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Ethisches Verhalten in der modernen Wirtschaftswelt

0711
2016
978-3-7398-0128-5
978-3-8676-4718-2
UVK Verlag 
Cornelia Nietsch-Hach

Debatten über Korruption, Kinderarbeit, Umweltzerstörung oder Schadstoffein Genussmitteln finden sich täglich in den Medien. Die Frage nach der ethischen und sozialen Verantwortung von Unternehmen wird im Zeitalter der Globalisierung immer häufiger gestellt. Doch wie kann ethisches Verhalten in unserer Wirtschaft nachhaltig verankert werden? Welche Beiträge zur Umsetzung können die Akteure leisten und wie sollen sich diese künftig weiterentwickeln? Cornelia Nietsch-Hach liefert die Antworten. Sie bietet mit diesem Buch eine praxisnahe Einführung in die Wirtschaftsethik und geht speziell auf die sich gegenseitig beeinflussenden drei Orte der Moral - Staat, Unternehmen und Wirtschaftsbürger - ein. Nach der Klärung grundlegender Begriffe, wie Tugend und Moral, und einem Rückblick in die Historie, werden verschiedene aktuelle Leitideen ethisch orientierten Wirtschaftens dargestellt und verglichen. Für die staatliche Seite erörtert die Autorin die bislang eingeführten Gesetze und weitere Initiativen, insbesondere gegen Korruption. In Bezug auf die Unternehmen werden aktuelle Fallbeispiele zum Umgang mit Corporate Social Responsibility erläutert. Darauf aufbauend folgen acht Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens in Unternehmen. Hinsichtlich der Wirtschaftsbürger wird der Frage nachgegangen, inwieweit sie Einfluss und Verantwortung auf die Dynamik von nachhaltiger Unternehmensführung haben.

<?page no="2"?> Cornelia Nietsch-Hach Ethisches Verhalten in der modernen Wirtschaftswelt <?page no="4"?> Cornelia Nietsch-Hach EEtthhi is sc chhe ess VVeerrhha allt teenn i i n n ddee r r m mooddee r rnne enn WWi ir rttssc chha af fttssw we ellt t 2., überarbeitete Auflage UVK Verlagsgesellschaft mbH • Konstanz mit UVK/ Lucius • München <?page no="5"?> DDrr.. CCo orrnneelliia a NNiie ettsscchh--H Haacchh lehrt an der FOM Hochschule für Ökonomie und Management in Berlin. Die 1. Auflage erschien bei utb. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. ISBN 978-3-86764-718-2 (Print) ISBN 978-3-7398-0127-8 (EPUB) ISBN 978-3-7398-0128-5 (EPDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2016 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: r UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 • 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 • Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="6"?> uvk.de IInnhhaalltt Abbildungs- und Tabellenverzeichnis.............................................................9 1 Einführung......................................................................................... 11 2 Begriffsabgrenzung (Werte, Tugend, Moral und Ethik).... 15 3 Wirtschaftsethik in der Historie .........................................27 3.1 Tugendethik in der Antike (Sokrates, Platon und Aristoteles)....27 3.2 Ethik im Mittelalter (Scholastik).......................................................31 3.3 Ethik in der frühen Neuzeit (deontologische Konzepte und Utilitarismus) .......................................................................................35 3.4 Ethik in der klassischen Moderne (Klassik, Neoklassik und im Keynesianismus)............................................................................39 3.5 Die Kirche historisch als moralische Instanz.................................45 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens ...........53 4.1 Die Business Ethics-Bewegung im angloamerikanischen Raum.....................................................................................................53 4.2 Ordnungsethik nach Homann..........................................................59 4.2.1 Ursachen für moralisches Handeln..................................................59 4.2.2 Handlungsempfehlungen für ethisches Verhalten ........................63 4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich ................................69 4.3.1 Moralität und ökonomische Rationalität.........................................70 4.3.2 Persönliche Sinnfindung....................................................................74 4.3.3 Die Legitimationsfrage für Wirtschaften und gerechtes Zusammenleben..................................................................................75 4.3.4 Wirtschaftsbürgerethik.......................................................................77 4.3.5 Ordnungsethik ....................................................................................81 4.3.6 Unternehmensethik ............................................................................85 4.4 Diskursethik nach Jürgen Habermas ...............................................92 <?page no="7"?> 6 Inhalt uvk.de 4.5 Ökonomische Ethik nach Suchanek ...............................................95 4.5.1 Das Gefangenendilemma aus ethischer Perspektive ....................97 4.5.2 Unternehmen und ihre Verantwortung ....................................... 101 4.5.3 Gerechtigkeit und Moral ................................................................ 103 4.6 Wertemanagement als Element eines präventiv wirkenden Risikomanagements nach Michael Fürst...................................... 106 4.7 Hippokratischer Eid für Manager nach Rakesh Khurana und Nitin Nohria ............................................................................. 115 4.8 CSR-Ansatz nach Michal E. Porter und Mark R. Kramer........ 117 4.9 Zusammenfassender Vergleich der dargestellten Ethik- Ansätze .............................................................................................. 122 5 Setzt der Staat die richtigen Rahmenbedingungen? ...........133 5.1 Der fehlende Ausgleich zwischen Moral und Ökonomie in der Finanzkrise ................................................................................. 134 5.2 Mitbestimmung ................................................................................ 135 5.3 Nachhaltigkeit .................................................................................. 137 5.4 Korruptionsbekämpfung ................................................................ 144 6 Wie reagiert das Management bisher? ....................................153 6.1 Beispiel Siemens............................................................................... 153 6.2 Beispiel Motorola............................................................................. 155 6.3 Beispiel L’ORÉAL .......................................................................... 160 6.4 Beispiel Texas Instruments ............................................................ 163 6.5 Beispiel Fujitsu ................................................................................. 164 6.6 Soziale Verantwortung und finanzieller Erfolg - ein Zielkonflikt? ............................................................................... 167 7 Was bedeutet Moral für den einzelnen Bürger? ...................175 7.1 Die menschliche Natur und ihre Selbsterhaltung....................... 176 7.2 Genetische und soziale Entwicklungsstufen von Moral ........... 183 7.3 Moral muss/ kann man trainieren ................................................. 188 <?page no="8"?> Inhalt 7 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens ........................................................................................195 8.1 Was kann der Staat tun? ................................................................. 195 8.2 Was kann das Management tun? ................................................... 199 8.3 Was kann der Wirtschaftsbürger selbst tun? ............................... 212 9 Fazit/ Ausblick................................................................................221 Literaturverzeichnis ................................................................................... 225 Glossar ........................................................................................................... 233 Index .............................................................................................................241 <?page no="10"?> uvk.de AAbbbbiilldduunnggss-u unndd T Taabbeelllleennvveerrzzeeiicchhnniiss Abb. 1 Die drei Orte der Moral: Staat, Unternehmen und Bürger......24 Abb. 2 Das Gefangenendilemma in Normalform..................................62 Abb. 3 Bausteine eines integrativen Ethikprogrammes in Unternehmen nach Ulrich .......................................................................91 Abb. 4 Zusammenspiel von Wirtschaftsbürger-, Ordnungs- und Unternehmensethik ........................................................................92 Abb. 5 Gefangenendilemma mit Sanktionen ..........................................98 Abb. 6 Gefangenendilemma mit Fehlanreizen (100-prozentige Lohnfortzahlung)..........................................................................101 Abb. 7 Entstehung von Gerechtigkeit ...................................................104 Abb. 8 Beispiel Risiko-Relevanz-Matrix.................................................108 Abb. 9 Die Wirkung von Wertemanagementsystemen nach Fürst in Anlehnung an Williamson 1991.............................................111 Abb. 10 Soziales Engagement entlang der Wertschöpfungskette........120 Abb. 11 Weg-Pyramide zu integriertem verantwortlichem Verhalten bei L’ORÉAL ...............................................................................160 Abb. 12 Das Selbstverständnis von Fujitsu .............................................164 Abb. 13 Unternehmenswerte .....................................................................165 Abb. 14 Unternehmensprinzipien .............................................................166 Abb. 15 Mögliche Kennzahlen und Beurteilungskriterien für ethisches Verhalten.......................................................................171 Abb. 16 Informationsbedürfnis von Stakeholdern nach Epstein ........207 Abb. 17 Gewünschte Länge von Berichten zu Umweltfragen .............207 Abb. 18 Stützen und Nutzen für ethisches Verhalten ...........................211 Abb. 19 Gleichheit versus größerer Anteil des Wohlstandskuchens...213 <?page no="11"?> 10 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Tab. 1 Zusammenfassung Begriffsabgrenzung ......................................24 Tab. 2 Ethik im Kontext klassischer moderner Wirtschaftskonzeptionen................................................................................... 44 Tab. 3 Rekonstruktion von „Handeln“ (für Unternehmen) ................60 Tab. 4 Strategieempfehlungen für Handlungssituationen nach Homann ...........................................................................................65 Tab. 5 Idealtypische Grundmodelle der Bürgertugend und der Bürgergesellschaft ...........................................................................78 Tab. 6 Vergleichende Darstellung Neo- und Ordoliberalismus ..........83 Tab. 7 Vergleichende Zusammenfassung ethischer Ansätze .............129 Tab. 8 Klassisch liberale, corporatistische und pluralistische Ansätze Vergleich .........................................................................131 Tab. 9 Auszug der Indikatoren SA 8000 ...............................................142 Tab. 10 Motorola CSR-Daten 2005-2009 ..............................................157 Tab. 11 Entwicklungsstufen des Moralbewusstseins von Ulrich nach Kohlberg...............................................................................189 Tab. 12 Balanced Scorecard mit Ethik-Kennzahlen..............................204 Tab. 13 Ethische Entscheidungsfindung.................................................206 Tab. 14 Integration von Nachhaltigkeit bei Gehaltszulagen................208 Tab. 15 Nutzen ethischen Verhaltens nach Epstein .............................209 <?page no="12"?> uvk.de 11 EEiinnffüühhrruunngg In den letzten Jahren wurden in Deutschland ethische Fragen in der Öffentlichkeit und in den Medien zunehmend diskutiert. Die Presse informiert weiter fast täglich über Wirtschaftsskandale, seien es Schadstoffe in Genussmitteln, horrende Boni-Abrechnungen bei Banken oder Plagiate bei Doktorarbeiten. Die Globalisierung schafft verzweigte Handlungsketten, in denen Risiken verschnürt und umgeladen werden, bis der Überblick verloren geht. Hierdurch entstehen bei Bürgern Ängste. Die Konsequenzen der Finanzmarktkrise mit der einhergehenden Rezession und die starken Veränderungen in der Arbeitswelt, in der traditionelle, langfristige Beschäftigungsmuster durch unstete, flexiblere Formen der Beschäftigung abgelöst worden sind, verunsichern breite Bevölkerungsschichten. Es entwickelt sich eine Arbeitswelt, in der die Angst vor der Verlagerung und Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen zum Tagesgespräch wird. Vielfach scheinen althergebrachte Eigenschaften, wie Verlässlichkeit und Ausgewogenheit, als Auslaufmodell betrachtet zu werden, zugunsten neuer Tugenden des „Spielsaals“, wie Risikofreude und Spekulation. Kurzfristige Gewinnmaximierungsstrategien werden zunehmend langfristigem strategischem Handeln vorgezogen. Es entsteht der Eindruck, dass Banken und multinationale Wirtschaftskonzerne die Weltmärkte dominieren und die Regierungen der Länder zunehmend an Einfluss verlieren. Bei einer 2004 durchgeführten Umfrage des Emnid-Instituts für das World Economic Forum stuften 70 % der Deutschen das Verhalten der Konzernchefs in Deutschland als unethisch ein und 80 % hielten sie für zu mächtig. In Frankreich erachten nur 20 % der Landsleute das Verhalten ihrer Konzernchefs für unethisch, in England 42 %, in den USA 37 % und in Japan 47 %. Das Bild der deutschen Manager ist demnach mit Abstand in dieser Vergleichsgruppe am schlechtesten. 1 In Unternehmen zunehmend eingesetzte Compliance Offices beschäftigen sich damit, wo die rechtlichen Grenzen der Legalität liegen. Dabei 1 Vgl. http: / / www.handelsblatt.com/ unternehmen/ banken/ interview-kemmer-istein-bauernopfer-seite-2/ 3041962-2.html <?page no="13"?> 12 1 Einführung uvk.de ist nicht alles, was legal ist, auch ethisch vertretbar. Umgekehrt zeigt sich, dass ethisch sein kann, was nicht legal ist. Wenn ein Unternehmen in ein Embargo-Land Waffen an Terroristen liefert, ist dies illegal und unmoralisch. Liefert es Waffen an unterdrückte Opfer zur Selbstverteidigung zum Schutz ihres Lebens, kann dies ebenfalls illegal sein, aber ethisch vertretbar. Das Ideal des ehrbaren Kaufmanns ist beschädigt. Aufgrund immer neuer vielfältiger Auswüchse stellt sich die Frage, wie ethisches Verhalten in unserer Wirtschaft nachhaltig verankert werden kann. Das Verhältnis von Marktwirtschaft und Ethik wird bislang kontrovers diskutiert, ohne dass sich ein allgemein akzeptierter Ansatz weitgehend durchgesetzt hätte. Bis heute sucht die Ethik nach nicht hintergehbaren Begründungen für Normen. Kaum jemand möchte eine Welt voller Armut, Korruption, Kinderarbeit oder Umweltzerstörung. Dennoch treten diese Probleme massiv auf. Im Rahmen der praktisch angewandten Ethik geht es darum, den Sinn und die Umsetzungsbedingungen vernünftiger individueller und kollektiver Selbstbindung zu klären. Im vorliegenden Buch werden nach der Klärung grundlegender Begriffe, wie Tugend und Moral, und einem Rückblick in die Historie verschiedene aktuelle Leitideen ethisch orientierten Wirtschaftens dargestellt und versucht, diese ansatzweise zu vergleichen. Dabei wird insbesondere auf die von Ulrich geprägten, sich gegenseitig beeinflussenden drei Orte der Moral - Staat, Unternehmen und Wirtschaftsbürger - eingegangen. 2 Anschließend wird betrachtet, welche Beiträge von staatlicher, wirtschaftlicher und wirtschaftsbürgerlicher Seite derzeitig erfolgen und wie diese sich zukünftig weiterentwickeln sollten. Für die staatliche Seite werden die bislang eingeführten regulativen Gesetze und weitere Initiativen insbesondere gegen Korruption erörtert. Zu suchen ist nach den Ursachen von Korruption und der allgemeinen Lebensdienlichkeit schadendem Verhalten. In Bezug auf die Unternehmen werden aktuelle Fallbeispiele zum Umgang mit Corporate Social Responsibility (CSR) erläutert. Darauf aufbauend folgen acht Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens in Unternehmen. Es schließen Überlegungen an, ob die Wahrneh- 2 Vgl. Ulrich (2008), S. 309 <?page no="14"?> 1 Einführung 13 mung sozialer Verantwortung und der finanzielle Erfolg eines Unternehmens einen Zielkonflikt bedeuten. Die Einsicht in die kritische Verletzlichkeit der Natur durch die technische Intervention führte zur beginnenden Wissenschaft der Umweltforschung (Ökologie) und zu dem Bewusstsein der menschlichen Verantwortlichkeit für unseren Planeten/ unsere Biosphäre. In Bezug auf den Wirtschaftsbürger wird der Frage nachgegangen, inwieweit er Einfluss und Verantwortung auf die Dynamik von nachhaltiger Unternehmensführung hat. Seine Beweggründe werden unter Hinzuziehung aktueller neurologischer Forschungsergebnisse näher betrachtet. <?page no="16"?> uvk.de 22 BBeeggrriiffffssa abbggrreennzzuunngg ( (W Weerrttee" TTuuggeenndd" MMoorraall u unndd EEtthhiikk)) Im Kontext ethischer Überlegungen existiert eine anspruchsvolle Begriffsvielfalt, die als Grundlage im Folgenden näher betrachtet wird. Jedes Individuum, jede Gruppe und jede Gesellschaft verfügt über Ziele, die auf bestimmten Werten basieren. Werte sind Überzeugungen, Einstellungen und Vorstellungen in Bezug auf einen selbst und auf andere, wie man leben und sich verhalten sollte. 3 Dabei können innere Werte, wie Freiheit, Gerechtigkeit, Freundschaft, Liebe oder Harmonie, von äußeren Werten, wie Geld, Macht oder Eigentum, unterschieden werden. Werte bestimmen machtvoll das Leben des Menschen. In einer demokratisch orientierten Gesellschaft gelten Werte wie Presse- und Religionsfreiheit sehr viel, in anderen z.B. diktatorischen Gesellschaften dagegen wenig. Werte anderer können akzeptiert werden, ohne dass man damit einverstanden ist. Werte wie Wohlstand und Nachhaltigkeit oder Freiheit und Gleichheit können konfligieren. Teilweise sind Konflikte dieser Art bei Betrachtung der Zeitachse lösbar. So kann der Wert „Wohlstand“ nur kurzfristig im Gegensatz zu Nachhaltigkeit stehen, da langfristig ohne Nachhaltigkeit kein Wohlstand generiert werden kann. 4 Für die Entwicklung eines Wertsystems kann auf die seit 2000 Jahren geltenden Tugenden als Basis des Entscheidens und Handelns zurückgegriffen werden. Aristoteles beschreibt Tugend als das, „was den, der sie besitzt, in seinem Sein und Handeln gut macht“. 