärztlichen Deutungsmonopols auf das Therapeutikum Seebad fungierte die Beschreibung und Definition von Krankheiten, deren Heilung das Seebad, unter Anleitung des Arztes, versprach. Mit der Gründung Heiligendamms, und letztlich mit nur geringen Änderungen bis zum einsetzenden Massentourismus 820 in den Bädern nach der Reichsgründung, festigte sich die ärztliche Definition von typischen, hier zu behandelnden Krankheitsbildern. Eines der zahllosen Beispiele gab Vogel, wie in jedem seiner Periodika zur Seebadeanstalt Heiligendamm, in seiner Abhandlung „Zur Nachricht und Belehrung für die Badegäste in Doberan im Jahre 1798“. Dort heißt es zu den behandelten Krankheiten: „Es waren hauptsächlich Hypochondrie, hysterisches Übel, mancherley Nervenschwächen, Krämpfe, Verstopfung im Unterleibe, Hämorrhoidalumstände, Rheumatismen, Gicht, große Neigung zu Verkältungen, habituelle Kopfschmerzen, Verdauungsfehler, beschwerliche Leibes- 819 Vgl. dazu Paul Goetsch: Zur Bewertung von Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. In: Ders.: Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, S. 1-23. 820 Vgl. dazu u.a. Spode, Reiseweltmeister, v.a. S. 10ff., S. 105ff. <?page no="205"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 204 öffnung, Unordnung der monatlichen Reinigung, weißer Fluß, große Reizbarkeit des Nervensystems, Durchfälle, Catharrhe, u.s.w.“ 821 In der Mehrzahl handelte es sich dabei also um Störungen ohne organischen Befund. Hufeland zählte in seinem 1815 publizierten Standardwerk zu den deutschen Heilbädern die identischen Krankheitsmuster auf, ohne hier allerdings explizit auf Hypochondrie und Hysterie einzugehen: „Die Krankheiten, worin ich das Seebad am wirksamsten, ja oft alle andere Mittel an Wirksamkeit übertreffend, gefunden habe, sind die Nervenkrankheiten, Hautkrankheiten, Gicht- und Rheumatismen, Lymph- und Drüsenkrankheiten, die Skrofeln.“ 822 Die vom Königlichen Sanitätsrat Dr. Benzler 1882 verfasste Schrift „Das Ostseebad Zoppot bei Danzig“, knapp 90 Jahre nach der Gründung Heiligendamms erschienen, fasste zum Ende des Jahrhunderts die folgenden Krankheitsbilder zusammen, „die erfahrungsgemäß die Heilung bei einem kurmäßigen Gebrauch des Seebades suchen und finden. Es gehören hierher 1. Krankheiten des Nervensystems, [...] 2. Mangelhafte Blutbereitung, Blutarmut, die durch vorausgegangene schwere Krankheit, langwierige Säfteverluste, mangelhafte Function der Verdauungsorgane, sitzende Lebensweise [...] übermäßige geistige Anstrengungen, sexuelle Excesse [...] 3. Ein starkes Contingent für die Seebäder liefert die Scrophulose [...] 4. Von den Krankheiten der Verdauungsorgane [...] 5. Krankheiten der Respirationsorgane. [...] 6. Frauenkrankheiten sind hier recht reichlich vertreten [...] 7. Chronischer Muskelrheumatismus [...]“. 823 Munter mischten sich auch hier noch pathologische Krankheitsbilder (Scrofeln, Rheumatismus, Hautkrankheiten) mit den Modekrankheiten und dem, was Freidson die „sozial-iatrogenen“ 824 Krankheiten nennt. Vogel zeigte bereits in seiner ersten Schrift zu Doberan von 1794, in welchem Maße das Seebad als spezielles Therapieinstrument seiner Zeit gelten konnte: „Kein Mittel scheint auf eine so günstige Weise so viel Treffendes in sich zu vereinigen, um zumal den Krankheiten unsers Zeitalters vorzüglich angemessen zu seyn. Sind nicht Schwäche 821 Vogel, Handbuch 1819, S. 11. 822 Hufeland: Praktische Erinnerung der vorzüglichsten Heilquellen Deutschlands nach eigenen Erfahrungen, Berlin 1820, S. 254. Hufeland schien den eigenständigen Krankheitsbildern von Hypochondrie und Hysterie skeptisch gegenüberzustehen und ordnete sie in das allgemeinere Bild der Nervenkrankheiten ein. „Von der Hypochondrie und Hysterie gilt das nämliche, was von den Nervenkrankheiten überhaupt gesagt wurde. Sind sie rein nervöser Art, so ist gewiß des Seebad eines der herrlichsten Mittel dagegen.“ Ebd. S. 258. 823 Benzler, Zoppot, S. 50ff. 824 Freidson, Ärztestand, S. 172.Freidson definiert dies so, „dass die Medizin damit befaßt ist, Krankheiten als einen sozialen Zustand, den ein Mensch annehmen kann, zu schaffen.“ Ebd. <?page no="206"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 205 und Erschlaffung, Stockungen der Eingeweide und der Gefäße, Schärfen, die gemeinsten Quellen der zahllosen Krankheiten, welche unter tausendfachen Gestalten unsre Zeitgenossen heimsuchen? “ 825 Überhaupt, und das prägte das Bild der Seebäder, wurde die Indikation der im Seebad behandelbaren Krankheiten auf die der inneren Medizin, und hier auch auf die eher weniger schweren Fälle, beschränkt. Die große Bandbreite der psychischen Krankheiten, unter dem Begriff der „Nervenkrankheiten“ 826 abgehandelt und mit den speziellen Krankheitsbildern wie Hypochondrie oder Hysterie zahlreich in der zeitgenössischen Literatur angeführt, 827 überwog und bezeichnete den eigentlichen Schwerpunkt der im Seebad therapierten Krankheiten. Dr. Hecker, Badearzt in Putbus, schrieb 1822: „Für die nervöse Hypochondrie und Hysterie bleibt das Seebad ein großes Mittel. [...] Die Zahl dieser Kranken ist in Seebädern, und war auch hier in der Regel groß, und so nach Maaßgabe die der geheilten Fälle.“ 828 Obwohl gerade diese Kaste der Hypochondristen, Hysteriker und Melancholiker als Modeerscheinung der besseren Gesellschaft in allen Bädern gern gesehene Gäste waren, beanspruchte man sie gern exklusiv für das Seebad. 829 Das kalte, salzhaltige Seewasser sollte dabei durch die „Ableitung der innerlich und besonders im Gehirn angehäuften Erregung“ 830 wirken. Schwere Fälle des reichen Spektrums an Nervenkrankheiten, wie „Blödsinn“ und „Narrheit“, fanden aber auch im Seebad keine Heilung, denn „hier hat die Na- 825 Vogel, Gebrauch der Seebäder, S. 52f. 826 Darin zeigt sich der Übergang von der Humoralzur Solidarpathologie, die statt der Säftelehre die festen Teile des Körpers, vor allem aber die Nerven als Ausgangspunkt aller Krankheiten begriff. Damit verschiebt sich freilich nur die Wirkungskette auf eine weitere Ebene, ohne die Theorie der Entstehung und Wirkung von Krankheiten wesentlich zu verändern. Erst die Zellularpathologie Rudolf Virchows sollte diesen Schritt vollziehen. 827 Dabei verstanden die Zeitgenossen beide Krankheiten als physiologisch begründet, dann aber mit andauernden Rückwirkungen auf die Nerven. Vgl. etwa die Lexikoneinträge „Die Hypochondrie“ und „Die Hysterik“, in: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 2, S. 1345f., Leipzig² 1796, und noch Herders Conversations-Lexikon, Bd. 3, Freiburg 1855, und Pierer's Universal- Lexikon 1859, die beides als organische Nervenkrankheit beschreiben und immer noch beide Krankheiten geschlechtsspezifisch definieren. Vgl. zur Geschichte und Transformation der Hysterie und Hypochondrie die immer noch vorzügliche Darstellung von Esther Fischer-Homberger: Hypochondrie. Melancholie bis zur Neurose. Krankheiten und Zustandsbilder, Bern/ Stuttgart/ Wien 1970. 828 Hecker, Seebad bei Putbus, S. 126. 829 Dr. Neubert sprach in seinem Artikel „Über die Seebäder Westpreußens“ davon, das Seebad sei der Ort für die „besonders an solchen Übern Leidenden, die nicht leicht anderswo Heilung finden dürften, wie Hypochondristen und Hysterischen“. Ders. In: Journal der practischen Heilkunde, Berlin 1832, Bd. 75, 1. St., S. 88. 830 Stierling, Ideen, S. 108. <?page no="207"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 206 tur der Kunst Fesseln angelegt und den Bemühungen des Arztes einen Schlagbaum entgegen gestellt“. 831 Bereits hinter dieser Zuordnung verbarg sich ein Hinweis auf die zu therapierende Klientel als Teil einer mit ökonomischem und sozialem Kapital gesegneten Gesellschaft. Besonders über die „Nervenübel“ sortierte sich die soziale Herkunft und, dies war die andere Seite, die gesellschaftliche Stellung der Kurgäste. Zudem verdeutlichte die Behandlung der Nervenkrankheiten den Stellenwert des Seebades. Als Zentralorgan des aufgeklärten Bürgers waren seine Nerven - und damit das Gehirn - „die Wohnstätte des Denkens, der Leidenschaften, der Phantasie, des Wollens“, 832 essentieller Bestandteil der aufgeklärten Menschheit. Mit der Wiederherstellung des geistigen Vermögens verband sich nicht nur die Heilung eines Kranken, vielmehr sicherte man damit die Grundlage bürgerlicher Existenz. Durch dasselbe Vermögen der strebsam eingesetzten Vernunft gelang es den Ärzten überhaupt erst, Krankheiten zu verstehen und im besten Fall zu heilen. „Vernunft und tägliche Erfahrung lehren ...“ lautete daher das Mantra ärztlichen Selbstverständnisses über Erkenntnis und Therapiemöglichkeiten von Krankheit. 833 Als Kurort wirkte auch das Seebad sowohl statusstabilisierend als auch statusrepräsentierend. Zudem beschrieb die Liste der Indikationen den Mangel an analytischen Diagnosemöglichkeiten 834 und hinreichend wirksamen pharmakologischen Angeboten. 835 So musste die Therapie auch in allgemeine diätetische und damit verbundene moralische Handlungsvorschriften übergehen. Für die Körperwahrnehmung einer zunehmend prüden bürgerlichen Körpermoral leistete das Seebad darum einen besonderen Beitrag, weil sich hier der gesamte Körper im öffentlichen - wenn auch besonders geschützten - Raum befand und in seiner Gesamtheit Ziel eines Heilungsprozesses war. Das Entkleiden am Strand oder im Badewagen und das völlige Eintauchen des Körpers in das Meerwasser waren herausragende Körpererfahrungen. In welchem Umfang diese Erfahrungen zurück in den privaten Raum wirkten ist empirisch schwer zu fassen; dass sie für den der Kur folgenden Alltag nicht folgenlos blieben, ist angesichts des großen Erfolges der Seebäder anzunehmen. 831 Stierling, Ideen, S. 108f. 832 Schmige, Heringsdorf, S. 114. 833 Stierling, Ideen, S. 40. 834 „Der Patient bestimmt mit seinen Angaben und subjektiven Symptomen die Art des Leidens und damit der Therapie. Eine objektivierende Diagnostik fehlt dem Arzt nahezu vollständig.“ Boschung, Patienten, S. 17. 835 Vgl. dazu auch Wöbkemeier, Erzählte Krankheit, S. 117. <?page no="208"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 207 3.1.8.1 Körperliche Grenzen - die Haut Die genaue Wirkungsweise des Seewassers war auch fünfzig Jahre nach Russells 1750 erschienener bahnbrechender Schrift über das Seewasser und seine Heilwirkung noch nicht klar beschrieben. 836 Man analysierte, wie in den verschiedenen binnenländischen Kurbädern, 837 unterschiedliche Salze und nahm daneben diverse „animalische und flüchtige Stoffe“ 838 im Wasser an, die als Reize über die Haut den Badenden stärkten und reinigten. Angesichts fehlender analytischer Möglichkeiten und mangelnden Wissens um die Wirkungsmechanismen war es eben „auch das Leben, das Geistige, die unnachahmliche Mischung und Wirkung des Meers“, 839 die seine Wirkung ausmachten. Die Angst vor der inneren Fäulnis, dem Ungleichgewicht der Säfte, trieb die Gäste und die Mediziner um. Man war überzeugt davon, „daß das Meerwasser ein rapides Fortschreiten der Zersetzung im Körper verhindern kann“, 840 auch weil man davon ausging, dass es noch nicht entdeckte Wege des Wassers über die Haut in den Körper gäbe. Diese Meinung resultierte allerdings erst aus der ab der Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommenden neuen Interpretation zur Rolle und Funktion der Haut. 841 Hatten bisher Klistiere und Purgieren den schlaffen adeligen Körper vom inneren Schmutz befreit, begann nun der Siegeszug einer äußerlichen Reinheit, in der sich die Innere widerspiegelte. 842 Die Haut, deren Schmutzkruste vormals Schutz vor den bösartigen Miasmen in der Luft garantierte, wurde - reinlich und beidseitig 836 Zu den Funktionen der Haut im 18./ 19. Jahrhundert vgl. auch Vigarello, Wasser und Seife, besonders S. 199ff. 837 Für die verschiedenen Kurbäder hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits ein umfangreiches Wissen über die differenzierten Wirkungsweisen mittels der chemischen Analyse der Wässer herausgebildet. Zahlreiche Publikationen gaben Aufschluss über die jeweiligen Zusammensetzungen des Wassers, so Hoffmann, Taschenbuch für Brunnenfreunde von 1794, der die deutschen Brunnen unter folgenden Gesichtspunkten systematisierte: „I. Bitterwasser. II. Alkalische Wasser (1. alkalisch-erdige Wasser. 2. alkalisch-salinische Wasser). III. Muriatische Wasser. IV. Stahlwasser“. Mit einer immer weiter fortschreitenden „Zergliederung“ der wirksamen Bestandteile hoffte man, exakte Maßstäbe für die Wirkungsweisen jedes Wassers zu erhalten und so dem zwiespältigen Ruf der „Modebäder“ entgegenzuwirken. 838 Hufeland, Praktische Übersicht, S. 251. Pfaff, an der Kieler Universität auch Professor der Chemie, verwies dagegen in seiner Schrift „Das Kieler Seebad“ von 1822 auf „eine Menge von Versuchen“, die er anstellte und bezeichnete „dergleichen magnetisch-elektrische Stoffe und Einwirkungen so wie jene anderweitigen feinen und flüchtigen Substanzen [...] für bloße Chimären.“ Ebd., S. 40. 839 Vogel, Handbuch 1819, S. 12. 840 Corbin, Meereslust, S. 94. Corbin zeigt auch die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in England wirksame Vorstellung von Russels Erklärungen zur Wirkungsweise des Seewassers. Ebd., S. 94f. 841 Vgl. dazu u.a. Frey, Der reinliche Bürger, S. 101ff.; Bergdolt, Leib und Seele, S. 286ff. 842 Vgl. zur Rolle der Lufthygiene Michael Stolberg: Pestgestank und Hüttenrauch. Die Geschichte der Lufthygiene. In: „Sei sauber ...“. Eine Geschichte der Hygiene und öffentlichen Gesundheitsvorsorge in Europa, hg. vom Musée d'Histoire de la Ville de Luxembourg, Köln 2004, S. 110-117. <?page no="209"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 208 durchlässig - zur lebenswichtigen Verbindung zwischen innen und außen. Ihre Reinigung mit Wasser (im Gegensatz zur „im ,wasserscheuen’ 17. Jahrhundert“ 843 in höheren Kreisen praktizierten „Trockenreinigung“) und ihre Vitalität durch Bewegung standen von nun an im Zentrum der neuen Gesundheitsvorstellungen. Das Einfallstor für dieses neue Körperbild war die Haut, „Kontaktorgan und Grenzfläche zugleich, Ausdruckswie Eindruckspforte“, 844 die in der ärztlichen wie populären Literatur zum Seebad reichlich Beachtung fand. Unreinheiten und Ungeziefer sollten bereits vor Beginn einer Krankheit beseitigt werden und die Straffung des Hautorgans die Funktionsfähigkeit des gesamten Körpers erhöhen. „Wasser“, hielt der Doberaner Badearzt Dr. Sachse 1835 fest, „ist ferner eins der köstlichsten Reinigungsmittel der Haut.“ 845 Fett, Schmutz, Schweiß, Ausdünstungen aller Art belasteten die Haut und könnten, wenn diese nicht gereinigt würde, zu schwerwiegenden Krankheiten führen. Dagegen könne über die gereinigte Haut der Reiz des salzigen Wassers vollständig auf die innen liegenden Nerven wirken. Nichts schien sich für die Haut, die als Schnittstelle zwischen Nerven, Lymphsystem und der äußeren Umwelt verstanden wurde, als besseres Therapeutikum anzubieten als das kalte Wasser und - in gleichsam potenzierter Form - das Seewasser. Brownianer und andere Erregungstheoretiker verstanden das kalte Wasser als ideales Mittel gegen die Asthenie, die äußerlich erkennbare und innerlich wirksame Krankheit einer durch mangelnden Reiz hervorgerufenen großen Schwäche. Mit der geforderten Bewegung im Seewasser, auch hier im Gegensatz zum passiv behandelten Kranken, wurde das Bad in der See auf dreifache Weise wirksam: Die Kälte reizt die Haut und fordert eine Gegenreaktion, das Salz führt zu einer chemischen Reaktion durch den Hautkontakt und durch das Eindringen in den Körper und die Bewegung des Badenden, sein Untertauchen in das Wasser, kräftigen und verstärken sich die beiden anderen Wirkungen. Mit diesem dreifachen Stimulus für die Haut wurde das Seebad zum herausragenden Therapeutikum der modernen Gesellschaft und in diätetischer Tradition zudem zur vernünftigen Prophylaxe. Die Apologeten des Seebades, Lichtenberg, Hufeland und Vogel, betonten alle die besondere Rolle der Haut im neuen Körperverständnis. Die Erkenntnis, dass die Haut neben der reinigenden Ausdünstung auch andersherum Luft (also flüchtige Stoffe) einsauge, bewog Lichtenberg wie Hufeland zu der Annahme, die Haut wäre 843 Kaschuba, Deutsche Sauberkeit, S. 306. 844 Schipperges, Leiblichkeit, S. 15. 845 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 83. <?page no="210"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 209 das „eigentliche Organ des Ein- und Ausatmens“. 846 Vogel brachte dies alles in die praktische Fassung, wenn er von der Wirkungsweise des Seewassers auf den Badenden berichtete. So schrieb er 1797 in Hufelands „Journal der practischen Arzneykunde“, die Schlaffheit „der Fasern und des ganzen Hautsystems“ verbunden mit der „merklichen Reizung der berührten Teile“ erfahre durch die mit dem „Wasser eingesogenen Bestandtheile desselben“ eine bedeutende Stärkung der „Lebenskräfte“. 847 Der Swinemünder Badearzt Dr. Kind bezeichnet das „Hautorgan“ als wichtigstes überhaupt und unterteilte es in seine Bedeutung als „Sinnesorgan“, „Assimilationsorgan“ und „Ab- und Ausscheidungsorgan“. 848 Die Haut sei dauerhaft funktionsfähig, wenn sie durch angemessene Erregung tätig bleibe. Zum anderen stehe die Haut in Wechselwirkung mit vielen anderen Organen, wodurch es gelänge, „gestörte Verrichtung eines andern Organs, das mit jenem in Wechselwirkung steht, abzuwenden und das gestörte Gleichgewicht, auf welchem sehr viele Krankheiten beruhen, wieder herzustellen“. 849 Vor allem die Verbindung von Haut und Nerven trieb die Ärzte um. Die Organe der äußeren Reinheit und der psychischen Stabilität würden sich für die Seebadeärzte in glücklicher Weise verbinden. So konstatierte Dr. Hecker aus Putbus: „Da die Bäder zunächst ihre Hauptwirkung auf das Hautsystem äußern, so können sie im Allgemeinen die Nervenkrankheiten heilen, zu welchem primär oder secundär das gestörte Leben des Hautsystems in einem ursächlichen Verhältnisse steht.“ 850 Der Kieler Badearzt Pfaff betonte 1822 zwar ebenfalls die anerkannte „große Wirksamkeit des wohltätigen Reizes, den die salinischen Theile auf die Haut ausüben“, blieb aber noch skeptisch betreffend der „problematischen Einsaugung“ 851 der Stoffe durch die Haut. Andererseits diente die Debatte um den Salzgehalt des Seewassers auch der Abgrenzung gegenüber anderen Seebädern. Pfaff rechnete den von den Kritikern oft ins Feld geführten geringen Salzgehalt der Ostsee zu ihrem Vorteil, da „der zu starke Reiz des mehr gesalzenen Meeres auf die empfindliche Haut nachtheilig einwirken könnte“ 852 - eine Strategie, die angesichts einer zunehmenden Skepsis bezüg- 846 Lichtenberg, Werke, Bd. 6, S. 66-69; Hufeland, Erinnerungen, S. 17; ders., Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, S. 170; vgl. Frey, Der reinliche Bürger, S. 103. 847 Vogel, Über die bisherige Anwendung und Wirkung des Mecklenburgischen Seebades bey Doberan. In: Journal der practischen Arzneykunde, hg. von Hufeland, 3. Bd., 1. Stück, Jena 1797, S. 203f. 848 Kind, Seebad Swinemünde, S. 10f. 849 Kind, Seebad Swinemünde, S. 14. 850 Hecker, Seebad bei Putbus, S. 118. 851 Pfaff, Seebad, S. 22. 852 Pfaff, Seebad, S. 23. <?page no="211"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 210 lich der Wirksamkeit des Salzes im Heilungsprozess dazu führte, den geringeren Salzanteil im Ostseewasser als vorteilhaft herauszustellen. Schließlich war es gerade das vollständige und möglichst plötzliche Eintauchen des Körpers in das Seewasser, was die heilende Wirkung ermöglichte. Die große Wirkungsfläche der Haut, „ein Organ, das in jetzigen Zeiten vorzüglich hülfsbedürftig, und eine Hauptquelle unzähliger Krankheiten, z.B. rheymatischer, exanthematischer, scrofulöser, nervigter, hectischer u.a. Uebel ist“, 853 diente damit auch zur Begründung des Nacktbadens. Im Konflikt zwischen ärztlich verordneter Balneotherapie und dem Schamgefühl der Badegäste drängten viele Ärzte auf das ungewohnte und schambesetzte vollständige Entblößen des Körpers. Vogel sprach davon, er habe „Badehemden, Badekleidern im Bade [...] immer widerrathen“, auch „weil sie den unmittelbaren Impuls des Wassers auf die Haut schwächen“. 854 Distinktionsgebaren und die Intimität des bürgerlichen Körpers setzten diesem ärztlichen Drängen aber enge Grenzen. 855 Dr. Ludwig Wilhelm Sachs, Professor für Medizin in Königsberg, ging sogar noch weiter und empfahl das Lustwandeln am Strand direkt nach dem Bad, und zwar, „was das Vorzüglichere ist - ganz nakt“. 856 Nur so, oder nötigenfalls auch in ein „dünnes leinendes Laken lose gehüllt“, lasse sich das auch von den Ärzten noch immer unterschätzte Luftbad, eines der „wirksamsten und hülfreichsten Heilmittel“, richtig anwenden. So wurde der Versuch unternommen, mit der äußeren Natur von Wasser und Wind die innere menschliche Natur wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die Abhärtung der Haut gäbe dem Körper sein gesundes, straffes, jugendliches Aussehen wieder. Und da man als vernünftiger Bürger auch selbst verantwortlich für seinen Körper war, erschien die Haut, mit der man anderen gegenübertrat und sich präsentierte, als besonders wertvoll und schützenswert. Damit gewann auch die Frage, ab welchem Alter man kalt baden könne, an Bedeutung. Beliebt waren Beispiele von Säuglingen und Kindern aus Russland, von Lappländern oder den „alten Teutschen“, 857 die bezeugen sollten, in welchem Maße das Kaltbaden bereits im Säuglingsalter abhärtete und man 853 Hufeland: Anmerkung zu Vogels Aufsatz „Über die bisherige Anwendung und Wirkung des Mecklenburgischen Seebades bey Doberan“. In: Journal der practischen Arzneykunde, hg. von Hufeland, 3. Bd., 1. Stück, Jena 1797, S. 238. 854 Vogel: Über die bisherige Anwendung und Wirkung des Mecklenburgischen Seebades bey Doberan. In: Journal der practischen Arzneykunde, hg. von Hufeland, 3. Bd., 1. Stück, Jena 1797, S. 215. 855 „Um dem Bade weitere Verbreitung zu verschaffen, muss man die Menschen überzeugen, dass diese Praktik nicht das Schamempfinden verletzt. Während des gesamten 19. Jahrhunderts bleibt dies ein brisantes Thema.“ Vigarello, Wasser und Seife, S. 209. 856 Hier und folgend: Sachs, Aerztliches Gutachten, in: Journal der practischen Heilkunde, Berlin 1828, Bd. 67, 1. St., S. 33. 857 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 247. <?page no="212"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 211 „durch fleissiges Baden der Kinder ein für unsere Generation fast verlornes Gut, nämlich Ton, Festigkeit und Wirksamkeit der Haut [...] wieder erhielte, und dass man darin eine der größten Schutzwehren gegen Gicht, Flüsse, Nervenschwäche, Katarrhe etc. besäße“. 858 Schon Ferro hatte 1781 vom Gebrauch des kalten Wassers gepredigt: „Jedem Alter, jedem Stande, und jeder Konstitution des Menschen ist das Mittel zuträglich, beim zartesten Kinde kann man es mit der sichersten Zuversicht brauchen, und man sieht Wirkungen davon, die man von andern Mitteln lange Zeit vergebens gehofft hat. […] Schwache Kinder, deren ganzer Körper kaum einige Pfund wog, hab ich auf diese Art stark und gesund gemacht.“ 859 Als perfektes Abbild einer äußerlich ablesbaren Körperpraxis erlangte die Haut in ihrer Rolle als Grenzzone zwischen Umwelt und Körper, als „Berührungsort der Außenwelt“, 860 im frühen 19. Jahrhundert eine herausragende Stellung in diesem ebenso pathologischen wie symbolischen Diskurs um das Seebad. 3.1.8.2 Badepraktiken Da es sich bei den Seebädern um ein völlig neues therapeutisches Instrument handelte, suchten die Beteiligten zunächst nach einem passenden Reglementarium. Schließlich ging vom Bad in der offenen See, physisch wie moralisch, eine gewisse Gefahr aus, und Heilung war nur durch ein diszipliniertes Verhalten zu erlangen. Für die zentrale Kurpraxis, das Baden in der See, entwickelte sich erst im Laufe der ersten Jahrzehnte ein normierter Verhaltenskatalog. Dieser reichte über den eigentlichen Badeprozess hinaus und verwies etwa auf eine Vorbereitung der Seebadekur im eigenen Zuhause und ging bis zur Formulierung bestimmter Verhaltensvorschriften, die nach der eigentlichen Kur gelten sollten. So wurde versucht, über den Aufenthalt im Seebad hinaus den hier trainierten medizinischen Verhaltenskodex zum Teil einer alltäglichen Lebenspraxis zu machen. Allmählich etablierte sich, initiiert durch Vogels Schriften, weitergeführt in denen Kinds zu Swinemünde (1828) und denen Sachses zu Doberan (1838) ein Regel- und Verhaltenskatalog zur Badepraxis, der letztlich erstaunlich langlebig sein sollte. Hiermit wurde der Raum des Seebades geordnet, seine Grenzen und Regeln aufgestellt und der Badegast zum Teil der Kurgesellschaft. Doch selbst für die nicht an der Kur Teilnehmenden bestimmte der von den Ärzten aufgestellte Tagesplan den Rhythmus, wurde hier doch für einen wesentlichen Teil der Gäste ein täglich zu 858 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 249, Hufeland zitierend. 859 Ferro, Vom Gebrauche, S. 49f. 860 Hecker, Seebad bei Putbus, S. 118. <?page no="213"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 212 absolvierendes Saisonprogramm installiert, dem man sich zwar nicht unterordnen musste, dessen Eckpfeiler wie die Bade-, Essens- oder Ruhezeiten aber doch den gesellschaftlichen Rhythmus im Seebad bestimmten. Während die nur zur Erholung im Bad Weilenden 861 oder die ganz Gesunden „eine[r] besondere[n] Vorbereitung nicht“ 862 bedurften, entwickelten die Ärzte für die Bedürftigen einen Maßnahmen- und Verhaltenskatalog zur ordnungsgemäßen Badepraxis. Dieser blieb, wie alle ärztlichen Anordnungen, freilich nicht unwidersprochen. Die Normierungstendenz ärztlicher Praxis stand dabei häufig dem Wunsch von Badegästen entgegen, die lieber dem subjektiven Befinden als den aufgestellten Regeln folgten. Vogel bekannte, er müsse sich vielfach gegen Bemerkungen wehren, dass so viele ohne ärztlichen Rat unbeschadet in Flüssen und Seen badeten, ohne dass diese sich um „die vielen und subtilen Regeln [...], welche die Ärzte befolgt wissen wollen“, 863 kümmerten. Für Doberan sei aber, so Vogel, „nur von Kranken und Schwächlichen die Rede“, die es „theuer büßen“ 864 würden, falls sie sich nicht an die Baderegeln hielten. Fortan wurde ein umfangreicher, nach diätetischem Modell gestalteter Verhaltenskodex für den kranken Kurgast formuliert, der den gesamten Tagesplan, Badepraktiken, Schlafenszeiten, Bewegung, gesellschaftliches Engagement etc. umfasste. Diese Kurpraxis ging bis in die Aufforderung, positiv zu denken und autosuggestive Techniken für den abschreckenden Gang ins kalte Wasser anzuwenden. Vogel bemerkte, er habe „selbst Mehreren gerathen, unter Singen und Pfeiffen, und den angenehmsten, lustigsten Gedanken und Zerstreuungen sich ins Wasser zu senken“. 865 Dazu gehörte, in Vorbereitung der Seekur, eine Hauskur, z.B. mit Mineralwasser, Molken oder Kräutersäften und auch mit Abführmitteln und Stahlbädern. 866 Auch Fasten schien geeignet, um sich „leiblich auf die heilige Zeit“ 867 vorzubereiten. Die Veröffentlichung von Baderegeln diente also zugleich als Vorstufe der eigentlichen Seebadekur, indem sich der Kurgast bereits zuhause das ärztlich empfohlene Verhalten zu eigen machen konnte. Dies galt um so mehr, als gerade das kalte Wasser in den allgemeinen Vorstellungen noch immer kein gefahrloses Element darstell- 861 Wer in das Seebad reisen sollte und durfte blieb lange Zeit umstritten, da man sich von den Badegästen wenigstens gewisse Ermüdungserscheinung wünschte. Da diese ohne äußere Symptome sein konnten, ließ sich problemlos von den „gesunden Kranken“ reden. Hans Heinrich von Held fasste das 1804 zusammen: „Das Meerbad ist nur denen dienlich, die, ohne recht zu wissen wie, wo und warum, nicht gesund und doch noch einer gründlichen Reparatur fähig sind.“ Held, Colberg, S. 22. 862 Kind, Swinemünde, S. 50. 863 Vogel, Allgemeine Baderegeln, S. 5. 864 Vogel, Allgemeine Baderegeln, S. 5. 865 Vogel, Allgemeine Baderegeln, S. 26. 866 Dies und das Folgende: Kind, Swinemünde, S. 50ff. 867 Anonym, Seebäder, S. 12. <?page no="214"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 213 te. Darum sollte niemand, auch nicht jene, „welche sich sonst für gesund halten“, ohne „den Rath eines gehörig unterrichteten Arztes“ 868 dieses Mittel nutzen. Nach der Ankunft im Seebad wurde in den ersten Tagen nicht gebadet, um den Körper an die neuen Verhältnisse, das heißt das Seeklima und die veränderte äußere und gesellschaftliche Umgebung, zu gewöhnen. Erst dann gestattete der Arzt die eigentliche Kuranwendung. Die empfohlene Mindestaufenthaltsdauer lag bei vier bis sechs Wochen zwischen Juni und September, um eine zur Genesung ausreichende Menge von Bädern nehmen zu können. Dabei galt die Regel, nur einmal, höchstens zweimal am Tag zu baden und gelegentlich ein bis zwei Tage auszusetzen. Besonders diese Regel schien aber wenig Gehör zu finden. Kind merkte kritisch an, „die Badewuth [...] bedarf hier der sehr ernstlichen Rüge“. 869 Dementsprechend wurde die nötige Anzahl von Bädern während der Kurzeit auf ca. 45-60 beschränkt. Nach einem leichten Frühstück begab sich der Kurgast zum Bad und entkleidete sich in der Regel in den dafür vorgesehenen Badehütten oder Badekarren. Befanden sich die Badehütten nicht auf dem vom Strand ins Wasser gebauten Steg, begab man sich auf dem Steg ins Wasser. Vom Strand aus in das tiefere Wasser zu gehen galt als gefährlich, da man zu lange dem kühlen Wind ausgesetzt war. In welchem Umfang die Badenden sich Bademänteln außerhalb des Wassers und leichter Bekleidung im Wasser bedienten, lässt sich den Quellen nicht eindeutig entnehmen. Die ärztlichen Ratgeber empfahlen lange Zeit das Nacktbaden und stießen damit, das lässt sich auch an den hermetisch abgeschlossenen Badeanlagen ablesen, auf den Widerstand vieler Kurgäste. Wie sich die Badepraxis außerhalb dieser Badeanlagen und in Bereichen der Küste, an denen keine „öffentlichen“ Seebäder existierten, entwickelte, lässt sich nur vermuten. Angesichts einer immer stärker schambesetzten Körperkultur dürfte sich das Nacktbaden im Allgemeinen auf jugendliche männliche Kreise beschränkt haben. Das eigentliche Bad selbst ging dann sehr schnell vonstatten. Nach dem möglichst plötzlichen Eintauchen des gesamten Körpers in das Wasser sollte, unter anhaltender Bewegung und tiefem Einatmen, anfangs nicht mehr als drei bis fünf Minuten gebadet werden, abhängig von der Wassertemperatur und der zu behandelnden Krankheit. Gesunde dagegen, „die mehr zum Vergnügen baden, vollends wenn sie schwimmen, mögen gerne längere Zeit in der reinen Fluth verweilen“. 870 Doch die ärztlichen Vorschriften wurden anerkannt, wie Eduard Devrient seiner Frau berichtete, 868 Vogel, Allgemeine Baderegeln, S. 48. 869 Kind, Swinemünde, S. 53. 870 Pfaff, Seebad, S. 88. <?page no="215"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 214 und man badete kurz, auch wenn man sich nur „mit großer Überwindung der Verordnung fügt, das Bad abzukürzen“. 871 Überhaupt galt das in Mode kommende Schwimmen als geeignete Bewegungsform im Meer, da der Körper durch das Schwimmen am besten mit dem Wasser reagieren und sich abhärten könne. 872 Auch das mehrmalige Hineinspringen vom Steg oder einem speziellen Brett wurde empfohlen. 873 Nachdem man dem Wasser wieder entstiegen war, trocknete man sich, um eine verstärkte Hautreaktion zu gewährleisten, gründlich mit möglichst grobem Tuch ab und begann umgehend mit einem kleinen Spaziergang, bis der Körper wieder vollständig erwärmt war. Stärkende Getränke, wie „eine Tasse Kaffee oder Chocolade [...] Weinsuppe oder den daran gewöhnten Branntwein [...] Warmbier oder Sekt“ 874 , stärkten und erwärmten. Anschließend ging es zum zweiten Frühstück, bei dem dringend darauf zu achten war, dem großen Appetit nicht in allzu vollen Zügen nachzukommen. Sieht man einmal von den alkoholischen Getränken ab, weist diese Badepraxis viele Ähnlichkeiten zu modernen Empfehlungen für das Badeverhalten in Seeheilbädern auf. 875 3.1.8.3 Kaltwassertherapie Mit dem Diskurs um die allgemeinen Körpermodelle stellten sich die Badeärzte in einen Traditionszusammenhang, der mit der antiken Thalassotherapie beginnt. Bildungsbürgerlich geschult begründete man so die innerweltliche Askese als Feld bürgerlicher Tugend. Diese Strategie wurde, wie vieles andere in diesem Umfeld, offensiv und öffentlich vorgetragen. So begründete man, auch hier mit Vogels Doberaner Bäderschriften einsetzend, die Wirkungsmechanismen mit der seit dem Altertum überlieferten Heilwirkung des kalten Wassers. Vogel beginnt seine erste Badeschrift von 1794 mit einer „Kur- 871 Devrient, Briefwechsel, Brief vom 19.7.1834, S. 18. 872 Vgl. Bergdolt, Leib und Seele, S. 288. 873 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 223. 874 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 230. 875 In der „Empfehlung für die Verordnungen von Kurmitteln in Seeheilbädern“ heißt es u.a.: „a) empfohlenes Alter: Beginn zwischen 2 und 5 Jahren bis zu 70 Jahren und darüber, b) Badebeginn erst am 3.- 5. Kurtag, c) Badedauer am Anfang 3-5 Minuten, d) Badedauer nach 3 Wochen 15-20 Minuten, e) täglich nur ein Seebad; nur in Ausnahmefällen bei ungewöhnlich hohen Lufttemperaturen sollte mehr als 1 Seebad täglich zur Abkühlung gestattet sein, f) niedrigste empfohlene Wassertemperatur in der Vor- und Nachsaison 14 bis 16° C, aber auch darunter.“ Wolfgang Menger in: Zeitschrift für Bäder- und Klimaheilkunde, Stuttgart 1980, S. 357. <?page no="216"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 215 ze[n] Geschichte der Seebäder“, 876 worin er Hippocrates, Diogenes Laertius und Euripides als historische Zeugen einer Wirksamkeit des Seebades anführt. Aber auch ohne schriftliche Überlieferung schloss man auf den universalen Gebrauch des Seewassers als „natürliches“ Therapeutikum: „Ausserdem hat man ohnstreitig von jeher und zu allen Zeiten an Seeorten zur Reinlichkeit und aus diätetischen Ursachen in der See gebadet. Man kann auch wohl nicht zweifeln, dass mancher Kranke an Seeorten aller Gegenden der Erde seit undenklichen Zeiten durch das Baden in der See von seiner Krankheit ist befreyet worden“. 877 An die Klage über den Rückgang des Gebrauches von Bädern im Mittelalter 878 schloss die neuzeitliche Badetradition an, die ihren Ausgangspunkt in England besaß. 879 Die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Seebadetradition der Engländer, 880 die das moderne Seebad begründeten, wurde mit den maßgeblichen Schriften zur Wirkungsweise des Seewassers von John Floyer, Richard Russel und Robert White zur wissenschaftlichen Grundlage und Legitimation für Vogel und andere Badeärzte. Daneben war es der bereits erwähnte Pascal Joseph Ferro, der in Wien eine Kaltbadeanstalt einrichtete und mit seiner 1781 erschienenen Schrift „Vom Gebrauche der kalten Bäder“ das Kaltbad popularisierte. 881 Ferro erblickte in England das Mutterland des kalten Bades und damit verbunden „ein Modell für die Verbindung von Körperkultur und wirtschaftlichem Wohlstand, sozialem Prestige und nationaler Einheit“. 882 Auch für die Seebäder war das bürgerlich-aufgeklärte England mit seiner Badetradition und damit auch dessen sozialen Praktiken Vorbild. Dage- 876 Vogel, Gebrauch der Seebäder, S. 2. 877 Vogel, Gebrauch der Seebäder, S. 4. 878 Gerade das Mittelalter weist eine reiche Badetradition auf; deren geselliges Miteinander in den städtischen Badestuben und in den Wildbädern entsprach freilich in keiner Weise dem Anspruch der modernen Ärzte an ein Bad. Vgl. dazu v.a. Matheus, Badeorte. 879 Vgl. u.a. Kind, Swinemünde, S. 4. 880 Zur Geschichte der englischen Seebäder vgl. u.a. John K. Walton: The English Seaside Resort. A Social History 1750-1914, Leicester 1983; Phyllis Hembry: British Spas from 1815 to the Present. A Social History, Cranburry 1997; Stephen Fisher: Recreation and the sea, Exeter 1997. 881 Für den Kaltwasserprediger Ferro bleibt das kalte Wasser das einzig probate Mittel gegen die allgemein verbreitete Krankheit der Zeit, nämlich „Schwäche und zu starke Reizbarkeit! […] Solch ein Mittel also, das dem ganzen Körper seine physische Stärke vermehrt, […] das auf diese Art das Geblüt stärker herumgehen macht, und doch zugleich ihm das wallende Feuer benimmt, solch ein Mittel ist also das, was wider die Hauptkrankheit das passendste und kräftigste ist, und dies sind die kalten Bäder! “ Ferro, Vom Gebrauche, S. 48f. 882 Frey, Bürger, S. 114. <?page no="217"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 216 gen fand eine Auseinandersetzung mit der höfischen Badekultur in der Badeliteratur der Seebäder im Grunde nicht statt. 883 Dazu trug nicht unmaßgeblich Lichtenbergs Aufsatz von 1793 bei. An den Beispielen Margate und Deal handelte Lichtenberg alle in der Kürze nötig erscheinenden Verhältnisse der englischen Seebäder ab. Dass in England die ersten Seebäder der Neuzeit entstanden, spiegelte nur die Fortschrittlichkeit des Landes und seiner Gesellschaft wider. Die ein halbes Jahrhundert später erfolgende erste deutsche Seebädergründung fußte in wesentlichen Teilen auf der englischen Tradition. Davon zeugt auch der an der Ostsee wegen der nicht vorhandenen Gezeiten eigentlich unnötige Gebrauch der Badewagen, deren Aussehen und Funktion Lichtenberg so ausführlich schilderte. Was in England en vogue war, sollte auch in Deutschland passabel sein.Vogel behauptete, nachdem er die prominenten Verfechter der Kaltwassertherapie aufgezählt hatte, es „wäre sehr überflüssig, die tonische Kraft der kalten Wasserbäder überaupt noch beweisen zu wollen“. 884 Die erste Travemünder Badeschrift von 1803 führte aus, es sei durch die Schrift des englischen Arztes Floyer über den Nutzen der kalten Bäder von 1698, durch Ferro und Hufeland „das Baden überhaupt in seine gleichsam verjährten Rechte wieder“ eingesetzt worden, und „selbst über die Unentbehrlichkeit des Badens im allgemeinen sind jetzt alle gebildeten Aerzte mit einander völlig einverstanden“. 885 Dazu sprächen mit Floyer und Ferro auch bedeutende Männer für eine häufigere Anwendung des kalten Seebades, 886 denn das kalte Seebad, so die allgemeine Meinung, festige die „erschlafften“ Teile des Körpers. Einzig das kalte Bad eignete sich wirklich dazu, die den adeligen wie bürgerlichen Stand durchziehende „Verweichlichung“ zu tilgen und durch den Gebrauch des Seebades die nötige Abhärtung zu erlangen. Werde der ganze Körper in das kalte Seewasser getaucht, „stärkt man die Fasern des ganzen Körpers“, und „giebt den Nerven eine richtigere Stimmung“, auch im Gegensatz zu warmen Bädern, in denen weitere „Erschlaffung“ drohe. Die Erschütterung der Seele, wie sie die Theorie des Erhabenen forderte, war so Teil nicht nur der landschaftlichen Konzeption des Seebades, sondern auch der medikalen Praxis. Sinnlich erfahrbar wurde dies maßgeblich durch die Haut. Als zentrales Organ würde sie „gegen die Einwirkungen der kalten Luft unsers nördlichen rauhen Himmelsstrichs gleichsam gestählt“. 887 Neben den 883 Vgl. zur nationalen Entwicklung von Hygiene- und Reinlichkeitsvorstellungen auch Kaschuba, Deutsche Sauberkeit, S. 312f. 884 Vogel, Gebrauch der Seebäder, S. 54. 885 O.V., Travemünde, S. 5f. 886 O.V., Travemünde, S. 8. Allerdings erwähnt der Verfasser auch, dass man „in Ansehung der Temperatur [...] die Autoritäten mehr gegen, als für uns“ habe und dass der wissenschaftliche Disput über warme oder kalte Bäder noch nicht endgültig entschieden sei. 887 O.V., Travemünde, S. 11f. <?page no="218"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 217 therapeutischen Aspekt trat die moralische Forderung nach einer Wiedergewinnung von Ordnung: Diejenigen, die der „herrschenden regellosen Lebensweise“ fröhnten, könne d as kalt e Seeb ad wied er zu ein er geo rdnet en Leb enswe ise verh elfe n. K äl temedizin wurde zur Kältepädagogik, 888 wenn man postulierte, der durch „Ausschweifungen in der Liebe, von Selbstbefleckung, Pollutionen“ physisch und moralisch geschwächte Körper könne nur durch den „fortgesetzte[n] Gebrauch des Seebades“ 889 wieder gestärkt und befestigt werden. Das kalte Wasser galt nicht nur als Therapeutikum für Nervenleiden aller Art, sondern auch für die Skrophel-Krankheit, die damals „sehr allgemein verbreitet“ 890 gewesen sei und gerade jüngere Menschen befiel. 891 Diese Drüsenkrankheit, deren Indikation wegen fehlender Analysemöglichkeiten gewohnt umfangreich war, galt als Vorstufe zur großen Krankheit des 19. Jahrhunderts, der Schwindsucht. Das Seebad wurde von Anfang an als Mittel gegen die Skropheln ins Feld geführt. Wegen deren besonderer Hartnäckigkeit konnte hier über Jahre hinweg die gesamte Bandbreite von warmen bis zu kalten Seebädern verabreicht werden. 892 Das kalte Bad blieb jedoch für das Seebad konstitutionell und die bestimmende und bevorzugte Therapieform, ohne dass man auf warme Bäder und andere Therapieformen verzichtete. Empfehlungen, wie die des Pyrmonter Badearztes Marcard, kalte Bäder seien nicht ratsam, wurden dementsprechend als Zeichen „zu große[r] Ängstlichkeit“ 893 zurückgewiesen. 888 Vgl. Frey, Der reinliche Bürger, S. 115. 889 Vogel, Gebrauch der Seebäder, S. 62. 890 Kind, Swinemünde, S. 46. 891 So schreibt das Damen-Conversations-Lexikon, die Skropheln „oder Drüsenkrankheit, ist meistens angeboren, ererbt von den damit behafteten Eltern, wird aber auch durch die Lebensweise erzeugt, und oft beim weiblichen Geschlechte gefunden. Schlechte Ammenmilch, Unreinlichkeit, schlechte Luft, Wartung und Wohnung, schlechte Nahrung beim Auffüttern, langes Stillen, Mehlspeisen, schweres Brod, Mangel an freier Luft und des Sonnenscheins, überhaupt alle die Ernährung beeinträchtigende Einflüsse erzeugen und vermehren sie.[...] die dicken Lippen, die schwellende Nase, der dicke Kopf und Hals, die schwachen Knochen, besonders die Röhrenknochen, die aufgetretenen Gelenkenden derselben, der dicke Leib, der Charakter von Aufgedunsenheit, Schwammigkeit, die schwache Bewegungskraft, der immerwährende Schnupfen mit Wundsein der Nase, andere Schleimabsonderungen, Würmer, Magensäure, Verdauungsbeschwerden, Unordnung der Aussonderungen, Wundsein am Körper, fließende Ohren, schlechte Zähne u. s. w. verkünden den gefährlichen Feind. Außerdem zeigt sich das Uebel durch härtliche Körperrosen, Drüsen am Hinterhaupte, Nacken, Halse und anderen Orten an, wie auch an den größeren Drüsen [...] Reinlichkeit, gesunde Nahrung, besonders kärgliche Portionen, selbst Hunger, Bewegung in freier Luft, Bäder, besonders Sool- und Seebäder, öfters wiederholte Abführungen, Mineralwässer etc., hemmen die Fortbildung dieser Krankheit.“ Damen-Conversations-Lexikon, Bd. 9, o.O. 1837, S. 186f. 892 Vgl. Kind, Swinemünde, S. 46f. 893 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 137. <?page no="219"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 218 3.1.8.4 Warmbad Trotz des leidenschaftlichen Einsatzes von Ärzten und anderen Protagonisten körperlicher Abhärtung für das kalte Bad wird auch das Baden im erwärmten Seewasser rasch populär. In den eigens angelegten Badeanlagen für warme Bäder waren wie in den Anstalten an der See die Geschlechter getrennt, hier wie dort war auch der Aufenthalt einem zeitlichen Reglement unterworfen. Mit dem Bad im privaten Raum verband die geschlossene Warmwasseranstalt den Vorteil, inmitten eines komfortabel eingerichteten Baderaumes vollständig die Privatsphäre des Gastes zu gewährleisten. Hier fand sich daher die größte Ähnlichkeit zu den intimen Körperverrichtungen im häuslichen Bereich des städtischen Bürgertums, die sich in den Verweisen auf die reinliche Ausstattung der Badeanlagen spiegelte. 894 Und im Gegensatz zu den spartanisch eingerichteten Badeanlagen am Strand, den Badehütten und Badekarren mit ihren wenigen Toilettenutensilien, war im Badehaus eine enge Verbindung von Intimität und Komfort gegeben. Hier war man dauerhaft und zuverlässig unabhängig von Wetter und Jahreszeit und konnte bei Bedarf das ganze Jahr über baden. Badezusätze von Kräutern, Schwefel, Malz und anderen Stoffen, die sogenannten „künstlichen Bäder“, erhöhten die Anwendungsmöglichkeiten des Seebades und stellten mit dieser allgemein bekannten Form der Bäder zudem eine Verbindung zur traditionellen Badekur im Binnenland her. Auch die in diesen Bädern seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gebräuchlichen Wasserheizungen wurden in den Badehäusern der Seebäder zu festen Bestandteilen. 895 Mittels separat zu bedienender Wasserhähne für kaltes und warmes Wasser konnte der Kurgast die Temperatur des herbeigeführten Seewassers selbst regulieren, soweit nicht eine davon abweichende Anweisung des Arztes vorlag. Die Dauer des warmen Bades wurde in der ärztlichen Literatur mit 15 bis 60 Minuten angegeben. 896 In Swinemünde bot das erste Badehaus Platz für zwei Wartezimmer, je eins für Damen und eins für Herren, und sieben Badekabinette, 897 die zunächst mit hölzernen Wannen ausgestattet waren und „alle zum Aus- und Ankleiden nöthigen und sonst zur Bequemlichkeit der Badenden dienenden Utensilien und ein Thermometer“ 898 enthielten. Der Preis für ein solches Bad betrug laut Dr. Kind 12 Silbergroschen 894 Im Doberaner Badereglement, § 17, heißt es: „Auf die größte Reinlichkeit in den Bädern und Badezimmern, so wie auf frisch eingelassenes Wasser für jedes Bad, darf man mit voller Zuversicht rechnen.“ Vgl. Vogel, Handbuch 1819, S. 156. 895 Vgl. dazu Kaspar, Brunnenkur, S. 77f. 896 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 227. 897 Ein Jahrzehnt vorher, 1817, bot das neu errichtete, größere Badehaus in Doberan 22 Badezimmer. Vgl. Vogel, Kleine Schriften, S. 40. 898 Kind, Swinemünde, S. 117. <?page no="220"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 219 (und war damit mehr als doppelt so teuer wie das gewöhnliche Bad im Meer), wobei für künstliche Bäder ein Aufschlag von einem Silbergroschen und sechs Pfennigen e rho be n w urde . Dar über h ina us s tan de n de n hie r Ba den den „ auf V erla nge n ei nige Erfrischungen, als: Kaffee, Chocolade, Bouillon, Warmbier, Glühwein, Liqueur u.s.w.“ 899 zur Verfügung. Mit diesen stimulierenden Getränken sollte der Kreislauf wieder angeregt und nach dem erschöpfenden Bade in Schwung gebracht werden. Bei der Anlage der Badehäuser legte man Wert auf Funktionalität und ein schlicht gehaltenes Äußeres. 900 Oft war das Badehaus das erste feste Gebäude in Strandnähe, das damit den Kurcharakter des Strandraumes augenfällig demonstrierte. Obwohl das Warmbad von Seiten der Ärzte nicht den Zuspruch wie das Bad in der See erlangte, 901 erfreute es sich lange eines regen Zuspruchs seitens der Gäste und festigte seine wichtige Funktion als Ausgleichs- und Rückzugsort. 902 Besondere Patientengruppen, wie Ältere und besonders Schwache, bereitete es auf den ernsthaften Charakter des kalten Seebades vor. Mit dem verordneten allmählichen Übergang vom warmen Wannenbad zum kalten Seebad vollzog sich so zugleich die moralische und physische Abhärtung des Patienten im Schnelldurchlauf. Für den spartanischen Badegast, dem allein das Bad in der offenen See den Erfolg zu garantieren schien, war das aufgewärmte Seewasser freilich „ohne Leben und Kraft, eine abgestandene todte Jauche, ein verdorbenes Nichts“. 903 3.1.8.5 Alternative Kurmethoden Neben das einfache Warm- oder Kaltbad gesellten sich zunehmend zahlreiche spezielle Behandlungsformen. So zählte Vogel dazu die „gewöhnliche Douche von verschiedener Stärke, Tropfbäder, Dampfbäder, Regenbäder, Spritzbäder, Clystierdouche, einfache und zusammengesetzte Bäder u.s.w.“. 904 Diese wurden eingesetzt, um einzelne 899 Kind, Swinemünde, S. 119. 900 Wobei sich die fürstlichen Gründungen in Heiligendamm und Putbus-Lauterbach in ihren mit Zitaten der klassischen Formensprache geschmückten Badehäusern gegenüber denen von Swinemünde, Zoppot, Travemünde noch deutlich abheben. Trotzdem kann man diese ersten Badehäuser in ihrem Anliegen, geschmackvoll und schlicht zu erscheinen, noch als Antwort auf die überbordenden barocken Bäderanlagen des Binnenlandes lesen. 901 Stierling schrieb 1815: „Überhaupt haben daher die kalten Bäder einen thätigeren Einfluss auf den ganzen Körper; warme Bäder dahingegen vorzüglich nur auf die äußeren Theile desselben.“ Stierling, Ideen, S. 44. 902 Vogel gibt für 1817 in Doberan insgesamt 5.336 warme gegen 3.733 kalte Bäder an. Ders., Kleine Schriften, S. 45. 903 Held, Colberg, S. 14. 904 Vogel, Handbuch 1819, S. 27. <?page no="221"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 220 Körperpartien gezielt mit Wasser begießen zu können und so den Effekt des Seewassers noch einmal zu potenzieren. Dazu kamen die beliebten Trinkkuren mit Molke, in Doberan gewonnen aus Eselsmilch, die, nach Vogel, „Wunder leisten“. 905 Man hatte hier extra eine Herde Eselinnen angeschafft, um diesen Luxus betreiben zu können, der freilich nur wenige Jahre Bestand hatte. 906 Mit der Eselsmilch zielte Vogel vor allem auf die Gruppe der schwindsüchtigen Patienten. Daneben half die Molke aber auch bei „jeder anderen Abzehrung des Körpers“, 907 zu deren Überwindung man auch Schnecken züchtete, deren Verzehr als besonders kräftigend galt. Noch gut dreißig Jahre später, 1832, empfahl der Badearzt im Rügenschen Putbus die Molke aus der Eselsmilch als die Kur begleitendes Heilmittel. 908 Vogel, wie später seine Kollegen, war früh daran gelegen, sich nicht auf eine einzige Therapiemaßnahme, das Bad in der See, festlegen zu müssen. Es solle Doberan „zu einem allgemeinen Zufluchtsorte für Kranke aller Art dienen“, nur „solche ausgenommen, welche mit Verwirrungen des Verstandes, und eigentlichen chirurgischen Übeln behaftet sind“. 909 Heiligendamm sollte zum allgemeinen Kurort ausgebaut werden, der jenen Hilfe biete, die diese „in ihrer Heymath oder in der Nähe nicht haben können, zumahl nicht in Verbindung mit allen günstigen Umständen, welche Natur und Kunst zu Doberan vereinigen“. 910 Auch wenn Vogels Vorhaben hier nur bedingt erfolgreich war, deutete es doch bereits auf die mit wachsender Konkurrenz einsetzende Binnendifferenzierung der (Ostsee-)Seebäder hin. 911 Je mehr spezifische Merkmale ein Bad aufweisen konnte, umso höher war die Wahrscheinlichkeit, ein größeres Publikum an sich zu binden. So richtete die preußische Administration in ihren Überlegungen zur Anlage eines Ostseebades in Preußen 1801 ihr besonderes Augenmerk auf Kolberg, da dort bereits ein Solebad vorhanden war. 912 Auch in Apenrade bemühte man sich, das wenig günstig gelegene Bad durch den Aufbau und die Nutzung von Schwefel- und Stahlbädern bekannter zu machen. 913 905 Vogel, Annalen 1798, S. 130. 906 Vgl. dazu Karge, Heiligendamm, S. 39. 907 Vogel, Annalen 1798, S. 130. 908 „In Putbus ist für Vorrath der hauptsächlichsten Mineralwässer, (auch des künstlichen Carlsbader Neubrunnens) so wie für eine gut eingerichtete Apotheke gesorgt, wo auch Molken aller Art, besonders die von Eselsmilch, mit Sorgfalt bereitet werden.“ Siemerling, Andeutungen über Putbus, S. 26. 909 Vogel, Annalen 1798, S. 128. 910 Vogel, Annalen 1798, S. 128f. 911 Vgl. dazu Kap. 4.3.1. 912 Vgl. dazu Peter Jancke: Vom Beginn des Meerbadens in Kolberg 1802 über die Blüte des Bades 1859 bis 1939 bis zu seinem Untergang 1945. In: Ostseebad Kolberg. Rückschau auf eineinhalb Jahrhunderte Badegeschichte, Hamburg 2002, S. 7-168, hier S. 14. 913 Vgl. Hille, Heilquellen, S. 153. <?page no="222"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 221 Solebäder (die die Zeitgenossen aus der Idee des Seebades entstanden sahen) 914 und Mineralwasserbrunnen galten bald als ideale Ergänzung des Seebades. Als zusätzliche Kuranwendung steigerten sie die Reputation des Bades. Mit dem schon länger praktizierten Versand von Mineralwassern gelangte die traditionelle Trinkkur, die im Binnenland Ende des 18. Jahrhunderts die Badekur zunehmend verdrängt hatte 915 und die gelegentlich auch mit Meerwasser erfolgte, 916 auch problemlos in das erweiterte Kurrepertoire des Seebades. 917 Alle größeren Bäder boten ihren Gästen auch den Gebrauch von Mineralwasser an. 918 Ein den Seebädern eigenes Problem war die kurze Spanne der Kursaison, die in der Regel von Juni bis September reichte. Vogel trat hier u.a. mit dem Vorschlag hervor, Badekuren auch im Winter anzubieten, denn es bestünde „kein Zweifel mehr, dass sie in vielen Fällen eben so wünschenswerth als anwendlich sind“. 919 Schließlich gehörte auch die jährliche Wiederholung der Kur zum Prinzip einer erfolgreichen Therapie. Das regelmäßige Bad in der See stabilisierte den Anfangserfolg der Kur und machte zugleich aus dem Seebad eine wiederkehrende Meeresfrische. Vogel schrieb 1798 in seinen Annalen: „Mehrere, die den Sommer vorher sich des Bades bedient hatten, brauchten es wieder, zur Beförderung und Befestigung des Nutzens, den sie einmal erfahren hatten. Man wird überhaupt leicht einsehen, daß ohne eine solche mehrmals wiederholte Cur an eine gründliche Heilung vieler alter und tief eingewurzelter Gesundheitsgebrechen nicht zu denken ist. So wie es in diesem Sommer der Fall war, und wie er es immer seyn wird, so haben auch diesmahl Viele die 914 Schipperges, Krankheit und Kur, S. 9. So führte der Salinen-Arzt von Schönebeck (Elbe) in einer Schrift zur Vorstellung des dortigen Gradierwerkes die Ähnlichkeit der Salzsole mit dem Seewasser an, die ihren Ursprung darin habe, dass an dieser Stelle früher ein Ozean lag. (D. J. W. Tollberg: Über die Aehnlichkeit der Salzsole mit dem Seewasser und den Nutzen der Seebäder, 1. Heft, Magdeburg 1803). Zur Geschichte der Solebäder in Deutschland vgl. auch Jakob Vogel: Ein schillerndes Kristall: eine Wissensgeschichte des Salzes zwischen Früher Neuzeit und Modern, Köln 2008. 915 Mahling, Residenzen des Glücks, S. 89. 916 Bereits Lichtenberg nutzte ab den 1770er Jahren das Meerwasser als Kurelement. Trotz einiger Experimente auch in den Seebädern setzte sich diese Art der Kur nicht durch. Vgl. dazu auch Prignitz, Badekarren, S. 44f. 917 Vgl. dazu Kuhnert, Urbanität, S. 110f. 918 Für Swinemünde führte Dr. Kind aus: „Pyrmonter-, Eger-, Selter-, Püllnauer- und andere versendbare Brunnen besorgt denen, die ihn darum ersuchen, der Ökonom des Gesellschaftshauses zu den billigsten Preisen und in der kurzen Zeit von 30 Stunden. Von mehreren dieser Brunnen hält er kleine Vorräthe.“ Kind, Swinemünde, S. 140. 919 Vogel, Handbuch 1819, S. 38. Vogel selbst brachte 1828 eine Schrift über die Vorteile des Badens im Winter heraus, vgl. ders.: Beweis der unschädlichen und heilsamen Wirkungen des Badens im Winter, nebst Belehrungen über die zweckmäßige Art des Gebrauchs der Bäder und Trinkcuren zur Winterzeit, Berlin 1828. <?page no="223"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 222 größten Vortheile von ihrer Cur genossen, und sind gänzlich von ihrem Übel geheilt worden“. 920 Die Wiederholung der Seebadekur entsprach zum einen speziellen Indikationen, die eine langwierige Behandlung erforderte, diente in ihrer steten Wiederkehr zugleich aber auch als verordnete und saisonal zu leistende psychische Entlastung. Besonders in Fällen allgemeiner Schwäche und den vielen mehrdeutigen Indikationen wurde der wiederholte Gebrauch des Seebades empfohlen, da das Seebad „das einzige Stärkungsmittel ist, welches den ganzen Organismus gleichsam umzugestalten vermag“. 921 3.1.8.6 Psyche auf Reisen - der Kontrastraum als Heilfaktor Eine weniger materiale Heilform bestand aus der psychischen Entlastung, die allein der Aufenthalt an einem anderen Ort und die Abwesenheit vom Zuhause mit sich bringen konnten. Im Seebad, so eine anonym erschienene Schrift von 1820, spricht den Kurgast „alles […] ungewöhnlich an, man fühlt, man athmet anders, man denkt, mögt' ich sagen, anders. […] Wer vollends dieß vorher nicht kannte, sieht sich aus der Seinigenin eine Feenwelt versetzt, von der er früher keine Ahnung hatte.“ 922 Reise und Kuraufenthalt verwandelten den Ablauf des täglichen Lebens durch das Verlassen alltäglicher sozialer Strukturen und Selbstzuschreibungen und ermöglichten damit den Zugang zu neuen Erfahrungen. Oder, um es mit Christoph Hennig zu sagen: Wir „werden andere Menschen, wenn unser gewöhnlicher Lebensentwurf und -zusammenhang - und sei es nur vorübergehend - sich ändert.“ 923 Bereits den aufmerksamen Zeitgenossen war die herausragende Funktion der Imagination bekannt, die vor und inmitten aller realen Erfahrung ihren Platz hat. Ausgerechnet der Doberaner Badearzt Samuel Gottlieb Vogel beschrieb die eigentliche Wirkung der Kur als soziale Konstruktion. Für ihn waren die „eigentlichen Arzneyen das Allerwenigste“, 924 um Krankheiten zu besiegen. Die heute in der Tourismusforschung verbreitete Annahme, vor allem die Abkehr vom Alltäglichen sei Bedingung für einen gelungenen Urlaub, 925 stand bereits für Vogel außer Frage. Seine Analyse des „gewöhnlichen“ Lebensraumes der Kurgäste, von der Nahrungsauf- 920 Vogel, Annalen 1798, S. 7f. 921 Schmige, Heringsdorf, S. 99. 922 Anonym, Seebäder, S. 11, 923 Hennig, Mythen, S. 10. 924 Vogel, Neue Annalen, 1805, S. 91. 925 Vgl. dazu u.a. Hennig, Reiselust, S. 10ff.; Prahl, Hans-Werner, Soziologie der Freizeit (v.a. Kap. 9: „Theoretische Zugänge“), Paderborn 2002; Hasso Spode: „Reif für die Insel“. Prolegomena zu einer historischen Anthropologie des Tourismus. In: Christiane Cantauw (Hg.): Arbeit, Freiteit, Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag, Münster/ New York 1995, S. 105-123. <?page no="224"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 223 nahme über soziale Kontakte und Stellung, körperliche Bewegung oder Wohnverhältnisse, deckte die strukturellen Grundkonstanten des Alltags ab. Seine Therapie war d ab ei d ie Ver hei ßun g eine r bes ser en , da weni gs te ns temp or är a nder en Lebe ns wirklichkeit. Imagination und Konzepte der Selbstsuggestion schlug Vogel als Voraussetzung einer gelingenden Kur vor. Es wäre das „große Vertrauen, die lebhafte Hoffnung“, mit der man ins Bad reiste. Die Geschichten der bereits Genesenen wären das Versprechen auf das eigene „Glück der Wiedergenesung“. 