5 Es geht nicht nur um die Erkenntnis des Guten, sondern um das gute Handeln. Tugend ist ein Habitus, der nicht von alleine entsteht, sondern sich durch Ausübung und Gewöhnung im Laufe des Lebens ausbildet. In den Worten Senecas lautet dies „Niemand ist zufällig gut, die Tugend muss man lernen.“ 6 Jean- Jaques Rousseau führt aus „Indem man Gutes tut, wird man selbst gut.“ 7 3 Vgl. Karmasin et al. (2008), S. 13 4 Vgl. ebd., S. 13 5 Koch/ Wegmann (2007), S. 12 6 Koch/ Wegmann (2007), S. 13 7 ebd., S. 13 <?page no="17"?> 16 2 Begriffsabgrenzung (Werte, Tugend, Moral und Ethik) uvk.de Tugenden sind mit der Identität des Handelnden verknüpft. Sie gehen über Gesinnungen hinaus und bestimmen das Handeln von Menschen. 8 Die wichtigsten auf Platon zurückgehenden Tugenden sind Weisheit, Tapferkeit und Maßhalten. Werden alle drei genannten Tugenden ausreichend gelebt, entsteht die übergeordnete Tugend Gerechtigkeit. 9 Heute spricht man auch von Kardinaltugenden. Jeder Kardinaltugend lässt sich eine verwandte Komplementärtugend zuordnen, die sie ergänzt. Bei der Klugheit ist es die Weisheit, bei der Gerechtigkeit die Wahrheit, bei der Tapferkeit die Treue und beim Maßhalten die Versöhnung. Für Aristoteles sind die Tugenden die ausgewogene Mitte zwischen zwei entgegengesetzten Untugenden, einem Zuviel und einem Zuwenig. Hierbei steht z.B. die Tugend „Tapferkeit“ in der Mitte zwischen den Untuge nden „Tollkühnheit“ und „Feigheit“. 10 Den negativen Gegenpool zu den Tugenden bilden die Untugenden, auch Laster genannt, die durch einen Mangel oder Überfluss charakterisiert werden. 11 Die sogenannten „Todsünden“, die auf den asketisch lebenden gelehrten Mönch Evagrius Ponticus (345-399) zurückgehen, wurden später im Mittelalter als die „sieben Todsünden“ viel diskutiert und über die Jahrhunderte bis heute immer weitergegeben. Sie lauten: Hochmut, Neid, Geiz, Träg heit, Zorn, Wollust, Völlerei. Die genannten sieben Sünden oder Laster sind bis heute aktuell. Ihre Zunahme führt in Gesellschaften zu einer Erosion der Werte. Sie bilden häufig die Ursachen von Wirtschaftsskandalen und schwächen Glaub- 8 Vgl. Karmasin/ Litschka (2008), S. 15 9 http: / / www.michaelmaxwolf.de/ antike/ griechenland/ griechische_ philosophie. html, letzter Zugriff 06.09.2012 10 Vgl. Koch/ Wegmann (2007), S. 14 f. 11 Vgl. Stevenson (2008), S. 119 <?page no="18"?> 2 Begriffsabgrenzung (Werte, Tugend, Moral und Ethik) 17 uvk.de würdigkeit und Integrität. 12 Dabei kann sich eine kleine Prise von Lastern durchaus positiv auswirken. Geiz kann vorübergehenden notwendigen Sparwillen ausdrücken. Zorn bewirkt möglicherweise die erforderliche schnelle Änderung schädlichen Verhaltens. Wie in der Homöopathie kann ein Gift mit sehr geringer Dosierung heilenden Erfolg entfalten. Die Dosis macht also das Gift. Wie bereits Aristoteles beschrieb, geht es um die richtige Ausgewogenheit. 13 Die Einstellung oder Haltung zu den Tugenden prägt die menschlichen Wertvorstellungen und damit auch ihre Moral. Der Ausdruck Moral geht auf das lateinische moralis (lat: mos, mores: die Sitte, die Sitten) zurück, das im von Cicero neugeprägten Ausdruck philosophia moralis als Übersetzung von êthikê (Ethik) verwendet wird. Unter Moral versteht Homann „einen Komplex von Regeln und Normen, die das Handeln von Menschen bestimmen oder bestimmen sollen und deren Übertretung zu Schuldvorwürfen gegen sich selbst bzw. gegen Andere führt.“ 14 Velasquez führt aus: „We can define morality as the standards that an individual or a group has about what is right and wrong, or good and evil.“ 15 Moral bezeichnet wiederkehrende Handlungsmuster, -konventionen, -regeln oder -prinzipien von Individuen, Gruppen oder Kulturen. Sie regelt, was man in einer sozialen Gemeinschaft tun darf oder nicht und ermöglicht dem Menschen, sein Leben im Hinblick auf gerechtes solidarisches Zusammenleben bewusst zu gestalten. Moralisch sind Handlungen somit, wenn sie sich an diesen Konventionen, Normen, Idealen und Werten ausrichten. Dabei ist zu beachten, dass diese Orientierungsnormen kulturell geprägt sind und zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen variieren können. 16 Moralische Normen sind im Gegensatz zu Rechtsnormen rechtsstaatlich nicht erzwingbar. Ihr Verbindlichkeitsanspruch hängt von der überwiegenden Akzeptanz in der jeweiligen Gemeinschaft ab. 17 Moralische Regeln werden gebildet, durch die Übernahme moralischer Werte aus der sozialen 12 Vgl. Koch/ Wegmann (2007), S. 136 ff. 13 Vgl. ebd., S. 222 ff. 14 Homann (2005), S. 12 15 Velasquez (2006), S. 8 16 Vgl. Heidbrink et al. (2011), S. 32 17 Vgl. Karmasin et al. (2008), S. 15 <?page no="19"?> 18 2 Begriffsabgrenzung (Werte, Tugend, Moral und Ethik) uvk.de Umgebung (z.B. Elternhaus, Freunde, Schule, Kirche, Fernsehen). Mit der Entwicklung der Persönlichkeit werden moralische Standards verworfen erweitert oder verändert. 18 Für Ulrich 19 ist Moralität der unabweisbare Selbstanspruch des Menschen als eines Subjektes, das sich prinzipiell frei bewegt. “Moralität ist also die Idee, unter der personale Freiheit und zwischenmenschliche Verbindlichkeit vereinbar sind.“ 20 Sie setzt sich aus den gewohnten geltenden Wertvorstellungen und Normen zusammen, die das Handeln in einer kulturellen Gemeinschaft bestimmen. Die Moral regelt, was man in einer sozialen Gemeinschaft tun darf oder nicht, und ermöglicht dem Menschen, sein Leben im Hinblick auf gerechtes solidarisches Zusammenleben bewusst zu gestalten. Moralische Normen sind im Gegensatz zu Rechtsnormen rechtsstaatlich nicht erzwingbar. Ihr Verbindlichkeitsanspruch hängt von der überwiegenden Akzeptanz in der jeweiligen Gemeinschaft ab. „Der Mensch ‚ist‘, was er in der menschlichen Gemeinschaft als soziales, kulturelles und geschichtliches Wesen aus sich macht oder zu machen versucht.“ 21 Die Gründe für moralisches Verhalten finden sich für Ulrich in keiner äußeren Instanz, sondern in unserer humanen Moralität (in unserem guten Willen) selbst. Er geht davon aus, dass jeder Mensch mit einer einigermaßen gesunden Persönlichkeit aufgrund seiner Bedürfnisse nach Selbstachtung und Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft ein Leben nach moralischen Grundsätzen führen will, auch wenn ihm das nicht immer gelingt. Menschen wollen anständig behandelt und als vollwertige Mitglieder der sozialen Gemeinschaft, in der sie leben, anerkannt werden. Persönlicher Lebenssinn ist selten bis gar nicht ohne ein gewisses Maß an Gemeinsinn und ein Bestreben zur Zugehörigkeit zu finden. Moralische Selbstansprüche entfalten sich auf dem Erfahrungshintergrund seit der Kindheit, indem Ansprüche und Wertorientierungen verarbeitet werden. Diese beinhalten auch selbstsüchtige Neigungen, die manchmal zu unsozialem Verhalten führen. Sogenannte „Free Rider“ oder „Trittbrettfahrer“ profitieren von der Gemeinschaft ohne sich selbst kooperativ einzubringen. Zwischen mora- 18 Vgl. Velasquez (2006), S. 9 19 Vgl. Ulrich (2005), S. 25 20 ebd. (2005), S. 25 21 Ulrich (2005), S. 25 <?page no="20"?> 2 Begriffsabgrenzung (Werte, Tugend, Moral und Ethik) 19 uvk.de lischer Einsicht und faktischem Handeln besteht häufig eine Diskrepanz, die Beschäftigung mit Ethik nicht hinfällig, sondern gerade erst nötig macht. Wenn wir moralisch zuwider handeln, entstehen häufig „Gewissensbisse“. An Individuen mit mehr oder weniger gestörtem Moralbewusstsein wird deutlich, dass Moralität nicht, wie ein Instinkt, angeboren ist, sondern das Resultat einer unablässigen Kultivierung darstellt. 22 Als berechtigt werden gemäß Ulrich Handlungsweisen betrachtet, durch die keine moralischen Rechte anderer Personen verletzt werden. Im Rahmen der sozialen Integration stellen sich dem Individuum unter anderem folgende Fragen: 23 Unter welchen Menschen fühle ich mich zu Hause? Wo habe ich meinen sinnvollen Platz in der Welt? Mit welchen Menschen verbindet mich Gemeinsinn? Mit zunehmender Unübersichtlichkeit und Komplexität des täglichen Daseins, bedarf es umso mehr der Orientierung an stabilen „Grundfesten“. Wo moralische Wertordnungen fehlen, beginnt leicht der Weg zur Verletzung von Menschenrechten. Hier setzt der Diskurs um faire Spielregeln zur Regelung von Konfliktfeldern an, auf den an späterer Stelle in Kap. 4.3 noch genauer eingegangen wird. Die Ethik ist eine Disziplin der Philosophie, die moralische Prinzipien, Werte, Tugenden, Geltungsansprüche, Forderungen, Begründungen etc. untersucht und begründet. Ethik beschreibt laut Homann „die wissenschaftliche Theorie der Moral“. 24 Sie beschäftigt sich mit den Prinzipien der Moral und dem Zusammenhang der einzelnen Normen mit ihrer Entstehung und Funktion. Für Konfliktsituationen wird nach Vorrangregeln und Handlungsempfehlungen gesucht. 25 Velasquez beschreibt Ethics als „the discipline that examines one’s moral standards or the moral standards of a society“. 26 22 Vgl. Ulrich (2005), S. 28 ff. 23 Vgl. Ulrich (2005), S. 35 24 Homann/ Lütge (2005), S. 12 25 Vgl. Homann/ Lütge (2005), S. 12 26 Velasquez (2006), S. 10 <?page no="21"?> 20 2 Begriffsabgrenzung (Werte, Tugend, Moral und Ethik) uvk.de Es geht um den Prozess, moralische Normen einer Person oder Gesellschaft hinsichtlich ihrer Angemessenheit, Sinnhaftigkeit und Zumutbarkeit zu untersuchen. 27 Audi 28 definiert: „Leadership in ethics stresses ultimative values such as justice, fidelity, and the well-beeing of individualsthe object of the obligation of beneficence.“ Ethisches Führungsverhalten betont die ultimativen Werte Gerechtigkeit, Treue und Wohlergehen des Einzelnen als Verpflichtung zur Wohltätigkeit. Hier wird die Verantwortung gegenüber dem Individuum deutlich. Unterschieden wird zwischen der deskriptiven und der normativen Ethik. Die deskriptive Ethik systematisiert und erklärt bestehende Wertesysteme und Verhaltensweisen ohne zu bewerten. Die normative Ethik nimmt hingegen wertend Stellung. Sie trifft Aussagen über sinnvolles und gerechtes Handeln und zeigt auf, was moralisch gut oder böse ist. 29 Ein Ethnologe, der in Australien die Sitten eines Stammes der Aborigines beschreibt und erklärt, ist deskriptiv ethisch tätig. Wenn er bestimmte Sitten und Gebräuche verurteilt, tut er dies im Rahmen der normativen Ethik. Ein Teilgebiet der Ethik stellt die Unternehmensethik dar, die sich mit moralischen Standpunkten in unternehmerischen Organisationen befasst. 30 Unternehmensethik zielt auf die normative Selbstbindung (ohne rechtliche Regelungen) von Unternehmen ab. Steinmann/ Löhr definieren als Unternehmensethik „alle durch dialogische Verständigung mit den Betroffenen begründeten bzw. begründbaren materialen und prozessualen Normen, die von einer Unternehmung zum Zwecke der Selbstbindung verbindlich in Kraft gesetzt werden, um 27 Vgl. ebd., S. 11 28 Audi (2009), S. 105 29 Vgl. Velasquez (2006), S. 12 30 Vgl. ebd., S. 12 <?page no="22"?> 2 Begriffsabgrenzung (Werte, Tugend, Moral und Ethik) 21 uvk.de die konfliktrelevanten Auswirkungen des Gewinnprinzips bei der Steuerung der konkreten Unternehmensaktivitäten zu begrenzen.“ 31 Unternehmensethik stellt hier den Versuch dar, anstelle (zusätzlicher) rechtlicher Regelungen durch normative Selbstbindung den Interessen der Betroffenen besser gerecht zu werden. Zu klären ist bei dieser Herangehensweise, wie Betroffene identifiziert werden und welche Priorität ihren Anliegen einzuräumen ist. Umgangssprachlich werden Moral und Ethos häufig gleichgesetzt. Der Begriff Moral bezieht sich ursprünglich auf Werte- und Normengefüge eines abgegrenzten Kulturkreises (z.B. Moral des Judentums oder Christentums) oder einer Gruppe. Das Ethos (griech. Gewohnheit, Sitte, Brauch) bezeichnet die praktische Ausformung eines sittlichen Handelns im Leben des Einzelnen, also das gelebte Werte- und Normengefüge des Individuums. Das persönliche Ethos kann durchaus von der allgemeinen Moral abweichen. Unter „Standesethos“ oder „Berufsethos“ versteht man bestimmte Wertvorstellungen eines Berufsstandes (z.B. der Ärzte oder Ingenieure). 32 In der Wirtschaftsethik werden moralische Probleme der Wirtschaft im Hinblick auf praktische Lösungen behandelt. Dabei orientiert sie sich an Werten, wie Humanität, Solidarität und Verantwortung. Als Teilgebiet der Wirtschaftsethik beschäftigt sich die Unternehmensethik mit der Frage, wie unternehmerisches Gewinnstreben und moralische Ideale zueinander stehen. Da Ethik nicht unbedingt gesichertes Wissen liefert, ergeben sich oftmals weniger Ergebnisse als neue Fragen und Denkmöglichkeiten. Es geht um Orientierungswissen statt um Verfügungswissen, wie häufig im wissenschaftlichen Bereich. Für die Einstufung einer Handlung als gut oder böse lassen sich im Wesentlichen drei unterschiedliche Ansätze unterscheiden: 33 Beim deontologische Ansatz (deon: griech. die Pflicht) erfolgt di e Bewertung der Handlung alleine. Die teleolog ische Ethik (griech. Telos: Ziel, Zweck) bezieht die Fol- 31 Steinmann/ Löhr (1991) in Pradel (o.J.), http: / / www.fernuni-hagen.de/ PRPH/ pradunt.pdf, letzter Zugriff 17.01.2012 32 Vgl. Kreikebaum et al. (2001), S. 6 33 Vgl. Homann/ Lütge (2005), S. 14 ff. <?page no="23"?> 22 2 Begriffsabgrenzung (Werte, Tugend, Moral und Ethik) uvk.de gen von Handlungen mit ein. Der Aufkauf von illegal geraubten Computerdateien Schweizer Banken durch den deutschen Staat ist nach deontologischer Sicht unethisch (damit würde Diebesgut anerkannt), aus teleologischer Perspektive legitim, da als Folge resultierend eine höhere Steuergerechtigkeit entsteht. Bei der Diskursethik steht zur Bewertung einer Handlung der gemeinsame Gedankenaustausch im Vordergrund. Philosophen, wie z.B. Apel, der eine ideale Kommunikationsgemeinschaft beschreibt, führen aus, dass die formallogische Begründung von ethischen Sätzen nicht die einzig mögliche ist, sondern dass eine intersubjektive Geltung v on Sätzen ebenso zur Legitimation führt. Diese basiert auf Regeln für einen machtfreien, rationalen unhintergehbaren Diskurs, der zu gewissen Verallgemeinerungen von Werten führt, die in der Gesellschaft von möglichst vielen akzeptiert werden. Somit wird das Zusammenleben erleichtert. 34 Vertreter dieses Ansatzes sind neben Apel z.B. Habermas, Rawls, Ulrich und Honnet. Hegel folgend führt Honnet 35 aus, dass die eingangs skizierten Werte (z.B. Freiheit, Gerechtigkeit, Freundschaft, Liebe oder Harmonie) in modernen liberaldemokratischen Gesellschaften auf einen einzigen zusammengeschmolzen sind, nämlich auf den der individuellen Freiheit im Sinne der Autonomie des Einzelnen. In den Institutionen einer Gesellschaft, in ihren sozialen Praktiken und Routinen hat sich niedergeschlagen, welche normativen Überzeugungen die Mitglieder teilen. 36 Ziele der gesellschaftlichen Produktion und kulturellen Integration werden letztlich durch Werte reguliert, die insofern einen ethischen Charakter besitzen, als sie den Vorstellungen des gemeinsam geteilten Guten entsprechen. Der Begriff Gerechtigkeit ist abhängig von den übergeordneten Werten. Gerecht ist, „was innerhalb einer Gesellschaft an Institutionen oder Praktiken dazu angetan ist, die jeweils als allgemein akzeptierten Werte zu verwirklichen. ... Als ‚gerecht‘ muss gelten, was den Schutz, die Förderung oder die Verwirklichung der Autonomie aller Gesellschaftsmitglieder gewährleistet.“ 37 34 Vgl. Karmasin/ Litschka (2008), S. 23 f. 35 Vgl. Honneth (2011), S. 9, 35 36 Vgl. Honneth (2011), S. 11 37 Honneth (2011), S. 30, 40 <?page no="24"?> 2 Begriffsabgrenzung (Werte, Tugend, Moral und Ethik) 23 uvk.de Eine sogenannte „Letztbegründung“ als Versuch, Werte und Normen als logisch nicht mehr bestreitbare Aussagen zu beweisen, ist bislang nicht verfügbar oder sehr umstritten. 38 Dem liegt zugrunde, dass aus ethischen „Ist-Sätzen“ keine „Soll-Sätze“ ableitbar sind. So ist z.B. die Sachlage, dass viele Menschen Steuern hinterziehen, moralisch dennoch nicht vertretbar. Der Tatbestand, dass viele Unternehmen Umweltschäden häufig bereits einkalkulieren, führt nicht zu moralischer Akzeptanz. Der Schluss von „Sein“ auf „Sollen“ ist hier falsch (naturalistischer Fehlschluss). Bis heute sucht die Ethik nach nicht hintergehbaren Begründungen für Normen. Hierbei gerät man in einen unendlichen Begründungsregress oder sieht sich im Zirkelschluss gefangen. Ein dogmatischer Abbruch, indem man ein mehr oder weniger willkürlich ausgewähltes Axiom als erste Behauptung aufstellt, hilft der streng angewandten Logik auch nicht weiter. In der Diskursethik werden Werte und Normen nach dem Konsenzprinzip begründet. Hierauf wird in Kapitel 4.4 noch genauer eingegangen. Zusammenfassend sind in der folgenden Tabelle die wichtigsten in diesem Kapitel behandelten Begriffe dargestellt: Begriff Definition Tugend Fähigkeit und innere Haltung, das Gute mit innerer Neigung zu tun, Einstellung zu den Tugenden prägt Werte Werte wünschenswerte Ziele Normen Handlungsanleitungen Moral wiederkehrende Handlungsmuster, -konventionen, -regeln oder -prinzipien von Individuen, Gruppen oder Kulturen; Gesamtheit der Normen und Werte in einer Gesellschaft Ethos gelebte Wert- und Normgefüge des Individuums; Moral, personales Selbstverständnis des Menschen 38 Vgl. Karmasin/ Litschka (2008), S. 23 <?page no="25"?> 24 2 Begriffsabgrenzung (Werte, Tugend, Moral und Ethik) uvk.de Ethik wissenschaftliche Beschäftigung mit Moral a) deontologische Ethik (Pflichtenethik, z.B. Kant 39 ) b) teleologische Ethik (Zielorientierung, „Zweck heiligt die Mittel“, z.B. Max Weber 40 ) c) Diskursethik (z.B. Habermas, Apel, Ulrich) Wirtschaftsethik Integration ökonomischer und ethischer Vernunft sowie Methodik Tab. 1: Zusammenfassung Begriffsabgrenzung Die Werte eines Menschen werden von seiner Haltung gegenüber den Tugenden geprägt. Werte wiederum nehmen Einfluss auf die Moralvorstellungen und Moral auf ethisches Verhalten. Ethisches Verhalten findet sich in einer Gesellschaft an drei Orten, Staat, Unternehmen und Bürger, wieder. 41 Abb. 1: Di e drei Orte der Moral: Staat, Unternehmen und Bürger 42 39 Kants kategorischer Imperativ gilt als so unbedingt, dass alle Folgekalkulationen zurückstehen müssen. Notlügen sind also nicht erlaubt. 40 Nach dem Nationalökonom und Mitbegründer der Soziologie Max Weber ist die Erreichung guter Zwecke oft daran gebunden, sittlich bedenkliche Mittel einzusetzen (Gegensatz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik). 41 Vgl. Ulrich (2008), S. 309 42 In Anlehnung an: Ulrich (2008), S. 309 Bürger Unternehmen Staat Tugenden Moral ethisches Verhalten Werte/ Normen <?page no="26"?