926 Mit dieser Aussicht traf sich die reale, leibliche „Entfernung vom Hause“, die zu „ganz verschiedener Lebensart“ führe. Dabei entsprach die aufwendige Vorbereitung der Reise, „je umständlicher und größer die Zurüstung und der ganze Reiseapparat“, 927 dem Wagnis der (möglichst langen) Reise und der Hoffnung auf eine gelingende Kur. In Deutschlands erstem Seebad setzte man an die Front des Badehauses die „Lapidarinschrift der Antoninischen Bäder zu Rom: CURAE. VACUUS. HUNC. LOCUM. ADEAS. UT. MORBORUM. VACUUS. ABIRE. POSSIS. NAM. HIC. NON. CURATUR. QUI. CURAT. Das heißt: Sorgenfrey musst Du diesen Ort betreten, damit Du von Deiner Krankheit geheilt ihn wieder verlassen könnest. Denn wer sich mit Sorgen quält, kann hier schwerlich genesen.“ 928 Vogel interpretierte das antike Vorbild noch weiter, wenn er zum wiederholten Male auf die große Bedeutung der psychischen Verfasstheit der Patienten auf den Erfolg der Kur, also auf körperliches und damit verbunden psychisches Wohlbefinden, abhob: „Hoffnung, Muth und ein kummerfreyes Herz sind die großen Hebekräfte des physischen Wohlseyns. Nicht allein wird die Gesundheit dadurch mächtig erhalten, sondern es gibt auch fast keine Zerrüttung derselben, deren Heilung nicht dadurch erleichtert, befördert, ja selbst zuweilen allein bewirkt werden könnte.“ 929 Das Zusammenspiel von Seele und Organismus, zentrales Thema der Medizindiskurse, hieß für Vogel das Seebad als sorgenfreien, das hieß nicht alltäglichen Ort zu konzipieren, aus dem im Verbund mit der physischen Stärkung durch das Seebad ein gesunder, geheilter, Mensch hervorgehe. In diesem Zusammenhang bewegte sich der Arzt, der als seelsorgender Mediziner auch zur Autorität in moralischen Fragen wurde. 926 Vogel, Neue Annalen, 1805, S. 95. 927 Vogel, Neue Annalen, 1805, S. 96. 928 Vogel, Handbuch, 1819, S. 25f. 929 Vogel, Handbuch, 1819, S. 26. <?page no="225"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 224 3.1.8.7 Seeluft Die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts litten zunehmend an der Furcht vor krank machender Luft. Die Angst vor der Tuberkulose (Schwindsucht) trieb Tausende in die Luftkurorte des Hochlandes. Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch die Seeluft verstärkt als Therapieinstrument entdeckt wurde: „Bewegung in freier Luft ist [...] die halbe Kur, mässig rasches gehen am Strande, stundenlang, ist daher wohl zu empfehlen“. 930 Neben der bloßen Therapie diente die Seeluft mehr und mehr als Synonym für den kontrasträumlichen Charakter des Seebades. Schon allein der Aufenthalt an der See garantierte die Befreiung von städtischer Enge, der wehende Wind fegte die starre Statik des urbanen Raumes hinweg. Corbin geht zwar für den hier untersuchten Raum zu weit, wenn er behauptet, die Bedeutung der „Luftgüte [rückte] immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit, während das Interesse an den Heilkräften des Wassers abnimmt“. 931 Mit der Furcht vor der Lungentuberkulose und angesichts ungestüm wachsender Städte erkannte man aber auch an der Ostseeküste die reine Seeluft in zunehmendem Maße als Therapeutikum an. Hufeland stützte schon früh, 1798, in seinem „Journal der practischen Arzneykunde“ Vogels Darstellung von der heilsamen Wirkung des Seebades und bemerkt, dass auch „die Seeluft [...] bey vielen Krankheiten ihre entschiedenen Heilkräfte hat“. 932 Der besondere Vorzug der Seebäder, so die Travemünder Badeschrift von 1803, bestehe im „großen Eindruck und Genuß, den der Anblick des unermeßlich weiten Meeres beym Eintauchen in dasselbe gewährt“; dazu und „wichtiger noch wird es durch die dem Städter ungewohnte Reinheit der Luft, die unbezweifelt jede andre, selbst die Landluft übertrifft, und deren Einathmen selbst schon zur Stärkung eines geschwächten Körpers beytragen kann.“ 933 Als leitendes Argument wurden hier die konträr zum Aufenthalt an der See empfundenen Verhältnisse der „dumpfigen“ Städte angeführt. Auch hier fand sich bereits eine Einlassung in Georg Christoph Lichtenbergs Schrift „Warum hat Deutschland noch kein größeres Seebad? “. Über den überwältigenden Anblick der Insel und ihre Wirkung bemerkte er: „Nie habe ich mit so vieler fast schmerzhafter Teilnehmung an meine hinterlassenen Freunde in den dumpfigen Städten zurück gedacht, als auf Helgoland.“ 934 Dieses bewusste Empfinden des Kontrastes zwischen Natur- und Stadtraum ist bis heute Teil der Wahrnehmung vom Seebad geblieben. 930 Schmige, Heringsdorf, S. 82. 931 Corbin, Meereslust, S. 99. 932 Hufeland, Journal der practischen Arzneykunst, Journal, 3. Bd., 1. Stück, Jena 1797, S. 238. 933 O.V., Travemünde, S. 13f. 934 Lichtenberg, SuB, Bd. 3, S. 100. <?page no="226"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 225 Dabei reichte auch für den naturwissenschaftlich argumentierenden Badearzt von Norderney, Dr. Carl Mühry, bereits der „gesunde Menschenverstand“ aus, um die Bed eu tu ng d er S eel uf t im Kont ras t zur S tadt luft z u be we rte n. Er hi el t in s ein er B adeschrift von 1836 fest: „Wenn gleich die Eudiometrie noch nicht im Stande ist, alle Fehler der Stadtluft durch physikalische Experimente nachzuweisen, so wird doch Niemand daran zweifeln, dass das Einathmen einer Luft, die frei von allen den Dünsten ist, die durch das Zusammenwohnen einer beträchtlichen Anzahl von lebenden Wesen, durch deren Athmen, Ausdünstungen u.s.w. erzeugt werden, für die Gesundheit vortheilhafter seyn muss, als das Einathmen einer Luft, die durch dergleichen Dünste verunreinigt ist.“ 935 Argumentativ dominierte in dem Diskurs um die „reine“ Luft der alte Topos vom idealen Landleben. 936 Die Küste erschien als idealer Kontrastraum zur Stadt. Sie übernahm Funktionen des Landlebens, indem sie sich jetzt als Freiraum der bürgerlichen Elite anbot, die sich außerhalb ihrer gesellschaftlichen Stellung in der Stadt hier einen eigenständigen, sozial relativ homogenen Raum schaffte. Mit der Betonung des realen räumlichen Abstandes zur Stadt und der damit verbundenen Loslösung von gesellschaftlichen und beruflichen Zwängen, wurde das Seebad als Experimentierfeld bürgerlichen Sozialverhaltens konstruiert. Als Vorbild leuchtete dabei das alte Bild vom gesunden Landmann, der in der organischen Verbindung mit dem ihn umgebenden Land das Ideal des „einfachen Lebens“ verkörperte. Die reine und an Inhaltsstoffen reiche Seeluft wurde zum Therapeutikum erklärt, dessen Wirkung sich im körperlichen Wohlbefinden des Kurgastes niederschlug. So schrieb Dr. Lieboldt aus Travemünde in Anlehnung an das alte mechanistische Modell des Mediziners Friedrich Hoffmann über die Seeluft: „Der Aufenthalt an den Küsten und in der Seeluft: ,Wie die Luft ist, so ist der Blutlauf, wie dieser, das ganze Befinden des Menschen,’ sagt Fr. Hoffmann, und täglich belehrt uns schon das äußere Aussehen des Stubensitzers, des Städters, der in Fabriken oder kleinen dumpfigen Wohnungen zusammengeengten Menschen, so wie das derbe und kräftige Aussehen des Landmanns, 935 Mühry, Über das Seebaden, S. 23. 936 Dabei erfüllte das Seebad die gleiche Funktion wie die Heilorte in den Bergen. Höhenluft und Seeluft wurden so zu gleichberechtigten Ingredienzien einer neuen Heilraumbeschreibung. Das führte zu einem unvermeidlichen Konflikt um die Wirksamkeit der Bestandteile der jeweiligen Luft. „So stritten sich zum Beispiel am Anfang des 18. Jahrhunderts der Rostocker Mediziner Georg Detharding und der Züricher Naturforscher Johann Jacob Scheuchzer, ob die Luft der Ostsee oder in den Schweizer Alpen gesünder sei. Im Jahre 1787 schrieb der Hallenser Arzt Johann Friedrich Gottlieb Goldhagen eine Dissertation über die Seeluft und ihre Wirkung auf den menschlichen Körper. Er verwies auf den Wert der Seeluft für Atmung, Blutkreislauf und allgemeine Kräftigung.“ Priegnitz, Badekarren, S. 50f. Johann Friedrich Gottlieb Goldhagen: De Aëre Marino Eiusque In Corpus Humanum Efficacia, Halle 1787. <?page no="227"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 226 des Insulaners, Küstenbewohners, oder wer sonst viel in der freien Luft sich befindet, von der Wahrheit dieses Satzes.“ 937 Der Kieler Badearzt Prof. Pfaff sprach davon, dass „Seeluft und der Seewind zur Stärkung der Constitution und selbst zur Heilung mancher Krankheiten“ dienlich seien und dass besonders „gegen das Ende des Sommers die Bewohner großer Städte“ 938 dem Husten und der Schleimschwindsucht erlägen. Als Beleg für diese These führte er die Robustheit der Matrosen an, die auf ihren langen Fahrten über die Meere an keinerlei Atemwegsbeschwerden litten. Überhaupt galt die Insellage als ideale Voraussetzung für ein gesundes Leben. Fern der Enge und des Gestanks der Städte erschien die Insel als Heilraum par excellence. In der Furcht vor den im Boden lauernden Miasmen sorgt der die Insel beständig umwehende Seewind für die Reinheit der Luft und damit für die dem Menschen zuträglichen Lebensbedingungen. „Das Clima, vornehmlich der Insel,“ so der Rügenreisende Rellstab 1797, „kann nicht anders als der Gesundheit sehr zuträglich seyn. Die häufigen Winde, im Früh- und Spätjahr Stürme, führen frische Seeluft herbey, und böse Dünste fort. Man kann nicht anders als heyter und guten Muths seyn.“ 939 So stellte der Misdroyer Badearzt Oswald den Heilwert des Aufenthaltes an der Seeluft noch über den eigentlichen Badebetrieb: „Die Seeluft ist nach meinen Erfahrungen das Hauptagens bei den günstigen Erfolgen des Seebades, und selbst höher als Bäder zu stellen.” 940 Und Rudolf Virchow betonte in seinen Bemerkungen über die Ostseebäder von 1854, es müsse „ein sehr großes Gewicht darauf gelegt werden, dass der Badende viel die Seeluft genießt“. 941 Die Seeluft als eingeständiges Therapeutikum gewann auch deshalb an Gewicht, weil jetzt für einen heilsamen Kuraufenthalt an der See nicht einmal mehr ein Bad in der See zwingend notwendig war. Allein das Bad in der Seeluft durch regelmäßiges spazieren gehen versicherte den Badegast bereits der medizinischen Wirkung und Anerkennung. Auch daraus resultierte der zunehmend hohe Wert der Kurpromenade. Mit dieser Anerkennung der Luft als heilendes Moment verlor das Seebad aber zugleich sein wichtigstes Kennzeichen, die Abhängigkeit von der See. In den bald aufkommenden Luftkurorten der Gebirge spielte man schließlich mindestens genauso gut und volltönend das Lied von der gesunden Luft.Diese Vorstellung des reinen Raums, die sich durch die Luft an das Seebad knüpfte, fand dabei in bekannter Stoßrichtung ihren schärfsten Widerpart im städtischen Raum. Der Badearzt des 937 Lieboldt, Heilkräfte, S. 49f. 938 Pfaff, Seebad, S. 44. 939 Rellstab, Reise nach Rügen, S. 145f. 940 Oswald, Misdroy, S. 27. 941 Virchow, Bemerkungen über die Ostseebäder, S. 556. <?page no="228"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 227 kleinen Seebades Kahlberg auf der Frischen Nehrung, Dr. Fleischer, führte in seinen Badeschriften von 1863 dazu aus: „Das Zusammenleben vieler Menschen auf einem beengten Raume, wie dies namentlich in den großen Städten der Fall ist, erzeugt eine Menge von Zersetzungsproducten, die aus der Verwesung von animalischen und vegetabilischen Überresten hervorgehen, wodurch eine Menge von Stoffen sich der Luft beimischen, die zum Athmen untauglich sind.“ 942 Ausgehend von Luftuntersuchungen in Manchester und in Schweineställen, die voller „pestilenzialer, organischer Materie“ waren, zeigte sich, „dass namentlich auf die Städter die schöne reine Seeluft einen günstigen Eindruck machen muss, der für die Beförderung der Gesundheit von hohem Werth ist“. 943 Fleischer erklärte anhand neuester naturwissenschaftlicher Erkenntnisse den Wirkungsmechanismus der Seeluft. Danach verhinderte der Sandstrand die Entstehung von Miasmen, da er keine organischen Substanzen enthalte, die faulen könnten. Zudem besäße die Seeluft mehr Sauerstoff, was sich günstig auf den Stoffwechsel auswirkte. Auch sein Kollege Dr. Schmige verwies auf die besondere Rolle des Sauerstoffs, der als messbare Substanz nun den Begriff der „reinen“ Luft deutlicher machte. Der „Sauerstoff ist das Lebensprincip, und es wird demnach einleuchtend sein, wie um so belebender und ernährender die Luft sein muss, je reiner, das heisst gehaltreiner an Sauerstoff, sie ist“. 944 Dieser erklärte auch den „unbeschreiblichen Unterschied“, der zwischen „der Luft grosser und volkreicher Städte und der reinen erquickenden Atmosphäre des Meeres“ 945 herrschte. Sauerstoffreiche Meeresluft empfehle sich deshalb auch für die Bewohner der großen Gebirge, denn „die dünne Luft der hohen Gebirge [bringt] Muskelschwäche und allgemeine Mattigkeit“. 946 Neben dem Sauerstoff war es auch das erst wenige Jahre zuvor entdeckte Ozon, das zur Reinheit der Luft und damit der Gesundheit beitrage. Durch den beständigen Seewind werde „eine reine Athmosphäre mit neuem Vorrath von Ozon“ herbeigeführt, „wodurch schnell jede etwa vorhandene miasmatische Ausdünstung zerstört wird“. 947 So wurde jede Entdeckung einzelner Bestandteile der Seeluft in den Katalog der Heilingredienzien aufgenommen. 948 Als Beleg für die wohltuende und kräftigende Wirkung der Seeluft führte Fleischer, wie dies seit der Entdeckung der Küs- 942 Fleischer, Kahlberg, S. 6 943 Fleischer, Kahlberg, S. 6. 944 Schmige, Heringsdorf, S. 59. 945 Schmige, Heringsdorf, S. 60. 946 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 88. 947 Fleischer, Kahlberg, S. 16. 948 Vgl. u.a. Schmige, Heringsdorf, S. 61, der den günstigen Einfluss von „Chlor-, Jod- und Bromtheilen“ in der Seeluft hervorhebt. <?page no="229"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 228 te geschag, den verweichlichten Städtern die wenigstens körperlich überlegenen Küstenbewohner vor. Dabei wurde der Heilwert der Seeluft noch einmal über dem des eigentlichen Seebades angesiedelt: „Eine nähere Betrachtung der Küsten- und Inselbewohner giebt einen deutlichen Beweis für die wohlthuenden Einwirkungen der Seeluft. Wir finden unter diesen Leuten, obwohl dieselben sich fast nie im Meer baden, die kräftigsten, rüstigsten und gesundesten Menschen. Sie strotzen voll Lebensfülle und Gesundheit, so dass wir Städter uns keineswegs mit ihnen vergleichen können.“ 949 Die Seeluft als umfassende Atmosphäre erhöhte den Wert des Seebades, indem es die Übergangszone zwischen Meer und Land zum eigenständigen Therapieraum erklärte. Beispielhaft waren es „all die kleinen Inseln und Halbinseln [die] als Wiegen des Alters betrachtet“ 950 wurden, da die Lebenssphäre des Menschen hier gänzlich vom Wasser umschlossen und die Bewohner dem Seeklima beständig ausgesetzt waren. Die medizinische Literatur begeisterte sich an Menschen biblischen Alters, „Beispiele von 100jährigen Fischern“, auf den „Hebriden viele Hochbetagte, auf den Orcaden gleichfalls von 130-180 Jahren. Auf den Föhr-Inseln, an der Gränze des Europäischen Nordens wo die Ortschaften am Strande liegen, und die Bewohner eine stets reine Luft athmen, welche beständig mit der Meeresausdünstung geschwängert ist“, 951 würden überdurchschnittlich viele Bewohner, trotz harter Arbeit, über 90 und selbst über 100 Jahre alt. Aber nicht nur in der Ferne zeigte sich diese Wirkung der Seeluft: „In Travemünde erlebten 3 hinter einander folgende Prediger ihr Amts-Jubiläum. In Warnemünde, 2 Meilen von Doberan, sieht man viele Alte, besonders Frauen“. 952 3.1.9 Geschlechterdifferenzen - Frauenkörper Im Sinne einer erfahrbaren Körperwahrnehmung spiegelt die Beschreibung körperlicher Vorgänge und Prozesse in den Schriften der Badeärzte ein interessegeleitetes Körperbild wider. Diese Quellen erlauben eine Rekonstruktion der Wahrnehmung des Patientenkörpers, Einblicke in die körperliche Selbsterfahrung, das erlebte Körperempfinden der Patientinnen und Patienten bieten sie naturgemäß nicht, weshalb letztgenannte nicht Gegenstand der folgenden Darstellung sind. 949 Fleischer, Kahlberg, S. 33. 950 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 92. 951 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 92. 952 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 92. Auch der in Warnemünde praktizierende Arzt Friedrich Wilhelm Schütz verweist auf „viele Beispiele von hochbetagten Greisen und Greisinnen, welche ein Alter von 80, 90 und mehreren Jahren erreichten.“ Ders., Warnemünde, S. 25. <?page no="230"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 229 Entsprechend der medizinischen Tradition und einer gesellschaftlichmoralischen Geschlechterdefinition bot das Seebad einen geschlechtsspezifischen Therapieraum. Noch in den ersten Jahren seiner Entstehung versuchte man, das „schwache Geschlecht“ von den Wellen des Ozeans fernzuhalten und errichtete erst ab 1800 in Doberan in einiger Entfernung vom Herrenbad die erste separate Damenbadeanstalt. 953 Aus dem zunächst rein männlichen wurde ein zunehmend weiblich besetzter Heilraum. Badeanstalt (Herrenbad) am Heiligen Damm, mit Sichtschutzanlage. Dies geschah, da der „schwache“ weibliche Körper besonders gefährdet erschien und als Grundlage der bürgerlichen Familie zugleich physische und moralische Stabilisierung benötigte. Mädchen, junge Frauen und Mütter bildeten bald eine große Patientengruppe in den Seebädern. Das zeigt sich auch in der medizinischen Literatur. In Vogels regelmäßig erscheinenden Fallberichten kamen Frauen überproporti- 953 Vogel berichtete in seinen Doberaner Annalen von 1802 über die Anlage der von den Damen geforderten eigenen Badeanstalt: „Es wurde sogleich an einem schicklichen Platze in einer gewissen Entfernung hinter dem Badehause, so gut, wie es in der Geschwindigkeit tunlich war, eine Einrichtung gemacht, welche den Zweck ziemlich erfüllte und sofort von mehreren Damen mit vieler Zufriedenheit benutzt ward. Die Einrichtung bestand in einem Stege, der vom Ufer eine kleine Strecke in die See führte, am Ende mit einer Art Schirm versehen. Vor dem Stege auf dem Ufer diente ein kleines Haus zum Aus- und Ankleiden.“ Zit. nach Priegnitz, Badekarren, S. 99. <?page no="231"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 230 onal häufig vor. Für das Jahr 1817 belief sich das Verhältnis bei zwölf angeführten Fällen auf zehn Frauen und zwei Männer. Die meisten dieser Frauen waren zwischen 15 und 35 Jahre alt. 954 Begründet wurde die Badekur neben den umfassenden Nervenleiden vor allem mit den zahlreich indizierten Frauenkrankheiten, mit den „Unordnungen in den Regeln des weiblichen Geschlechts“, 955 und über alles, was mit Körpflüssigkeiten und Sexualität zu tun hatte. Das Meer mit seiner alten Zuschreibung der weiblichen, animalischen Fruchtbarkeit erschien hier als idealer analoger Heilraum für die Wiederherstellung der weiblichen Körperfunktionen. Unzählige Fallberichte in den Badeschriften belegen den hohen Stellenwert des Seebades für den Zugang zur individuell erfassbaren, aber zugleich prototypisch weiblichen Funktionsstörung. Stets ging es um die Rückführung physischer und psychischer Abnormitäten. Die Abweichung von der „natürlichen“ Norm war das Krankheitsbild, das die gesellschaftliche Funktionsfähigkeit der Frau behinderte und bis zur Wiederherstellung der „normalen Functionen“ 956 behandelt werden musste. Und alles Weibliche hing letztlich mit deren gefährdeter und gefährdender Sexualität zusammen. Bereits im jugendlichen Alter, mit beginnender Geschlechtsreife, würden Störungen der körperlichen Ordnung einsetzen und nach einer Therapie verlangen. Eine Krankheit wie die Bleichsucht, bei der das junge Mädchen als „Archetyp des zarten und empfindsamen Individuums“ 957 dann „trübe, oft schwärmerisch“ werde, hinge mit der „Unordnung in der Menstruation zusammen“ 958 und wäre damit eines der vielfältigen „Symptome einer Schwäche in der Geschlechtssphäre“. 959 Die jungen Mädchen, leidend an dieser gefürchteten Krankheit, einer „der traurigsten Folgen dieser Störungen in der weiblichen Periode“, fänden aber durch das stärkende Bad im Meer sowie bei „guter ärztlicher Behandlung“ 960 wieder ins Leben zurück. Das Seebad half in diesen Fällen so herausragend, weil es „in den absondernden Eingeweiden und Reinigungsorganen des Körpers“ 961 wieder die „natürliche“ Ordnung, das heißt die Befreiung vom auszuscheidenden Unrat, herbeiführte. Das Seebad wurde zu diesem Zweck, jenseits des alltäglichen Lebensraumes, zum idealen Heil- und Zufluchtsraum. In einer Badeschrift von 1863 hieß es: „Die Seebäder erzeugen einen höchst wohltätigen Einfluss auf alle Functionen der Sexualorgane, und dadurch 954 Vogel, Kleine Schriften, S. 59ff. 955 Kind, Swinemünde, S. 38. 956 Fleischer, Kahlberg, S. 55. 957 Corbin, Meereslust, S. 122. 958 Schmige, Heringsdorf, S. 101. 959 Schmige, Heringsdorf, S. 105. 960 Kind, Swinemünde, S. 40. 961 Schmige, Heringsdorf, S. 101. <?page no="232"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 231 wird das Seebad namentlich den Frauen und Mädchen ein so höchst wohltuender Zufluchtsort.“ 962 Alle Unregelmäßigkeiten, „Leiden und Beschwerden, die von dem Uterinsystem ihren Ursprung haben, finden hier ihre Heilung und [...] werden allmählich zur Norm zurückgeführt“. Der zur Regulierung dieser Abnormitäten erforderliche Heilplan musste aber höchst unspezifisch bleiben und auf eine konstruierte Norm zurückgreifen, solange man sich weder bei der Diagnose noch bei der Therapie auf gesicherte analytische Erkenntnisse berufen konnte. Nur unter dieser Bedingung konnte sie aber auch als soziale Krankheit funktionieren. Zudem bedurfte die Frau während der Kur besonderer Fürsorge und Unterstützung, da sie dem kalten und nassen Element häufig allzu ängstlich gegenüberstünde. Im Gegensatz zu dem auf Abenteuer und Wagemut prädestinierten Mann bräuchte die Frau, so die Meinung der Zeitgenossen, regelmäßig Zuspruch und Unterstützung von Seiten des Arztes, um die geforderten Therapiemaßnahmen, also vor allem den Sprung in das kalte Wasser, zu vollziehen. Alle Autoritäten, so Dr. Sachse aus Doberan, sprächen sich dafür aus, sich plötzlich in das Bad zu stürzen: „Je rascher, vertrauensvoller und froher Jemand ins Wasser springt, desto wohlthätiger die Wirkung, desto schneller vorübergehend der Schauder.“ 963 Dagegen, so Dr. Sachse, käme es häufig vor, dass gerade „sehr reizbare Frauen 3-4 Mal umkehren, ehe sie es wagen, von der Treppe ganz [in das Wasser, H.B.] hinabzugehen.“ 964 Männlich geprägte Körperbilder bestimmten so den Umgang von und mit dem weiblichen Körper. Einen besonderen Platz in der Reihe weiblicher Funktionsstörungen, die im Seebad Heilung finden sollten, nahm die sogenannte „Hysterie“ ein, jener weibliche Gegenspieler zur männlichen Hypochondrie. Wie diese war sie „in ihrer Form sehr verschieden“ entspränge aber „aus einer und derselben Quelle“ 965 und äußerte sich hauptsächlich in Unterleibsproblemen und psychischer Instabilität. Pierers Universallexikon definierte die Hysterie noch 1859 als „Krankheit des weiblichen Geschlechts von den Jahren der Mannbarkeit [sic! ] an, bisweilen erst mit dem Erlöschen der weiblichen Geschlechtsverrichtungen sich mindernd od. verlierend, bisweilen sich aber dann auch erst ausbildend, welche ihren nächsten Grund in einer erhöhten Reizbarkeit u. krankhaften Verstimmung des Nervensystems überhaupt, insbesondere aber desjenigen des Unterleibs u. der Geschlechtstheile hat“. 966 962 Fleischer, Kahlberg, S. 55. 963 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 217. 964 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 141. 965 Kind, Swinemünde, S. 37f. 966 Pierer's Universal-Lexikon, Bd. 8, 1859, S. 691. <?page no="233"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 232 Frauen befiel dieses Leiden also „von der Geschlechtsreife an bis zum Aufhören der Geschlechtsverrichtung“, 967 in jenem Zeitraum also, in dem der (bürgerlichen) Frau ihre wichtige gesellschaftliche Aufgabe, die Reproduktion, zukam. Damit wurde die Heilung der Hysterie und aller mit sexuellen Befindlichkeiten zusammenhängenden Beschwerden über das private Empfinden hinaus zum gesellschaftlich relevanten Anliegen. Der Handlungsbedarf zeigte sich auch darum ganz besonders, weil die Frauen in diesem Zustand nicht mehr „Herr“ ihrer selbst seien. Man bemerkte „bei hysterischen Frauen eine grosse Neigung zur Übertreibung in Schilderung ihrer Leiden“. 968 Wenn durch das Seebad die physische und psychische Stabilität der Frauen erst einmal wieder erreicht war, zeigten sich auch bald die erhofften Folgen. Vogel lobte bereits in seiner ersten Schrift von 1794 das Seebad als Ort, wo „Unfruchtbarkeit und Impotenz“ bei Frauen wie bei Männern geheilt werden könnte. Freilich erwartete und hoffte man an einem Ort der Sittlichkeit nicht, „daß manches Frauenzimmer dieser Art von Seebadeorten geschwängert zurückkommt, wovon es in Engelland Beyspiele genug geben soll“. 969 Auch Dr. Kind sprach von dem „bewährten Einfluss des Seebades auf die Fruchtbarkeit. Frauen, die längere Zeit kinderlos blieben, wurde bald nach ihrer Rückkehr aus dem Seebade die Hoffnung, Mutter zu werden“. 970 Was vormals der Wallfahrt und dem segnenden Gestus des Priesters vorbehalten blieb, besorgte nun, im Zusammenspiel mit dem Arzt, der Heilraum des Seebades. Der in Unordnung geratene, empfindliche weibliche Körper wurde im Kampf mit dem Ozean und mit Hilfe des Arztes wieder gefestigt und fand so schließlich wieder in seine alltägliche gesellschaftliche Funktion zurück. Anders verhielt es sich, wenn die erhoffte Schwangerschaft bereits eingetreten war. Sie war Teil der umfangreichen Kontraindikationen für den Gebrauch des Seebades. Neben einer übergroßen „Reizbarkeit der Nerven“, zu „großer Vollblütigkeit“, „organischen Krankheiten der Lunge“, „habituellen Verstopfungen der Eingeweide“, „Krankheiten entzündlicher Art“ und „von Fehlerhaftigkeit der Säfte herrührenden oder damit verbundenen Hautkrankheiten“ 971 war es eben auch eine bereits eingetretene Schwangerschaft, bei der ein Seebad nicht empfohlen werden konnte. Interessanterweise, und entgegen der häufig angeführten Erfahrungsmethode, meinte Dr. Kind, er selbst kenne viele Zeugnisse schwangerer Frauen, die „ohne Nachteil in der See gebadet haben [...] und dann zu gehöriger Zeit ganz leicht und glücklich von gesun- 967 Schmige, Heringsdorf, S. 118. 968 Schmige, Heringsdorf, S. 118. 969 Vogel, Gebrauch der Seebäder, S. 95. 970 Kind, Swinemünde, S. 39. 971 Vgl. Kind, Swinemünde, S. 75. <?page no="234"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 233 den Kindern entbunden worden sind“. 972 Dennoch handele es sich hierbei stets um „Ausnahmen von der Regel, die aber selbst nie zur Regel werden dürfen“. Kind zitierte die Autorität Prof. Vogel aus Doberan: „Dr. Vogel sagt darüber sehr treffend Folgendes: ,Überhaupt schicken sich Badekuren für Schwangere nicht.’ Der Zustand derselben fordert in aller Hinsicht große Schonung und sorgfältige Abwendung einer jeden noch so geringen Veranlassung zu irgend einer Beunruhigung oder Störung der Natur bei ihrem so wichtigen Zeugungsgeschäfte.’“ 973 Kind stellte neben das physische Wagnis beim Baden die Vermeidung von Aufregungen, die durch das gesellschaftliche Leben eines besuchten Bades unvermeidlich seien: „Man bedenke auch noch, daß an einem öffentlichen Badeorte so vieles vorkommt und unvermeidlich ist, wodurch eine Schwangere in bedenkliche Umstände versetzt werden und wenigstens zu einer Fehlgeburt die Anlage erhalten könne.“ 974 Als idealer Ort der Schwangerschaft galt der private, familiäre Raum, auf den die Gesellschaft keinen Zugriff hatte und der darum das öffentliche Seebad nicht sein konnte. Wesentlicher Bestandteil des Heilraums Seebad war also die Wiederherstellung des weiblichen Körpers. Von der physischen Stärkung der jungen Mädchen über die Zurückführung abnormer Regelverläufe bis zur psychischen Stabilisierung bot das Seebad alles, um der Frau in ihrer Funktion als bürgerliche Hausfrau ihre Rückkehr in den Haushalt und die Familie zu ermöglichen. 3.1.9.1 Männerkörper Während die Ärzte für die Frauen die physische Wiederherstellung als Ziel des Seebadeaufenthaltes betonten, stellten sie für den Mann die psychische Regeneration in den Vordergrund. Das Seebad heilt hier den weiblichen, den sinnlichen Körper und dort den männlichen, vom Geist beherrschten, so ließe sich die Konzeption zusammenfassen. Es wurde damit eingeführt als „Strategie des Kampfes gegen die Melancholie und den Spleen“ 975 und damit zugleich vorgestellt als Ort, wo der Mann wieder seiner Rolle als aktiver und stürmischer Teil in der neuen bürgerlich-polaren Geschlechterordnung zugeführt würde. Im Krankheitsbild des „Hypochondristen“ etwa fand sich das alte humoralpathologische Muster der Unterleibskrankheit im Spiegelbild zur weiblichen Hysterie 972 Kind, Swinemünde, S. 76. 973 Kind, Swinemünde, S. 76. 974 Kind, Swinemünde, S. 77. 975 Corbin, Meereslust, S. 83. Das Bilder-Conversations-Lexikon (Bd. 4, Leipzig 1841, S. 252) definierte den Spleen als „ein engl. Wort, welches eigentlich Milz bedeutet, dann aber zur Bezeichnung einer Art von Hypochondrie gebraucht wird, die in Abgestumpftheit für alle Lebensfreuden, Gleichgültigkeit und zuletzt Lebensüberdruß besteht, dessen Ende nicht selten Selbstmord ist“. <?page no="235"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 234 wieder. 976 Dabei war die Hypochondrie eng verbunden mit der sozialen und gesellschaftlichen Stellung des Mannes. So führte Vogel in einer seiner zahlreichen Fallstudien den typischen Vertreter dieses Krankheitsbildes, den des kranken Gelehrten, vor, „von 40 Jahren, von gelbblasser Gesichtsfarbe und seit einigen Jahren hypochondrisch, hatte [er] schon mehrere Bäder besucht, und wünschte nun seinen Spleen endlich in die Ostsee zu versenken“. 977 Symptomatik und Lebensweise verdeutlichten den typischen Vertreter der Hypochondrie und die soziale Konstruktion der Krankheit. Häufig wird in diesem Zusammenhang auf das „sitzende Stubenleben“ 978 verwiesen: „Manche Hypochondristen, vielleicht auch die meisten, haben wirklich ihren kranken Zustand dem zu lange fortgesetzten Sitzen und dem übermässigen Studiren zuzuschreiben“. 979 Daraus folgte jene bedeutende Anzahl von gebildeten und daher vornehmlich bildungsbürgerlichen Kurgästen: „Professoren und andere Gelehrte, Collegienräthe, Buchhalter, Advocaten, Ingenieurofficiere, deren Geschäfte grösstentheils, wenigstens bisweilen lange Zeit, im Sitzen und mit anhaltendem Nachdenken geschehen“, 980 welche die Hypochondrie zur „Gelehrtenkrankheit“ und damit zu einem durchaus angesehenen Leiden werden ließ. 981 Sowohl die Unterleibsbeschwerden, die durch das viele Sitzen entstehen und ihre Symptome im ganzen Körper verstreuen würden, als auch die übermäßige Reizung der Nerven verlangten nach ausgleichender Kur. 976 Adelung definierte die Hypochondrie als „eine der beschwerlichsten Krankheiten, welche ihren Sitz vornehmlich in dem Unterleibe hat [...] Personen welche viel sitzen am meisten und heftigsten anfällt, und oft in Schwermut und Melancholie ausartet. [...] Bey dem weiblichen Geschlecht heißt diese Krankheit Hysterik.“ Vgl. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 2, S. 1345; Pierer's Universal- Lexikon bezeichnet die Hypochondrie etwa als „Krankheit des männlichen Geschlechts u. Alters. Hat krankhafte Verstimmung u. erhöhte Empfindlichkeit der Unterleibsnerven, in höherem Grade aber des ganzen Nervensystems zum Grunde.“ Pierer's Universal-Lexikon, Bd. 8, S. 680, 1859. Kind bemerkte, dass „eine große Anzahl von Krankheitszuständen, die in ihrer Form sehr verschieden sind, aber alle aus einer und derselben Quelle entspringen, und welche man mit den Collectiv-Namen Hysterie und Hypochondrie belegt“, durch das Seebad geheilt werden. Kind, Swinemünde, S. 37f. 977 Vgl. Vogel: Fortgesetzte Bemerkungen über die Wirkungen des Meklenburgischen Seebades bey Doberan im Sommer 1797 und mancherley damit in Verbindung stehende Dinge. In: Journal der practischen Arzneykunde, hg von Hufeland, 6. Bd, 1. Stück , Jena 1798, S. 3-47, hier S. 15. 978 Hufeland, Praktische Übersicht, S. 264. 979 Artikel „Über die Hypochondrie“ von Hofrath Hildebrand zu Erlangen. In: Journal der praktischen Arzneykunst, hg. von C. W. Hufeland, Jena 1795, S. 66. 980 Artikel „Über die Hypochondrie“ von Hofrath Hildebrand zu Erlangen. In: Journal der praktischen Arzneykunst, hg. von C. W. Hufeland, Jena 1795, S. 65f. 981 So beschreibt der „Pierer“ die Ursachen der Hypochondrie als Mischung von „anhaltend starke[n] Geistesarbeiten vorzüglich bei Vernachlässigung der Sorge für den Körper u. einseitiger Richtung derselben, weshalb die H. vorzugsweise Gelehrte verfolgt (Gelehrtenkrankheit), sitzende u. einsame Lebensweise, Sorgen, unbefriedigter Ehrgeiz, Geschäftslosigkeit, bes. wenn sie einem thätigen Leben folgt, unbefriedigter Geschlechtstrieb u. Onanie“, deren Aussichten auf Besserung denkbar schlecht stehen: „Heilung selten.“ Vgl. Pierer's Universal-Lexikon, Bd. 8, S. 680f., 1859. <?page no="236"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 235 Mäßige Bewegung, Abhärtung und eine angenehme, unaufdringliche Geselligkeit sollten hier helfen. Im Sinne eines staatspolitischen Interesses an der Gesundheit der hä uf ig i n Sta ats die nst en steh ende n Unt erta nen s ch lu g 180 0 da s Ost -Pre ußis che Provinzial-Collegium dem König die Anlage eines Seebades in Preußen vor, um die „vielen kranken Geschäftsmänner und Königlichen Officianten die durch anhaltende Arbeiten, durch sizzend Lebensart und Anstrengungen ermüdet, sich untauglich zu ihren Arbeiten fühlen und an Hypochondrie leiden“, 982 im Seebad zu kurieren. Allerdings rechnete Vogel die schweren Fälle der „verstockten Hypochondristen“ auch zu den „schlimmsten und schwierigsten Badegästen“, die nur „schwerlich durch eine Seebadekur zu heilen“ 983 wären. Wie in anderen Fällen auch, wirkte das Seebad nur bei weniger schweren Fällen. So etablierte sich die Zuschreibung des Seebades als Kurort für eine geistig arbeitende Funktionselite, die bald um die Gruppe der Künstler erfolgreich und medial wirksam ergänzt werden sollte. 984 Hier fand sich für den überforderten Bürger „ein sozial akzeptiertes, da medizinisch legitimiertes Refugium modernen Lebens“. 985 Als Kurort mit verschiedenen therapeutischen Optionen war das Seebad dabei ungleich wirkungsmächtiger als ein bloßer Landaufenthalt. Therese Devrient berichtete vom Jahr 1837, in dem das junge Ehepaar Devrient im Berliner Tiergarten ein neues Haus bezogen hatte: „Und doch, obgleich unsere jetzige Wohnung ganz von Gärten umgeben, viele Annehmlichkeiten bot, so verlangten doch Eduards durch viele Arbeit angegriffene Nerven dringend nach den Seebädern, die ihm, wie unserer schwächlichen Marie stets so wohl bekamen, dass wir uns abermals zur Reise nach Heringsdorf rüsteten.“ 986 Wilhelm Müller, romantischer Dichter und Hofrat am Dessauischen Hof, berichtete seiner Ehefrau ins heimische Dessau von einem Badeaufenthalt auf Rügen im Juli 1825: „Mit der Reise habe ich eine Badekur verbunden, u[nd] an allen Küsten der Insel Plätze gesucht, wo ich mich von den Wellen der Ostsee habe schlagen lassen. Das hat trefflich auf meinen Körper gewirkt u[nd] ich habe mich seit lange [sic] nicht so frisch und stark gefühlt, wie jetzt. Du kannst Dir nicht denken, welch eine Empfindung es ist, in der Brandung zu stehen, wenn 982 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben vom 2.7.1800. 983 Vogel, Kleine Schriften, S. 89. 984 Vgl. dazu Karge, Heiligendamm, S. 26f. 985 Hofer, Nerven, S. 244. 986 Devrient, Jugenderinnerungen, S. 396. <?page no="237"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 236 die Wellen einem das Knie berühren, u[nd] dann abwechselnd, wie sie sich heben, der Wasserschwall einem über die Schultern schlägt.“ 987 Es waren bei Müller offensichtlich vor allem die Abkehr vom Alltäglichen und das Ungewohnte des Seebades, die zur Faszination der Kur beitrugen. Müller war jedenfalls so angetan von Rügen, dass er einen eigenen Gedichtzyklus verfasste, auf den sich später auch Heinrich Heine in seinen Nordseegedichten bezog. 988 Damit legitimierten Krankheitsbilder wie die „Gelehrtenkrankheit“, deren pathologische Fassbarkeit diffus blieb, 989 die Ausrichtung des Seebades als Heilort einer sozial und gesellschaftlich etablierten bürgerlichen Schicht. Es liegt in der Eigenlogik des medizinischen Diskurses der Zeit, dass Hysterie und Hypochondrie noch lange als geschlechts- und sozialspezifische Krankheitsbilder fungierten. Von den aus medizinischen Prämissen konstruierten Körperbildern gingen so auch im Raum des Seebades gesellschaftlich wirksame Verhaltensvorschriften aus. 990 3.1.9.2 Rekreation des bürgerlichen Körpers Neben den Versuch, pathologische Störungen mittels der Seebadekur zu beheben, trat die Rolle des Seebades als gesellschaftlich-soziales Heilinstrument. Hypochondrie, Hysterie, Frauenleiden und überreizte Nerven kündeten von einer selbst verschuldeten Schwächung des bürgerlichen Körpers. Die „unnatürliche Lebensart“, durch „Luxus, Sittenverderbnis“ selbst verursacht, führte zur bitteren Erkenntnis, dass „die meisten dieser Krankheiten [...] unsere eigne Schuld“ 991 seien. Das bürgerliche Subjekt war also angehalten, selbsttätig und eigenverantwortlich seinen Körper wieder in die rechte, das heißt natürliche Ordnung zu bringen und der grassierenden „Empfindelei“ 992 den Kampf anzusagen. Nicht „mittelalterliche“ Methoden von 987 Zit. nach Borries, Müller, S. 245. 988 Vgl. dazu Borries, Müller, S. 247. Siehe dazu auch Kap. 2.4. 989 Besonders die kausal-mechanischen Begründungsmuster ließen sich für die für das Seebad indizierten Krankheiten nur bedingt anwenden. Damit blieb hier die Abgrenzung von Krankheitsbildern und der Wirkungsmechanismus des Heilprozesses uneindeutig und damit angreifbar. So bemühte sich Dr. Kind, die Frage der Kritiker „wie gehet es zu, dass durch das Seebad so verschiedenartige Krankheiten geheilt werden? “ mittels traditioneller, ausführlicher Schilderungen individueller Krankheitsbilder und -verläufe im Seebad zugunsten der Seebadekur zu klären. Vgl. Kind, Swinemünde, S. 8. 990 Vgl. zur Physiologie des Körpers und der Wirkungsweise der Metapher Sarasin; Tanner, Physiologie, S. 35f. 991 Hufeland, Makrobiotik, S. 126. Zit. nach Bergdolt, Leibe und Seele, S. 277. 992 „1778 ist der am häufigsten gebrauchte Gegenbegriff [zur Empfindlichkeit, H.B.] „Empfindelei“ in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek erstmals belegt. […] Die Empfindsamkeit, aber auch ihre negativen <?page no="238"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 237 Geistersehern, Alchimisten und anderen falschen Ratgebern erhielten die Gesundheit und auch zur Ader wollte man nicht mehr gelassen werden. Vielmehr war es ei ne bü rg erl ic hauf gek lä rt e, das h ei ßt mo ral is chdi ät eti sc he Le be ns ha lt ung , die durch maßvolles Verhalten das Grundprinzip des Lebens, die von der Natur üppig bereit gehaltene „Lebenskraft“, aufrechterhielt. Gegenüber dem Versuch empfindsamer Zeitgenossen, „moralisches Gefühl als Handlungsmaxime möglicherweise über dieses Vernunftprinzip“ 993 zu stellen, galt das Verdikt aufklärerisch inspirierter Therapieansätze. Allein die natürlichen Hilfsmittel von Wasser und Luft sollten auf den Körper einwirken. Dr. Sachse, Badarzt in Doberan, fasste in seiner groß angelegten, das bisherige Wissen um das Seebad zusammenfassenden Schrift von 1835 die Wirkung des Seebades zusammen: „1) dass die Seebäder ihres Salzgehaltes wegen die Haut reizen; 2) dass sie dieselbe reinigen; 3) dass ihre Bestandteile eindringend den ganzen Kreislauf mitmachen, und auch hier ihre reizenden, Mischungen umändernden, Ausscheidungen fördernden Wirkungen üben müssen; 4) dass sie des enthaltenden und in ihrer Nähe befindlichen Sauerstoffs wegen den Körper beleben, ja den Küstenbewohnern ein längeres Leben zu Theil werde, wenn sie die Seeluft athmen; 5) dass sie vermöge ihrer Kälte die Fasern zusammenziehen, und 6) mehr noch durch ihren Druck oder Schwere; dass sie 7) höchst wahrscheinlich durch elektrische und 8) animalische Bestandtheile wohlthätig wirken.“ 994 Vom verzärtelten Lüstling zum natürlich lebensfrohen Mann durch die Benutzung des Seebades - von diesem Prozess einer männlichen Metamorphose schrieb Hans Heinrich Ludwig von Held 1804 in dem Bericht von seinem Aufenthalt in Kolberg. Held war der Verkünder des Reiches einer bürgerlichen Tugend, die männlich, hart und diszipliniert war. Dabei stand bei Held der Weg der „natürlichen“, einfachen Benutzung des Heilmittels Wasser ganz im Vordergrund. In der Einleitung zu seiner Schrift polemisierte er, und zwar durch die moralische begründete Gegenüberstellung von reich = unnatürlich und verlogen bzw. einfach = ehrlich und natürlich, scharf gegen den dekadenten Besucher der mondänen Klientel des Binnenlandes: „Wenn die elegante und reiche Welt in Bäder reisen will, so nimmt sie ihre Wege nach Carlsbad, Töplitz, Spaa, Pyrmont, Lauchstädt, Warmbrunn u.s.w., fährt mit der Extrapost und hat dabei mancherlei, mit dem Hauptzwecke oft sehr übel sich vertragende Nebenabsichten. Für sie schreibe ich nicht. Ziehe die vornehme Raçe hin, mit glänzenden Equipagen, bordierten Laquayen und vollen Goldbörsen, auf den Pfaden des Luxus und der Tändeley, wenn sie Ge- Aspekte der ,Überspannung’, waren schon früh Gegenstand von Abhandlungen der Popularphilosophen, Moralisten und Anthropologen. Sie warnten vor der ,Seelenseuche’ der Empfindelei, die als Nervenschwäche zu Hysterie und Hypochondrie führe.“ Sauder, Empfindsamkeit, S. 14f. 993 Sauder, Einführung, S. 18. 994 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 135. <?page no="239"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 238 sundheit des Leibes und der Seele dort zu erjagen glaubt. Das hier gesagte gilt den stillen, einfachen, ernsthaften, prunklosen Menschen, von mittelmäßigen oder gar dürftigen Vermögensumständen, die kein Geld für Spiel und Tanz, keine Zeit für Possen übrig haben, und mit der ordinairen Post oder zu Fuß reisen müssen. Möchten die Mitglieder dieser ehrenwerten und nützlichen Classe, den hier gegebenen Rath ihrer Aufmerksamkeit werth halten! “ 995 Für Held, intimer Kenner adeliger Lebenswelten, wurde das Seebad zur moralischen und dadurch bedingt zur physischen Besserungsanstalt: „Von Natur aus schwach gebaut, von einer weibischen Erziehung in der Jugend verzärtelt, späterhin [...] von allen möglichen Leidenschaften abgemattet und zerrissen, zuletzt seit mehreren Jahren vom Gram bis zur völligen Dumpfheit hinabgedrückt [...] voll Bangigkeit wegen der Zukunft, verlassen, geschmäht, dürftig, mit der Welt im Hader [...] über und über von Schmerz durchdrungen, ohne Entschluß und Kraft mich aus einer seltenen Anhäufung unabsehbaren Unglücks zu ermannen, kam ich nach Colberg. Hier habe ich mich dreihundertmal im Meer gebadet, und dass ich wieder Muth zu leben und in die Welt zu schreiten, gewonnen, [...] dass ich gesund bin, dies habe ich, wie ich unbestreitbar überzeugt bin, den Wogen der Ostsee zu verdanken. Die gewaltige Flut ist geeignet, auch von dem düstersten Gemüthe sogar den Menschenhaß abzuspülen.“ 996 Helds Zustandsbeschreibung vor seiner Rosskur glich noch in auffälliger Weise derjenigen der grassierenden Modekrankheit Hypochondrie. 997 Das von Held ohne ärztliche Begleitung vollzogene Seebad, eine Form selbst kontrollierter Eigenmedikation, erinnerte in seiner spartanischen Art eher an die Eskapaden des literarischen Sturm und Drang, die sich wie Graf von Stolberg oder Klopstock ekstatisch in die Ostsee warfen. 998 Und wenn auch dieser asketische Zugang, ohne die Bequemlichkeiten der Badeanstalten, Badekarren usw. nur von wenigen Zeitgenossen praktiziert wurde, erinnerte das trotzdem immer wieder vollzogene freie und ohne ärztliche Begleitung vollzogene Bad in der offenen See doch stets an die Lust und den Vorzug des „einfachen“ und damit gesunden Lebens. Denn was machte den modernen Menschen krank „als das stete Abweichen von den einfachen Wegen der Natur? “ 999 Falsches Essen, zu enge Kleidung, Stubenluft und der „beständige Anblick der Linien und Ecken grauer Gemäuer und des Elends der Häuser“. Das Lob der heilenden Natur war Kritik an den Übeln einer beengenden, krank machenden Zivilisation, an allem, 995 Held, Colberg, S. 1f. 996 Held, Colberg, S. 4f. 997 Im „Pierer“ heißt es, als Symptome zeigten sich „Schmerzen in fast allen Körpertheilen, Angst, Besorgniß wegen der Zukunft, Todesfurcht, bei allen Leiden aber doch selten Lebensüberdruß, Unfähigkeit zu Geschäften, Niedergeschlagenheit, Muthlosigkeit u. Schwermuth meist Begleiter derselben sind“. Artikel „Hypochondrie“, Pierer's Universal-Lexikon, Bd. 8, 1859, S. 680. 998 Vgl. dazu u.a. Hoppe, Das Meer in der deutschen Dichtung; Rüdiger, Baden in der See, S. 81f. 999 Held, Colberg, S. 5. <?page no="240"?> 3.1 Medikalisierung des Küstenraumes 239 „was Luxus und Mode erheischen, was dem verfeinerten Leben zum Bedürfniß geworden ist.“ 1000 Man war im Seebad „gleichsam gezwungen, […] zur naturgemäßen Lebensweise zurückzukehren“ 1001 . Weniger asketisch und zivilisationskritisch orientierte Kurgäste begaben sich in die Hände des professionellen Heilers, der als Vertreter bürgerlicher Körperordnung und stabilisierender Großmeister gelingenden bürgerlichen Lebens für die Analyse und Therapie einer falschen Lebensführung sorgte. Diese bestand ebenso im verfeinerten Lebensstil, aber auch in den Attitüden einer romantischen Weltfremdheit. Propagiert wurde stattdessen die „gesunde“ Mischung aus körperlicher Tüchtigkeit und geistiger Aktivität. Im Sinne der Reiztheorie wirkte das Seebad mildernd gegen übersteigerte Empfindungen und stärkte andererseits zu träge Gemüter. Das Seebad diente so als perfektes Heilmittel, da es seine Natur sei, das rechte Maß zu erzeugen. Auf eine schlichte Formel brachte es Dr. Stierling aus Travemünde: „Als ein allgemeines Hülfsmittel endlich zeigt sich das Seebad: indem es Ursache und Wirkung der Krankheit zugleich bekämpft.“ 1002 3.1.9.3 Der kindliche Körper Die moralische Festigung des bürgerlichen Körpers sollte aber nicht erst im Erwachsenenalter stattfinden. Bereits der kindliche Körper ließ sich im Seebad formen und stählen und damit auf seine späteren Pflichten gegenüber der Gesellschaft vorbereiten. Wie schon Held verlegte auch Dr. Schmige, Badearzt in Heringsdorf, die Ursachen der allgemeinen Schwäche und Verweichlichung bereits ins frühe Kindesalter und die „unnatürliche“, vergeistigte Erziehung. Diese Krankheiten, „welche in unserem Jahrhundert durch die eigenthümliche Richtung, welche die Kinder- Erziehung genommen hat“, würden „zum Theil künstlich hervorgerufen [...]. Auf Kosten der körperlichen Entwicklung wird die geistige Erziehung zu einer Zeit begonnen, in welcher Bewegung in freier Luft zur Entwicklung des Organismus das Haupterforderniss ist. Kleine schwächliche Wesen, anstatt sich auf dem Turnplatze zu versuchen, müssen Tage lang in der verbrauchten Atmosphäre der Schulstube zubringen, oder werden durch Privatunterricht zu einer frühzeitigen Anstrengung des noch reizbaren Gehirns veranlasst.“ 1003 Das Loblied eines körperlich aktiven Kindes potenzierte sich in der Angst um die doppelt gefährdeten Mädchen. Nicht nur seien sie als Kinder an sich schwach, sie 1000 Anonym, Seebäder, S. 9. 1001 Anonym, Seebäder, S. 7. 1002 Stierling, Ideen, S. 45. 1003 Schmige, Heringsdorf, S. 96. <?page no="241"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 240 wären es auch aufgrund ihres weiblichen Geschlechts. Und sie schienen in besonderem Maße empfänglich für die neue Mode des Lesens zu sein, die im Phänomen des sitzenden Lesens als Ursache des Übels bereits auf die männliche Gelehrtenkrankheit verweise. „Anstatt herumzuspringen sitzt da das junge Mädchen in seinem Zimmer verschlossen […] und liest seine Lieblingsbücher, die ihm noch mehr das schwache Gehirn verwirren, setzt sich Hirngespinste in den Kopf, leidet bei dem Unglücke, das ihr ein müssiger Junge vordichtet, und sehnt sich zuletzt selbst eine Heldin in einem Romane zu werden. Wie oft hab ich nicht alle krampfhafte Üblichkeiten blos durch das Wegwerfen dieser Bücher kurirt.“ 1004 So verkündete es 1781 der Kaltwasserapostel Dr. Ferro. Die Fehlentwicklung bei der Erziehung der Kinder verfestigte sich im Laufe der Zeit und so wäre es nicht verwunderlich, wenn „eine sehr große Zahl Menschen an Krankheiten leiden, deren Grund in Schwächung der Lebenskräfte liegt“. 1005 Von Anfang an also obläge es den guten Eltern, ihr Kind im Sinne eines arbeitsfähigen Körpers abzuhärten und Mängel eben auch im Seebad auszukurieren. Damit wurde das Kind zum jüngsten Patienten für das Seebad. Die große Zahl von Familien, die in das Seebad reisten, belegt das Bedürfnis, bereits die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft vor- und nachsorglich therapieren zu lassen und sie in den Kosmos bürgerlicher Leibeskontrolle einzuführen. 3.2 Der Ton der Kurgesellschaft - Etikette und gesellschaftliche Kurpraxis Das soziale Herz des Seebades schlägt in seiner Badegesellschaft. Hier, in dieser nur für kurze Zeit aus Menschen verschiedener Regionen, sozialer Herkunft und beiderlei Geschlechts zusammengesetzten Gruppe, bedarf es für das soziale Miteinander Regeln, um den Kurerfolg zu gewährleisten. Von Beginn an setzten die zuständigen Akteure vor Ort, also die Badedirektionen, die Eigentümer, die Ärzte, auf Verhaltensregeln für die Gäste. Zu groß war die Gefahr, dass habituelle Differenzen innerhalb der Badegesellschaft zu Konflikten führten. Im Sinne der allgemeinen Badepraxis musste also eine Form gefunden und etabliert werden, die dem Einzelnen genügend Freiraum ermöglichte, ihn zugleich aber auf einen verbindlichen Verhaltenskodex verpflichtete. Gleichzeitig galt es mit 1004 Ferro, Vom Gebrauche, S. 32f. 1005 Schmige, Heringsdorf, S. 96f. <?page no="242"?> 3.2 Der Ton der Kurgesellschaft - Etikette und gesellschaftliche Kurpraxis 241 dieser Einbeziehung des Seebades in den öffentlichen Raum, das Reservat des „wilden“ Badens zu stigmatisieren. De r We g zur n or mie rte n Bad epr ax is s ah zu m ein en d en Erl as s re ch tli ch b ind en der, gesellschaftlich wirkender Baderegeln vor. Zum anderen setzte man auf die weitgehende Internalisierung moralischer Verhaltensregeln der Badegäste. Diese hatten - im Sinne ihres eigenen Kurerfolges - die geforderten Verhaltensregeln zu befolgen. Als Gegenleistung stand ihnen eine weniger streng kodifizierte Lebensführung im Interaktionsraum des Seebades zu. Selbige blieb aber eingebunden in den „guten Ton“, der sich einerseits an den privaten Umgangsformen der bürgerlichen Familie orientierte, andererseits von einer gewissen, zuweilen ausdrücklich geforderten Unverbindlichkeit gekennzeichnet war. Bis zu einem gewissen Grade wurde damit die öffentliche soziale Kontrolle bewusst außer Kraft gesetzt, um dem Kurgast einen neuen, reizvollen Erfahrungsraum, ein „Ventil für die Emotionen“ 1006 zu bieten. Die alltäglichen Verhaltensmuster und Rollen konnten, ja, sollten in einer weniger streng reglementierten Spielart praktiziert werden. Dafür wurde der Raum, in dem der Kurgast weilte, zu einem außergewöhnlichen Raum. Nicht nur die klar begrenzten Badeanlagen, auch der gesamte Raum der Kuranlagen unterlag verschiedenen Begrenzungen, die ihn und seine Bewohner von und nach außen abschirmten. Um innerhalb der Badegesellschaft ein tendenziell privates Verhalten im öffentlichen Raum zu ermöglichen, wurden zunächst die sozialen Schranken gegenüber der Außenwelt verstärkt. In den ersten Jahrzehnten der Seebäder war allein wegen des finanziellen und zeitlichen Aufwandes der Besuch der Bäder nur wohlhabenden Schichten möglich. Und von den Einheimischen besaß nur, wie Hofrat Dr. Kind für Swinemünde bemerkte, der „gebildete Theil das Recht zum Besuch“ 1007 des kommunikativen Mittelpunktes der Badegesellschaft, des Gesellschaftshauses. 1008 Damit wurden die Prinzipien des sozialen Ein- und Ausschlusses am Badeort selbst festgeschrieben. 1006 Gessler, Baden, S. 79. 1007 Kind, Swinemünde, S. 120. Auch Theodor Fontane berichtet vom Gesellschaftshaus der Swinemünder Badegesellschaft, in der sich diese mit der städtischen Oberschicht traf: „Dies war das erst seit kurzem errichteten Gesellschaftshaus, das nicht bloß den Vereinigungsplatz für die Badegäste, sondern, solange die Saison anhielt, auch für die städtischen Honoratioren bildete, von denen vielleicht keiner öfter hier zur Stelle war als mein Vater.“ Fontane, Kinderjahre, S. 56. 1008 „Das Badeleben in Swinemünde concentrirt sich in dem Gesellschaftsgebäude und geht vorzüglich von diesem aus.“ Hille, Heilquellen, S. 216. Dr. Pfaff bedauerte den Gästen im gerade eröffneten Seebad in Kiel noch kein Logierhaus bieten zu können, „um die Badegäste zu einer Badegesellschaft im Mittelpunkte der Anstalt selbst zu vereinigen“. Pfaff, Kiel, S. 55. <?page no="243"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 242 3.2.1 Die Abkehr vom Alltag Für die Badegäste begann der Kurprozess dagegen bereits mit dem Verlassen des eigenen Hauses. Im Abschied vom Alltag lag der Kern einer erfolgreichen Badekur. Daher gab es in der Badeliteratur bereits Empfehlungen für eine adäquate Anreise zur Kur. Denn bereits diese sollte die erhoffte Entlastung einleiten, oder, wie der Philosoph Odo Marquard es formuliert, den „Ausbruch in die Unbelangbarkeit“ durch den „Enthusiasmus der Abwesenheit“ gewährleisten, „der Mensch wird unbelangbar durch die Reise und halbwegs auch durch ihre Vorbereitung und Auswertung.“ 1009 In diesem Sinne forderte Badearzt Vogel bereits die Anreise ins Bad als Abkehr vom Alltäglichen zu verstehen und sich dementsprechend zu verhalten. Eine angemessene Vorbereitung der Reise und die Durchführung derselben mit größtmöglicher Bequemlichkeit gehörten dazu, also „keine Kinder, keine widrigen Reisegefährten“, die den Gast „beunruhigen oder belästigen und die Freude verderben“. 1010 Reiste man so, verließ man die gewohnte Ordnung und den Raum des alltäglichen Lebens und konnte sich neuen Eindrücken öffnen. Der Nutzen der Reise äußerte sich dann zudem durch die „Bewegung in freier Luft und die damit verbundene beständige Zerstreuung und Aufheiterung der Seele“. 1011 Der Verhaltenskodex für die Kur setzte also noch weit vor dem Gang ins Meer an, denn es galt, den „Geist von anstrengenden Geschäften“ 1012 abzuziehen und durch „die stete Abwechslung der außer ihm sich darstellenden Gegenstände“ sich von den alltäglichen Verhaltensmustern zu lösen. So bemerkte Eduard Devrient verärgert (sich bereits auf der Reise nach Heringsdorf befindend), seine Reisegefährten redeten mit ihm nur über die Berliner Oper, und „das fehlt mir noch, den Trödel auch auf die Reise nachzuschleppen“. 1013 Am Badeort selbst sollte sich die gesamte Badegesellschaft von ihren jeweiligen Alltagspraktiken lösen. Eine vertraute, gesellige Atmosphäre zu schaffen, war das erklärte Ziel. Im Sinne einer „liberalen Baderepublik“ galt für alle, abseits von Ge- 1009 Marquard geht es freilich um die Entlastung von einer ideologischen Übertribunalisierung durch die Geschichtsphilosophie infolge der gescheiterten Theodizee. Eine zumindest ähnliche Funktion kommt aber auch der hier behaupteten medizinisch-psychologischen Entlastungsleistung auf. Vgl. Marquard, Der angeklagte und entlastete Mensch, S. 53. 1010 Vogel, Neue Annalen, 1804, S. 97. 1011 Vogel, Neue Annalen, 1804, S. 99. Überhaupt spielte die Gestaltung des Tagesablaufs unter dem Begriff der „Zerstreuung“ eine große Rolle für den Kurverlauf. Im Programm der Ärzte konnte sich der Patient mittel der Zerstreuung von seinen alltäglichen Verhaltensweisen und Ansichten lösen, womit überhaupt erst die Möglichkeit der Therapie gegeben war. Hufeland sprach in seinem Journal von „mancherley neuen Phänomenen und Zerstreuungen, die bey solchen Kuren äusserst wichtig sind”. Ders., Journal, 3. Bd., 1. Stück, Jena 1797, S. 238. 1012 Vogel, Neue Annalen, 1804, S. 99f. 1013 Devrient, Briefwechsel, Brief vom 17.7.1834, S. 15. <?page no="244"?> 3.2 Der Ton der Kurgesellschaft - Etikette und gesellschaftliche Kurpraxis 243 burt und Stand, das gleiche Recht, vorausgesetzt allerdings, man besaß das hiesige Bürgerrecht. Geografisch und im Handeln vom alltäglichen Arbeitsfeld entrückt, wu rd en v erä nd er te Ha ndl un gs sp ie lrä um e er öff ne t. H ier k on nt e di e Ent loh nun g fü r die Mühen der Alltagsgeschäfte stattfinden, indem die Zerstreuung zur medizinischen Doktrin erhoben wurde und damit als verbindlicher Bestandteil der Kur galt. Als „dauerndes Wochenende“ entstand im Seebad auf diese Weise ein bürgerliches Sans-Souci: „Ohne Geschäft und ohne Sorge ist es die einzige Aufgabe für den Badegast, sich zu amüsieren.“ 1014 Diese Vorstellung eines heilsamen Amüsements gründete sich auf die Definition vom Seebad als „diätetisches Mittel [...] das schon vorzüglich angewendet wird und werden muss, wenn gewisse Krankheitszufälle sich noch in geringem Grade äußern, und wenn noch niemand daran denkt sich durch Arzneymittel davon zu befreyen oder ihr Einwurzeln und Fortschreiten zu hemmen.“ 1015 Es musste nicht die ausgebrochene, offensichtliche, ja nicht einmal die diagnostizierte Krankheit sein, allein die Idee der Krankheit rechtfertigte den Besuch des Seebades. Bereits die „angegriffenen Nerven“, Stress und Arbeitsüberlastung waren hinlängliche Gründe für den Kuraufenthalt an der See. Die wiederholt formulierte Annahme, dass sich die medizinische Kur und das Vergnügen am Kurort widersprächen, relativiert sich jedenfalls für die frühe Zeit mit der zeitgenössischen Annahme, Vergnügen gehöre, wenn auch nur in einem angemessenen Verhältnis, zu einer erfolgreichen Kur unabdingbar dazu. 1016 Freilich wurde mittels der Zuschreibung von spezifischen, im Seebad zu behandelnden Krankheitsbildern, die sich am bürgerlichen Arbeitsethos (Gelehrtenkrankheit) oder an der sozialen Rolle der Frau orientierten, die soziale Exklusivität des Seebades samt dem verordneten Amüsement legitimiert. 1014 Fleischer, Kahlberg, 1863, S. 33. 1015 O.V., Travemünde, S. 14. 1016 Eine Gegeneinandersetzung von Lust- und Kurprinzip scheint sich deshalb nur aus einem modernen Verständnis von öffentlicher Kur und privatem Urlaub zu erklären. Betrachtet man die miteinander verwobenen Strukturen psychischer und physischer Konstitution in der Medizin zu Beginn des 19. Jahrhunderts, bietet sich vielmehr das Bild eines ganzheitlichen Ansatzes, der die psychische Entlastung im Gesellschaftsspiel, im Spaziergang und im Lauschen von Musik problemlos als notwendigen Teil der Therapiemaßnahmen versteht. Zumindest aus Sicht des medikalen Diskurses und der daraus resultierenden Raumkonstruktion im Seebad erscheint die Kur vielmehr als gelungene Mischung nicht-alltäglicher, lustbetonter Handlungsmöglichkeiten und einer selbstdiszipliniert verfolgten Diät. Vgl. dazu u. a. Richter, Meer, S. 15f.; Spode, Tourismusgeschichte, S. 23; Kaspar, Brunnenkur, S. 55. <?page no="245"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 244 Sowohl die Eindrücke der neuen Umwelt als auch das besondere Leben der Badegesellschaft erforderten am Badeort zunächst die ganze Aufmerksamkeit des ins Seebad gereisten Badegastes. 1017 Er war jetzt „empfänglicher geworden für die Freuden der Welt [...] die häuslichen Sorgen und Geschäfte drücken ihn nicht, so viele schädliche Einflüsse, welche zu Hause unvermeidlich waren, wirken jetzt nicht auf ihn, sein Geist ist freyer und fesselloser“. 1018 Im Seebad selbst war es nicht zuletzt der überwältigende Eindruck des Meeres, der immer wieder aufs Neue die Abwesenheit des Gewohnten, Profanen verdeutlichte: „Unmöglich kann an einem andern Kurorte, als im Seebade, die Aufmerksamkeit so entschieden von dem Alltäglichen abgezogen und zu dem Allgewaltigen der Schöpfung hingeleitet werden.“ 1019 In dieser Abwendung vom Alltag vollzog sich zugleich die Forderung nach vielfältiger Abwechslung: nach neuen Orten, Begegnungen und Rhythmen. In dem Bild vom „richtigen“ Kurgast schwang bereits diese Hoffnung mit, abseits des gewohnten „gesellschaftlichen Zwanges und der Etikette“ 1020 einen Raum des freizügigeren Miteinanders der verschiedenen sozialen Gruppen konstruieren zu können. Ein Raum sollte erschaffen werden, in dem Adel und Bürgertum „eine Leichtigkeit des Seins, eine neuartige Urbanität (genossen), in der die protokollarischen Zwänge und ständischen Schranken vielfach außer Kraft gesetzt waren.“ 1021 3.2.2 Vom guten Ton - Badegesellschaft als homogenisierte Geselligkeit Vor allem in den größeren, öffentlichen Badeanstalten, in denen sich viele Badegäste einfanden, war die soziale Balance innerhalb des Badepublikums entscheidend für das tägliche Miteinander der Kurgäste und damit letztlich für den Ruf des Bades. Wenige Jahre nach Beginn der Französischen Revolution klangen hier immer wieder Töne egalitärer Gesellschaftskonzepte an. Der Seebadeort, so lassen diese Äußerungen vermuten, wurde dabei als Versuchsraum eines fortschrittlichen Gesellschaftsmodells konzipiert. Mit der Gründung Heiligendamms bemühte sich Prof. Vogel, das Seebad als Hort eines freien, liberalen Badelebens zu etablieren. Denn: „Es hat der herrschende Ton der Gesellschaft den erheblichen Einfluß auf die Gemüthsstimmung eines Jeden, der daran Theil nimmt. Je humaner, zwangfreyer und anspruchsloser dersel- 1017 Zur Rolle von neuer Umgebung und Badegesellschaft für neue Verhaltensmuster vgl. auch Gessler, Bäder, S. 82. 1018 Vogel, Neue Annalen, 1804, S. 103. 1019 Schmige, Heringsdorf, S. 65. 1020 Stierling, Annalen Travemünde, S. 2. 1021 Spode, Tourismusgeschichte, S. 21. <?page no="246"?> 3.2 Der Ton der Kurgesellschaft - Etikette und gesellschaftliche Kurpraxis 245 be ist, desto mehr Zufriedenheit und Frohsinn wird er verbreiten, desto beglückender und anlockender wird er seyn.“ 1022 Vogel und seine Kollegen in den anderen Seebädern formulierten in ihrer Funktion als Verantwortliche für die Heilung des Badegastes deshalb zum einen die Baderegeln mit, die mit der Festlegung von Vorschriften einen verbindlichen äußeren Verhaltensrahmen schufen. Zum anderen erwarteten sie von den Badegästen ein angemessenes und vernünftiges soziales Verhalten. Innerhalb der Badegesellschaft musste in kürzester Zeit eine Atmosphäre geschaffen werden, die dem nur wenige Wochen im Seebad verweilenden Gast einen angenehmen Aufenthalt ermöglichte. Dabei entstand durch die Absicht, dem höfischen Repräsentationszwang großer binnenländischer Bäder zu entgehen, 1023 ein nach bürgerlichen Normen abgegrenzter Kommunikations- und Verhaltensraum. Wer diese Umgangsformen beherrschte, qualifizierte und erwies sich als Mitglied der Badegesellschaft. Der geforderte gute Umgangston wurde zum Zeichen einer exklusiven Kurklientel, die diese Verhaltensnormen im besten Fall bereits internalisiert hatte und damit, in der Aushandlung eines zeitlich begrenzt wirksamen Ausnahmezustandes, die innerhalb der Badegesellschaft vorhandenen Standesunterschiede zu überbrücken suchte. Der Tourismushistoriker Hasso Spode formuliere dies so: „Weniger die umgebende ,Natur’ und deren Heilkraft, als vielmehr die Beziehungen der Gäste untereinander machten die Hauptattraktion eines Seebades aus.“ 1024 Außerhalb des offiziellen Kurraumes, also jenseits der Badeanstalten mit ihrer polizeilich abgesicherten Badeordnung, an den freien Abschnitten der Küste, herrschte in diesem Sinn weder die Möglichkeit noch der Zwang zum geselligen Badeleben, dementsprechend nutzten die unteren Schichten diese Abschnitte zum „wilden“ Baden. Die Ausführungen vor allem ärztlicher Autoren zum „richtigen“ Verhalten der Kurgäste waren, entsprechend der Bedeutung für das ärztliche Handeln und Ansehen, aber auch für die Stellung und den Ruf des Bades und der Badegesellschaft, umfangreich. So wie die Ärzte (auch als Sprachrohr von Bade-Direktionen und Eigentümern) einen idealen Patienten entwarfen, wurde auch das Bild des idealen Kurgastes konstruiert. Zwischen höfischer Etikette und bäurischer Derbheit entstand der moderne Badegast als selbstverantwortlicher, zivilisierter und gebildeter Bürger. Der „herrschende Ton“ sollte, so der Kieler Badearzt Pfaff 1822, „liberal, 1022 Vogel, Nachricht, S. 21f. 1023 Den schilderte etwa Henriette Herz an ihren Freund Ehrenfried von Willich auf Rügen von einem Besuch in Pyrmont: „Jeden Tag mußte ich mich mit Sorgfalt anziehen, weil die Gesellschaft elegant und groß und zum Teil vornehm war.“ Rainer Schmitz (Hg.), Bis nächstes Jahr auf Rügen, Brief vom 12.8.1802, S. 58; vgl. dazu auch Fuhs, Mondäne Orte, S. 58ff. 1024 Spode, Tourismusgeschichte, S. 21. <?page no="247"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 246 zwanglos und zugleich anständig und urban“ 1025 sein. Bürgerlicher Habitus, also Bildung und Umgangsformen, war das Distinktionselement des öffentlichen Seebades. Bereits für das von der herzoglichen Hofgesellschaft dominierte Doberan versuchte Badearzt Vogel diese Norm als verbindlich zu etablieren. Immer wieder gab es das Bemühen, aus der Masse der Kurgäste eine homogene Gesellschaft zu formen, die „keine Launen, keine Anmaßungen, [...] keine Verstellung und keinen Zwang“ 1026 kenne und wenigstens für die Dauer der Kur „ohne Etiquette und Vorzimmer“ 1027 auskäme. Innerhalb der kleinen Badegesellschaft sollte, so der Tenor, der Ton einer „gebildeten fröhlichen Familie“ 1028 herrschen. Vogel demonstrierte diesen Versuch zur Überwindung ständischer Verhaltensmuster wiederholt am vorbildhaften Betragen des mecklenburgischen Herzogs. Dieser hätte mit „immer frohen und heitern Sinn“ die Badegesellschaft belebt „durch Sein äusserst gnädiges und herablassendes Betragen gegen Jedermann, und durch Seine höchste huldvolle Theilnahme [...] die Zufriedenheit der Gesellschaft“ 1029 befördert. Christoph Wilhelm Hufeland sekundierte 1799 in seinem „Journal der practischen Arzneykunde“ über den ausgezeichneten Ton, der innerhalb der Doberaner Badegesellschaft herrsche. 1030 Auch später, 1822, lobte ein Artikel in Hufelands Journal, dass der Großherzog samt seiner Familie mit den übrigen Badegästen gemeinsam an einem Tische speise. 1031 Bis in die Belletristik hinein reichte dieses inszenierte Bild einer harmonischen Geselligkeit. Georg Christian Sponagel, Verfasser populärer Werke, bemerkte in seiner 1826 erschienenen Humoreske über das Leben der Badegesellschaft in Heiligendamm, dass die Gegenwart des Herzogs den freien Ton der Badegesellschaft nicht nur nicht gestört, sondern ihn durch sein Wesen und Betragen noch verstärk hätte. 1032 1025 Pfaff, Seebad, S. 60. 1026 Vogel, Handbuch 1819, S. 62f. 1027 Vogel, Handbuch 1819, S. 64. 1028 O.V., Travemünde, S. 48. 1029 Vogel, in: Journal der practischen Arzneykunde, 6. Bd., 1. Stück, Jena 1798, S. 39. 1030 „Denn es gereicht diesem Bade zum besonderen Ruhm [...] daß hier weder von Etiquette noch Rang die Rede ist. Man kennt hier keinen Unterschied von guter und schlechter Gesellschaft (man weiss, was dies in manchen Bädern heisst, und welche unangenehme Trennung dies veranlasst), man lebt hier blos nach dem Ton, den die allgemeine Sittlichkeit und der Zweck, Gesundheit und Vergnügen, angeben, und so entsteht bey der mannichfaltigsten Mischung die angenehmste Gleichheit in Unterhaltung, Fröhlichkeit und Lebensgenuss.“ Hufeland, Reisebemerkungen, S. 159. 1031 Formey, Doberan und Warnemünde, S. 115. 1032 Sponagel, Vetters Feldzug, S. 318. Sponagel (1763-1830) verfasste neben seiner Tätigkeit als königlich dänischer Justizrat und lauenburgisch und mecklenburgisch-strelitzscher Regierungsprokurator zahlreiche populäre Unterhaltungswerke. Vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen, 8. Jahrgang 1830, Ilmenau 1832. <?page no="248"?> 3.2 Der Ton der Kurgesellschaft - Etikette und gesellschaftliche Kurpraxis 247 Die permanent wiederholten Losungen einer allgemeinen, fröhlich-egalitären Badegesellschaft entstanden aber auch aus der Einsicht in die vorhandenen Widersp rü ch e. B es on der s in Do bera n ließ en sich d as Stat usd enke n un d die T ren nun g de r Stände nur begrenzt aufheben. In der Zeitschrift „Der Freimüthige“ berichtete ein Badegast 1805 vom Doberaner Badeleben und sparte dabei nicht mit Kritik am herrschenden Standesdünkel. Da solche Zeugnisse nicht häufig sind, sei dieses hier ausführlicher zitiert: „Weh tut es mir, das nachfolgende sagen zu müssen: Der Ton ist - mindestens, nicht gut, so sehr auch der humane und die Geselligkeit liebende Herzog durch sein Beispiel belehrt, so viel Mühe um die Abhülfleistung sich auch der Bade-Intendant, der liebenswürdige Greis, Herr Kammer- Präsident von Dorne giebt. Zu sehr unterscheidet sich, entzieht sich der Mensch vom Menschen, zu strenge und kalt wacht der reiche Edelmann an der Grenze der Rangordnung: selbst in diesem Tempel der Natur lässt er sich selten oder nie zu seinen Menschenbrüdern herab, das empört denn die Mitglieder des eine Stufe niedriger stehenden Ranges, und es entsteht daraus ein frostiges Verhältniß, eine Friktion des Stolzes aller Theile, eine Steifheit, und diese Uebel hemmen Geselligkeit, Annäherung, und mindern so die Freuden des kleinen Elisiums. Fast jeder einzelne Stand ist gezwungen, einen eignen abgesonderten Kreis zu bilden, und ohne ein Paar Bekannte, ohne einen Freund ist man in Doberan ein Einsiedler so sehr man es seyn kann. Möchte diese übeltönende Saite nicht mehr ansprechen, so hätte Doberan gar nichts Unangenehmes; aber leider wird das so bald nicht geschehen, und der Wunsch ein Wunsch bleiben.“ 1033 Dieses Problem, das geforderte egalitäre Verhalten nicht ausreichend verwirklichen zu können, dürfte einer der Gründe gewesen sein, warum sich neben dem adelig dominierten Doberan bald Seebäder mit anderen sozialen Strukturen etablierten. Vogel war sich des Problems für das Bad und vieler der Gäste durchaus bewusst und sorgte sich um die Zukunft des Kurortes, „wenn der gesellschaftliche Ton die Menschen zu ängstlich und systematisch in Classen ordnet [...] statt ihnen allen mit einladender Humanität und gefälliger Freundlichkeit zu begegnen“. 1034 Um diesen Einwänden zu begegnen, zitierte Vogel 1817 den Brief eines Doberaner Patienten, der vorher bereits in der „Berliner Zeitung“ veröffentlicht worden war und in dem es hieß: „Man lebt durchaus hier frei, und theilt sich unbefangen mit, wie ich es bisher in keinem der Hauptbäder Deutschlands, die ich besuchte, gefunden habe - wozu die Gegenwart und das herablassende äußerst humane Benehmen des Großherzogs und seiner Prinzen unläugbar das mehrste beiträgt. [...] Nie kann an diesem Orte und unter einer solchen Aegide Steifheit und gezwungener zeremonieller Umgang einreißen, wie an so vielen Bade- und Brunnenplätzen der 1033 Der Freimüthige, oder Ernst und Scherz. Sonnabend, den 16. Februar 1805, Nr. 34. Unterzeichnet mit dem Kürzel C. St. 1034 Vogel, Zur Nachricht und Belehrung für die Badegäste in Doberan im Jahre 1798, S. 26. <?page no="249"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 248 Fall ist. Wo der Bürger wie der Fürst bezahlt, müßte dergleichen nie statt finden; und nur, wo wie hier, mit dem richtigen Takt das Ganze durch den Landesherrn selbst beseelt und unterhalten wird, wo jede brave bürgerliche Familie, gleich der vom ersten Adel, ohne Zurücksetzung behandelt und Humanität und Geselligkeit als erstes Grundgesetz anerkannt wird - kann einer Badeanstalt unbedenklich der Preis unter den übrigen zugestanden werden.“ 1035 Unterschiedliche Wahrnehmungen wird es bei dem heterogenen Publikum immer gegeben haben. Das konfliktgeladene Verhältnis und das damit verbundene Disinktionsgebaren der einzelnen Gruppen bestätigt aber auch die Bemerkung eines jungen Berliner Badegastes, der in seiner Heimatstadt bereits musikalisch auf sich aufmerksam gemacht hatte. Felix Mendelssohn Bartholdy, 1824 als Fünfzehnjähriger in Heiligendamm zur Kur weilend, schrieb seiner Schwester Fanny vom durchaus zwiespältigen geselligen Vergnügen im kleinen Badeort. Nach dem Abendessen gab es gewöhnlich im Kursaal einen Ball, Mendelssohn Bartholdy zog sich aber bewusst mit einigen Bekannten zurück. Wir „gingen auf einen Hügel, von wo wir die tanzende See durchs Fernglas sahen, ohne uns um die tanzende beau monde zu bekümmern. Wie soll man unter lauter Adligen tanzen? “ 1036 Gegen solche Ausdifferenzierung innerhalb der Badegesellschaft vorzugehen blieb aber das Anliegen der beteiligten Akteure. Und so wurde weiter an dem Bild des idealen Kurgastes und der damit verbundenen Kurgesellschaft gearbeitet. Demnach kamen allen Kurgästen je nach Stand, Geschlecht und Alter besondere Aufgaben zu. In der sozialen Abgrenzung nach oben wie nach unten wurde innerhalb der Kurgesellschaft die Bildung eines eigenen Gruppenstatus angestrebt. Der Badearzt Prof. Pfaff schrieb 1822 in seinen Ausführungen zum Kieler Seebad: „So wenig der Übermuth und das Vornehmerthun, das nur die Folge eines gänzlichen Mißverstehens einer höhern Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft seyn kann, […] als die Rohheit und sinnliche Ausgelassenheit des Ungebildeten, die beide gleichmäßig die Musen und Grazien aus der Gesellschaft vertreiben, sind hier zu befürchten.“ 1037 Neben dem Bemühen, die Badegäste im Sinne einer bürgerlichen Gesellschaft zusammenzuführen, stand der Wunsch, die auch innerhalb dieser Gruppe vorhandenen Differenzen während der Kurzeit möglichst zu unterdrücken. Vogel bemerkte 1798, dass der Ruf eines Seebades litte, „wenn nur diejenigen besonders, welche viel Geld verzehren, hervorgezogen und ausgezeichnet werden“. 1038 An die Stelle der in vor- 1035 Vogel, Kleine Schriften, S. 48ff. 1036 Weissweiler, Briefwechsel, Brief vom 21.7.1824, S. 24. 1037 Pfaff, Seebad, S. 60f. 1038 Vogel, Nachricht, S. 26. <?page no="250"?> 3.2 Der Ton der Kurgesellschaft - Etikette und gesellschaftliche Kurpraxis 249 nehmen Binnenbädern herrschenden ständischen Abgrenzung sollte, so wenigstens das Anliegen Vogels, nicht die ökonomische Differenzierung treten. 1039 Auch Dr. Kind listet 1824 für Swinemünde die für das gute Miteinander einer Badegesellschaft relevanten Kategorien auf: „Unzählige, im Voraus nicht zu bestimmende Umstände, vorzüglich die Stimmung, die Bildungsstufe, die Verhältnisse, die Denkungsart der Gäste, vorzüglich der im Anfange der Badezeit angekommenen, die Meinung, Talente, der Geschmack, die Kenntnisse und gesellschaftlichen Anlagen der Tonangeber unter ihnen [...] sind von Einfluß auf die Bildung des geselligen Tones unter den Badegästen.“ 1040 Als Forderung daraus folgte ein präzises Bild des idealen Kurgastes: „Je mehr gebildete, muntere, angenehme, vorurtheilsfreie Menschen, die gesellige Talente mit Geschmack und Gewandtheit der Sitten verbinden, sich an einem Badeorte einfinden, desto besser wird der daselbst herrschende Ton seyn.“ 1041 Man könnte auch sagen: Erwünscht ist der aufgeklärte, liberale und urbane Bürger, wie er etwa seinen Ort bereits in den Berliner Salons gefunden hatte. 1042 Schließlich projizierte Kind auch noch die in der bürgerlichen Familie bestehenden geschlechts- und altersspezifischen Verhaltensnormen auf die Badegesellschaft: „Der gute Gesellschafter, der angenehme, liebenswürdige, geistreiche und dabei bescheidene Mann, die artige, muntere, interessante Frau, das feingesittete, lebhafte junge Mädchen, sind überall gesucht und verehrt, werden von Allen berücksichtigt und zur Theilnahme an allen geselligen Freuden aufgefordert.“ 1043 Dementsprechend wurde nonkonformes Verhalten abgelehnt und diente als soziales Ausschlusskriterium: „Unangenehme, übellaunige, langweilige, geistesarme Menschen 1039 Der Kampf um die Anerkennung bürgerlicher Kurgäste in den vornehmen Modebädern des Adels begann mit der Entwicklung der großen Bäder wie Spa oder Karlsbad im frühen 18. Jahrhundert und dreht sich um das „Versprechen der Teilhabe an der herrschenden Kultur, die die Bürger in die Modeorte zog“. (Fuhs, Mondäne Orte, S. 59.) Für das Seebad ist dieser Konflikt insoweit obsolet, als sich mit der Gründung der ersten Seebäder um 1800 die bürgerlichen Normen auch in adligen Kreisen als die bestimmenden etabliert hatten und der Raum des Seebades durch bürgerliche Normen maßgeblich konstituiert wurde. Vgl. dazu auch Nipperdey, Bürgerwelt, S. 31ff. 1040 Kind, Swinemünde, S. 134. 1041 Kind, Swinemünde, S. 134. 1042 Zahlreiche Mitglieder der Berliner Salons verbrachten ab den 1820er Jahren ihren Badeurlaub an der Ostsee, vor allem auf Usedom und Rügen. Vgl. Bresgott, Suburbia, S. 358f. 1043 Kind, Swinemünde, S. 135. <?page no="251"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 250 werden vernachlässigt und bleiben unaufgefordert.“ 1044 Auch so funktionierte Distinktion. In Travemünde war man 1803, ein Jahr nach Gründung des Seebades und offensichtlich von den aktuellen französischen Verhältnissen angesteckt, obendrein ganz republikanisch gestimmt. Der Badeort wurde zur kleinen Republik, die Kurgäste zu deren freien Bürgern, die mit ihrem selbstverantwortlichen Verhalten über den Erfolg dieses Gemeinwesens entscheiden konnten und mussten: „Nur wenn in der kleinen Republik, die den Badeort bevölkert, jeder Einzelne sich verpflichtet hält, das gemeinschaftliche Vergnügen nicht bloß zu genießen, sondern thätig zu befördern, wenn jeder, der bey der freywilligen Gesetzgebung einen Stimme hat, immer auf Erhaltung eines fröhlichen zwanglosen Tones Bedacht nimmt; dann erst gewinnt ein Badeort Reiz und Leben, dann erst wird die Freude dort einheimisch, dann erst erreicht das Wasser den höchsten Grad seiner Wirksamkeit“. 1045 Auch hier galt also: Das angemessene Verhalten der Kurgäste sollte entscheidend sein, nicht Geburt, Stand oder das finanzielle Vermögen. Gleichermaßen galt auch, dass im Interesse eines allgemeinen Wohlbefindens der Einzelne den Restriktionen des „zwanglosen Tones“ unterlag. 3.2.3 Die Ausformung der Kurzeit im Tagesablauf Alle diese Forderungen wurden erhoben, um den Erfolg des Kurablaufs zu garantieren. Denn neben dem streng kodifizierten Bad in der See prägte die Ausgestaltung des restlichen Tages den Kurcharakter. Dabei wurde im Seebad von Beginn an der medizinische Aspekt der Kur stärker als bei den Binnenbädern betont. Ausgehend von der Funktion des Seebades als Heilraum entwickelte sich eine Form der Kurgeselligkeit, in der stärker als bei vielen Bädern des Binnenlandes für lange Zeit der diätetische Kurcharakter im Vordergrund stehen sollte. 1046 Wie vollzog sich nun aber das tägliche Kurleben außerhalb des eigentlichen Badevorganges? In welchem Umfang wich diese Praxis von der gewohnten Lebensführung ab und in welchem Umfang folgte sie damit den Maximen der Ärzte? Besaß die Kurgeselligkeit also „einen ausseralltäglichen Charakter“, 1047 und wenn ja, wie lässt sich dieser beschreiben? Mit anderen Worten: Wie strukturierten die soziale und die medizinische Praxis den Alltag im Seebad? 1044 Kind, Swinemünde, S. 135. 1045 O.V., Travemünde, S. 45. 1046 Vgl. Schipperges, Krankheit, S. 8. 1047 Kolbe, Strandurlaub, S. 192. <?page no="252"?> 3.2 Der Ton der Kurgesellschaft - Etikette und gesellschaftliche Kurpraxis 251 Zunächst hat, vor allem für Doberan-Heiligendamm, noch die in den mondänen binnenländischen Bädern praktizierte Form der aristokratisch dominierten Badegesel lig ke it Vor bi ldc ha ra kt er. Vog el beri cht ete in se in en An nal en von 1808 : „Vielerley Vergnügungen wechselten auch diesen Sommer, wie gewöhnlich, fast jeden Tag mit einander ab: Bälle und Theepartieen mit Tanz im großen Saale, auf dem Bücherberge, auf dem Jungfernberge, im englischen Parke, im Badehause, Conzerte, Schauspiele, Dinés, und Soupés von geschlossenen Gesellschaften, Exkursionen nach Dietrichshagen, nach Mönchweden, nach Althofer Mühle u.s.w., Wettrennen, Feuerwerke, Spiele aller Art, Wasserpartien u.s.w. Hierzu kamen die besonderen, zum Theil pracht- und geschmackvollen Feyerlichkeiten, welche der Geburtstag des Kayser's, des Königs von Preußen Majestät [...] veranlaßten.“ 1048 Man vergnügte sich zudem mit Ballonausflügen, schoss in einem nahen See junge Schwäne, ließ in Doberan kleine Manöver veranstalten und besuchte die Spielbank. 1049 Bis nach Schwerin, ins nahe Rostock und auf die Insel Rügen führten gelegentlich die Ausflüge. Wie der ganze Aufenthalt in Doberan verschlangen diese Vergnügungen Unmengen an Geld und so war auch hier dafür gesorgt, dass die Badegesellschaft unter sich blieb. Man gab sich neben dem Bad ganz den Freuden des ländlichen Sommeraufenthaltes hin. Noch ganz im aristokratischen Gestus wurden theatralische Aufführungen von Mitgliedern des Hofes, verkleidet als Mitglieder einer bäuerlichen Gesellschaft, veranstaltet. Vogel berichtete, in der Saison 1810 habe es ein „überaus schönes ländliches Fest“ 1050 gegeben, das von der mecklenburgischen Erbprinzessin und ihrem Mann zur Freude der Badegesellschaft ausgerichtet wurde. Die Gäste stellten eine bäuerliche Heuernte nach, mitwirkend „eine ansehnliche Zahl von unverheyratheten und verheyratheten Damen und Herren, welche, zum Theil mit ihren Kindern, sämmtlich in das Costume Weimarischer Landleute gekleidet waren. [...] Bey der Ankunft der Durchlauchtigsten Erbprinzessin an der Hand ihres Durchlauchtigsten Gemahls ertönte die Musik, und Höchstdieselbe wurde von der Frau Gräfin von Bernstorf und dem Hrn. Grafen von Chasot, beyde in ihren niedlichen und eleganten Bauerncostume ländlich, und fröhlichst bewillkommnet, indeß der übrige Ernte-Zirkel fleißig mit seiner Arbeit beschäftigt war. Ein geschmackvolles Déjeuné und Tanz beschlossen dieß sehr angenehme und erfreuliche Fest.“ 1051 In diesem ganzen Spektakel spiegelte sich noch einmal die ganze aristokratischrokokohafte Inszenierung der Schäferidyllen wider. Mit solcher Art der aristokrati- 1048 Vogel, Neue Annalen, 1808, S. 5f. 1049 Vgl. Karge, Heiligendamm, S. 22. 1050 Vogel, Annalen 1811, achtes Heft, S. 18ff. 1051 Vogel, Annalen 1811, achtes Heft, S. 19. <?page no="253"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 252 schen Zerstreuung dominierte die herzogliche Hofgesellschaft das Badeleben in Doberan. Dazu wurden auch gefeierte Künstler engagiert. Im Jahr 1819 gastierten die berühmte italienische Sängerin Angelica Catalani (um 1780-1849) und Eduard Devrient hier, die beide vor dem Badepublikum auftraten und für einen Besucheransturm sorgten. Im selben Jahr „ward eine Luftschifferin, Madame Reichardt, erwartet, die eine Fahrt mit ihrem Ballon machen wollte, - ein damals seltenes, von den Wenigsten schon gesehenes Schauspiel.“ 1052 Zwischenzeitlich verweilten zur Freude der Gäste auch der populäre preußische Generalfeldmarschall Gebhard Leberecht von Blücher (1742-1819) und der preußische Staatskanzler Karl August von Hardenberg (1750-1822) in Doberan. 1053 Da der Adel in den anderen Seebädern nie eine vergleichbar dominante Stellung wie in Doberan-Heiligendamm einnehmen sollte, blieb zumindest diese Form der ständischen Distinktion auf das herzogliche Bad beschränkt. Aber auch in Doberan gestaltet sich der gewöhnliche Tagesablauf vieler Badegäste in weniger aufwändiger Weise. Neben dem Bad in der See ordnete sich der Tag durch die gemeinsamen Mahlzeiten und die meistens in kleinen Zirkeln stattfindenden Vergnügungen. Bei Kaffee- und Teegesellschaften in der näheren Umgebung traf sich die Badegesellschaft zum Gespräch. 1054 Ein beredtes Zeugnis für einen gewöhnlichen Kurtag liegt mit einem Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an seine Schwester Fanny vom Juli 1824 vor. Der Fünfzehnjährige schrieb über seinen von kurmäßiger Zerstreuung und Diät geprägten Tagesablauf nach Berlin: „Höre wie beschäftigt ich den ganzen Tag bin. [...] Des Morgens früh müssen wir Caffee trinken, u. dann nach dem Bade fahren. Sind wir gewaschen so gehen wir den größten Theil des Weges zurück, und setzen uns dann in den Wagen, fahren den Rest, so ist es halb 10 Uhr. Nun hungert mich ganz entsetzlich. Ich esse also eilig zwei oder drei Kirschen und einige Bissen Brod dazu. Dann lerne ich auswendig - Was? den Komödienzettel. Dann kömmt wohl Mühlenbruch [...] so wird musiciert. Nun ist's zwölf; man macht sich ordentlich, u. geht in die Harmoniemusik. Diese besteht aus 1 Flöte, 2 Clarinetten! 2 Oboen, 2 Fagotten, 2 Horne, 1 Trompete u. 1 Baßhorn.[...] Um 1, 2 Uhr ist's da aus; ich gehe zu Hause, und man spielt ein Parthiechen Schach. [...] Um ¾ auf 2 Uhr klingelt es, ich befracke mich, und behüte mich und es geht zu Tische. Um drei sind wir fertig. Dann wird die angefangene Parthie beendigt. Läßt es das Wetter zu [...] so zeichne ich dann. Um 6 gehen wir spatziren, bis ½ 9, dann geht man im Kranz auf und ab, um 9 wird Abendbrot gegessen, à la Carte. Himmlische Wonne! Gewöhnlich 1052 Maltzahn, Erinnerungen, S. 7. 1053 Vgl. Karge, Heiligendamm, S. 26f.; Vogel, Kleine Schriften, S. 44. 1054 Vgl. Maltzahn, Erinnerungen, S. 10. <?page no="254"?> 3.2 Der Ton der Kurgesellschaft - Etikette und gesellschaftliche Kurpraxis 253 aber gehn wir um 4 spatziren, um 6 Theater, um 9 Abendbrot, um 10 bischen Schach noch; um ½ 11 legen wir uns zu Bette; und ruhen von Tagesbeschwerden. Punctum.“ 1055 Mendelssohn Bartholdy folgte damit nur der verpflichtenden ärztlichen Direktive, die für den Kuraufenthalt festschrieb, dass hier „eine anstrengende geistige Thätigkeit nachtheilig ist“. 1056 Als die vornehme Badegesellschaft aber am Abend zum Tanz gehen pflegte, dem „Inbegriff des distinguierten Körperverhaltens“, 1057 zog sich Mendelssohn Bartholdy mit anderen zurück, da die standesgemäße Abgrenzung zu deutlich war .1058 Dagegen prägte in den Erinnerungen eines Mitgliedes der Badegesellschaft, Freiherr Julius von Maltzahn, an die 1830er Jahre der Tanz das gesellige Leben des Bades: „Getanzt wurde im großen Speisesaale, [...] getanzt im Saale am Heiligen Damm, im Amtshause [...] im Stahlbade [...] Bei hellem lichten Tage zu tanzen, das thun sonst die Kinder des Dorfes auf der Wiese, auch anderes lustiges junges Volk; - wenn es hier in der Hofgesellschaft geschah, so sieht man, wie heiter die Stimmung derselben war.“ 1059 Badearzt Vogel hatte in seinem Bemühen, Doberan nicht zu einem bloßen Modebad und Ort der Zerstreuung und Repräsentation verkommen zu sehen, wiederholt in seinen Schriften auf die Risiken übermäßigen Tanzens verwiesen. Seine Begründung war wie immer medizinischer Art. Mit dem zu häufigen und zu schnellen Tanz könnten, so Vogel, „Nervenschwäche und Krämpfe aller Art“ 1060 eintreten und den Erfolg der ganzen Kur zunichte machen. Um dem Badepublikum eine angemessene Form der Kur an die Hand zu geben, stellte er einen Katalog für den Tagesablauf im Bad zusammen. Vogel propagierte auch hier vor allem eine den Ansprüchen der Badegäste entgegenkommende Verbindung von leichter Zerstreuung und gemäßigter Kur. Er sprach von der „angemessensten und richtigsten Lebensweise, die sich ein Badegast im Allgemeinen zum Muster nehmen kann um seine Tageszeit nicht allein mit der Cur übereinstimmend, sondern auch angenehm und nützlich, hinzubringen“. 1061 1055 Weissweiler, Briefwechsel, Brief vom 21.7.1821, S. 23f. 1056 Schmige, Heringsdorf, S. 84. 1057 Fuhs, Mondäne Orte, S. 263. 1058 Weissweiler, Briefwechsel, Brief vom 21.7.1821, S. 24. 1059 Maltzahn, Erinnerungen, S. 14f. 1060 Vogel, Neue Annalen, 1804, S. 129. 1061 Vogel, Handbuch 1819, S. 48f. <?page no="255"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 254 Demnach führte der erste Gang in das Seebad am Heiligen Damm, wo „der große Anblick der fast immer von Schiffen besetzten See“ das Interesse der „Menge der versammelten Menschen von der verschiedensten Art“ 1062 weckte. Am Bad lenkte Vogel den Blick auf das neue Badehaus, die Promenaden, die Musik, „das beständige Ankommen und Abfahren der Badegäste und Fremden, die kleinen Seepartien, das Baden selbst u.s.w.“ 1063 War der Badegast nach dem dort erfolgten Frühstück nach Doberan zurückgekehrt, empfahl Vogel für die Nervösen Ruhe, für die Anderen erneut Musik im eigens dafür errichteten Musiktempel, die vom herzoglichen Orchester gegeben wurde, oder eine stille Unterhaltung. Wünschenswert war besonders der therapeutisch sinnvolle Spaziergang. Hiernach ging es zum Mittagstisch, wo die entspannte Atmosphäre für eine freundliche Stimmung und schließlich eine gute Verdauung sorgte. Auch nach dem Mittagessen bot Vogel verschiedene Optionen an, je nach der Konstitution des Badegastes. Besonders empfehlenswert erschien ihm das Schreiben von Briefen: „Es ist gewiß, daß viele Menschen die frohesten Augenblicke ihres Lebens in den Stunden feyern, wenn sie Briefe schreiben und entgegen nehmen.“ 1064 Dementsprechend lobte Vogel auch die Lektüre eines guten Buches. Neben diesen stillen, einsamen Beschäftigungen war die Konversation mit den anderen Badegästen ein Teil von Vogels Genesungsstrategie. Denn es waren „die gleichen Absichten des dasigen Aufenthalts, die gleichen Bedürfnisse, die rege Theilnahme Leidender an Andrer Leiden, die häufigen Berührungspunkte“, 1065 die die Annäherung der fremden Badegäste untereinander erleichterte. Im verbindenden Krankengespräch fand das gesamte Badepublikums unter der Fahne der Rekonvaleszenz zueinander. Auch Heinrich Laube betrachtete die gemeinsame Rede vom Bad, den Krankheiten und ihrer Überwindung als Kern und sinnstiftendes Band der Kurgäste. Im Swinemünder Seebad kurz nach der Hauptsaison angekommen, schilderte er: „Die Equipagen und Geschichten, die Parteien, der Krankheits- und Gesundheitsklatsch waren hier noch zu finden. Und in ihnen besteht ja eigentlich das Wesen des Badelebens. Im Seebade ist der Mittelpunkt der Wellenschlag. Erst spricht man davon, ob welcher sein wird, dann ob welcher ist, zuletzt ob welcher gewesen ist, und dann geht es wieder zum Futurum. [...] Auch für die ersten Tage ist die Gesellschaft ohne Ertrag für den einzelnen Ankömmling, denn sie hat einen Hauptreiz in ihrer Geschichte. Man muß erst Neigung oder Abneigung, Gleichgültigkeit für diesen oder jenen in sich aufgefunden haben, man muß erst irgendeinen Bezug sehen, bevor 1062 Vogel, Handbuch 1819, S. 49. 1063 Vogel, Handbuch 1819, S. 49f. 1064 Vogel, Handbuch 1819, S. 61. 1065 Vogel, Handbuch 1819, S. 65. <?page no="256"?> 3.2 Der Ton der Kurgesellschaft - Etikette und gesellschaftliche Kurpraxis 255 man sich gebunden fühlt. Partien und Unterhaltungen mit den älteren Jahrgängen gehörten also zu meinen nächsten Aufgaben.“ 1066 In den bürgerlich geprägten Bädern wie Swinemünde etablierte sich zunächst eine eher an den bürgerlichen Salons angelehnte Umgangsform. Schon die noch lange Zeit überschaubare Anzahl von Badegästen und der sich nur langsam vollziehende Aufbau der Vergnügungsstätten in den Seebädern kamen hier dem öfter privaten, fast intimen Charakter bürgerlicher Vergnügungen im Rahmen einer Kur entgegen. Man blieb unter sich und begegnete hier denselben sozialen Gruppen wie in der urbanen Heimat: „Männer besuchen ihre Frauen und Kinder“, und „Junggesellen jeglichen Faches opfern freudig einige Thaler, um mit den bekannten jungen Damen unter dem berühmten Birnbaum zu tanzen und schön zu thun, nebenbei auszuforschen, wer sich in der Woche daselbst verlobt hat“. 1067 Während sich der alltägliche Kurablauf ähnelte, fanden aristokratische Belustigungen wie das Pferderennen, regelmäßige, große Bälle oder Feuerwerk, der Besuch der Spielbank, 1068 wenn überhaupt, nur selten statt. Auch die Unterhaltung hatte sich zuerst in den diätetischen Rahmen der Badekur zu fügen, womit man sich zugleich gegen den Habitus der „feinen Gesellschaft“ abgrenzte. Alles Miteinander sollte, so forderte der Travemünder Badearzt Stierling 1815, vor allem ohne Zwang erfolgen, die „Vermeidung aller Etikette, [...] Ablegung aller Fesseln, womit die feine Welt sich ohne Noth belastet, würze den Umgang und lade die Freude ein“. 1069 Ähnlich wie Vogel für Doberan stellte auch der Swinemünder Badearzt Dr. Kind in seiner Schrift von 1824 den Kuralltag vor. Vogels Konzepte hatten auch hier Pate gestanden. Im Unterschied zum Doberaner Bad, das mit der Stadt und dem Seebad über zwei weit auseinanderliegende Zentren verfügte, war der zentrale Raum der Badegesellschaft in Swinemünde das Gesellschaftshaus. Hier traf man sich nach dem Bad, hier wurden die Mahlzeiten eingenommen und die öffentliche Unterhaltung dargeboten, und hier fanden sich die Räume, um außerhalb der großen Gesellschaft zu lesen, sich zu unterhalten oder zu musizieren. Die im Verlaufe des 19. Jahrhunderts immer wichtiger werdende Kurpromenade, die Repräsentation und Kurspaziergang miteinander vereinte, spielte in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch eine untergeordnete Rolle. Stattdessen fand die Kurgeselligkeit im Gesellschaftshaus oder bei den Ausflügen in die Umgebung statt. Nicht zuletzt garantierten die Ha- 1066 Laube, Biedermeier, S. 365. 1067 Carl, Neukuhren, S. 119. 1068 Wenngleich, so berichtete Theodor Fontane, privat in der Nähe des Swinemünder Gesellschaftshauses „eine kleine Bank aufgelegt“ wurde, in der Fontanes Vater regelmäßig Geld verlor. Fontane, Kinderjahre, S. 56. 1069 Stierling, Ideen, S. 128. <?page no="257"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 256 fenbesichtigungen, 1070 vor allem wenn große Schiffe oder Kriegsschiffe auf Reede lagen, eine besondere Abwechslung für die Kurgesellschaft. Hier wurde in besonderem Maße die maritime Prägung des Raumes deutlich, verbunden mit dem Reiz der technischen Meisterung des gewaltigen Ozeans. Wie verlief nun ein typischer Kurtag in dem vom bürgerlichen Publikum geprägten Swinemünde? Nach dem frühmorgendlichen Bad, so Kind, versammelte sich die Badegesellschaft im Gesellschaftshaus, um zu frühstücken oder „sich auch durch Unterhaltung, Lectüre, Karten- oder Billardspiel zu amüsieren“. 1071 Nach dem gemeinsam eingenommenen Mittagessen um ein Uhr wurden Spaziergänge unternommen oder man hielt sich weiter zur Lektüre und zum Gespräch im Gesellschaftshaus auf. Gegen fünf Uhr wurde für zwei Stunden Musik geboten, ehe um acht Uhr, als letzter gemeinsamer Tagesordnungspunkt, wieder gemeinsam gespeist wurde. Nur am Sonntag wurde „im Saale unentgeltlich Tanzmusik gehalten“ 1072 , wobei sich für die Musik oder andere künstlerische Darbietungen auch „fremde Künstler von ausgezeichnetem Rufe“ einfanden. Für die private Lektüre, als „,bürgerliche’ Komponente der Kurkultur“, 1073 gab es ein eigenes Zimmer im Gesellschaftshaus, wo, so Kind, „die gelesensten Zeitungen und Journale“ 1074 auslagen. Hier fand sich auch ein Billardtisch und das für den privaten Gebrauch bestimmte Klavier, das Gelegenheit bot, „sich und Anderen manche Stunde durch Spielen auf demselben angenehm zu verkürzen“. 1075 Wie in den meisten Badeorten gehörte auch hier das private wie das öffentliche Musizieren zum festen Repertoire der Unterhaltung. 1076 Und auch die Musik wurde als Bestandteil des Genesungsprozesses legitimiert: „Fertige Tonkünstler erhöhen an heitern Morgen durch ihr passendes Spiel den Genuß des Bades, und wie denkende Ärzte versichern, auch die Wirksamkeit desselben.” 1077 Während der Doberaner Unterhaltungsbetrieb zu einem wesentlichen Teil von herzoglichen Angestellten oder Mitgliedern des Hofstaates selbst geführt und vom Herzog bezahlt wurde, mussten andernorts andere Wege beschritten werden. Am leichtesten fiel es hier wieder den Seebädern der großen Hafenstädte, die für die Unterhaltung der Badegesellschaft auf die kulturellen Ressourcen der Stadt zurück- 1070 Vgl. Berghaus, Landbuch, S. 454. 1071 Kind, Swinemünde, S. 121. 1072 Kind, Swinemünde, S. 121. 1073 Fuhs, Mondäne Orte, S. 273. 1074 Kind, Swinemünde, S. 120. 1075 Kind, Swinemünde, S. 120. 1076 Vgl. zur Funktion und zu dem Stellenwert der Kurmusik auch Schönherr, Bademusik; Fuhs, Mondäne Orte, S. 272f.; Mahling, Residenzen, S. 86f. 1077 O.V., Travemünde, S. 56. <?page no="258"?> 3.2 Der Ton der Kurgesellschaft - Etikette und gesellschaftliche Kurpraxis 257 greifen konnten. Daraus erwuchs im Laufe der Jahre auch eine immer stärkere Betonung der Unterhaltung, die den Kurcharakter in den Hintergrund treten ließ. Da mi t ver stä rk te si ch die T en de nz , aus d em S ee bad e in en V or ort m it Ku rc har akt er zu formen. Das urbane Kulturmodell, aus dem sich die soziale Identität vieler Kurgäste speiste, wurde mit immer mehr seiner Ausdrucksformen - Theater, Salon, Musikhalle - zum festen Bestandteil des Kurraumes. Seine volle Ausprägung sollte dieser Prozess zwar erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erleben, trotzdem zeigte sich bereits früh eine Angleichung der Seebäder an die urbanen Formen. In Travemünde konnte man 1803, erst ein Jahr nach Gründung des Seebades, den Badegästen „zur Entschädigung für den Mangel an Glanz und Größe“, 1078 vor allem den „Anblick der kommenden und abgehenden Schiffe“ anbieten. Daneben gab es Bootsfahrten auf das Meer, die „bey sanfter Stille der Luft, bey schöner Mondeshelle und in Begleitung eines Chors von Blasinstrumenten, zur Freude der ganzen Gesellschaft ungemein viel beytragen”. 1079 Gute zehn Jahre später, mittlerweile waren in Travemünde die Kur- und Vergnügungsanlangen errichtet, bot man den Gästen bereits „unterhaltende Gesellschaften, Spatzierfahrten auf dem Lande und zur See, freundschaftliche Abendpartien, wo die Grazien manchmal der Muse der Tonkunst opferten, leichte Tänze, Promenaden und öffentliche Thees“. 1080 Mit der Etablierung der professionellen Unterhaltung als Teil des Kurprogramms verstärkte sich die Abkehr vom radikal-diätetischen Kurkonzept, wie ihn nicht nur die Apologeten der Kaltwasser-Therapie gefordert hatten. Unterhaltung hieß, und darauf legten die Badeärzte der großen Bäder wert, den Kurgast von Sorgen abzulenken und damit den Erfolg der Kur erst zu ermöglichen. Denn ohne Unterhaltung drohte den offensichtlich vielen nicht-idealen Kurgästen eine andere Krankheit - die Langeweile. Badearzt Vogel forderte darum entschieden „die Entfernung aller peinlichen langen Weile durch den schicklichen Genuß der vorhandenen Annehmlichkeiten des Lebens und eine für solche wohl berechnete und benutzte Vertheilung der Tageszeit“. 1081 Dr. Schmige aus Heringsdorf empfahl noch Mitte des 19. Jahrhunderts gegen dieses Übel eine nur „leichte Lectüre“. 1082 Verpflichtende Direktive für das Verhalten im Bad sei es, „mit Anstand müssig zu gehen“. 1083 Gegen die dekadente 1078 O.V., Travemünde, S. 52. 1079 O.V., Travemünde, S. 54. 1080 Stierling, Annalen Travemünde, S. 16. 1081 Vogel, Handbuch 1819, S. 47f. 1082 Schmige, Heringsdorf, S. 84. 1083 Schmige, Heringsdorf, S. 84. <?page no="259"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 258 Langeweile, die „einer schwächlichen Gesundheit immer mehr oder weniger nachtheilig ist“, 1084 setzte man, da Erwerbsarbeit für die Badegäste selbstverständlich nicht in Frage kam, die gepflegte Zerstreuung. Denn am Ende der Kur sollte wieder der gesunde, leistungsfähige Körper als Voraussetzung für „die individuelle Leistung und den sozialen Aufstieg der bürgerlichen Funktionseliten“ 1085 stehen. An diesem Programm der verordneten und damit legitimierten Unterhaltung konnten natürlich nur jene Bäder teilhaben, die über eine entsprechende finanzielle Basis verfügten. In den Seebädern, die aus kleinen Fischerdörfern hervorgingen, war diese Form der Unterhaltung nicht möglich und häufig auch nicht gewünscht. Hier fand sich noch lange das aus der Not wie aus dem Bemühen um eine wirklich medizinisch begründete Kur geborene Streben nach einer spartanischen Badekur. Nur die Natur in Verbindung mit einer einfachen Lebensführung sollte hier den Genesungsprozess vollbringen. Darum war Doberan hier nicht Vorbild, sondern Exempel eines korrumpierten Bades mit seiner „stehenden Pharaobank, täglichen Bällen, großen Thee's und etiquettmäßig splendiden Zirkeln“. 1086 Das Heilsversprechen des Seebades übertrug sich damit auf die kleinen, einfach eingerichteten Badeorte wie Zoppot bei Danzig: „Für den wirklich Kranken ist dieß aber mehr ein Vortheil als eine Entbehrung, indem das leidenschaftliche Spiel und der erhitzende Tanz, so wie die strenge und lästige Convenienz der wahren Kur sehr nachtheilig sind. Dafür kann sich Zoppot mehr als jeder andere Seebadeort der stillen ländlichen und der höchsten Freuden an der großen herrlichen Natur rühmen“ 1087 . Spaziergänge, Ausflüge in die nähere Umgebung und Konversation unter den anderen Badegästen machten hier den gesamten Tagesablauf aus. In vielen dieser kleinen Bäder waren weder feste Badeanlagen noch ein Gesellschaftshaus für die Badegesellschaft vorhanden. Hier konzentrierte sich die Kommunikation auf einen leicht überschaubaren Kreis von Badegästen. Die schlichten Umstände, unter denen hier oftmals Badegäste aus vornehmen Verhältnissen wohnten, zwangen zur Improvisation und ermöglichten zugleich eine ungezwungenere Lebensführung. In Heringsdorf bemühte sich Fanny Mendelssohn Bartholdy, die hier 1839 mit ihrer Schwester Rebecca zur Kur weilte, um ein Klavier aus Swinemünde. Dieses diente, so Fanny, neben seiner eigentlichen Funktion auch „zum Bücherbrett“. 1088 1084 Vogel. In: Journal der practischen Arzneykunde, 6. Bd., 1. Stück, Jena 1798, S. 40. 1085 Frey, Bürger, S. 122. 1086 Haffner, Zoppot, S. 2. 1087 Haffner, Zoppot, S. 2. 1088 Hensel, Briefwechsel, Brief vom 5.7.1839, S. 508. <?page no="260"?> 3.3 Badefreiheit 259 Zum regelmäßigen Tagesgeschehen gehörten Waldspaziergänge mit anderen Badegästen, in denen, auf andere Art als in Doberan, die ländliche Idylle als Hohelied de s r oma ntisc h i nte rpre ti erten de utsc hen W al de s w iede r auf tau chte : „Gestern haben wir eine wilde Waldpartie gemacht, die eine Art Parodie auf Felixens Waldfest sein könnte. Statt eines bekränzten Tisches hatten wir Schinkenbutterbrot auf einem moosigen Stein, statt eines Chores von zwanzig geübten Sängern haben wir beide unsern Vorrat von zweistimmigen Liedern ausgekramt; nur der Wald selbst ist keine Parodie, denn er ist so schön, wie er nur sein kann, und die Partie war unter anderm dadurch ausgezeichnet, daß zwei Herren (auf acht Damen und fünf Kinder) dabei waren.“ 1089 In noch größerer Abgeschiedenheit vollzog sich die Badekur, wenn sie, wie in dem vorpommerschen Zingst, weit entfernt von jeglicher Stadt und ihren Annehmlichkeiten stattfanden und wenn es sich nur um eine Handvoll von Gästen handelte. Die Familie des Pfarrers Bindemann verbrachte den Sommer des Jahres 1858 im Fischerdorf Zingst. Da Pfarrer Bindemann dringend Erholung benötigte, hatte man sich für einen Aufenthalt in dem nahe des heimatlichen Städtchens Barth gelegenen Zingst entschieden. Die Tagebucheinträge verzeichnen knapp das tägliche Geschehen der Familie: morgens das erste Bad im Meer, dann der Spaziergang am Strand und am Abend die Sonnenuntergänge. Man beobachtete die Fischer bei der Ausfahrt, die badenden Kinder und begab sich auf kleine Wanderungen in die nähere Umgebung. Nachmittags wurde ausdauernd unter dem Kirschbaum gelesen. Zusammengefasst: „Baden, Anziehen, Essen, Schlafen, das sind die regelmäßigen Vorgänge des Tages, bis dann um 5 Uhr der Spaziergang kommt.“ 1090 Wie schon bei Felix Mendelssohn Bartholdy - „Himmlische Wonne! “ - verwirklichte sich hier die Hufelandsche Maxime für den Kuraufenthalt: „Zweierlei aber muß schlechterdings verbannt seyn; Anstrengung der Denkkraft und Leidenschaft. [...] Freu dich, und sey müssig.“ 1091 3.3 Badefreiheit Wie in den binnenländischen Bädern sollte die gelockerte Atmosphäre soziale Barrieren zumindest verringern, ohne freilich zu einem völligen Distanzverlust zu verleiten. 1092 Nur bot das Seebad hier mehr Spielraum, indem man zwar auf die Umgangsformen der bekannten Bäder zurückgreifen konnte, auf der anderen Seite aber in diesem Raum angesichts einer noch nicht durch Traditionen festgefügten Sozial- 1089 Hensel, Briefwechsel, Brief vom 17.7.1839, S. 510f. 1090 Bindemann, Rückblicke, Eintrag vom 10.8.1858, S. 279. 1091 Hufeland, Praktische Übersicht, S. 44. 1092 Vgl. dazu Kuhnert, Urbanität, S. 17f.; Fuhs, Mondäne Orte, S. 58f., 228f. <?page no="261"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 260 struktur der Gäste mehr Möglichkeiten zum Experimentieren bestanden. Mit der Medikalisierung, dem besonderen Naturraum und nicht zuletzt mit dem Bad in der See als neuer Form der Körpererfahrung, eröffnete sich hier die Gelegenheit für eine insgesamt veränderte Lebenspraxis während der Kurzeit.Fanny Mendelssohn Bartholdy nannte dies die „Badegerechtigkeit“, 1093 die sich ihre Freundin „nicht nehmen lässt“ und welche unbekümmert nach dem Bad ihr Haar offen und ungekämmt trage. In Warnemünde meinte das für die Badeanstalt verantwortliche Gewett gut daran zu tun, dass „die Badefreiheit, ein bisher allgemein anerkannter Vorzug in Warnemünde, so wenig als möglich beschränkt“ 1094 werde. Ganz offensichtlich gehörte zum Seebad diese rechtlich nicht verankerte, gesellschaftlich aber anerkannte Form einer Grenzüberschreitung, die sich den gewöhnlichen Kontrollmechanismen der Gesellschaft entzog. Dabei kamen der Badefreiheit offensichtlich verschiedene Funktionen zu. In Warnemünde diente sie u. a. als Kompensationsinstrument, um die schlechten natürlichen Rahmenbedingungen auszugleichen. Es sei „ein Zwang für die Badegäste und jede Beschränkung ihrer Freyheit thunlichst zu vermeiden [...] denn grade das trege und ungenierte Leben zu Warnemünde giebt diesem Badeorte einen eigenthümlichen Reiz, welcher die stiefmütterliche Behandlung desselben von Seiten der Natur so ziemlich übersehen lässt“. 1095 In Zoppot hieß es 1820 in einer Verfügung, wenige Jahre vor Gründung des öffentlichen Seebades, dass „jeder lästige Zwang den Badegästen gegenüber zu vermeiden sei“. 1096 Damit sollten hier ganz offensichtlich, wie in Warnemünde, Besucher angelockt werden, um die ungünstigen Rahmenbedingungen wenigstens teilweise wettzumachen. Im schillernden Begriff der Badefreiheit wurde damit ein von den alltäglichen Konventionen entlastendes, unverbindliches Verhalten ermöglicht. Der gesellschaftliche Umgang enthielt auf diese Weise einen Ausdruck großstädtischer Anonymität, der trotz des engen Kontakts der Badegäste diese nicht zum gewohnten Miteinander verpflichtete. 1097 Standesgrenzen wurden damit in gewissem Umfang als überflüssig, wenn nicht gar dem Verhaltenskodex im Kurort als abträglich erachtet. Bezeichnenderweise schlug sich dies auch in der Belletristik nieder. So wurde in Georg Christian Sponagels Werk „Vetters Feldzug“ von 1826, einer Humoreske über das gesellschaftliche Leben im Seebad Doberan-Heiligendamm, auch der mecklenburgische 1093 Hensel, Briefwechsel, Brief vom 6.7.1839, S. 508. 1094 StA Rostock, Badeanstalt Warnemünde, Bd. 1, 1.1.3.23-31, Nr. 4, Schreiben vom 21.1.1835. 1095 StA Rostock, Badeanstalt Warnemünde, Bd. 1, 1.1.3.23-31, Nr. 4, Schreiben vom 21.1.1835. 1096 Schultz, Chronik, S. 56. 1097 Vgl. dazu auch Fuhs, Mondäne Orte, S. 229ff. <?page no="262"?> 3.4 Vom Fischer zum Badediener - Transformation von Lebenswelten 261 Fürst in die bereits herrschende Badefreiheit mit einbezogen: „Die Gegenwart des Stifters dieser Heilanstalt stört die allgemeine Heiterkeit so wenig, dass vielmehr diese, so wie die ungebundene hier herrschende anständige Badefreiheit dadurch auf mancherlei Weise befördert wird.“ 1098 Franz Gaudy sprach in seiner Novelle „Der moderne Paris“, die in Heringsdorf spielte, vom „gelobten Land der Badefreiheit“. 1099 Dort versteckte sich in besonderem Maße die Möglichkeit einer größeren Nähe zwischen den Geschlechtern, die schließlich auch die Entwicklung des Seebades als Heiratsmarkt vorwegnahm. Freiherr Julius Maltzahn berichtete von dem Besuch des russischen Großfürsten Constantin mit Frau und Gefolge 1852 in Doberan: „Die russischen Gäste genossen die Freiheit des Badelebens mit vollen Zügen. An einem warmen Tage konnte man den Großfürsten in Hemdsärmeln auf dem Balcon des Prinzenpalais sitzen sehen, sein junges Weib im Arme.“ 1100 Für die Badegäste bot das Seebad damit einen Raum, dessen Herauslösung aus der konventionellen Körperwahrnehmung einen Spielraum für andere Eigen- und Fremdwahrnehmung eröffnete. Allein die Möglichkeit dieser Art des körperlichen Empfindens, die niedrigeren sozialen Kontrollmechanismen verbunden mit den unkomplizierteren Kommunikationsmöglichkeiten, dürfte ein besonderer Anreiz für den Besuch eines Seebades gewesen sein. 3.4 Vom Fischer zum Badediener - Transformation von Lebenswelten Im Zentrum der bisherigen Seebäder-Forschung standen bisher fast ausschließlich die Besucher der Seebäder. Welche Rolle und Funktion die Bewohner der Küstenstädte und -dörfer hatten, bleibt dagegen merkwürdig unterbelichtet. Das mag zum einen an der einseitigen Quellensituation liegen, die geprägt ist von den Zeugnissen einer bildungsbürgerlichen Elite, von Ärzten, Reiseschriftstellern oder, als private Aufzeichnungen, von den Badegästen. Stimmen der Einheimischen, zumal der auch hier einer bildungsbürgerlichen Minorität gegenüberstehenden Masse von „einfachen“ Leuten, finden sich praktisch nicht. Die Fischer sind die Namenlosen, die als Bilder seliger Zeiten in den Zeitungen und Magazinen der großen Welt landeten. Über ihre häufig genug drückenden Umstände schweigt das Zerrbild vom einfachen Leben. 1098 Sponagel, Vetters Feldzug, S. 318. 1099 Gaudy, Der moderne Paris, S. 115. 1100 Maltzan, Erinnerungen, S. 28. <?page no="263"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 262 Das aktuelle wissenschaftliche Interesse hebt darauf ab, das Seebad als bürgerlichen Erfahrungsraum abzustecken und die kurz- und langfristige Wirkung auf die Einwohner, die nicht die Badegäste sind, als untergeordnet zu betrachten. Dabei erfüllten sie wesentliche Funktionen bei der Ausprägung des Seebades, sei es als Finanziers der Seebäder in Städten wie Swinemünde oder Kolberg, oder, und das soll hier genauer betrachtet werden, als Bauern und Fischer, die von der Gründung und Entwicklung der Seebäder in ganz anderem Ausmaß betroffen waren. In der Vorstellung einer heilsamen nördlichen Küstenlandschaft spielte das Bild des Fischers, in Rousseauscher Projektion des „bon sauvage“, des Edlen Wilden, der das menschliche Abbild der Küste schlechthin darstellt, eine herausragende Rolle. 1101 In ihm spiegelt sich alle Sehnsucht nach dem „natürlichen“ Leben, wie er zugleich auch einfach, arm, einfältig, zu Diensten für die sozial besser gestellten Besucher verpflichtet erschien. Versinnbildlicht wurde das auch in den im frühen 19. Jahrhundert aufkommenden idealisierten Genrebildern von Fischern an der See, gemalt und gekauft „vorwiegend von großbürgerlichen Kunden“. 1102 Damit wurde Ciceros klassisches Verdikt, die Nähe zum Meer verführe zum sittenlosen Leben und man solle sie wenn möglich meiden, endgültig zum bloßen Splitter historischer Bildung. 1103 Hasso Spode hat darauf hingewiesen, dass die Betrachtung der Einheimischen aus der Perspektive der Gravitationskraft zwischen Zentrum und Peripherie ihren Gehalt gewann. 1104 Die räumliche Differenz wurde zur Ungleichzeitigkeit zwischen Stadt und Land, und damit auch zwischen den vermögenden Besuchern der Bäder und den armen Bauern- und Fischerfamilien. Diese mussten den Gästen als freundlich Zurückgebliebene erscheinen, wohingegen die städtischen Besucher einer sozialen Elite angehörten. Hier betrachten diese den selbst bereits hinter sich gebrachten Zivilisationsfortschritt und schauten damit geschichtsphilosophisch auf die eigene Kindheit zurück. Damit wurde zunächst auch der Küstenraum abseits der Seestädte zum Raum seliger Erinnerungen, für die die bärtigen Fischer das Großvaterbild lieferten. Konsistorialrat Zöllner aus Berlin spricht in seinem Reisebericht von 1795 von den Zeugnissen der „ersten Kindheit“, 1105 die man im Baustil der einfachen Fi- 1101 Spode beschreibt diesen Prozess des Erkundens fremder Gebiete und Menschen durch vor allem wohlhabende junge Männer als Bemühen, den sozialen Unterschied in emphatischer Weise, als Seelen-Bildung, aufzuheben. „Nicht Verachtung oder Furcht gegenüber den Bauern und Plebs, sondern Sehnsucht nach dem ,einfachen Leben’, nicht die ,kalte Vernunft der Erwachsenen’, sondern ,Empfindsamkeit’ - der ,edle Wilde’ ist ihr Verbündeter.“ Spode, Prolegomena, S. 117. 1102 Hirsch, Sittliche Vorbilder, S. 66. 1103 Cicero, Vom Gemeinwesen, 2, 4f. Cicero sah Romulus' Entscheidung, Rom im Hinterland und nicht als Küstenstadt zu errichten, als Bedingung für die spätere Weltgeltung der Stadt an. 1104 Spode, Prolegomena, S. 113ff. 1105 Zöllner, Rügen, S. 337. <?page no="264"?> 3.4 Vom Fischer zum Badediener - Transformation von Lebenswelten 263 scherhäuser auf der Insel Hiddensee noch finden könne. Es ist das seit der Antike geläufige Bild vom „edlen“ Barbaren, was hier mit den Instrumenten des 19 . Jah rh un der ts erne ut ang est imm t wir d. „W ild “ un d „bar bari sch“ n enn t sic h dies e Medaille, deren Vorderseite schlichte und gemeine Küstenbewohner abbildet, und deren Rückseite von edler Einfalt und stimmungsvoller Menschlichkeit dieser Leute spricht. Verklärung auf beiden Seiten. Auf diese Weise formte sich die Vorstellung von einer wilden Landschaft, die von „wilden“, das heißt rohen, aber dennoch sympathischen Einwohnern, bewohnt werde. Dies geschah bereits mit der Entdeckung Rügens. 1106 Gleichzeitig mit der Landschaft Rügens wurden ihre Einwohner klassifiziert und dienten später als Vorlage für das Bild der „echten“ Küstenbewohner. Hufeland betonte diese enge Verbindung zwischen Geografie und Menschen für die Küstengegenden: „Schon der besondere Geruch des Meeres beweist ihre Gegenwart [animalische und flüchtige Stoffe, H.B.], und die ganze Atmosphäre bekommt dadurch eine ganz eigenthümliche Beschaffenheit, die sich durch den eigenthümlichen Karakter der organischen Natur in den Seegegenden, durch die Kraft und Frischheit ihrer Bewohner“ 1107 auszeichne. Auch in der Physiognomie der Einwohner spiegelte sich eine schlichte, alles Übertriebene vermeidende Kraft. Humboldt beschrieb sie in seinem Tagebuch 1796 als „wenig irgend schöne Gesichter [...] guthmüthig, ehrlich und heiter. Auch sind sie bis jetzt gefällig und billig gegen Fremde“. 1108 Ebenso wie die ganze Insel Rügen, so Humboldt, die ein „abgesondertes, noch in mancher Hinsicht eingenthümliches Ländchen ist“, 1109 schienen auch die Bewohner „gutmüthig, arbeitsam und fröhlich“. Konsistorialrat Zöllner bemerkte auf seiner Fahrt nach der Rügen benachbarten Insel Hiddensee bei den Fischerfamilien ein harmonisches, ausgeglichenes Äußeres, verbunden mit physischer Stärke: „Unter beiden Geschlechtern haben wir weder vorzüglich hübsche, noch auffallend häßliche Personen gefunden. Sie sind meistentheils groß und haben ein gesundes Aussehen.“ 1110 Karl Friedrich Schinkel bewunderte in einem Brief an den Bildhauer Christian Rauch die Bewohner Rügens, da nach der rauen Vorzeit das „Land im jetzigen Zustande mit seinen friedlichen Bewohnern, […] etwas idyllisches hat“. 1111 Aus diesen Zuschreibungen entstand bald überall das Bild des gesunden, robusten, von den Unbilden der Zivilisation unberührten Küstenbewohners. Raumer 1106 Vgl. Kap. 2.4. 1107 Hufeland, Praktische Übersicht, S. 251. 1108 Humboldt, Tagebuch, S. 47f. 1109 Humboldt, Tagebuch, S. 49. 1110 Zöllner, Rügen, S. 345. 1111 Schinkel, Briefe, Brief vom 1.9.1821, S. 102. <?page no="265"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 264 bestaunte 1851 auf der Insel Wollin die „starken und gesunden Insulaner” 1112 , zugleich, und damit auf deren gesellschaftliche Eingebundenheit verweisend, deren „Zucht, wahre Frömmigkeit und die altpommerische Anhänglichkeit an König und Vaterland”. Das ganze Bild lief dabei offensichtlich wieder auf eine Kontrastbeschreibung zur modernen Zivilisation der Städte hinaus. Fleischer entdeckte in den Bewohnern in Kahlberg auf der Frischen Nehrung „die kräftigsten, rüstigsten und gesundesten Menschen. Sie strotzen voll Lebensfülle und Gesundheit, so dass wir Städter uns keineswegs mit ihnen vergleichen können.