> 2 Begriffsabgrenzung (Werte, Tugend, Moral und Ethik) 25 Diese dargestellten drei Orte für ethisches Verhalten (Staat, Unternehmen, Bürger) gilt es, in den folgenden drei Kapiteln näher zu beleuchten, beginnend mit dem Staat. Da unser heutiges Ethikverständnis seinen Ursprung in der antiken Philosophie findet, wird in den folgenden beiden Kapiteln vorab ein Blick auf die Historie und auf weiterentwickelte ethische Leitideen modernen Wirtschaftens geworfen. <?page no="28"?> uvk.de 33 WWi irrttsscchhaaffttsseetthhiikk iinn ddeerr HHiissttoorriiee 33..11 TTuuggeennddeetthhiikk iinn ddeerr AAnnttiikkee ((SSookkrraatteess" PPllaattoonn uunndd tteelleess)) Die mit „Ethik“ verbundene Frage nach dem richtigen Tun wurde bereits frühzeitig in der Menschengeschichte erörtert. Als Entscheidungshilfe für sittliches Handeln finden sich erste Ansätze bei den Sumerern (ca. 4000-3000 v. Chr.), die zu „Güte und Wahrheitsliebe, Gesetz und Ordnung, Freiheit und Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, Mitleid und Anteilnahme“ aufriefen. 43 Die gleiche Intention spiegelt sich im alten Ägypten beispielsweise im Rahmen des dritten Gebotes „Handle und wandle recht und gerecht“ 44 wider. Der Ruf nach ethischen Prinzipien ist demnach nicht neu. Die wahrscheinlich grundlegendste ethische Norm, die Goldene Regel, ist in der ganzen Welt zu allen Zeiten in ähnlicher Weise formuliert worden: Der griechische Philosoph Thales antwortet um 600 v. Chr. auf die Frage nach der besten Lebensführung: „Wenn wir selbst nicht tun, was wir anderen übel nehmen.“ Analog führt der chinesische Weise Konfuzius um 500 v. Chr. als Lebensmaxime das Prinzip der Gegenseitigkeit an: „Was du selbst nicht wünschst, das tue keinem anderen an.“ Auch in dem Märchen vom Weisen Achikar, das im gleichen Jahrhundert in Babylon und Ägypten erzählt wurde, spricht der König Sanherib zu Naddan ben Achikar: „Mein Sohn, was dir schlecht scheint, sollst du deinem Genossen nicht antun.“ 45 Im Buddhismus heißt es im 6. Jahrhundert v. Chr.: „Verletze nicht andere auf Wegen, die dir selbst als verletzend erschienen.“ 46 Aus hinduistischen Überlieferungen des 4. Jahrhunderts v. Chr. erfahren wir: „Man soll sich nicht auf eine 43 Müller, Roland: Wichtige ethische Gebote, Tugenden und Verpflichtungen aus der Weltgeschichte. Online verfügbar unter http: / / www.muellerscience.com/ Wirt schaft/ Philosophie/ Ethische_ Gebote.htm, letzter Zugriff 26.02.2009 44 ebd. 45 Kottsieper in Kaiser, S. 322 f. 46 Buddhistische Schrift ca. 600 v. Chr.: Udana-Varga 5, 18 <?page no="29"?> 28 3 Wirtschaftsethik in der Historie uvk.de Weise gegen andere betragen, die einem selbst zuwider ist. Dies ist der Kern aller Moral. Alles andere entspringt selbstsüchtiger Begierde.“ 47 Im Christentum lautet es: „Du sollst deinen nächsten lieben, wie dich selbst.“ 48 Jesus proklamiert in der Bergpredigt von Feindesliebe: 49 „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.“ Daraus entwickelte sich später „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ Sokrates (469-399 v. Chr.) lehrte ein positives Menschenbild, da er die Meinung vertrat, niemand tue freiwillig unrecht. 50 „Tue anderen nicht an, was dich ärgern würde, wenn andere es dir täten.“ 51 Zu den ethischen Pflichten des Menschen gehöre, Gutes zu tun. Einer seiner wichtigsten Leitsprüche lautete „Erkenne dich selbst“. Er beschäftigte sich ausführlich mit der Frage nach einer sittlich optimalen Gestaltung des menschlichen Lebens, die von seinem Schüler Platon (428-348 v. Chr.) und später Aristoteles (384-322 v. Chr.) weiter ausgeführt wurde. Aufgrund seiner Studien gilt Aristoteles als Begründer der „Ethik“ als philosophischer Disziplin. Nach Platon existiert im Jenseits ein Reich ewiger unverwandelbarer Wesenseinheiten, die er Ideen nannte als Urbild, nach dem die Welt geformt wurde. Für ihn stellte das Gute das Ziel und den Ursprung alles Seins dar und galt ihm als Idee aller Ideen. 52 Während Platon bezüglich der Frage nach dem „guten Leben“ die Idee des Guten (Ideenlehre) als Fundament des politischen Lebens betrachtete, ging Aristoteles einen Schritt weiter und fragte nach den Vermögen oder Tugenden, die eine Verwirklichung des für den Menschen Guten ermöglichen. Für Aristoteles strebt jedes Wesen nach einem ihm eigentümlichen Gut, in dem er seine Vollendung findet. Das Endziel des menschlichen Strebens sei Glückseligkeit (Eudämonie). Dabei zeige sich 47 Hinduistische Schrift ca. 400 v. Chr.: Mahabharata, Anusasana Parva 113, 8; Mencius Vii, A, 4 48 Lutherbibel, 3. Mose (Levitikus), 19, 18 49 Lutherbibel: Mt 7,12; Lk 6,31 50 Vgl. http: / / www.michaelmaxwolf.de/ antike/ griechenland/ griechische_ philosophie. html, letzter Zugriff 06.09.2012 51 Aristoteles in Gigon (1972), S. 55 52 Vgl. http: / / www.michaelmaxwolf.de/ antike/ griechenland/ griechische_ philosophie. html, letzter Zugriff 06.09.2012 <?page no="30"?> 3.1 Tugendethik in der Antike (Sokrates, Platon und Aristoteles) 29 uvk.de das Gute der Seele in den Tugenden. Einen Teil der Tugenden könne man selbst beeinflussen durch Ausübung der Vernunft und durch Klugheit. Den anderen, selbst kaum oder nicht beeinflussbaren Teil der Tugend gäbe die Gesellschaft durch Normen, Gewohnheiten und Tradition vor. Durch den freien Willen des Einzelnen könne sich jeder für das Gute entscheiden, wobei das Gute auch trainiert werden müsse. 53 Für Aristoteles befasst sich die Ethik mit der Frage individueller Handlungen. Dabei bilden Ethik, Ökonomie und Politik für ihn eine untrennbare Einheit, die er „praktische Philosophie“ nannte. 54 Aristoteles hinterfragte das alltägliche Handeln, überkommene Sitten und tradierte Gewohnheiten. Das menschliche Gute resultiere aus der Tätigkeit der Seele gemäß der Vernunft. 55 Er betrachtete, welches Handeln das richtige, also vernünftige sei. Das oberste Gebot war das Gemeinwohl aller Bürger. Ziel des richtigen Handelns sei als höchstes Gut die Glückseligkeit, eingebettet in ein gutes, gelingendes Leben. Um dieses Ziel zu erreichen, bedürfe es als grundlegendem Mittel der Einübung moralischer Tugenden (Gerechtigkeit, Weisheit, etc.). Durch die Ausbildung in den Tugenden würde der Mensch in die Lage versetzt, sich in allen Lebenslagen gewachsen zu zeigen. Hierzu gehöre auch, einen Beitrag im guten Gemeinwesen zu leisten. Moralische Normen sind Teil der sozialen Ordnung. Es sei eine Staatskunst, die Bürger zur Tugend auszubilden, damit sie fähig und willig sind, Gutes zu tun. 56 „Wenn auf der Erde die Liebe herrschte“, führte Aristoteles aus, „wären alle Gesetze entbehrlich.“ 57 Die antiken Philosophen vertraten weitgehend übereinstimmend die Ansicht, dass der Mensch ein politisches Wesen sei. Philosophie und Politik hingen eng zusammen. Sokrates war dabei der Meinung, die Natur des Menschen sei so, dass es keine Gleichen geben könne. Er folgerte, somit könne es auch keine 53 ebd. 54 Vgl. http: / / www.capurro.de/ ethikskript/ kap2.htm, letzter Zugriff 4.9.2012 55 Vgl. http: / / www.michaelmaxwolf.de/ antike/ griechenland/ griechische_ philosophie. html, letzter Zugriff 06.09.2012 56 Vgl. Suchanek (2007), S. 15 f. 57 http: / / zitate.net/ aristoteles.html, letzter Zugriff 02.09.2012 <?page no="31"?> 30 3 Wirtschaftsethik in der Historie uvk.de politische (demokratische) Idee von Gleichheit geben. Demokratie handele dementsprechend gegen die Naturgesetze. Für Platon bestand in einem Staat Gerechtigkeit, wenn der herrschende Stand, den er nicht anzweifelte, und sonstige Bürger in Harmonie leben. Er träumte von einem Idealstaat, der nie umgesetzt wurde, in dem kein Privatbesitz bestünde und Frauen und Kinder allen gemeinsam seien. Die Zeugung der Kinder sollte nach dem Kriterium der Auslese erfolgen. 58 Aristoteles stimmte mit Platon überein, dass die Aufgabe des Staates in der sittlichen Vervollkommnung der Bürger liege. Anders als der Utopist Platon stützte sich Aristoteles in seinen Überlegungen auf empirische Daten, indem er 150 verschiedene Verfassungen der Welt analysierte. Aristoteles wollte in seinen Studien, anders als Platon, nicht den besten Staat, sondern den bestmöglichen finden. Er betrachtete den Menschen als ein von Natur staatsbildendes Wesen, das nach Gemeinschaft strebe, auch nach politischer. Das staatsformende Prinzip sei die Verfassung. Hierzu unterschied Aristoteles drei Extreme: [1] Königtum (negativ, wenn Entartung in Tyrannei), [2] Aristokratie als Herrschaft der Besten (negativ, wenn Entartung durch Herrschaft Weniger, die nicht zu den Besten gehören), [3] Volksherrschaft (negativ, wenn Abart Demokratie als Tyrannei des Volkes). Aristoteles befürwortete die auf der Basis des Mittelstandes ruhende gemäßigte Volksherrschaft. Im Gegensatz zu Platon sprach er sich für den Erhalt von Familien und Privateigentum aus. Der Besitz sollte dabei aber allen zugänglich gemacht werden. Diesen modernen Ideen steht seine Grundauffassung entgegen, dass Sklaverei und Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zur natürlichen Ordnung gehören, ebenso wie Gleichheit unter freien Männern. 59 Die antike wissenschaftliche Beschäftigung mit Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen („Ethos“) ging davon aus, dass mensch- 58 Vgl. http: / / www.michaelmaxwolf.de/ antike/ griechenland/ griechische_ philosophie. html, letzter Zugriff 04.09.2012 59 Vgl. http: / / www.michaelmaxwolf.de/ antike/ griechenland/ griechische_ philosophie. html, letzter Zugriff 04.09.2012 <?page no="32"?> 3.2 Ethik im Mittelalter (Scholastik) 31 uvk.de liches Handeln grundsätzlich einer vernünftigen und theoretischen Reflexion zugänglich sei. Gerechtigkeit sei die Brücke zwischen dem Charakter des Einzelnen und der Gemeinschaft. 60 Zu den Urformen menschlicher Verhaltensweisen in der Gemeinschaft gehörend, folgt die Goldene Regel dem Grundsatz der Gegenseitigkeit und wirkt so stabilisierend. 61 Auch der ökonomischen Ethik liegt diese Logik zugrunde. Wenn die Goldene Regel auch aktuell gilt und die Aristotelische Ethik in ihrem Grundsatz bis heute anerkannt ist, gibt es in der jetzigen Gesellschaft bedingt durch den technischen Fortschritt (Rationalisierung, Datenschutz, Gentechnik etc.) zusätzliche Fragen, denen nachzugehen ist. Mit den Folgen der gesellschaftlichen Entwicklung beschäftigt sich die Philosophie der Neuzeit, angefangen mit dem Zeitalter der Aufklärung. Vorher wird jedoch auf die dazwischen liegende mittelalterlichen ethischen Ansätze eingegangen. 33..22 EEtthhiikk iimm MMiitttteellaalltteerr ((SScchhoollaassttiikk)) Die Philosophie des Mittelalters wurde geprägt durch den Versuch Einzelner und ganzer Gruppen, sich in ihrem Leben denkend zu orientieren. Oft ging es um alltägliche Fragen, wie z.B. ob eine Monarchie besser als eine Volksherrschaft sei oder ob möglichst alle wie Mönche leben sollten. Auch wurde erörtert, ob Handel oder Kriegsdienst Sünde seien. Es wurde allgemein für Konflikte der Zeit nach Antworten gesucht. 62 Die philosophische Lehre des Mittelalters wird Scholastik genannt und beginnt mit der Patristik (Zeit der Kirchenväter), die bis ca. 800 n. Chr. dauerte. Es handelte sich um eine philosophische und theologische Bewegung, die auf die Harmonie von Glauben und Vernunft abzielte. Die Ethik als Bestandteil der Scholastik wurde 60 Vgl. Aristoteles in Gigon (1972), S. 55 f. 61 Vgl. Suchanek (2007), S. 13 62 Flasch (2000), S. 16 f. <?page no="33"?> 32 3 Wirtschaftsethik in der Historie uvk.de fast ausschließlich durch das Christentum in Europa geprägt. Neben dem Christentum wurden später im Laufe der Scholastik auch jüdische, ägyptische, babylonische und persische Einflüsse wirksam. 63 Als Wegbereiter der auf die Patristik folgenden Frühscholastik (800- 1200 n. Chr.) 64 holte Karl der Große Gelehrte aus ganz Europa zusammen. Äbte und Bischöfe erhielten den Auftrag, Schulen zu unterhalten. Mit dem folgenden Erstarken der Universitäten im Hochmittelalter profitierte Europa von der damals kulturell und wissenschaftlich überlegenen byzantinischen und islamischen Welt, deren Gelehrte Fortschritte in Philosophie, Medizin und Mathematik vermittelten. Bis zum 11. Jahrhundert beschränkte sich das intellektuelle Leben auf die Klosterschulen, in denen eine Kultur des Schweigens herrschte. Mit der Klosterreformbewegung des 12. Jahrhunderts entstanden Kapitular- und Bischofsschulen, die in Städte eingebunden waren und deren Zentrum die Kathedralen bildeten. Gelehrt wurde zunächst in den Sprachkünsten (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und später auch Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. 65 Neben dem Klerus beschäftigten sich einige andere gesellschaftliche Gruppen, wie vor allem Juristen und Ärzte, mit dem antiken Wissen und seiner Weiterentwicklung. 66 Ethische Belange wurden im Wesentlichen im Rahmen der Metaphysik behandelt, die auch in die anderen Disziplinen wirkte. „Nur wenn man das wahre Glück von sinnlichem Genuss, das reine Denken von der Phantasievorstellung unterscheide[,] ... könne man Erleuchtung erfahren.“ 67 Der Mensch sei dazu da, um sich mit Hilfe der Höheren von seinen Leidenschaften zu reinigen, die Welt im Lichte ihrer Idealgründe zu betrachten und sich mit dem Einen zu vereinen. 68 Das Wesen des Guten bestehe 63 Vgl. http: / / www.pinselpark.org/ geschichte/ spezif/ filosofieg/ 15mittelalt.html, letzter Zugriff 19.09.2012 64 ebd. 65 Flasch (2000), S. 152 66 ebd., S. 301 67 Vgl. Dionysius Areopagita in Flach (2000), S. 89 68 Vgl. ebd., S. 91 <?page no="34"?> 3.2 Ethik im Mittelalter (Scholastik) 33 uvk.de darin, sich zu verströmen. 69 Das wahre Glück als das einzig verlässlich Gute sei nicht auf Erden zu finden, sondern im Jenseits als höchstes Gut. 70 Der Frühscholastiker Peter Abaelard verstand Wissenschaft nicht mehr als Mitteilung einer feststehenden Weltordnung, sondern als Kritik und Diskussion. Er listete in Frageform Widersprüche auf, die sich aus den Texten der Bibel ergaben, um nachzuweisen, dass die Theologie der Hilfe der Vernunft bedürfe, um bei Zweifelsfragen sinnvolle Entscheidungshilfen zu erhalten. 71 Er stellte seine Ethik bereits unter das sokratisch-christliche Leitmotiv „Erkenne dich selbst.“ Nicht mehr das äußere Verhalten, sondern auf den inneren Akt der Zustimmung käme es an. Er löste den Schein auf, dass ethisches Handeln nur in Konformität mit objektiven Regeln möglich sei. 72 Erst in der Hochscholastik (1200-1400) erfolgten mit Bezug auf die klassische griechische Philosophie intensivere Auseinandersetzungen mit Ethik. 73 Besondere Geltung fanden wieder die Werke Aristoteles, die im Wesentlichen zunächst durch Albert Magnus und später seinem Schüler Thomas von Aquin rezipiert wurden. Letzterer verband die aristotelische Tugendlehre mit den christlich-augustinischen Erkenntnissen. Dabei waren den mittelalterlichen Denkern durch mangelnde Überlieferungen über Aristoteles hinaus kaum weitere antike Philosophen bekannt. 74 Die Tugenden sind für Thomas von Aquin (1225-1274) das rechte Maß bzw. der Ausgleich vernunftwidriger Gegensätze. 75 Das ethische Verhalten zeichne sich durch das Einhalten der Vernunftordnung aus (Naturrecht) und entspräche damit auch dem göttlichen Gesetzeswillen. Als Kardinaltugenden nennt Thomas von Aquin in Abwandlung von Platon Prudentia/ Klugheit (Platon: Weisheit); 69 Vgl. ebd., S. 88 70 Vgl. ebd., S. 101 71 Vgl. Flasch (2000), S. 237 72 ebd., S. 248 f. 73 http: / / home.allgaeu.org/ kschroep/ scholastik/ scholastik.htm, letzter Zugriff 19.08.2012 74 De Libera (2005), S. 17 75 Vgl. Hierzu auch Kap. 3.1 dieser Arbeit (Tugendethik in der Antike) <?page no="35"?> 34 3 Wirtschaftsethik in der Historie uvk.de Temperantia/ Mäßigung (Platon: Maßhalten); Fortitudo/ Tapferkeit (Platon: Tapferkeit); Justitia/ Gerechtigkeit (Platon: Gerechtigkeit ist übergeordnete Tugend, die aus den ersten drei gelebten Tugenden besteht). Unabhängig von seinen aufgeführten vier Tugenden betrachtet Thomas von Aquin die drei christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung. Das höchste Gut sei die ewige Glückseligkeit im Jenseits. Kernbegriffe der thomasischen Ethik sind das Gute (bonum), die menschliche Handlung (actio) und die göttliche Gesetzgebung (lex aeterna). 76 Die Spätscholastik (1400-1500) prägten erste humanistische Ansätze, die im Wesentlichen auf eine Reform des formalen Bildungssystems abzielten. Die Strömung der Scholastiker brachte herausragende Denker hervor, die sich nicht mehr auf die klösterliche Kontemplation beschränkten, sondern auch Widersprüche der christlichen Lehre diskutierten. Dennoch galt die Philosophie im Mittelalter vor allem als Dienerin der Theologie. Sie wurde als Instrument der Theologie genutzt, um den Gehalt der Offenbarung zu begreifen und zu erklären. Mit Hilfe der natürlichen menschlichen Vernunft und insbesondere der Philosophie des Aristoteles versuchte man, übernatürliche Phänomene der christlichen Offenbarung zu verstehen. Alle philosophischen Erkenntnisse mussten sich jedoch stets der theologischen Wahrheit unterordnen. 77 Gemeinsam ist den Ansätzen aus Antike und Mittelalter, den Menschen in seinem Ursprung als gut zu betrachten. Sie unterscheiden sich darin, dass Menschen im Mittelalter auf das Ziel „Glückseligkeit“ im Diesseits hinarbeiten sollten, damit es im Jenseits erfüllt würde. Die Philosophen der Antike, wie z.B. Aristoteles, hielten Glückseligkeit bereits im Diesseits eingebettet in ein gutes gelingendes Leben für möglich. Dieses gute gelingende Leben ergab sich aus der Einübung und Praktizierung der Tugenden. 76 Vgl. http: / / www.capurro.de/ ethikskript/ kap2.htm, letzter Zugriff 04.09.2012 77 http: / / home.allgaeu.org/ kschroep/ scholastik/ scholastik.htm, letzter Zugriff 19.08.2012 <?page no="36"?> uvk.de Das Ende des Mittelalters zwischen 1400 und 1600 prägte ein wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Aufschwung. Rasante Fortschritte auf vielen Gebieten wie der Kartografie, Geografie oder Navigation leiteten die Neuzeit ein. 78 33..33 EEtth hi ik k iin n dde err f fr rü ühhe en n N Neeuuz zeeiitt ( (d deeoon nttoollo og gi issc ch he e K Ko on nzze eppttee uun ndd UUtti illi itta arriis smmu us s)) Die Entdeckung Amerikas, die Erfindung des Buchdrucks und die Reformationsbewegung Martin Luthers läuteten die Neuzeit, genauer gesagt, die frühe Neuzeit (ca. 1500 - ca. 1800) ein. Sie führte radikale Veränderungen bezüglich der Selbstauffassung des Menschen mit sich. Dabei setzte sich die Loslösung von einem absoluten Grund (Gott) zugunsten des Autonomiegedankens zunehmend durch. 