“ 1113 Dabei reichte die Charakterisierung bis hin zu rassischen Bestimmungen, die vor dem Hintergrund der Nationalbewegung einzuordnen sind. Vor allem für die pommersche Küste finden sich in der Bade- und Reiseliteratur immer wieder Hinweise auf die slawische Herkunft vieler Bewohner. Der Badearzt des kleinen Seebades Dievenow an der Grenze zwischen Vor- und Hinterpommern machte dort einen „gemischten“ Menschenschlag aus, dessen germanische Elemente aber im Lauf der Geschichte die Überhand gewonnen hätten. Mit der Zuschreibung von Begriffen wie Ordnung, Reinlichkeit, Ehrlichkeit als Bestandteile eines germanischen Volkscharakters, gewannen die Stereotype einen national gewendeten Bezug. Loewe führte dies so aus: „Die Bewohner dieser [...] Stranddörfer sind ursprünglich slavisch-wendischen Stammes, doch allmählig mit dem germanischen so vermischt, dass der erstere ganz in den Hintergrund getreten und allenfalls nur noch in einigen Gesichtszügen zu erkennen ist; dagegen Sprache, Lebensart, Neigung zu Ordnung und Reinlichkeit ganz germanische Elemente sind. Die Einwohner sind ein kräftiger, gesunder, derber Menschenschlag. Verkrüppelte finden sich sehr selten unter ihnen, sowie ihre Krankheiten meist nur in äußeren Schäden und Verletzungen bestehen. Die Bewohner von Dievenow sind biedere, treue Menschen ohne Leidenschaftlichkeit, mehr zum Phlegma geneigt, dabei ehrlich, so dass Diebstähle und andere Verbrechen nur selten bei ihnen vorkommen.“ 1114 Reste des slawischen Einschlages, wie die „wendischen Überbleibsel“ 1115 in der Kleidung, wurden mit den Waffen des Fortschritts bekämpft. Im neu erbauten Schulhaus sah Loewe das zeitgemäße „Instrument der Aufklärung“, 1116 schließlich stünden die Einwohner „nicht auf einer hohen Stufe der Kultur und Civilisation“. Ein weiterer Aspekt dieser Konstruktion waren die volkstümlichen Traditionen der Bewohner. Man war durchaus erstaunt und notierte aufmerksam die exotischen, altertümlichen Gebräuche. Besonders gerne wurden die Bräuche der Bewohner der südöstlichen 1112 Raumer, Wollin, S. 381. 1113 Fleischer, Kahlberg, S. 33. 1114 Loewe, Dievenow, S. 10f. 1115 Loewe, Dievenow, S. 11. 1116 Loewe, Dievenow, S. 11. <?page no="266"?> 3.4 Vom Fischer zum Badediener - Transformation von Lebenswelten 265 Halbinsel Mönchgut auf Rügen geschildert. Hier hätten sich „in Sprache, Kleidung und Gebräuchen die meisten Eigenthümlichkeiten auf ganz Rügen von alten Zeiten her beibehalten“ 1117 . Als besonders bemerkenswert galt den Betrachtern, neben der vorrangig schwarzen Kleidung, ein alter Hochzeitsbrauch, der die gewohnten Geschlechterrollen umkehrte. Auf Mönchgut sei es üblich, dass „die Mädchen um einen Bräutigam werben. Dies nennt man die Jagd.“ 1118 Auf Hiddensee, wo die meisten Männer als Matrosen zur See führen, spielten die Frauen ebenfalls eine besondere, freilich ganz andere Rolle: „Die Frauenspersonen kommen selten in ihrem ganzen Leben einmal ans feste Land, und heurathen niemals außerhalb. [...] Das die Frauen auch auf Hiddensoe gutmüthige Geschöpfe sind, brauche ich nicht zu bemerken.“ 1119 Zur Reise in die fremde Peripherie gehörte für die bildungsbürgerlichen Reisenden schließlich auch die Sammlung von Geschichten und der Wunsch, Sitten und Sprache genauer zu studieren. 1120 Aus diesen Versatzstücken entstand ein Bild, das nicht direkt mit den Bergbauern der Schweiz zu vergleichen ist, 1121 aber unverkennbar ebenso exotische Züge trug und im Rahmen einer Historisierung des Raumes die Bewohner der Bauern- und Fischerdörfer zu sympathischen Relikten einer vormodernen Zeit degradierte. Stereotype Blicke verwandelten den rückständigen Bewohner unkultivierter Regionen zum naturnah-harmonischen Kraftburschen. In diesem Sinne wurden die markanten Fischergesichter in ihrer vermeintlichen Authentizität schließlich auch zu Objekten der Kunst. In der Satire „Das neue Seebad“ des Schriftstellers Johannes Trojan aus dem Jahr 1910 hieß es: „Endlich gab es unter den Fischern wunderbare Gestalten und köstlich verwitterte Gesichter, mit einem Wort: Prachtmodelle. Zwar wollten sie zuerst nicht daran, sich malen zu lassen, als aber der erste herausbekommen hatte, daß es nicht wehtat und daß es etwas einbrachte, folgten die anderen nach, wenn auch ihnen die Sache sehr lächerlich vorkam.“ 1122 Angesichts der häufig desolaten wirtschaftlichen Situation von Bauern und Fischern, die auf Rügen noch bis in das 19. Jahrhundert hinein Leibeigene waren, erscheint das Skizzieren eines idyllenähnlichen Bildes als groteske Überzeichnung und bloße Bestätigung eigener Sehnsüchte, deren Rudimente in restaurierten Fischerkaten- 1117 Stein, Reise, S. 73. 1118 Stein, Reise, S. 73. 1119 Zöllner, Rügen, S. 346. 1120 Vgl. u.a. Zöllner, Rügen, S. 357; Raumer, Wollin, S. 381. 1121 Vgl. dazu u.a. Uwe Hentschel: Mythos Schweiz: Zum deutschen literarischen Philhelvetismus zwischen 1700 und 1850, Tübingen 2002. 1122 Johannes Trojan: Das neue Seebad (um 1910). In: Jürgen Müller-Waldeck/ Gunnar Grambow: Auf Dichters Spuren, Rostock 2003, S. 37. <?page no="267"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 266 Postkarten mit Motiven des Fischerlebens bis heute fortleben. 1123 Daneben wurde aber auch ein anderes Bild der Einwohner entworfen, das auf die künftige Funktion als Dienstpersonal in den Seebädern verwies. Nicht mehr die Einbindung der Menschen in die Natur und damit die Spiegelung des Natürlichen als Möglichkeit eines gelungenen Lebens standen im Mittelpunkt dieser Konstruktion, sondern die Rückbindung der „niederen“ Schichten an die soziale Hierarchie. Aus den Bauern, den Fischern und den Bewohnern der kleinen Küstenstädte wurde abseits des touristischen Blickes wieder die arme, ungebildete Schicht. Karl Nernst schilderte 1800 das umfassende ökonomische und soziale Elend der Bewohner Hiddensees: „Die Einwohner dieses kleinen Eilands sind mehrentheils ungebildete rohe dürftige Fischer, welche außer ihrem Fischfange keinen anderen Nahrungszweig kennen. Die Armuth wohnt hier, und das Elend. Nicht selten begegneten uns zerlumpte Kinder, welche mit wahrem Heißhunger in ein Stücklein gedörrten Fisches einbissen, wovon sie immer eine Portion bei sich führen.“ 1124 Besonders an den Kindern machte sich das Elend der sozialen Stellung fest. Therese Devrient berichtete mit Erschrecken von den vielen kranken und zurückgebliebenen Kindern, denen sie bei ihrem Aufenthalt in Heringsdorf begegnet war. Sie berichtete von dem „einzigen Schatten, der in das sonnenhelle Heringsdorf schien“, und zwar durch den „Anblick der vielen Kretins. Wir hatten in diesem kleinen, armseligen Dorfe fünf gezählt die entweder elend und krank oder vergnügt uns angrinsend vor ihren Tüten im Sande saßen. Es war rührend, die sorgliche Zärtlichkeit zu sehen, mit welcher die armen Mütter diese Kinder behandelten, und wir dachten uns ihr Schicksal trostlos, wenn eines derselben die Mutter verlieren sollte.“ 1125 Als Reaktion auf dieses anscheinend besonders augenfällige Phänomen gründeten die Devrients und zwei weitere Berliner Badegäste die „Devrient-Stiftung“, die für die Kinder im Todesfall der Eltern sorgen sollte. 1126 In deutlichem Kontrast dazu kritisierte Hans Heinrich von Held die Zustände im kleinen Dorf Deep bei Treptow in Hinterpommern. Während er sich einerseits 1123 Zur wirtschaftlichen Situation vgl. u. a. Berghaus, Landbuch Herzogthum Stettin, S. 427ff.; Berg, Darß, S. 117ff.; Schleinert, Usedom, S. 127ff.; Kucharska, Armut, S. 33ff. Zum Gebrauch des Fischerbildes in aktuellen Printmedien vgl. u. a. Geo-Special „Deutsche Ostsee“, 2/ 2004, S. 111ff. 1124 Nernst, Rügen, S. 209. 1125 Devrient, Jugenderinnerungen, S. 396f. Dieser Zusammenhang spricht für Alain Corbins These: „Am Meeresufer erwacht das Gewissen, während der Skeptizismus zusammenbricht.“ Corbin, Meereslust, S. 100. 1126 Devrient, Jugenderinnerungen, S. 396f. <?page no="268"?> 3.4 Vom Fischer zum Badediener - Transformation von Lebenswelten 267 entschieden gegen die Zustände in Doberan wandte, wo nur der Heilung finden sollte, der „eine volle Goldbörse mitnehmen“ 1127 könne, verstand er auch die pommerschen Familien nicht, die nach Treptow-Deep reisten, „einem elenden, öden, baumlosen, zwischen kahlen, aschfarbenen Sanddünen“ 1128 gelegenen Dorf. Besonders unangenehm war Held „der Aufenthalt [...] in schmutzigen Bauernhütten [...] langweilig, unbequem, heiß und traurig“. 1129 Damit verdichtete sich hier die soziale Abwertung in den Attributen einer ungebildeten Unterschicht, während sie sich in Doberan gegen die wohlhabende Oberschicht wandte. Beides war für einen Anhänger einer bürgerlichen Aufklärung wie Held unannehmbar. Auch in der preußischen Administration sorgte man sich wegen der grassierenden Armut in vielen Fischerdörfern, ob diese überhaupt für die Gründung eines Seebades in Frage kommen könnten. In einem Bericht der Medicinal-Commission an das preußische Innenministerium zur Gründung eines Seebades an der ostpreußischen Küste sprach sich die Behörde zunächst gegen das vom Publikum favorisierte Fischerdorf Cranz aus, da hier nicht nur „die von der Natur ziemlich stiefmütterliche Behandlung der Gegend“ 1130 einer Seebadgründung entgegenstehe, sondern auch die „hohe Armuth der Einfachsten dieses Ortes”. Der habituellen Diskrepanz zwischen Besuchern und Einwohnern stand auf Seiten der Gäste aber offensichtlich nicht nur eine gewisse Erduldung der einfachsten Verhältnisse, sondern auch die Bereitschaft zu einem temporären Habituswechsel gegenüber. So berichtete Hartwig in seiner Heringsdorf-Chronik, dass auch „vornehmste Badegäste sehr anspruchslos waren und nicht verlangten auf Roßhaarmatrazen mit Sprungfedern zu schlafen, sondern mit Seegrasmatrazen zufrieden waren oder sich gar mit Strohsäcken begnügten. Manch ein vornehmer Badegast schrieb seiner Wirtin, bei der er seine Sommerwohnung bestellte, sie solle nur das Stroh für seinen Strohsack erneuern.“ 1131 Selbst wenn es sich bei Hartwig um eine anekdotische Übertreibung handelte, scheint, solange der Fremdenverkehr nicht die gesamte Infrastruktur bestimmte, die Bereitschaft zu einem „einfachen Leben“ seitens der Badegäste vorhanden gewesen zu sein. Therese Devrient lobte in ihren Erinnerungen die Sauberkeit der Fischerwohnung, in der die Familie untergekommen war, und die Sorge der Fischersfrau, „die jetzt Kastellanin dieses Häuschens war“ 1132 und die sich um alles Nötige, Milch, Wasser, Brot und Feuer, bereits vorher gekümmert hatte. Auch Fanny Mendelssohn 1127 Held, Colberg, S. 27. 1128 Held, Colberg, S. 26f. 1129 Held, Colberg, S. 27. 1130 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben vom 8.2.1817. 1131 Hartwig, Heringsdorf, S. 36. 1132 Devrient, Jugenderinnerungen, S. 387. <?page no="269"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 268 Bartholdy berichtete von einfachen, aber angenehmen Wohnverhältnissen. Das unvermeidliche praktische und künstlerische Mobiliar wurde aus dem nahen Swinemünde besorgt: „Unsre kleine Wohnung ist ganz nett [...] ums Euch zu beweisen, namentlich Dir, liebe Mutter, damit Du nicht denkst, wir wohnen in einer Pappschachtel oder gar wie ,der Fischer un sine Fru', will ich Euch erzählen, dass ich nach Tisch nach Swinemünde fahren werde, um womöglich ein Fortepiano und einige Möbel zu mieten, die uns viel mehr fehlen als Platz.“ 1133 Beides, der Kontrast zur eigenen bürgerlichen Lebenswelt und die Anstrengung, prägende Formen der eigenen Verhaltensmuster auch im Seebad beizubehalten, gehörten zur Aneignungspraxis des Kurraumes Seebad. Für die gastgebende Fischersfrau lässt es sich allerdings nur schwer einschätzen, in welchem Umfang sich die Normen der Besucher auf die Lebensgestaltung dauerhaft auswirkten. Zumindest solange es sich um so wenige Besucher wie in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts handelte, lassen sich anhand der vorhandenen Quellen kaum Veränderungen nachverfolgen. Dagegen waren die Fischer mit dem Beginn der Badesaison dauernden Einschränkungen ausgesetzt, u. a. durch das Verbot, sich während der Badezeit dem von den Badegästen belegten Strand zu nähern. 1134 Steine vom Strand aufzusammeln, wie es für den Bau von Gebäuden von jeher üblich war, verboten die auf die Bedürfnisse der Badegäste zugeschnittenen Dünenordnungen. 1135 Deutliche Veränderungen zeigten sich dann, als in zunehmendem Maße die gestiegene Zahl von Badegästen zu einer lebhaften Konkurrenz unter den gastgebenden Einwohnern führte und daraufhin Investitionen in die Bausubstanz der Häuser erfolgten. Dazu etablierten sich mit dem Kurbetrieb vermehrt neue Arbeitsformen für die Einheimischen. Am deutlichsten wird das im Zusammenhang mit dem laufenden Betrieb der Badeanlagen. Hier fanden Männer und Frauen während der Saison eine Anstellung als Badediener und Badefrauen. 1136 Und auch Kinder mussten die Möglichkeiten 1133 Hensel, Briefwechsel, Brief vom 1.7.1939, S. 505f. 1134 Vgl. u. a. Haffner, Zoppot, Badereglement von Zoppot 1823, S. 60. 1135 Vgl. Cordshagen, Küstenschutz, S. 45. 1136 Kind führte die Rolle des neuen Badepersonals in seiner Badeschrift aus: „Die niedere Klasse der hiesigen Einwohner leistet den Fremden für den sehr geringen Preis von 2 bis 4 Sgr. für jedes Bad die beim Bade in der See nöthigen Dienste als Badeknechte und Badefrauen. Sie sind ihnen beim Aus- und Ankleiden behülflich, begleiten sie in das Wasser und halten sie in diesem fest, wenn sie es wünschen. Zu der Bedienung derer, welche warme Bäder gebrauchen, sind im Badehause ein Badediener und eine Badedienerin angestellt, welche von dem Bademeister gehalten, und deren Dienste nur durch ein bei der Abreise von hier ihnen zu gebendes kleines Douceur [Trinkgeld, H.B.] von den Fremden, die mit denselben zufrieden waren, erkannt werden.“ Kind, Swinemünde, S. 112. Vgl. dazu auch die Frage einer verpflichtenden Anstellung von Badedienern, die in kleinen Gemeinden wegen der damit verbundenen <?page no="270"?> 3.4 Vom Fischer zum Badediener - Transformation von Lebenswelten 269 des Badebetriebes nutzen, um Geld für ihre Familie zu verdienen. In Warnemünde verlangte der Pächter der Badeanstalt daraufhin ein Verbot dieser Kinderarbeit. V o m Ros to c ker G ewet t, zus tä ndi g für d ie Ort sver walt ung W arne mün de, w urd e dieses Ansinnen jedoch abgelehnt, da die Jungen damit zur Versorgung der Familie beitrügen und den Gästen diese Dienstleistung unter bestimmten Bedingungen nicht zu verwehren sei. So entgegnete das Gewett, „dass die Knaben sich nicht während der Schulzeit auf der Badestelle aufhalten dürfen. Diese Maßregel hat denn auch den früheren großen Andrang der Knaben wesentlich vermindert, und es ist zu erwarten, dass sich die Knaben in wenigen Jahren fast ganz von diesem Geschäfte zurückziehen, aber auch zu wünschen, dass diese Anordnung ohne Zwangsmaßregeln herbeigeführt würde. Es haben nämlich noch immer manche Knaben einen nicht unerheblichen Verdienst vom Abtrocknen, der ein ganzen Sommer bei manchen 20 Rthl und darüber beträgt, womit dieselben, da sie fast ausnahmslos der ärmeren Classe angehören, ihren Eltern viel zu Hülfe kommen. Auch hat es keine Schwierigkeit ein derartiges Verbot durchzuführen, indem dem Badegaste unmöglich verwehrt werden kann, seine Diener, und wäre er auch noch nicht confirmiert, mitzubringen, und ebensowenig ihm zu untersagen ist einen Warnemünder Jungen zu seinem Diener anzunehmen.“ 1137 Die soziale Differenz zwischen Badegästen und den Kindern scheint auch in einem Tauchspiel auf, bei dem die Knaben in Warnemünde nach von Badegästen in die Warnow hineingeworfenen Geldstücken tauchten, die sie als Lohn behalten durften. 1138 Gleichwohl war diese Praxis nicht unumstritten. In Zoppot verbot die Badeordnung 1823 den Kindern sämtliche Hilfeleistungen für die Badegäste: „Den Dorfskindern sind von Polizeiwegen diese in Bettelei ausartende Anerbietungen untersagt.“ 1139 Bei Zuwiderhandlung solle der Badegast Anzeige erstatten, was zu einer Bestrafung der Eltern führen würde. Selbst wenn es sich hierbei zunächst nur um einen kleinen Teil der Einwohner handelte, die in den Badebetrieb eingebunden waren, setzte damit ein Funktionswandel ein. Eine praktisch vollständig von der Landwirtschaft und der Fischerei lebenden Bevölkerung wurde mehr und mehr zum Dienstleister im Fremdenverkehr. Im westpreußischen Zoppot strömten, so der Badearzt Dr. Halffter 1837, Kosten häufig ungern getätigt wurde. Dazu beispielsweise die Korrespondenz um die Beschäftigung eines Badedieners für das Ostseebad Misdroy 1875, Staatsarchiv Stettin, Starostwo Powiatowe w Swinoujsciu/ Landratsamt Swinemünde, 65/ 118/ 0/ 18. 1137 StA Rostock, Badeanstalt Warnemünde, Bd. 2, Sign. 1.1.3.23.-32, Nr. 70, 1858. 1138 Vgl. Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 259. 1139 Vgl. Augustin, Preußische Medicinalverfassung, S. 869. <?page no="271"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 270 „jährlich so zahlreiche Badegäste hier zusammen, daß die jährlich neu entstehenden Wohnungen diese Fremden kaum fassen können, und durch die ansehnlichen Miethszinsen die Baulust der Ortsbewohner noch immer eine zureichende Ermunterung findet“. 1140 Es kamen auch, je nach den Anforderungen des Seebadebetriebes, noch weitere Berufsfelder hinzu. In einem direkten Bezug zum Bad arbeitete etwa der Schwimmlehrer. 1141 Darüber hinaus aber erforderte die tägliche Versorgung der Gäste Leistungen im Transportgewerbe. Vor allem in Bädern, in denen das Seebad weiter entfernt von den Unterkünften der Gäste gelegen war, wurden vermehrt und regelmäßige Kutschfahrten benötigt. Hinzu kamen Leistungen wie Botendienste oder die Wäschereinigung. 1142 Deutlich zeigte sich die Wandlung vom idyllischen Bild des Naturmenschen zur Rückgliederung in die soziale Hierarchie auch in der Anpassung an die neue Wirtschaftsform des Fremdenverkehrs. Der Aus- und Umbau der kleinen Fischerhäuser zu Logierhäusern veränderte nicht nur das Aussehen der Dörfer und Kleinstädte, sondern fordert von den Einwohnern auch, sich neue wirtschaftliche Kompetenzen mit allen damit verbundenen Risiken anzueignen. In Warnemünde versuchten viele Bewohner, durch den Ausbau des eigenen Hauses von dem aufblühenden Seebad zu profitieren: „Ein großer Theil der [...] nur dürftigen Einwohner hat sich durch Neubauten und Ausbau des Hauses, zum Behufe besserer Vermiethung an Badegäste, in verhältnismäßig bedeutende Schulden gestürzt. So lange nun das Bad floriert, hat es mit Deckung der Zinsen keine Noth, wenn aber beym Mangel von Badegästen zur vortheilhaften Vermiethung keine Gelegenheit vorhanden ist, so wird eine Menge von Concoursen die unausbleibliche Folge seyn.” 1143 Diese bauliche Entwicklung von den einfachen Häusern hin zu den auf den Fremdenverkehr ausgerichteten Wohnungen vollzog sich schrittweise in allen Bädern, wobei deren Ausmaße wesentlich durch den Status des Bades und seiner Gäste bestimmt wurden. Damit wurden die kleinen, bescheidenen „Rauchhäuser den gestiegenen Ansprüchen des Reisepublikums entsprechend umgebaut“, 1144 und der Nebenverdienst als Vermieter zur weit verbreiteten und genutzten Verdienstmöglichkeit. Die Badeliste für Swinemünde für das Jahr 1829 zeigt die ganze Bandbreite der Bewohner dieses kleinen Hafenstädtchens, die sich mit der Stellung der Unterkunft ein 1140 Halffter, Zoppot, S. 225. 1141 Lieboldt, Privat-Seebadeanstalt Travemünde, S. 351. 1142 Vgl. Kind, Swinemünde, S. 123, 140. 1143 StA Rostock, Badeanstalt Warnemünde, Bd. 1, Sign.: 1.1.3.23.-31, Nr. 4, Schreiben an das Gewett vom 21.1.1835. 1144 So Weber für die Entwicklung des Seebades Saßnitz auf Rügen ab den 1840er Jahren. Weber, Saßnitz, S. 120f. <?page no="272"?> 3.4 Vom Fischer zum Badediener - Transformation von Lebenswelten 271 Zubrot verdienten: Lotsen, Witwen, Brauer, Kaufleute, Schlächter, Schuhmacher, Schiffer, Segelmacher, der Bürgermeister, der Apotheker Fontane u.s.w. 1145 Theodor Fontane berichtete in seinen Kindheitserinnerungen aus Swinemünde von den jährlich stattfindenden Gänseschlachtungen, u. a. um „die Federn zur Herstellung immer neuer Fremdenbetten“ 1146 zu bekommen.Als Folge dieser Entwicklung begann die moderne kapitalistische Wirtschaftsweise mit all ihren erwünschten und unerwünschten Begleiterscheinungen Fuß zu fassen. Humboldt fiel auf, dass die Einwohner Rügens, die „bis jetzt gefällig und billig gegen Fremde“ 1147 waren, durch „das häufige Besuchen der Stubbenkammer“ von Fremden „schon aufmerksam auf ihren Vortheil“ sind. Er sah darin bereits eine „entfernte Ähnlichkeit mit der Schweiz“, deren Bergbauern ihre Unschuld genauso erst mit dem Besuch der vielen Fremden verloren hätten. Auch der Reisende Boll klagte im Zusammenhang mit dem sich ausbreitenden Bäderverkehr, dass er in Rügen „in neuester Zeit vielfach über zunehmende Verwilderung und Sittenlosigkeit des Volkes, die sich namentlich in einem sehr schnellen Steigen der unehelichen Geburten kundgiebt, klagen hören“ 1148 muss. Angesichts des alten Idealbildes fürchtete man überall, dass mit dem Einfluss der zahlreichen Fremden das sittliche Gefüge der Dorfgemeinschaften auseinander brechen könnte. Dies war nicht nur auf die Annäherung an neu eingeführte Verhaltensformen bezogen, die das enge soziale Korsett der Dorfgemeinschaft durchbrechen würden, sondern auch darauf, indem aus dem uneigennützigen Fischer ein berechnender Kapitalist würde. Loewe konstatierte diese Dienstleistungsmentalität für das kleine Dievenow: „Gegen Fremde, von denen sie in der Badezeit manchen Nutzen haben, sind sie jetzt besonders zuvorkommend.“ 1149 Mit den Badegästen kam aber auch erwünschte Abwechslung vom Einerlei des Alltags. Als besonders freudiges Ereignis wurde die Badezeit im Haus des Apothekers Fontane in Swinemünde wahrgenommen. Theodor Fontane schrieb in seinen Erinnerungen: „Diese Sommermonate, von Mitte Juni an, waren durch die Fülle von Besuch oft reizend, meist junge Frauen aus der Berliner Verwandtschaft, plauderhaft und heiter. Das Haus war dann, 1145 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Verzeichniß von den fremden Badegästen zu Swinemünde. 1829. Beim Apotheker Fontane, dem Vater Theodor Fontanes, wird eine „Madame Fontane“ als Badegast aufgeführt. 1146 Fontane, Kinderjahre, S. 89. 1147 Humboldt, Tagebuch, S. 47f. 1148 Boll, Rügen, S. 140. 1149 Loewe, Dievenow, S. 11. <?page no="273"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 272 auf Wochen hin, total verändert, und Scherz und Schalkhaftigkeit, die sich zur Ausgelassenheit steigerten, herrschten vor.“ 1150 Damit waren, so Fontane, „diese uns mit ihrem Besuch uns zeitweilig fast erdrückenden Badesaisontage“ 1151 , auch für die Familie eine aus dem Alltag herausragende Erfahrung. Konfliktreich wurde diese in Eigenverantwortung übernommene Betreuung der Badegäste dagegen, wenn sie sich gegen die Interessen der Badegäste oder der öffentlichen Administration richtete und damit die soziale Ordnung gefährdete. In Misdroy auf der Insel Wollin beschwerten sich 1862 Gäste und Hinzugezogene über die halsabschneiderischen Praktiken der einheimischen Vermieter, deren sozialer Status und damit mangelnde moralische Verantwortung als Ursache für diese Praxis betrachtet wurde: „An Stegen, welche in das Wasser führen, fehlte es gänzlich und die nach dem Strande führenden sandigen Wege waren nur mit der größten Unbequemlichkeit zu passieren. Verschiedene den höhern Ständen angehörige Anbauer in Misdroy, sowie die von Jahr zu Jahr sich mehrenden Badegäste führten fortgesetzt über diese so mangelhaften Einrichtungen Klage. Von der aus kleinen Grundbesitzern, Büdnern, Fischern und Tagelöhnern bestehenden Gemeinde war Abhilfe nicht zu erlangen; den größtentheils der niedrigsten Bildungsstufe angehörenden Hausbesitzern war vielmehr jeder Neubau, ja jede Verbesserung unerwünscht, weil sie dadurch eine Beeinträchtigung bei Vermiethung ihrer mangelhaften Räumlichkeiten befürchteten.“ 1152 Im Laufe der Konsolidierung der Seebäder und des Ausbaus ehemaliger Bauern- und Fischerdörfer zu Fremdenverkehrsorten, mit dem die traditionellen Wirtschafts- und Lebensformen eine dauerhafte Umgestaltung erfuhren, wurde die Identität der Alteingesessenen zunehmend in Frage gestellt. Noch um 1900 kam es zu Konflikten zwischen den Badegästen, die in zunehmendem Maße auch Eigentümer und dauerhafte Bewohner der Badeorte wurden, und den Alteingesessenen vor allem in den jüngeren mecklenburgischen Seebädern und zwar um nun infrage gestellte angestammte Rechte und angesichts der bröckelnden sozialen Homogenität in den Dörfern. 1897 berichtete das Großherzogliche Ministerium der Finanzen in Schwerin zu einem Streit um die Anlage von Häusern im Dünengebiet von Brunshaupten/ Arendsee zur Kompetenz der Gemeinden: „Derartige Gemeinden haben nur selten ein richtiges Urtheil über ihr wahres Bedürfniß, wissen auch die Interessen ihrer Bewohner, wie vorliegenden Falles der Fischer in Arend- 1150 Fontane, Kinderjahre, S. 86. 1151 Fontane, Kinderjahre, S. 87. 1152 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2559, Schreiben an den Minister der geistlichen Angelegenheiten vom 17.9.1862. <?page no="274"?> 3.4 Vom Fischer zum Badediener - Transformation von Lebenswelten 273 see, nicht zutreffend zu würdigen.“ 1153 Zehn Jahre später (1907) schilderte ein großherzoglicher Beamter die Konflikte zwischen den neu Hinzugezogenen, die aus höheren sozialen Schichten stammten, und den Alteingesessenen als Konflikt im Kampf um die politischen Machtpositionen in dem kleinen Fischerdorf Arendsee. Über die Wahl des Ortsvorstehers bemerkte man: „Übrigens sind alle intelligenteren Badewirte, auf die doch selbstverständlich nur die Wahl gelenkt werden kann, verhältnismäßig neue Zuzügler, weshalb wir in Ehrfurcht bei unserer Ansicht beharren, dass es richtig ist, nur die Tüchtigkeit der zu Wählenden in Betracht zu ziehen und nicht die Dauer seines Wohnens im Orte.“ 1154 Alle diese Entwicklungen erfolgten unter dem ökonomischen Druck, dem die zumeist sehr arme Bevölkerung der Fischer- und Bauerndörfer ausgesetzt war und der sich durch eine im 19. Jahrhundert ständig wachsende Bevölkerung noch verschärfte. Wo diese Voraussetzungen nicht in diesem Maße gegeben waren, konnten die Konflikte durchaus anders verlaufen. In Travemünde, wo dieser Druck dank den Lotsen- und Schifferdiensten geringer erschien, wehrte man sich darum zunächst wegen der befürchteten Teuerung gegen die Gründung eines Seebades. 1155 Und auf dem Darß, auf dem die Schiffer bis Mitte des 19. Jahrhunderts viel Geld mit dem Schiffbau und als Schiffseigentümer verdienten, sorgte erst der Niedergang der Segelschifffahrt ab Mitte des 19. Jahrhunderts für die schon zuvor vom einheimischen Arzt vergeblich versuchte Gründung einer Badeanstalt. 1156 Wünschenswert wäre es, diesen Prozess über das 19. Jahrhundert hinweg zu verfolgen, was angesichts der dürftigen Quellenlage hier nicht möglich ist. Einen Eindruck, wie und mit welchen Folgen sich die wirtschaftliche Situation der Orte entwickelte, liefern mit Blick auf das erste Drittel des 20. Jahrhunderts die Dissertationen von Kurt Wöhl und in gewissem Umfang auch die von Heinz Daebeler. 1157 1153 LHA Schwerin, Sign.: 5.12-3/ 1, Mecklenburg-Schwerinsches Ministerium des Innern, (1849-1945), 7038 Titel: Ministerium des Innern. Acta betreffend die Landgemeinde Ostseebad Arendsee, 1881-1912, Nr. 166, Schreiben vom 17.2.1898. 1154 LHA Schwerin, Sign.: 5.12-3/ 1, Mecklenburg-Schwerinsches Ministerium des Innern, (1849-1945), 7038, Titel: Ministerium des Innern. Acta betreffend die Landgemeinde Ostseebad Arendsee, 1881- 1912, Nr. 207, 26.3.1907. 1155 Lieboldt, Travemünde, S. 91. 1156 Vgl. Carl Johann Friedrich Peters: Das Land Swante-Wustrow oder Das Fischland. Eine geschichtliche Darstellung 3, von Heinrich Lange überarbeitete Auflage, Ribnitz 1926. 1157 Wöhl, Ostseebäder; Daebeler, Fremdenverkehr, Schwerin 1938. Vgl. dazu in dieser Arbeit auch Kap. 4.2. <?page no="275"?> 3 Durchführung: Die Konstruktion des Ostseebades 274 Zwischenresümee II Auf der im 2. Kapitel ausgeführten Doppelstruktur geologischer Realitäten und der Neuinterpretation von Naturräumen konnte, das sollte das eben vorgestellte Kapitel verdeutlichen, aus der Idee des Ostseebades ein realer Heil- und Kulturraum entstehen. Mit dem gut vorbereiteten Experiment von Heiligendamm-Doberan begann 1793 die Erfolgsgeschichte der deutschen Ostseebäder. Von Beginn an erfolgte die Etablierung der Badeanstalten unter der Obhut von Medizinern, allen voran der erste deutsche Seebadearzt Dr. Samuel Gottlieb Vogel in Doberan-Heiligendamm. Diese Badeärzte konnten mit ihren beschränkten Mitteln zwar nicht die Infrastruktur von Seebädern prägen; sie waren aber in ihrer Funktion als Badeärzte, als Schriftsteller und Mitglieder der Badeverwaltungen hauptverantwortlich für den Prozess der Medikalisierung des Küstenraumes. Natürliche Umwelteinflüsse und zeitgenössische wissenschaftliche Standards wuchsen unter ihren Händen zu einem neuen Heilkonzept zusammen. Die Prämissen dabei lauteten Natürlichkeit und Körperschulung nach neuen, tendenziell bürgerlichen Wertvorstellungen, wie sie bereits vorher vor allem aus dem Mutterland des Seebades, England, bekannt waren. Die Heilindikatoren formten den Raum - in seiner baulichen Struktur als Nebeneinander von spezifischen Gebäuden für einerseits die verschiedenen Badevorgänge und andererseits die der gesellschaftlichen Kommunikation. Beides, konkrete Heilhandlung im und mit dem Wasser und die Badegesellschaft wurden dabei als notwendige Bestandteile der Kur verstanden und propagiert. Medizinisch bedeutete das die möglichst schamfreie Behandlung des gesamten Körpers im kalten Seewasser. Sozial hieß das die Umsetzung einer tendenziell liberalen Kurgemeinschaft, die nichts von Standesschranken wissen sollte. Beides, Schamfreiheit und freie Kurgemeinschaft, ließen sich, differnziert von Ort zu Ort, nur in eingeschränktem Maße umsetzen. Die Aufhebung von Konventionen als Ausdruck aufklärerischer Gesinnung blieb in den vielen neuen Formungsversuchen der Sattelzeit ein hoffnungsvolles Versprechen, das sich mit der Etablierung der Seebäder zunehmend in strengeren Formen verlor. Nicht zuletzt zeigen das die geschlechtsspezifischen Reglementarien in den Bädern, aber auch der veränderte Umgang mit den einheimischen Fischern, deren Lebenswirklichkeit zunehmend von den Badegästen und ihren Bedürfnissen bestimmt wurde. <?page no="276"?> 275 4 Formen der Verfügbarkeit Die bisher untersuchten geografischen und sozialen Strukturen sind indes nicht alles. Es ging bei der Etablierung der Seebäder auch um die Frage von Verfügbarkeit. Verfügbarkeit in mehrfacher Hinsicht. Zum einen technisch im Sinne der Möglichkeit, den Raum zwischen Quell- und Zieldestination der Besucher so zu verringern, dass die Reise ins Seebad eine reale Option auch für die war, die nicht in der Küstenregion wohnten. Verfügbarkeit zum anderen aber auch als die Frage nach ökonomischem Kapital, das zur Errichtung und Erhaltung der Kuranlagen nötig war und von dem die weitere Entwicklung der einzelnen Bäder wesentlich abhing. Der glänzende Start von Heiligendamm blieb allein aufgrund seiner immensen Förderung durch den regierenden Herzog von Mecklenburg-Schwerin für die nachfolgenden Gründungen aus unterschiedlichen Gründen nicht wiederholbar. Es mussten also alternative Finanzierungsmodelle gefunden werden, sollten die Badeanstalten etabliert werden. Dies hing nicht zuletzt davon ab, in welchem Maße sich staatliche Stellen an der Finanzierung beteiligten und inwieweit sich private Investoren fanden, um in ein risikoreiches Projekt, wie es ein Seebad war, Geld zu investieren. Die Verfügbarkeit finanzieller Ressourcen führt zu der abschließend untersuchten Frage nach der Konkurrenz innerhalb der Ostseebäder. Der zunehmende Druck um die Gunst der zahlenden Badegäste bedingte alternative Strategien, um die verschiedenen Besuchergruppen an das Seebad zu binden. Diese gilt es im Folgenden darzustellen und zu analysieren. 4.1 Mobilität und Raumtransformation Ohne die Revolution im Verkehrswesen des 19. Jahrhunderts wäre das Ostseebad ein regionales Phänomen geblieben. Allein mit den Bewohnern der dünn besiedelten Küstenregion hätte sich nicht eine derartige Fülle von Seebädern gründen und unterhalten lassen. 1158 Nur die Anbindung an die südlicher gelegenen Ballungsräume bis nach Schlesien, Sachsen, Thüringen, Hannover, dazu an die beiden Großstädte Hamburg und Berlin, konnte eine hinreichende Anzahl von Besuchern garantieren, um die Seebäder, die ihr Einkommen fast ausschließlich während der kurzen 1158 Vgl. dazu Daebeler, Fremdenverkehr, S. 10ff. <?page no="277"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 276 Badesaison von Juni bis September bestritten, ökonomisch am Leben zu erhalten. 1159 Ende des 18. Jahrhunderts, mit der Gründung Doberan-Heiligendamms, waren die Möglichkeiten, aus dem weiter entfernten Binnenland die Küste zu erreichen, an viel Zeit, viel Geld und eine robuste physische Konstitution gebunden. Eine Zunahme der Zahl an Badegästen ließ sich nicht ohne eine Verringerung des Raumwiderstandes erreichen. Ein öffentliches Seebad konnte nur dort entstehen, wo eine ausreichende Anzahl von Badegästen es leicht erreichen konnte und zwar vorrangig in der Nähe einer verkehrstechnisch gut erschlossenen Stadt an der See. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die frühen Ostseebäder wie Travemünde, Warnemünde, Swinemünde, Kolberg, Düsternbrook bei Kiel, Zoppot oder Cranz im Umfeld größerer Städte entstanden. Wenn die Erschließung der Ostseeküste als Erholungsraum auch den großen Schüben der Industrialisierung vorausging, ist doch erst mit deren Folgen die überregionale Erschließung des Küstenraumes möglich geworden. Bis dahin waren längere Reisen in einem uns heute schwer vorstellbaren Maße kosten- und zeitintensiv und vor allem äußerst unbequem. Nipperdey fasste das prägnant zusammen: „Um 1800 waren die Transportverhältnisse in Deutschland ganz unzulänglich, die Klagen über das Elend der miserablen Straßen, der Langsamkeit von Postkutschen und Wagen, über Unternehmer, Arbeiter, Wirte, Behörden, die daran verdienten, über Grenzstationen, sind Legion.“ 1160 Im Vergleich mit dem Vorbild des modernen England war besonders der gering besiedelte norddeutsche Küstenraum infrastrukturell noch bis weit in das 19. Jahrhundert denkbar schlecht entwickelt. Bis auf die wenigen größeren Hafenstädte - wie Kiel, Travemünde, Wismar, Rostock, Swinemünde, Kolberg, Danzig, Königsberg -, die wegen ihrer Bedeutung als Handelsknotenpunkte in der Regel über eine bessere Anbindung auch ins Landesinnere verfügten, dominierten ungenügend ausgebaute und oft schlecht in Stand gehaltene Straßen. Dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der gesamten deutschen Ostseeküste ca. 100 Seebäder existier- 1159 Die Städte waren nicht nur wegen ihrer absolut größeren Anzahl von Einwohnern für die Entwicklung der Bäder nötig. Vielmehr stand auch die städtische Form des Gelderwerbs in der Regel einem Kuraufenthalt im Sommer nicht entgegen, wogegen die Badesaison für Bewohner ländlicher Regionen mitten in die arbeitsintensive Erntezeit fiel. Zur Bevölkerungsverteilung im Deutschen Bund vgl. auch Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch I., hg. von Jürgen Kocka und Gerhard A. Ritter, München 1982, v.a. S. 21ff. 1160 Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 189. <?page no="278"?> 4.1 Mobilität und Raumtransformation 277 ten und diese jährlich Hunderttausende Besucher anzogen, 1161 wäre ohne eine umfassende Modernisierung der Verkehrsmittel und -wege, ohne den Ausbau von Straßen, die Erfindung der Dampfschiffe und später den Bau von Eisenbahnlinien, nicht möglich gewesen. Verkehrstechnische Innovationen und die „Versachlichung und Systematisierung des Dienstleistungsangebotes“ 1162 im 19. Jahrhundert kamen so direkt der Entwicklung der Seebäder zugute. Denn nur wenige potentielle Kurgäste hatten das Glück etwa der Kieler Bürger, wo „die Badeanstalt selbst nur eine Viertelstunde entfernt [von der Stadt Kiel, H.B.] liegt“. 1163 Entsprechend bedeutete die mit wachsender Entfernung zunehmend schlechtere Erreichbarkeit der Seebäder zugleich ein wirksames „natürliches“ Distinktionselement. Selbst die Fahrt von Lübeck nach Travemünde oder von Rostock nach Warnemünde war mit der Gründung dieser Bäder noch beschwerlich und nicht ohne einigen, auch finanziellen, Aufwand zu leisten. Reiste man von weiter her an, erhöhten sich die Kosten. Da die Seebäder geografisch unabänderlich am Meer lagen, stand so von Beginn an für jeden Reisenden auch die Entfernung zum nächsten Seebad fest. Doch die Schwierigkeiten betrafen nicht nur die Reise an sich, sondern setzten sich aus einer Fülle von Gründen zusammen, die die Durchführung einer Badekur erschwerten. Hans Heinrich von Held fasste die emotionale Abwehr gegen die Reise in seinem 1804 erschienenen Werk über das Seebad in Kolberg zusammen. Die Hauptschwierigkeit „ist die, den kränklichen, ängstlichen, peinlichen, unbegüterten von Geschäften gedrängten, hypochondrischen besonders eigene Scheu, sich einer Cur wegen, auf einige Zeit, nach einem fremden Orte zu verfügen, wo sie keinen Freund, keinen Rathgeber, keinen Bekannten haben. Das Unternehmen scheint ihnen gar zu zeitfressend, zu kostspielig, zu anstaltenvoll, zu umständlich. [...] Sie fürchten sich, ihre Häuslichkeit, ihre Gewohnheiten, ihre Bequemlichkeiten, wovon sie abhängig sind, zu verlassen und nichts davon anzutreffen. Colberg ist weit.“ 1164 Dabei muss man sich vor Augen halten, dass sich die Etablierung der ersten Generation von Ostseebädern mit der Kutsche, und nicht erst unter dem deutlich später spürbar werdenden Einfluss der Eisenbahn vollzog. Nicht nur die nach Heilung suchenden Einzelpersonen machten sich Gedanken über die Lage und Erreichbarkeit der Seebäder. Ein Interesse an günstig gelegenen Kurorten hatten auch z. B. die preußischen Behörden, die den Plan verfolgten, nach 1161 „Der Besuch der deutschen Ostseebäder betrug im Jahre 1880 20.000 Badegäste und hat, stetig wachsend, im Jahre 1913 die Zahl von 460.000 erreicht.“ Verband deutscher Ostseebäder, Begleiter, S. 4. 1162 Roth, Eisenbahn, S. 17. 1163 Pfaff, Kiel, S. 72. 1164 Held, Colberg, S. 31. <?page no="279"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 278 dem Doberaner Vorbild ein Seebad zu gründen, das für möglichst viele Untertanen der preußischen Krone gut erreichbar sein sollte. Ziel war nicht die Etablierung eines mondänen Kurortes, sondern eine günstige Heilanstalt für alle Stände. Da man die große Nachfrage nach den Seebädern kannte, die Haushaltslage aber, wenn überhaupt, nur die Gründung einer Anstalt erlaubte, stellte sich von Anfang an die Frage, wo dies an der langen preußischen Küste geschehen sollte. Das Anliegen war, einen Ort zu finden, der aus allen, wenigstens aber den östlicheren preußischen Provinzen, gut zu erreichen war. Dass die Entscheidung schließlich zugunsten der bedeutenden Hafenstadt Danzig fiel, verwundert daher nicht. In einem Schreiben aus dem Jahr 1802 an König Friedrich Wilhelm III. hieß es dazu: „Die Hauptbedenklichkeit bey der von mir in Vorschlag gebrachten Anlage bleibt immer [...] die Entfernung derselben von Ewr. Königlichen Majestät deutschen Staaten, die Entfernung von Berlin und den mehr west- und südwestlich belegenen Provinzen ist freilich bedeutend, allein dies Übel, wird nach meinen Dafürhalten dadurch wenn nicht gehoben, so doch sehr verringert, dass in Beziehung auf den Seestrand Danzig als der Mittelpunkt vom größten Theil von Ewr. Königlichen Majestät Staaten betrachtet werden kann, dass dieser Ort, seiner sonstigen Wichtigkeit wegen viele Menschen an sich zieht, dass man daselbst auf Besuche von Russischen und Österreichschen Untertanen aus denen neu aquirierten Provinzen, welche des Handels wegen schon häufig nach Danzig kommen, mehren kann, und dass endlich ein großer Theil von Ewr. Königlichen Majestät Untertanen aus den dießseitigen Provinzen, wenn sie bis an die Pommersche Küste reisen, des vielfältigen Interesses wegen, das die Stadt Danzig hat, auch wohl bis dahin reisen dürften.“ 1165 Diese Überlegungen bestimmten zunächst auch die Förderpolitik der preußischen Regierung, sollten aber schließlich für die tatsächlich angelegten Seebäder in den preußischen Provinzen nur wenig Relevanz haben. Eine zentralisierte Seebadplanung und -förderung sollte es in Preußen nicht geben. Erschien für die Ärzte in ihrem Disput um die Heilkraft des Salzwassers jegliche Vermischung mit Flusswasser schädlich oder doch wenigstens der Heilkraft abträglich, so begünstigte die verkehrstechnisch günstige Lage vieler Seebäder an Flussmündungen deren Entwicklung entscheidend. Die enge infrastrukturelle Verbindung von einem Seebad zur Hafenstadt oder deren Zusammenfall, wie bei Swinemünde und Kolberg, gehörte zu den Grundbedingungen für die weitere Entwicklung der frühen Seebäder. In einer Stellungnahme für den preußischen König aus dem Jahr 1800 hieß es dementsprechend, man wolle gemäß Höchster Cabinetts- 1165 GStA, Rep. 96 A 118 X, Schreiben vom 8.3.1802. Ähnlich wurde in einem Schreiben an den Minister der Finanzen Graf von der Schulenburg vom 8.3.1801 argumentiert. Vgl. GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546. <?page no="280"?> 4.1 Mobilität und Raumtransformation 279 Ordre „die Anlage einer solchen Badeanstalt in einer angenehmen Gegend in oder bei einer an der Ostsee belegenen Pommernschen Seestadt näher [...] erwägen und darüber gutachterlich [...] berichten“. 1166 Die günstige Anbindung eines Seebades versprach aber nicht nur eine bequeme und schnelle Anreise, sondern auch die nötige Versorgung des Seebades mit allen nötigen Dingen für Unterkunft, Verpflegung und Unterhaltung. So begründet man in einem Visitationsbericht von 1801 die Entscheidung für ein preußisches Seebad in Kolberg mit dem geringeren Kostenaufwand: „An den Kosten der letzten [Logier- und Versammlungshäuser, H.B.] kann gespart werden, wenn in Hinterpommern der Badeort in der Nähe einer Stadt gewählt wird; die Lage von Colberg scheint bis jetzt von allen die günstigste dazu zu seyn.“ 1167 Andersherum lässt sich schließen, dass abgelegene und infrastrukturell schlecht erschlossene Räume, etwa große Teile der hinterpommerschen Küste, der Darß und Zingst, Teile der Usedomer und Wollinschen Küsten, Partien der schleswigholsteinischen Ostseeküste, bei einer engeren Anbindung an eine große Stadt bedeutend früher als Kurorte „entdeckt“ worden wären, eine ausreichende Nachfrage vorausgesetzt. Freilich zeigt ein Beispiel wie Heiligendamm auch, dass diese Voraussetzung alleine nicht genügte und unter großem finanziellen Einsatz auch andere, exklusive Räume erschlossen werden konnten. 1168 Zum Entscheidungsträger wurde letztlich das Badepublikum, indem es sich „seine“ Seebäder nach verschiedenen Kriterien selbst auswählte. Von zentraler Bedeutung war und blieb dabei die gute Erreichbarkeit. Dass auf den Inseln Usedom und Rügen die mit Abstand meisten Seebäder entstanden, hatte seinen Grund auch in der Nähe der größten Stadt im Ostseehinterland, Berlin. 4.1.1 Verkehrswege - Verkehrsmittel Welche große Veränderung der Bau von Chausseen, also dauerhaft befestigten, ebenen und das Wasser ableitenden Straßen, bedeutete, zeigen die unzähligen Berichte 1166 GStA, Rep. 96 A, 117Q, Schreiben vom 22.12.1800. 1167 GStA, Rep. 96 A 117Q, Schreiben vom 26.7.1801. 1168 Badearzt Vogel begründete die Notwendigkeit eines Seebades in Doberan-Heiligendamm auch damit, dass schon seit einigen Jahren „eine ansehnliche Gesellschaft von Fremden aus Rostock, Schwerin, Güstrow, sogar aus Hamburg hier versammelt und aufgehalten, um Brunnen zu trinken, in der nahen See zu baden oder sonst die Gesundheit zu pflegen“. Zit. nach Prignitz, Badekarren, S. 20. <?page no="281"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 280 über schlechte Naturstraßen im 18. und bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. Besonders längere Strecken wurden den Reisenden zur Tortur. 1169 Der schwedische Reisende Per Daniel Atterbom schilderte kurz nach den Befreiungskriegen seine Reiseerfahrungen mit der Postkutsche auf der Fahrt von der Hansestadt Greifswald nach Berlin. Verkehrsmittel, Verkehrswege, die sozialen Begegnungen, die sich während solch einer Reise ergaben, fanden Eingang in den Leidensbericht des Schweden, der damit auch eine wichtige Reiseroute von Berlin durch die Mark Brandenburg an die Ostsee beschrieb. Atterbom notierte: „Willst Du Dir einen klaren Begriff vom Postfahren machen, dann betrachte das folgende kleine Bild: Man wird in einen ungeheuren, mehrsitzigen Wagenrumpf gepackt, der bedeckt, aber sonst in jeder Hinsicht unbequem ist, zusammen mit einer Menge Personen von allen möglichen Sinnesstimmungen, Ständen, Vermögen, Jahren und beiderlei Geschlechts; […] In dieser Weise wird man ganz piano von vier phlegmatischen Pferden fortgezogen, von denen das eine die Ehre hat, auf seinem Rücken einen livreegeschmückten Lümmel zu tragen, der den Titel Schwager führt und unaufhöhrlich mit einer himmelstürmenden Fuhrmannspeitsche in der Luft umherknallt, ohne dass deshalb die Reise auch nur im geringsten schneller ginge. Die Wege sind freilich nicht zum Schnellfahren eingerichtet, am wenigsten in der Mark Brandenburg und je näher nach Berlin zu. Die Pferde waten Schritt für Schritt durch schwellenden Sand.“ 1170 In der umgekehrten Richtung im Jahr 1795 unterwegs nach Rügen, klagte der Berliner Oberkonsistorialrat Johann Friedrich Zöllner über die Sandwüste Brandenburg und die schlechte verkehrstechnische Erschließung: „So muss ich gestehen, dass die sichtbare Zunahme der Kraftlosigkeit unseres Vorspanns wohl auch in einigem Zusammenhange mit dem dortigen Sande stehen mochte, der an Tiefe, ich möchte sagen, an Grundlosigkeit, seines gleichen selbst in der ganzen übrigen verrufenen Gegend unseres lieben Berlin sucht. Und das Schlimmste ist, dass man da schwerlich an Besserung gedenken kann. [...] Und um diesen Trostgrund recht tief zu fühlen, dachte ich an […] den Engländer, der mir vor acht Jahren, gerade hier im tieffsten Sande, eine hochtönende Lobrede auf die herrlichen Kunstwege in seinem Vaterlande hielt.“ 1171 In Preußen begann man erst am Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Bau von Chausseen, wie sie in England, Frankreich, aber auch in Süddeutschland schon län- 1169 Kutschfahrten als Rüttelmaschinen wurden wegen der erheblichen physischen Anstrengung schließlich sogar als Teil der unbeliebten gymnastischen Leibesübungen betrachtet.Vgl. Bergdolt, Leib und Seele, S. 251. 1170 Atterbom, Reisebilder, S. 34. 1171 Zöllner, Reise, S. 2f. <?page no="282"?> 4.1 Mobilität und Raumtransformation 281 ger verbreitet waren. 1172 An der dünn besiedelten deutschen Küstenregion blieben die Straßenverhältnisse bis weit ins 19. Jahrhundert hinein häufig katastrophal. Viele der Wege zu den kleinen Orten an der Ostsee bestanden bis dahin nur aus losem Sand, in dem Fußgänger, Pferde und Kutschen versanken. Bei Nässe wurde der Weg aufgeweicht und erschwerte das Befahren zusätzlich. An anderen Orten führten die Wege durch morastiges Land. So hieß es in einem Visitationsbericht zur Anlage des Seebades Deep über die Anbindung des kleinen Fischerortes an die nahe Stadt Treptow in Hinterpommern: „Der Weg von Deep nach Treptow ist so außerordentlich schlecht, dass nur genau bekannte Fuhrleute ihn mit Sicherheit passieren können“. 1173 Auch könne man diesen Weg nur bei gutem Wetter befahren, „da er eine halbe Meile weit über Moorgrund führt“. Ab den 1820er Jahren wurde dann das preußische Chausseennetz zügig ausgebaut. 1174 Freilich waren von diesem Bauprogramm selten die kleinen Orte erfasst. Auf den Inseln Usedom und Wollin etwa begann man erst Anfang der 1850er Jahre mit dem allmählichen Ausbau fester Straßen, die die bis dahin existierenden Sandwege ersetzen sollten. 1175 Die im Unterschied zu den bisherigen Wegen aus Kies und Stein aufgeführten sogenannten Kunststraßen sparten Zeit und bedeuteten einen spürbar größeren Reisekomfort. Vor allem aber führten sie den Zeitgenossen die damit einsetzende ungeheure Veränderung in der Wahrnehmung von Zeit und Raum vor Augen. Erstmals erschien es nun möglich, sicher und schnell den Raum zu durchqueren und Abfahrts- und Ankunftszeit einer Reise zu bestimmen. Heimat- und Zielort rückten einander näher, während die Zwischenräume damit zugleich an Wert verloren und zu bloßen Transiträumen herabsanken. Schnelle, regelmäßig verkehrende Postkutschen zerschnitten auf den neuen Straßen den vorher so trägen Raum, der jetzt Ausgangs- und Endpunkt der Reise mit ungeahnter Geschwindigkeit zusammenführte. Im 1827 erschienenen Reisebericht des Berliner Professors Daniel Stein spürte man das freudige Erstaunen ob der neuen Schnelligkeit: 1172 Vgl. dazu Roth, Eisenbahn, S. 22. Zu den auch in Berlin nur langsam sich verbessernden Straßenverhältnissen vgl. Ilja Mieck: Die werdende Großstadt Berlin. Berliner Verkehrsprobleme in der Biedermeierzeit. In: Der Bär von Berlin 9, Berlin 1960, S. 49-68, hier S. 51-53. Dazu auch Thiel, Urbane Räume, S. 49-53. 1173 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 1.1.1823. 1174 „Allein von 1825 bis 1834 entstanden 8.500 km neuer Chausseen, die mit einem Kostenaufwand von zwölf Millionen Thalern gebaut wurden.“ Roth, Eisenbahn, S. 22. 1175 Vgl. Oestreich: Gewerbe, Handel und Verkehr. In: Peter August Rolfs (Hg.): Die Insel Wollin. Ein Heimatbuch und Reiseführer, Bd. 1, Swinemünde 1933, S. 146f.; Arthur Friedrich: Volkswirtschaft. In: Peter August Rolfs (Hg.): Die Insel Usedom. Ein Heimatbuch und Reiseführer, Bd. 2, Swinemünde 1933, S. 90. <?page no="283"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 282 „Wo man sonst im Sande langsam dahin schlich, fährt man jetzt in raschem Lauf; was sonst Ewigkeit dünkte, ist jetzt fast Augenblick. So verändert die Zeit, die Alles verbessert, auch die Wege, so rücken Räume einander näher, so verschwinden fast die Entfernungen.“ 1176 Der Bau von Chausseen wurde bereits von den Zeitgenossen als Ursache für die Erschließung neuer Räume wahrgenommen. Bis dahin lagen die Vergnügungsorte, wo man „nach den überstandenen Mühen der Woche den Tag der Erholung genießen will“, 1177 notgedrungen nur wenig außerhalb der Stadtmauern. Mit dem Ausbau des Straßenverkehrsnetzes wandelte sich dagegen die Beziehung zwischen den städtischen Zentren und den peripheren Küstengebieten. Ihre Anbindung über das Verkehrswegenetz der Chausseen führte sie räumlich und damit mental allmählich näher an die Stadt heran. In der 1823 veröffentlichten ersten Badeschrift über das nahe Danzig gelegene Zoppot hieß es: „Die Chaussee nach Danzig bis Katz hinter Zoppot wird noch in diesem Jahr fertig. Der Weg über Oliva war früher wegen des tiefen Sandes höchst ermüdend, der kürzere über Conradshammer zu einsam, und diesem Umstande ist es hauptsächlich zuzuschreiben, dass Zoppot nicht schon früher in die Aufnahme gekommen ist, die es im vollen Maaße verdient.“ 1178 Erst damit wurde Zoppot, in dem bereits vorher wenige Badegäste weilten, zum beliebten Seebad der Danziger. 1179 Auch für das von den Königsbergern besonders geschätzte, ca. 28 Kilometer entfernte Seebad Cranz begann man 1826 mit dem Bau einer Chaussee, die allerdings erst 1852 fertig gestellt wurde. 1180 Bereits früher, als es die Frage nach dem am besten geeigneten Ort für eine Seebadgründung nahe Königsberg zu beantworten galt, entschied man sich trotz einiger Nachteile für Cranz, „denn es liegt auf einer großen besuchten Poststrasse“ 1181 . Und noch vor dem Bau der Chaussee wird 1818 mit Unterstützung der Königsberger Regierung eine „Personen-Post“ eingerichtet, „welche 3mal wöchentlich nach Cranz hin und an dem nehmlichen Tage zurück nach Königsberg“ 1182 verkehrte. Ziemlich genau zehn Jahre nach der offiziellen Seebadgründung wurden mit der Chaussee noch einmal deutlich bessere Reisemöglichkeiten für die Königsberger Gäste geschaffen, ehe 1885 der Eisenbahnanschluss zwischen beiden Orten faktisch eine Vorort-Verbindung schuf. 1176 Stein, Reise, S. 1. 1177 Haffner, Zoppot, S. 16. 1178 Haffner, Zoppot, S. 31 1179 Vgl. Schultz, Chronik, S. 55. 1180 Vgl. GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben der Königlichen Regierung zu Königsberg vom 28.3.1854. 1181 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben der Regierung zu Königsberg vom 8.2.1817. 1182 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben der Regierung zu Königsberg vom 13.11.1818. <?page no="284"?> 4.1 Mobilität und Raumtransformation 283 Zusätzlich zu dieser Modernisierung der Verkehrswege setzte auch ein Wandel der Verkehrsmittel ein. Bessere Kutschen boten mehr Komfort und eine höhere Re is ege sc hw in di gke it. D ie S chn ell po st w ar, n ebe n ih re r nam ens geb end en z ügi ge re n Fahrweise, „angenehmer und bequemer“. 1183 Wenn man von Berlin nach Swinemünde über Stettin auf der 1822 fertiggestellten Chaussee fuhr, war dies zwar teurer als auf den noch lange parallel benutzten schlechten Wegen, bedeutete aber einen deutlichen Gewinn an Komfort und Schnelligkeit. Mit neuen Kutschen erreichte man auf den Chausseen eine Durchschnittsgeschwindigkeit von zehn Kilometern pro Stunde, was ungefähr einer Verdoppelung der bisherigen Geschwindigkeit entsprach. 1184 Das alles hatte aber auch seinen Preis, der jetzt mittels fester Tarife erhoben wurde. 1185 Dr. Kind riet in seiner Badeschrift ausdrücklich von einer heute wohl nur noch schwer nachvollziehbaren Idee einer Fußreise von Berlin nach Stettin ab, und das mit dem schlichten Argument, dass die Route „nicht durch schöne Gegenden führt“. Selbst für rüstige, junge Wanderer, die große Tagesmärsche absolvieren könnten und ein Seebad besuchen wollten, wäre der Fußmarsch nach Stettin „nachtheilig, und auf keine Weise zu empfehlen“. 1186 Chaussee und Schnellpost verbanden sich für die Reisenden aber auch mit neuartigen Einschränkungen und Auflagen. Mitgeführte Gepäckmengen wurden festgelegt: „Gewöhnlich hat der Reisende auf Fahrposten 10, und auf Schnellposten 20 Pfund frei, die er unter seiner Aufsicht behalten muss, [...] das übrige Gepäck des Reisenden muss [...] spätestens 2 Stunden vor Abgang der Post aufgegeben und frankirt werden.“ 1187 Strikte Auflagen galten angesichts des sozialen Mikrokosmos im Postwagen auch für persönliche Vorlieben, „Tabak zu rauchen und große Hunde in dem Wagen mitzunehmen, ist dem Reisenden untersagt“. 1188 Der neue Komfort war teuer und um den schnellen Fahrtakt zu gewährleisten, verlangte die Reisepost zudem die disziplinierte Einhaltung der Abfahrtszeiten. Mit der „Normierung der Raum-Zeit-Relationen“ 1189 1183 Stein, Reise, S. 1. 1184 Vgl. Roth, Eisenbahn, S. 22. 1185 Für eine Reise mit der Schnellpost von Berlin nach Stettin zahlte man fünf Reichsthaler und siebeneinhalb Silbergroschen. Eine einfache, „ordinaire“ Fahrpost kostete noch vier Reichsthaler, vier Silbergroschen und sechs Pfennige. Deutlich teurer war die gemietete Kutsche für Einzelpersonen oder Familien, die für die Fahrt zwischen Berlin und Stettin zwischen 14 und 18 Reichsthalern bezahlten. Vgl. Kind, Swinemünde, S. 86. 1186 Kind, Swinemünde, S. 87. 1187 Stein, Reise, S. 2. 1188 Stein, Reise, S. 3. 1189 Roth, Eisenbahn, S. 18. <?page no="285"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 284 war der Reisende zu einer standesübergreifenden Norm der Pünktlichkeit verpflichtet. Das vorher zu beschaffende Billet für die Reise verfiel bei unpünktlichem Erscheinen. Der Reisende müsse „sich zur rechten Zeit auf dem General-Postamte einzufinden, sonst bleibt er zurück und verliert sein bereits gezahltes Passagiergeld“. 1190 Gleichwohl konnten alle Einschränkungen die Vorteile des schnellen, bequemen Reisens nicht aufwiegen. 1191 Dem kleinen, abseits gelegenen Seebad Apenrade im nördlichen Schleswig bescherte die hier von Hamburg nach Kopenhagen vorbeiführende Hauptstraße eine überregionale Anbindung, die es ermöglichte, dass der Besucher das Seebad mit der zweimal wöchentlich verkehrenden Extrapost „von Hamburg oder Lübeck aus in 24-30 Stunden bequem erreichen kann“. 1192 Auch den drei dicht beieinander gelegenen kleinen Fischerdörfern Ost-, West- und Berg-Dievenow am Ausfluss der Dievenow zwischen der Insel Wollin und Hinterpommern kam bei ihrer Entwicklung zum Seebad ab den 1830er Jahren die Anbindung der nahe gelegenen alten Bischofsstadt Cammin an das Chausseenetz, und damit an Städte wie Treptow und Kolberg, entgegen. 1193 Aber nicht nur die verbesserten Verkehrswege zwischen den großen Städten kamen den Seebädern zugute. So weit es möglich war, bemühte man sich auch seitens der Badeverwaltungen, besonders in den Seebädern, die eine engere Anbindung an eine Stadt besaßen, um eine bessere Verbindung zwischen beiden. Die geringen Wegstrecken zwischen Stadt und Seebad ermöglichten eine eigenständig betriebene Verbesserung der Transportmöglichkeiten durch die Akteure vor Ort. Ein besonderer Fall war hier wieder Doberan-Heiligendamm. Doberan, Sommerresidenz des Mecklenburgischen Herzogs, unweit der prosperierenden Hafenstadt Rostock gelegen, bildete den Ausgangspunkt und das gesellschaftliche Zentrum für das eigentliche, in Heiligendamm befindliche Seebad. Dieses lag ca. 6 Kilometer von Doberan entfernt, die von den Badegästen täglich auf einer eigens erbauten Straße zurückgelegt werden mussten. Schon in den ersten Jahren des Seebades ertönten nicht nur von Seiten der Badegäste Beschwerden über diesen langen Weg. Auch der Initiator des Bades, Professor Vogel, versuchte, diesen unbefriedigenden Zustand wenigstens abzumildern und für mehr Sicherheit zu sorgen. In einer Denkschrift forderte er hinsichtlich verschiedener Aspekte eine Verbesserung der Fahr- und Fußwege. So hieß es: 1190 Kind, Swinemünde, S. 85. 1191 „Die Annehmlichkeiten, welche die Reise mit der Schnellpost überhaupt gewährt, sind zu bekannt, als dass sie hier einer Schilderung bedürften.“ Kind, Swinemünde, S. 86. 1192 Hille, Heilquellen, S. 152. 1193 Henckel, Dievenow, S. 16f. <?page no="286"?> 4.1 Mobilität und Raumtransformation 285 „An der Ecke der Bornemannschen Blanke ein oder ein Paar Pfähle, die Fußgänger vor den Wagen zu schützen, welchen diesen ungesehen plötzlich entgegen kommen, da die Wagenspur zu nahe an der Blanke, wo der Fußsteig ist, vorbeyläuft. XIII.) Sorgfältige Unterhaltung und Verbesserung der Promenade im Holze am Heiligen Damm, besonders Säuberung derselben von altem Grase, damit man hier immer trocken gehen könne. XIV.) Recht sehr ist auch zu wünschen, dass der Fußsteig, welcher neben dem Fuhrwagen durch das Holz am Heiligen Damme herläuft, recht eben gemacht und von allem Grase und Unkraute gereinigt werde. XV.) Darf ich auch einen Fußsteig durch das ganze Holz nach Doberan hin nochmahls in Erinnerung bringen? “ 1194 Obwohl die Wege schließlich ausgebessert werden sollten, blieb für Doberan- Heiligendamm dieses Grundproblem bestehen. Badearzt Sachse rechtfertigte es später mit der ökonomischen Unterstützung für Doberan. Wollte man auch in Heiligendamm entsprechend viele Unterkünfte für die Gäste errichten, würde man damit „eine große Masse von Menschen in Doberan mit einem Federstrich unglücklich machen“. 1195 Für die Gründung des Seebades in der Nähe Doberans sprach zumal, dass hier schon früher Besucher aus Rostock, Schwerin und anderen mecklenburgischen Städten gekommen waren, um den Heilbrunnen zu besuchen und das Naturphänomen des Heiligen Dammes zu besichtigen. 1196 Damit knüpfte man beim ersten deutschen Seebad nur an eine bereits existierende Form städtischen Vergnügens und kleiner, heilsamer Trinkbrunnen auf dem Lande an. In Travemünde, ca. 20 Kilometer vom Lübecker Stadtzentrum entfernt, förderte man die Verbindung zwischen Stadt und Seebad durch eine den Badegästen zur Verfügung gestellte, regelmäßig verkehrende und eigens dafür bestimmte Fahrgelegenheit. In der ein Jahr nach Gründung des Seebades 1803 erschienenen Schrift hieß es: „Zur Bequemlichkeit für diejenigen, die sich durch Geschäftsverhältnisse, oder manche andre Umstände veranlaßt sehen, sich oft auf kurze Zeit von Travemünde nach Lübeck zu begeben, ist eine sehr anständige Gelegenheitsfuhre errichtet, die täglich morgens und abends von beyden Orten abfährt, und die sich schon im vergangenen Jahre durch schnellere Beförderung bey geringem Aufwande selbst den angesehensten Männern allgemein empfahl.“ 1197 In Kiel, wo man sich seit 1803 um die Anlage eines Seebades bemühte, wurde auf Befehl des dänischen Kronprinzen eine Allee von der Stadt zum nahen Düsterbroker Holz an der Kieler Förde angelegt, wo später auf königliche Kosten das Gelände 1194 LHA Schwerin, „Großherzogliche Badeintendantur zu Doberan“, 1794-1905: 2.21.11.-383, Titel: Inventaria des Bade-Hauses 1795-1800, Schreiben vom 21.8.1799. 1195 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 321. 1196 Vgl. Prignitz, Badekarren, S. 20f. 1197 Travemünde, o.V., S. 59. <?page no="287"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 286 für die Seebadeanstalt aufgekauft wurde, die dann allerdings erst 1819 erbaut werden sollte. 1198 Als die Badeanstalt schließlich errichtet war, benötigten die Kieler auf diesem Weg nur noch eine viertel Stunde zu ihrem Seebad. 1199 Anders verhielt es sich in Rügenwaldermünde, dem zu Rügenwalde gehörenden kleinen Hafenort am Ausfluss der Wipper. Der Badearzt und Gründer des Seebades, Dr. Büttner, hatte wiederholt staatliche Unterstützung erhalten, verbunden mit der Auflage, auch Arme und Invalide in seiner Anstalt zu kurieren. Dass sich aber nur eine kleine Zahl Bedürftiger in seinem Badeanwesen einfand, führte man u.a. auf „die Entfernung des selben von der Stadt“ 1200 zurück. Wahrscheinlich bezog man sich bei dieser Feststellung aber eher auf die Qualität des Weges als auf die Überwindung der lediglich 2 Kilometer langen Wegstrecke. Ein anderes Problem stellte sich mit in der Verbesserung der Straßenverhältnisse in den Seebädern. Die Wege in den kleinen Badeorten waren in der Regel in keinem besseren Zustand als die der großen Verkehrsanbindungen. Vor allem der sandige Boden erschwerte die Fortbewegung zu Fuß und in der Kutsche, zumal bei Nässe und im Winter. Zudem lagen die Mündungsorte an den Flüssen und waren nicht zur Ostsee hin ausgerichtet. Wollte man von hier zu den Badeanstalten, bedurfte es der Neuanlage von Wegen. In Swinemünde, so erinnerte sich später Theodor Fontane, bestünden die breiten Wege aus tiefem Sand, nur gelegentlich unterbrochen von mit Gras bewachsenen Flächen. 1201 In Warnemünde, das erst 1859 seine Chausseeanbindung nach Rostock erhielt, 1202 drängte die zuständige Behörde bereits Mitte der 1840er Jahre „auf die Herstellung gang- und fahrbarer Wege und Strassen, vorzüglich zu dem Zweck damit die Badegäste ohne durch Schmutz und Sand zu waten, zu den Badeanstalten und ihren Wohnungen gelangen, auch vor letzteren ohne fortwährend unerträglichem Flugsande ausgesetzt zu seyn“. 1203 Auch auf Rügen, wo sich neben dem fürstlichen Bad Putbus-Lauterbach an der Ostküste ab den 1820er Jahren erste Anzeichen für die Gründung weiterer Seebäder 1198 Vgl. Pfaff, Kiel, S. 5f. 1199 Vgl. Pfaff, Kiel, S. 72. 1200 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben an das Ministerium des Innern vom 31.12.1817. 1201 Vgl. Fontane, Kinderjahre, S. 31f. Fontane lässt seinen Vater in unnachahmlicher Weise die ersten Eindrücke nach der Ankunft in Swinemünde zusammenfassen: „Es wird uns hier schon gefallen. Wenn es nur Mama gefällt. Der verdammte Sand. Aber für die Pferde ist es besser; dabei bleibe ich.“ Ebd., S. 33. 1202 Vgl. Mahn, Fremdenführer, S. 13f. Damit, so Mahn, „kam damit der bisherige Landweg, welcher durch den losen Dünensand im weiten Umweg über das Dorf Diedrichshagen führte, in Wegfall.“ 1203 StA Rostock, Titel „Badeanstalt in Warnemünde“, Bd. 1, 1834-1851, Rat Warnemünde, Sign.: 1.1.3.23.-31, No. 50, Schreiben vom 8.10.1845. <?page no="288"?> 4.1 Mobilität und Raumtransformation 287 wie Saßnitz und Krampas zeigten, 1204 waren die Straßenverhältnisse noch Mitte des 19. Jahrhunderts miserabel. Boll schrieb in seinem Rügen-Führer: „Trotz aller gesetzlichen Fürsorge blieben die rügianischen Wege, bis auf die neueste Zeit hin, grundschlecht“. 1205 In Travemünde verwies der Badearzt 1841 darauf, dass einige der Straßen gepflastert seien, „wenigstens theilweise“ 1206 . In Heringsdorf schließlich, das 1872 aus Privatbesitz an eine Aktiengesellschaft verkauft wurde, sorgte diese notgedrungen als eine ihrer ersten Maßnahmen für den Bau von gepflasterten Straßen. 1207 Aber auch an die Neuerungen der Kunststraßen sollten sich die Reisenden angesichts der allgemeinen technischen Revolution bald gewöhnen. Dort, wo die Eisenbahn verkehrte, verliert diese einst bedeutende Verbesserung schnell die Stellung als schnellster und bequemster Verkehrsweg. Im Rückblick erschien auch die einst komfortable Reise nur noch als nicht enden wollende Mühsal. Therese Devrient berichtete von ihrer Fahrt 1835 von Berlin über Stettin nach Swinemünde. Dort habe man noch wegen der „damaligen entsetzlich langsamen Verkehrsart“ in Neustadt-Eberswalde und Schwedt zwei Mal nächtigen müssen. 1208 Ungeachtet der langsamen und mühevollen Reise motivierten aber die „frohen Erwartungen“ 1209 des Reiseziels, und gelegentlich scheint die Schinderei der Reise als Teil des Ausbruchs aus dem Alltag und der Stadt eine Art Läuterungsfunktion übernommen zu haben. 1210 4.1.2 Dampfschifffahrt Vor allem dort, wo man mit einer Schiffsreise die mühselige Landverbindung umgehen konnte, war die Einführung des Dampfschiffes eine höchst willkommene Erleichterung. Der lästige und langwierige Landweg entfiel, und ähnlich wie die Postkutsche funktionierten die Dampfschiffe auch als Taktgeber einer neuen, in Fahrplänen öffentlich gemachten Zeitstruktur. Die Ankunft der Dampfschiffe zu verfolgen gehörte in vielen Seebädern schnell zum regelmäßigen Programm der Badegäste. Das Dampfschiff, so Bindemann in seinen Erinnerungen an die Badezeit in 1204 Vgl. Boll, Rügen, S. 58ff. 1205 Boll, Rügen, S. 110. 1206 Lieboldt, Travemünde, S. 15. 1207 Vgl. Bresgott, Suburbia, S. 352ff.; Hartwig, Heringsdorf, S. 36. 1208 Devrient, Jugenderinnerungen, S. 386. 1209 Devrient, Jugenderinnerungen, S. 386. 1210 Vgl. dazu auch Marquard, Der angeklagte und entlastete Mensch, S. 53f.: „Das 18. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Reise als eines Ausbruchs in die Unbelangbarkeit und darin - nota bene - Protagonist manch späterer Reisewut, die vom gleichen Motiv lebt, bis hin zum heutigen Tourismus und Wissenschaftstourismus.“ <?page no="289"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 288 Zingst, habe „außer dem interessanten Anblick [...] den Vortheil, dass es hier die Zeit regelt.“ 1211 Für viele Bäder, so die der Inseln Usedom, Wollin und Rügen, erlangt die Dampfschifffahrt von Anfang an eine große Bedeutung. Bereits kurz nach Gründung der Seebäder in Putbus-Lauterbach, Swinemünde und Heringsdorf zu Beginn der 1820er Jahre gehörten die Post-Dampfschiffe zu den bevorzugten Verkehrsmitteln für die vielen Reisenden, die von Süden über Stettin kamen. 1826 lief in Stettin das erste Dampfschiff auf der Oder in Richtung Swinemünde aus. 1212 So war es, zumindest für den größten Teil der Gäste, die aus dem Stettiner und Berliner Raum anreisten, früh eine Selbstverständlichkeit, den heilversprechenden Naturraum, die Ferne des Fischerdorfes, mit dem Sinnbild moderner, technischer Kraft, dem Dampfschiff, zu erreichen. 1213 Dieses, das Wasser gradlinig durchschneidende revolutionäre Verkehrsmittel, von den Straßen wie von den natürlichen Gegebenheiten wie Wind und Wetter unabhängig, verband in der erstmaligen Überwindung organischer Reiseerfahrung die Industrialisierung mit der selektiven Abgeschiedenheit des Badeortes. Mit dem Bewusstsein einer industrialisierten Reise verschärfte sich zugleich der Kontrast zwischen den romantischen Landschaften der Peripherie und der modernen Mobilitätserfahrung, zwischen urbanen Zentren als Ausgangspunkt moderner Zeiterfahrung und dem Grenzraum als Ort sich verlierender organischer Zeitmuster. 1214 Von der neuen Dampftechnik konnten neben Swinemünde vor allem die anderen größeren Mündungsorte wie Travemünde oder Warnemünde profitieren. Hier boten die Hafenanlagen zudem die Möglichkeit, vom Boot direkt an Land zu gehen, während an anderen Orten bis zur Anlage von Seebrücken die Gäste ausgebootet, das heißt von Fischerbooten übernommen und an Land gebracht werden mussten. 1215 1211 Bindemann, Rückblicke, S. 277. 1212 Vgl. Schmidt, Das historische Pommern, S. 19. 1213 Vgl. auch den Bericht des Oberpräsidenten Sack über die rasche Entwicklung des Seebades Swinemünde durch die Badegäste, die zu großen Teilen über Stettin mit dem Dampfschiff anreisen. GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 2.10.1829. 1214 Vgl. Schivelbusch, Eisenbahnreise, S. 19. 1215 Der schwedische Reisende P. D. Atterbom berichtete 1817 von einem solchen Vorgang bei einer Anlandung seines Schiffes nahe Stralsund: „Schließlich hatten wir bloß noch eine halbe Viertelmeile zum Strand, da wurde das Wasser für dieses Segelfrachtschiff ebenfalls zu flach. Wir mussten heruntersteigen in ein Boot, welches diesem Kutter gehörte, ein Boot, das übler war als der schlechteste unserer Einbäume, die doch häufig hinreichend schlecht sind. [...] Wir liefen wieder auf Sand auf; zum Glück konnte man jetzt vorwärts waten, was auch ein Teil der Gesellschaft tat. Baron D’Albedyhll und ich ließen uns an Land tragen, keck reitend auf breiten pommerschen Bootsmannsrücken. In diesem etwas seltsamen Aufzuge erreichte ich Deutschlands Boden.“ Atterbom, Reisebilder, S. 17f. <?page no="290"?> 4.1 Mobilität und Raumtransformation 289 Auch die kleinen Fischerdörfer in der Nähe der von den Dampfern angelaufenen Stationen gewannen durch die neuen Verkehrsmittel. Ost-, West- und Berg- Di ev eno w, di e 182 7 zu sa mm en no ch e ine G es am te inw ohn erz ahl v on 148 P er son en aufwiesen, erhielten durch den Dampferverkehr von Stettin nach der Insel Wollin eine günstigere Anbindung an das Hinterland. Das führte nicht nur zu einem deutlichen Anstieg der Besucherzahlen, sondern begünstigte auch in nur knapp 30 Jahren eine Verdoppelung der Einwohnerschaft. 1216 Auch weniger vorteilhaft gelegene Orte profitierten von dem ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eingerichteten regelmäßigen Dampferverkehr durch private Reedereien. 1217 Doch ähnlich wie die Schnell-Post nicht mehr an allen früher angefahrenen Stationen hielt, verloren manche Orte an Bedeutung auch durch die Einführung des Dampferverkehrs. So stellte für Apenrade die Einführung des Dampferverkehrs einen bedeutenden Standortnachteil dar. Zwar lag der kleine Badeort an der Hauptstraße von Hamburg nach Kopenhagen, die schnellere und bequemere Dampferverbindung führte jedoch nun nicht mehr über Apenrade. So stellte Hille 1838 fest: „Wesentlich nachtheilig auf den Besuch Apenrades, selbst von Dänen, wirkte wohl auch das Zustandekommen und Gedeihen der Dampfschifffahrt, wodurch z.B. Kopenhagen von der Seeseite weit zugänglicher, dagegen die Hauptlandstraße verödet wurde“. 1218 Gingen die neuen Verkehsmittel an einem Seebad vorbei, ließ sich auf eine günstige, vor allem überregionale Weiterentwicklung, kaum mehr hoffen. Auch das kleine Bauern- und Fischerdorf Dahme in der Lübecker Bucht, in dem seit 1853 erste Unterkünfte für Badegäste entstanden, konnte von der eingeführten Dampfschifffahrt nicht profitieren. Ohne eigene Seebrücke hielt das Dampfschiff „Neustadt“ nur in Neustadt und Fehmarn, so dass die Gäste ab Neustadt, das im gleichen Jahr an die Eisenbahnstrecke Hamburg-Kiel angeschlossen worden war, noch 25 Kilometer auf der Straße zurücklegen mussten. 1219 Die bedeutendste Leistung der Dampfschifffahrt bestand für die Zeitgenossen in der Unabhängigkeit von den natürlichen Bedingungen wie Wind und Strömung. Man war damit, wie Dr. Kind bemerkte, nicht mehr wie bei den Segelschiffen „allen bösen Launen der Winde“ 1220 ausgeliefert, obwohl auch die Dampfschiffe noch lange 1216 Henckel, Dievenow, S. 16f. 1217 Schleinert, Usedom, S. 134. 1218 Hille, Heilquellen, S. 155f. 1219 Vgl. dazu Eckert, Dahme, S. 34f. 1220 Kind, Swinemünde, S. 100. <?page no="291"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 290 die Dampfmaschine nur neben dem Segel einsetzten. 1221 Damit wurde, wie schon bei den Postkutschen, die Fahrt auf dem Fluss und an der Küste planbar und relativ unabhängig vom Wetter. Kind empfahl die Seereise nach Swinemünde, da sie „rasch und angenehm“ sei, dagegen „die Landreise über Gollnow und Wollin [...] weit und langweilig“. 1222 In der Reiseliteratur schwärmte man ungebremst von den technischen Möglichkeiten der Dampfmaschine auf dem Wasser. Aller Fortschrittsoptimismus bündelte sich in der ungeheuren mechanischen Kraft, die das Schiff mit Personen, Gütern oder als Schlepper gänzlich unabhängig vom Einfluss des Wetters aufbrachte. Daniel Stein schrieb in seinem Reisebericht ausführlich von den Dampfbooten, denn diese waren die „wichtigsten aller mechanischen Erfindungen der neuern Zeit“, welche „so mächtig in das Gesellschaftsleben der gebildeten Menschen“ 1223 eingriffen. Mit dem durch die Dampfmaschine erzeugten Antrieb bewegte sich das Schiff, und „selbst gegen Wind und Fluth kann ein solches Fahrzeug fast 1 ½ Meilen in 1 Stunde zurücklegen“. Für die Strecke von Stettin nach Swinemünde bedeutete das für die zunächst im Sommer dreimal wöchentlich verkehrenden Schiffe eine Reisedauer von ca. sieben Stunden. 1224 Das Dampfschiff war für 150 Personen ausgelegt und „mit allen Erfordernissen zur Gemächlichkeit und Beköstigung versehen“. 1225 Wie der Oberpräsident von Pommern Johann August Sack 1829 an das Ministerium für geistliche Angelegenheiten berichtete, förderte die neue Verkehrstechnik den Zustrom von Gästen nach Stettin und Swinemünde, aber auch nach Rügen: „Das Dampfschiff war die ganz Zeit hindurch in geordnetem Gange, hat mehrere Reisen nach Putbus gemacht, und so zur Aufnahme auch dieses Seebades beigetragen.“ 1226 Heinrich Laube veranschaulichte in seinen Reisebildern bereits Mitte der 1830er Jahre das besondere Verhältnis Swinemündes zu Berlin: „Swinemünde ist das Seebad von Berlin, wie Scheveningen vom Haag, Dieppe und Boulogne von Paris. Obwohl es etwa dreißig Meilen von Berlin entfernt liegt, so kann man doch mit Schnellpost und Dampfschiff in vierundzwanzig Stunden an Ort und Stelle sein.“ 1227 1221 Vgl. dazu Kiecksee, Ostsee-Sturmflut, S. 47: „Damals [1872, H.B.] war der Wechsel vom Segelschiff zum Dampfschiff im Anlaufen, doch die meisten Schiffe waren eben noch Segelschiffe. Auch die Dampfschiffe selbst waren es noch, denn die Dampfmaschine war überwiegend ein Hilfsmittel der Fortbewegung bei fehlendem oder konträrem Winde, wie umgekehrt die Segel unentbehrlich waren, wenn die Kohlen ausgingen oder die Maschine defekt war.“ 1222 Kind, Swinemünde, S. 99. 1223 Stein, Reise, S. 63. 1224 Stein, Reise, S. 65. 1225 Stein, Reise, S. 65. 1226 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 2.10.1829. 1227 Laube, Biedermeier, S. 362. Eine preußische Meile betrug ca. 7,5 Kilometer. <?page no="292"?> 4.1 Mobilität und Raumtransformation 291 Die Faszination für das Dampfschiff ist verständlich. Mit ihm bezwang der Mensch auf der Grundlage technischer Innovationen das Meer und eignete sich so diesen Nat ur ra um in ne uar tig er un d e rgr eif en der We is e an . 4.1.3 Eisenbahn Der Reiseschriftsteller Carl Koch stellte seiner 1867 erschienenen Beschreibung der Insel Usedom eine Betrachtung über neuartige Verkehrsmittel und die damit verbundene veränderte Raumwahrnehmung voran: „Eisenbahn, Dampfschiffe, Postkutschen und Lohnfuhrwerke nehmen den Reisenden dann überall freundlich auf, um ihn an den Ort zu führen, wohin er sein Ziel gesetzt hat. Die ausgedehnten Eisenbahnlinien, auf denen die lange Reihe der Wagen sich wie eine geflügelte Riesenschlange dahin bewegt, so wie die Dampfboote, welche alle Meere und größeren Flüsse der Welt keuchend auf und ab fahren, vereinigen ein bequemes und schnelles mit einem billigen Reisen, und dies ist in der That, seit diese Dinge die Welt durchsausen und brausen, ein ganz anderer Verkehr unter die Menschen gekommen.“ 1228 Der enorme Zuwachs von Badegästen bis zum Ersten Weltkrieg war nur möglich durch diesen „ganz anderen Verkehr“. Vor allem die Eisenbahn sorgte nicht nur für eine bquemere Form der Reise, sondern in besonderem Maße für eine deutliche Steigerung der Besucherzahlen. Von dieser umfassenden Entwicklung war man zur Mitte des 19. Jahrhunderts zwar noch weit entfernt, aber bereits die 1843 eröffnete Bahnstrecke zwischen Berlin und Stettin nahm einen beträchtlichen Einfluss auf viele Bäder der pommerschen Küste. 1229 Vor allem die Bäder der Inseln Usedom und Wollin profitierten von der Anbindung an die preußische Residenz. Statt sich auf eine mehrtägige Reise von Berlin nach Stettin einstellen zu müssen, benötigte der Reisende jetzt nur noch fünf Stunden. 1230 Auch andere stadtnahe Seebäder zogen ein weiteres Mal Nutzen aus dieser engen Verknüpfung. So bekam Lübeck 1851 einen Bahnanschluss, Rostock 1850, Stralsund, und damit die Anbindung für Rügen, 1863. Im gleichen Jahr wurde die 1228 Koch, Coserow, S. 2. 1229 Die Strecke setzte sich aus der 1842 eröffneten Teilstrecken Berlin - Eberswalde (Neustadt)- Angermünde und der 1843 dazugekommenen Strecke Angermünde - Stettin zusammen. Vgl. hierzu und zum Folgenden u.a.: Streckenatlas der deutschen Eisenbahnen 1835-1892; Handbuch der deutschen Eisenbahnstrecken. Unveränderter Nachdruck, Mainz 1984; Bernd Kuhlmann: Bahnknoten Berlin. Die Entwicklung des Berliner Eisenbahnnetzes seit 1838, Berlin 2000. 1230 L. Weyl: Neuestes Reisehandbuch nach Berlin, Stettin, Swinemünde, Rügen und Kopenhagen, Berlin 1846, S. 49. <?page no="293"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 292 Abzweigung Züssow - Wolgast von der Hauptroute Berlin - Stralsund fertiggestellt, mit der der nördliche Teil der Insel Usedom, etwa das Seebad Zinnowitz, deutlich besser zu erreichen war. 1852 erhielt Danzig, 1853 Königsberg einen Eisenbahnanschluss. Bis in die 1860er Jahre wurden auch die Hauptstrecken im nördlichen Hinterpommern gebaut, so 1859 bis Cöslin, 1869 bis Stolp, 1878 bis Rügenwalde, 1882 bis Greifenberg, 1231 womit sich die Anreise zu den dortigen Seebädern für Gäste aus südlicher und westlicher Richtung deutlich verkürzte. Bis zur Reichsgründung 1871 konnten damit die meisten Seebäder zumindest über nahe gelegene Städte zügig erreicht werden. Der nächste Schritt, d. h. der direkte Anschluss der Seebäder an die Eisenbahn, zog sich dagegen noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts hin. Auch hier profitierten als erste diejenigen Bäder, die nahe an den Städten lagen. Zoppot erhielt bereits 1870 einen eigenen Bahnanschluss, Swinemünde 1876, Stolpmünde und Rügenwalde 1878, 1882 Travemünde, 1886 Warnemünde. Im selben Jahr bekam endlich auch das älteste Ostseebad, Heiligendamm, seinen eigenen Bahnanschluss. Heringsdorf folgte 1894, die westlich gelegenen Bäder der Insel Usedom, wie Bansin, Koserow, Zinnowitz dagegen erst 1911. 1232 Leba in Hinterpommern wurde 1899 mit Lauenburg an das Schienennetz angeschlossen. 1233 Festzuhalten ist daher aber auch, dass die Eisenbahn mit ihrer Möglichkeit, in kurzer Zeit große Strecken zu überbrücken und Personen und Gepäck sicher zu befördern, für die Seebäder erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich eine größere Bedeutung gewann, bevor sie zum Ende des Jahrhunderts zur bestimmenden Art und Weise des Reisens wurde. 1234 Bis zu diesem Zeitpunkt schuf sie weniger eine neue Nachfrage nach neuen Bädern, sondern steuerte die bereits etablierten Orte an. An diesen verstärkte sie freilich die Nachfrage in bisher ungeahntem Maße. So bot 1850 in vorausschauender Manier der Pächter der Warnemünder Badeanstalten Schütz dem Rostocker Rat im Jahr des Eisenbahnanschlusses von Rostock an, seine Pacht wegen dem „noch zunehmenden Verkehr durch die Eisenbahn und durch die zum nächsten Sommer zwischen Rostock und Petersburg in Fahrt kommenden Dampfschiffe“ 1235 um 25 Prozent zu erhöhen. 1231 Von Greifenberg aus wurde 1896 der Anschluss an das hinterpommersche Seebad Horst gelegt. 1232 Vgl. dazu auch Bernd Kuhlmann: Eisenbahnen auf Usedom, Düsseldorf 1999. 1233 Die Einwohnerzahl Lebas zeigt den enormen Aufstieg dieser vormaligen Fischernester an der Küste. 1812: 701 Personen, 1831: 806, 1852: 1.093, 1880: 1.333, 1910: 1.920. Vgl. Staatsarchiv Stettin - Wegweiser durch die Bestände bis zum Jahr 1945, bearbeitet von Radoslaw Gazinski, Pawel Gut und Maciej Szukula. Oldenburg 2004, S. 311. 1234 Vgl. dazu auch Spode, Reiseweltmeister, S. 59ff. 1235 StA Rostock, 1.1.3.23. Gewett Warnemünde 31, Schreiben vom 17.12.1850. <?page no="294"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 293 4.2 Ökonomische Konzepte Eine öffentliche Seebadeanstalt zu errichten verlangte neben einem entsprechend ausgestatteten Naturraum vor allem eine dauerhafte Finanzierung. Man benötigte Badeanlagen, das heißt Stege und Badezellen sowie ein Badehaus, die unterhalten werden müssen und immer wieder wegen Sturmfluten hohe Reparaturkosten verursachen. Hinzu kamen Badepersonal, Unterkunftsmöglichkeiten für die Gäste, Veranstaltungsräume, die Gestaltung von Promenaden und Grünflächen, Verkehrswege etc. Wenn man auch hoffen konnte, dass sich das Seebad bei ausreichender Frequentierung durch die von den Gästen erhobenen Taxen und Eintrittsgelder im Laufe der Zeit selbst erhielt, bedurfte es doch zumindest einer erheblichen Anschubfinanzierung. Nach dem Aufbau des Kurkomplexes ging es in der Folgezeit eher um die Konsolidierung als um Expansion. Letztlich begannen erst mit der Reichsgründung und nach der verheerenden Sturmflut von 1872 die auf ein Massenpublikum zugeschnittene Neuanlage und der großflächige Ausbau vieler vorhandener Seebäder. Da sich im Staat mit dem längsten Küstenabschnitt, Preußen, die Regierung nicht zur Gründung eines Seebades durchringen konnte, war man Anfang des 19. Jahrhunderts von Vorpommern bis Ostpreußen im Wesentlichen auf die Eigeninitiative von Privatleuten angewiesen. Diese Initiativen wurden staatlicherseits unter bestimmten Rahmenbedingungen im Sinne einer wirtschaftlichen Förderung der armen Küstenregion forciert. Wiederholt sprachen sich die zuständigen Medizinalbehörden der preußischen Provinzen Pommern, Ost- und West-Preußen für die Errichtung und die Unterstützung von Seebädern aus. Vor allem König Friedrich Wilhelm III. scheint im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten der Anlage von Seebädern aufgeschlossen gegenüber gestanden zu haben. 1236 Ein dem König 1802 vorgelegter Bericht zur Anlage von Seebädern in Preußen zielte in wirtschaftlicher Hinsicht darauf ab, die Kosten durch eine Mischung aus privatwirtschaftlichem Engagement und staatlichen Haushaltsmitteln zu bestreiten. So wurde vorgeschlagen, „die Haupt-Anlagen durch Privat Personen [...] auch künftig unterhalten zu lassen, Ewr. Königliche Majestät Polizey Behörde aber sollte einst blos die Aufsicht haben, damit das Werk selbst seiner Absicht vollkommen entspräche“. 1237 Dass von einem Seebad aber kein finanzieller Gewinn zu erwarten war, lag auf der Hand, da „die Unterhaltungs-Kosten alle Ein- 1236 Vgl. dazu die archivische Überlieferung zu den preußischen Seebädern im GStA Berlin, v.a. Rep. 76 VIII A. 1237 Dies und das Folgende in GStA, Rep. 96 A 118 X, Schreiben an den preußischen König Friedrich Wilhelm III. vom 8.3.1802. <?page no="295"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 294 künfte, immer absorbieren müßen“. Um die Kosten für die Anlage einer einfachen Badeanstalt gering zu halten, sollten nur einfache Badeanstalten errichtet werden, der Rest, also Logier- und Gasthäuser, Stallungen etc., von „verschiedenen Grundbesitzern des Strandes [...] auf eigene Rechnung“ erbaut werden, wozu diese sich „ihres eigenen Nutzens wegen“ bereit erklärt hätten. Auf diese Art hoffte der Berichterstatter, mit 50.000 Reichstalern für die Anlage des Bades auszukommen. Die Bereitstellung einer solchen Summe war nach dem Zusammenbruch Preußens 1806 bis zum Ende der Befreiungskriege 1815 aber unmöglich. Auch danach ließ sich eine umfassende Förderung angesichts der desolaten Situation der preußischen Staatsfinanzen nicht rechtfertigen. Die finanziell durchaus risikoreiche Etablierung eines Seebades basierte somit weitgehend auf dem finanziellen Engagement von Privatpersonen, das heißt von Einzelpersonen, Honoratiorengruppen und Aktiengesellschaften. Daebeler sprach etwas zugespitzt davon, es seien „allein der Gründungswille einzelner Landesherren oder reicher Kaufleute“ 1238 für die ersten Bädergründungen maßgeblich gewesen. Nicht alle Versuche, auf diesen Wegen das nötige Startkapital zusammen zu bekommen, waren von Erfolg gekrönt. Gerade in der ersten Phase der Seebäder hing der Erfolg eines öffentlichen Seebades von einer ausreichend großen finanziellen Beteiligung interessierter Personen ab, die sich (betrachtet man die Gründungen, die sich durchsetzen konnten) nur finden ließen, wenn eine größere Stadt in der Nähe des Bades ausreichend Besuch garantierte und Investitionen damit erfolgversprechend erschienen. Dies traf in besonderem Maße auf die Mündungsbäder der Seestädte zu, auf die „Vororte“ der großen Hafenstädte wie Travemünde für Lübeck, Warnemünde für Rostock, Cranz für Königsberg und Zoppot für Danzig. Darüber hinaus und abseits der direkten Seestadt-Seebad-Konstellation galt dies am deutlichsten für die vorpommerschen Inseln Rügen und Usedom, wo zunehmend vor allem die Berliner und Stettiner großzügig investierten. Die abseits dieser engen Stadt-Seebad-Verbindung entstandenen Seebäder, vor allem in Ost- und Westpreußen, Mecklenburg und Schleswig-Holstein, konnten sich aufgrund ihres wirtschaftlich schwächeren Hinterlandes nicht mit jenen messen. 1239 Über alle Regionen hinweg zeigte sich aber die Tendenz, dass die Etablierung eines Seebades mit Kur-, Unterkunfts- und Vergnügungseinrichtungen am häufigsten durch eine Mischung aus staatlicher Förderung und privater Finanzierung erreicht werden konnte. So erhielten Preußens Ostseebäder vereinzelt und unter besonderen Bedingungen kleinere staatliche Unterstützungen. Finanziert wurden die nötigen Badeanlagen 1238 Daebeler, Fremdenverkehr, S. 63. 1239 Vgl. dazu Tilitzky/ Glodzey, Ostseebäder, S. 518f. <?page no="296"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 295 und Gesellschaftshäuser dabei von privater Seite, von Handwerkern, Kaufleuten und Bürgermeistern, genauso wie von Aktiengesellschaften. Ab er a uch i n and ere n Län der n de r deu tsc he n Ost see kü st e, i n Mec kl enb urg - Schwerin, Lübeck oder Holstein waren es Privatleute, die in Vereinen, Aktiengesellschaften, als Gruppe städtischer Honoratioren oder Einzelpersonen Geld zum Auf- und Ausbau der Seebäder beisteuerten. 1240 Die Motive der Seebadgründer erscheinen vorrangig als eine Mischung aus ökonomischen und sozial-medizinischen Interessen. Es galt demnach einerseits, die offensichtlich immer beliebter werdenden Seebäder als mögliche finanzielle Ressource des Staates oder der Stadt und Gemeinde zu verstehen. Andererseits betrieben vor allem die Ärzte an vielen Stellen der Küste mit großem privaten Aufwand die Anlage neuer Seebäder, die sie als Teil einer umfassenden und notwendigen gesellschaftlichen Medikalisierung begriffen. Das Seebad sollte danach eine allen Bedürftigen zugängliche Stätte körperlicher und seelischer Heilung sein. Wer nun Gäste auch aus weiter entfernten Regionen an das neue Therapeutikum Seebad binden wollte, musste für sie alles Nötige wie Unterkunft, Verpflegung und die Kuranlagen bereitstellen. So versahen die Ärzte, wie oben dargestellt, neben ihrer rein medizinischen Funktion häufig administrative Aufgaben in den Badedirektionen, 1241 in denen sich der öffentliche Charakter der Seebadeanstalt manifestierte. Nicht zuletzt legten sie oft genug ein riskantes finanzielles Engagement an den Tag. Die Ärzte waren, abgesehen vom eigenen Statusgewinn, in diesem Zusammenhang daher sowohl Initiatoren, Organisatoren und in vielen Fällen auch Investoren der Ostseebäder. Sie trugen damit wesentlich zur veränderten Wahrnehmung des Küstenraumes als Heilraum bei. Erst nachdem sich das Phänomen Seebad in den 1830er Jahren etabliert hatte, ging ihr Einfluss auf andere Akteure über, ohne allerdings gänzlich zu schwinden. Entsprechend dem ökonomischen Potential der Finanziers entwickelte sich der Ausbau und mit diesem die öffentliche Wahrnehmung und Stellung des Bades. Die beiden fürstlichen Gründungen Heiligendamm und Putbus-Lauterbach warteten innerhalb kürzester Zeit mit luxuriösen, klassizistischen Badeanlagen auf, 1242 die 1240 Eine sprechende Ausnahme war das landesherrliche Heiligendamm, das sich stärker an die vielen fürstlichen Bäder des Binnenlandes anlehnte. 1241 Die Badedirektionen bestanden in der Regel aus dem Badearzt und leitenden Funktionsträgern der Städte und Gemeinden. Vgl. etwa Vogel, Handbuch 1819, S. 37. Hille beschreibt sie als zuständig „für Alles, was den Nutzen und das Vergnügen betrifft, wie für die fortgesetzte Ausbildung der Anstalt“. Hille, Heilquellen, S. 228. 1242 So erwähnte Siemerling nicht nur das im „geschmackvollen Style erbaute Badehaus, dessen Facade auf Säulen ruhen“, sondern auch die marmornen Badewannen, die Putbus zu einem Seebad „ersten Ranges“ machten. Siemerling, Putbus, S. 23. Zu Putbus vgl. auch Prignitz, Badekarren, S. 33. <?page no="297"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 296 vorwiegend ein wohlhabendes adliges und großbürgerliches Publikum anzogen. Daneben gab es zahlreiche Seebäder, die auf Initiative städtischer Eliten gegründet wurden, so Travemünde, Warnemünde, Swinemünde, Kolberg, Zoppot und Cranz. 1243 Hierbei kam man dem Bedürfnis der bereits „wild“ in der See Badenden nach und war bemüht, einem anspruchsvollen städtischen Publikum mit der Anlage eines öffentlichen Seebades entgegenzukommen. Das Bürgertum der Seestädte errichtete und gestaltete sich so seinen eigenen Kur(vor)ort. Mit dem Potential der Seestadt im Hintergrund, mit deren finanziellen und kulturellen Ressourcen, sind diese Seebäder höchst erfolgreich geworden. Besonders in der Anfangszeit aber schien die Investition in ein Seebad nicht allen Beteiligten wünschenswert. Besonders die Einwohner der zum Seebad auserkorenen Mündungsorte befürchteten mit dem eintreffenden wohlhabenden Publikum nicht zu Unrecht eine Verteuerung der eigenen Lebenshaltungskosten. In Travemünde hatte der 1802 gegründete Badeverein zuerst den „entschiedenen Widerwillen der Bewohner des Städtchens, die Theurung und allerley Schlimmes von der Einrichtung eines Seebades befürchteten”, 1244 zu überwinden. Am schwierigsten aber gestaltete sich eine Seebadgründung für die kleinen Fischergemeinden an der Küste. Bauern und Fischer besaßen in der Regel nicht annähernd das nötige Kapital für eine solche Anlage. Zudem war der Besitz von Grund und Boden überwiegend nicht in der Hand der Dorfbewohner. Erst nachdem sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts überall an der Ostseeküste die Seebäder etabliert hatten und eine größere Nachfrage überall Einkünfte versprach, wurde auch in kleinen Fischerdörfern, so weit möglich, mit dem Neubau von Badeanlagen und dem Ausbau der Fischerwohnungen zu bescheidenen Unterkünften für die Fremden begonnen. In Saßnitz und Crampas an der Südostküste der Insel Rügen entwickelten sich kleine Fischerdörfer ab den 1840er Jahren zu Seebädern. Dass auf Rügen neben Putbus-Lauterbach und dem dazugehörigen Aalbeck zudem weitere Seebäder entstanden, lag auch daran, dass z. B. Saßnitz erst 1844 aus dem Domanium ausschied und in den Besitz seiner Bewohner überging, die nun auch über den Grund und Boden verfügen konnten. 1245 Anfang der 1850er Jahre entwickelt sich auch in einigen kleinen Fischergemeinden der Insel Usedom, Zinnowitz, Ahlbeck und Koserow, nach Genehmigung des Landrates ein offizieller Badebetrieb. 1246 1243 Dieses Interesse städtischer Eliten an der Seebadgründung wurde dabei wie in Swinemünde oder Cranz auch vom preußischen Staat in unterschiedlichem Maße mitfinanziert. 1244 Lieboldt, Travemünde, S. 91. 1245 Vgl. dazu Weber, Ostseebad Saßnitz, 1964, S. 124ff.; Zschauer, Binz, Sellin, Göhren, S. 18ff. 1246 Vgl. Schleinert, Usedom, S. 131; Prignitz, Badekarren, S. 106ff. Zu den einzelnen Orten vgl. auch die entsprechenden Artikel in Berghaus, Landbuch Stettin, 1. Bd.: Kreis Usedom-Wollin. <?page no="298"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 297 In abgelegeneren Gegenden wagten Ärzte aber auch allein oder mit nur geringer Unterstützung den Schritt zur Seebadgründung, wie dies in den kleinen Städten Ap en ra de un d Rüg enw ald e ges ch eh en s ol lte . Bei de n Grü ndu nge n war a be r, u .a. wegen der mangelnden finanziellen Unterstützung, kein dauerhafter überregionaler Erfolg beschieden. An völlig anderen Umständen scheiterte der Versuch zur Etablierung einer Seebadeanstalt durch Dr. Christian Boldt in Wustrow auf dem Fischland, dicht an der mecklenburgisch-pommerschen Grenze. Hier misslang in den frühen 1840er Jahren das Bemühen des Arztes, der Badehütten bauen und aufstellen ließ, nicht angesichts finanzieller Engpässe, sondern weil die Einwohner der Region zu diesem Zeitpunkt noch sehr gut von der Seefahrt lebten und wenig Interesse an der Entwicklung eines Seebades zeigten. Peters schrieb hierüber: „Keiner der Einwohner schaute nach Badegästen aus, und selbst die Wirthe zeigten sich gegen diese gleichgültig. Kein Wunder also, wenn die Zahl der Badegäste nach und nach abminderte, und daß zuletzt Niemand mehr kam.“ 1247 Erst ab den 1860er Jahren, als die Segelschifffahrt durch die Dampfschiffe erheblich zurückgedrängt wurde, entwickelte sich „der Fremdenverkehr als Erwerbsquelle“. 1248 Aber auch an anderen Orten der Ostseeküste, an denen man bisher von der Schifffahrt und dem Fischfang als traditionellen Erwerbszweigen gut lebte, gerieten die Bewohner mit dem zunehmenden Konkurrenzdruck und der Verlagerung der Dampfschiffreedereien in die großen Hafenstädte Hamburg und Bremen in Existenznöte. 1249 Auch dies war ein Grund, warum ab den 1880er Jahren der Fremdenverkehr vor Ort deutlich an Akzeptanz gewann. Die ökonomischen Ausgangsbedingungen für die Gründung eines Seebades waren sehr verschieden und obwohl nicht allein die günstige Ausstattung für dauerhaften Erfolg sorgte, bestimmte doch das Ausmaß staatlicher oder privater Förderung über die Entwicklungschancen in besonderem Maße. Vor allem kleinen Orten, die weder über finanzielle Mittel noch über besondere landschaftliche Reize oder eine gute Verkehrsanbindung zu den Quellgebieten der Fremden verfügten, fehlten so zunächst alle Voraussetzungen zu einer erfolgreichen Seebadgründung. 1247 Peters, Das Land Swante-Wustrow, S. 98. 1248 Bockstedt, Seefahrende an deutschen Küsten, S. 32. 1249 Bockstedt, Seefahrende an deutschen Küsten, S. 30ff. <?page no="299"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 298 4.2.1 Fürstenbad, Fischerbad, Aktiengesellschaft Wer waren nun aber genau die Finanzakteure, und in welchem Umfang wurde in welche Seebäder investiert? Welches Interesse lag hier vor, und welche Motivationen sprechen für die Investitionen? Eine abschließende Einschätzung dazu ist freilich nicht möglich, da das vorhandene Material derart weitreichende Einschätzungen nicht zulässt. 1250 Für einzelne Bäder lassen sich die finanziellen Begleiterscheinungen der jeweiligen Seebadgründung und deren Umfang aber durchaus nachzeichnen. Die Anlage des in vielerlei Hinsicht beispielhaften ersten Seebades Heiligendamm ab 1793 erfolgte mit der massiven finanziellen Unterstützung des Herzogs von Mecklenburg-Schwerin, Friedrich Franz I., der bis zu seinem Tod im Jahr 1837 die Geschicke des Seebades fest in seiner Hand behielt. Neben der Privatschatulle des Herzogs, aus der in den ersten beiden Jahren knapp 17.000 Taler flossen, 1251 wurden für den Auf- und Ausbau des Seebades aber auch die Dominialämter belastet. 1252 Der Aufbau des Seebades in Heiligendamm sowie der gleichzeitig erfolgende herrschaftliche Ausbau Doberans erforderten beträchtliche Summen, die ohne den entschiedenen Willen des Herzogs im armen Mecklenburg kaum aufzubringen gewesen wären. Im nahen Preußen, dass mit den Küsten seiner Provinzen Pommern, West- und Ostpreußen den umfangreichsten Anteil an der deutschen Ostseeküste besaß, betrachtete man unterdessen aufmerksam die Gründung und Etablierung Heiligendamms. Auch über die zwei entscheidenden Voraussetzungen dieser Gründungen war man sich im Klaren. In einem Bericht von 1801 an den preußischen König hieß es über Doberan, es wäre „ein zu einer Bade-Anstalt, sowohl von der Natur, als von des Herrn Herzogs von Schwerin Durchlauchst durch bedeutenden Geld-Aufwand sehr begünstigter Ort“. 1253 Dabei ist es bereits in Heiligendamm ein zentrales, in merkantilistischer Tradition stehendes Motiv, über das Bad und den gesamten Kurbetrieb das Geld der vor- 1250 Bereits Daebeler, der sich intensiv mit der wirtschaftlichen Situation der mecklenburgischen Ostseebäder beschäftigte, konstatierte, dass für die frühen Jahre die Informationen bis auf wenige Ausnahmen spärlich ist und man in den meisten Fällen lediglich auf wenige Aussagen in den ersten Badeschriften zurückgreifen kann. Dies dürfte seinen Grund auch darin haben, dass grade die preußischen Bäder keine durchgängige staatliche Förderung erfuhren und eine Überlieferung privater Bestände so gut wie nicht vorhanden ist. Vgl. Daebeler, Fremdenverkehr, S. 71f. 1251 Vgl. dazu Prignitz, Badekarren. Prignitz verweist allerdings zu Recht darauf, dass der besonders in Bezug auf seine Seebadgründung als Philanthrop bezeichnete Herzog erhebliche Geldmittel, 30.000 Taler jährlich, aus dem „Verkauf von Landeskindern“ in der Stärke von drei Bataillonen, ca. 1.000 Mann, an den Prinzen von Oranien bezog. Ebd., S. 20. Vgl. dazu auch Karge, Heiligendamm, S. 16. 1252 Karge, Heiligendamm, S. 16. 1253 GStA, Rep. 96 A, 117 Q, Schreiben vom 26.7.1801. <?page no="300"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 299 wiegend aus dem eigenen Lande, aber auch aus Preußen, Hamburg, Lübeck stammenden Badegäste nicht ins (vor allem innerdeutsche) Ausland abfließen zu lassen, s on de r n i m G e ld kr e is la uf d es eigenen L and es z u hal ten. S chon im Antw orts chreiben des mecklenburgischen Herzogs auf Prof. Vogels Vorschlag zur Gründung eines Seebades begründete dieser sein Interesse in doppelter Weise damit, dass „es mir nicht gleichgültig sein kann, manchen kranken Menschen dadurch glücklich zu machen, nicht zu gedenken, dass das Geld im Lande verzehrt wird, was auswärtige Bäder demselben entziehen“. 1254 Ein knappes Jahrzehnt war Doberan als Ostseebad konkurrenzlos und profitierte damit tatsächlich von dem durch fremde Gäste eingebrachten Geld. Schon die Zeitgenossen nahmen die Bädergründung als Investition in die Wirtschaftsstruktur des armen Landes wahr: „Unstreitig ist diese Anstalt [das Seebad Doberan-Heiligendamm, H.B.] für ganz Mecklenburg von großer Wichtigkeit. Sie hemmt größtentheils den starken Ausfluß des Geldes in die Fremde, der durch die gewöhnlichen Reisen unserer vornehmsten und reichsten Einwohner nach anderen Brunnen- und Badeörtern veranlaßt ward, und bringt dagegen durch die Herbeyziehung vieler auswärtigen Reichen eine beträchtliche Menge fremden Geldes ins Land. Nach sehr mäßigen Berechnungen übersteigt der Geldverkehr zu Dobberan in den beiden letzten Jahren die Summe von Hunderttausend Thalern schon weit. Der wirkliche Verdienst bey diesem Geldumlauf kommt doch mehrentheils Einheimischen zu Gute.“ 1255 Um Doberan seinen exklusiven Status zu ermöglichen, den nötigen Komfort für den Herzog und die Gäste bieten zu können, waren umfangreiche Baumaßnahmen sowohl in der Sommerresidenz des Herzogs, in Doberan als auch in Heiligendamm direkt an der See nötig. 1256 Bereits die Kosten für die Badeanlagen in Heiligendamm betrugen knapp 10.000 Reichstaler. Vorbildhaft für alle anderen deutschen Seebäder entstand innerhalb kurzer Zeit ein ganzes Ensemble an Bauten, die für die Kur, also das Baden, für das Vergnügen und die Bequemlichkeit vonnöten waren und den gesellschaftlichen Anspruch der fürstlichen Gründung gut sichtbar markierten. Logierhaus, Salongebäude und das Schauspielhaus wurden in rascher Abfolge errichtet. Gleichzeitig mit der Anlage der Kurgebäude wurde vom Ludwigsluster Hofgärtner Johann Heinrich Schweer der sich an das gotische Münster anschließende Park 1254 Zit. nach Prignitz, Badekarren, S. 19. 1255 Johann Christian Friedrich Wundemann: Mecklenburg in Hinsicht auf Kultur, Kunst und Geschmack, Bd. 1, Rostock 1800, S. 218, zit. nach Karge, Heiligendamm, S. 24. 1256 Vgl. dazu Karge, Heiligendamm, S. 14ff. <?page no="301"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 300 im englischen Stil umgestaltet. 1257 1816 wurde schließlich das im antikisierenden Stil erbaute, bald berühmte Empfangs- und Gesellschaftshaus eingeweiht. Die herzogliche Förderung ließ Doberan-Heiligendamm für viele Jahrzehnte zum musterhaft gebauten Seebad werden, was auch dort auf Anerkennung stieß, wo man sich kritisch gegen die überladene Inszenierung des Ensembles wandte. Für die dauerhafte Finanzierung von Doberan-Heiligendamm sorgten, neben den Einnahmen durch die Bäder und den privaten Mitteln des Herzogs (ab 1815 Großherzog), vor allem die Gebühren aus der Verpachtung der im Logierhauses eingerichteten Spielbank. 1258 Mit dem Glücksspiel, das von den Ärzten scharf kritisiert wurde, 1259 finanzierte man die nicht unbeträchtlichen Aufwendungen, die für die Badeanstalten in Heiligendamm und für den weiteren Ausbau Doberans als repräsentative Sommerresidenz des Herzogs anfielen. Um die entsprechenden Einnahmen zu gewährleisten, erhielt die Doberaner Spielbank exklusive Rechte. Glücksspiele wurden vom Herzog „in allen anderen Lokalen des Ortes und seit 1809 im ganzen Lande untersagt“, 1260 womit die Finanzierung des Seebades gesichert war. Erst mit dem Verbot aller Glücksspiele durch den Norddeutschen Bund im Jahr 1867 musste auch in Doberan der Spielbetrieb eingestellt werden, so dass die jährliche Pacht von 30.000 Talern entfiel. 1261 Doberans großer Erfolg beim Publikum, der zu einem beträchtlichen Teil auf seiner exklusiven und soliden Finanzierung basierte, blieb den anderen Küstenorten natürlich nicht verborgen. Das beim Publikum derart geweckte Interesse am Phänomen des öffentlichen Seebades veranlasste um 1800 weitere Küstenorte, mit der Anlage oder wenigstens den Vorbereitungen zur Anlage eines Seebades zu beginnen. Ganz offensichtlich war hier ein Bedürfnis entstanden, das man, wollte man davon in irgendeiner Weise profitieren, schnell befriedigen musste. Das bürgerliche Pendant zur herzoglichen Gründung war das zweite deutsche Ostseebad in Travemünde. Das Lotsen- und Fischerstädtchen am Ausfluss der Trave gehörte zur freien Stadt Lübeck. Ab 1815 war die Freie und Hansestadt Mitglied im Deutschen Bund mit ca. 45.000 Einwohnern. 1262 Nachdem in Travemünde um 1257 Andreas und Sabine Webersinke: Der Klosterbezirk von Doberan. Zur Erarbeitung eines denkmalpflegerischen Konzeptes. In: Melanie Ehlert (Hg.): Fürstliche Garten(t)räume. Schlösser und Gärten in Mecklenburg-Vorpommern. Berlin 2003, S. 33-40. 1258 Karge, Heiligendamm, S. 25. 1259 Hufeland nannte es den „Inbegriff alles Verderblichen“, gar eine „Hölle“ und verfasste dazu eine „medizinische Analyse der Farobank“ Hufeland, Praktische Übersicht, S. 48f. 1260 Karge, Heiligendamm, S. 25. 1261 Karge, Heiligendamm, S. 51. 1262 Einwohnerzahl um 1800. Vgl. Historisches Lexikon der deutschen Länder, München 1988, S. 357. <?page no="302"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 301 1800 die ersten Badeanlagen eingerichtet wurden, gründete sich 1802 ein Verein, der mit Unterstützung Lübecker Bürger eine Gesellschaft auf Aktien zur Errichtung ein es S ee ba de s grü nde te. 1263 Seitens der Lübecker Regierung unterstützte man die Gründung u. a. durch die Anweisung, das Ufer ausschließlich den Badenden zur Verfügung zu stellen und Teile der Travemünder Gemeindeweide der Badedirektion zur Bebauung und Bepflanzung für die Seebadeanstalt zu überlassen. Die Anlage eines Seebades galt vielen Lübecker Bürgern als eine sichere und gute Investition. In der ersten Travemünder Badeschrift von 1803 hieß es dazu: „Unsre Mitbürger, die das Gute nicht nur lieben, sondern auch gerne befördern, und diese edle Gesinnung so oft bethätigen, nahmen unsre Vorschläge liebreich auf, und fanden die Ausführung derselben wünschenswerth. In kurzer Zeit waren so viele freywillige Beyträge gezeichnet, dass wir zu unserer Freude dadurch veranlaßt werden konnten, den ersten Plan um ein Bedeutendes zu erweitern.“ 1264 Daraufhin entstanden das Gesellschaftshaus, mehrere Gebäude für Vergnügungen wie Billard und Kegeln sowie verschiedene Gartenanlagen. 1265 Den Erfolg Doberan-Heiligendamms vor Augen, machte man sich auch in Preußen bereits um 1800 über die Anlage von öffentlichen Seebädern Gedanken. 1266 In einem Bericht an den preußischen König Friedrich Wilhelm III. vom Dezember 1800 war von der Cabinetts-Ordre die Rede, nach der „die Anlage einer solchen Badeanstalt in einer angenehmen Gegend in oder bei einer an der Ostsee belegenen Pommernschen Seestadt näher zu erwägen und darüber gutachterlich zu berichten“ 1267 sei. Angesichts der politisch unsicheren Lage in Europa und der schlechten Finanzsituation in Preußen erfolgten die Vorbereitungen unter der Prämisse einer möglichst sparsamen Verwendung von Geldern und unter Ausnutzung der (sonst selten erwähnten) bereits vorhandenen kleinen Privatanstalten: „Es wird sodann mein äußerstes Bestreben sein Euer Königliche Majestät huldreichen Vertrauen in Beziehung auf die Entwerfung eines soliden möglichst sparsamen und erfolgsamen Plans zu einem Seebade zu entsprechen, so wie ich dabei auch darauf Rücksicht nehmen werde, ob viel- 1263 Vgl. dazu Lieboldt, Travemünde 1841, S. 91f. 1264 Travemünde, o.V., S. 18f. 1265 Lieboldt, Travemünde, S. 92. 1266 Vogel dokumentierte in seiner ersten Badeschrift von 1794 bereits frühere Bemühungen um die Anlage einer Seebadeanstalt in Preußen durch Privatpersonen: „Darauf stand im Intelligenzblatt der allg. Litt. Zeit. No. III 1793, S. 885, aus Königsberg in Preußen, den 17ten Juni 1793: Herr Hofrath Metzger in Königsberg habe einen Aufruf an seine preußischen Mitbürger ergehen lassen, Anstalten zu Seebädern in Preußen zu machen.“ Vogel, Gebrauch der Seebäder, S. 21. 1267 GStA, Rep. 96 A, 117 Q, Schreiben vom 22.12.1800. <?page no="303"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 302 leicht von einer der schon vorhandenen Privatanstalten [...] dabei Gebrauch zu machen sein wird.“ 1268 Nachdem im Jahr 1801 eine Inspektionsreise zum Seebad Doberan-Heiligendamm erfolgte, 1269 bei der alle Belange der dortigen Seebadgründung ausführlich begutachtet wurden, sprach man sich, vor allem wegen der günstigen Lage innerhalb der Monarchie, für die Gründung eines Seebades in Kolberg aus. 1270 Selbst wenn die Badeanstalt keine Zinsen abwerfen sollte, so wurde argumentiert, konnte sie sich doch auf verschiedenen Wegen auch längerfristig ökonomisch für den preußischen Staat bezahlt machen. Man begründete die Investition zum einen mit der staatlichen Pflicht zur Gesundheitsfürsorge und, ähnlich wie in Doberan, mit dem Verbleib des eigenen und dem Zufluss fremden Geldes und dem daraus resultierenden ökonomischen Gewinn für die Region: „Wenn ich jedoch auf den heilsamen Erfolg sehe, den hiesiges Bad auf die Gesundheit so vieler Euer Königliche Majestät getreuen Unterthanen haben wird, und dabei erwäge, dass durch die Verwendung des Anlage-Capitals, nicht nur die Circulation des Geldes zum großen Vortheil der Provinz Pommern vermehret, sondern dass auch ein nicht unbeträchtlicher Theil desselben, binnen kurzer Zeit, in Euer Königliche Majestät Caßen zurückfließt, dass ferner durch dieses Etablissement eine neue Quelle des Erwerbs für den Nahrungs-Stand der Stadt Colberg entsteht.“ 1271 Vom König wurde die Bewilligung einer bedeutenden Summe erbeten und zunächst auch bewilligt. Von dem Vorhaben mit der beachtlichen Summe von 200.000 Reichstalern zur Anlage eines Seebades (kombiniert mit einem Solebad), ließ man aber schnell ab, vielleicht wegen der Festungsanlagen in Kolberg, die bis zum Strand reichten und als militärisch sensibles Gelände galten. 1272 Erst ein gutes Jahrzehnt später, nachdem die politische Lage wieder stabilisiert schien, machte man sich erneut Gedanken über ein öffentliches Seebad in Preußen. 1268 GStA, Rep. 96 A, 117 Q, Schreiben vom 22.12.1800. 1269 GStA, Rep. 96 A, 117 Q, Schreiben vom 26.7.1801. 1270 GStA, Rep. 96 A, 117 Q, Schreiben vom 23.2.1802. 1271 GStA, Rep. 96 A, 117 Q, Schreiben vom 23.2.1802. 1272 Vgl. zur Geschichte der Seebadgründung in Kolberg Jancke, Meerbaden, S. 10ff. Dazu auch GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2561, Bericht des Medizin-Collegiums Stettin vom 7.11.1818. Genaue Angaben, in welchem Umfang das bewilligte Geld wirklich floss, lassen sich nicht mehr finden. Da jedoch zunächst kein größeres Seebad angelegt wurde, muss man mit Hille vermuten, dass nur ein geringer Teil der ursprünglich geplanten Summe in Kolberg für Badeanlagen eingesetzt wurde. Vgl. Hille, Heilquellen, S. 236ff. Noch 1802 hatte Friedrich Wilhelm 2000 Thaler für den Ankauf eines Privathauses in der Maikuhle freigegeben, um dasselbige abreißen zu lassen und an der dortigen Stelle für die geplante Seebadeanstalt Bauten errichten zu können. Vgl. dazu Staatsarchiv Stettin, Akta miasta Kołobrzegu/ Magistrat Kolberg, 65/ 202/ 0/ 1490, Schreiben des Königs vom 26.07.1802. <?page no="304"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 303 In einem weiteren Visitationsbericht des Jahres 1802 wurden die ökonomischen Rahmenbedingungen und Möglichkeiten ähnlich eingeschätzt. Mittlerweile nahm man zu r Ken ntni s, da ss das See bad al s al lge mei nes „ Be dür fni ß de r ge sit te ten u nd wohlhabenden Stände“ galt und sich mit diesen Bedürfnissen auch wirtschaften ließ: „Ich glaubte daher, dass es gut wäre, auf der einen Seite zu verhindern, dass vieles Geld nicht unnöthig aus dem Lande ginge - auf der anderen zu versuchen, wo möglich, noch fremdes Geld hereinzuziehen.“ 1273 In diesem Bericht an den preußischen König sprach man sich bei der Anlage eines Seebades allerdings nicht für Kolberg, sondern, wie erwähnt, für Danzig aus. Hier sollte die geplante Anlage eines Seebades auch für vergleichsweise günstige 40.000-50.000 Reichstaler errichtet werden und sich möglichst selbst dauerhaft unterhalten. Schließlich machten aber die Napoleonischen Kriege alle diese Pläne zur Makulatur und verhinderten zunächst jegliche Investitionen seitens des preußischen Staates. Zur eigentlichen Konkurrenz für Doberan um das vermögende Publikum wurde darum zunächst ein erst nach dem Wiener Kongress preußisch gewordener Ort - das Seebad bei Putbus auf der Insel Rügen. Putbus, 1810 vom dort regierenden Fürst Malte zu Putbus gegründet und mit einer berühmten klassizistischen Stadtanlage versehen, war 1815, zusammen mit ganz Rügen nach gut eineinhalb Jahrhunderten unter schwedischer Herrschaft an Preußen gefallen. 1816 gründete der Fürst, nach dem Vorbild Doberans, in Lauterbach bei Putbus ein Seebad, für das er „mit fortgesetzter und keine Kosten scheuende Aufopferung“ 1274 sorgte. Die auch hier durch den fürstlichen Landesherrn bereitgestellten Geldmittel von mehreren zehntausend Reichstalern sorgten zunächst für einen schnellen und luxuriösen Ausbau des Seebades. 1275 Besonders das im dorischen Stil erbaute große Badehaus erregte Aufsehen und überragte damit „selbst fast Doberan“. 1276 Auf preußischer Seite betrachtete man daher Putbus als einzigen relevanten Gegenspieler zu Doberan, wenn es um die Versorgung der wohlhabenden Kurklientel ging. 1277 Seitens der preußischen Behörden war man daher sehr zufrieden mit der Eingliederung Rügens, verfügte man doch nun auch über ein eigenes, den gehobenen Ansprüchen genügendes Seebad. Die von den preußischen Behörden erhobene Forderung, ein zentral in Preußen gelegenes Seebad zu gründen, wurde hier freilich nicht berücksichtigt; zudem erfolgte der 1273 GStA, Rep. 96 A 118 X, Schreiben vom 25.2.1802. 1274 Hille, Bäder und Heilquellen, S. 223. 1275 Vgl. Prignitz, Badekarren, S. 34. 1276 Hille, Bäder und Heilquellen, S. 221. 1277 So heißt es in einem Bericht des preußischen Medizinal-Collegiums, dass „alle Bemittelten die Seebäder zu Dobberan und Puttbus vorziehen dürften“ (GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 2.10.1819). Zudem „bestehe in der That außer zu Puttbus an der ganzen Ostsee-Küste Pommerns keine nur irgend erträgliche Veranstaltung zum Gebrauch des Seebades, außer [...] bey Rügenwalde“ (ebd.). <?page no="305"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 304 Ausbau des Seebades durch des Fürsten privates Engagement und damit, wie man im Ministerium zufrieden feststellte, „ohne dass es dem Staate etwas kostet“. 1278 Das bedeutende Engagement des Fürsten rentierte sich jedoch nicht dauerhaft. Denn ungeachtet des großen finanziellen Aufwandes und der romantischen Lage gelang es nicht, vor allem wegen der oft kritisierten binnenwasser-ähnlichen Lage, Putbus- Lauterbach langfristig als ein namhaftes Seebad zu etablieren. Das Badehaus zu Putbus, nach einem Stich von Johann Friedrich Rosmäsler, 1835. Schon geraume Zeit bevor mit Putbus Preußen unerwartet ein pommersches Seebad zufiel, hatte man sich in den zuständigen pommerschen Behörden mit diesem Vorhaben beschäftigt. Allerdings zeigte sich im Laufe der Zeit, dass verschiedene lokale Interessen eine einheitliche, gezielte Förderung nicht zustande kommen ließen. Zunächst war man ab 1800 in den verschiedenen preußischen Behörden noch davon ausgegangen, mit einem zentralen Seebad den Bedarf für Preußen abdecken und damit zugleich die ökonomischen Strukturen gezielt steuern zu können. Nach dem Krieg, der Preußen an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatte, waren die 1278 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2561, Bericht des Medizinal-Collegiums Stettin vom 7.11.1818. <?page no="306"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 305 Voraussetzungen jedoch völlig andere. Es wurde offensichtlich, dass ein einziges zentrales Seebad in keinem Falle ausreichend sein würde, den Bedarf der Besucher z u d ec ke n. D a die See bäd er aber, i n de m anson ste n im nörd lich en Preuß en n ich t mit Gesundbrunnen gesegneten Provinzen, ein günstiges und geeignetes Mittel darstellten, um die medizinische Versorgung spürbar zu verbessern, musste den Behörden daran gelegen sein, die Anlage von Seebädern zu unterstützen. Wie aber konnte unter diesen Umständen eine Förderung beschaffen sein? Der preußische Staat war nach dem Krieg finanziell ausgeblutet und die Ostseeprovinzen von jeher arm, so dass an eine breit gestreute Förderung nicht zu denken war. Gleichwohl versprach ein Seebad für viele Küstenorte die letzte Chance, einen gewissen wirtschaftlichen Wohlstand wenigstens halten zu können. Das Seebad erschien oft genug als die Verheißung einer besseren Zukunft. Angesichts dieser Situation entschied man sich in Preußen letztlich für die Unterstützung einzelner Bäder, ohne diese aber als Staatsunternehmen zu führen. Der Forderungskatalog für ein staatliches Engagement lautete daher: privates Engagement vor Ort, Qualifikation der Akteure und die offensichtliche ökonomische Bedürftigkeit eines Ortes. Da von den an der Ostsee gelegenen preußischen Provinzen Pommern die zentralste war und zudem über einen langen Küstenstreifen verfügte, erschien den preußischen Behörden in Berlin die Förderung eines günstig gelegenen Seebades in Po mm ern n oc h imm er a m sin nv ol ls ten . Für e ine m ög li chs t ze ntr ale L ag e des a nzu legenden Seebades sprach zudem, das wurde wiederholt deutlich, auch den weniger vermögenden Bürgern des Königreichs einen Kurbesuch zu ermöglichen. Hier bliebe, so die Hoffnung, der Zeit- und Kostenaufwand am günstigsten. Im zuständigen preußischen Ministerium für Medizinalangelegenheiten sorgte man sich daher auch darum, dass von den Ärzten nicht solchen Kranken ein „Seebad an [...] fern gelegenen Orten [...] verordnet wird, welchen es an den zur Bestreitung der damit verbundenen Kosten notwendig erforderlichen Mitteln gebricht, oder deren Verhältnisse solches nicht ohne die erheblichsten anderweiten Nachteile gestatten“. 