79 In der westlichen Staatenwelt entstanden von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Formen der Regierungsorganisation, die Impulse aufklärerischen Denkens umsetzten und die sich auf staatstheoretische Vorstellungen stützen konnten. Während in Frankreich Montesquieu, Voltaire und Rousseau als bedeutende Aufklärer agierten, erlangten im angelsächsischen Raum vor allem John Locke, Thomas Hobbes und David Hume Berühmtheit. Im deutschen Sprachgebiet wird auf die herausragende Rolle Immanuel Kants verwiesen. In den USA vertraten Thomas Jefferson und James Madison das aufklärerische Denken. Eine Ära wurde geprägt, die den Menschen und seine Verantwortung in den Mittelpunkt stellte. Dem Absolutismus wurde die Freiheit entgegengesetzt und die Ständeordnung durch Gleichheit abgelöst. An die Stelle alter Dogmen sollten wissenschaftliche Erkenntnis und Toleranz treten. Die Mehrzahl, besonders der französischen Aufklärer, war davon überzeugt, dass der Mensch von Natur 78 Vgl. http: / / www.mittelalter-genealogie.de/ das-ende-des-mittelalters, letzter Zugriff 10.09.2012 79 Vgl. http: / / www.capurro.de/ ethikskript/ kap2.htm, letzter Zugriff 04.09.2012 3.3 Ethik in der frühen Neuzeit 3 <?page no="37"?> 36 3 Wirtschaftsethik in der Historie uvk.de aus gut sei mit dem Ziel, tugendhaft, friedlich und glücklich zu leben. Dies sei durch die Erziehung zu unterstützen. In Deutschland beschäftigte sich Immanuel Kant (1724-1804) vor dem Hintergrund geänderter gesellschaftlicher Bedingungen (Religionskriege, Reformation) mit dem Problem der Selbstbestimmung. Die von Aristoteles unterstellte Harmonie von individuellem moralischem Handeln und sozialer Ordnung traf für Immanuel Kant aufgrund seiner Erfahrungen nicht zu. Für ihn ist der Mensch dank seiner Vernunft grundsätzlich in der Lage, die Maximen seines Handelns selbst festzulegen. Das Kriterium für Vernünftigkeit sieht Kant im kategorischen Imperativ: „... handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein eigenes Gesetz werde.“ 80 Es soll demna ch so g eh an delt werd en, dass d ie M ax ime der ei gene n Ha n dlung zu einem allgemeinen Naturgesetz werden könnte. 81 Das Moralische einer Handlung liegt hier nicht mehr darin, Glückseligkeit zu erzielen, sondern Handlungen einem Prüfverfahren zu unterwerfen, nach dem das Handeln für alle vernünftigen Menschen Geltung haben könnte. 82 Dem kategorischen Imperativ als oberstes Moralprinzip liegt die gegenseitige Anerkennung der Menschen als Wesen gleicher Würde zugrunde. Woran kann nun festgemacht werden, wann die Unantastbarkeit der Würde einer Person nicht gewahrt und somit ethisch nicht vertretbar ist? Kants Antwort hierzu lautete: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ 83 Man solle sich also nicht eines anderen Menschen als Mittel zum Zweck bedienen dürfen, wenn dieser als autonomes Subjekt hierzu nicht zustimmen könne. Der Umgang mit anderen Menschen sei nur soweit legitim, als dass diese 80 Kant (2008), S. 53 81 Vgl. ebd. (2008), S. 54 82 Vgl. Suchanek (2007), S. 16 f. 83 Kant (2008), S. 65 <?page no="38"?> 3.3 Ethik in der frühen Neuzeit 37 uvk.de aus freiem Willen zustimmen könnten. Damit ist der Ansatz der Legitimation sozialen Handelns durch vernünftige Konsensfindung auf den Weg gebracht, der sich in der jüngsten Diskursethik wiederfindet. 84 85 Kants kategorischer Imperativ ist den deontologischen Theorien (Pflichtenethik) zuzuordnen, die ihr Augenmerk auf den moralischen Wert einer Handlung legen und nicht auf deren Folgen. Dabei lassen sich absolut-deontologischen Ansätze, wie der von Kant, von konditionaldeontologischen Ansätzen unterscheiden. Letztere finden vor allem in der Business-Ethics-Bewegung in Form von Gerechtigkeitstheorien Anwendung (z.B. John Rawls Theory of Justice). 86 Hierauf wird noch genauer im Kapitel „Leitideen modernen Wirtschaftens“ eingegangen. Zunächst sollen englische Vordenker betrachtet werden. In Großbritannien schrieb Thomas Hobbes (1588-1679) sein berühmtes Werk der politischen Philosophie „Leviathan“ vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkrieges (1642-49), der auf beiden Seiten zahllose Opfer forderte. Er betrachtete den Menschen nicht, wie Aristoteles, als ein soziales, auf die Gemeinschaft orientiertes Lebewesen, sondern mehr durch Verlangen, Furcht und Egoismus gekennzeichnet, wobei er ihm aber auch Vernunft zusprach. Hobbes ging von einem Naturzustand aus, in dem jeder alles beanspruchen kann, wie bei einem Krieg „jeder gegen jeden“. Als Gründe hierfür nannte er Wettstreben, Ruhmsucht und Argwohn. Der Naturzustand von Moral sei durch den Zwang der Selbstverteidigung und Selbsterhaltung überlagert. Hieraus erwüchse die Notwendigkeit einer übergeordneten Instanz für Sicherheit und Schutz. Diese Macht könnten alle Menschen durch einen Gesellschaftsvertrag einem einzigen oder einer Versammlung übertragen. Die moderne Gewaltenteilung hält Hobbes dabei für umständlich und nicht effizient. Mit Hilfe der ihm zuerkannten Autorität sei der Souverän in der Lage, alle Bürger zum Frieden und zur gegenseitigen Hilfe zu zwingen. Da seine Macht über jeder Gerechtigkeit stehe, sei dies zwar eine Legitimation zu jeglicher Tyrannei, die ein guter Souverän aber nicht ausnutzen würde. 84 Vgl. Kap. 4.9 85 Vgl. Ulrich (2008), S. 74 f. 86 Vgl. Kreikebaum et al. (2001), S. 17 <?page no="39"?> 38 3 Wirtschaftsethik in der Historie uvk.de Nach Hobbes liegt das Ziel des Staates nicht mehr, wie bei Aristoteles, im Erreichen des Besten, sondern im Vermeiden des Schlechtesten. Die individuelle Freiheit wird dem Streben nach Sicherheit geopfert. Im Gegensatz zu Hobbes begründete John Locke (1632-1704) im Umfeld des britischen Konfliktes zwischen Parlament und Krone, warum die Macht der Herrschenden eingeschränkt sein sollte. Er ging von natürlich gegebenen Rechten der Menschen aus. Dem Begriff des Naturrechtes liegt hier die Überzeugung zugrunde, dass jeder Mensch von Natur aus (also nicht durch Konvention) unabhängig von Geschlecht, Alter und Staatszugehörigkeit mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet ist, zu denen das Recht auf körperlicher Unversehrtheit und das auf persönliche Freiheit gehören. Die Frage nach dem Orientierungspunkt moralischen Handelns wird u.a. von den Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832) und John Stewart Mill (1806-1873) im sogenannten Utilitarismus aufgegriffen. Im Utilitarismus liegt die Antwort in der größtmöglichen Nutzenorientierung für die größte mögliche Anzahl an Gesellschaftsmitgliedern. Die wesentlichen Merkmale der utilitaristischen Theorien sind: Moralität ist an den Folgen festzumachen . Maßstab für die Folgebewertung ist der Nutzen. Der Nutzen aller ist zu berücksichtigen (größtes Glück der größten Zahl von Menschen). 87 Somit kann im Utilitarismus der Nutzen des Einzelnen gegen den Nutzen anderer aufgewogen werden. Die bis in die Gegenwart wirkenden Philosophen der Aufklärung stellten die Pflichtenethik (deontologische Konzepte, z.B. I. Kant) 87 Vgl. Suchanek (2007), S. 18 <?page no="40"?> 3.4 Ethik in der klassischen Moderne 39 uvk.de sowie die Frage nach der Nützlichkeit unserer Handlungen (Utilitarismus, z.B. J. Bentham, J. S. Mill) in den Vordergrund ethischer Reflexion. Die Ideen der meisten Aufklärer waren in der Philosophie der Antike und dem Denken und Forschen der Renaissance verwurzelt, da das Mittelalter insgesamt sehr kritisch gesehen wurde. Der in der Antike angenommene gute Naturzustand des Menschen wurde von einigen Aufklärern (z.B. T. Hobbes) als durch den Zwang zur Selbstverteidigung und Selbsterhaltung überlagert betrachtet. Pr ägend für d ie Ethik de r Auf kl ärung (z.B . J. Lo cke) i st d ie Anerke nnung natürlich gegebener Rechte der Menschen, nach denen jeder Mensch von Natur aus unabhängig von Geschlecht, Alter und Staatszugehörigkeit mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet ist, zu denen das Recht zu körperlicher Unversehrtheit und das nach persönlicher Freiheit gehören. Negative Auswüchse zeigen sich in z.B. Intrigen oder Kriegen. 33..44 EEtth hi ik k iin n dde err k kl la asss si is scch he enn M Mo od deerrnne e ( (K Klla asss si ik k, , NNe eook kl laas ss si ikk uunndd i imm KKe ey yn nees si iaanniissm mu uss) ) Mit der industriellen Revolution ab 1760 erfolgte ein Umbruch im Bereich der Produktionsverfahren (mechanisierter Webstuhl, Spinnmaschine), der Technik (Feinmechanik, Werkzeugmacherei), der Energiequellen (Dampfmaschine, Dampfschifffahrt), des Transportwesens (Eisenbahn) und der Märkte (Internationalisierung) sowie als Folge ein Wandel der Gesellschaftsstrukturen. Als wichtigste an dieser Umwälzung beteiligte Gesellschaftsklassen standen sich kapitalistische Unternehmer und lohnabhängige Proletarier gegenüber. Der Übergang von der Agrarzur Industriegesellschaft bedeutete für viele Menschen eine bis dahin unbekannte Ausbeutung. Tägliche Arbeitszeiten bis zu 18 Stunden, keine Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen und billigere Frauen- und Kinderarbeit in Kohlebergwerken führten zu Missständen, die zur Entstehung der Arbeiterbewegung und schließlich der Gründung von Gewerkschaften führten. Das erwachende Selbstbewusstsein der Menschen im Zeitalter der Aufklärung führte zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1775 und dem Beginn der Französischen Revolution 1789. <?page no="41"?> 40 3 Wirtschaftsethik in der Historie uvk.de Als Professor für Moralphilosophie, zu der damals Theologie, Ethik, Jurisprudenz und politische Ökonomie gehörten, fasste Adam Smith (1723-1790) die bis dato nur in Fragmenten vorliegenden ökonomischen Ansätze als erster zusammen. Er brach mit dem bis dahin vorherrschenden Merkantilismus, der den Reichtum eines Landes nur in den jeweiligen Gold- und Silbervorräten sowie im Grund und Boden sah. Smith fügte neben dem Grund und Boden als weitere Produktivitätsfaktoren Arbeit und Kapital hinzu und trat gegen Zölle für den Freihandel ein. 88 Er gilt als Hauptvertreter der ökonomischen Klassik und als wichtiger Wegbereiter heutiger Diskussionen. Auf der Basis der Grundannahme, dass Eigennutz auch immer zu Gemeinnutz führe, entwickelte Adam Smith in seinem Buch The Wealth of Nations das Modell einer fehlertoleranten und selbstregulierenden Gesellschaft. Dabei sollten alle Beziehungen der Menschen zueinander auf Freiwilligkeit beruhen. Dies führe bei dem gegebenen selbstsüchtigen Verhalten der Individuen dazu, dass nur jene Vereinbarungen zustande kämen, die für alle Beteiligten von Vorteil seien. 89 In seinem philosophischen Werk The Theorie of Moral Sentiments erläuterte Smith ausführlich seine Konzeption vom Wesen des Menschen. Er ging von einer sensiblen Kommunikation der Menschen durch gegenseitige unparteiische Beobachtung untereinander aus. „We endeaver to examine our own conduct as we imagine any other fair and impartial spectator would examine it.“ 90 Jeder solle seine Haltung von einem fairen unparteiischen (fiktiven) übergeordneten Beobachter beurteilen lassen und dementsprechend handeln. Auf diese Weise erfolge eine Überwindung (zu großer) Eigenliebe zugunsten einer allgemein anerkannten moralischen Handlungsweise. Was fair und gerechnet ist, manifestiere der Common Sense (gesunder Menschenverstand), den die Menschen als gemeinsame Basis akzeptieren. 88 Vgl. http: / / www.mehr-freiheit.de/ idee/ smith.html, letzter Zugriff 15.09.2012 89 Vgl. http: / / www.mehr-freiheit.de/ idee/ smith.html, letzter Zugriff 15.09.2012 90 Smith (1790), in Soares (Herausgeber, 2005) S. 99 <?page no="42"?> 3.4 Ethik in der klassischen Moderne 41 uvk.de Adam Smith vertrat die Meinung, durch die Verfolgung fairer Eigeninteressen (abgesegnet durch den übergeordneten unparteiischen Beobachter) erfolge automatisch eine Erhöhung des Gemeinwohls. Die sogenannte „unsichtbare Hand“ als Metapher für Selbstregulierung dient als Erklärungsmodell für den gesamtgesellschaftlichen Nutzen, der durch eine individuelle Nutzenmaximierung entsteht. Sie und nicht der Staat oder andere Autoritäten sollen das Prinzip der Freiheit einschränken. Er vertrat einen Minimalstaat, in dem der Staat vorrangig für Frieden, geringe Steuern und die Justiz zuständig sei: „Little else is requisite to carry a State to the highest degree of opulence from the lowest barbarism, but peace, easy ta xes, a nd a t ole ra bl e ad mi ni str at ion o f ju st ice; a ll t he r est bei ng broug ht ab ou t by t he natural course of things. “ 91 Dabei war Smith kein Vertreter des totalen „Laissez-faire“. Dort, wo der Markt gesellschaftliche Ziele nicht erreiche, müsse der Staat zusätzlich regulierend eingreifen (z.B. Schulpflicht, Militär, Verkehrswesen, Kunst). Wurde Smith früher eher als Vater des Marktliberalismus gesehen, ordnen ihn heute einige moderne Ökonomen, wie Amartya Sen oder Peter Ulrich, eher als Vertreter eines politischen Liberalismus ein, der die freie Marktwirtschaft in einem System staatlicher und auch ethischer Regeln eingebettet sieht. Er vertritt mit seiner Ausarbeitung des unparteiischen Beobachters ein positves Menschenbild, der die alleinigen Eigeninteressen im Zaum hält. Dieser unparteiische Beobachter zeigt Parallelen zu Rawls Theory of Justice (Schleier des Unwissens), die an späterer Stelle in Kap. 4.1 dargestellt wird. 92 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete sich die Schule der sogenannten Neoklassiker. Die Neoklassische Ökonomik stellt eine Verselbständigung der Ökonomik zu einer eigenständigen, ausdifferenzierten Sozialwissenschaft dar. 93 Sie ist verbunden mit Namen wie Léon Walras, Vilfredo Pareto, Carl Menger, Alfred Marshall und Arthur Cecil Pigou. Im Gegensatz zu ihren klassischen Vorgängern wollten die Neoklassiker keine Moralphilosophen mehr sein, sondern strebten eine wertfreie, objektiv möglichst formalisierte Theorie an. Die Ökonomie 91 Vgl. http: / / www.mehr-freiheit.de/ idee/ smith.html, letzter Zugriff 15.09.2012 92 Vgl. Karmasin/ Litschka (2008), S. 34 f. 93 Vgl. ebd., S. 37 <?page no="43"?> 42 3 Wirtschaftsethik in der Historie uvk.de sollte von weltanschaulichen Prämissen bereinigt werden zugunsten mathematischer Formalisierungen. 94 Eine zentrale Annahme der neoklassischen Theorie ist das Modell des Homo oeconomicus. Beim Homo oeconomicus handelt es sich um ein fiktives Wirtschaftssubjekt, das feststehende Präferenzen hat und immer rational handelt im Sinne der eigenen Nutzenmaximierung. Viele der damals entwickelten Ideen waren für die Ökonomik bahnbrechend und werden bis heute in ähnlicher Form an den Fakultäten gelehrt. Die meisten Nobelpreisträger sind Neoklassiker (z.B. Georg Stigler, Gérard Débreu, Ronald Coase, Gary S. Becker, James Tobin, John Nash). Die der utilitaristischen Ethik entstammenden neuen Prämissen der neoklassischen Ökonomik basieren auf den drei folgenden Elementen: [1] Ethischer Hedonismus (oberstes Ziel des Menschen ist Lust- und Nutzenmaximierung) [2] Das utilitaristische Prinzip (soziale Gesamtnutzenmaximierung im Hinblick auf das Wohl aller) und Pareto-Optimum (A ist einer Situation B vorzuziehen, wenn mindestens eine Person in A besser als in B gestellt ist und keine Person schlechter gestellt wird. Eine Situation ist pareto-optimal, wenn keine Person besser gestellt werden kann, ohne eine andere schlechter zu stellen). [3] Das marktwirtschaftliche Maximumtheorem (auf einem Markt mit vollkommener Konkurrenz besteht immer eine Tendenz zum Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Der Gleichgewichtspreis („natürlicher Preis“) bildet das volkswirtschaftliche Optimum, also das Gemeinwohl ab. 95 Der vernunftethische Einwand gegen diese additive Logik lautet, dass die interpersonelle Verrechnung des Vorteils (Nutzen) von einer Person oder Personengruppe den Nachteil für eine andere Person oder Personengruppe nach sich zieht, so dass die unantastbare Würde des Indivi- 94 Vgl. Ulrich (2008), S. 189 95 Vgl. Ulrich (2008), S. 189 <?page no="44"?> 3.4 Ethik in der klassischen Moderne 43 uvk.de duums missachtet wird. 96 Der postulierte Gleichgewichtspreis kann durch Kartellbildungen oder Monopole gestört werden. Börsenkräche und Arbeitslosigkeit werden in der neoklassischen Wirtschaftstheorie nicht berücksichtigt. Auch ist das genannte oberste Ziel des Menschen, die ausschließliche Lust- und Nutzenmaximierung zu hinterfragen. Eine Abkehr von den klassischen und neoklassischen Gleichgewichtstheorien fand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch John Maynard Keynes statt (1883-1946) statt. In seinem bedeutenden Werk The General Theory of Employment, Interest and Money verlangte er nach einer sinnvollen Konjunkturpolitik des Staates. Geprägt durch den Börsenkrach von 1929 und der folgenden weltweiten Rezession trat Keynes für die Notwendigkeit einer grundlegend neuen Wirtschaftspolitik ein, in der der Staat im Gegensatz zur Laissez-faire-Marktwirtschaft eine entscheidendere Rolle spielt. Nach seiner Meinung kann es das neoklassische, durch Vollbeschäftigung charakterisierte Gleichgewicht nicht geben. Er hielt die unsichtbare Hand für zu schwach und forderte staatliche Eingriffe mittels Steuern, Zins- und staatlicher Ausgabenpolitik. Ein Hauptforschungsanliegen bestand im Themenbereich der Unterbeschäftigung und damit der Arbeitslosigkeit. Produktion nur um ihrer selbst willen ohne gesellschaftlichen Nutzen dürfe es nicht geben. Hier spiegelt sich bereits der heutige Nachhaltigkeitsgedanke wider. John Maynard Keynes Ideen legten den Grundstein der heutigen Makroökonomie und wurden seither von Ökonomen des Keynesianismus weiterentwickelt, wenngleich sie heute zur Erklärung langfristiger Effekte skeptisch beurteilt werden. 97 Im Postkeynesianismus wird eine Synthese von Neoklassik und Keynes angestrebt. Vereinfacht zusammengefasst gibt die folgende Tabelle einen Überblick über die moralischen Ansatzpunkte der Klassik, der Neoklassik und des Keynesianismus im Laufe der Wirtschaftsgeschichte. 96 Vgl. ebd., S. 191 f. 97 Vgl. Karmasin/ Litschka (2008), S. 37 f. <?page no="45"?> uvk.de Klassik Neoklassik/ Monetarismus Keynesianismus Konzeption von Moral Die „unsichtbare Hand“ lenkt die Gesellschaft auch ohne Moral zu einer „spontanen Ordnung“, Individuum aber als moralisches Wesen konzipiert Ökonomik als positive Wissenschaft ist fast ohne Moralvorstellung möglich, Anstreben einer wertfreien, objektiven möglichst formalisierten Wirtschaftstheorie Ökonomie muss sich realen moralischen Problemen stellen (Bsp.: Arbeitslosigkeit) gewünschte Wirtschaftspolitik Arbeitsteilung und freie Märkte sichern Gemeinwohl, Staat sorgt für Sicherheit und Bildung Konkurrenzkapitalismus und freies Unternehmertum ermöglichen, Staatseingriffe zurückdrängen Nachfrageorientierung, Konjunktur- und Fiskalpolitik dominierendes ethisches Prinzip Utilitarismus Pareto-Kriterium gesellschaftlich nützliche Produktion Tab. 2: Ethik im Kontext klassischer moderner Wirtschaftskonzeptionen 98 Adam Smith geht in seiner klassischen Wirtschaftstheorie als Menschenbild zwar von Eigennützigkeit aus, die jedoch durch den unparteiischen Beobachter sozialisiert wird. Problematisch am Utilitarismus ist die Messbarkeit, Vergleichbarkeit und Bewertung des Nutzens. Werte wie Freiheit, Frieden und Gesundheit können schwierig in ökonomischen Parametern dargestellt und den dafür aufgebrachten Aufwendungen gegengerechnet werden. Kritisch zu den Neoklassikern ist anzumerken, dass die mathematischen Modelle oft unter umfassende Ceteris-paribus-Vorbehalte gestellt werden. Dabei bleiben oftmals relevante Rand- und Anfangsbedingungen unberücksichtigt, so dass die Komplexität der Wirtschaft nicht einbezo- 98 Karmasin/ Litschka (2008), S. 39 <?page no="46"?