1279 Nach den vergeblichen Anläufen zur Seebadgründung vor den Napoleonischen Kriegen kam den pommerschen Medizinalbehörden die Eigeninitiative des Rügenwalder Arztes Dr. Büttner entgegen, der ab 1812 auf eigene Rechnung in Rügenwaldermünde, zwischen Kolberg und Stolp in Hinterpommern gelegen, eine kleine 1279 GStA, Rep. 76 VIII B Nr. 1506, Schreiben des Ministeriums an sämtliche Königliche Regierungen vom 12.7.1834. <?page no="307"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 306 Badeanstalt errichtete. Aber Rügenwalde war nicht Lübeck. 1280 Der Versuch, hier mit Unterstützung der Einwohner einen Aktienverein zu gründen, scheiterte, da sich nicht ausreichend Unterstützer fanden. 1281 Büttner versuchte es daraufhin auf anderem Wege. Mit Rückendeckung der königlich-preußischen Regierung von Pommern in Cöslin und unter Mitwirkung des preußischen Kanzlers von Hardenberg, der sich bei Friedrich Wilhelm III. für Rügenwaldermünde einsetzte, erhielt Büttner zunächst kostenfrei Baumaterial zur Errichtung der Badeanstalt und wenig später von der Regierung noch einmal eine direkte Unterstützung von 700 Reichstalern. 1282 Damit verbunden war aber die Auflage, die bereits früher Dr. Büttner „zur Pflicht gemachte Zulassung der Armen“ 1283 beizubehalten. Auch ganz in der Nähe von Rügenwaldermünde, in der alten Hafen- und Festungsstadt Kolberg, wollte man nach den Kriegsjahren wieder an das alte Seebadprojekt anknüpfen, möglichst verbunden mit der Anlage eines Solebades. 1284 Das in Rügenwalde bereits investierte Geld bewog aber die regionale Regierungsbehörde in Cöslin dazu, sich dezidiert gegen die Anlage eines kombinierten See- und Solebades in Kolberg auszusprechen, da es „dem Emporkommen der Anstalt hinderlich werde [...] wenn in einer so geringen Entfernung von Rügenwalde zu Colberg eine neue Badeanstalt errichtet wird, welches der Frequenz in Rügenwalde von Neuem schadet, und die Badenden der Neuheit wegen, veranlaßt werden, sich 1280 Die ökonomische Situation dieser Hafenorte spiegelte sich auch in der Stellung innerhalb der preußischen Häfen. Rügenwaldermünde lag, ebenso wie Stolpemünde, Anfang der 1830er Jahre zwar noch immer unter den ersten zehn preußischen Hafenorten (Durchschnitt der eingegangenen Schiffe). Beide lagen aber nur, und zwar auch deshalb, weil wegen des geringen Tiefgangs nur kleinere Schiffe einlaufen konnten, an letzter (Rügenwaldermünde) bzw. vorletzter (Stolpemünde) Stelle. Auch der Kolberger Hafenstandort rangierte zu dieser Zeit nur an achter Stelle, während in Swinemünde die meisten Schiffe eingingen. (Vgl. Carl Friedrich Wilhelm Dieterici: Statistische Übersicht der wichtigsten Gegenstände des Verkehrs und Verbrauchs im Preußischen Staate und im deutschen Zollverbande, in dem Zeitraum von 1831-1836, Berlin 1838, S. 458.) Gut zehn Jahre später stellte man bei der Einfuhr für Swinemünde nur noch den siebten Platz (Memel und Pillau führten die Liste bei den Ein- und Ausfuhren an). Stolpemünde, Rügenwaldermünde und Kolberg lagen zu diesem Zeitpunkt auf den Plätzen 13 bis 15. Auch bei der Ausfuhr teilten sich diese drei die letzten Plätze unter den preußischen Häfen. Vgl. Statistisches Bureau zu Berlin (Hg.): Tabellen und amtliche Nachrichten über den Preussischen Staat für das Jahr 1849, vierter Bd., Berlin 1853, S. 327f. 1281 Vgl. Büttner, Seebade-Anstalt, S. 119f. 1282 Vgl. Büttner, Seebade-Anstalt, S. 121; GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben betreffend die Badeanstalt des Dr. Büttner vom 31.12.1817. 1283 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 22.4.1816. 1284 In Kolberg gründete sich erst in den 1830er Jahren ein Bade-Verein aus den „achtbarsten hiesigen Bewohnern“, der sich um die „Verschönerung der Promenaden und [...] für Verbesserung der Badeanstalten“ mit einem Kapital von zunächst 500 Reichstalern einsetzte. Vgl. Colberg, o.V., 1839, S. 20f. <?page no="308"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 307 nach Colberg zu wenden, wo durch die Rügenwalder Badeanstalt sehr benachtheiligt und [...] der völlige Ruin des Unternehmens“ 1285 zu erwarten sei. Sämtliche bereits vom Staat zur Unterstützung Rügenwaldes getätigten Investitionen gingen damit verloren. Auch der zuständige Minister der Geistlichen-, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, Karl von Altenstein, plädierte 1819 dafür, statt einer Neugründung in Kolberg bei Bedarf besser weiterhin Dr. Büttner in Rügenwalde zu unterstützen, um eine unnötige und teure Konkurrenz der beiden Bäder zu vermeiden. 1286 Man muss sich die Umstände der Zeitgenossen vor Augen halten, um zu ermessen, wie unwahrscheinlich eine durch den Zustrom von Besuchern prosperierende Ostseeküste erschien. Die gerade erst beendeten Napoleonischen Kriege, die desolate Finanzsituation des preußischen Staates und die noch weitgehend unbekannte und in Konkurrenz zu den etablierten binnenländischen Bädern stehende Kurform an der See, die zudem in ihrer baulichen Substanz durch Wetterunbilden gefährdet war, - alles dies berechtigte, ja verpflichtete die staatlichen Haushälter zu einer vorsichtigen und sparsamen Förderung. Ein so großes Potential, dass beide Seebäder erfolgreich nebeneinander existieren könnten, wie es wenige Jahrzehnte später der Fall sein sollte, konnte man daher zu diesem Zeitpunkt nicht erkennen. So erschien es den Behörden zunächst sinnvoller, die einmal begonnene Förderung von Rügenwaldermünde fortzusetzen, obwohl Kolberg in seiner doppelten Kurfunktion und als bevölkerungsreiche und infrastrukturell gut angebundene Küstenstadt letztlich eine deutlich günstigere Entwicklung versprach. Das Förderkonzept von Rügenwaldermünde machte dennoch Schule, wenngleich in eher negativer Hinsicht. Denn später - mit diesem Beispiel vor Augen - entschlossen sich die preußischen Medizinalbehörden dazu, auch aus ökonomischen Gründen kein Seebad mehr gegen die Vorlieben des Badepublikums zu fördern. Da Rügenwaldermünde trotz seiner zentralen Lage nur wenig Fremde anzog, da weder Naturschönheiten noch bequeme Unterkunft und Unterhaltung lockten, schrieb Dr. Büttner mit seiner Anstalt jährlich rote Zahlen, woraufhin nur noch bis Anfang der 1820er Jahre staatliche Mittel in das Bad flossen. Bis zu diesem Zeitpunkt hoffte 1285 Schreiben der Cösliner Regierung an die Medizinalbehörden in Stettin, GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2561, Schreiben vom 9.11.1818. Die Idee einer Verknüpfung von See- und Solebad fand sich erneut in der Korrespondenz die der Kolberg Magistrat 1823 mit einem Herrn Fischer um die Anlage einer Seebadeanstalt führte und in der die Kombination von See- und Solebad erneut als einzigartiger Vorteil Kolbergs beworben worde. Vgl. Staatsarchiv Stettin, Akta miasta Kołobrzegu/ Magistrat Kolberg, 65/ 202/ 0/ 1490, Schreiben vom 30.07.1823. 1286 Vgl. GstA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2561, Schreiben des Ministers vom 9.1.1819. <?page no="309"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 308 man noch, mit den Einnahmen des Seebades wenigstens die schwierige wirtschaftliche Situation der Stadt Rügenwalde abmildern zu können. 1287 Unter ähnlichen Vorzeichen wie in Rügenwaldermünde setzte die Gründung des später erfolgreichsten deutschen Ostseebades, Swinemünde auf Usedom, ein. Miteinander verschränkte wirtschaftliche und medizinische Ursachen forcierten hier, freilich unter anderen Voraussetzungen, in bedeutendem Umfang die Entstehung eines öffentlichen Seebades. Zu jenem Zeitpunkt, als die zuständigen Behörden nicht mehr gewillt waren, Rügenwalde im bisherigem Umfang zu fördern, begann deren Interesse an dem sich entwickelnden Seebad Swinemünde, dem Berlin am nächsten liegenden Seebad am südlichsten Zipfel der pommerschen Bucht. 1288 Bereits ab 1813 schickte der preußische Staat Offiziere zur Genesung nach Swinemünde, wobei von einem Seebad ist zu dieser Zeit aber noch keine Rede war. 1289 Dies entwickelte sich tatsächlich erst mit dem wirtschaftlichen Niedergang der Stadt, hervorgerufen durch die Napoleonischen Kriege und die damit einhergehende Kontinentalsperre, vor allem aber durch den ökonomischen Zusammenbruch dieser vom Seehandel lebenden Stadt. 1290 Nach dem Krieg wurde die Fahrrinne der die Stadt teilenden Swine vertieft, so dass die größeren Seeschiffe, die ihre Waren bisher in Swinemünde ausladen oder auf kleinere Schiffe leichtern mussten, nun direkt bis zum großen Binnenhafen nach Stettin durchfahren konnten. Dies war zwar günstig für die pommersche Provinzhauptstadt Stettin, Swinemünde jedoch geriet damit in eine prekäre Situation. Viele Arbeitsplätze fielen weg und die Grundstückspreise begannen zu sinken. Erst in diesem Moment wurden seitens der Stadt und der Provinzregierung die schon seit einigen Jahren anwesenden Badegäste als ökonomisches Potential wahrgenommen. 1291 Noch 1814, als der Kreis-Physikus Dr. Roth bei der Königlichen Regie- 1287 Vgl. v.a. Schriftverkehr GStA, Rep. VIII A, Nr. 2557, Schreiben zu Büttner, 1818-1822, v.a. Schreiben des Ober-Präsidenten von Pommern vom 7.11.1818. Dr. Büttner, den sein Engagement für das Seebad praktisch ruiniert hatte, erhielt als Dank das frei gewordene Kreis-Physikat in Sprottau. Ein Antrag der Cösliner Regierung auf eine zusätzliche finanzielle Entschädigung wurde aber im Namen des Königs auch von Hardenberg abgelehnt. Vgl. ebd., Schreiben von Hardenberg vom 9.5.1820. 1288 Vgl. GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, erste Korrespondenz zum Swinemünder Seebad vom 30.5.1822. 1289 Vgl. Friedrich, Volkswirtschaft, S. 96. 1290 Vgl. dazu Kind, Swinemünde, S. 104ff.; Schleinert, Usedom, S. 127f. 1291 Bereits um 1800 stellten Swinemünder Bürger kleine Badehütten am Strand auf, die aber hauptsächlich für den eigenen Gebrauch bestimmt waren. Wiederholt wurde es zu dieser Zeit „über die Abstellung mehrerer polizeilicher Mängel beim Seebade“ verhandelt. Vgl. Knaak, Entwicklung der Ostseebäder, S. 27 und auch Berghaus, Landbuch, Bd. 1, S. 453f. <?page no="310"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 309 rung zu Stettin um die finanzielle Förderung einer zu gründenden Seebadeanstalt nachsuchte, war er ungehört geblieben. 1292 Gut zehn Jahre später, 1825, wandte sich die seit einem Jahr bestehende Badedirektion an den preußischen Staatsminister mit der Bitte um Unterstützung. Grund sei der drohende Ruin der Stadt, der nur durch neue Einkommensmöglichkeiten, nämlich die Gründung und Etablierung eines öffentlichen Seebades, zu verhindern sei. So hieß es: „Ew. Exzellenz ist es bekannt, dass der hiesigte nicht blühende Ort theils durch die großen Weltbegebenheiten, theils und vorzüglich aber durch den hiesigen Hafenbau und die damit verbundene Vertiefung des Fahrwassers, seinen Nahrungs Erwerb bey der Schiffarth verlohren hat, und - da er seiner Lage wegen sich zur Anlegung von Fabriken und Manufacturen, nicht eignet, Ackerbau und Viehzucht die Einnahmen nicht treiben können, weil die Stadt weder Acker noch Weiden besitzt, man der Fischerey im Swine-Strom und dem Haff, aber ausgeflossen ist, weil selbige lange vor Entstehung dieser recht seit dem Jahres 1750 durch einzelne Ansiedlungen gegründeten Stadt, an die in der Umgebung und befindlichen Dorfschaften und Städtebewohner, verpachtet ist, - so leiden die Einwohner unter einer drückenden Nahrlosigkeit und Hoffnungslosigkeit, und Swinemünde muss bald in der Reihe der Städte verschwinden, wenn nicht irgend ein Mittel zu seiner Erhaltung ausfindig gemacht wird. Durch die Schiffarth und den Handel kann der Ort nicht wieder emporkommen.“ 1293 Dieser Hilferuf der Badedirektion, in der neben dem Badearzt auch der Bürgermeister vertreten war, war die Reaktion auf einen ablehnenden Bescheid des preußischen Königs, der zugleich das Bemühen verschiedener preußischer Seebäder um Unterstützung wie die offizielle Position des Staates dazu wiedergab. Friedrich Wilhelm III. hatte 1824 beschieden: „Auf den Antrag des Staatsministeriums, der Stadt Swinemünde zur Bestreitung der Kosten eines Badehauses, einen Beihülfe von 10.000 Rt. aus der Staats Kasse zu bewilligen, kann Ich nicht eingehen, da auch von anderen Orten her Unterstützung zu solchen Zweck bei Mir nachgesucht und abgelehnt worden sind.“ 1294 In Swinemünde reagierte man auf die Absage vorerst mit der Gründung einer Aktiengesellschaft, für die, bei einem Wert von 100 Reichstalern pro Aktie, 6.500 Reichstaler gezeichnet wurden, mit denen man zuerst das Badehaus errichtete, dazu wurden davon die sandigen Wege von der Stadt zum Seebad chaussiert. 1295 Dank 1292 Vgl. Kind, Swinemünde, S. 105. Der erste Nachweis für das Interesse an den Badegästen liegt mit der Badeliste von 1821 vor, die 29 Badegäste verzeichnet. Vgl. GStA, Rep. 93 B, Nr. 2039. 1293 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 3.11.1825. 1294 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 25.5.1824. 1295 Vgl. dazu GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 25.11.1825, und GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2558, Schreiben vom 23.1.1834. <?page no="311"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 310 dieser Eigeninitiative und nicht zuletzt durch das stete Bemühen des pommerschen Oberpräsidenten Johann August Sack um das Seebad 1296 erhielt die Swinemünder Badeanstalt schließlich ein sogenanntes „Gnadengeschenk“ vom König über 5.000 Reichstaler. Zudem beauftragte Friedrich Wilhelm III., dem am Erhalt der strategisch günstig gelegenen Stadt Swinemünde gelegen sein musste, den preußischen Gartendirektor Peter Josef Lenné, die dem Meer abgewonnene Hafenplantage zu einem Park umzugestalten. 1297 Insgesamt unterstützte Friedrich Wilhelm III. das Swinemünder Seebad mit der beachtlichen Summe von 11.400 Talern. 1298 Mit Hilfe dieser auch in der Badeliteratur ausführlich geschilderten königlichen Unterstützung gelang es in Swinemünde, trotz teilweise ungünstiger Rahmenbedingungen, die Grundlage für ein schnell prosperierendes Seebad zu legen. So wurde 1829 von der Badedirektion vermerkt, dass „außer diesen Badegästen [...] während der Badezeit 503 Fremde Swinemünde besucht [haben] und ist nicht zu verkennen, dass die Anwesenheit jener Badegäste und Fremden für die arme Stadt Swinemünde und die Umgegend, selbst für die hiesige Stadt [Stettin, H.B.] durch welche der größte Theil von dort kommend, passierten, sehr wohltätig gewesen sind“. 1299 Auch noch später, 1844, als Swinemünde die „zur Zeit beliebteste und von dem Publikum aus verschiedenen Provinzen am meisten besuchte Anstalt der Art in der Monarchie“ 1300 war, bemühte man sich um eine staatliche Unterstützung, um schwere Unwetterschäden zu beseitigen. Seitens des preußischen Medizinalministeriums argumentierte man dabei mit der mittlerweile exklusiven Position des Swinemünder Seebades innerhalb der gesamten preußischen Monarchie. Angesichts der Förderung anderer Staaten für ihre Seebäder - man dürfte noch immer vor allem das mecklenburgische Doberan vor Augen gehabt haben - sei es gerechtfertigt, auch herausgehobene preußische Seebäder besonders zu unterstützen. Noch immer stand dabei die merkantile Prämisse im Raum, die eigenen Geldmittel im Lande zu halten und möglichst den Abfluss ins Ausland zu verhindern. Dabei bezog man sich auf einen nun explizit formulierten Grundsatz der offiziellen preußischen Bäderpolitik, der auf die dezidierte Förderung herausragender Badeorte zielte. So hieß es in einem Votum an den preußischen Finanzminister Bodelschwingh und den Innenminister von Arnim: 1296 Der pommersche Oberpräsident Sack kümmerte sich in vielfältiger Weise um die Stadt Swinemünde. Er unterstützte die Gründung des Seebades und war u. a. auch verantwortlich für die Einsetzung der Badedirektion. Vgl. Friedrich, Volkswirtschaft, S. 96. 1297 Vgl. Kind, Swinemünde, S. 106f. 1298 Vgl. Friedrich, Volkswirtschaft, S. 96. 1299 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 2.10.1829. 1300 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 2.10.1829. <?page no="312"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 311 „Es ist seither an dem Grundsatze festgehalten worden, dass eine, aus Staatsfonds zu gewährende Unterstützung an verschiedene kleine, bedeutungslose Bäder für unrathsam und unzweckmäßig zu erachten sei, dass es dagegen als vollkommen gerechtfertigt anerkannt werden müsse, einzelnen Bädern, welche bereits einen besonderen Ruf sich erworben haben, nöthigenfalls eine solche Unterstützung angedeihen zu lassen, damit die diesseitige Verwaltung gegenüber der Liberalität, mit welcher von benachbarten Staaten, in richtiger Würdigung des eigenen Interesses, einzelne Bäder hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der nothwendigen Einrichtungen und der den Badegästen dargebotenen Unannehmlichkeiten ausgestattet werden, nicht in ein zu nachtheiliges Licht gestellt, und die dabei betheiligten Einwohner des Staates hierdurch nicht den ausländischen Bädern zugewendet werden.“ 1301 Eine derartige Unterstützung sei aber im Fall von Swinemünde deshalb vonnöten, da die Kommune unvorhergesehene Unwetterschäden nicht allein beheben könne. So gelang Swinemünde mit einer Mischung aus privaten und staatlichen Mitteln die Konsolidierung und Etablierung als eines der bedeutendsten Seebäder Deutschlands, wobei die Stadt in besonderem Maße von ihrer Nähe zur preußischen Metropole Berlin profitierte. Für das wichtigste Seebad der östlich von Usedom liegenden Insel Wollin, Misdroy, bedeutete die erwähnte preußische Direktive dagegen, dass die erbetene staatliche Unterstützung ausblieb. In einem Bescheid des preußischen Innenministeriums vom April des Jahre 1846 hieß es, die Gewährung eines Gnadengeschenkes oder eines zinslosen Darlehens sei nicht begründet, zudem „dürfte um so weniger darauf einzugehen sein, als, wenn die Gewährung bekannt würde, die bedeutende Zahl der an verschiedenen Punkten der Ostseeküste in neuerer Zeit entstehenden Bäder ähnliche Anträge anderer sich mit der Gemeinde Misdroy in gleichen Verhältnissen befindenden Ortsgemeinden unausbleiblich erwarten ließe“. 1302 Die nötigen Verbesserungen aber, die sich vor allem die Badegäste wünschten, müssten diese dann auch selbst aufbringen: „Bei dem Unvermögen der Bewohner wird es daher den Badegästen überlassen bleiben müssen, zur Ausführung der in dem Berichte der Regierung vorgeschlagenen Verbesserungen der dortigen Badeanstalt die erforderlichen Geldmittel durch Beiträge aufzubringen.“ Mit derselben Begründung und der auch hier erfolgten Aufforderung, die Badegäste stärker an den Verbesserungen der Badeanstalten (vor allem der Wege und Badeanlagen) zu beteiligen, wurde wenige Jahre später auch der ähnlich lautende Antrag des ein wenig weiter östliche gelegenen Seebades Dievenow von den zuständigen 1301 GStA, Rep. 87 VIII A, Nr. 2558, Schreiben vom 20.2.1844. 1302 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2559, Schreiben vom 14.4.1846. <?page no="313"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 312 Ministerien abgewiesen. 1303 Private Gelder waren so in den meisten Fällen die Grundlage für die Entstehung von Seebädern. Je nach Höhe der Summe, die zur Anlage und zum Unterhalt einer Seebadeanstalt zur Verfügung stand, unterschied sich die Entwicklung der jungen Seebäder ganz erheblich. Das verdeutlicht auch der folgende Fall: Nur wenige Kilometer nordwestlich von Swinemünde entstand durch die Privatinitiative des Oberförsters Georg Bernhard von Bülow um 1820 Heringsdorf. 1304 Bülow war Besitzer des nahe Swinemünde gelegenen Rittergutes Gothen und siedelte auf Strandparzellen Fischer an, um die reichen Heringsfänge der Ostsee abzuschöpfen. 1305 Bülow entdeckte bei Holzeinschlägen am Strand die landschaftlich pittoreske Lage und errichtete in wenigen Jahren ein Ensemble an Bäderbauten. Innerhalb kurzer Zeit entstand hier ein Gesellschaftshaus, drei Logierhäuser, ein Haus für warme Bäder und die Seebadeanstalt. Da Heringsdorf kein gewachsenes Fischerdorf war, prägten das Seebad und die Fremden von Beginn an diesen Ort in ungleich stärkerem Maße als in den vielen kleinen Stranddörfern, die sich später ein Seebad zulegten. Den ersten Besuchern aus Swinemünde folgten bald vor allem Berliner und Stettiner Gäste. Bis 1872, als die Aktiengesellschaft „Seebad Heringsdorf“ das Bad übernahm und mit großem finanziellen Aufwand zu einem internationalen, mondänen Seebad formte, blieb das kleine und exklusive Heringsdorf in Privatbesitz. 1306 Finanzielle Spekulationen, vor allem um den reichen Buchenwaldbestand, führten dabei immer wieder zu Konflikten zwischen den Eigentümern, die am Verkauf des Buchenholzes interessiert waren, und den Badegästen, die teilweise auch in Heringsdorf Häuser errichtet hatten und für die der alte Buchenwald essentiell zum Seebad gehörte. 1303 Dem Oberpräsidenten von Pommern, von Bonin, wurde auf sein Anliegen zur Unterstützung der Gemeinden erwidert, „daß wir das Gesuch der Bade Direktion der Ostee Bäder zu Berg- und Klein Dievenow und Raddack um Bewilligung einer Unterstützung [...] nicht für hinreichend begründet erachten, und auf dasselbe um so weniger eingehen können, als die Gewährung des Gesuches, bei der bedeutenden Zahl der, an der Ostsee in neuerer Zeit entstandenen Bäder, unzweifelhaft vielfache Berufungen herbeiführen würde. Wenn die betreffenden Gemeinden wirklich außer Stande sind, die Kosten zur Anlegung der in Rede stehenden Wege aufzubringen, so muß es den Badegästen überlassen bleiben, durch Beiträge den Gemeinden hierin zur Hilfe zu kommen.“ GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2559, Schreiben der Minister der Medicinal-Angelegenheiten, des Innern und der Finanzen vom 27.3.1848. 1304 Zu Heringsdorf vgl. Hartwig, Heringsdorf; Bresgott, Suburbia. 1305 Besonders in der Zeit zwischen 1820 und 1830 traten ungewöhnlich große Heringszüge in der Ostsee auf. Um diese abzuschöpfen, wurden an der Küste Parzellen für Fischer angelegt, aus denen u. a. die Ortschaften Heringsdorf, Hammelstall und Karlshagen auf der Insel Usedom hervorgingen. Vgl. dazu Burkhardt, Chronik der Insel Usedom, S. 133f., 240. Nach Berghaus wurden in den 1820er Jahren „allein an der pommerschen und rügenschen Küste jährlich 20.000 Tonnen Hering eingesalzen. Allein, er [der Heringsfang, H.B.] hat seitdem wieder abgenommen.“ Heinrich Berghaus: Allgemeine Länder- und Völkerkunde, Bd. 4, Stuttgart 1838, S. 554. 1306 Vgl. Bresgott, Suburbia, S. 363ff. <?page no="314"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 313 In einem Brief an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. beschwerten sich die vorrangig aus Berlin und Stettin Hinzugezogenen über den Eigentümer und den mise rab le n Zu st and des B ades u nd f or der te n de n Köni g au f, das B ad aus Staatsmitteln zu erwerben, denn „nur in eurer Majestät Händen kann Heringsdorf werden, wozu es, nach dem Urteil der namhaftesten Ärzte und Reisenden, von der Natur bestimmt ist: der erste Badeort am deutschen Meeresstrande! “ 1307 Das Ansinnen wurde jedoch abgelehnt, Heringsdorf blieb in Privatbesitz. 1308 Die günstige landschaftliche Lage und die Nähe zur Stadt Swinemünde, die die urbanen Bedürfnisse der Gäste befriedigte, sorgten jedoch auch weiterhin für eine gewisse exklusive Stellung des kleinen Heringsdorf. Als Gegenentwurf zu Heringsdorf kann man in gewisser Weise Dievenow betrachten, ein Seebad, bestehend aus den drei kleinen, von Fischerei und Landwirtschaft lebenden Gemeinden Ost-, West- und Berg-Dievenow, an der Grenze zwischen der Insel Wollin und dem hinterpommerschen Festland gelegen. Obwohl auf ähnlichem Wege von Berlin über Stettin aus zu erreichen, saugten Swinemünde und Heringsdorf Anfang der 1820er Jahre die ersten Badegäste förmlich auf. Winzige Fischerdörfer wie Dievenow konnten dagegen nur wenige Gäste an sich binden. Als „Nachkömmling“ musste Dievenow, wie alle späteren Bädergründungen, eine Nische finden, um für Badegäste attraktiv zu werden. Verkehrstechnisch relativ günstig gelegen, profitierte Dievenow von der ständig wachsenden Anzahl der Badegäste aus dem Binnenland und von den hier herrschenden einfachen Verhältnissen, die es besonders günstig machten und den weniger Vermögenden einen Seebadebesuch überhaupt erst ermöglichten. So entwickelte sich ab den 1830er Jahren ein bescheidenes Seebad mit Badelisten, Badepolizei und einer Badedirektion, der der Landrat vorstand. 1309 Mit der Entwicklung von institutionellen Strukturen begann auch der Ausbau als öffentliches Seebad. Dementsprechend plante die Badedirektion, so der Badearzt Dr. Loewe, zunächst einen chaussierten Weg zum Strand anzulegen, da dieser sehr sandig sei. Man entschloss sich dann aber dafür, „im Interesse der Badegäste und zur Verschönerung des Badeortes ein Gesellschafts- und Logirhaus auf Aktien zu erbauen“, 1310 welches dann auch 1845 feierlich eingeweiht wurde. In Dievenow war man gehalten, die weniger vermögenden Gäste an sich zu binden. Dementsprechend wurde auch geworben: „Wie manche Familie entbehrt des schätzbarsten Heil- 1307 LA Greifswald, Rep. 60 Oberpräsident von Pommern 12, Schreiben vom 23.9.1857. 1308 Ein bereits früher beantragter Ankauf Heringsdorfs wurde mit einem ablehnenden Bescheid des Finanzministers Bodelschwingh erwidert, da ein „fiscalisches Interesse nicht“ bestehe. Schreiben vom 26.2.1856, LA Greifswald, Rep. 60 Oberpräsident von Pommern 12. 1309 Vgl. Loewe, Dievenow, S. 16f.; Henckel, Dievenow, S. 14ff. 1310 Loewe, Dievenow, S. 17. <?page no="315"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 314 mittels, wenn nicht Orte wie unser Seebad ihnen auch mit geringen Unkosten eine solche Kur zugängig machten.“ 1311 Auf einen anderen Status konnten die beiden wichtigsten Bäder der Provinz Preußen setzen, nämlich Zoppot und Cranz. Was Swinemünde für die Berliner war, wurde Zoppot für die Danziger und Cranz für die Königsberger - das Seebad als urbanes Phänomen. Mit diesen bedeutenden Städten im Rücken könnte man annehmen, dass die Finanzierung eines Seebades sich ohne großen Aufwand aus privaten Mittel bestreiten ließ. Die beiden Seebäder entwickelten sich aber durchaus aus recht verschiedenen Motiven. Doch auch hier zeigte sich eine Mischung aus öffentlicher Unterstützung und privatem Engagement. In Zoppot war es der Danziger Arzt Dr. Haffner, der 1823 auf eigene Kosten eine Badeanstalt und ein Kurhaus errichtete. Bereits davor gab es im nahe Danzig gelegenen Brösen eine durch den französischen Gouverneur Rapp angelegte kleine Badeanstalt. 1312 In Zoppot errichteten inzwischen Einwohner für ihren privaten Gebrauch einen Badepavillon. Aber erst mit dem 1822 beginnenden Bau der Kunststraße zwischen Zoppot und Danzig wurde die Errichtung einer Seebadeanstalt vorangetrieben. Bereits 1819 förderte die Regierung in Danzig einen Antrag zum Bau eines Seebades, indem sie die umliegenden Gutsbesitzer, zunächst freilich vergeblich, aufforderte, „Baum- und Strauchpflanzungen längs des Zoppoter Strandes vorzunehmen“. 1313 Auch die 1820 erlassene Anordnung der Regierung an den Gutsbesitzer Wegener, ein Badehaus zu errichten, wofür er verschiedene Privilegien erhalten sollte, verpuffte ergebnislos. Die einzusetzenden Eigenmittel und die Etablierung eines Kurortes motivierten die örtlichen Gutsbesitzer nicht hinreichend, um den Status quo zu ändern. Und auch der Versuch des Ober-Regierungsrates von Flottwell, „eine Badeanstalt durch ein Aktienunternehmen ins Leben zu rufen, fand nicht den geeigneten Boden“. 1314 Erst infolge des Engagements des Danziger Militärarztes Dr. Johann Haffner entstand schließlich eine öffentliche Badeanstalt. Als staatliche Zuwendung erhielt Haffner zwei Morgen Land, dazu wurde er bei der Anpflanzung des kahlen Landes rund um das Kurhaus unterstützt. 1315 Die Badeanstalt blieb nach Haffners Tod in 1311 Loewe, Dievenow, S. 13. 1312 Vgl. dazu Schultz, Chronik, S. 55. 1313 Schultz, Chronik, S. 56 1314 Schultz, Chronik, S. 56. 1315 Hier wie in den meisten anderen Fällen lassen sich die einzelnen Unterstützungen nur anhand weniger Quellen nachweisen; weitere finanzielle und materielle Unterstützungen seitens staatlicher Institutionen können also nicht ausgeschlossen werden und sind angesichts der Entwicklung einzelner Bäder, neben dem sich genauso schwierig nachzuweisenden privaten Engagement, anzunehmen. Hierzu und zu dem Folgenden vgl. Benzler, Zoppot, S. 16f., und Schultz, Chronik, S. 56f. Dr. <?page no="316"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 315 Privatbesitz und wurde beständig ausgebaut. Der in den 1830er Jahren amtierende Badearzt von Zoppot, Dr. Eduard Theodor Halffter, berechnete den Wert der neu en tst an de ne n Geb äu de, d ie s eit 1 820 i n de m Bad eor t er ric ht et w ord en wa re n, m it über 100.000 Reichstalern. 1316 Haffners Nachfolger als Badeärzte erhielten als öffentliche Unterstützung für einige Jahre vom preußischen Ministerium eine Entschädigung von täglich zwei Talern für die Saison. Für den weiteren Ausbau des Seebades bestimmte die Regierung schließlich eine fixe Kurtaxe. Als letzter beispielhafter Fall für die preußischen Seebäder soll hier die Gründung und Etablierung des nahe Königsberg gelegenen Cranz in Westpreußen ausführlicher vorgestellt werden; dort engagierten sich die lokalen Behörden stärker als an anderen Orten. 1317 Bereits 1800 hatte die um die Gründung eines Seebades sehr bemühte preußische Regierung in Königsberg König Friedrich Wilhelm III. ein Angebot zur Anlage eines Seebades unterbreitet. 1318 Nachdem in Königsberg verschiedene Orte für ein Seebad vorgeschlagen wurden und der medizinische und patriotische (das heißt ökonomische) Nutzen herausgestellt und begründet worden waren, erfolgte vom Medicinaldepartement in Berlin dennoch ein abschlägiger Bescheid. Zwar unterstütze man das Bemühen um die Anlage eines Seebades, man könne aber „in Ansehung der Kosten nichts dazu beitragen“. 1319 Nachdem sich ab 1813 die politische Lage in Preußen wieder stabilisierte, wandte sich die Regierung in Königsberg erneut der Anlage eines Seebades in Cranz zu. Und das Medicinaldepartement in Berlin versprach jetzt, „mit dem ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu Hülfe [zu] kommen“. 1320 Bis 1817 dauerte die von der Regierung betriebene Suche nach dem geeigneten Ort. Als Vorbereitung für eine Seebadgründung wurden zunächst verschiedene Standorte besichtigt und hinsichtlich der erforderlichen medizinischen und infrastrukturellen Ansprüche geprüft. Dabei wurde konstatiert, dass die erst später zu Seebädern heranwachsenden Fischerdörfer Rauschen und Neuhäuser zwar landschaftlich schöner lägen, sie aber dennoch nicht in Frage kämen, denn Haffner betonte in seiner Badeschrift von 1823 wiederholt die „großmüthige Unterstützung der Königlichen Regierung zu Danzig, die so bereitwillig alles Gute zum Wohl des Publicums befördert.” Haffner, Zoppot, S. 8. 1316 Halffter, Zoppot,S. 225. 1317 Vgl. GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Titel: Acta von See-Bädern in Preußen in specie Cranz, Vol. 1, 1800-1863. 1318 Vgl. GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben des Ost-Preußischen Provinzial Collegium Medicam et Sanitatis vom 2.7.1800. Das Dorf Cranz gehörte zum Domänen-Fiskus und unterstand damit verwaltungstechnisch auch der Regierung in Königsberg. 1319 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben des Medicinal-Departements in Berlin vom 23.2.1801. 1320 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben an die Königsberger Regierung vom 20.11.1813. <?page no="317"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 316 „für Cranz hatte das Publicum schon früher entschieden, und es wünschte hier nur polizeiliche Aufsicht, um ungestört baden, und in der See sich aufhalten zu können, mehr Bequemlichkeit beim Baden, und bessere und mehrere Gelegenheit zum Unterkommen, auch eine eigenthliche Badeanstalt, welche das Seewasser in verschiedenen beliebigen Temperaturen und in verschiedenen Anwendungsformen als Tropf- Spritz- und Duschbad usw. benutzen liesse“. 1321 Ohne in Berlin anzufragen, griff die ostpreußische Regierung auf Haushaltsmittel zurück, da die „Forderungen des Publicums und ihre Wünsche so laut“ seien, dass man keine Zeit mehr habe, um „erschöpfend darüber zu berichten“. In diesem Sinne setzte man sich in der Folge in Königsberg für Cranz ein und ließ durch einen Privatunternehmer erste Badebuden am Strand aufstellen. Da diese nicht zur Zufriedenheit des Publikums ausfielen, ließ die Regierung auf eigene Kosten mehrere Buden und ein größeres Badekabinett errichten, für das Badewannen, Kessel zum Erwärmen des Wassers und die nötigen Badeutensilien angeschafft wurden. Die dafür vorgeschossenen 329 Reichstaler erbat man nun nachträglich zu genehmigen, wobei die Königsberger Regierung auf die Unterstützung des preußischen Finanzministers von Bülow zählen konnte, der das nötige private Engagement einforderte aber auch formulierte, es „dürfte der Zutritt Seitens des Staats, in mäßigem Umfange, dennoch ebenfalls Gründe für sich haben“. 1322 Und so finanzierte das zuständige Departement nicht nur den weiteren Ausbau der Badeanlagen, von Treppen und Stegen, sondern auch die Stelle eines Wachtmeisters zur Aufrechterhaltung der Ordnung. 1323 Mehrfach wurden in den nächsten Jahren der Ausbau des Bades und die Wiederherstellung der durch Sturm zerstörten Badeanlagen durch die Königsberger Regierung unterstützt. Es wurden auch 300 Reichstaler gewährt, um „dem früher öden Strandorte Cranz, durch einige Anpflanzungen eine etwas freundlichere Seite zu gewähren“. 1324 In Cranz von einem preußischen Staatsbad zu sprechen, 1325 scheint trotzdem nicht angebracht, denn es gab zum einen eine immer stärkere private Beteiligung an Ba- 1321 Dies und das Folgende GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben an die Königsberger Regierung vom 8.2.1817. 1322 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben von Bülows an den preußischen Minister des Innern vom 2.4.1817. Mit dem Schreiben des Königs an den Staatsminister von Altenstein vom 11.12.1817 wurde der geleistete Vorschuss aus einer separaten Kasse für das Seebad angewiesen. GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546. 1323 Als Grundherr des Dorfes Cranz war der Domainen-Fiskus verpflichtet, für die erforderliche Polizei- Verwaltung zu sorgen. 1324 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben vom 23.5.1832. 1325 Vgl. Tilitzky/ Glodzey, Ostseebäder, S. 519. <?page no="318"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 317 deanlagen und Logiermöglichkeiten, zum anderen weigerte man sich in Berlin, sämtliche angefallenen Kosten zu übernehmen. 1326 Der große Zuspruch für das Cranzer Seebad durch Königsberger Bürger führte 1841 zur Gründung einer Aktiengesellschaft, die das im Vorjahr abgebrannte Gesellschaftshaus ersetzen sollte und dem ganzen Ensemble einen „geräumigeren und den Anforderungen des Bade-Publikums entsprechenden“ 1327 Anstrich zu geben versprach. Die Regierung blieb Verwalterin der Badeanlagen, während von privater Seite vor allem die Anlagen des neuen Logier- und Gesellschaftslebens finanziert wurden. Unter den Zeichnern von Aktien befanden sich, das mag die besondere Rolle des kleinen Bades vor dem Hintergrund seiner mentalen Zugehörigkeit zu Königsberg verdeutlichen, bedeutende Persönlichkeiten aus Politik und Militär, so der spätere Ministerpräsident von Manteuffel, Feldmarschall von Wrangel, Ober- Marschall Graf zu Dohna-Wundlachen und die Kanzler Dr. von Wegnern und Dr. von Zander. 1328 Diese bedeutende soziale Gruppierung spiegelte die gesellschaftliche Bedeutung des jungen Badeortes wider, und dementsprechend wurde die AG, da sie trotz der prominenten Förderer wiederholt in finanzielle Turbulenzen geriet, von der Regierung aus den Einnahmen der Badeanstalt bis zum Jahr 1852 mit insgesamt 1.150 Reichstalern unterstützt. 1329 Im Zuge der Aktivitäten der Aktiengesellschaft investierte auch die Regierung noch einmal in größerem Maßstab in alle für ein Seebad maßgeblichen Bereiche - Kuranlagen, Landschaftsgestaltung, Bequemlichkeit. Die Regierung, so hieß es in einem Bericht, „hat deshalb nicht allein die Badelokalitäten angemessen vermehrt, sondern auch bequemer eingerichtet; sie hat festere und bequemere Ufertreppen bauen, Douche-Apparate herstellen, ausgedehnte Anpflanzungen und Garten-Anlagen ausführen lassen, und überhaupt, so weit es die Mittel gestatteten, für die Annehmlichkeiten des Bade-Publikums gesorgt. Insbesondere ist noch ein zweites Grundstück angekauft, und darauf eine Wannen-Bade-Anstalt erbaut.“ 1330 Cranz blieb in den preußischen Provinzen jedoch das einzige Bad, in dem die Provinzregierung in Königsberg nicht nur dauerhaft die Verwaltung innehatte, sondern sich auch in nennenswertem Umfang am laufenden Betrieb der Badeanstalten finanziell engagierte. 1326 Vgl. etwa den Bescheid von Altensteins vom 26.4.1819, in dem die Finanzierung eines Badewagens zugesagt wurde, aber: „Ein Mehreres kann jedoch von der Hand nicht erfolgen und daher auch die anderweitigen Anträge nicht berücksichtigt werden.“ 1327 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben der Königsberger Regierung vom 28.3.1854. 1328 Vgl. GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Gesuch der Cranzer Aktien-Gesellschaft vom 19.8.1862. 1329 Vgl. GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Gesuch der Cranzer Aktien-Gesellschaft vom 19.8.1862. 1330 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben der Königsberger Regierung vom 28.3.1854. <?page no="319"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 318 Abseits der großen Küstenstädte war das öffentliche wie das private Interesse an der Errichtung einer Badeanstalt zweifellos schwieriger zu gewinnen. Das zeigte sich auch an der westlichen Ostseeküste. In Apenrade im nördlichen Schleswig versuchte sich der Kreis-Physikus Dr. Neubert an der Gründung einer Seebadeanstalt. Doch seine Initiative, in dem kleinen, der dänischen Krone unterstehenden Städtchen ein Seebad zu etablieren, war weniger erfolgreich. 1331 Unter seiner Leitung finanzierten 1813 einige Einwohner der Stadt zunächst ein kleines schwimmendes Badehaus. Für den weiteren Ausbau der Seebadeanstalt zählte man auf die Unterstützung des dänischen Königs und gab 1818 Aktien aus, die das Vorhaben einer Badeanstalt mit Gesellschaftshaus und Badekarren finanzieren sollte. Doch statt der veranschlagten 24.000 Reichstaler kamen weniger als 10.000 Reichstaler zusammen. Das gerade erbaute Gesellschaftshaus wurde daraufhin wieder verkauft und diente als Materiallager für städtische Bauvorhaben. Als Gründe für die mangelnde Investitionsbereitschaft bezeichnete Hille später die ungünstige Verkehrsanbindung Apenrades sowie vor allem die zur gleichen Zeit aufstrebenden Badeanstalten auf der Insel Föhr und in Kiel, deren Besuch die Badegäste vorziehen würden. 1332 Auch hier zeigt sich, unter welchen Bedingungen ein Bad erfolgreich werden konnte - oder in welchem Maße das Fehlen bestimmter Voraussetzungen die Entwicklung eines Bades zumindest verzögern konnte. Beides, die schlechte Anbindung an große Verkehrswege sowie die Konkurrenz attraktiver Bäder, dürfte dazu beigetragen haben, dass man der Anstalt keine große Zukunft zutraute. Für das nahe Kiel war die Lage dementsprechend eine andere. Hier verfolgte bereits 1803 der Etatsrat Dr. Brandis, später Leibarzt der dänischen Königin und zu diesem Zeitpunkt Professor an der Kieler Universität, den Plan, ein Seebad nahe der Stadt an der Kieler Förde anzulegen. Obwohl eine öffentliche Unterstützung zugesagt wurde, „gelang es damals noch nicht, ein allgemeineres Interesse dafür einzuflößen, und aus Mangel an hinlänglicher Unterstützung musste vorerst die Sache aufgegeben werden“. 1333 Nachdem auf Befehl des dänischen Königs, unter dessen Regierung Kiel seit 1773 stand, eine Allee von Kiel nach einem nahen Gehölz, dem sogenannten Düsterbrooker Holz, an der Förde angelegt worden war, gewann die Gegend an allgemeinem Interesse. Auch die Anlage einer Badeanstalt kam nun wieder ins Gespräch, und „der König selbst schenkte dieser Idee seine Gunst. Eine königliche Commission wurde niedergesetzt, um die Ausführung einzuleiten, das passendste Local zur Anlegung des Seebades wurde auf Königliche Kosten angekauft“, aber „neue Hindernisse 1331 Vgl. Hille, Heilquellen Deutschlands, S. 153ff. 1332 Hille, Heilquellen Deutschlands, S. 154. 1333 Pfaff, Kiel, S. 5. <?page no="320"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 319 stellten sich“ 1334 entgegen. Schließlich, unterbrochen von den Kriegswirren, gründete sich 1819 eine Aktiengesellschaft, und „in kurzer Zeit war die bedeutende Summe von 23.000 Reichsthalern in Actien, jede zu 400 Reichsthalern“ 1335 unterzeichnet. Nach dem Bericht von Dr. Pfaff wurden insgesamt 80 Aktien ausgegeben, von denen der größte Teil von Kieler Bürgern, einige von Gutsbesitzern aus der Nachbarschaft, gezeichnet wurden. 1820 übertrug der dänische König „die passenden Gründstücke, welche bereits aus Königlicher Kasse angekauft waren, der Gesellschaft der Actionärs gegen die Erlegung eines sehr mäßigen jährlichen Canons zum Zwecke der Anlegung eines Seebades [...] und der Gesellschaft das wichtige ausschließliche Recht auf eine Badeanstalt“. 1336 Die Gesellschaft erhielt zwar keine finanziellen Mittel von der Regierung, dafür aber neben der Gründung einer Seebadeanstalt noch verschiedene Rechte, u. a. Veranstaltungen durchzuführen und Promenaden in der Umgebung anzulegen. Mit dem Aktienvermögen begann 1821 der Bau der Badeanlagen und die weitere Umgestaltung der Umgebung, im Juni des folgenden Jahres wurde die Anstalt in Kiel- Düsterbrook eingeweiht. Auch die mecklenburgische Hansestadt Rostock förderte „ihr“ an der Warnowmündung gelegenes Seebad im alten Lotsen- und Fischerdorf Warnemünde. Bereits vor 1820 gab es hier vereinzelt Badegäste, die zunächst fast ausschließlich aus dem nur wenige Kilometer entfernten Rostock anreisten. Die Aufsicht über die Badeanstalten wurde nicht von einer Badedirektion übernommen, sondern von dem für Warnemünde als Orts- und Gerichtsbehörde zuständigen Gewettgericht in Rostock. 1337 Dabei hielt man sich seitens der Stadt Rostock aus politischen Gründen, das heißt mit Rücksicht auf das nur wenige Kilometer entfernte großherzogliche Seebad Doberan-Heiligendamm, mit dem Ausbau der Badeanstalten zunächst bewusst zurück, bis 1834 schließlich eine private Badeanstalt genehmigt wurde. 1338 Privates und öffentliches Engagement wirkten auch hier beim Ausbau des Bades zusammen. Während die Einwohner aus eigenen Mitteln den Ort den Bedürfnissen der schnell wachsenden Zahl der Besucher soweit wie möglich anpassten, übernahm die zuständige Rostocker Verwaltung die Verpachtung der Anfang der 1830er Jahre angelegten Seebadeanstalt, gewährte den dortigen Pächtern wiederholt finanzielle Unterstützung und sicherte zudem die Wetterrisiken (Sturmschäden, Über- 1334 Pfaff, Kiel, S. 6. 1335 Pfaff, Kiel, S. 7. 1336 Königliche Resolution, zit. nach Pfaff, Kiel, S. 7. 1337 Vgl. Hille, Heilquellen, S. 206. 1338 Vgl. Barnewitz, Warnemünde, S. 230; Mahn, Warnemünde, S. 13f. <?page no="321"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 320 schwemmungen etc.) ab. 1339 Für Warnemünde wie für Rostock zahlte sich das zunehmende Badeleben allmählich aus. Um aber gegen die wachsende Anzahl neuer Seebäder zu bestehen, argumentierte man auch hier angesichts nötiger Investitionen mit wirtschaftlichen Überlegungen. Nur bei einem angemessenen finanziellen Aufwand zum Erhalt und Ausbau der Bäder würden, so das Gewett, die Gäste weiterhin Warnemünde besuchen. Daher erforderte es auch „das Interesse Rostocks, dass zur Bequemlichkeit und Annehmlichkeit der Badegäste angemessene Vorrichtungen getroffen werden, damit nicht aus Mangel solcher Vorrichtungen den Badegästen Veranlassung zum Wegbleiben aus Warnemünde gegeben ist“. 1340 4.2.2 Dauerhafte Finanzierung der Kuranlangen Neben der staatlichen und privaten Förderung der Anfangszeit stand das Bemühen der Anstaltseigentümer, die laufenden Ausgaben für das Seebad so weit wie möglich mittels Abgaben der Badegäste zu decken. Neben einer indirekten Finanzierungsform, wie sie etwa durch den Betrieb von Spielhallen in Doberan und Putbus betrieben wurde, 1341 und deren Gewinne auch den Seebädern zukamen, standen vor allem die direkten Abgaben für Leistungen im Kur- und Logierbereich. Bereits in vielen der frühen Badeschriften waren die Kosten für einzelne Kurformen, für Handtücher, Transportleistungen, Verpflegung etc. aufgeführt. Hofrat Dr. Kind aus Swinemünde etwa gab für das Jahr 1828 die Kosten für die Unterbringung während der gesamten Badezeit für zwei Zimmer mit Kammern, Küche, Speisekammer, Bedienstube und Stallung mit ca. 40 bis 60 Reichstalern an. 1342 Für ein abonniertes 1339 Vgl. u. a. StA Rostock, Gewett Warnemünde 31, Badeanstalt in Warnemünde, Rat Warnemünde, Bd. I, Schreiben vom 8.1.1836, bezüglich der Absicherung für die Folgen des Wellenganges, und Schreiben vom 8.4.1848. Vgl. zu Warnemünde auch Eduard Mahn: Fremdenführer speciell für Badegäste von Dr. med. Ed. Mahn. Badearzt zu Warnemünde, Rostock 1886. 1340 StA Rostock, „Badeanstalt in Warnemünde“, Bd. 1, 1834-1851, Rat Warnemünde, Sign.: 1.1.3.23.- 31, Nr. 50, Schreiben des Gewett vom 8.10.1845. 1341 In Preußen stellte bereits das Preußische Allgemeine Landrecht das mit Gewinnabsicht betriebene Glücksspiel unter Strafe. Besonders in den Bade- und Kurorten entstanden im 18. Jahrhundert öffentliche Spielbanken, die nicht unerheblich zur Finanzierung von Kurbetrieben beitrugen. Spielsucht und Kurbetrieb waren von diesem Zeitpunkt an untrennbar miteinander verwoben und wurden dementsprechend kritisiert. Hille tadelte in seiner 1838 erschienenen Schrift zu den deutschen Heilbädern das Seebad Putbus als letztes preußisches Bad, dass noch am Hazardspiel (d.h. Glücksspiel) festhalte und damit „viele dazu bringt, mit Kummer und Schmerz auf eine Anstalt zurück zu blicken, deren edler Zweck nur ist, Gesundheit, Freude und Gedeihen zu schaffen.“ (Ders., Heilquellen, S. 228) Ein allgemeines Glücksspielverbot, einhergehend mit der Schließung von Spielbanken, erfolgt erst 1872. Vgl. dazu Nantje Johnston: Lauterkeitsrechtliche Unterlassungsansprüche im Glücksspielrecht, Frankfurt/ Main 2009. S. 34ff. 1342 Kind, Swinemünde, S. 109. <?page no="322"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 321 Mittagessen im Gesellschaftshaus waren wöchentlich gut zwei Reichstaler zu entrichten, für den ganzen Monat zehn Reichstaler. Für die Badehütten zahlte man für di e ges am te Ba de ze it ca . zw ei R eic hs ta ler . 1343 Das aufwendigere Warmbad kostete für sechs Anwendungen ebenfalls zwei Reichstaler, wobei den Gästen bei Bedarf dort Erfrischungen gereicht wurden. 1344 Hinzu kamen die Aufwendungen für Ausflüge und Unterhaltungsveranstaltungen. Dr. Pfaff nannte für die Kieler Seebadeanstalt Preise von zwölf Schillingen für ein kaltes und von 20 Schillingen für ein warmes Bad. Um die Kieler Preise ins Verhältnis zu setzen zu können, informierte er über entsprechende Preise für das Nordseebad Cuxhaven und für Travemünde. Danach kostete ein warmes Bad in Cuxhaven 24 Schillinge und ein Karrenbad 20 Schillinge, während man in Travemünde laut Pfaff für ein warmes Bad noch 24 Schillinge zahlte. 1345 Preispolitik war auch hier ein Bemühen um Abgrenzung und Distinktion. Diese wurde in zahlreichen Badeschriften offensiv betrieben und am Ort öffentlich bekannt gemacht, um dem Eindruck des Betruges, wie er in vielen Bädern üblich gewesen scheint, von vornherein entgegenzutreten. 1346 Die verschiedenen Währungen und uneinheitlichen Tarife erschwerten konkrete Vergleiche. Dr. Sachse aus Doberan führte diese Problematik der Preisgestaltung in den verschiedenen Seebädern in seiner Badeschrift aus und warf dabei u. a. Dr. Kind aus Swinemünde vor, dass nur wegen dessen unpräziser Formulierungen die Preise dort günstiger als in Doberan erschienen. 1347 Dass Doberan aber zu den teuersten Seebädern gehörte, leugnet auch Dr. Sachse nicht, verdeutlichte dies ja nicht zuletzt den eigenen Anspruch als in jeder Hinsicht erstes deutsches Seebad mit einer ausgewählten Klientel. Dagegen war es die notwendige Strategie kleiner Seebäder, die keine Badeanlagen und komfortable Unterkünfte bieten konnten, mit einer minimalen oder gänzlich erlassenen Taxe um Gäste zu werben. Alle Seebäder waren zu ihrem Unterhalt aber auf eine Finanzierung durch die Badegäste angewiesen. Diese Gelder einzutreiben, ohne die Gäste durch zu hohe Forderungen zu verprellen, blieb ein dauerhaftes Problem für die Badeverwaltungen. In Zoppot versuchte der erste Eigentümer der Badeanstalt, Dr. Haffner, die Gäste auf doppeltem Wege zur Finanzierung des Anstalt zu bewegen. Wie in den meisten Bädern verlangte er Eintritt für Bäder und Dienstleistungen, bat aber zudem um 1343 Kind, Swinemünde, S. 114. 1344 Kind, Swinemünde, S. 119. 1345 Pfaff, Kiel, S. 54. Die in den frühen Seebadeschriften verzeichneten Angaben über Preise lassen sich allerdings nur schwer gegenüberstellen, da Münzwechsel und die uneinheitlichen Tarife sich kaum vergleichen lassen. 1346 Vgl. Mahling, Residenzen des Glücks, S. 89. 1347 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 322f. <?page no="323"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 322 einen „mäßigen Beitrag der Badegäste“, dessen Höhe „allein dem Ermessen der Badegäste überlassen“ 1348 wurde. 1349 Mit diesen sollten die Kosten für die Badeaufseher, Verbesserungen der Badeanstalt sowie die Anlage einer Promenade finanziert werden. Später forderte die Königliche Regierung von den Badegästen eine Kurtaxe von vier Talern für Familien und drei Talern für Einzelpersonen, über deren Verwendung ein aus Zoppoter Einwohnern bestehendes Badekomitee entschied. 1350 Auch an anderen Orten wurde der Versuch unternommen, neben den direkten Abgaben alternative Finanzierungsmöglichkeiten zu finden. In Warnemünde bemühte man sich in den 1840er Jahren, die Vermieter der Badegäste zu einer gesonderten Mietsteuer zu bewegen. Man musste allerdings rasch erkennen, dass dies scheitern musste, „da sich ungeachtet aller angewandten Mühe nur etwa 10 Hausbesitzer unserem Angesinnen geneigt erklärten“. 1351 Trotz der hohen Kosten, die für einen Badegast während einer ganzen Saison mehrere hundert Reichstaler umfassen konnte, reichte diese Summe in der Regel nicht aus, um die gesamte Infrastruktur eines Seebades zu erhalten, geschweige denn weiter auszubauen. Zu groß waren die Risiken, die von der schwankenden Besucherfrequenz ausging. Je nach meteorologischer oder politischer Wetterlage waren einzelne Bäder in einer Saison überlaufen, während sich zu anderen Zeiten nur wenige Badegäste einfanden. Die anhaltenden Bemühungen, einen angemessenen und einigermaßen berechenbaren Beitrag der Badegäste zu erheben, führten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts schließlich zur Etablierung einer festen Kurtaxe, wobei es der Badedirektion oblag, Ausnahmen etwa für ärmere Badegäste festzulegen. 1352 Kurt Wöhl zeigte in einer wirtschaftlichen Untersuchung das Potential der später flächendeckend eingeführten Kurtaxe für die Seebadgemeinden am Beispiel der mecklenburgischen 1348 Haffner, Zoppot, S. 66. 1349 Bereits vor Dr. Haffner hatte ein lokaler Gutsbesitzer einfache Badeanlagen am Strand eingerichtet, die Dr. Benzler in seiner Badeschrift von 1882 „primitive Badeanlagen“ nannte, ganz im Gegensatz zu denen von Dr. Haffner, der das „eigentliche Seebad Zoppot begründet“ habe. Es zeigt sich hier die Schwierigkeit, eine Definition des autorisierten, „eigentlichen“ Seebades zu geben, das sich darum eines fortschrittstheoretischen Modells bediente und entlang technischer Ausrüstung eine Entwicklung von „primitiv“ zu „modern“ postulierte. Vgl. Benzler, Zoppot, S. 16. 1350 Vgl. Benzler, Zoppot, S. 17. 1351 StA Rostock, Badeanstalt Warnemünde, Nr. 18a, Titel „Badeanstalt in Warnemünde“ 1854-1858, Rat Warnemünde, 1.1.3.23-34, Nr. 52, Schreiben des Gewetts vom 18.3.1846. 1352 Vgl. dazu die Korrespondenz des Gewett Warnemünde mit verschiedenen Ostseebädern in StA Rostock, 18b, Titel „Badeanstalt in Warnemünde“, Bd. 3, 1873-1888, Rat Warnemünde, Sign.: 1.1.3.23.-33. <?page no="324"?> 4.2 Ökonomische Konzepte 323 Seebäder der 1930er Jahre, in denen die Kurtaxe bis zu drei Vierteln der Gesamteinnahmen der betreffenden Gemeinden ausmachte. 1353 4.2.3 Auswirkungen auf die Wirtschaftsstruktur Mit der steigenden Anzahl von Besuchern begann sich auch die Wirtschaftsstruktur in den Badeorten und in deren Umland zu verändern. Untersuchungen über diese Entwicklung, bei der der Fremdenverkehr zunehmend die klassischen bäuerlichen Wirtschaftsformen ergänzte und teilweise ersetzte, sind für das 19. Jahrhundert praktisch nicht vorhanden. Anhand weniger Beispiele soll deshalb hier der Wandel der typischen Bauern- und Fischerkultur hin zu einer am Fremdenverkehr orientierten Wirtschaft wenigstens skizziert werden. In seiner Untersuchung über „Die mecklenburgischen Ostseebäder und ihre Bedeutung für das Wirtschaftsleben der Ostseeküste“ zeigte Kurt Wöhl den Einfluss des Fremdenverkehrs auf die Seebäder und vor allem auf die kleineren Städte im Hinterland der Bäder. Auch wenn diese Arbeit auf den Stand nach dem Ersten Weltkrieg verweist, zeigt sie doch deutlich die Folgen des zu diesem Zeitpunkt etablierten Seebäderwesens, weshalb ein kurzer Blick auf die Ergebnisse von Wöhls Studie geworfen werden soll. Das besondere Augenmerk liegt hier auf denjenigen zwei Bereichen, die von Beginn an bestimmend waren für das Funktionieren der Seebäder: die Versorgung der Badegäste mit Lebensmitteln sowie die für die Anlage und Unterhaltung der Kuranlagen und Unterkünfte notwendigen Dienstleistungen. Beides konnte sich wirtschaftlich erst dann über die Grenzen des eigentlichen Seebades hinweg entwickeln und im Hinterland für Arbeit sorgen, als der Bedarf des Bädertourismus die Wirtschaftsleistung der Badeorte überstieg. Davon ist sicherlich nicht in der ersten Phase der Bäderentstehung auszugehen, wo fast alle Gründungen in einem engen Zusammenhang mit einer Stadt standen, die die jeweiligen Nachfragen in ausreichendem Maße bedienen konnte. Erst die Etablierung der vielen kleinen Seebäder ohne größere Städte in der Nähe führte dazu, die Wirtschaftsstruktur über den engen Bezirk des Seebads hinaus in das Hinterland zu erweitern. Der Radius dieses wirtschaftlichen Bädereinflusses erstreckte sich nach Wöhl auf eine Reichweite bis zu 20 Kilometern landeinwärts, was an der untersuchten mecklenburgischen Küste Kleinstädte wie Klütz, Grevesmühlen, Neubukow, Kröpelin, Doberan und Ribnitz einschloss. Zum einen konstatierte Wöhl hier einen besonderen Einfluss durch die Lieferung von Lebensmitteln während der Badesaison: 1353 Wöhl, Die mecklenburgischen Ostseebäder, S. 52f. <?page no="325"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 324 „Hierbei handelt es sich vornehmlich um die Güter, die in den Sommermonaten für die Verpflegung der Badegäste benötigt werden, wie Fleisch, Gemüse, Obst sowie Milch und Milchprodukte [...] Der gesamte Bedarf in der Saison wird - soweit er den Einzelhandel betrifft - nur zu einem Teil durch die in den Badeorten liegenden Geschäfte gedeckt. Der übrige Teil wird von den Bädern in den oben erwähnten nachgelagerten Städten beschafft.“ 1354 Daneben verdiente auch das Handwerk dieser Städte durch den besonderen Bedarf der Bäder. Vor allem Bau-, Bekleidungs- und Ausstattungsgewerbe verdienten dabei auch außerhalb der Saison, etwa durch Reparaturarbeiten, die bei den vielen Holzbauten regelmäßig anfielen. Wöhl zeigte dabei, dass dieser Wirtschaftszweig in dem genannten Raum „in Beziehung zu anderen sonst gleich gelagerten Kleinstädten verhältnismäßig viel größer“ 1355 war. Auch für die Seebäder selbst verzeichnete Wöhl eine überproportionale Anzahl von Handwerksbetrieben, vor allem für solche Berufsgruppen, die die täglichen Bedürfnisse der Kurgäste befriedigten. 1356 Diese allmählichen Veränderungen der Wirtschaftsstruktur zeigten sich erst mit dem zunehmenden Andrang auf die Seebäder ab 1900. Es ist aber davon auszugehen, dass sich ab einer kritischen Masse von Fremden im Verhältnis zur Einwohnerzahl die skizzierten Veränderungen schon früher zu zeigen begannen. So darf man annehmen, dass die vielen Seebäder auf Usedom und Wollin die Wirtschaft von Swinemünde, hier in einer doppelten Funktion als Seebad und regionales Versorgungszentrum, deutlich stimuliert haben. Bereits 1829 wurde von dem spürbaren Einfluss der Badegäste auf die Stadt und das Umland gesprochen, der „sehr wohltätig gewesen“ 1357 sei. Den Bedürfnissen der Gäste entsprechend wurde etwa in Heringsdorf, wie Berghaus 1859 erwähnte, der Anbau von „Cerealien, Handels-, Küchen- und Knollengewächsen [...] eingeführt“. 1358 Man baute jetzt „alle Sorten Gemüse [an], welche in dem nahen Heringsdorf im Sommer während der Badezeit gut zu verwerten sind“. Besonders deswegen, weil sich in Usedom, wie in den meisten ländlich geprägten Regionen der Ostseeküste, im 19. Jahrhundert keine nennenswerte Industrie herausbildete, war das einsetzende Bäderwesen für die einheimische Wirtschaft von besonderer Bedeutung. Es schuf „eine in vielen Bereichen von den übrigen ländlichen Gebieten Pommerns abweichende Wirtschaftsstruktur auf Usedom. Das Bauhandwerk war hier zum Beispiel sehr stark ausgeprägt.“ 1359 1354 Wöhl, Die mecklenburgischen Ostseebäder, S. 3. 1355 Wöhl, Die mecklenburgischen Ostseebäder, S. 3. 1356 Vgl. Wöhl, Die mecklenburgischen Ostseebäder, S. 16. 1357 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 2.10.1829. 1358 Berghaus, Landbuch Stettin, S. 474. 1359 Schleinert, Usedom, S. 129. <?page no="326"?