> 3.5 Die Kirche historisch als moralische Instanz 45 uvk.de gen wird. 99 Die historische Verbundenheit von Moral und Ökonomie (Moralökonomie) löst die Neoklassik durch die Ablehnung normativer Aussagen in der Ökonomie auf. Rein wirtschaftliches Handeln ohne Berücksichtigung ethischer Grundsätze ist heute alleine schon durch die Forderung nach Nachhaltigkeit nicht mehr zeitgemäß. Diesen Kritikpunkt greift Keynes auf, indem er Produktion nur für den gesellschaftlichen Nutzen postuliert und damit wieder Moral und Ethik verknüpft. Kritisch zum Keynesianismus ist anzumerken, dass staatliche Eingriffe nicht mit zu viel Bürokratie einhergehen dürfen. Außer den erwähnten Schulen gibt es zahlreiche weitere Ansätze (z.B. Ordoliberalismus, schwedische Wohlfahrtökonomie, Chicago-Schule etc.), auf die an dieser Stelle aus konzeptionellen Gründen nicht weiter eingegangen wird. 3 3..55 DDiiee K Ki irrcchhe e h hiistto or riissc chh a al lss m mo or raal liiss c chhe e I Inns stta an nzz Traditionell wurden Kinder und Erwachsene des christlichen Kulturkreises durch die Kirche als moralisch ordnende Instanz in Wort und Schrift immer wieder zur Einhaltung der zehn Gebote und damit einer sittlichen Lebensweise aufgerufen. Heute leeren sich die Kirchen Westeuropas aufgrund sinkender Mitgliederzahlen. Gemeinden werden zusammengelegt, Kirchen und Grundstücke stehen zunehmend zum Verkauf. Dabei hören sich viele kirchliche Schriften moralisch einwandfrei und zustimmungswürdig an. So beschäftigt sich Papst Benedikt XVI. z.B. in seiner 2009 gefolgten dritten Enzyklika „caritas in veritate“ mit den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung und kritisiert den ungezügelten aktuellen Kapitalismus. 100 Die Schrift betont die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit. „Die Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre. Jede von dieser Lehre beschriebene Verantwortung und Verpflichtung geht aus der Liebe hervor, die nach den Worten Jesu die Zusammenfassung des ganzen Gesetzes ist.“ 101 Dabei kann die Liebe nur glaubwürdig auf Basis 99 Vgl. Albert (1967), S. 331-367 100 Vgl. zu diesen und den folgenden Ausführungen: Der Tagespiegel, Nr. 20313 vom 08.07.2009, S. 5 101 Benedikt XVI. (2009), S. 4 <?page no="47"?> 46 3 Wirtschaftsethik in der Historie uvk.de der Wahrheit gelebt werden. „Die Wahrheit ist ein Licht, das der Liebe Sinn und Wert verleiht. Es ist das Licht der Vernunft wie auch des Glaubens, durch das der Verstand zur natürlichen und übernatürlichen Wahrheit der Liebe gelangt: er erfasst ihre Bedeutung als Hingabe, Annahme und Gemeinschaft.“ 102 Das christliche Postulat der Nächstenliebe ist ein wichtiger Baustein für das gesellschaftliche Zusammenleben. Soziale Verantwortung basiert auf Wahrheit, Vertrauen und Liebe. Untrennbar verbunden mit der Liebe ist die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist der erste Weg der Liebe oder ihr „Mindestmaß“. „Zum einen erfordert die Liebe die Gerechtigkeit: die Anerkennung und die Achtung der legitimen Rechte der Einzelnen und der Völker.“ 103 Die Nächstenliebe prägt den Aufbau der Gesellschaft nach Recht und Gerechtigkeit. Dabei kann die Liebe über die Gerechtigkeit hinausgehen und sich vervollständigen in der Logik des Gebens und Vergebens. Besonderer Wert ist auf das Gemeinwohl zu legen. Sich für das Gemeinwohl einzusetzen, heißt einerseits die Gesamtheit der Institutionen, die das Leben rechtlich, zivil, politisch und kulturell strukturieren, zu schützen und andererseits sich ihrer zu bedienen, so dass die Polis, die Stadt, Gestalt gewinnt. Wie die Geschichte zeigt, reichen die Institutionen allein nicht aus (Welternährungsproblem, ökologische Gesundheit des Planeten), so dass zusätzlich eine freie solidarische Übernahme von Verantwortung unverzichtbar ist. 104 Ein solches solidarisches Bewusstsein umfasst z.B. die Ernährung und den Wasserzugang als allgemeines Recht aller Menschen. Ferner sollen Unterschiede im Besitztum nicht in übertriebener oder moralisch unhaltbarer Weise erfolgen und allen Zugang zur Arbeit zur Absicherung der eigenen Existenz ermöglicht werden. Dieser Appell bezieht sich weniger auf die Mittel, sondern an den Menschen selbst, sein moralisches Gewissen sowie seine persönliche und 102 Benedikt XVI. (2009), S. 6 103 Vgl. Paul VI. (1968), in Benedikt XVI. (2009), S. 9 f. 104 Vgl. Benedikt XVI. (2009), S. 18 <?page no="48"?> 3.5 Die Kirche historisch als moralische Instanz 47 uvk.de soziale Verantwortung. Die Lösung der Probleme erfordert eine neue und vertiefte Reflexion über den Sinn der Wirtschaft und ihrer Ziele. 105 Papst Benedikt XVI. benennt als aktuelles Problem, dass der tatsächlichen Abhängigkeit der Menschen und der Völker untereinander keine ausreichend ethische Wechselbeziehung von Gewissen und Verstand gegenüberstehe. Soziales Handeln verkomme häufig zum Spiel privater Interessen und Logiken der Macht. Dies führe zu zersetzenden Folgen für die Gesellschaft. Die Kirche habe hierfür keine technischen Lösungen anzubieten und beanspruche nicht, sich in die staatlichen Belange einzumischen. „Sie hat aber zu allen Zeiten und unter allen Gegebenheiten eine Sendung der Wahrheit zu erfüllen, für eine Gesellschaft, die dem Menschen und seiner Würde und Berufung gerecht wird.“ 106 Ziel sei die Verwirklichung einer echten Brüderlichkeit. 107 Der global gewordene Markt habe einen Wettstreit unter Staaten angeregt, der darauf abziele, mit Mitteln wie günstigeren Steuersätzen Produktionszentren anzuziehen. Die Suche nach größeren Wettbewerbsvorteilen führe zu einer Reduzierung der sozialen Sicherungsnetze. Alle, insbesondere die Regierenden, werden von Paul XVI. daran erinnert, dass der Mensch als Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft das erste zu schützende und zu nutzende Kapital ist. 108 Das Wirtschaftsleben solle auf das Gemeinwohl ausgerichtet sein. Die Wirtschafts- und Finanzkrise zeige, dass traditionelle sozialethische Prinzipien wie Transparenz, Ehrlichkeit und Verantwortung nicht geschwächt oder vernachlässigt werden dürfen. 109 Investitionen hätten neben einer wirtschaftlichen auch eine soziale Bedeutung. Die Globalisierung sei ein vielschichtiges polyvalentes Phänomen, das a priori weder gut noch schlecht sei, sondern das, was die Menschheit 105 Vgl. Johannes Paul II. (2000) in Benedici XI., S. 56 106 Benedikt XVI. (2009), S. 14 107 Vgl. Benedikt XVI. (2009), S. 32 108 Vgl. Benedikt XVI. (2009), S. 42 109 Vgl. ebd., S. 65 f. <?page no="49"?> 48 3 Wirtschaftsethik in der Historie uvk.de daraus mache. 110 Laut Paulus XVI. kann eine Verlagerung ins Ausland Gutes bewirken, wenn für die Bevölkerung des entsprechenden Landes dadurch Gutes bewirkt wird. Nicht zulässig bezeichnet er Auslagerungen, um von bestimmten Begünstigungen zu profitieren und daher keinen Beitrag für die Gesellschaft vor Ort zu leisten oder sie sogar auszubeuten. 111 Gewerkschaften sollten auch die Bedürfnisse der Nichtmitglieder und der Arbeitnehmer in Entwicklungsländern im Blick haben, deren Rechte oft verletzt würden. Weltweite Vernetzung, technischer Fortschritt und das Streben nach Gewinn seien a priori weder gut noch schlecht. Vielmehr komme es darauf an, was der Mensch daraus mache. Zu übersehen, dass der Mensch eine zum Bösen geneigte Natur hat, führe zu schlimmen Irrtümern. Die Menschen dürfen nicht Opfer sein, sondern müssen Gestalter werden, indem sie mit Vernunft vorgehen und uns von der Liebe und von der Wahrheit leiten lassen. 112 Viele Menschen neigen zu der Anmaßung, niemanden außer sich selbst etwas schuldig zu sein. Individualrechte werden verrückt in eine grenzenlose Spirale von Ansprüchen. Die Übertreibung der Rechte führe zu einer Vernachlässigung von Pflichten. 113 Deshalb bedürfe es eines moralischen und ethischen Fundaments. Hierzu müsse sich das Verständnis der Unternehmer tiefgreifend ändern. Anstelle einer einseitigen Orientierung an den Hauptaktionären brauche es Unternehmer, die sich langfristig für die Tätigkeit ihres Unternehmens verantwortlich fühlen und die Bedürfnisse von Arbeitnehmern, Kunden und Lieferanten ernst nehmen. Hierzu gehört auch ein Bund zwischen Mensch und Umwelt, um eine verantwortungsvolle Steuerung gegenüber der Natur vorzunehmen. 114 „Die Verhaltensmuster, nach denen der Mensch die Umwelt behandelt, beeinflussen die Verhaltensmuster, nach denen er sich selbst behandelt, und umgekehrt.“ 115 Dies fordert unsere heute weitgehend konsumorientierte hedonistische Gesellschaft heraus, ernsthaft ihren Lebensstil zu überprüfen. Die von Wahrheit erfüllte Lie- 110 Vgl. ebd., S. 78 111 Vgl. ebd., S. 73 f. 112 Vgl. Der Tagespiegel, Nr. 20313, vom 08.07.2009, S. 5 113 Vgl. Benedikt XVI. (2009), S. 80 f. 114 Vgl. ebd., S. 95 115 Vgl. ebd., S. 96 <?page no="50"?> 3.5 Die Kirche historisch als moralische Instanz 49 uvk.de be, caritas in veritate, stellt die Basis für die Verwirklichung von sozialen und zivilen Lebensformen dar. Jeder Christ ist gefragt, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. So appellierte Papst Benedikt XVI. auch an die Eigenverantwortung der Sparer und an die Macht der Konsumenten, mit ihrer Kaufentscheidung moralische Wertungen zu treffen. 116 Auf internationaler Ebene steht die Schaffung eines größeren Zugangs zur Bildung mit an vorderster Stelle. Dabei bezieht sich der Begriff „Bildung“ nicht nur auf Kenntnisse und Fähigkeiten, die den Beruf an sich betreffen, sondern auch die moralische Erziehung. 117 Um die von der Finanzkrise betroffenen Wirtschaften zu sanieren und insgesamt die Weltwirtschaft zu steuern, bedarf es gemäß den Ausführungen Benedikts XVI. einer anerkannten politischen Weltautorität, die sich konsequent an Subsidiarität und Solidarität orientiert. Sie müsse über die Macht verfügen, für jeden Sicherheit und Gerechtigkeit zu gewährleisten. 118 Institutionen werden von Menschen getragen. Eine humanistische Entwicklung wird nicht möglich sein, ohne Wirtschaftsfachleute und Politiker, die in ihrem Gewissen den Aufruf zum Gemeinwohl nachdrücklich leben. Bei der Verbreitung dieses Gedankengutes spielen die Medien eine wichtige Rolle. 119 Zusammenfassend sprach sich Benedikt XVI. in Bezug auf die ethische Entwicklung einerseits für die Institutionalisierung einer anerkannten Weltautorität aus. Anderseits führt er aus, dass im Vordergrund nicht die Mittel, sondern der Mensch selbst stehe mit seinem moralischen Gewissen sowie seiner persönlichen und sozialen Verantwortung. Bildung müsse deshalb neben den beruflichen Aspekten auch die moralische Erziehung beinhalten. Mit 2,3 Milliarden Anhängern verfügt das Christentum über eine enorme Kraft. Vor dem Islam (1,4 Milliarden) und dem Hinduismus (890 Millio- 116 Vgl. ebd., S. 122 117 Vgl. Benedikt XVI. (2009), S. 114 118 Vgl. ebd., S. 124 119 Vgl. ebd., S. 130 ff. <?page no="51"?> 50 3 Wirtschaftsethik in der Historie uvk.de nen) bildet es die größte Religion der Erde. Es stellt sich die Frage, warum es der Kirche dennoch nicht umfassender gelingt, im Sinne ihres christlichen Humanismus zu wirken. Sie konstatiert heute selbst, dass eine wertorientierte Ausbildung der Jugendlichen mit dem Ende des Kommunionsbzw. Konfirmationsunterrichts endet. Es gelingt immer weniger, Jugendliche und Erwachsene zum Besuch von Gottesdiensten oder zur Teilnahme am christlichen Gemeindeleben zu mobilisieren. Eine Ursache liegt darin, dass sie Fragen zu ernsten bewegenden Themen (z.B. Schwangerschaftsabbruch, Rolle der Frau in kirchlichen Ämtern) offenbar für viele nicht zufriedenstellend beantworten kann und somit ihre eigene Autorität untergräbt. Aus Liebe hat Gott den Menschen eine eigene Entscheidungsfreiheit auf den Weg gegeben. Das ungeborene Leben im Leib gehört zur Mutter, der man zwar einer Geburt zuraten kann, die aber letztendlich die Autonomie über ihren Körper selbst wahren können muss. Diese Selbstbestimmung zuzulassen sowie die Gleic hberecht igung von Fraue n und H omosexuell en anzuerk ennen , versäumt die katholische Kirche und wird so unglaubwürdig in ihrer Predigt von Liebe und Brüderlichkeit. Diesen großen Aufgaben wird sich Papst Franziskus als Nachfolger Benedikts XVI. stellen müssen. Toleranz und Freiheit müssen zugelassen werden, solange nicht andere Erdenbürger geschädigt werden. Dem Problem moralischer Defizite in der heutigen Gesellschaft hat sich neben den Unternehmen, dem Staat und den Bürgern auch die Kirche zu stellen. Sie hat dem Werteverlust zu wenig entgegengesetzt und an Autorität verloren. So versagt sie zunehmend als Anker für ein gutes moralisches Leben, der vormals vielen Menschen Halt gegeben hat. Viele Menschen treten aus, weil die Suche nach Sinn und Inhalt des Lebens von der Kirche nicht hinreichend beantwortet wird. Offensichtlich gelingt es weder der katholischen noch der reformierten protestantischen Kirche, auf die geänderte Umwelt und den daraus resultierenden Bedürfnisänderungen der Menschen adäquat einzugehen. Viele Menschen haben das Gefühl, die Kirchendiener predigen Wasser und trinken selbst Wein. <?page no="52"?> 3.5 Die Kirche historisch als moralische Instanz 51 Die wichtigen christlichen Werte der Liebe, des Verzeihens, der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der Toleranz, des Dialoges und der Gemeinschaft erscheinen häufig als Worthülsen ohne ausreichende Praktizierung. Aktuelle Skandale, wie der Umgang mit pädophilen Priestern, lassen Zweifel an der beanspruchten Vorbildsfunktion der katholischen Kirche aufkommen und führen zu massivem Vertrauensverlust. Obere Kirchendiener haben ihre Vorbildfunktion eingebüßt. Das Versagen der Kirche hat ein Vakuum hinterlassen, das der Staat mit seinem Bildungsauftrag und die Bürger bislang selbst nicht ausreichend schließen konnten. <?page no="54"?> uvk.de 44 EEt th hiikk u un ndd a ak kttu ue el ll lee L Leei itti iddeee en n m mooddeer rn neen n W Wiir rt ts sc ch ha afftte en nss 4 4..11 DDiiee BBuussiinneessss EEtthhiiccss--BBeewweegguunngg iimm aannggllooaammeerriikkaannii-sscchheenn RRaauumm Im angloamerikanischen Raum existieren zum Diskurs über Wirtschaft und Ethik im Wesentlichen zwei Strömungen. Im ersten Bereich erörtern Ökonomen und andere Sozialwissenschaftler ihre Sicht ethischer Probleme in der Ökonomik allgemein (Ethics and Economics). Im zweiten Bereich steht die Diskussion unternehmensbezogener ethischer Fragen (Business Ethics) im Mittelpunkt. Den übergreifenden Begriff „Wirtschaftsethik“, wie in Kontinentaleuropa, gibt es nicht direkt. Allerdings werden im Rahmen von Business Ethics durchaus Fragen allgemeiner wirtschaftsethischer Natur betrachtet, jedoch meist aus Unternehmenssicht. In den USA können nach De George 120 drei Phasen in der Entwicklung von Business Ethics unterschieden werden. [1] Vor 1960: Analyse allgemeiner ethischer Konzepte innerhalb des Wirtschaftssystems mit dem Fokus der Verbesserung der Lebensbedingungen für Arme, ohne die Kreierung einer eigenständigen Disziplin. [2] Bis 1970: Aufgrund dringlicher werdender sozialer Probleme werden in Hochschulen erste Kurse über soziale Fragen des Wirtschaftens mit dem Schwerpunkt auf Legalitätsfragen angeboten. [3] Nach 1970: Entwicklung der Disziplin „Unternehmensethik“ durch das Eingeständnis einer wachsenden moralischen Krise. Als Ausgangspunkte dieser Krise werden im Wesentlichen genannt: Eskalierende Skandale, die rapid steigende urbane Kriminalität, mangelnde soziale Sicherungssysteme, eine unbefriedigende Leistung des Ausbildungssystems und die Inkompatibilität multikultureller Wertsysteme. 121 Inhalte, wie z.B. Fragen zur moralischen Verantwortung, Stakeholderansätze und Ethik-Kodizes werden bis heute diskutiert. 122 120 Vgl. Karmasin/ Litschka (2008), S. 29 121 Vgl. Kreikebaum/ Behnam/ Gilbert (2001), S. 15 122 Vgl. Karmasin/ Litschka (2008), S. 29 f. <?page no="55"?> 54 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de In den letzten Jahren ist die Beschäftigung mit Business Ethics stetig gewachsen. Als Folge dieser intensiven Beschäftigung gibt es eine Vielzahl von Vorstellungen über den Gegenstand und Zweck von Business Ethics, ohne dass bisher ein wissenschaftlich zusammenhängendes Fachgebiet entstanden ist. Kennzeichnend ist eine hohe pragmatische Orientierung. Einen Schwerpunkt bilden die individuell-personale Mikroebene und die organisationale Handlungsebene (Mesoebene). Die gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Ebene (Makroebene) findet hier weniger Beachtung. Hof fm an / Mil ls M oo re d efin ie ren „ Bu sin ess eth ics is a br un ch o f applied ethics; it studies the relationship of what is good and right to business.“ Business Ethics wird beschrieben als Teilgebiet der angewandten Ethik, das Auskunft darüber gibt, was gut und richtig im Unternehmensbereich ist. Die meisten Ansätze (McCoy: Management of Values, Goodpaster: Ethics of Organization, Velasquez: Moral Rights, Epstein: Corporate Social Policy Process u.a.) 123 machen deutlich, dass staatliche Regulierungen alleine nicht ausreichen, und betonen die Notwendigkeit, moralische Wertvorstellungen zu analysieren und ein abgeleitetes Wertsystem in die Entscheidungsfindung im Unternehmen zu integrieren. In vielen Ethikprogrammen lassen sich die folgenden Bausteine wiederfinden: Code of Ethics: Unternehme nsspezifisches Wertsystem Ethi cs Committee of the Board of Directors: Steuerung von Ethikfragen auf höchster Ebene Corporate Business Office: zuständig für die Umsetzung des Code of Ethi cs auf allen hierarchischen Eb enen Ethic Trainings and Audit Programs: Schulung des ethischen Wissens Ethic Hotline: anonyme Ansprechmöglichkeit bei allen Fragen zum Thema Ethik und potentiellen Verstößen. Einen Vorschlag zur Rechtfertigung von Ungleichheiten in Demokratien stellt Robert Audi 124 dar. Er führt aus, dass die Rolle von Unternehmen 123 Vgl. Kreikebaum/ Behnam/ Gilbert (2001), S. 19 ff. 124 Vgl. Audi (2009), S. 20 <?page no="56"?> 4.1 Die Business Ethics-Bewegung im angloamerikanischen Raum 55 uvk.de in Demokratien als oberstes Moralprinzip sich danach richten sollte, Glück soweit wie möglich zu optimieren, ohne Ungerechtigkeit walten zu lassen oder die Freiheit anderer einzuschränken (pluralist universalism). Die Werte Gerechtigkeit und Freiheit stehen dabei über dem des Glücks. Daraus kann einerseits abgeleitet werden, als Freiheitsrecht eigene Gewinne vollständig zu behalten, ohne etwas für das Allgemeinwohl zu tun. Andererseits fordern alle Moraltheorien, mehr Gutes zu tun als man muss, um zu vermeiden, dass Rechte anderer eingeschränkt werden. Hier treten Werte wie Großmut und Wohltätigkeit mit in den Fokus. 125 Den wichtigsten aktuellen Beitrag zur politischen Ethik des 20. Jahrhunderts im englischen Sprachraum oder sogar weltweit entwickelte John Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit. Die Theorie der Gerechtigkeit stellt primär eine politische Theorie über die Ausgestaltungsprinzipien einer Verfassung dar. Sie bezieht sich also auf den allgemeinen wirtschaftlichen Bereich (Ethics and Economics) und ist nicht direkt unternehmensbezogen. Rawls zielt nicht auf eine letztbegründete Moraltheorie ab, sondern entwickelt ein Konzept der politisch-sozialen Grundordnung auf dem Prinzip der Gleichheit. 126 Seine Theorie stellt eine Form des politischen Liberalismus dar, die versucht, „eine Gruppe überaus bedeutender (moralischer) Werte zu artikulieren, die sich charakteristischerweise auf die politischen und sozialen Institutionen der Grundstruktur beziehen.“ 127 Rawls sucht nach Prinzipien, die für eine demokratische Gesellschaft am geeignetsten sind, um Fairness sicherzustellen. 128 Seine Konzeption dient ausschließlich dem Spezialfall einer modernen demokratischen Gesellschaft und verfügt deshalb über eine geringere Reichweite als etwa der Utilitarismus, da sie sich mit der Konzentration auf das Politische nur mit einem Teilbereich der Moral befasst. 129 125 Vgl. ebd., S. 21 126 Vgl. Rawls (2006), S. 33, 37 127 ebd., S. 74 128 ebd., S. 73 129 ebd., S. 37 f. <?page no="57"?> 56 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de John Rawls legt die Vorstellung der Gesellschaft als einer fairen und langfristig von einer Generation zur anderen fortwirkenden Kooperation zugrunde. 130 Diese Kooperation wird geprägt durch den angenommenen Urzustand mit dem „Schleier des Nichtwissens“ (veil of ignorance). Im Urzustand verdeckt der hypothetische Schleier des Nichtwissens für alle Beteiligten die eigene soziale Stellung, die ethnische Gruppenzugehörigkeit, das Geschlecht, die Stärke und die Intelligenz. 131 Auf diese Weise werden Eigeninteressen der Beteiligten ausgeschlossen. Die soziale Kooperation prägen im Wesentlichen die folgenden drei Merkmale: 132 Die soziale Kooperation wird durch öffentlich anerkannte Regeln und Verfa hren geleitet, die von den Kooperierenden akzeptiert werden. Es gelten faire Modalitäten der Zusammenarbeit, d.h. es muss eine Reziprozität dahingehend herrschen, dass allen, die entsprechend den Regeln Beiträge leisten, auch entsprechende Nutzen gewährt werden. Zur sozialen Kooperation gehört auch die Vorstellung des rationalen Vorteils oder Wohls jedes Beteiligten. Die Kooperationspartner befinden sich in einem hypothetischen nichthistorischen Urzustand. 133 Sie sind freie Wesen und verfügen über eine Anlage zum Gerechtigkeitssinn sowie zur Vorstellung vom Guten. 134 Rawls führt aus, dass viele der gravierenden Konflikte unser eigenes Inneres betreffen. „Diejenigen, die meinen, ihre Urteile seien stets widerspruchsfrei, sind unreflektierte oder dogmatische Menschen; nicht selten handelt es sich um Ideologen und Fanatiker.“ 135 Hier stellt sich die Frage, wie eigene wohlerwogene Urteile über politische Gerechtigkeit in sich stimmiger werden und mit wohlerwogenen Urteilen anderer besser in 130 ebd., S. 25 131 ebd., S. 40 132 Vgl. Rawls (2006), S. 26 133 Vgl. ebd., S. 41 134 Vgl. ebd., S. 44 135 Vgl. ebd., S. 60 <?page no="58"?> 4.1 Die Business Ethics-Bewegung im angloamerikanischen Raum 57 uvk.de Einklang zu bringen sind. Zu den Hindernissen gehören z.B. die Tatsachen, dass Belege widersprüchlich und komplex seien und Gesamterfahrungen differieren können. 136 Gesucht wird ein Weg zu einem vernünftigen übergreifenden Konsens. 137 Diesen Weg ebnen die beiden folgenden aufgestellten Gerechtigkeitsprinzipien Rawls: 138 Jede Person hat einen Anspruch auf die gleichen Grundfreiheiten. Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind nur akzeptabel, wenn die dazu führenden Ämter und Positionen unter der Bedingung der fairen Chancengleichheit allen offen stehen und die am wenigsten Begünstigten der Gesellschaft den größten Vorteil daraus erzielen (Differenzprinzip). Beide Prinzipien artikulieren politische Werte. Als Bespiel für Verteilungsgerechtigkeit nennt Rawls die Anwerbungsregel aus dem amerikanischen Basketball, nach der Mannschaften in der umgekehrten Gewinnerrei he nf ol ge zu m Zu ge ko mm en. Die Sieg er ko mm en al so be i de r Anw er bung neuer Spieler für die nächste Saison als letzte ran. Diese Regel stellt sicher, dass jede Mannschaft der obersten Liga Jahr für Jahr ein anständiges Spiel liefern kann. 139 Je mehr die Bürger einsehen, dass ihre politische Gesellschaft sowohl für sie selbst als auch für das Kollektiv ein hohes Gut ist, desto weniger werden sie anfällig sein für Neid, Gehässigkeit, Herrschsucht und die Versuchung, anderen die ihnen gebührende Gerechtigkeit vorzuenthalten. 140 Demnach ist eine wohlgeordnete Gesellschaft nach Rawls stabil, weil ihre Bürger mit der Grundstruktur ihrer Gesellschaft zufrieden sind. Im Rahmen eines Experiments nach Fröhlich/ Oppenheimer wurde 1992 141 ein konkretes Experiment zur Überprüfung von Rawls Diffe- 136 Vgl. ebd., S. 68 137 Vgl. ebd., S. 64 138 Vgl. ebd., S. 78 139 Vgl. ebd., S. 90 140 Vgl. ebd., S. 307 f. 141 Vgl. Irlenbusch (2003), S. 356-358 <?page no="59"?> 58 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens renzprinzip in seiner Theorie durchgeführt. Hierbei gab es mehrere Versuchsgruppen mit je fünf Personen, die sich unter dem Schleier des Nichtwissens im Konsens zwischen den vier folgenden Verteilungsprinzipien zu entscheiden hatten: [1] Maximierung des geringsten Einkommens [2] Maximierung des Durchschnittseinkommens [3] Maximierung des Durchschnittseinkommens bei Gewährleistung eines Mindesteinkommens [4] Maximierung des Durchschnitteinkommens bei einem maximalen Unterschied zwischen höchstem und niedrigstem Einkommen. Alle Versuchsgruppen erzielten einen Konsens. Dabei wurde zumeist Nr. [3] ausgewählt (86 %) und damit nicht die von Rawls postulierte Nr. [1], die nie gewählt wurde. An dem dargestellten Experiment wird deutlich, dass Rawls in seiner Theorie mit dem Differenzprinzip im Urzustand (zu) hohe Ansprüche an die Beteiligten stellt. Selbst unter dem Schleier des Nichtwissens wird die Maximierung des geringsten Einkommens nicht gewählt. Dem liegt möglicherweise das Empfinden der Teilnehmer zugrunde, dass Einkommen auch leistungsabhängig sein sollte. Mit seiner Theorie der Gerechtigkeit hat John Rawls einen wichtigen Grundstein zu der Frage gelegt, wie in einer modernen Demokratie eine gerechte Verfassung entwickelt werden könnte. Eine vollständige Übertragbarkeit auf andere Institutionen oder Organisationen ist nicht möglich und war auch nicht angestrebt. <?page no="60"?> uvk.de 44..22 OOrrddnnuunng gsseet thhiikk nnaacchh HHoomma annnn 44..22..11 UUrrssaacchheenn ffüürr mmoorraalliisscchheess HHaannddeellnn Nach Homann/ Lütge 142 lassen sich zwei Auffassungen über Ethik unterscheiden: Einerseits wird die Meinung vertreten, Wirtschaftsethik sei eine Ethik für die Wirtschaft und damit eine unter vielen „Bindestrich- Ethiken“, wie z.B. Medizin-, Umwelt-, Sport-, Medien- oder Bio-Ethik. Die andere Richtung, der Homann/ Lütge verbunden sind, versteht Ethik übergeordnet als „allgemeine Ethik mit ökonomischer Methode“. Dieser Ansatz bietet für sie den Vorteil, dass er sich mit dem Gegenstand der „Moral“ sowie der Begründung und Implementierung von Normen auseinandersetzt. Er hält eine grundsätzliche Antwort auf die Frage der Implementierung von Ethik parat: „Menschen befolgen moralische Normen im Normalbetrieb moderner Gesellschaften dann und nur dann, wenn sie davon - zwar nicht im Einzelfall, aber in der Sequenz von Einzelfällen - individuelle Vorteile erwarten (können).“ 143 Dabei werden unter Vorteilen nicht nur monetäre Aspekte einbezogen, sondern auch immaterielle Bereiche wie Gesundheit, Muße oder ein gutes Leben. Den Dualismus zwischen Moral und Ökonomie beantworten die Autoren mit einem klaren Vorrang der Moral bzw. der Notwendigkeit einer graduellen Domestizierung der Ökonomie. Eine Domestizierung erweist sich insofern als schwierig, als das sie für moralisch Handelnde die Gefahr von finanziellen Einbußen birgt. Der von Homann/ Lütge verfolgte Ansatz vermeidet die Dualität zwischen Moral und Ökonomie, indem er die Ökonomik als Fortsetzung der Ethik betrachtet. Dabei muss die Ethik jedem zeigen, dass die Befolgung moralischer Normen, zwar nicht in jedem Einzelfall, aber in der Gesamtheit individuelle Vorteile erwarten lässt. 144 Nach Meinung der Autoren bieten Marktwirtschaft und Wettbewerb generell der breiten Masse eine Besserstellung, so dass sie als moralisch gut im Sinne einer teleologischen Ethik betrachtet werden können. 145 Dabei auftauchende Fehlentwicklungen, wie Ausbeutung oder 142 Homann/ Lütge (2005), S. 19 143 ebd., S. 20 144 ebd., S. 22 145 Homann/ Lütge (2005), S. 21 f. <?page no="61"?> 60 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de Diskriminierung, gehen nach ihrer Meinung auf Defizite in der Struktur der Wirtschaft zurück. Das Grundproblem von Ethik und Marktwirtschaft besteht nach Homann darin, dass ein Individuum oder Unternehmen in Nachteil kommt, wenn es aus moralischen Gründen kostenintensivere Mehrleistungen erbringt als der Wettbewerb. Daran knüpft sich die Frage, ob damit Humanität und Solidarität in einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft keine Chance haben, da sie systematisch ausbeutbar sind. Homannn/ Lütge verneinen, denn ihnen erscheint mög lich, d en W ettb ewe rb in d en D ienst der Solida rität aller Menschen zu stellen. Dies erfolge durch eine simultane Realisierung von Wettbewerb und Moral: Moral wird in die Handlungsbedingungen, also Spielregeln integriert, während der Wettbewerb sich in den Handlungen bzw. Spielzügen entwickelt. Handlungen (Spielzüge) Handlungsbedingungen (Spielregeln) Ziele, Motive, Interessen Mittel o Käufe, Verkäufe o Preispolitik o Produktpolitik o Werbemaßnahmen o Konditionen o Löhne und Gehälter o Betriebsklima o etc. natürliche Bedingungen (z.B. Naturgesetze) kulturelle, gesellschaftliche Bedingungen (z.B. allg. Bil-dungsstand, Konventionen) Rahmenordnung o Verfassung o Gesetze o Wirtschaftsordnung o Wettbewerbsordnung o Justizapparat o Verwaltungsvorschriften Transaktionseigenschaften Marktbedingungen Konjunkturlage etc. Tab. 3: . Rekonstruktion von „Handeln“ (für Unternehmen) 146 146 Vgl. Homann/ Lütge (2005), S. 27 f. <?page no="62"?> 4.2 Ordnungsethik nach Homann 61 uvk.de Durch die Handlungsbedingungen bzw. Spielregeln werden alle Marktteilnehmer moralischen Standards unterworfen. Daraus folgert Homann, dass eine Reform der Wirtschaft nicht bei den Motiven oder Handlungen der Akteure ansetzen muss, sondern bei ihren Handlungsbedingungen. Moderne Wirtschaften würden über die Gestaltung der Bedingungen und nicht über eine Gestaltung ihrer Motive gesteuert. So können beispielweise Umweltschutzmaßnahmen nicht von einzelnen Unternehmen erwartet werden, wenn die übrigen nicht ebenso mitziehen müssen. Nach Homann/ Lütge sind die moralisch empörenden Entwicklungen in Dritte-Welt-Ländern nicht auf die Habgier von Unternehmen zurückzuführe n, s onde rn au f fe hlend e Handlungsbedingunge n, w ie en ts prec hend e Rahmenordnungen. Dem ist entgegenzuhalten, dass es oftmals Rahmenbedingungen gibt, die aber kriminell unterlaufen werden. Als Illustration der grundlegenden Logik von Interaktionen nutzten Homann/ Lütge das Modell des Gefangenendilemmas aus der Spieltheorie. 147 Beim Gefangenendilemma wird davon ausgegangen, dass sich bei einem einfachen Zwei-Personen-Spiel beide Teilnehmer unter den Prämissen unkooperativ verhalten, wenn sie rational und egoistisch handeln, wenn keine weiteren Aspekte von gegenseitigem Vertrauen oder Moral hinzukom men und wenn sie sich nur einmal und dann nie wieder (in dieser Situation) treffen. Modelltheoretisch wird von zwei Akteuren ausgegangen, die jeweils über zwei Strategien verfügen, nämlich kooperieren oder defektieren. 148 Es entstehen vier Interaktionsresultate, die in der folgenden Vier-Felder- Matrix dargestellt sind. Die Interaktionsresultate sind durch Zahlenkombinationen als Auszahlungen dargestellt. Die Auszahlung für A steht 147 Die Spieltheorie untersucht die strategische Interaktion zwischen vernunftbegabten Entscheidern. Als Ausgangspunkt der Spieltheorie wird die Analyse des Homo oeconomicus, insbesondere durch Bernoulli, Bertrand, Cournot (1838) betrachtet. Für spieltheoretische Arbeiten wurden bisher acht Nobelpreise vergeben, angefangen 1994 mit John Forbes Nash Jr., John Harsanyi und Reinhard Selten bis Roger B. Myerson im Jahr 2007 für ihre Forschung auf dem Gebiet der Mechanismus-Design-Theorie. 148 Aus dem Englischen „defection“ abgeleitet: betrügen, täuschen. <?page no="63"?> 62 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de vor dem Komma, die für B nach dem Komma. Das „Dilemma“ besteht bei einem Nichtnullsummenspiel darin, dass einerseits Defektion (Ablehnen der Zusammenarbeit) unter den oben genannten drei Prämissen für jeden Spieler richtig bzw. rational wäre, andererseits bei einer Kooperation der Gesamtgewinn beider maximiert werden kann (Win-win- Situation). Abb. 2: Das Gefangenendilemma in Normalform 149 In Abb. 2 zeigt sich der größte Gesamtnutzen mit jeweils drei, also gesamt sechs Auszahlungseinheiten, wenn beide kooperieren. Defektieren beide, ergibt sich für beide lediglich eine Auszahlung von jeweils zwei (gesamt: vier Auszahlungseinheiten). Wenn einer kooperiert und der andere defektiert, ist letzterer mit 4 Auszahlungen im Vorteil (gesamt: fünf Auszahlungseinheiten). Letztendlich geht es in der Gesellschaft darum, Kooperationen im Sinne von Interaktionen zu finden, die alle beteiligten Akteure besserstellen. 150 Übertragen auf ethische Überlegungen bildet der erste Quadrant die gewünschte, beide Akteure besserstellende moralische Lösung (beiderseitige Einhaltung von Umweltschutzmaßnahmen, sozialen Arbeitsbedingungen etc.). Zu beachten ist allerdings, dass Kooperationen auch unerwünscht sein können (z.B. Kartelle). In den Quadranten zwei und drei beutet einer den anderen aus bzw. einer geht in Vorleistung, der andere 149 Homann/ Lütge (2005), S. 34 150 Vgl. Homann/ Lütge (2005), S. 42 <?page no="64"?> 4.2 Ordnungsethik nach Homann 63 uvk.de nicht (z.B. beim Umweltschutz, Schonung von Fisch- und Jagdgründen, Krankenversicherung). Der vierte Quadrant deutet auf dauerhafte moral is ch e Ü bel, wi e U mw el tv er sc hmutzung oder Ar bei tslos igke it . 151 44. .22. .22 HHa annddlluunng gsseem mppffeehhl luun nggeen n ffüür r eetth hiissc chhe es s VVe er rhha al ltteen n Nach Homann/ Lütge reicht die Verständigung auf ein gemeinsames Ziel nicht aus, sondern dieses ist zusätzlich in konkrete Maßnahmen, d.h. auf einzelne Zielbeiträge, herunterzubrechen. 152 Wenn die von den Dilemmastrukturen unerwünschten sozialen Fallen vermieden werden sollen, bedarf es nach Homann/ Lütge einer Änderung des Regelsystems unserer Gesellschaft (z.B. Maßnahmen gegen Umweltverschmutzung und Kriminalität). Eine erfolgreiche Steuerung moderner Gesellschaften könne nur über Restriktionen erfolgen und nicht durch die in moralistischen Ansätzen postulierten gemeinsamen Ziel- und Präferenzbildungen. Die Autoren führen weiter aus, dass einzelne Akteure sich nur dann auf breiter Front moralisch verhalten, wenn sie vor Ausbeutung durch eine Rahmenordnung geschützt seien. Einseitige Schuldzuweisungen an Unternehmen, Gewerkschaften, Interessenverbände wären verfehlt und verschärften die Konflikte in der Gesellschaft. Egoismus und Altruismus bilden nicht die Demarkationslinie zwischen unmoralischem und moralischem Verhalten, sondern das individuelle Vorteilsstreben auf Kosten anderer (Quadranten II und III) und das individuelle Vorteilsstreben, bei dem auch für andere Vorteile entstehen (Quadrant I). Weder die christliche noch eine andere Ethik könne vom Einzelnen dauerhaftes Verstoßen gegen eigene Interessen verlangen. 153 Mahnungen zu individueller Tugend seien wegen der Dilemma- Strukturen unseriös, da sie dem Einzelnen empfehlen, sich ausbeuten zu lassen. 154 Nur pareto-superiore Regelverbesserungen, also Win-win- Situationen seien zustimmungsfähig und implementierbar. 155 Zusammen- 151 Vgl. ebd., S. 35 152 Vgl. Homann/ Lütge (2005), S. 38 153 Vgl. ebd., S. 52 154 Vgl. ebd., S. 79 155 Vgl. ebd., S. 75 <?page no="65"?> 64 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de fassend lauten Homanns Handlungsempfehlungen: 156 Akteure sollen die Rahmenordnung beachten, wobei diese möglic hst selbststeuernd ohne staatliche Eingriffe entwickelt werden sollte. Innerhalb der Spielregeln sollen die Akteure ihren Nutzen maximieren, da dieses Verhalten den Interessen anderer mehr dient als Mildtätigkeit. Entsprechend dieser beiden Empfehlungen betrachten Homann/ Lütge die Ethik als zweistufig. Auf der ersten Stufe, der Bedingungsethik, geht es um die normative Gestaltung der Bedingungen. Auf der zweiten Stufe, der Handlungsethik, stehen normative Empfehlungen für Handlungen im Fokus. Dies gelte neben der Unternehmensethik auch für andere Bereiche, wie z.B. für die Konsumethik, Medienethik, Arbeitsethik und Verbändeethik. 157 Nach der Theorie der unvollständigen Verträge 158 sind Verträge zur Regelung von Interaktionen immer unvollständig, in dem Sinne, dass Leistungen nicht exakt bestimmt sind und die Erfüllung häufig objektiv schwer messbar ist. Zu den unvollständigen Verträgen gehören z.B. Arbeits-, Dienstleistungs-, Kooperations-, Versicherungs- oder Eheverträge. Unvollständige Verträge führen einerseits zu einer erhöhten Flexibilität, andererseits zu mehr Unsicherheit und zu größeren Ausbeutungsmöglichkeiten. In dieser Lücke setzten Homann/ Lütge die Unternehmensethik an. „Eigenständiges moralisches Verhalten von Unternehmen bzw. Akteuren ist dort sinnvoll zu fordern, wo die systematische Unvollständigkeit von Verträgen kompensiert werden muss. Moral - verstanden als Fairness, Integrität, Vertrauen etc. - hat die Aufgabe, die durch unvollständige Aufträge verursachte Unsicherheit aufzufangen und die damit verbundenen Kosten von Interaktionen zu senken.