> 4.3 Konkurrenzmodelle 325 4.3 Konkurrenzmodelle Als Heiligendamm 1793 gegründet wurde, galt es unter der Federführung seines Badearztes Prof. Vogel knapp zehn Jahre lang, bis zur Gründung Travemündes 1802, als einziges öffentliches Ostseebad. In jedem dieser Jahre wurde Doberan und das Seebad in Heiligendamm weiter ausgebaut, Badeanlagen, Logier- und Vergnügungsstätten entstanden. In dieser Zeit wurden in Heiligendamm die infrastrukturellen Grundlagen und gesellschaftlichen Grundmuster des deutschen Seebades entwickelt. Als Seebad war es an der Ostseeküste im Prinzip bis zum Ende der Napoleonischen Kriege konkurrenzlos. Aber schon um 1800, als man sich seitens des preußischen Staates verstärkt Gedanken über die Anlage eines eigenen Seebades machte, 1360 galt Doberan als Musterbeispiel. In einem Visitationsbericht an den preußischen König hieß es, man habe sich nun „vollständig von dem Mechanismus der Dobberanschen Anstalt unterrichtet“ und es werde, wenn gewünscht, „nach Euer Königlichen Majestät Befehl diese Anstalt in Pommern nachgeahmt“. 1361 Doch verzögerte sich durch die Kriegsjahre die Entwicklung nicht nur an der preußischen Ostseeküste. Erst danach traten weitere größere öffentliche Seebäder in Erscheinung, die in der Lage waren, die exklusive Stellung Heiligendamms in Frage zu stellen. Der schnelle Erfolg der meisten dieser Seebadgründungen relativierte aber zunächst einmal die vorhandene Befürchtung, es gebe keine ausreichende Nachfrage nach den Seebädern, da diese es nicht mit den vielen etablierten und neuen Badeorten des Binnenlandes aufnehmen könnten. 1362 Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwi- 1360 Zum Bemühen des preußischen Staates, ein eigenes Seebad zu gründen, mag auch beigetragen haben, dass sich offensichtlich viele Officianten in ausländische Bäder begaben, was den verantwortlichen Stellen aus mancherlei Gründen nicht behagte. So erschien 1799 das „Rescpript an das Cammer-Gericht, das Besuchen fremder Bäder und Gesundbrunnen in Ansehung der Officianten betreffend“ vom 7./ 12.12.1799. Darin heißt es: „Zu dem Ende befehlen Sie, daß hinführo keinen Officianten die Erlaubniß ertheilt werden solle, ein fremdes Bad oder einen fremden Gesundbrunnen zu besuchen, der nicht von einem approbirten Arzt ein glaubwürdiges Zeugniß beibringt, daß solches zur Wiederherstellung seiner Gesundheit notwendig, und daß ein einheimisches Bad nicht eben so geschickt dazu sei.“ In einer im folgenden Jahr (9. Februar 1800) erlassenen „Instruction für die Ärzte in den Königlichen Landen, wonach bey Ertheilung der Atteste für diejenige Königliche Officianten, welche sich der auswärtigen Bäder bedienen wollen, zu verfahren ist“, wies die preußische Regierung erneut darauf hin, dass vorzugsweise einheimische Bäder und Gesundbrunnen zum Kuraufenthalt zu nutzen seien. GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546. 1361 GStA, Rep. 96 A, 117 Q, Schreiben an Friedrich Wilhelm III. vom 26.7.1801. 1362 Vgl. Sachse, Wirkung und Gebrauch der Bäder, S. 297, der zur Entscheidung für Doberan als Wohnort der Badegäste die erwartete geringe Besucheranzahl angab: „Die eigentlichen Wohnungen für Badegäste sollten im anmuthig gelegenen Doberan sein, weil man hier schon Häuser dazu geeignet vorfand, und vieler Bauten überhoben sein konnte, und weil man auch wohl nicht eine so grosse Zahl von Besuchern erwartete.“ <?page no="327"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 326 ckelte sich praktisch die gesamte deutsche Ostseeküste zu einer Aneinanderreihung von Seebädern. Für das nördliche Deutschland wurden die Seebäder im Laufe des 19. Jahrhunderts zu den charakteristischen und populärsten Badeorten. Dieser Wandel so vieler Hafenstädte und vor allem bisher völlig unbedeutender Fischergemeinden zu Kurorten konnte sein Publikum aber nur in der bewussten Abgrenzung voneinander finden. Wie im Binnenland entwickelte man auch seitens der Akteure im Seebad Kriterien, mittels derer sich schließlich eine Hierarchie innerhalb der Seebäder herausbildete. Mondäne Seebäder entstanden neben Badeorten, in denen der Fremdenverkehr den Alltag der Bewohner kaum tangierte und Fischerei und Landwirtschaft weiterhin eine entscheidende Bedeutung besaßen. Erreichbarkeit, Infrastruktur, das heißt Badeanlagen, Logier- und Unterhaltungsgebäude, die ästhetische Landschaftsbewertung und besonders in der frühen Gründerzeit die medizinische Beurteilung von Heilindikatoren bestimmten so die Entwicklungsmöglichkeiten und Bewertungskriterien eines Seebades. Die einzelnen Akteure - Behörden, Ärzte, private Investoren - entwickelten dementsprechend jeweils eigene Strategien, die ihre Funktion für das Seebad widerspiegelten. Gemäß ihrer herausragenden Stellung betrachteten die Badeärzte, über deren Schriften das Distinktionsbemühen überhaupt erst in die Öffentlichkeit getragen wurde, den medizinischen Diskurs als entscheidendes qualitatives Element, um ein Seebad in seiner Funktion und Bedeutung zu beschreiben. Einsetzend mit Vogels erster Badeschrift bemühte sich fortan jeder Badearzt, auf die vorteilhaften Eigenschaften der Ostsee und eben auf die seinem Badeort in besonderer Weise eigenen Qualitäten zu verweisen. Dies geschah nicht mehr nur, wie bei Prof. Vogel oder auch noch zu Beginn bei Christoph Wilhelm Hufeland, 1363 in Konkurrenz zu städtischen Flussbädern oder den Mineralbädern, 1364 sondern vielmehr im Wettbewerb 1363 Hufeland zog das Seebad dem Flussbad vor, besonders wegen des Salzgehaltes und der Bewegung, die es „qualitativ weit reizender machen, als ein Bad in süßem Wasser“. Ders., Praktische Übersicht, S. 255. 1364 Hierzu zählte auch die anfangs noch häufig vorgebrachte herausgehobene Stellung der Schifffahrt, die Sinnbild einer ebenso belebten wie modernen Zeit war. Ganz unabhängig von der Qualität des Seebades garantierte der Blick von der Küste auf die Schifffahrt und Hafen den ganzen metaphernreichen Komplex von Handel und sehnsüchtig betrachteter Ferne. In der ersten Travemünder Badeschrift wog die Schifffahrt „den Mangel an Glanz und Größe“ der Badeanstalt auf und gewährte ein Vergnügen, dass „an Badeörtern äußerst selten, oder niemals angetroffen“ wird. Damit wird das „Schauspiel“ besonders für die Besucher aus dem Binnenland interessant: „Der Anblick der kommenden und abgehenden Schiffe bringt nicht nur sehr viel Leben in das Gemählde einer ausgebreiteten Landschaft, sondern gewährt auch vorzüglich dem, der von der See entfernt lebt, ein sehr ergötzendes Schauspiel, dessen das Auge gewiß nicht leicht müde wird.“ O.V., Travemünde, S. 52f. <?page no="328"?> 4.3 Konkurrenzmodelle 327 mit den Nordseebädern und in der Folge als Binnenkonkurrenz auch mit den anderen Ostseebädern. T r ot z - o der w egen - d er bis in die 182 0e r Jahre s ehr g erin gen Zahl von O sts eebädern herrschte unter diesen eine lebhafte Konkurrenz um die noch überschaubare Anzahl von Badegästen, wobei jedes neu hinzukommende Bad gehalten war, sich schnell um eine eigenständige Identität zu bemühen. Freilich bleibt das Ringen um Abgrenzung und Exklusivität zunächst im medizinischen Diskurs verhaftet. Denn solange die meisten Seebäder zu einem festen städtischen Umfeld gehörten und die Masse der Badegäste aus diesem Umfeld in „ihr“ Seebad fuhr, blieb die schnelle Erreichbarkeit zentrales Motiv für eine Reise ins Seebad. Aber mit der zunehmend besseren Erreichbarkeit, auch vom weiteren Binnenland aus, und mit jedem neuen Seebad wandelte sich die Bedeutung einer eigenständigen Identität. Das Badepublikum konnte aus einer größeren Anzahl von Seebädern wählen und so versuchten alle beteiligten Akteure, einen Kriterienkatalog zur Bewertung des jeweiligen Seebades zu etablieren. Die Kategorien zur Identifikation der möglichen Differenz folgten dabei einer doppelten Strategie. Zum einen ging es um die Betonung spezifischer Merkmale des eigenen Seebades, auch der lokalen Besonderheiten, zum anderen - und das mit der Zunahme der Bäder in verstärktem Maße - um die Abgrenzung zu anderen Seebädern durch ein kritische Betrachtung derselben. Entsprechend den zeitgenössischen A n for de run ge n an e in Se eba d wurd en v orw ieg end l ands cha ft lic h-ä st het is che, v erkehrstechnische, medizinische sowie sozial-gesellschaftliche Merkmale des Bades als Differenzierungskriterien herangezogen. Am Beginn dieses Prozesses stand jedoch erst einmal die Legitimation des neuen Kurorttyps Seebad gegenüber den schon lange etablierten binnenländischen Kurorten. Sowohl Lichtenberg als auch Vogel argumentierten folgerichtig in dieser Weise. So betonte Lichtenberg in seinem Aufsatz „Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad? “ die medizinische Komponente des Seewassers und den gerade den „Mittelländer“ erschütternden Eindruck des ungeheuren Weltmeeres: „Was aber außer der Heilkraft jenen Bädern einen so großen Vorzug vor den inländischen gibt, ist der unbeschreibliche Reiz den ein Aufenthalt am Gestade des Weltmeers in den Sommermonaten, zumal für den Mittelländer hat. Der Anblick der Meereswogen, ihr Leuchten und das Rollen ihres Donners, der sich auch in den Sommermonaten zuweilen hören lässt, gegen welchen der hochgepriesene Rheinfall wohl bloßer Waschbecken-Tumult ist.“ 1365 Auch Vogel hob bereits in seiner ersten Doberaner Badeschrift von 1794 auf die wirksamen Eigenheiten des Seewassers ab, um damit dem Seebad die nötige und 1365 Lichtenberg, SuB, Bd. 3, S. 95f. <?page no="329"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 328 noch lange nicht allgemein anerkannte Legitimation zu verschaffen. So hieß es, vor allem auf eine Abgrenzung zu den Quellwassern der Mineralbrunnen hinzielend: „Es lässt sich auch kaum bezweifeln, dass die von der Natur unnachahmlich aufgelösten und gemischten Bestandtheile des Seewassers, zumahl bey der fast unaufhörlichen großen Bewegung desselben und in Verbindung mit so vielen sichtbaren und unsichtbaren, darin lebenden Geschöpfen aus dem Thier- und Pflanzenreiche, etwas ganz Anderes constituieren, als was sich durch irgend eine Kunst nachmachen ließe, oder woraus man seine sinnlichen Eigenschaften und Wirkungen erklären könnte. Jene kochsalzhaltigen Quellwasser mögen ihre sehr guten Nutzen, den ich keineswegs bestreiten will; aber das Seebad werden und können sie nimmermehr ersetzen.“ 1366 Vogel war sich nur wenige Jahre nach der Seebadgründung gewiss, in allen Fragen an die lange Tradition der Gesundbrunnen des Binnenlandes angeschlossen zu haben. 1798 schrieb er in den Annalen: „Außerdem sollte nach Möglichkeit nichts versäumt und vermißt werden, was in Absicht der Wohnung, des Tisches, der öffentlichen Vergnügungen und Unterhaltungen, und jeder Bequemlichkeiten und Bedürfnisse, zur Zufriedenheit der Badegäste erreicht werden kann. In der That ist deshalb bereits so viel geschehen, dass sich Doberan gewiß jetzt schon mit jedem andern Bade- oder Brunnenorte messen kann.“ 1367 Gleichzeitig, da Vogel sich auch wiederholt auf Lichtenbergs Schrift bezog, musste er sich als Doberaner Badearzt gegenüber dessen explizit geäußertem Vorschlag abgrenzen, ein deutsches Seebad müsse an der Nordseeküste gelegen sein. Lichtenberg schrieb: „Die ganze Küste der Ostsee ist mir unbekannt, und ich für mein Teil würde sie dazu nicht wählen, solange nur noch ein Fleckchen an der Nordsee übrig wäre, das dazu taugte, weil dort das unbeschreiblich große Schauspiel der Ebbe und Flut, wo nicht fehlt, doch nicht in der Majestät beobachtet werden kann, in welcher es sich an der Nordsee zeigt.“ 1368 Nach Lichtenbergs Ansicht böte Cuxhaven die passende Lage, zwischen Elbe und Weser, damit günstig zwischen Hamburg und Bremen gelegen. Doch Lichtenberg verwies auf seinen Freund, „Herr Woltmann zu Cuxhaven“, 1369 der diese Anregung genauer verfolgen sollte, womit wiederum Vogel die Gelegenheit erhielt, die Ostseebäder ins passende Licht zu rücken. Denn Woltmann, so zitierte Vogel, richtete sich gegen Lichtenbergs Vorschlag, da Cuxhaven ungünstig gelegen sei, die vorge- 1366 Vogel, Neue Annalen, 1808, S. 30. 1367 Vogel, Annalen 1798, S. 27f. 1368 Lichtenberg, SuB, Bd. 3, S. 96. 1369 Lichtenberg, SuB, Bd. 3, S. 99. <?page no="330"?> 4.3 Konkurrenzmodelle 329 schlagenen Badeutensilien nach englischem Vorbild unpassend und für deutsche Damen abschreckend, es zudem an der passenden landschaftlichen Umgebung fehle n würd e. 1370 Auch der gegenüber der Ostsee erhobene Vorwurf, hier fände kein erhabenes Schauspiel von Ebbe und Flut statt, sei, so Woltmann, zwar richtig, „hierauf antwortet aber Herr Woltmann: Die Ostsee sey zugänglicher, friedfertiger gegen das menschliche Geschlecht; sie überschwemme ihre Gestade nicht; Nebenbedürfnisse und manche Annehmlichkeiten finden hier besser Statt; wegen Mangel der Ebbe und Fluth erwärme die Sonne in den heißen Sommertagen den Boden der Ostsee in der Nähe der Ufer, wo es nicht sehr tief ist, und dieses Wärme theile sich der ganzen Wassermasse mit, wodurch das Wasser wahrscheinlich seine adstringirende Kälte verliere u.s.w. Alles dies ist wahr.“ Und Vogel versicherte sich im Folgenden auch Lichtenbergs Autorität bei der Anlage eines Ostseebades: „Außerdem weiß ich seitdem aus dem Munde des Hrn. Hofrath Lichtenbergs selbst, dass Er hiegegen nun weiter nichts einzuwenden habe.“ 1371 Mit dieser Ehrenrettung der Ostsee begann gleichwohl der letztlich dauerhafte Konkurrenzkampf zwischen Nord- und Ostseebädern. Während die Abgrenzung zu den binnenländischen Bädern, gleich ob Thermal- oder Flussbäder, später eine nur noch untergeordnete Rolle spielte, setzten bald zum Teil scharfe Auseinandersetzungen zwischen den um ihre wenigen Badegäste konkurrierenden Ärzte der Nordseebzw. Ostseebäder ein. Entsprechend ihrer Qualifikation führten die Ärzte vorrangig eine auf die medizinischen Fragestellungen konzentrierte Debatte. Schließlich mussten sie sich und ihre Funktion als Badearzt anhand der medizinischen Wirkung der eigenen Kurmittel legitimieren. Erwähnt sei hier nur der Fall des Dr. Aumerie, Badearzt im holländischen Scheveningen, der in seiner 1837 erschienenen Badeschrift „Das Seebad zu Scheveningen in Holland“ schon im Untertitel seiner Badeschrift gegen andere Bäder (bzw. deren Ärzte und Reputation) polemisierte. Dort hieß es: „Scheveningen, [...] die [...] große Wirksamkeit dieses Bades und seine Vorzüge vor vielen anderen Seebädern, namentlich vor denen zu Doberan und auf Norderney, in Bezug auf die darüber unlängst von den Herren Geh. Med.-Rath Sachse und Dr. Mühry erschienenen Schriften“. 1372 1370 Vogel, Gebrauch der Seebäder, S. 17ff. 1371 Vogel, Gebrauch der Seebäder, S. 19. 1372 Aumerie: Das Seebad zu Scheveningen, Leipzig 1837, Deckblatt. Vgl. dazu auch Sachse: Über die Wirkung und den Gebrauch der Bäder, besonders der Seebäder zu Doberan, Berlin 1835; Carl Mühry: Über das Seebaden und das Norderneyer Seebad, Hannover 1836. Bereits 1822 fügte Prof. Pfaff in seiner Schrift „Das Kieler Seebad“, 1822, das Kapitel „Vergleichung des Kieler Seebades mit den andern Seebädern an der Ostsee und Nordsee“ ein und stellte darin die Forderung auf (S. 65): <?page no="331"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 330 Im dritten Abschnitt seiner Schrift titelte er „Vertheidigung der Nordseebäder und der Badeanstalt zu Scheveningen gegen einige ungerechte Beschuldigungen“, und fuhr fort, es ginge hier um die „Ehrenrettung der Nordseebäder“ auf der einen Seite und anschließend um das „Ausfechten“ einer „Privatfehde“ 1373 mit dem Verfasser einer Schrift über das Bad auf Norderney. Aumerie wandte sich explizit gegen Dr. Sachse, zu diesem Zeitpunkt Doberaner Badearzt, der wiederum seine Bevorzugung der Ostseebäder in einem eigenen Kapitel („Sind die Nordseebäder denen an der Ostsee vorzuziehen? “) 1374 darin gerechtfertigt sah, dass „Hr. Dr. Adolph Leopold Richter, Regimentsarzt in Düsseldorf, neuerlichst wieder die Nordseebäder auf Unkosten der Ostseeischen zu heben suchte“. 1375 Diese „Privatfehde“, die natürlich über diesen privaten Rahmen weit hinausging, orientierte sich in ihren Differenzierungsbemühungen an der Definition der Küste als Heilraum. Es ging dabei um „harte“, medizinisch wirksame Kriterien wie den Salzgehalt und den Wellenschlag, aber auch um die psychische Komponente, das „Schauspiel“ des Meeres, die Wechselwirkung landschaftlicher Komponenten mit dem menschlichen Körper. Geschickt verstand es z.B. Prof. Vogel immer wieder, die gegen die Ostseebäder vorgetragene Kritik umzukehren. Das bestürzende Schauspiel der Gezeiten etwa wurde bei ihm lediglich zur Ursache für schmutziges Seewasser, in Zeiten bürgerlicher Hygiene ein wenig attraktives Heilmittel. Er schrieb in seinem Handbuch von 1819: „Auch ist das Seewasser an unserer Küste während der Badezeit allermeistens klar und rein, und nur selten verliert es einmahl bey starken und anhaltenden Stürmen etwas von seiner Durchsichtigkeit. [...] Ebbe und Fluth interessiren uns bey der Ostsee glücklicher Weise gar nicht. Eben wegen dieses ewigen Wechsels und dieser unaufhörlichen Bewegung, [...] ist die Nordsee zu Cuxhaven fast immer trübe und dick, jedoch unbeschadet ihrer kräftigen Wirksamkeit.” 1376 Aumerie und seine Kollegen auch in den deutschen Nordseebädern rühmten an der Nordsee weiterhin die schon von Lichtenberg vorgebrachten Eigenschaften des höheren Salzgehaltes und des bedeutenderen Wellenschlages. Dieser Topos, der über den Heilwert eines Seebades und damit über den Rang eines Bades in der Öffent- „Mögen sich daher alle Badeanstalten an der Ostsee und Nordsee wechselseitig ihre Gäste gönnen, und nur jede darauf bedachte seyn, die etwaigen besonderen Vorzüge ihrer Localität für den Hauptzweck so vollkommen wie möglich zu nutzen.“ Einen polemischen Seitenhieb konnte sich Sachse gegen einen Kritiker aus dem nahen Seebad Apenrade dennoch nicht verkneifen. 1373 Aumerie, Das Seebad zu Scheveningen, S. 148f. 1374 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 325ff. 1375 Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 326. 1376 Vogel, Handbuch, S. 14f. <?page no="332"?> 4.3 Konkurrenzmodelle 331 lichkeit zu entscheiden schien, etablierte sich, immer wieder vehement vorgetragen, im öffentlichen Bewusstsein. So hieß es in einem Reisebericht von 1827: „Das Nor ds ee w as se r is t be ka nn tli ch we it w irksa mer a ls das Ostse ewa sser, u nd der W el le ns chl ag hier vorzüglich hart.“ 1377 Ähnlich äußerte sich Theodor von Kobbe, wenn er in seinen „Humoristischen Skizzen und Bildern“ aus dem Jahr 1831 notierte: „die Ostsee- Bäder haben wol größere Spiel-Banken, aber nicht so viel natürlichen Witz (Salz) und keinen Pulsschlag der Natur, da es ihnen gänzlich an Ebbe und Fluth mangelt“. 1378 Beides, höherer Salzgehalt und kräftigerer Wellenschlag, konnte von den Badeärzten der Ostsee auch nicht geleugnet werden, eine größere Bedeutung dieser Komponenten für den Kurgast wurde aber entschieden zurückgewiesen. Es sei letztlich nicht zu beweisen, in welchem Ausmaße Salzgehalt und Wellenschlag überhaupt wirksam seien. Dass beides in der Ostsee nicht so kräftig wie in der Nordsee sei, wurde vielmehr positiv im Sinne eines klassischen ausgewogenen Maßhaltens interpretiert. So meinte der Kieler Badearzt Pfaff, bezüglich des Salzgehaltes hätten die „Seebäder an der Nordsee einen Vorzug, soferne sie fast noch einmal so viel Gehalt haben, als die an der Ostsee“, aber an der Ostsee „möchte dieser Gehalt als genügend erscheinen, wie auch schon der kräftige Reiz beweist, den es auf die Haut ausübt, und der Vorzug der Seebäder an der Nordsee problematisch werden“. 1379 Der Travemünder Badearzt Dr. Lieboldt bemerkte dazu in seiner Badeschrift von 1837: „Ob nun aber überhaupt ein so starker Wellengang, dass man sich nicht ohne Beyhülfe einer starken und mit den Wellen vertrauten Person dagegen halten kann, zur heilsamen Wirkung und Seebades erforderlich ist, kann nicht mit apodictischer Gewißheit behauptet werden, vielmehr möchte ein mäßiger Wellengang, der die Oberfläche des Körpers gelinde erschüttert und reizt, und wie man ihn gewöhnlich doch an den Ostseeküsten findet, viel heilsamer und wirksamer seyn, indem er dem Badenden mehr körperliche Freiheit und Ungezwungenheit gestattet“. 1380 Mit den bisweilen skurril anmutenden Argumentationen der Kontrahenten kam sogar so etwas wie Ironie bei den Beobachtern dieses Schauspiels auf. So empfahl ein 1377 Stein, Reise, S. 162. 1378 Theodor Christoph August von Kobbe: Humoristische Skizzen und Bilder, Bremen 1831, S. 112. 1379 Pfaff, Kiel, S. 65f. Auch Vogel war daran gelegen, den geringeren Salzgehalt der Ostsee als angemessen zu beschreiben. So zitierte er in seinen Annalen den Mitbegründer des Seebades Norderney, Friedrich Wilhelm von Halem: „Von Halem sagt selbst; ,mehr als einmal, wohl selten zweymal täglich, dürfte man sich der dortigen warmen Seebäder nicht bedienen, wenn man nicht durch eine Salzlauge aufgelöst seyn wolle’ - Ich lobe mir mithin unser Ostseewasser, das viel sanfter und sicherer den Zweck erfüllt.“ Vogel, Annalen des Seebades zu Doberan vom Sommer 1800, Rostock 1801, S. 60f. Zit. nach Rüdiger, Baden gehen, S. 87. 1380 Lieboldt, Heilkräfte des Meerwassers, S. 116. <?page no="333"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 332 Bericht zu dem Streit zwischen Doberan und Föhr, ausgetragen im „Hamburger Correspondenten“ von 1819: „Also, Ihr von Italien, von Frankreich, von Spanien, von Portugall [sic] die ihr das Seebad gebrauchen wollt, verlaßt eure angenehm erwärmte salzreiche See, euern milden, heitern Himmel und eilt an die Küste der Ostsee, nach Doberan […]. Man sieht es dieser Anzeige an, daß sie ein Nothschrei ist.“ 1381 In der „Wochenschrift für die gesammte Heilkunde“ von 1833 verfasste ein unter dem Kürzel „Dr. H.“ schreibender Arzt einen polemischen wie satirischen Artikel „Nord- oder Ost-See-Bäder? “ gegen die Propheten des magischen „Wellenschlag“, dem zu gefallen „manche Menschen Wochenlang von Osten nach Westen“ 1382 reisten. Der Topos von der Relevanz eines hohen Salzgehaltes in Verbindung mit dem harten Wellenschlag für die Wirksamkeit eines Seebades hielt sich indessen lange. Dr. Schmige aus Heringsdorf schrieb 1852, man höre leider „jetzt noch alle Tage, dass die Nordsee unter allen Umständen heilkräftiger sei als die Ostsee“. 1383 Dabei komme es aber nach aller bisher gemachten Erfahrung allein darauf an, das „Wellenschlag, Salzgehalt u.s.w. in solcher Kräftigkeit vorhanden sind, dass überhaupt eine Heilwirkung dadurch erziehlt wird, dass dies aber bei allen Seebädern der Fall ist, kann nicht in Zweifel gezogen werden.“ Der wissenschaftliche Duktus, in dem seit Vogel die Badeärzte ihre Publikationen verfassten, wich im Laufe der Jahre immer stärker einer apologetischen Form, die, mit oder ohne direkten Hinweis auf andere Bäder, „ihr“ Seebad in Abgrenzung zu den anderen als exklusive Option darstellte. Immer subtiler gingen dabei auch die Ärzte auf den Habitus ihrer Badegäste ein und stilisierten das Bad so zum mondänen oder bescheidenen Bad, zum Kurort urbanen Charakters oder der ländlichen Idylle, zum Bad des Vergnügens oder der demütigen Heilung, der vornehmen Repräsentation oder des bescheidenen Auftretens. Die Menge des Besitzes von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital des umworbenen Publikums diente als Grundlage für eine gezielte Werbung. Als wichtigstes Forum der Außendarstellung, vor allem für die kleineren Bäder, übernahmen die Publikationen also mehr als die Funktion einer bloßen medizinischen Informationsschrift. Sie waren zugleich Werbebroschüre, Identifikationsmedium und polemische Kampfschrift auf dem wachsenden Bädermarkt. 1381 Johann Wetzler: Beschreibung der Gesundbrunnen und Bäder Wipfeld, Kissingen, Bocklet und Brückenau. Mainz 1821, S. 122. 1382 Dr. H, Nord- oder Ostseebäder, S. 802. 1383 Schmige, Heringsdorf, S. 45f. <?page no="334"?> 4.3 Konkurrenzmodelle 333 4.3.1 Binnenkonkurrenz Neben die Abgrenzung zu den Nordseebädern trat mit wachsender Zahl der Ostseebäder das verstärkte Bemühen, auch innerhalb der Ostseebäder Differenzkriterien zu entwickeln. Auf subtile Weise vermochte es Professor Vogel, aus der Frage um die Bedeutung des Salzgehaltes im Seewasser Nutzen für Doberan zu schlagen. Denn ein unbestreitbarer Vorteil dieses Seebades lag in seiner offenen Ausrichtung zur See und demnach darin, nicht im Mündungsgebiet eines Flusses zu liegen. Das Doberan nächstgelegene Seebad, Warnemünde, konnte dagegen weder mit Naturschönheiten noch mit ungetrübtem Salzwasser aufwarten. Doch es war das nächstgelegene Bad der Rostocker, auf die man auch in Doberan angewiesen war. Und so ließ es sich Vogel 1819 nicht entgehen, nachdem in Warnemünde schon länger gebadet wurde, auf diesen Umstand hinzuweisen, ohne Warnemünde explizit als Seebad zu bezeichnen. Das Salzwasser der Ostsee sei zwar überall sehr ähnlich: „Ausnahmen von dieser Regel, so weit man sieht, machen nur die Mündungen der sich ins Meer ergießenden Flüsse, welche allerdings das Seewasser da, wo sie sich mit demselben vermischen, verdünnen und versüßen, und also seine Heilkraft, soweit diese von dem festen Gehalte desselben abhängt, mindern. Dergleichen Mündungen und Ausflüsse gibt es aber in der ganzen Gegend unsrer Badeküste nicht. Der Hafen und die Rhede von Warnemünde sind 2 Meilen von da entfernt.” 1384 Die nahe Konkurrenz in Warnemünde hatte aber nicht nur Vogels Veröffentlichung zu erdulden. Man bemühte sich offensichtlich eine ganze Zeit lang auch auf höchster politischer Ebene der Stadt Rostock, das eigene Bad klein und unattraktiv zu halten. Immerhin machten die Rostocker einen beträchtlichen Teil des Doberaner Badepublikums aus, und ein Verlust dieser Besucher dürfte dem mecklenburgischen Herzog und Landesherren sicher nicht gefallen haben. Der Leibarzt Dr. Formey klärte über das schwierige Verhältnis zwischen Doberan und Warnemünde auf: „Der Ort [Warnemünde] ist ein Eigenthum der Stadt Rostock, dessen Magistrat um alle Rivalität mit dem fürstlichen Doberan zu vermeiden, jede dahin lockende Einrichtung absichtlich unterlässt.“ 1385 Noch Jahre nachdem man in Warnemünde eine Badeanstalt angelegt hatte, beschwerte sich der Pächter über die mangelhafte Unterstützung aus Rostock beim Ausbau der Anstalt, die wiederholt dazu führe, dass Ba- 1384 Vogel, Handbuch, 1819, S. 12. 1385 Formey, Doberan und Warnemünde, S. 117f. <?page no="335"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 334 degäste wegen der schlechten Zustände das Bad mitten in der Saison verlassen hätten. 1386 Auch anderswo gewann der Ton der Badeärzte gegenüber anderen Bädern an Schärfe. Professor Pfaff aus Kiel, Mitbegründer der dortigen Seebadeanstalt, nahm in seiner Badeschrift von 1822 ein gesondertes Kapitel auf, betitelt mit „Vergleichung des Kieler Seebades mit den anderen Seebädern an der Ostsee und Nordsee.“ 1387 Pfaff versammelte hier die entscheidenden Kritikpunkte, die allgemein als Distinktionsmerkmale dienten. Er begann mit der Feststellung, alle existierenden Bäder könnten „sehr gut neben einander bestehen“. 1388 In der Folge aber polemisierte Pfaff gegen den Badearzt des kleinen Seebades im nahen Apenrade, der sich gegen die Gründung des Kieler Seebades gewehrt hatte, da sie die Gäste von seiner Badeanstalt abziehe. Damit war der erste und sicher pragmatischste Bewegpunkt für die Entscheidung für ein bestimmtes Seebad angesprochen, die Entfernung zwischen dem eigenen Wohnort und dem Seebad. Pfaff argumentierte dementsprechend: „eben so einleuchtend muss jedem seyn, dass man das nicht zwölf Meilen weiter sucht, was man so viel näher finden kann.“ 1389 Als nächstes wandte sich Pfaff dem Dauerthema Salzgehalt zu, der an der Ostsee völlig ausreichend sei. Allerdings differenzierte Pfaff weiter, indem er auch innerhalb der Ostseebäder den Salzgehalt als Differenzkriterium bemühte. Denn Pfaff wandte sich nicht nur gegen die westlich gelegenen Nordseebäder wegen des dort vorherrschenden zu hohen Salzgehaltes, sondern auch umgekehrt wegen des kaum noch messbaren Salzgehaltes in der östlichen Ostsee gegen die dort entstandenen Seebäder. Es wären „an der Küste von Preußen, Rußland, Finnland, wegen des so schwachen Gehalts, nicht wohl kräftige Seebäder zu erwarten“. 1390 Mit dem bemüht objektiven Kriterium der geografischen Gegebenheiten versuchte Pfaff auch weitere Kennzeichen aufzustöbern, die für Kiel sprachen. Die Temperatur des Seewassers, die er in den Buchten von Apenrade, Kiel und Travemünde für besonders günstig und empfehlenswert hielt, da das Wasser hier schneller die heilsame Temperatur annehme. Bei Seeluft und Seewind, so Pfaff, „ist die Lage beinahe aller Seebäder an der Ostsee und Nordsee gleich günstig“, 1391 ausge- 1386 Vgl. StA Rostock, Titel „Badeanstalt in Warnemünde“, Bd. 2, 1852-1873, Rat Warnemünde, Sign.: 1.1.3.23.-32, Schreiben an das Gewett vom 27.5.1861. 1387 Pfaff, Kiel, S. 64. 1388 Pfaff, Kiel, S. 64. 1389 Pfaff, Kiel, S. 65. Später wandte Pfaff sich diesem Punkt noch einmal gesondert und ausführlicher zu, und sprach dabei von dem „ganz eigenthümlichen Werth des Kieler Seebades“, der „in der Nähe bey der Stadt Kiel selbst und in dem nahen Beisammensein aller Elemente dieser Anstalt“ bestehe, ebd., S. 71. 1390 Pfaff, Kiel, S. 66. 1391 Pfaff, Kiel, S. 67. <?page no="336"?> 4.3 Konkurrenzmodelle 335 nommen wieder das kleine Apenrade, das von den Inseln Fühnen und Seeland vom freien Seewind abgeschirmt sei. Der nächste Aspekt nahm den Streit zwischen Nord- und Ostsee bädern unter dem S tichpu nkt „ nat ür li che B equ eml ich ke it “ wieder auf. Es ging um die fehlenden Gezeiten an den Bädern der Ostseeküste, die aber dadurch „in dieser Hinsicht [...] entschiedene Vorzüge vor denen an der Nordsee“ 1392 hätten. Als Begründung auch dieser Wertung diente der therapeutische Nutzen. Die Ostsee wirke harmonisierend, biete beständig die gleichen Bedingungen, also Temperatur, Untergrund, Wassertiefe, und der Badegast könne immer zur gleichen, festgesetzten Zeit baden. Die „regelmäßige Wiederholung“, die bei Ebbe und Flut nicht möglich wäre, sei aber die Grundlage einer erfolgreichen Therapie, was dem „praktischen Arzte zur Genüge bekannt“ 1393 sei. Schließlich fügte Pfaff als letztes relevantes Kriterieum „Sonstige Localitäten und Einfluss derselben auf die Annehmlichkeit und Nützlichkeit des Seebades“ hinzu. Er führte damit die „schöne Landschaft“ als Kategorie ein, die er, wenig überraschend, gegen die Nordseebäder wendete, da an der Ostsee „eine reichere, üppigere Vegetation“ vorhanden sei „und das umliegende Land [...] weit mehr Schönheiten und Hülfsquellen“ 1394 biete. Dazu sprach er sich, dessen eigenes Seebad tief in der Kieler Förde lag, auch gegen die Insellage vor allem der Nordseebäder aus, da Inseln „überdem etwas sehr Beengendes und Unangenehmes für jeden Badegast, der an dem freien Spielraum des festen Landes gewöhnt ist“, hätten. Lediglich das seit Lichtenberg auch allgemein so genannte theatralische „große Schauspiel“ der mächtigen Wellen und der Gezeiten an der Nordsee spreche für diese. Pfaff schließt diesen Abschnitt mit der fragenden Bemerkung, ob nicht die Badegäste am Kieler Seebad „für diese Entbehrung mehr als bloß entschädigt werden durch die an sonstigen Naturgenuß so reichen Umgebungen des Kieler Seebades“. 1395 Pfaff hatte freilich mit seiner weit angelegten Begründung für das Seebad an sich und im speziellen für jenes in Kiel neben der ärztlichen Legitimation noch einen weiteren guten Grund im Blick. Die Nähe von Stadt und Seebad hatte auf Seiten der Kieler Universität zu Protesten geführt, da man moralische Zweifel bezüglich des Badens auch der Studenten in der See hegte. 1396 Pfaff war als Initiator daher gefordert, das Seebad und das sich darum entfaltende gesellige Leben zu legitimieren. Anhaltende Kritik oder gar eine geforderte Verlegung der Badeanstalt hätten den Ruin der Anstalt bedeuten können. Der wissenschaftliche Begründungszusammenhang, dargestellt durch den Vergleich der bereits existierenden Seebäder, bot 1392 Pfaff, Kiel, S. 67. 1393 Pfaff, Kiel, S. 68f. 1394 Pfaff, Kiel, S. 70. 1395 Pfaff, Kiel, S. 71. 1396 Vgl. dazu auch Rüdiger, Baden in der See, S. 84ff. <?page no="337"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 336 Pfaff die Gelegenheit, den gesellschaftlichen Nutzen seiner Badeanstalt auch für das Kieler Bürgertum zu begründen. Für die Kieler Badeanstalt ließ jedoch anderweitige Konkurrenz nicht lange auf sich warten. Im nördlich gelegenen Eckernförde entstand das Marienbad, von dem Hille meinte, es besitze „eine sehr angenehme freundliche Lage; der schöne Badegrund, die bereits getroffenen guten Einrichtungen und die mäßigen Preise könnten diese junge Ostseebadeanstalt bald als eine Rivalin der älteren zu Kiel befindlichen erheben.“ 1397 Rivalitäten, die sich über Bodenbeschaffenheit und Wellenschlag begründeten, wurden auch in Hufelands „Journal der practischen Heilkunde“ ausgetragen. So schrieb 1832 ein Dr. Neumann ebendort einen Artikel mit dem Titel „Über die Seebäder Westpreußens, zunächst über Zoppot bei Danzig“, 1398 in dem er das Seebad Zoppot als ungeeignet bezeichnete, da der Seegrund schlecht und Qualität und Bewegung des Wassers wegen seiner Lage am Rande der Danziger Bucht ungenügend seien. Dagegen sei das mittig der Bucht auf der Frischen Nehrung befindliche Seebad Kahlberg sehr zu empfehlen, da dort alle Bedingungen für eine Kur vorzüglich seien. Besonderes Interesse gewinnt dieser Artikel aber dadurch, dass Hufeland es sich nicht nehmen ließ, in einem Vorwort darauf hinzuweisen, dass er den Aufsatz „nur ungern und bloß auf das dringende Anrathen des Herrn Verfassers öffentlich gemacht“ habe, da es sich bei Zoppot um ein Bad handele, welches „sowohl das Publikum als der Herausgeber selbst mit Freude gesehen und begünstigt“ 1399 habe. Lediglich um die „höchste Unpartheilichkeit zu beurkunden“, habe man sich entschlossen, den Artikel abzudrucken. Weniger Probleme hatte Hufeland deshalb damit, im nächsten Jahr eine Erwiderung des Danziger Arztes Dr. Gnuschke 1400 aufzunehmen. Diesem war daran gelegen, die Zoppoter Badeanstalt gegen den „heftigen Angriff“ zu verteidigen, um „den unglücklichen Ort - vielleicht noch vor seiner nächsten Saison - wiederum vom Bann und Interdict zu befreien“. 1401 Die drastische Wortwahl spiegelte die Befürchtung, durch den im angesehenen Hufelandschen „Journal“ veröffentlichten Text einen Verlust von Besuchern und damit auch die Existenz des Bades zu riskieren. Gnuschkes Replik gab sich indessen betont sachlich. Mit Hilfe älterer amtlicher Untersuchungen wies er die vorzügliche Eignung Zoppots als Seebad nach, also den angemessenen Salzgehalt, ausreichenden Wellenschlag und eine gute Bodenbeschaf- 1397 Hille, Heilquellen, S. 160. 1398 Neumann, Über die Seebäder Westpreußens. 1399 Neumann, Über die Seebäder Westpreußens, S. 86f. 1400 Johann Eduard Gnuschke, 1804-1834, studierte in Göttingen, Doktor der Medizin und Chirurgie, praktischer Arzt in Danzig und Mitglied der dortigen naturforschenden Gesellschaft. Vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen, 12. Jahrgang 1834, Weimar 1836, S. 830. 1401 Gnuschke, Zoppot, S. 109f. <?page no="338"?> 4.3 Konkurrenzmodelle 337 fenheit. Nachdem dies geklärt war, gab Gnuschke dann doch der Polemik Raum. Zoppot sei günstig gelegen, „reich an den mannichfaltigsten Promenaden, in der Nähe einer grossen, mit allen Bequemlichkeiten des Lebens reichlich versorgenden Stadt, darum sollten alle diese Vortheile, die Zoppot seinen Badegästen so werth machen, gegen die trostlose, von allem Reiz und aller Bequemlichkeit entblössten Einöde von Kahlberg vertauscht werden“. 1402 Für Kahlberg dürfte dieser öffentliche Schlagabtausch größere Folgen als für Zoppot gehabt haben. Auch die öffentlichen Entscheidungsträger waren sich der für ein Seebad geforderten Kategorien bewusst. Auf Seiten der preußischen Behörden in Stettin bemühte man sich um eine Förderung Swinemündes auf Kosten des nahegelegenen fürstlichen Putbus. Der reiche Naturgenuss, den das Seebad Putbus auf Rügen neben seinen komfortablen Badeanlagen aufzuweisen hatte, konnte nicht kaschieren, dass die Lage des fürstlichen Seebades vielen ungenügend vorkam, da es weit entfernt von Putbus lag und vor allem keinen direkten Zugang zur offenen See hatte, somit auch keinen angemessenen Wellenschlag. So bat die zuständige Regierungsabteilung in Stettin den preußischen Minister der Medicinalangelegenheiten, in Swinemünde die private Aufstellung von Badekarren zu genehmigen, da Swinemünde „vor anderen und besonders vor Puttbus den großen Vorzug [hat], dass es nicht wie dieses an einem Binnenwasser, sondern unmittelbar an der See liegt und daher den wohltätigen Wellenschlag der offenen See hat“. 1403 Auch in einem Visitationsbericht an das preußische Ministerium der Medicinalangelegenheiten, in dem man sich mit den bisherigen Seebadgründungen und künftig anzulegenden Seebädern beschäftigte, wurde die mit der Lage des Seebades von Putbus-Lauterbach einhergehende schlechte Reputation des Seebades bemängelt. Es „ist schon durch Einsicht der Karte klar, dass es kein eigentliches Seebad, sondern ein Bad in einem sogenannten Binnenwasser ist, welches daher des so wohltätigen Wellenschlages, auf dessen Wirkung es bei nervösen Kranken hauptsächlich ankömmt, entbehrt; und vielleicht ist in der getäuschten Hoffnung vieler Kranken, welche die beabsichtigte gute Wirkung in Puttbus nicht finden, der Haupt-Grund zu suchen, warum trotz der großen Kosten-Verwendung für diesen Seebadeort, jetzt dennoch so wenig Kranke dahin kommen.“ 1404 Noch im selben Jahr versprach man sich von anderer Seite wegen der reizenden Landschaft und der komfortablen Ausstattung sehr viel von dieser Badeanstalt. Der 1402 Gnuschke, Zoppot, S. 119. 1403 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 30.5.1822. 1404 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben an das Medicinal-Ministerium vom 1.1.1823. <?page no="339"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 338 „Reisebegleiter durch Rügen“ von 1823 bemerkte, dass diese „Badeanstalt nichts vermissen lässt, was man in den berühmtesten Badeörtern nur erwarten kann, und in Hinsicht der reizenden Umgebungen die meisten Badeanstalten Deutschlands weit übertrifft”. 1405 Doch zeigte sich hier, dass selbst die bedeutendste finanzielle Unterstützung für ein Bad nicht ausreichte, wenn die Erwartungen an ein „richtiges” Seebad nicht erfüllt werden konnten. Nur unweit der Insel Rügen auf der gegenüberliegenden Festlandseite hatte sich bei Stralsund ein kleines Seebad etabliert. Hier ließen sich aber weder die medizinischen noch die ästhetischen Anforderungen an ein Seebad erfüllen. Weder ein freier Blick auf das Meer noch größerer Wellenschlag waren im schmalen Strelasund 1406 gegeben. Die gute Erreichbarkeit für die Bewohner der Stadt ließ diese Gründe aber nebensächlich erscheinen. Man habe, so Hille, in Anlehnung an Doberan und Putbus „ein Seebad anzulegen begonnen, welches als locale Anstalt für die Bewohner Stralsunds Nutzen haben kann, aber bei den nahen, trefflich ausgerüsteten Seebadeanstalten wohl schwerlich nur zu einigem Rufe und Besuche aus der Ferne gelangen wird, da ihre Lage in dieser Beziehung keine Vorzüge, eher aber Nachtheile hat”. 1407 Wie auch die Badeanstalt bei Wismar wurde Stralsund kein Bad mit überregionaler Bedeutung, hielt sich aber als Bad für die Bewohner der nahen Stadt. Topographische Besonderheiten verschiedenster Art wurden aber auch als herausragende Besonderheiten beschrieben. In Kahlberg auf der Frischen Nehrung könne man, so der dortige Badearzt, nach dem Bad sich „ohne allen Nachtheil anhaltend der Luft aussetzen und selbst stärkere Luftströme ohne alle empfindliche Einwirkung ertragen“. 1408 Dabei sei Kahlberg „das einzige Seebad unserer Ostseeküste, wo dieser Umstand noch durch seine örtliche Lage sehr begünstigt wird. Die gegen Norden gelegene Düne und der Kiefernwald halten die kalten Nordwinde der Art ab, dass Kahlberg für Schwindsüchtige ein höchst empfehlenswerther Sommeraufenthalt ist.“ In diesem sich auf verschiedenen Ebenen artikulierenden Differenzierungsprozess wurde die bis dato unangefochtene Führungsstellung Doberan-Heiligendamms von den neuen Gründungen herausgefordert. Von dem eifrigen Prof. Vogel wurde dies nicht ohne eine gewisse Skepsis betrachtet. Darum postulierte er in seinen „Neuen Annalen“ von 1819, Doberan „als ihre rechtmäßige Mutter kann [...] also einigen Anspruch auf die kindliche Achtung derselben machen, dagegen sie sich der schönen, theils schon reifen, theils im Reifen begriffenen, theils sich erst entwickelnden Früchte 1405 Schneider, Reisegesellschafter, S. 140. 1406 Der Strelasund ist ein Meeresarm der Ostsee, der die Insel Rügen vom Festland vor Stralsund trennt. 1407 Hille, Heilquellen, S. 235. 1408 Fleischer, Kahlberg 1863, S. 54. <?page no="340"?> 4.3 Konkurrenzmodelle 339 erfreuet“. 1409 Doberan behielt aber nicht nur wegen der langen Erfahrungen Vogels und der einmaligen Kur- und Vergnügungsanlagen noch lange seine exklusive Stellung. Es konnte zusätzlich zum Seebad mit verschiedenen Heilwassern auch auf weitere, traditionelle Heilmittel zurückgreifen. Vogel sprach 1819 davon, es sei „schon immer die Absicht gewesen, dass Doberan während der Badezeit nicht bloß zu Badekuren, sondern zu einem allgemeinen Zufluchtsorte für Kranke aller Art dienen sollte“. 1410 So besitze Doberan „einen Vorzug vor den meisten übrigen Seebädern [...] noch dadurch, dass es drei Mineralquellen, eine Eisen-, eine Schwefel- und eine Soolquelle besitzt, deren Gebrauch mit dem des Meerwassers in vielen Fällen sehr zweckmäßig verbunden werden kann“. 1411 Zudem bot man hier Kuren mit Eselsmilch und Molke an. 1412 So war es lange Zeit auch kaum möglich, eine Badeanstalt an der See anzulegen, ohne Doberan als Vorbild anzunehmen. Vor allem die kleineren Privatgründungen, wo sich nur wenige Akteure um das Seebad kümmerten, waren dankbar für die Orientierungsmöglichkeiten, die sich ihnen vor allem anhand Vogels Veröffentlichungen boten. 1413 Ihre Rolle als Fischerdorf mit angeschlossenem Seebad konnte natürlich nicht in einer direkten Konkurrenz zu Doberan liegen. Lediglich das Angebot weniger vermögenden Besuchern einen Aufenthalt in einem Seebad zu ermöglichen, konnte von hier aus gemacht werden. Ohne den gesamten Vergnügungsapparat, der sich in Doberan etabliert hatte, ohne Theater, Jagd, Bälle und sonstige Feierlichkeiten versprach das Aufsuchen dieser kleinen Bäder das „ungetrübte“ und echte Badeleben. So wurde, noch vor der Gründung des Seebades 1824, Swinemünde als sehr schlichtes, dafür aber günstiges Bad vorgestellt. Dementsprechend sei es für diejenigen, „welche okönomische Ursachen hindern, berühmtere Örter zu besuchen“, zu empfehlen, denn: „Der Aufenthalt hier ist nicht kostspielig. Man kann um einen ziemlich geringen Preis eine Wohnung mieten und sich beköstigen. Alle übrigen Ergötzlichkeiten 1409 Vogel, Handbuch 1819, S. 44. 1410 Vogel, Handbuch 1819, S. 128. 1411 Brockhaus, „Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände“, 1847, S. 388. 1412 Vogel, Handbuch 1819, S. 129ff. 1413 Die 1812 erfolgte Privatgründung des Seebades in Rügenwaldermünde durch den dortigen Arzt Dr. Büttner konnte nicht auf die finanziellen Ressourcen, wie sie Heiligendamm oder Kiel besaßen, zurückgreifen. Büttner finanzierte die ersten schlichten Badeanlagen weitgehend aus privaten Mitteln, wobei ihm Doberan, „die ältere Schwester“, vermittelt durch Vogels Schriften, als Vorbild diente. Auch die von Beginn an in den Badeanlagen veröffentlichten Baderegeln stammten aus Vogels Veröffentlichungen und wichen nur dort ab, „wo die Localität [es] erscheischte“. Vgl. Büttner: Etwas über die Anlage eines Seebade-Anstalt auf der Rügenwalder Münde. In: Journal der practischen Heilkunde, 40. Bd., 4. St., Berlin 1815, S. 124. <?page no="341"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 340 fehlen hier.“ 1414 Nur wenige Jahre später sah sich Swinemünde aber in derselben Lage wie Doberan, denn mit dem fortschreitenden Ausbau nahmen die Unterhaltungskosten für die Besucher zu, und das Bad wurde exklusiver. Damit eröffnete sich den kleinen Bädern in der Umgebung Swinemündes die Möglichkeit, sich dem nach günstigeren Plätzen Ausschau haltenden Publikum als Alternative anzubieten. Dadurch kamen „Personen, denen Swinemünde [...] etwas zu sehr großstädtisch geworden“ ist, jetzt „auf den Gedanken, sich im Fischerdorf Misdroy niederzulassen“. 1415 Die Verfügungsmöglichkeit über finanzielle Ressourcen bestimmte so als Ein- und Ausschlusskriterium den Zugang verschiedener sozialer Schichten zu den Bädern. Aber auch in den kleinen Seebädern musste man, angesichts ständig wachsender Konkurrenz, nach jeder sich bietenden Möglichkeit suchen, um sich von anderen Bädern ähnlicher Coleur abzugrenzen. So versuchte der Misdroyer Badearzt durch den Nachweis modernster Heilmethoden den medizinischen Aspekt des Seebades, seines Seebades, wieder in den Vordergrund zu rücken. In seiner Badeschrift bot er den Gästen zusätzlich zu den allgemeinen Kuranwendungen die „neuesten Hülfsmittel der Medizin, Electromagnetismus und schwedische Heil-Gymnastik“ 1416 an. Letztlich aber, und bei fast jährlich neu entstehenden Bädern aus offensichtlichen Gründen, setzte sich die Auffassung durch, dass sich jeder Ort der Küste in irgendeiner Weise zum Seebad eignete und auch sein Publikum finden werde. Sämtliche Kriterien für ein „gutes“ Seebad, seien sie medizinischer, ökonomischer, gesellschaftlicher oder ästhetischer Art, besaßen keinen normativen Wert. Zwar gab es verbreitete Idealvorstellungen - ein feiner, fester Strand, pittoreske, waldreiche Landschaft, Blick aufs offene Meer, gute Verkehrsanbindung etc. -, und nach dieser ergab sich in gewissem Umfang auch die Exklusivität eines Bades. Doch blieben es eben Kriterien, die überall Abweichungen erzwangen und zuließen und so jedem Bad seine eigene Identität ermöglichten. Loewe fasste es 1846 so zusammen: „Fast jedes Dorf am Nord- und Ostseestrande Deutschlands nimmt jetzt Badegäste auf, und man kann sagen, fast jedes kann seine Gründe aufstellen, dass gerade dieses Dorf oder diese Ortschaft für sie passend ist, und wenn es schon Beschreibungen einzelner Badeorte an der Nord- und Ostsee für die, welche sie benutzen wollen, giebt, so ist deshalb noch nichts Überflüssiges geschehen: denn jedes Bad hat seine Eigenthümlichkeiten.“ 1417 1414 O.V., Reise eines Gesunden, S. 67f. 1415 Raumer, Wollin, S. 367. 1416 Oswald, Misdroy, S. 32. 1417 Loewe, Dievenow, S. 6. <?page no="342"?> 4.3 Konkurrenzmodelle 341 Diese herauszustellen wurde in zunehmendem Maße die Aufgabe der Bäderliteratur. Während die medizinischen Aspekte allmählich wegen der offensichtlichen Ähnli chk ei t unt er de n Bä de rn w ei ter z ur üc kt rat en , wu rd e da s Pre sti ge des B ad es zun ehmend durch den Status des gesellschaftlichen Lebens im Bad bestimmt. Die Promenade gewann gegenüber dem Badesteg immer stärker an Symbolkraft. Aber noch einmal zurück in die Gründungszeit der Bäder: Allem Engagement der Ärzte und lokalen Akteuren zum Trotz hing das Überleben vieler Seebäder von einer öffentlichen Unterstützung ab. Bereits im Kapitel 4.2. ist deutlich geworden, in welchem Maße man von Seiten der betreffenden staatlichen Behörden bemüht war, die Seebäder des eigenen Landes zu unterstützen. Hier ging es um wirtschaftspolitische Entscheidungen, die das Seebad im Kontext einer allgemeinen Wirtschaftsstrategie verorteten und aus einem strategischen Landesinteresse heraus resultierten. Noch bevor die Binnenkonkurrenz der Ostseebäder überhaupt einsetzen konnte, konkurrierte man zwischen den einzelnen Ländern um die solventen Gäste. In Preußen, und hier besonders in der von einer langen Ostseeküste geprägten Provinz Pommern, erschien wenige Jahre nach der Gründung Doberans der Zustand ohne eigenes Seebad als unbefriedigend. Da man, wie oben dargestellt, dem Geldabfluss ins mecklenburgische Doberan etwas entgegenstellen wollte, aufgrund knapper Kassen aber nicht wie der mecklenburgische Herzog investieren konnte, beschränkte man sich in Preußen auf die sporadische Unterstützung einzelner Bäder und ließ ansonsten private Investoren zum Zuge kommen. Die finanzielle Förderung einzelner Bäder durch staatliche Stellen hat aber zweifellos in allen betreffenden Staaten den Entstehungsprozess vieler Seebäder entscheidend beeinflusst. Kiel, Heiligendamm, Putbus, Swinemünde, Rügenwalde, Cranz hätten ohne diese Unterstützung nicht ihre Stellung in der ersten Gründungsphase einnehmen können. Letztlich verschärfte sich die Binnenkonkurrenz der Ostseebäder im Lauf des ganzen 19. Jahrhunderts aber in einem solchen Maße, dass die Mittel für Werbung immer größere Summen verschlangen. Im Jahr 1900 entstand auf Anregung einzelner Akteure daher der Verband Deutscher Ostseebäder, der fortan darum bemüht war, die gemeinsamen Interessen zu bündeln, Lobbyarbeit zu betreiben 1418 und, statt sich gegenseitig die Gäste abspenstig zu machen, dafür lieber wieder den alten Gegner aufs Tableau zu heben - die Nordseebäder. 1418 So heißt es in Paragraf 1 der Satzung des VDO, Verbandszweck sei „1. die Unterhaltung einer gemeinsamen Auskunftsstelle in Berlin, 2. die Ausübung gemeinsamer Werbetätigkeit, 3. die gemeinsame Interessenvertretung bei Behörden, Verbänden usw., 4. der Meinungsaustausch und die Erörterung über Fragen der Badeverwaltung und Badeeinrichtungen.“ Zit. nach: Bericht über die 19. Jahres-Versammlung des Verbandes Deutscher Ostseebäder am 4. November 1918 in Berlin, S. 11. <?page no="343"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 342 4.3.2 Die Etablierung schichtenspezifischer Bäder Je stärker in einige Bäder investiert wurde, desto stärker musste man sich hier auch auf die wohlhabende Klientel konzentrieren. Sowohl die wachsende Anzahl von Badegästen wie die damit verbundene stärkere Ausdifferenzierung derselben ermöglichten und verlangten Bäder, die verschiedenen gesellschaftlichen Positionen und den mit ihnen verbundenen Erwartungen entsprachen. Alle kleinen Bäder, die im Laufe der Zeit entstanden, nahmen daher wenigstens zu Beginn für sich in Anspruch, bewusst nicht dem exklusiven Treiben in den großen Bädern zu folgen, sondern noch ein „richtiges“ Seebad zu sein. Dieser Anspruch verhieß das Urgefühl des romantischen Reisenden, die Illusion einer „unberührten“ Natur, geringe Besucherzahlen, das Bad im Meer als zentrale Kurhandlung und vor allem eine gesellschaftliche Umgangsform, deren Habitus sich bewusst repräsentativen Normen zu entziehen versprach. Diese häufig eher aus der Not geborene spartanische Form des Seebades fand sich beispielhaft in den Bädern Misdroy und Dievenow auf der Insel Wollin. Überhaupt zeigten die beiden benachbarten Inseln Usedom und Wollin mit ihrer Vielzahl von Seebädern am frühesten und konsequentesten diese Ausdifferenzierung der Seebäder. Als um die Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr kleine Fischerdörfer eigene Seebadeanstalten errichteten und das Badepublikum vermehrt aus nicht wohlhabenden Kreisen stammt, wurde dieser Prozess offensichtlich. 1419 Die schichtenspezifische Zuordnung des Badepublikums zeigte sich etwa bei den drei dicht nebeneinander liegenden Bädern Swinemünde, Ahlbeck und Heringsdorf. Alle drei bedienten mit ihrem Status eine eigene, teilweise scharf voneinander geschiedene Klientel. Swinemünde, als ältestes Seebad auf Usedom und als Handels- und Hafenstadt Zentrum der Insel, galt als Seebad des Bürgertums, aber auch der „Gutsbesitzer der Umgebung“, denen „die geräuschvollen Vergnügungen, der gesellige Verkehr, eine erwünschte Abwechslung gewähren“. 1420 Vor allem die Verbindung urbaner Strukturen, also der vielfältigen Möglichkeiten von Vergnügen und Unterhaltung, mit dem etwas außerhalb gelegenen, ruhigeren Badekomplex, stellten eine ideale Verbindung von Kur- und Vergnügungsort dar. Zudem ermöglichten es die gute Verkehrsanbindung und die Versorgung mit Unterkünften einem größeren Besucherkreis, Swinemünde als Seebad zu wählen. Zahlreiche Besucher kamen daher aus Stettin und Berlin hierher. Dass in Swinemünde keine besonders romantische Natur zu 1419 Bereits mit Doberan, dem ersten öffentlichen Seebad, setzte dieser Prozess ein. Denn mit dem öffentlichen Seebad gerieten die „wilden“ Bäder unter einen gewissen Rechtfertigungsdruck. Und auch das Bemühen, in den großen Seebädern egalitäre Umgangsformen einzuführen, scheiterte an dem ungebrochenen Distinktionsbestreben vieler Gäste. 1420 Müller, Swinemünde, S. 33. <?page no="344"?> 4.3 Konkurrenzmodelle 343 finden ist und der Salzgehalt des Wassers zu wünschen ließ, fiel offensichtlich nicht mehr ins Gewicht. Nu r wen ige K il ome te r no rd we st lic h vo n Swi nem ünd e lie gt da s Fis ch er do rf A hlbeck, das Anfang der 1850er Jahre ebenfalls zum Seebad wurde. Die Badeanlagen ließen sich nicht mit denen von Swinemünde oder Heringsdorf vergleichen, alles war höchst einfach, außer dem Försterhaus gab es nur einfache Fischerhütten, und so hatten die Wohnungen „den Einrichtungen entsprechend mäßige Preise“. 1421 Wer Ahlbeck mit seiner vom Geruch der Räucherei geschwängerten Luft besuchte, tat dies, weil er sich Swinemünde und Heringsdorf nicht leisten konnte. Besucher waren hauptsächlich solche Leute, „die aus Ersparungsgründen einen billigeren Badeort aufsuchen. Geselliger Verkehr, Vergnügungen, Concerte sind natürlich ganz ausgeschlossen.“ 1422 Ökonomische Ausschlusskriterien lassen sich kaum deutlicher fassen. Vermutlich auch wegen der ärmlichen Verfasstheit des ganzen Fischerdorfes hatte man noch einige Jahre vor der Gründung des Seebades, im Jahr 1846, über die Anlage eines Bades speziell für arme Berliner diskutiert. Dieser auf Anraten des Vorstandes des Berliner Elisabeth-Krankenhauses gemachte Vorschlag fand aber bei der Stettiner Regierung keine Unterstützung. Man befürchtete, dass die der „Gesundheit besonders zuträglichen Spazierfahrten am Strande Seitens der Badegäste in Swinemünde und Heringsdorf aufhören und diesen bereits bestehenden Bädern in mehrfacher Hinsicht“ 1423 schaden würden. Stattdessen schlug man die königlichen Amtsdörfer Ostswine und Osternothafen auf der Insel Wollin als passendere Standorte vor, in deren Nähe sich keine Besucher unangenehm berührt fühlen könnten. Weder in Ahlbeck noch in Ostswine und Osternothafen wurde schließlich eine Armen-Badeanstalt errichtet. Nur eine kurze Wegstrecke nordwestlich von Ahlbeck entfernt liegt Heringsdorf. Als adelige Privatgründung Bernhard von Bülows etablierte es sich schnell als Seebad einer vornehmen Klientel, zu der das wohlhabende Bürgertum ebenso gehörte wie die Aristokratie und Künstler. Der romantische Reiz von Heringsdorf, von dem nicht nur Fanny Hensel schwärmte - „Heringsdorf ist stupend schön“ 1424 - und das anfangs eher unkonventionelle Badeleben wandelten sich bald zu einem von Abgrenzung und Konvention geprägten Badeort. Während bald die mit Blick aufs Meer neu errichteten Villen für Aufsehen sorgten, war es der „im Allgemeinen [...] auffällig vornehme Anstrich, der nicht Jedermann behagt“. 1425 Die exklusive Raum- 1421 Müller, Swinemünde, S. 43. 1422 Müller, Swinemünde, S. 43. 1423 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2559, Schreiben vom 11.3.1846. 1424 Hensel, Mendelssohn Briefwechsel, Brief an den Ehemann vom 1.7.1839. 1425 Müller, Swinemünde, S. 51. <?page no="345"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 344 aneignung konzentrierte sich im gesellschaftlichen Mittelpunkt des Bades, dem Gesellschaftshaus. Hier würden sich, so Müller 1869, „Leute, die an einfachere Lebensweise gewöhnt sind, nicht wohl in denselben behaglich fühlen“ 1426 können. Zum Ende des Jahrhunderts, nachdem die „Seebad Heringsdorf AG“ den Ort noch weiter auf ein vermögendes Publikum ausgerichtet hatte, sprach ein Reiseführer vom „mindererfreulichen [...] Mode- und Luxusbad der Plutokratie“. 1427 4.4 Herkunft und sozialen Stellung der Bäderbesucher Um nachzuvollziehen, welche Bedeutung die Seebäder für bestimmte soziale Gruppen hatten und wie sie sich auf diese auswirkten, sind quantitative und qualitative Erhebungen zu den Badegästen nötig. Einer solchen Untersuchung stehen für die frühen Seebadgründungen freilich einige Hindernisse entgegen, denn die Reliabilität statistischer Erhebungen im 19. Jahrhundert lässt zu wünschen übrig. Bereits in den 1830er Jahren war man seitens der Badeverwaltungen wegen der „mangelnden badepolizeilichen Statistik“ 1428 verärgert. Eine einigermaßen aussagekräftige Statistik über die Anzahl und Herkunft der Badegäste, liegt, jedenfalls für den preußischen Staat, erst für das Kaiserreich vor. 1429 Die auf der Grundlage einer Rundverfügung des preußischen statistischen Büros von 7. Juli 1870 erhobenen Daten zu den öffentlichen Badeorten sorgten wegen der Schwierigkeit, die Badegäste nach den vorgesehenen Gruppen (Kurgäste, Erho- 1426 Müller, Swinemünde, S. 51. 1427 Volckmann, Seebäder, S.15. 1428 Lieboldt, Privat-Seebadeanstalt, 1836, S. 351. Diese umfasst die in Badeverordnungen festgelegte Meldung von Badegästen durch die Gastwirte und Vermieter von Gästewohnungen. So heißt es in dem am 16.5.1825 erlassenen Badereglement für Swinemünde: „§ 20. Jeder Gastwirth oder andere Einwohner, welcher Badegäste beherbergt, ist verpflichtet, die bei ihm eingekehrten fremden Badegäste, sogleich nach Namen, Stand und Wohnort, Benennung der zur Familie gehörigen Personen und ihrer Domestiquen, schriftlich auf dem Polizeibüreau zu melden, und findet hiebei alles dasjenige statt, was überhaupt von Polizeiwegen in Ansehung der Fremden-Meldung verordnet worden, daher denn auch der Abgang eines jeden Badegastes gemeldet werden muß. § 21. Nach dieser Meldung wird in dem Polizeibüreau eine vollständige Liste von den vorhandenen Badegästen angefertigt, und bis zur Beendigung der Badezeit fortgeführt. Von dieser Liste erhält die Bade-Direktion von Anfang an, ein vollständiges Exemplar, welches durch tägliche Nachtragungen dieselbe in den Stand setzt, von allen ankommenden Badegästen auf Verlangen eine correcte Abschrift von dieser Liste gegen Bezahlung der Copialien auf dem Polizeibüreau erhalten.“ Reglement für die Bade-Anstalt zu Swinemünde, Stettin 1825, S. 8f. 1429 Die erste, auf umfangreicherem Material basierende amtliche Statistik, in dem Angaben auch über die Anzahl der Badegäste, die genommenen Bäder und die Besitzverhältnisse der Badeanlagen gemacht werden, ist erschienen in „Die Bäder und Heilquellen im preußischen Staate während der Jahre 1870-1885“ und 1886 als Sonderabdruck der „Zeitschrift des Königlich preussischen Bureaus, Jahrgang 1886“, von A. Freiherr von Fircks. <?page no="346"?> 4.4 Herkunft und sozialen Stellung der Bäderbesucher 345 lungssuchende, Durchreisende, Geschäftsleute, zum bloßen Vergnügen) zu klassifizieren, schon bei den Zeitgenossen für erhebliche Probleme. 1430 So bemerkte 1886 der Regierungspräsident von Cöslin in Pommern, es würde eine „durchgreifende Genauigkeit in der Beantwortung dieser Fragen (sowie in Bezug auf die Fragen des öfter wiederholten Aufenthaltes) selbst mit Hintansetzung aller Rücksichten auf die Unannehmlichkeiten der nöthigen Ausforschungen, Irrthümer und Berichtigungen, welche aus einem in vorstehender Weise aufgestellten Meldescheine für die Badegäste sich ergeben müßten,“ sich nicht realisieren lassen. 1431 Auf einen anderen kritischen Aspekt zur Erhebung statistischer Daten für die Seebäder verwies 1886 der Regierungspräsident von Stralsund. Zum einen würden in die Kurlisten „unserer Bäder [...] zahlreiche Durchreisende aufgenommen, die in Wahrheit keine Kurgäste sind“. Zum anderen gehörte die „große Anzahl der Badegäste [...] überhaupt nicht in die Zahl der Kranken, besteht vielmehr aus solchen, die den Staub der Großstädte und den Mühen des Amts entfliehen, auf mehr oder minder kurze Zeit die Frische der Seeluft genießen wollen. Aus diesem Grunde glaube ich auch, das die Personalnachrichten über Geschlecht, Alter, Familienstand, Geburtsland, Staatsangehörigkeit und Religionsbekenntniß der unsere Bäder Besuchenden kaum ein besonderes statistisches Interesse darbieten könnten.“ 1432 Trotz dieser Mängel bot der Bericht des preußischen statistischen Büros erstmals aussagekräftige quantitative Aussagen zum Besuch der Ostseebäder. Die Probleme, die bei der Betrachtung der Badegäste für die Zeit vor den statistischen Erhebungen im Kaiserreich auftraten, sind ungleich größer. Denn neben den auch für diese Daten zutreffenden Ungenauigkeiten und Fehlern mangelt es in den meisten Fällen schlicht an den entsprechenden Quellen zu den Badegästen. Eine Analyse der sozialen Herkunft der Gäste gestaltet sich insofern schwierig, als selbst die wenigen überlieferten Badelisten bzw. das Zahlenmaterial aus diversen gedruckten Schriften der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig nur die Anzahl der Badegäste nennen und namentlich nur herausragende gesellschaftliche Persönlichkeiten erwähnen. Selten findet sich die Angabe des Standes, und wo diese ent- 1430 Dieser neu erarbeitete Fragebogen für die Datenerfassung zum Bäderbesuch beruhte wiederum auf einer älteren Verfügung vom 16.3.1826, wobei man die dort aufgeführten Fragen am Ende des Jahrhunderts für überholt hielt. Vgl. LA Greifswald, Rep. 60, Oberpräsident von Pommern, Schreiben des Oberpräsidenten an sämtliche Königlichen Regierungen vom 7.7.1870. 1431 LA Greifswald, Rep. 60, Oberpräsident von Pommern, Schreiben an den Minister der Medicinal- Angelegenheiten vom 21.8.1886, S. 36f. 1432 LA Greifswald, Rep. 60, Oberpräsident von Pommern, Schreiben an den Oberpräsidenten von Pommern vom 7.9.1886. <?page no="347"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 346 halten ist, lassen sich wegen der quantitativen Beschränkung nur bedingt belastbare Aussagen treffen. Zudem ist selbst mit der Berufsangabe nur eine ungefähre soziale Einordnung, nicht aber eine differenzierte Bewertung etwa für die Oberschicht oder den bürgerlichen Mittelstand, möglich. 1433 Obendrein wurden kürzere Badeaufenthalte, die nicht dem verordneten mehrwöchigen Kuraufenthalt entsprachen, in den Badelisten nicht vermerkt. Trotzdem lassen sich aus den vorhandenen Quellen so viele Daten gewinnen, dass ein grober Überblick, um den es hier nur gehen kann, zu erlangen ist. Auch dieses Material bleibt freilich auf die Bäder beschränkt, die in öffentlichen oder administrativen Zusammenhängen Erwähnung finden. Die vielen kleinen Seebäder mit nur lokaler Bedeutung, müssen hier dementsprechend unberücksichtigt bleiben. Ungeachtet der skizzierten Einschränkungen lassen sich gleich zu Beginn zwei wichtige Tendenzen für die Entwicklung im 19. Jahrhundert festhalten. Erstens nahm die Anzahl der Badegäste, von kleinen Schwankungen durch politische Wirren oder Witterungsverhältnisse abgesehen, bis ins letzte Drittel des Jahrhunderts langsam, aber kontinuierlich, ab den 1870er Jahren dann in bedeutendem Umfang, zu. Zweitens entwickelte sich der Küstenstreifen der deutschen Ostseeküste im 19. Jahrhundert von einem dünn besiedelten, unattraktiven Landstrich zu einer Aneinanderreihung von Seebädern, die die wirtschaftliche und soziale Struktur dieses Raumes entscheidend veränderten. Die Aussagen von Monique und Michel Pincon über die Urbanisierungstendenzen des französischen Bürgertums an der See, lassen sich auch auf die Ostseebäder übertragen: „The great families generally prefer to develop virgin land for themselves rather than to reconquer a habitat that is already in use.“ 1434 Die Gründe hierfür waren vielfältig: der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, die Aufhebung reiserechtlicher Beschränkungen, die mit dem wirtschaftlichen Aufschwung im Zuge der Industrialisierung erfolgte Ausbildung einer vermögenden Mittelschicht, der Zugang für breitere soziale Schichten u.a. durch die Sozialgesetzgebung im Deutschen Reich (reichsweite Urlaubsregelungen ab 1873). Erst von diesem Zeitpunkt an konnte sich die Badereise zu einem Massenphänomen entwickeln, in dessen Genuss dann ab der Zwischenkriegszeit auch die unteren sozialen Schichten kamen. 1435 Die quantitative Entwicklung der Gästezahlen lässt sich an wenigen Beispielen verdeutlichen. 1794 besuchten in der ersten Saison 308 Personen das Seebad von 1433 Vgl. zur Problematik des Umgangs mit den Daten der Badelisten auch Kuhnert, Urbanität, S. 128; Weber, Saßnitz, S. 127. 1434 Pincon, Grand Fortunes, S. 186. 1435 Vgl. dazu Spode, Reiseweltmeister, S. 66f. <?page no="348"?> 4.4 Herkunft und sozialen Stellung der Bäderbesucher 347 Doberan-Heiligendamm. 1436 1810 waren es trotz Napoleonischer Besatzung schon 663 Badegäste. 1437 Was uns heute im Zeitalter des Massentourismus als immer noch marginale Menge erscheint, hat die Zeitgenossen fast schon irritiert. Das uns vertraute massenhafte Auftreten der Badegäste an den Küsten während der Sommermonate begann erst mit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Noch Anfang der 1870er Jahre bewegte sich die Gesamtbesucherzahl der größeren Ostseebäder in einem niedrigen fünfstelligen Bereich, 1438 1900 dann bereits bei knapp 180.000. 1439 Gut einhundert Jahre nach der ersten Bädergründung gab der Verband der Deutschen Ostseebäder für 1910 eine jährliche Gesamtbesucherzahl von knapp 410.000 Gästen an. 1440 Die Unterschiede der Gästezahlen zwischen den einzelnen Bädern waren zu diesem Zeitpunkt allerdings beträchtlich. So verbuchte beispielsweise Swinemünde knapp 40.000 Badegäste jährlich, das weiter westlich auf der Insel Usedom gelegene Seebad Kölpinsee dagegen nur 400. 1441 Wie verlief nun die Entwicklung der Gästezahlen in den jungen Ostseebädern? Welche waren die quantitativ erfolgreichen Bäder, die besonders von der Bäderkultur geprägt wurden? Angesichts der erwähnten Quellenlage und -aussagekraft kann es hier nur um einen Überblick gehen, 1442 um sowohl die Bedeutung einzelner Bäder herauszuarbeiten als auch eine Vorstellung vom Erfolgsmodell der Seebäder zu bekommen. 1443 Für die ersten Jahrzehnte der Ostseebäder sind Gästezahlen lediglich für Doberan relativ durchgängig überliefert. 1444 Wie in den meisten zeitgenössischen Überliefe- 1436 Vgl. dazu Karge, Heiligendamm, S. 26. 1437 Im selben Jahr sind 1410 Besucher des Bades angegeben. Eine Unterscheidung zwischen bloßen Besuchern und den kurenden Badegästen wurde in der Regel nach der nur für letztere erfolgenden Eintragung in die Kurlisten vorgenommen, ist aber wegen der verschiedenen Handhabung keineswegs eindeutig. 1438 Fircks führt wegen mangelnden Materials in seiner Statistik für diese Zeit allerdings nur Zahlen von knapp zwanzig Ostseebädern an. Ders., Bäder und Heilquellen, Tabelle 6, S. 256. 1439 Die Deutschen Ostseebäder, 1911, S. IX. 1440 Die Deutschen Ostseebäder, 1911, S. IX. In diese Statistik eingeschlossen sind die 85 dem Verband angehörenden Seebäder. 1441 Die Deutschen Ostseebäder, 1911, S. VIII. 1442 Auf welcher Grundlage die vorliegenden Zahlen beruhen ist häufig unklar, ebenso wie die Frage, um welche Art von Gästen es sich handelte, ob beispielsweise Kinder und Bedienstete mit eingeschlossen sind. Auch ist die Trennung zwischen Badegästen und Fremden, deren Unterscheidung sich auf den Eintrag in die Badelisten stützt, häufig nicht eindeutig und auch in der Zuschreibung, was ein „Fremder“ ist, nicht eindeutig erkenn- und vergleichbar. Vgl. dazu auch Kuhnert, Urbanität, S. 42f. 1443 Zur Besucherfrequenz ab 1900 vgl. Kolbe, Deutsche Ostseebäder, S. 28ff. 1444 Vgl. Sachse, Medicinische Beobachtungen, S. 311. Leider ist hier die Anzahl der Badegäste nur bis 1813 separat aufgeführt, so dass eine genauere Entwicklung des Verhältnisses der Gesamtzahl der Gäste zu jener der Badegäste nicht möglich ist. Vgl. auch Sachse, Seebäder. <?page no="349"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 348 rungen gibt es zwei Kategorien der aufgeführten Besucher, zum einen die Gesamtzahl der Gäste, zum anderen die Zahl der Badegäste, also jener, die sich der Bäder bedienten. Danach befanden sich zwischen 1800 und 1835 ca. 1.000 bis 1.500 Gäste in Doberan-Heiligendamm, von denen etwa 40 bis 60 Prozent als Badegäste galten. Damit lag Doberan nicht weit entfernt von dem vor allem in Norddeutschland populären westfälischen Brunnenkurort Pyrmont, in den zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwa 1.200 bis 1.500 Brunnengäste pro Jahr reisten. 1445 Nicht zu vergleichen sind Doberan und alle anderen Seebäder aber mit den größten Brunnenorten des Binnenlandes, wie Wiesbaden oder Baden-Baden, in denen sich zur Mitte des Jahrhunderts jährlich ca. 30.000 Badegäste aufhielten. 1446 Für das zu Rostock gehörende Warnemünde wurden 1812 die ersten Familien als Badegäste erwähnt, zehn Jahre später waren es über hundert Gäste. 1447 In Rügenwaldermünde verzeichnete die Badeliste von 1817 insgesamt 43 Personen, von denen sechs die Armenbäder nutzten. 1448 Noch 1815 besuchten hier lediglich 10 Personen das Seebad, ein Jahr später waren es 18. 1449 In Cranz bei Königsberg badeten 1817 gut 100 Personen, 1819 schon 200, 1846 dann 446 und 1853 schließlich 1.409, was innerhalb von lediglich 36 Jahren eine Steigerung um mehr als das Vierzehnfache bedeutete. 1450 Für Zoppot, das bei den Danzigern beliebteste Seebad, wurde die Anzahl der Badegäste 1820 auf 82 Badegäste beziffert, 1830 auf 460 und in den 1840er Jahren auf ca. 1.000. 1451 Für Kolberg, am Ende des Jahrhunderts eines der größten See- (und Sole-)bäder, wurden noch 1848 nur 197 Gäste gezählt, 1865 dann aber bereits ca. 2.500. 1452 Hille lieferte in seinem 1838 veröffentlichten Werk „Die Heilquellen Deutschlands und der Schweiz“ einen Überblick über die Gästezahlen für die Seebäder Deutschlands. Danach hatte zu diesem Zeitpunkt Putbus mit 1.545 die meisten Gäste, gefolgt von Swinemünde mit 1.433, Doberan mit 1.269, Travemünde mit 835, Warnemünde mit 600, Zoppot mit 515, Kiel mit 440, Kolberg mit 150, Apenrade mit 80, He- 1445 Vgl. Kuhnert, Urbanität, S. 47. 1446 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 139. 1447 Für 1812 vgl. Georg Heinrich Masius: Medizinischer Kalender für Ärzte und Nichtärzte auf das Jahr 1813, Rostock 1814, S. 181. Für 1822 vgl. Formey, Doberan und Warnemünde, S. 117. 1448 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Verzeichnis derjenigen Fremden welche im Jahre 1817 das Seebad bey Rügenwalde besucht haben. 1449 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 31.12.1817. 1450 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben an das Ministerium der Medicinal-Angelegenheiten vom 28.3.1854. 1451 Schultz, Chronik, S. 67. 1452 Vgl. GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2559, Bericht des Königlichen Polizei-Directoriums Colberg vom 14.10.1848 und Schreiben vom Oktober 1865. <?page no="350"?> 4.4 Herkunft und sozialen Stellung der Bäderbesucher 349 ringsdorf mit 76 und schließlich Rügenwalde mit 50 Gästen. 1453 Kleinere Bäder wie Dievenow und Misdroy auf der Insel Wollin, die von der guten Verkehrsverbindung Swinemündes profitierten, hatten um die Jahrhundertmitte jeweils ca. 500 Badegäste. 1454 Unbedeutende Stranddörfer wie Fulgen und Müritz in Mecklenburg, „pflegen jährlich von einigen Badegästen besucht zu werden“. 1455 Damit kann man zur Mitte des 19. Jahrhunderts in den deutschen Ostseebädern, die nicht nur lokale Besucher anzogen, grob von einer Gästezahl von bis zu 10.000 Personen ausgehen. Eine beachtliche Zahl angesichts des jungen Bädertyps der Ostseebäder, jedoch eine immer noch bescheidene Zahl im Vergleich zu den binnenländischen Bädern. 1456 Das Haupteinzugsgebiet der Seebäder war bis weit ins 19. Jahrhundert auf die jeweilige Region konzentriert. Für die Seebäder der großen Hafenstädte stellten deren Bewohner in überdurchschnittlichem Maße die Besucher. In der ersten Travemünder Badeschrift von 1803 hieß es: „Schon mehrere Sommer hindurch ward Travemünde jährlich von verschiedenen Lübeckern und bisweilen auch von Fremden besucht“. 1457 1815 besuchten neben den Lübeckern auch „angesehene Familien aus dem Preußischen, vorzüglich aus Berlin, Hamburg, [und] aus dem Hannöverschen“ 1458 das Bad. In Cranz bei Königsberg registrierte man 1817 „zwei fremde Familien“, 1459 eine aus Wilna (Vilnius) und eine aus Warschau. Viele „Personen waren aus der Provinz und die übrigen Badegäste aus Königsberg“. Für das folgende Jahr lautete die Besucherbilanz: „In Cranz befanden sich in diesem Jahre 107 Badegäste, von denen die mehrsten aus Königsberg und nur eine Familie aus Danzig, ein Badegast aus Bromberg und einige aus der hiesigen Provinz waren.“ 1460 Für Warnemünde führte eine erhaltene Badeliste von 1833 vor allem Gäste aus Rostock auf, daneben aus kleinen mecklenburgischen Städten wie Tessin, Grabow, 1453 Hille, Heilquellen, S. 254. Hille hat bei den Bädern Travemünde und Apenrade aus der Anzahl der behandelten Bäder einen Querschnitt errechnet. Seine Daten beruhen offensichtlich zu einem großen Teil auf den von Badeärzten der Seebäder veröffentlichten Daten. 1454 Zu Misdroy vgl. Oswald, Misdroy, S. 27. Zu Dievenow vgl. Henckel, Dievenow, S. 17. Wie genau diese Zahlen sind oder in welchem Umfang hier von den Verfassern der Badeschriften aufgerundet wurde, muss dahingestellt bleiben. 1455 Zeitschrift des Vereins für Deutsche Statistik, hg. von Friedrich Wilhelm von Reden, Berlin 1847, S. 1095. 1456 Freiherr von Fircks geht in seiner Bäderstatistik für 1870 bei den preußischen Mineralbädern von einer Zahl von ca. 95.000 Kur- und Badegästen aus, für 1880 von ca. 195.000. Für 1880 gibt er für die Ostseebäder ca. 41.000 und für die Nordseebäder ca. 16.000 Besucher an. Vgl. Fircks, Bäder und Heilquellen, S. 248. 1457 O.V., Travemünde, S. 17. 1458 Stierling, Travemünde, S. 12. 1459 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben der Königsberger Regierung vom 23.9.1817. 1460 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2546, Schreiben der Königsberger Regierung vom 13.11.1818. <?page no="351"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 350 Ludwigslust, Schwaan, Dömitz oder Malchin, dazu wenige Gäste z.B. aus Magdeburg und Petersburg. 1461 Reden sprach von der „Rostocker Bürger-Aristokratie“, 1462 die sich im Sommer nach Warnemünde flüchtete und Mitte der 1840er Jahre ca. 1.400 Badegäste zählte. Später, vor allem seit dem Ausbau der Eisenbahn, reisten auch immer mehr Berliner nach Warnemünde, die im 20. Jahrhundert schließlich die größte Besuchergruppe stellten. 1463 Für das in Nordschleswig gelegene Apenrade berichtet Hille, das dortige Seebad werde „nur vorzüglich von den Einwohnern und Nachbarn Apenrades benutzt“. 1464 In dem kleinen mecklenburgischen Bad Boltenhagen, in das bereits Anfang des 19. Jahrhunderts die ersten Gäste aus dem nahen Städtchen Klütz reisten, kamen Mitte des Jahrhunderts die Badegäste vor allem aus Schwerin, Wismar, Ludwigslust, Gadebusch, Grevesmühlen, Lübeck und Hamburg. 1465 Reden gibt für die Mitte der 1840er Jahre den dortigen Besuch mit „jährlich mehreren hundert Badegästen“ an. 1466 Wenn Samuel Gottlieb Vogel in seiner Badeschrift von 1804 bemerkte, es seien Gäste „von allen Gegenden Deutschlands [...] auch Engländer, Russen, Lief- und Curländer, Polen, Franzosen, Schweden, Dänen, und ein Spanier“ 1467 in Doberan, dann darf man den zwar sicher vorhandenen, in dieser Aufzählung aber übertriebenen Eindruck internationalen Flairs getrost als Versuch verstehen, Doberan- Heiligendamm entgegen seiner vorwiegend regionalen Besucherschar als ein Bad internationalen Zuschnitts zu präsentieren. Karl Julius Weber fasste seine Beobachtungen in Doberan 1828 denn auch etwas präziser zusammen: „Die Gäste sind meist Mecklenburger.“ 1468 Für die Rügenschen Bäder, die selbst über ein nur gering besiedeltes Hinterland verfügten, wurden vor allem die Gäste aus Preußen wichtig. Boll berichtete für das Jahr 1857, dass die meisten „Elemente der Badegesellschaft“ 1469 aus Preußen und hier aus Berlin stammten, aber auch Gäste aus „Sachsen, Meklenburg, selbst Rußland waren vertreten“. 1461 Vgl. Prignitz, Badekarren, S. 106. 1462 Zeitschrift des Vereins für Deutsche Statistik, hg. von Friedrich Wilhelm von Reden, Berlin 1847, S. 1095. 1463 Vgl. Daebeler, Fremdenverkehr, S. 84. 1464 Hille, Heilquellen, S. 156. 1465 Vgl. Prignitz, Badekarren, S. 76f., S. 106. 1466 Zeitschrift des Vereins für Deutsche Statistik, hg. von Friedrich Wilhelm von Reden, Berlin 1847, S. 1095. 1467 Vogel, Neue Annalen, 1804, S. 11. 1468 Karl Julius Weber: Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen, Stuttgart 1828, hier aus: Karge, Heiligendamm, S. 22. 1469 Boll, Rügen, S. 65. <?page no="352"?> 4.4 Herkunft und sozialen Stellung der Bäderbesucher 351 Mit der steigenden Nachfrage und durch die verbesserten Verkehrsverhältnisse weitete sich der zunächst stark regional geprägte Einzugsbereich immer weiter a us. 1470 Die gute Erreichbarkeit eines Seebades wurde entscheidend für dessen Anziehungskraft. Daher kam dem Ausbau des Chausseenetzes und vor allem der Einführung der Eisenbahn eine ausschlaggebende Rolle zu. Erst damit konnte ein überregionales Interesse am Seebad geweckt werden. Dies gelang vor allem den Bädern, die eine günstige Verkehrsverbindung zu den wichtigsten, nämlich bevölkerungsreichen Einzugsgebieten besaßen. Der gesamte norddeutsche Ostseeraum, bis Schlesien, Sachsen, Thüringen, Hannover, Hamburg, und im 20. Jahrhundert auch westliche Gebiete, bis ins Rheinland, Westfalen und Saarland, wurden so zum Einzugsgebiet der Ostseebäder. 1471 Die süddeutschen Gebiete fielen dagegen kaum ins Gewicht. Eine herausragende Stellung nahm schon früh Berlin ein. Vor allem für die vorpommerschen Bäder auf Usedom, Wollin und Rügen stellten Berliner Gäste schnell die Mehrzahl der Besucher. Aber auch weiter westlich, ungefähr bis Warnemünde und weiter östlich bis nach Stolpmünde, stieg ihr Anteil bis zum Ende des Jahrhunderts so stark an, dass auch hier die Berliner häufig das Badepublikum dominierten. Für die mecklenburgischen Seebäder gibt der Verband Deutscher Ostseebäder 1910 den Anteil von Berliner Gästen mit gut 30 Prozent an, in Rügen lag er bei gut 37 Prozent, im restlichen Vorpommern bei 45 Prozent, in Hinterpommern bei immer noch knapp 30 Prozent. Nur in den weit entfernten schleswig-holsteinischen Bädern (5 Prozent) und den Bädern von Ost- und West-Preußen (ca. 7 Prozent) waren die Berliner Gäste eine weniger wichtige Besuchergruppe. 1472 Daebeler konstatierte auch noch für die 1930er Jahre einen Anteil der Berliner Gäste für die mecklenburgischen Ostseebäder von 28 Prozent, für Rügen 29 Prozent und für Usedom und Wollin knapp 50 Prozent. 1473 Der Gesamtanteil der Berliner Badegäste in allen deutschen Ostseebädern lag zu diesem Zeitpunkt bei 33 Prozent. Für den hier untersuchten Zeitraum blieb für viele Ostseebäder aber die regionale Herkunft der Gäste vorherrschend. Lediglich die vorpommerschen Bäder wiesen, 1470 Vgl. dazu auch Kap. 4.1. 1471 Nur eine Minderheit unter den Besuchern stammte, trotz der verkehrstechnischen Möglichkeiten der Eisenbahn, aus den westdeutschen Gebieten. Sie stellten aber, laut Daebeler, in einzelnen Bädern, so in Heiligendamm und auf der Insel Poel, immerhin ca. 10 Prozent der Badegäste. Daebeler, Fremdenverkehr, S. 83f. 1472 Die Deutschen Ostseebäder, S. X. Bei den Angaben über die Berliner Gäste ist zu berücksichtigen, dass hier die Einwohner, die ab 1920 durch den Zusammenschluss Berlins mit sieben großen Städten wie Charlottenburg, Spandau, Lichtenberg oder Köpenick, zudem 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken zu Einwohnern von Groß-Berlin wurden, als Brandenburger Gäste aufgeführt sind. 1473 Vgl. dazu Daebeler, Fremdenverkehr, S. 79ff. <?page no="353"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 352 soweit es sich nachvollziehen lässt, einen bedeutenderen Anteil nicht regionaler, das heißt hier wieder vor allem Berliner Besucher auf. Neben diesen rein quantitativen Betrachtungen für das frühe 20. Jahrhundert ermöglichen einige überlieferte Badelisten der 1820er Jahre einen exemplarischen Blick auf die Badegäste in Swinemünde. So lassen sich Besucherzahlen, die geografische und soziale Herkunft und der Anteil von Frauen und Männern während der ersten Phase der Seebadgründungen nachvollziehen. Noch weit entfernt von den massentouristischen Urlaubsreisen des 20. Jahrhunderts zeigen sich hier die Spuren der Reisepioniere. Dabei nimmt Swinemünde für diese Zeit durchaus eine besondere Stellung ein, da es bereits in dieser frühen Phase sehr viele Besucher anzog, die nicht aus der Region stammten. Swinemünde, am mittleren Ausfluss der Oder in die Ostsee, der Swine, gelegen, wurde aufgrund politischer Konstellationen von den Preußen erst in den 1760er Jahren als Hafenstadt ausgebaut. 1474 Die Lebensader der Stadt war die Oder, über die eine enge wirtschaftliche Verbindung zur flussabwärts gelegenen Hauptstadt der preußischen Provinz Pommern, Stettin, bestand. Eine politische Abhängigkeit, wie etwa bei Travemünde von Lübeck oder Warnemünde von Rostock, existierte aber nicht. Auch lag Stettin von Swinemünde deutlich weiter entfernt als die meisten der frühen Seebäder zu „ihren“ Seestädten. Swinemünde profitierte bei seiner Entwicklung zum Seebad aber vor allem von zwei Dingen. Zum einen gab es sowohl für die Stettiner als auch für die Berliner kein geografisch näher gelegenes Seebad. Zum anderen ermöglichte die Schiffsreise von Stettin über die Oder und das Haff eine verkürzte und bequemere Reise der Fahrt. Dies führte dazu, dass Swinemünde schnell und in einem außergewöhnlichen Umfang bereits ab den 1820er Jahren überproportional viele Besucher aus diesen beiden Städten anzog. 1475 Vier Jahrgänge der Swinemünder Badelisten, die die Jahre 1821 bis 1823 und 1829 umfassen, sind erhalten. Das ist besonders deshalb interessant, weil in Swinemünde erst 1822 ein Verein zur Gründung einer Badeanstalt entstand und 1824, mit der offiziellen Ernennung einer Badedirektion, das öffentliche Seebad gegründet wurde. 1476 Damit lässt sich in gewissem Maße die früheste Besucherentwicklung eines Seebades mit überregionaler Bedeutung analysieren, zumal Swinemünde, wie die meisten Ostseebäder außer Heiligendamm und Putbus, von einem vornehmlich bürgerlichen Publikum besucht wurde. 1474 Vgl. dazu Schleinert, Usedom, S. 127ff. 1475 Erste Badegäste in Swinemünde gab es jedoch bereits seit Beginn des Jahrhunderts; vgl. Burkhardt, Geschichte Swinemünde, S. 130. 1476 Vgl. dazu Kind, Swinemünde, S. 105f. <?page no="354"?> 4.4 Herkunft und sozialen Stellung der Bäderbesucher 353 In Heiligendamm waren es noch vor allem Badegäste aus dem deutschen und internationalen Hochadel, die das Bild des Bades prägten und die eingerahmt wurden vo n Ver tr ete rn d es „ ni ede ren A del , de m bes se ren H an dw er k un d der v or ne hm en B ürgerschaft der Städte des Landes wie auch der angrenzenden Gebiete bis Hamburg, Hannover und Berlin“. 1477 Das von der Aristokratie bestimmte Badeleben in Heiligendamm fand in dem vom Handel geprägten Swinemünde, wo sich städtische Honoratioren und der pommersche Oberpräsident Johann August Sack (1764- 1831) um die Entstehung und Finanzierung des Seebades kümmerten, keine Entsprechung. Die Stadt hatte zu diesem Zeitpunkt ca. 3.500 Einwohner. 1478 Was lässt sich aber nun aus den erhaltenen Badelisten ablesen? In den ersten drei Jahrgängen 1821-1823 sind folgende Kriterien aufgeführt: 1. „Namen und Stand der Badegäste“, 2. „Deren Wohnort“ und 3. „Zahl der einzelnen Personen“. 1479 Es wurden, was später üblich werden sollte, zunächst also weder das mitgereiste Dienstpersonal, noch die Ankunftszeit der Badegäste oder deren Unterkunft in Swinemünde vermerkt. Für das Jahr 1821 existiert für Swinemünde die erste Liste der „anwesenden fremden Badegäste“. 1480 In ihr sind insgesamt 29 Personen aufgelistet, das heißt die nicht aus Swinemünde stammenden Badegäste. Untersucht man die Herkunft dieser Fremden, ergibt sich ein relativ eindeutiges Bild: Der mit Abstand größte Teil der Gäste, nämlich elf (38 Prozent), kamen aus Stettin, vier aus Berlin (14 Prozent). 1481 Die pommersche Provinzhauptstadt und die preußische Metropole stellten damit von Beginn an und bereits vor der Gründung der öffentlichen Swinemünder Seebadeanstalt mehr als die Hälfte aller Besucher. Die übrigen Gäste stammten aus kleinen pommerschen und mecklenburgischen Städten. Für das Jahr 1822, in welchem sich der Badeverein gründete, der, wie Kind schreibt, „auf die Errichtung einer ordentlichen Badeanstalt hinarbeitete“, 1482 verzeichnet die Badeliste bereits 127 Personen. 1483 Von diesen kamen 66 (52 Prozent) aus Stettin und 16 (13 Prozent) aus Berlin. Damit verstärkte sich die Dominanz der Gäste aus den beiden großen Städten. Daneben kamen die Gäste aus Städten wie Stargard/ Pommern, Anklam, Potsdam, Krakow/ Mecklenburg oder Pasewalk. Die beachtliche Steigerung der Gästezahlen um mehr als das Vierfache setzte sich für das 1477 Karge, Heiligendamm, S. 26. 1478 Kind, Swinemünde, S. 104. Die Einwohnerzahl belief sich 1816 auf 2.798, 1857 auf 4.035 und 1900 auf 10.352. Vgl. Staatsarchiv Stettin-Wegweiser durch die Bestände bis zum Jahr 1945, bearbeitet von Radoslaw Gazinski, Pawel Gut und Maciej Szukula, Oldenburg 2004, S. 350. 1479 GStA, HA I, Rep. 93 B, Nr. 2039, S. 42. 1480 GStA, HA I, Rep. 93 B, Nr. 2039, S. 41f. 1481 Die Angaben sind auf ganze Zahlen aufbzw. abgerundet. 1482 Kind, Swinemünde, S. 105. 1483 GStA, HA I, Rep. 93 B, Nr. 2039, S. 48ff. <?page no="355"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 354 Folgejahr 1823 fort, 1484 in dem mit 258 Fremden die Besucheranzahl sich noch einmal mehr als verdoppelte. Stettin mit 118 (46 Prozent) und Berlin mit 38 (15 Prozent) Gästen stellten weiterhin die wichtigste Badeklientel für das Swinemünder Seebad. Gäste von außerhalb des nahen pommerschen, brandenburgischen und, schon in geringerem Umfang, mecklenburgischen Raumes waren die Ausnahme. Unter diesen fanden sich einzelne Besucher aus Leipzig, Merseburg, Halle und, als einziger Ausländer, ein Kaufmann aus Bordeaux. Sieht man einmal von den Berliner Besuchern ab, blieb die Besucherklientel in Swinemünde also, ganz typisch, ein regionales Phänomen. Für die folgenden Jahre, bis 1829, sind keine Badelisten überliefert. Einige Zahlenangaben aus anderen Quellen verdeutlichen aber wenigstens die weitere quantitative Entwicklung der Besucherzahlen. In einem Schreiben der Kultusbehörde hieß es in Bezug auf das Jahr 1824, „beinahe 400 Gäste“ 1485 hätten das Seebad besucht. Stein gab in seinem Reisebericht für das Jahr 1826 an, dass „nach den Bade- und Fremdenlisten 614 Badegäste, mit Ausschluß der Dienstboten, und während der Badezeit 686 Fremde, die sich des Seebades bedienten, 8 und mehrere Tage im Orte anwesend waren“. 1486 Allerdings nannte der Badearzt Dr. Kind in seiner Badeschrift für das Jahr 1827 schon erstaunliche 1.200 Fremde. 1487 1828 waren es 610 Badegäste (ohne Dienstpersonal), hinzu kamen während der Badezeit 503 Fremde in die Stadt. 1488 Der Vergleich dieser Angabe mit derjenigen für 1827 legt nahe, dass Kind sämtliche Besucher Swinemündes, also die Badegäste, die Fremden und andere Tagesgäste, mitgezählt hat. 1489 Trotzdem zeigt die Zahl von 1.200 Besuchern die rasch erfolgte Positionierung Swinemündes als anerkannter Badeort, der zusammen mit Heiligendamm und Travemünde das „Dreigestirn der deutschen Seebäder an den lächelnden Gestaden der Ostsee“ 1490 bildete, wie es 1838 das „Damen-Conversations- Lexikon“ formulierte. 1484 GStA, HA I, Rep. 93 B, Nr. 2039, S. 43ff. 1485 GStA, HA I, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 25.11.1825. 1486 Stein, Reise, S. 68. 1487 Kind, Swinemünde, S. 108. 1488 Vgl. Badeliste in GStA, HA I, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557, Schreiben vom 2.10.1829. 1489 Die Zahlen zu einzelnen Badeorten schwanken zum Teil erheblich. Das mag mehrere Gründe haben. Zum einen wird darauf hingewiesen, dass nicht alle Fremden sich in die Kurlisten eintrugen, zudem zählten manche die einheimischen Badegäste mit, andere nicht. Auch Tagesgäste, wie etwa aus Rostock für Warnemünde oder aus Lübeck für Travemünde, unterlagen in der Zählung keiner festen und einheitlichen Regelung. 1490 Damen Conversations-Lexikon, o.O., 1838, S. 188. <?page no="356"?> 4.4 Herkunft und sozialen Stellung der Bäderbesucher 355 Für das Jahr 1829 liegt erstmals eine gedruckte Badeliste vor. Die Gesamtzahl von 645 aufgeführten Besuchern der Badeanstalt im Jahr 1829 unterteilt sich nach de r Li ste n oc h einm al i n 515 B ad egä ste und die se n zuge hör ige 130 „Do mes tiken“. 1491 Nach diesem „Verzeichniß von den fremden Badegästen zu Swinemünde“ hatte sich, fünf Jahre nach der Gründung des Seebades, die Herkunft der Besucher zum Teil deutlich verschoben. Zwar machten Stettiner und Berliner noch immer mehr als die Hälfte aller Besucher aus, doch hatte sich das Verhältnis zwischen diesen beiden Hauptbesuchergruppen nahezu umgedreht. Reisten 1823 noch 46 Prozent Gäste aus Stettin und 15 Prozent aus Berlin an, so kamen jetzt aus Stettin noch 13 Prozent, aus Berlin dagegen 40 Prozent aller Gäste. Während die Besucherzahlen aus Stettin im Vergleich mit 1823 sogar leicht rückläufig waren, ging die Steigerung der Gästezahlen auf das Berliner Badepublikum zurück, das 1829 bereits so viele Badegäste stellte, wie 1823 noch insgesamt das Seebad besuchten. Die übrigen Badegäste stammten vor allem aus Pommern, Schlesien und Brandenburg, vereinzelt auch aus Mecklenburg, Sachsen, Franken, Schleswig und Hessen. Die Badelisten geben aber auch Aufschluss über das Verhältnis der Geschlechter und, in gewissem Umfang, die Zugehörigkeit zur sozialen Schicht. Für die Jahre 1821 bis 1823 liegt der Anteil von weiblichen Badegästen bei ca. 45 Prozent. 1492 Der Anteil des adeligen Publikums lag 1822 und 1823 ebenso relativ konstant bei ca. 20 Prozent. Während dieser Wert sich auch in der Badeliste des Jahres 1829 wiederfindet (22 Prozent), geht der Anteil der weiblichen Badegäste auf 34 Prozent zurück. Von den insgesamt knapp 180 weiblichen Badegästen nun stammten fast die Hälfte aus Berlin, und unter allen Berliner Badegästen stellen die Frauen wieder ca. die Hälfte. Und auch unter den Stettiner Badegästen bewegte sich der Anteil der Frauen mit 38 Prozent noch 4 Prozent über dem Gesamtdurchschnitt. Dagegen blieb bei den übrigen, meistens aus kleineren Städten und Gemeinden stammenden Besuchern aus Pommern und Brandenburg der Frauenanteil unter dem Durch- 1491 GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557. In einem beigefügten Schreiben an das preußische Innenministerium vom 2.10.1829 macht der pommersche Oberpräsident von Sack für die leicht rückläufigen Besucherzahlen im Vergleich zu 1828 das ungünstige Wetter und die „überall grassierten Fieberkrankheit“ verantwortlich. 1492 Vgl. Folgendes für die Jahre 1821-1823 in GStA, Rep. 93 B, Nr. 2039, für das Jahr 1829 in GStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557. Dabei lässt sich die exakte Anzahl wegen der unklaren Formulierungen für Familien und Kinder nicht ermitteln. Die hier angegebenen Zahlen, die nur die eindeutigen Fälle aufnehmen, könnten also durchaus noch etwas größer gewesen sein. Ähnlich verhält es sich mit den Angaben zu adeligen Personen, die hier nur durch den Adelstitel einwandfrei identifiziert werden können. Eine weitere Differenzierung z. B. zwischen dem adeligen „Fräulein“ und dem gutbürgerlichen „Demoiselle“ erscheint ohne ein klärendes Adelsprädikat als zu undeutlich für eine Zuschreibung. <?page no="357"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 356 schnitt. Mithin darf man annehmen, dass das Bedürfnis nach den Seebädern und die Möglichkeit, diese zu besuchen, bei Frauen in den urbanen Zentren, die von der Vorstellungswelt des liberalen und aufgeklärten Bürgertums beeinflusst waren, besonders ausgeprägt waren. Betrachtet man nun auch die in der Badeliste angeführten Berufe, 1493 so fallen zwei Dinge auf. Erstens ist dies der hohe Prozentsatz der beim Militär tätigen adeligen Besucher. 1494 Zweitens waren die meisten der bürgerlichen Gäste, die mit ca. 80 Prozent aller Badegäste das Seebad prägten, entweder Beamte im Staatsdienst oder in einem kaufmännischen Beruf tätig. Hinzu kamen außerdem u.a. Gutsbesitzer, Pastoren und Partikuliers 1495 . Dabei waren es gut doppelt so viele Beamte wie Kaufleute, welche wiederum, ähnlich dem Offiziersstand, gut 20 Prozent aller Gäste stellten. 1496 Dominiert wurde das Seebad in Swinemünde also von Gästen mit bildungs- oder wirtschaftsbürgerlichem Hintergrund. 1497 Woher rührt nun aber die enorme Steigerung der Besucherzahlen innerhalb weniger Jahre? Die positive Entwicklung der Berliner Gästezahlen kann zum einen auf die durch Kinds Veröffentlichung (und deren Besprechung in vielen Magazinen) und die infolge der Arbeit der Badedirektion zunehmende Bekanntheit des Swinemünder Seebades in Berlin zurückgeführt werden. Wichtig war aber auch die Verbesserung der Verkehrsanbindung, also der Ausbau der Chaussee Berlin-Stettin und die Einführung der Dampfschifffahrt von Stettin nach Swinemünde, die die Reisezeit deutlich verkürzte und den Komfort erhöhte. Dagegen waren andere zu diesem Zeitpunkt bereits existierende preußische Seebäder, wie Rügenwalde oder Cranz, für die Berliner nur schwer zu erreichen. Swinemünde profitierte hier von Beginn an von seinem Standortvorteil, Berlin nahe, sogar am nächsten zu liegen. Am südlichsten Zipfel der Ostsee gelegen bot 1493 Auch diese Angaben sind nicht vollständig, aber doch für den überwiegenden Anteil der Badegäste gemacht worden. 1494 In welchem Umfang die vielen Militärangehörigen nur einfache Badegäste waren, oder, wie in Swinemünde bereits ab 1813 geschehen, hier ihren offiziellen Genesungsurlaub verbrachten, lässt sich anhand der Quellen nicht sagen. Vgl. dazu Friedrich, Volkswirtschaft, S. 96. 1495 Nach Meyers Großem Lexikon (1905) war dies ein Mann, der ohne Anstellung und Gewerbe von seinem Vermögen lebt. 1496 Damit liegt der Durchschnitt der in den Listen für die Badegäste angegebenen Tätigkeiten in Swinemünde in einer ähnlichen Proportion wie 1817 in Bad Ems. Dort fand bis 1830 eine deutliche Verschiebung zugunsten der Kaufleute statt, die man für Swinemünde ebenfalls annehmen kann, was sich ohne Quellen aber nicht belegen lässt. Vgl. dazu Sommer, Stationen eines Kurbads, S. 106f. 1497 Die Besucher des bürgerlichen Seebades sind damit ziemlich deckungsgleich mit jener frühtouristischen Klientel, für die die „Teilhabe am Tourismus [...] Statussymbol“ war und die „durch Geld und/ oder Bildung Teil der bunt gemischten Schicht waren, die man ,Bürgertum’ nannte“. Spode, Reiseweltmeister, S. 68. <?page no="358"?> 4.4 Herkunft und sozialen Stellung der Bäderbesucher 357 kein anderer Ort an der Küste eine derart günstige Verbindung zur preußischen Residenz. Mit der Entdeckung der Ostseeküste durch das Berliner Bürgertum entwi ck el te s ich Swi nemü nde s chl ieß lic h bi s zum En de des J ahr hun dert s zum m eis tb esuchten deutschen Ostseebad. Der Zuwachs erfolgte kontinuierlich. Nach Kinds eigenen Angaben in der „Wochenschrift für die gesammte Heilkunde“ von 1833 waren im Sommer dieses Jahres 1.536 Fremde zum Baden in Swinemünde, „von denen 716 eigentliche Kurgäste waren, die Übrigen sich daselbst nur kürzere Zeit zu ihrem Vergnüngen aufhielten“. 1498 Am Ende des Jahrhunderts, im Jahr 1900, zählte man hier 15.316 Badegäste und lag damit weit vor den anderen alten Seebädern wie Doberan-Heiligendamm (1.740) oder Travemünde (4.902), aber auch vor der nahen Konkurrenz wie Ahlbeck (13.806) und Heringsdorf (13.006) oder dem Danziger Seebad Zoppot (11.500). 1499 Betrachtet man den erreichten Stand ein gutes Jahrhundert nach der Gründung des ersten Ostseebades, scheint der neue Typ des Kurortes an der Ostsee erstaunlich erfolgreich gewesen zu sein. Diese furios erscheinende Fortschrittsgeschichte blieb freilich nicht folgenlos. Der Ausbau der Infrastruktur und das Anschnellen der Besucherzahlen führten zu einer veränderten Wahrnehmung und einem Wandel der physischen und gesellschaftlichen Struktur des Küstenraumes. 1498 Kind, Mittheilungen, S. 1185. 1499 Zahlen aus den amtlichen Badelisten, veröffentlicht in: Die Deutschen Ostseebäder am Anfange des zwanzigsten Jahrhunderts, Mitteilungen der Badedirektionen, uusammengestellt vom Organisations- Ausschuss des V. Internationalen Kongresses für Thalassotherapie, Kolberg 1911, S. VIIff. <?page no="359"?> 4 Formen der Verfügbarkeit 358 Zwischenresümee III Fortschrittsgeschichte bleibt nicht folgenlos. Der Ausbau der Infrastruktur und das Anschnellen der Besucherzahlen zeitigten enorme Veränderungen für die Küstenlandschaft. Die im ersten Kapitel geschilderte Entwicklung der Küstenschutzmaßnahmen fand ihre volle Ausprägung mit der Etablierung des Küstenraumes als Heilraum. Konkret forderte die küstennahe Kuranwendung einen abgesicherten Raum, der dem unkultivierten Spiel der Wellen Schranken setzte. Erst mit dieser sich verfestigenden Sicherheit gelang es auf verschiedenen Wegen, die permanent im Raum stehende Frage nach der dauerhaften Finanzierung der Ostseebäder einigermaßen befriedigend zu lösen. Mit dem zunehmenden Erfolg der Bäder schien die Etablierung einer geeigneten Badeanstalt und der zugehörigen Kur- und Vergnügungseinrichtungen in jedem noch so kleinen Flecken an der Ostsee eine schiere Notwendigkeit. Angesichts der gerade in der Küstenregion mehr schlecht als recht lebenden Bevölkerung diente das Seebad damit auch als ökonomischer Reiz und Investition in eine bessere Zukunft. So gestalteten sich die Bäder wie schon die binnenländischen Kurbäder - es gab die von Herrscherhäusern und Aktiengesellschaften finanzierten mondänen Bäder, die von den Honorationen der Seestädte unterstützen Badeanstalten und die von Dorfgemeinschaften notdürftig zusammengesammelten Finanzmittel, die bescheidendste Unterkünfte und Kurmittel ermöglichten. Das alles, das zeigen wenige Beispiele, konnte, solange sich andere gute Geldquellen wie der Schiffsbau z.B. in Zingst hielt, aber auch aus Abneigung gegen das laute Touristische, eine Zeitlang abgelehnt werden. Mit dem etablierten Kurbetrieb ging, in dienstbarer Erfüllung der Kundenwünsche, schnell eine veränderte Wirtschaftsverfassung einher. Neben den häufig vorherrschenden Gelderwerb der unteren Schichten aus bäuerlicher Quelle wuchsen an Kundenleistungen orientierte Dienstleistungsgewerbe heran, die von der Vermietung über Handwerkerarbeiten, Fahrdiensten bis zu Schwimmunterricht reichten. Dabei beschränkten sich die für den Kurresp. Tourismusbetrieb nötigen neuen oder umfangreicheren Dienstleistungen nicht auf den Kurort, sondern strahlten weit ins Hinterland hinaus. Damit wurde das Seebad zwar nicht zum Paradies, konnte aber einige Hoffnungen für eine bessere wirtschaftliche Entwicklung erfüllen. Bereits in der Frühphase der neuen Seebäder gehörte die Abgrenzung zu anderen Bädern als realen und gefühlten Konkurrenten zur Identitätsfrage. Auch hier war die ökonomische Frage der zentrale Punkt, an dem sich die Existenz des Bades festmachte; war man in der Lage genügend zahlende Kurgäste zu sich zu ziehen? Der <?page no="360"?> Zwischenresümee III 359 Differenzierungsprozess wurde auf mehreren Ebenen geführt, letztlich aber liefen die Gefechte über jeweils herrschende Diskurse; in der Frühzeit vor allem medizini sch k on no nt ie rt üb er d ie W ir ksa mke it vo n Sal zw as se r, We ll ens chl ag e tc . Sp ät er dominierten die Angebote für eine mittlerweile nach sozialen Schichten ausdifferenzierte Badeklientel. Das spiegelt sich bereits in einer abschließenden Analyse der ersten Besuchergruppen aus den 1830er Jahren. Aus dieser lässt sich z.B. ein hoher Anteil an weiblichen Besuchern ablesen, genauso wie ein zunächst vornehmlich großstädtisches Publikum, das zumeist bürgerlichen oder, vielleicht besser formuliert, modernen Berufen nachging. Das Seebad als bürgerliches Phänomen zu verstehen ist sicherlich nicht falsch; doch impliziert diese klassenspezifische Definition eine Fortschrittsgeschichte, die nicht allein mit Klasse oder Geschlecht zu fassen ist. <?page no="362"?> 361 5 Schluss - Ausblick „Ja, das möchste: Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße“. 1500 Treffender als hier Kurt Tucholsky sein 1927 in der Berliner Illustrierten Zeitung erschienenes Gedicht „Das Ideal“ einleitet, lässt sich der Wunsch nach dem glücklichen Zusammenfall von zivilisierter Urbanität und romantischer Natursehnsucht nicht zusammenfassen. Bis heute ist es das große Wunschszenario, dessen sich die Werbung der einschlägigen Touristikanbieter erfolgreich bedient. Alles in allem also: das (Ostsee)Bad eine große Erfolgsgeschichte? Der Frage nachzugehen, welche mentalen Dispositionen nötig waren und in welchem gesellschaftlichen Kontext sich das Seebadewesen in Deutschland entwickeln konnte, war Ziel dieser Arbeit. Was sich dabei zeigte war grundlegend eine enge Einbindung der frühen Protagonisten in die Welt der Aufklärung, die wiederum besonders eng in einer Rückbeziehung zur theologischen Naturdeutung stand. Mit der sakralen Ummantelung einer Natur, die mit immer neuen technischen Geräten in ihre einzelnen Teile zerlegt wurde, schuf die Physikotheologie eine breite Anerkennung von Landschaftstypen, auch wenn diese vordergründig dem Menschen schaden konnten. Dieser Paradigmenwechsel, hier veranschaulicht vor allem an der Entdeckung des Wasserkreislaufs und seiner sinnhaften Ordnung, erhob auch das Meer in einen neuen Kontext. In der Widerspiegelung göttlicher Schöpfungsmacht und der menschlichen Fähigkeit, diese Ordnung zu begreifen, verlor das Meer seine gefährdende Zuschreibung. Von hier aus war es nur noch ein kurzer Weg, das lebendige Meer als heilendes Element für den Menschen nutzbar zu machen. Damit einher ging eine zunehmende Beherrschung des von natürlichen Prozessen bestimmten instabilen Küstenraumes. Mit technischen Hilfsmitteln, der Anlage von Uferwäldern und Strandpflanzen, ließen sich die Folgen von permanentem Wind, Wassereinwirkungen und Sandflug so meistern, dass in direkter Strandnähe Badeanlagen errichtet werden konnten. Erst von hier aus konnte die Entdämonisierung der wilden, nördlichen Natur erfolgen. Begleitet vom Flankenschutz technischer Neuerungen wurde so aus vereinzelten Bädern praktisch die gesamte deutsche Ostseeküste im 19. Jahrhundert zu einem großen Seebad umgestaltet. Übungsfeld für die neue Art, Landschaft zu sehen und zu deuten, war die größte deutsche Insel, Rügen, auf der sich, noch unter der Herrschaft der schwedischen Krone, nördliche Landschaftskonstruktion und nationale Identifikation vollzogen. Schon hier waren es bürgerliche Exegeten, die mit 1500 Kurt Tucholsky: Das Ideal. In: Kurt Tucholsky. Gesammelte Werke, Bd. 5, Hamburg 1993, S. 269. <?page no="363"?> 5 Schluss - Ausblick 362 dem Marschgepäck philosophischer und literarischer Großerzählungen erhabene Landschaftskonstrukte auf die Insel übertrugen. Mit dieser literarischen Ausflucht, die den städtischen Raum verlassen hatte, verband sich die räumliche Erkundung des Küstenraumes mit bildungsbürgerlichem Engagement. Literatur, Wissenschaft und bildende Kunst nutzten den physischen Raum zur Bildung eines neuen Landschaftsideals in seiner nationalen Spielart. Etwas Neues schuf sich schließlich mit der Etablierung der Seebäder Platz. Mit der eingangs geäußerten These von der Medikalisierung des Raumes etablierte sich eine neue Raumdeutung. Die im ärztlichen Diskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts wirksamen Vorstellungen vom menschlichen Körper sowohl in biologischer als auch in sozialer Sicht prägten durch die Badeärzte, durch staatlich sanktionierte Baderegeln als auch durch das internalisierte Verhalten der Badegäste die Konstruktion des Seebades sowohl im Charakter des geregelten Kuralltags als auch in seiner infrastrukturellen Form. Damit war die Deutung für den Küstenraum definiert und für lange Zeit festgeschrieben. Fungierten die Wildnis und das Wasser zunächst noch theologisch aufgeladen als Heilsraum, wurde der Strand jetzt zum Heilraum für das Bürgertum. Gegen die neuen Krankheiten von Frauen und Männern wurde die neue harte Waffe des Kaltwasserbades in Stellung gebracht. Abgeschirmte Territorien, Badeanlagen für beide Geschlechter, sicherten die exklusiven Plätze. Unbestritten, das soll diese Studie gezeigt haben, waren die Ärzte der Seebäder herausragende Akteure einer neuen Raumbeschreibung. Unter ihrer Deutungshoheit etablierte sich das Seebad als wissenschaftlich legitimierter Heilraum. Damit verbunden wurde das Seebad als bürgerlicher Ausgleichsraum errichtet, in dem alternative Verhaltensmuster ausgehandelt und zeitgenössische Diskurse um Körperlichkeit und Geschlecht auf neue Weise umgesetzt wurden. Als Rahmen dafür diente eine Mischung aus funktionalen Bäderbauten, aus „grünen“ Räumen mit Parkanlagen und Wegenetzen ins Hinterland. Den damit verbundenen Charakter eines abgeschirmten Raumes sollte auch künftig keine Bebauung mit überproportionierten Baukörpern oder Produktionsgebäuden stören. Auf dieser Ebene ähneln sich auffallend die Strukturen und Konzeptionen, wie sie mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in den Villenvororten und Gartenvorstädten der Metropolen anzutreffen sind. Einige Narrative aus der Frühzeit der Seebädergründung erweisen sich bis heute als äußerst stabil - zuvorderst sicherlich das Tucholskysche Ideal vom Kontrastraum: eine auf vorstädtisches Miniaturformat geschrumpfte urbane Welt, deren Blick auf den einsamen Meereshorizont gerichtet ist. Ein komplementärer Raum, dessen äußere Begrenzung im Meer lag, konzipiert zunächst über seine medizinische Beschreibung und, damit einhergehend, weniger stark reglementierte Verhaltens- <?page no="364"?> 5 Schluss - Ausblick 363 normen. Das waren und sind gute Gründe für das bürgerliche Projekt Seebad. Weitere Punkte ließen sich aufzählen, die sich seit der Gründungszeit nur wenig verändert haben. Da wären zum Beispiel, trotz moderner Verkehrsmittel, die im Wesentlichen unveränderten Herkunftsregionen des Badepublikums. Noch immer zieht es vor allem die Deutschen aus den nördlichen Bundesländern an die Küste, im Süden reist man dagegen häufiger in den alternativen Ausgleichsraum - die Berge. Eine Beobachtung, die die strukturelle Ähnlichkeit der Komplementärräume Meer und Berge für die Moderne nahelegt. Ein weiterer Punkt: bis heute, nach einigen mahnenden Ausnahmen in den 1970er und 1980er Jahren, legt man vor Ort Wert darauf, mit Bebauungsplänen eine übermäßige bauliche Verdichtung und Hochbauten, also typische Szenarien moderner urbaner Bauplanung, zu vermeiden. Der vom Badepublikum in seiner Mehrheit offensichtlich goutierte dörfliche bis kleinstädtische Charakter ist das Ziel auch der nach der deutschen Wiedervereinigung mit großem Investitionsaufwand sanierten ostdeutschen Seebäder mit ihrer alten, tendenziell idyllisch anmutenden Bausubstanz. Hier lässt sich studieren, wie unser heutiger Wunsch lautet - die Fassade wie bei den Alten, das Innenleben so modern, wie wir es wie selbstverständlich aus dem immer noch zumeist städtischem Herkunftsraum kennen. Dem entspricht auch das Verlangen nach tendenziell wild anmutenden, real aber planmäßig angelegten Grünanlagen in und bei den Bädern, eingehegt durch die Küstenschutzanlagen. Ferner auch weiterhin der Auf- und Untergang der Sonne, stetig beliebtes Postkarten- und Fotomotiv. Diese Reihe ließe sich fortsetzen. Demgegenüber hat die große Erzählung vom Seebad als Heilort, eine der Hauptkonstrukte der ärztlichen Bäderpioniere, zunehmend an Bedeutung verloren. Noch immer, in den letzten Jahren verstärkt, macht man sich die natürlichen Heilkräfte des Meeres zunutze, sowohl unter ärztlicher Aufsicht als auch im boomenden Wellnessbereich. Dessen ungeachtet ist das Seebad schon lange nicht mehr primär ein Kurort im strengen Sinne, wie Professor Vogel und seine Kollegen ihn konzipierten. Wer heute hierher kommt sucht Ruhe, gelegentlich Zerstreuung, aber keine diätetische Lebensführung unter ärztlicher Anleitung. Die Heilkräfte des Meeres werden eingebunden in eine entspannte Atmosphäre, in Strandspaziergänge, Cafébesuche und den Gang zur Wellnesstherme. Ärztliche Direktiven sind nicht mehr das Leitbild, aber freilich hat sich viel von den früheren Anweisungen eines Professor Vogel als gebräuchliche Verhaltensweise etabliert und bei den Badegästen internalisiert. Vor allem seine Konzeption des Seebades als psychischer Ausgleichsraum zur Arbeitswelt gehört bis heute dazu und darf als eine der Grundlagen der ungebrochenen Seebadebegeisterung angesehen werden. <?page no="365"?> 5 Schluss - Ausblick 364 Das Ostseebad des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts war und ist kein deutsches Phänomen. Die hier gemachten Beobachtungen lassen sich heute auf die südliche Ostseeküste mit ihrer ähnlichen geografischen Struktur - ungeachtet regionaler und historischer Differenzen - in allen beteiligten Ländern von Polen, Russland bis zu den baltischen Staaten beobachten. Letztlich erwuchs hier, von den ersten englischen Seebädern Mitte des 18. Jahrhunderts ausgehend und sich östlich fortsetzend, eine neue Form bürgerlicher Lebenswelt. Dabei war und ist das Ostseebad ein Phänomen, das nicht allen gleichberechtigt zur Verfügung stand. Mit Hasso Spode gesprochen sind „weiterhin […] Sozialgruppen mit der geringsten Arbeitsbelastung und - sieht man von der wachsenden Zahl der Alten ab - mit der besten Gesundheit überproportional am Tourismus beteiligt“. 1501 Auch auf einer anderen Ebene zeigt sich der Wandel von einzelnen, teilweise spontanen Seebadgründungen hin zu einer fortschreitenden Institutionalisierung. Höhepunkt dieser Entwicklung ist sicherlich der im Jahr 1900 gegründete Verband Deutscher Ostseebäder, der aus dem um 1890 gegründeten Verband der Pommerschen Ostseebäder hervorgegangen ist. 1502 Das ambitionierte Anliegen des nach kürzester Zeit die meisten Ostseebäder vertretenden Verbandes war es, „den Besuch seiner Bäder durch Vervollständigung ihrer Kuranlagen und Heilmittel sowohl, als auch durch ausgedehnte Propaganda in 20 Bureaus an den wichtigsten Plätzen Deutschlands in Prag, Wien und auch in Warschau zu fördern, das Ansehen der Ostseebäder bei der Ärztewelt zu heben und dem Publikum den Besuch der Bäder soviel als möglich zu erleichtern“ 1503 . Damit zeigt sich der zunehmende Massencharakter des Seebadebesuchs. Aus einem exklusiven Reiseziel wurde ein Phänomen des Massentourismus mit Hunderttausenden Besuchern. Auch das ist ein Grund, warum die romantische Konzeption eines einsamen Besuchs am Strand nur noch als Ideal funktioniert. Mit der Entstehung eines übergreifend organisierten Küstenschutzes durch nationale Institutionen wurde die bis dahin von Wind, Wetter und Meer bestimmte permanente Bewegung des Strandraumes eingedämmt. Deiche und die Strandbepflanzung hielten den wandernden Sand fest und ermöglichten so erst eine dauer- 1501 Spode, Tourismusgeschichte, S. 73. 1502 Vgl. dazu StA Rostock, Gewett Warnemünde, Sign.: 1.1.12.2.-378 und die ab 1896 vom Verband der Pommerschen Ostseebäder herausgegebenen „Bericht des Verbandes der Pommerschen Ostseebäder“. Dazu auch das Schreiben des Vorsitzenden des Verbandes an den zuständigen Staatsminister Schleswig-Holstein mit der Bitte, bei den dort gelegenen Ostseebädern für eine stärkere Beteiligung am jungen Verband zu werben, da von den 21 vorhandenen Schleswig-Holsteinischen Ostseebädern nur 2, Heiligenhafen und Glücksburg, dem Verband beigetreten seien. Vgl. LA S-H, Abt. 301, No. 1555, Schreiben vom 26.01.1900. 1503 Vgl. LA S-H, Abt. 301, No. 1555, Schreiben vom 26.01.1900. <?page no="366"?> 5 Schluss - Ausblick 365 hafte Bebauung in Meeresnähe, eine entscheidende Grundlage der Seebädergründungen. Ebenso boten erst die technischen Innovationen des 19. Jahrhunderts bei den Verkehrsmitteln die Möglichkeit, mit Dampfschiff und Eisenbahn eine immer größere Anzahl von Menschen aus immer weiter entfernten Regionen schnell und sicher an die Ostseeküste zu befördern. Das uns heute so geläufige Bild der wie eine Perlenkette aufgereihten Ostseebäder wäre ohne die Reduktion des Raumes zwischen Quell- und Zielgebiet der Besucher nicht möglich gewesen. Auch hier bleibt das Ostseebad in seiner Entwicklung ein Kind von Aufklärung und Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Diese Verbindungen untersucht und im besten Falle gezeigt zu haben, war Ziel dieser Arbeit. Freilich bleiben im Prozess der Bädergründung und -entwicklung noch Fragen offen. Wie lief zum Beispiel die Entwicklung der Fischerdörfer zu Touristenorten ab, welche Formen der Verwaltung etablierten sich, welchen Einfluss kam der Gestaltung der Orte durch das ihnen aufoktroyierte Bild der Gäste zu? Schließlich umgekehrt - welche Vorstellungen und Handlungsoptionen aus dem Erfahrungshorizont der Seebadekur nahmen die Gäste aus den Seebädern mit in ihre Heimat? Wie also spiegelten sich Verhaltensnormen, etwa die deutlich körperlich-sinnlicheren Formen während der Badekur, im urbanen Kontext wider? Lässt sich das Seebad als Versuchslabor bürgerlicher Umgangsformen beschreiben? Tucholskys „Das Ideal“ schließt, wie sein frommer Wunsch es erahnen ließ und wie die Verheißung des Seebades auch endet: „aber, wie das so ist hienieden: manchmal scheints so, als sei es beschieden/ nur pöapö, das irdische Glück./ Immer fehlt dir irgendein Stück./ […] Etwas ist immer./ Tröste dich./ Jedes Glück hat einen kleinen Stich./ Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten./ Daß einer alles hat: / das ist selten.“ 1504 Und so ist am Ende auch heute das Ostseebad, zumindest in der Frage einer gelingenden Alltagskompensation, sicher keine für jeden passende, ideale Lösung; gleichwohl aber für viele doch sicher mehr als nur eine Randnotiz. 1504 Kurt Tucholsky: Das Ideal. In: Kurt Tucholsky. Gesammelte Werke, Bd. 5, Hamburg 1993, S. 270. <?page no="367"?> 366 Archivalische Quellen Geheimes Staatsarchiv - Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem (GStA PK) HA I: Alte und neue Reposituren - Rep. 76 VIII A - Kultusministerium: Ältere Medizinalregistratur - Rep. 76 VIII B - Kultusministerium: Jüngere Medizinalregistratur - Rep. 93 B - Ministerium der öffentlichen Arbeiten - Rep. 96 A - Geheimes Zivilkabinett, ältere Periode (1797-1808) - Rep. 96 B - Geheimes Zivilkabinett, ältere Periode (Minüten, Extrakte, Remissionsjournale) Landesarchiv Greifswald (LA Greifswald) - Rep. 38 B - Stadtverwaltung Saßnitz - Rep. 60 - Oberpräsident von Pommern - Rep. 65 c - Regierungs-Präsidium zu Stralsund - Rep. 66 - Landratsamt Usedom-Wollin Landesarchiv Schleswig-Holstein (LA S-H) - Abt. 301 Preußischer Oberpräsident für die Provinz Schleswig-Holstein Landeshauptarchiv Schwerin (LHA Schwerin) - 2.21.11 - Großherzogliche Badeintendantur zu Doberan - 5.12-3/ 1 - Mecklenburg-Schwerinsches Ministerium des Innern - 5.12-7/ 1 - Mecklenburgisch-Schwerinsches Ministerium für Unterricht, Kunst, geistliche u. Medizinal-Angelegenheiten <?page no="368"?> Archivalische Quellen 367 Stadtarchiv Rostock (StA Rostock) - 1.1.3. - Bürgermeister und Rat - 1.1.12. - Gewett - 1.1.13. - Bauamt Archiwum Państwowe w Szczecinie (Staatsarchiv Stettin) - Akta miasta Kołobrzegu/ Magistrat Kolberg - Starostwo Powiatowe w Gryficach/ Landratsamt Greifenberg - Starostwo Powiatowe w Swinoujsciu/ Landratsamt Swinemünde <?page no="369"?> 368 Literaturverzeichnis Sekundärliteratur Alt, Peter-André: Aufklärung. Stuttgart 2007. Alvermann, Dirk: Kunstfreunde in Vorpommern und Rügen um 1800. In: Friedrich. Runge. Klinkowström. Die Geburt der Romantik. Hg. vom Pommerschen Landesmuseum. Greifswald 2010, S. 43-80. Apel, Friedmar: Deutscher Geist und deutsche Landschaft. Eine Topographie. München 1998. Artelt, Walter; Rüegg, Walter (Hg.): Der Arzt und der Kranke in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Vorträge eines Symposiums vom 1. bis 3. April 1963 in Frankfurt/ Main. Stuttgart 1967. 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