“ 159 Hierzu sollen für Manager Handlungsanweisungen zum Umgang mit moralischen Ansinnen aufgestellt werden. Idealtypisch können hierbei vier Handlungssituationen unterschieden werden: 160 156 Vgl. ebd., S. 58 f. 157 Vgl. ebd., S. 82 158 Ihre Grundzüge gehen auf die Theorie unvollständiger Verträge zurück, die unter anderem Ronald Coase begründete. 159 Vgl. Homann/ Lütge (2005), S. 87 160 Vgl. ebd., S. 89 <?page no="66"?> 4.2 Ordnungsethik nach Homann 65 uvk.de [1] Positive Kompatibilität: Durch eine Handlung werden sowohl die moralische Akzeptanz als auch der (finanzielle) Unternehmenserfolg verbessert. [2] Negative Kompatibilität: Durch eine Handlung werden weder der (finanzielle) Erfolg noch die moralische Akzeptanz gestärkt. [3] Moralischer Konfliktfall: Durch eine Handlung wird der (finanzielle) Erfolg des Unternehmens gestärkt, die moralische Akzeptanz aber negativ beeinflusst. [4] Ökonomischer Konfliktfall: Durch eine Handlung wird die moralische Akzeptanz verbessert, aber der (finanzielle) Erfolg beeinträchtigt. In den vier Situationen stehen zwei Handlungsstrategien zur Auswahl: 161 [1] Die Wettbewerbsstrategie: Sie zielt auf individuelle Selbstbindung zum Zwecke der Vorteilserzielung gegenüber der Konkurrenz ab (Moral als Wettbewerbsvorteil) [2] Die ordnungspolitische Strategie: Sie zielt auf die Verhaltensbindung der Konkurrenz ab im Sinne einer kollektiven Selbstbindung. Unternehmensethisch wird von Homann eine Vorgehensweise entsprechend der folgenden Matrix empfohlen: Situation Handlungsvorschlag 1. positive Kompatibilität Wettbewerbsstrategie 2. negative Kompatibilität Austritt aus dem Markt 3. moralischer Konfliktfall ordnungspolitische Strategie 4. ökonomischer Konfliktfall Wettbewerbsstrategie oder ordnungspolitische Strategie Tab. 4: Strategieempfehlungen für Handlungssituationen nach Homann 162 161 Vgl. ebd., S. 89 f. 162 Vgl. Homann/ Lütge (2005), S. 90 <?page no="67"?> 66 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de Aufgrund der Komplexität der modernen Welt verlieren konkrete Handlungsanweisungen an Gewicht. Hier setzt nach Homann/ Lütge eine moderne Ethik an, die den Prozess der moralischen Entscheidungsfindung fokussiert. Ziel sei es, durch reflexive Gestaltung des Prozesses auf mittlere und lange Sicht bessere Entscheidungen zu generieren. Moral sei so ein systematischer Lernprozess. Es erfolge eine Umstellung von der Ergebnisrationalität hin zur Prozessrationalität. Vor diesem Hintergrund empfiehlt Homann, moralische Forderungen, die an ein Unternehmen gerichtet werden, in drei Schritten abzuarbeiten. Erstens geht es um die Prüfung, ob die moralische Forderung gerechtfertigt ist. Legitim sind nur Forderungen, denen alle Betroffenen zustimmen können. Da diese Zustimmung nicht in jedem Fall empirisch eingeholt werden kann, werden zur Bewertung als zweiter Schritt Ersatzbzw. Simulationsverfahren eingesetzt. Als Simulationsinstrumente dienen Konstrukte, wie z.B. die Goldene Regel, Kants kategorischen Imperativ oder J. Rawls Konzept eines „Schleiers des Nichtwissens“ 163 , hinter dem alle individuellen Interessen verschwinden (J. Rawls, J.M. Buchanan und G. Tullock). Je nach Universalisierbarkeit können die Forderungen im dritten Schritt abgewiesen oder erfüllt werden. 164 Homann/ Lütge räumen ein, dass nicht nur strikt eigeninteressierte Homines oeconomici am Werke sind, sondern auch Menschen, die moralische altruistische Präferenzen haben. Diese könnten aber unter Wettbewerbsbedingungen ihre Haltung nicht lange durchhalten. 165 Sie könnten lediglich Vorreiterfunktionen haben, bis andere selbstverpflichtend nachziehen oder bis ordnungspolitische Rahmen gesetzt werden. Es bedarf ordnungspolitischer Regeln, um vor Ausbeutung zu schützen. Da diese staatlich oder in Selbstverpflichtung aufgestellten Regelungen bekanntermaßen immer wieder unterlaufen werden und „hinterherhinken“, gelte es zusätzlich auch, die Wurzeln des Übels, nämlich unterschiedliche Moralauffassungen der Handlungsträger in Organisationen, zu beleuchten. Hierzu schlagen Homann/ Lütge vor, regulative Freiräume durch moralisch geschulte Manager ausfüllen zu lassen. Die Prüfung, ob moralischen Anliegen stattgegeben werden soll, erfolgt über die angesprochenen Simulationsinstrumente. 163 Vgl. hierzu Kap. 4.1 dieser Arbeit. 164 Vgl. Homann/ Lütge (2005), S. 94 f. 165 Vgl. ebd., S. 84 <?page no="68"?> 4.2 Ordnungsethik nach Homann 67 uvk.de Nach Homann/ Lütge 166 erreichen Unternehmen über eine individuelle Selbstbindung die Ausbildung einer Identität, die potentiellen Aktionspartnern Vertrauen signalisiert. Das Unternehmen baut Reputation auf als Kapital, welches nicht leichtfertig verspielt werden sollte. Vertrauen erspart Transaktionskosten und erhöht somit die Rendite. Unternehmen halten so moralische Grundsätze wie Integrität und Fairness auch bei Gelegenheiten zu opportunistischem Verhalten durch. Soweit zur Theorie. Sicher gibt es hierbei auch Pattsituationen, bei denen sich die Frage stellt, inwieweit dem Einzelnen zugemutet werden kann, individuelle Einzelinteressen dem Gemeinwohl unterzuordnen. In Bezug auf aktuelle Beispiele führen Homann/ Lütge vier ethische Kritikpunkte an der Globalisierung an: 167 [1] Unter Moraldumping ist die Sorge zu verstehen, dass Unternehmen ihre Produktionsstätten in Länder mit geringeren Moralstandards verlegen, um Kosten zu sparen. Hier schlagen sie die Wettbewerbsstrategie vor, im Sinne einer Selbstbindung und somit auch Investition in die Reputation (z.B. Selbstverpflichtung, keinen Kinderarbeit in eigenen Produktionsstätten oder Zulieferbetrieben). [2] Unter Demokratiedumping wird die Befürchtung verstanden, Unternehmensaktivitäten in Länder ohne Demokratie zu verlagern. Auch hier werden wettbewerbsstrategische Instrumente wie Selbstkontrolle, Unternehmenskultur und Reputationsaufbau vorgeschlagen. [3] Unter Sozialdumping wird die Gefahr verstanden, dass aufgrund der Globalisierung hohe Sozialniveaus in alten Industriestaaten abgebaut werden. Der Sozialstandard kann jedoch nach Homann/ Lütge erhalten werden, wenn er an eine höhere Produktivität der Arbeit gekoppelt ist. Auch in Schwellenländern führen Produktivitätssteigerungen zu erhöhten Erwartungen an soziale Sicherungssysteme. Soziale Sicherungssysteme beinhalten einen vorübergehenden Konsumverzicht und das Vertrauen, später auch an den Früchten 166 Vgl. ebd., S. 110 f. 167 Vgl. Homann/ Lütge (2005), S. 114 ff. <?page no="69"?> 68 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de dieser Investition beteiligt zu sein. An dieser Stelle haben viele Global Player noch Nachholbedarf, wenn es z.B. trotz hervorragender Gewinnsituation zu Massenentlassungen kommt. [4] Unter Wettbewerbsdumping ist die gegenwärtige Tendenz zu verstehen, dass sich immer mehr Unternehmen zusammenschließen. Vor mehr oder weniger feindlichen Übernahmen sind nur die wenigsten Unternehmen geschützt. Hier muss die Ordnungspolitik ansetzen. In den USA haben amerikanische Gerichte teilweise die Zerschlagung des Imperiums von Bill Gates verlangt. Die Globalisierung zeigt laut Homann/ Lütge, dass nationale ordnungspolitische Maßnahmen nicht ausreichen, und erfordert zum einen die Implementierung einer Weltrahmenordnung, die auf die neuen Interaktionsbedingungen zugeschnitten ist. Zum anderen gilt es, betroffene Menschen besser über die grundlegenden Funktionszusammenhänge der modernen Wirtschaft und ihre Auswirkungen aufzuklären, damit sie ggf. Einspruch bzw. Widerstand leisten können. Bei der Begegnung von verschiedenen Kulturen schlagen Homann/ Lütge einen Mittelweg zwischen Universalismus (Übertragung der westlichen Moralstandards wie Menschenrechte, Demokratie, Gleichberechtigung) und dem Relativismus (kritiklose Anpassung an Sitten und Normen der Gastländer) vor. Dieser findet sich im sogenannten Kulturalismus wieder. Die praktische Empfehlung lautet hier, sich ohne Besserwisserei auf kulturelle gemeinsame Lernprozesse einzulassen. Die Entwicklung der westlichen Moralstandards erfolgte auch nicht über Nacht, sondern entwickelte sich mit vielen furchtbaren Rückschlägen über Jahrhunderte hinweg. Durch vorbildliche Taten und nicht durch Predigten können westliche Länder hier einen Beitrag leisten. 168 Der Ansatz von Homann/ Lütge bezieht sich auf die allgemeinen Bedingungen der Implementierung moralischer Normen und Ideale in modernen Wirtschaften. Er versteht sich komplementär zu der Governance- Ethik von Wieland, die auf die Umsetzung im Managementprozess abzielt. Die Governance-Ethik nutzt als Instrument Ethik-Management-Systeme. Diese geben einer Organisation durch Selbstbeschreibung Identität, Selbstbindung und Erwartungssicherheit gegenüber Partnern. Das von Wieland dargelegte Ethik-Managementsystem verläuft in vier Stufen: 168 Vgl. Homann/ Lütge (2005), S. 118 f. <?page no="70"?> 4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich 69 uvk.de Zunächst erfolgt die Kodifizierung, die die Unternehmenswerte festlegt. Im folgenden zweiten Schritt werden im Rahmen der Unternehmenskommunikation die Unternehmenswerte dialogisch verbreitet. Drittens geht es um die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen (Compliance-Programm) die einhergeht mit der Entwicklung von Verhaltensstandards, Ethik-Schu lungen und einer systematischen Ethikkontrolle (interne und externe Audits). Der vier te und letzte Schritt beinhaltet die Implementierung, zu der beispielsweise die Einrichtung eines Compliance Offices und die Betreuung des Werteprogramms gehören. Hom ann/ Lütge arbeiten in ihrem Ansatz heraus, dass der Staat die richtigen Rahmenbedingungen (Spielregeln) schaffen muss, damit Unternehmen moralisch in ihren Spielzügen agieren. Da jedoch nicht alle Situationen vorab geregelt werden können, ist zusätzlich das individuelle Moralbewusstsein gefragt. Entgegen der umstrittenen Grundannahme der Autoren, der Mensch handele grundsätzlich dauerhaft nur im Eigeninteresse, wird durch das nachgeschobene erforderliche individuelle Moralbewußssein für ungeregelte Sachverhalte doch noch an ethische Werte angeknüpft, die über das bloße Eigeninteresse hinausgehen. 44..33 DDi ie e IInnt teeggr ra at ti iv vee WWiir rttssc ch ha affttsseetthhiikk n na ac chh UUllrri ic chh In Theorie und Praxis der modernen Marktwirtschaft zeigt sich laut Ulrich 169 zunehmend ein Widerspruch im Hinblick auf die Leitidee des guten gerechten Zusammenlebens der Menschen. Die Schere öffne sich verstärkt zwischen Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und einem immer härteren Leistungsdruck auf der anderen Seite. Die moderne Marktwirtschaft schafft es offensichtlich trotz rasanter Erhöhungen der Produktivität nicht, ein menschenwürdiges Leben für alle zu schaffen. Immer mehr Menschen beginnen daher an dem zunehmend eigendynamisch wirkenden Rationalisierungsprozess zu zweifeln. Nicht der Markt, 169 Vgl. Ulrich (2008), S. 11 f. <?page no="71"?> 70 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de sondern die Bürger verdienen es, in einer modernen Gesellschaft frei zu sein. Die Marktwirtschaft bedarf deshalb gemäß Ulrich einer „Zivilisierung“. Es gilt das Verhältnis zwischen ökonomischer Sachlogik und ethischer Vernunft von Grund auf zu klären und in zukunftsfähiger, lebensdienlicher Weise neu zu bestimmen. 44..33..11 MMoorraalliittäätt uunndd öökkoonnoommiisscchhee RRaattiioonnaalliittäätt Da sich die reine Ökonomik paradigmatisch nur wertfrei mit der ökonomischen Rationalität befasst, bedarf es nach Ulrich 170 der Interdisziplin „Wirtschaftsethik“. Eine Vernunftethik des Wirtschaftens, die sich als integrative Wirtschaftsethik versteht, soll einen Beitrag zur Bildung mündiger Wirtschaftsbürger leisten. Sie umfasst eine vorbehaltlose und allseitige Ideologiekritik. In seinem Denkansatz legt Ulrich zunächst einen Schwerpunkt auf die Begründung des vernuftethischen Standpunkts der Moral. 171 Hierbei hinterfragt er den Sinn des Wirtschaftens und des guten Lebens. Er führt moralische Grundrechte als ethisch politische Legitimationsbasis an. Im Ökonomismus werden zwei Erscheinungsformen unterschieden: die empirische Variante: korrektive Wirtschaftsethik (Sachzwangdenken/ angewandte Ethik: Wertfreiheit der Ökonomik mit Ethik als „Gegengift“ gegen zu viel ökonomische Rationalität), die normative Variante: funktionalistische Wirtschaftsethik (normative Ökonomik: Nutzung von Moral für ökonomische Interessen). Der erste Ansatz, die empirische Variante, geht von der Vorstellung aus, die Wirtschaft wäre noch ein von der Ethik unberührter Bereich, in den es erst gelte, Moral hineinzubringen. Einerseits wird postuliert, dass Ethik bei vollständiger Konkurrenz überflüssig sei, andererseits bei Marktversagen korrektiv wirtschaftsethisch einzugreifen habe. Es stellt sich die Frage, wie ethikfrei, losgelöst von allen lebenspraktischen Wertgesichtspunkten, beurteilt werden kann, wann die Marktsteuerung gut funktioniert und wann Ökonomieversagen vorliegt. Der korrektive Ansatz als Konsequenz der angewandten Wirtschaftsethik bleibt hierauf eine Antwort schuldig. 172 170 Vgl. Ulrich (2008), S. 12 f. 171 vgl. hierzu auch Kap. 7.3 dieser Arbeit: Entwicklungsstufen der Moral. 172 Vgl. Ulrich (2008), S. 111 f. <?page no="72"?> 4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich 71 uvk.de Nach Ulrich wird hier übersehen, dass in dem Postulat der ökonomischen Rationalität in sich selbst schon ein normativer Geltungsanspruch der „richtigen“ Wirtschaftsgestaltung zugrunde liegt. Ethik bietet nicht anwendbares Verfügungswissen als Sozialtechnik für gute Zwecke, sondern kritisch normatives Orientierungswissen. 173 Die Problematik des Wirtschaftens umfasst immer eine ethische und eine technische Rationalitätsdimension. Einerseits geht es um die Bestimmung ethisch vernünftiger (legitimer) Zwecke und Grundsätze des Wirtschaftens angesichts alternativer Nutzungsmöglichkeiten knapper Ressourcen, andererseits um den zweckrationalen (effizienten) Einsatz im Hinblick auf geklärte bewertete Zwecke. 174 Der zweite, normative Ansatz hält sowohl an dem traditionellen reinen Rationalitätsprinzip fest und dem Gedanken, in einer Realwirtschaft empirische Zusammenhänge zu erklären, als auch an einer Idealtheorie rationalen wirtschaftlichen Handelns, die zugleich die normative Handlungsorientierung integriert. Hier wird davon ausgegangen, dass in der „reinen“ Ökonomik noch normative Restmomente stecken. Dieser Ansatz, Wirtschaftsethik als angewandte Ökonomik zu konzipieren, wird am konsequentesten von Karl Homann verfolgt. Hierbei lassen sich wiederum zwei Denkweisen unterscheiden. [a] Erklärung von „moralischem“ Verhalten statt Wirtschaftsethik Moral wird unter der Kosten-Nutzen-Perspektive ökonomisch rationaler Wirtschaftssubjekte betrachtet. Die Anführungszeichen in der Überschrift weisen nach Ulrich darauf hin, dass Moral nicht durch moralexterne Gründe erklärt und nicht vom guten Willen einer Person abgelöst werden kann. 175 Bei diesem Ansatz ginge es nicht um die interne Begründung moralisch motivierten Verhaltens, sondern um die Prognose und sozialtechnische Nutzung seiner Wirkungen. Moral wird als kulturell vermittelter funktionaler Problemlösungsmechanismus zur Bewältigung sozioökonomischer Steuerungsprobleme in einer Gesellschaft betrachtet. Als konventionelle Moral erlange sie hier intersubjektive Verbindlichkeit. Dieser Ansatz birgt die Gefahr der gezielten subjektiven Ausnutzung von „Moral“ für außermoralische 173 ebd., S. 108 174 Ulrich (2008), S. 113 175 ebd., S. 114 <?page no="73"?> 72 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de Zwecke. So kann funktionalistische Unternehmensethik auf die Steigerung von Effizienz in der Geschäftspolitik ausgerichtet sein. Scheinbar moralisches Verhalten erweist sich hier als Kostensenkungsprogramm durch die Minimierung von Transaktionskosten. Erfolgsrationales Verhalten ist nach Ulrich allenfalls als moralanaloges Verhalten zu verstehen, das sich für Handlungsträger subjektiv rechnet. Moral verursache hingegen subjektiv mehr Kosten als Nutzen. Hier ist also nicht von Wirtschaftsethik zu sprechen, sondern allenfalls von einer Sozialtechnik für „gute Zwecke“, die hinterfragbar sind. 176 b) Normative Ökonomik als Wirtschaftsethik Bei dieser Variante erfolgt die Moralbegründung aus Interessen der einzelnen Beteiligten. Laut Ulrich 177 wird hier nicht vorbehaltlos nach den ethischen Bedingungen gefragt, unter denen das marktwirtschaftliche System legitimerweise funktionieren soll. Über die Verfolgung privater Eigeninteressen hinaus wird die Frage nach grundlegenden normativen Orientierungen nicht ausreichend beantwortet. 178 Ulrich kritisiert hier die Verkürzung auf jene Normen und Ideale, die „ökonomisch“ zur Geltung gebracht werden können. Faktisch geben Individuen Präferenzen selbst, die nicht weiter normativ hinterfr agbar sein müssen. Statt vorbehaltlos nach den ethischen Bedingungen zu suchen, unter denen ein marktwirtschaftliches System legitimerweise funktionieren soll, werden individuelle Präferenzen als Grundnorm zur Geltung gebracht. Genau vor dieser Grundnorm finde ein Reflexionsstopp statt, da nicht weiter nach deren Legitimation geforscht werde. Aus der vorangegangenen Kritik entwickelt Ulrich als dritte Variante den integrativen Ansatz, in dem er versucht, den Reflexionsstopp vor den empirischen Bedingungen strategischer Selbstbehauptung (angewandte Ethik) und den idealökonomischen Bedingungen des normativen Individualismus (normative Ökonomik) zu öffnen. 176 Vgl. Ulrich (2008), S. 117 f. 177 Vgl. ebd., S. 123 178 Vgl. ebd., S. 119 f. <?page no="74"?> 4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich 73 uvk.de Für Ulrich ist der kantianische Weg zur moralisch autonomen, mündigen und verantwortungsfähigen Person der eindeutige Weg der Vernunftethik. Dabei ist Normativität nicht die Kehrseite der Rationalität, sondern deren Fundament. Der Ansatzpunkt zur Integration von ökonomischer Rationalität und ethischer Vernunft liegt für Ulrich in der Erkenntnis, dass der moralische oder ethische Charakter nicht zum rationalen Charakter einer Handlung sekundär dazukommt, sondern in sich selbst steckt. Es geht um die ph il os oph isch ethische Grun dlegung einer erw eit erten Idee ökonomischer Rationalität, die in sich schon ethisch gehaltvoll ist. Als integrative regulative Idee dient sie dem vernünftigen Wirtschaften. 179 Zu der Frage, was vernünftig sei, führt Ulrich aus, dass als ökonomisch vernünftig Handlungen gelten, die nicht nur für den Handlungsträger selbst effizient, sondern für alle Betroffenen vertretbar sind. „Als sozialökonomisch rational kann jede Handlung oder jede Institution gelten, die freie und mündige Bürger in der vernunftgeleiteten Verständigung unter allen Betroffenen als legitime Form der Wertschöpfung bestimmt haben (könnten).“ 180 Wieweit moralisches Handeln zugemutet werden kann, das gegen eigene Interessen verstößt und damit die Inkaufnahme persönlicher wirtschaftlicher Nachteile verbunden ist, kann nur auf kritisch normativem Weg unter Abwägung aller konfligierenden Interessen abgewogen werden. 181 179 Vgl. Ulrich (2008), S. 127 ff. 180 ebd., S. 132 181 Vgl. ebd., S. 167 <?page no="75"?> 74 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de 44..33..22 PPeerrssöönnlliicchhee SSiinnnnffiinndduunngg Ulrich 182 stellt fest, dass es zwei Gruppen von Menschen gibt: Die erste Gruppe, die sogenannten „Selbstbegrenzer“, verfolgen einen emanzipatorischen Lebensentwurf, der im Rahmen der Erarbeitung eines gewissen Wohlstandes einhergeht mit gesellschaftlich sinn- und verantwortungsvollen Tätigkeiten. Ebenso wichtig wie ein maßvoller Güterwohlstand ist ihnen ein „Zeitwohlstand“. Die zweite Gruppe, die „Unternehmer“, identifiziert sich weitgehend mit marktwirtschaftlichen Wettbewerbsstreben. Die erfolgreiche Karriere im Wettbewerb ist ihr Lebenssinn. Sie sehen Erfolgs-, Gewinn- und Nutzenmaximierung auf der einen Seite und Kostenminimierung auf der anderen. Ihr Motto lautet: je mehr, desto besser. Für die Selbstbegrenzer ist es sehr schwierig, ihren Platz in der „Mitte“ zu verfolgen. Sie unterliegen der Gefahr, zum Aussteiger zu werden und damit in eine Ökonomie der Armut zurückzufallen. Aufgrund des dominierenden Wettbewerbsdrucks in unserer Gesellschaft opfern Selbstbegrenzer mit wachsender Erfahrung häufig ihren alternativen Lebensentwurf, um gesellschaftlich nicht ganz ausgegrenzt zu werden. Die Hauptsorge vieler junger Menschen ist heute, den Einstieg in die Karriere nicht zu schaffen und somit eine wenig attraktive Lebensperspektive zu haben (z.B. Hartz IV). 183 Die aufgezeigte Asymmetrie steigt mit dem härter werdenden Wettbewerb in fortgeschrittenen Industriegesellschaften. Ein Individuum oder eine Gruppe kann sich kaum im Alleingang dieser Asymmetrie entziehen. Deshalb meint Ulrich, sei es sinnvoll, dass sich alle gemeinsam partiell aus den Zwängen des Wettbewerbs emanzipieren. Diese partielle Befreiung könnte entstehen durch 184 alternative Arbeitszeitmodelle: Verkürzung der Lebensarbeitszeit durch Zeitsouveränität bezüglich der Verteilung auf Tages-, Wochen-, Jahres- und Lebensphasen; emanzipatorische Arbeitspolitik: fortlaufende Reduktion der Arbeitszeit für alle nach Maßgabe des Produktionsfortschrittes; neue Sozialpolitik: ökonomische Grundsicherung außerhalb der 182 Vgl. Ulrich (2008), S. 240 ff. 183 Vgl. ebd., S. 240 ff. 184 Vgl. ebd., S. 246 ff. <?page no="76"?> 4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich 75 uvk.de Erwerbsarbeit (Kindheit, Bildung, Krankheit, unfreiwillige Arbeitslosigkeit, Alter). Für Ulrich ist es an der Zeit, Wirtschaften als moderne Kulturform anstatt einer sachzwanghaft eigensinnigen Systemlogik zu begreifen. 185 Wirtschaften sei eine soziale Veranstaltung. Die Entscheidung über konfligierende Ansprüche kann nach dem Machtprinzip (Recht des Stärkeren), das hier nicht weiter verfolgt werden soll, oder nach dem Moralprinzip beantwortet werden. 186 Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dem Sinn und der Legitimation für das Wirtschaften. 44..33. .33 DDiiee LLeeg giittiimmaattiioon nssffrraaggee ffüürr WWiirrtts sc chhaafft teenn uunndd ggeerre ecchhtteess ZZu ussaam m-mme ennlleeb beenn Während es bei dem Sinn des Wirtschaftens um die Frage nach dem Sinn und die Bedeutung für gutes Leben geht (welche Werte sind zu schaffen? ), steht bei der Frage nach der Legitimität des Wirtschaftens die Bedeutung des gerechten Zusammenlebens im Vordergrund (Wertschöpfung bzw. Wertvernichtung für wen? ). 187 Der Gerechtigkeitssinn selbst gefestigter moralischer Personen wird auf Dauer zermürbt, wenn das Gesellschaftsleben nicht durch allgemein anerkannte Gerechtigkeitsgrundsätze geregelt wird. Daher werden grundlegende moralische Rechte der Menschen bzw. der Bürger in modernen Staaten zunehmend auf internationaler Ebene rechtsstaatlich kodifiziert und sanktionsbewehrt. 188 Fragen der Legitimität entstehen heute, wenn große Firmen trotz hoher Gewinne ihr Personal weiter stark abbauen mit unbeachteten Folgen für die freigestellten Mitarbeiter und Steuerzahler. Es stellt sich die Frage, ob es legitim wäre, diese Firmen an sozialen Folge- 185 Vgl. Ulrich (2008), S. 249 186 Vgl. ebd., S. 251 187 Vgl. ebd., S. 252 188 Vgl. Ulrich (2008), S. 253 <?page no="77"?> 76 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de kosten zu beteiligen. Andere Unternehmen, die durch soziale Innovationen (z.B. neue Arbeitszeitmodelle) einen Beitrag zur Senkung sozialer Kosten beisteuern, könnten dagegen mit Steuervorteilen bedacht werden. 189 Allgemein anerkannt sind in den Menschenrechtskonventionen des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen drei Gruppen universaler Grundrechte: 190 [1] Meinungs-, Glaubens- und Handlungsfreiheit [2] Mitsprache in der politischen Willensbildung [3] Mindestmaß an Schutz vor existenzieller Not und sozialer Benachteiligung. Ulrich bezieht sich auf Rawls, der in seiner Gerechtigkeitstheorie die folgenden beiden Gerechtigkeitsgrundsätze für jede wohlgeordnete Gesellschaft als unerlässlich betrachtet: 191 [1] Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. [2] Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen so geschaffen sein, dass sie - unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes - den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen und mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die allen gleich offenstehen. Ulrich führt weiter die Notwendigkeit von Wirtschaftsbürgerrechten 192 als Grundlage realer Freiheit aus. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit würde es aber zu weit führen, auf die hierbei angesprochenen Themen, wie bedingungsloses Grundeinkommen, negative Einkommenssteuer, definierte Lebensarbeitszeit oder zweiter Arbeitsmarkt näher einzugehen. Letztlich gehen diese Ansätze mehr oder weniger auf Kants Vision einer weltbürgerlichen, völkerrechtlichen Grundordnung zurück. Den Kernpunkt bilden die Frage einer emanzipatorischen Leitidee der größtmöglichen Freiheit und Lebenschancen für alle mit einer Vorrangstellung vor 189 Vgl. ebd., S. 254 190 Vgl. ebd., S. 261 191 Vgl. ebd., S. 268 f. 192 Vgl. Ulrich (2008), S. 295 ff. <?page no="78"?> 4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich 77 uvk.de dem Anspruch eines „freien“ Marktes. Dem Universalitätsanspruch echter Grundrechte entspricht es, dass im Zeitalter globaler Märkte universale Bürgerwirtschaftsrechte im Fokus einer zivilisierten Wirtschaftsordnung stehen. 193 Nach den Ausführungen zu den Wirtschaftsbürger-Rechten schließt sich die Frage ihrer Pflichten an. Der Wirtschaftsbürger (Wirtschaftsbürgerethik) bildet neben dem Staat (Ordnungsethik) und den Unternehmen (Unternehmensethik) einen der drei Orte der Moral. Wirtschaftsbürger, Staat und Unternehmen repräsentieren nach Ulrich als wirtschaftsethische Topologie die drei Orte moralischen Handelns. Im Folgenden werden diese Orte der Moral beginnend mit dem Wirtschaftsbürger näher betrachtet. 44..33..44 WWiirrttsscchhaaffttssbbüürrggeerreetthhiikk Zurückgreifend auf das griechisch-antike Polis-Ideal einer Gemeinschaft von freien, gleichen wirtschaftlich unabhängigen und politisch aktiven Bürgern und die von Aristoteles bezeichnete Polis als eigentlichen Ort der moralisch sittlichen Bildung, unterstreicht Ulrich die Entfaltung der politischen Bürgertugenden im Sinne eines kultivierten erfüllten Menschseins. Dabei unterscheidet er drei Grundmodelle der Bürgertugend und Bürgergesellschaft. ökonomischer Liberalismus (Neoliberalismus) republikanischer Liberalismus (moderner Republikanismus) Kommunitarismus (klassischer Bürgerhumanismus) Konzept der Person ungebundenes Selbst (präsoziale Identität) autonomes Selbst (selbstgebundene Identität) gemeinschaftsgebundenes Selbst (soziale Identität) Freiheitsbegriff negative Freiheit (zur Verfolgung privater Zwecke) negative und positive Freiheit (zur partizipatikontextgebundene positive Freiheit (im Rahmen 193 Vgl. ebd., S. 308 <?page no="79"?> 78 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de ven Selbstbestimmung legitimer Zwecke) der kommunitären Zwecke) Konzept des Bürgers Besitzbürger (Bourgois): „Ich habe Privateigentum, also bin ich.“ Staatsbürger (Citoyen): „Ich partizipiere an der Res publica, also bin ich.“ Gemeinschaftsbürger: „Ich spüre den Gemeinschaftsgeist also bin ich.“ Bedeutung der Bürgertugend keine regulativ konstitutiv dominanter Modus der Vergesellschaftung vertraglicher Vorteilstausch (interessenbasiert) Bürgerrechte und Bürgerpflichten (gerechtigkeitsbasiert) gemeinschaftliche Konzeption des Guten (gemeinsinnbasiert) vorrangiges gesellschaftliches Ordnungsprinzip Pareto-Effizienz (Interessenausgleich unter Status-quo-Bedingungen) Gerechtigkeit (gleiche größtmögliche Freiheit aller) Wertegemeinschaft (Netzwerk von Solidargemeinschaften) Gesellschaftsideal totale Marktgesellschaft pluralistische Zivilgesellschaft wertintegrierte Zivilgesellschaft Konzept des politischen Prozesses strategische Parteienkonkurrenz um Macht im Staat (politischer „Stimmenmarkt“) öffentlicher Vernunftgebrauch gleichberechtigter Staatsbürger (deliberative Politik) förderalistische Bürgerselbstorganisation von unten nach oben (subsidiäre Politik) Ethik- Konzept ethischer Skeptizismus (Nonkognitismus) ethischer Universalismus (Kognitismus) Kulturalismus (Konventionalismus) Tab. 5: Idealtypische Grundmodelle der Bürgertugend und der Bürgergesellschaft 194 194 Ulrich (2008), S. 321 <?page no="80"?> 4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich 79 uvk.de Während im ökonomischen Liberalismus die Bedürfnisstruktur des Menschen seine Vernunft nur zur eigeninteressierten Rationalität instrumentalisiert, versteht der republikanische Liberalismus die Person als selbstinteressiertes und moralisches Wesen mit reflektierendem Eigeninteresse (Balance zwischen personaler und sozialer Identität). Der Kommunitarismus betrachtet die personale Identität zwingend als gemeinschaftsgebundenes Selbst (Unterordnung der personalen Identität unter Konformität). Da das normative Postulat der Verordnung der Gesellschaft nicht grundsätzlich vor das Individuum gestellt werden darf, verfolgt Ulrich im Weiteren den republikanischen Liberalismus. 195 Er bildet die Balance zwischen den Homo-oeconomicus-Prämissen des ökonomischen Liberalismus und den allzu idealisierten Tugenderwartungen des klassischen Bürgerhumanismus. An den republikanischen Liberalismus schließt direkt die Konzeption der deliberalen Demokratie an, die sich durch vier Leitgedanken charakterisieren lässt: 196 [1] Argumentative Präferenzklärung Politische Einstelllungen und Meinungen der Bürger sollen nicht exogen vorgegeben, sondern endogen entwickelt werden. [2] Deliberative Verfahrenslegitimation Quelle der Legitimität demokratischer Entscheidungen ist nicht die bloße Mehrheitsbestimmung, sondern die deliberative (d.h. beratschlagende) Qualität des öffentlichen Meinungsbildungsprozesses (Chance der vernünftigen politischen Debatte). [3] Konsensbasierte Dissenzregelung Aufgrund teilweise nicht überbrückbarer weltanschaulicher und politischer Uneinigkeit sollen faire verbindliche Regeln über den Umgang mit diesem Dissens entwickelt werden. 195 Vgl. Ulrich (2008), S. 322 196 Vgl. ebd., S. 339 ff. <?page no="81"?> 80 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de [4] Öffentliche Konstitution des Privaten Die rechtliche Gewährleistung legitimer Freiräume privater Interessenverfolgung ist unverzichtbar. Privat sind Aktivitäten, bei denen Sozial- und Umweltverträglichkeit gewährleistet sind. Als Minimalansprüche der republikanischen Tugend sind gemäß Ulrich 197 zu erfüllen: eine grundsätzliche Reflexionsbereitschaft der eigenen Einstellungen; grundlegende Verständigungsbereitschaft hinsichtlich fairer Grundsätze und Verfahrensregeln; Kompromissbereitschaft in Dissensbereichen hinsichtlich eines Basiskonsenses über faire Spielregeln; Legitim ationsbereitschaft, d.h. die Bereitschaft, eigenes Handeln der öffentlichen Legitimationsprüfung zu unterstellen. Aufgrund von Alltagserfahrungen, die geprägt sind von der Vertretung partialer Interessen (z.B. Lobbyismus, Korruption, Free-Rider-Strategien), zeigt sich eine allgemeine Entmutigung. Lebbare Wirtschaftsbürgertugend braucht deshalb neben allgemeinen Wettbewerbsschranken institutionelle Rückenstützen in der Wirtschaftswelt. Hierzu gehören: 198 eine staatsbürgerliche Bildung auf allen Schulstufen; die rechtliche Ausstattung mit Informations-, Kommunikations- und Klagerechten; korruptionshemmende steuer- und strafrechtliche Bestimmungen; branchenübergreifende Vereinbarungen zur kollektiven Selbstbindung; ein Ethikkodex mit klaren einschlägigen Regelungen. Gegenüber Organisationen, für die er tätig ist, wahrt der republikanische Wirtschaftsbürger eine kritische Loyalität. Beim Erkennen unethischen Verhaltens ist kollegiale Unterstützung anderer Organisationsmitglieder hilfreich. Darüber hinaus kann der Betriebsrat involviert werden. Erst wenn sämtliche interne Lösungsmöglichkeiten scheitern, sollte die Öffentlichkeit eingeschaltet werden. 199 197 Vgl. Ulrich (2008), S. 342 198 Vgl. ebd., S. 345 f. 199 Vgl. ebd., S. 352 <?page no="82"?> 4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich 81 uvk.de In einer Alltagswelt, die von glücksverheißender Werbung geprägt ist, bedarf es enormer Kraft, den allgegenwärtigen Güterangeboten und Versprechungen zu widerstehen. Auch hier helfen Rückenstützen für den Konsumentenschutz: 200 vollständige Deklaration der Zusammensetzung von Produkten; eingrenzende Werbung für noch nicht zur kritischen Distanzierung fähige Kinder; Verbot der Werbung für gesundheitsschädliche Produkte; Verbesserung der Markttransparenz bezüglich Qualitäten; glaubwürdige Gütesigel; Peer-to-Peer-Bewertungen im Internet. Im Bereich von Kapitalanlagen sollte der kritische Wirtschaftsbürger ethische Aspekte der Kapitalallokation berücksichtigen. In Anlehnung an den republikanischen Liberalismus und die deliberative Demokratie fordert Ulrich dem mündigen Wirtschaftsbürger eine grundsätzliche Reflexionsbereitschaft der eigenen Einstellung und faire Spielregeln ab. Als institutionelle Rückenstützen stellt er dem Wirtschaftsbürger Informations- Kommunikations- und Klagerechte an die Seite. Wie weit wirtschaftsbürgerliches Engagement konkret gehen soll, überlässt Ulrich ei nerse its d er s el bst ve rantw or tl ic he n Entsc hei dung mündig er Bürger. Andererseits betont er auch die Notwendigkeit einer unterstützenden Ordnungsethik. 201 44. .33. .55 OOr rd dnnu un ng gsseet th hi ikk Die Aufgabe der Politik in modernen Industriestaaten besteht darin, eine funktionsfähige menschenwürdige Ordnung zu gewährleisten. In einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft ist es eine der wichtigsten Aufgaben, den Marktprozess in faire Spielregeln einzubinden. 202 Leitende Gesichtspunkte sind dabei die Legitimität (deontologisch-ethischer Aspekt) und die Sinnhaftigkeit für menschliche Zwecke (teleologischethischer Aspekt). Die Marktlenkung soll nach Gesichtspunkten der Human,- Sozial- und Umweltverträglichkeit erfolgen, die menschenwür- 200 Vgl. Ulrich (2008), S. 356 f. 201 Vgl. ebd., S. 359 202 Vgl. Ulrich (2008), S. 361 ff. <?page no="83"?> 82 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de diges Leben fördert, auch wenn dies unter rein ökonomischen Gesichtspunkten möglicherweise mit Wohlstandsverlusten verbunden ist. 203 Darüber, dass ein absolut freier Markt (laissez faire), wie er im Paläoliberalismus vertreten ist, nicht mehr in unsere Zeit passt, herrscht in der Literatur weitgehend Konsens. Inwieweit der Staat eingreifen soll, ist jedoch noch immer heftig umstritten. Ulrich 204 stellt als weitere Hauptströmungen den Neoliberalismus und Ordoliberalismus gegenüber. Der Ordoliberalismus wird in der Literatur weitgehend als deutscher modifizierter Ableger des Neoliberalismus betrachtet, der hauptsächlich durch die Freiburger Schule 205 geprägt wurde. Neoliberalismus Ordoliberalismus Wettbewerb systemfunktionaler wirksamer (unbegrenzter) Wettbewerb ethisch-politische Vorgaben für begrenzten Wettbewerb, marktwirtschaftlicher Wettbewerb nur dort, wo vitalpolitisch zweckmäßig; Frage nach Lebensdienlichkeit Regulierung Minimum an regulierenden Maßnahmen zur Konjunktur- und Wachstumsstabilisierung Rahmenordnung auch für außerökonomische Kriterien (lebensdienliche Marktwirtschaft) 203 Vgl. ebd., S. 366 204 Vgl. ebd., S. 369 ff. 205 Als Freiburger Schule wird die Forschungs- und Lehrgemeinschaft von Ökonomen (z.B. Eucken, Röpke) und Juristen (z.B. Böhm, Großmann-Doerth) in den 1950er Jahren bezeichnet, die sich an der Universität in Freiburg zusammenfand. Sie lehnte sowohl den ungezügelten Kapitalismus als auch die Zentralverwaltungswirtschaft ab. Der von ihnen vertretene Mittelweg des Ordoliberalismus gilt als Grundlage der wirtschaftpolitischen Konzeption der sozialen Marktwirtschaft. <?page no="84"?> 4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich 83 uvk.de Liberalisierun g Entstaatlichung und Privat isie rung nicht radikale Deliberalisierung, sondern De -Monopolisierung, Funktionsbegrenzung oder Auflösung wirtschaftlicher Machtgruppen Sozialpolitik 206 Mindestmaß an staatlichem Eingriff besteht in der Gewährleistung von Chancengleichheit, Schutz des Individuums, der Verhinderung von Diskriminierung und Sicherstellung der notwendigen Rahmenbedingungen eines freien Marktes. Soziale Maßnahmen haben für den Neoliberalismus weitgehend keine Bedeutung, sie werden vielmehr als Diskriminierung derer verstanden, die nicht davon profitieren. Gleichbehandlung bei freien Märkten automatisch zu sozialer Gerechtigkeit. Wirtschaft ist Mittel, Vitalisation der Zweck „Das Maß der Wirtschaft ist der Mensch. Das Maß des Menschen ist sein Verhältnis zu Gott.“ (Wilhelm Röpke) Vertreter James M. Buchanan 207 Walter Eucken, Franz Böhm, Röpke, Rüstow Tab. 6: Vergleichende Darstellung Neo- und Ordoliberalismus 208 An dem vitalpolitischen Ansatz des Ordoliberalismus kritisiert Ulrich Widersprüche, wie z.B. Ausführungen, nach denen sich soziale Gerechtigkeit und Einkommensbildung durch strenge Regeln des Wettbewerbs 206 http: / / tiss.zdv.uni-tuebingen.de/ webroot/ sp/ barrios/ themeA2a-dt.html 207 Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1986 208 Vgl. Ulrich (2008), S. 369 ff. <?page no="85"?> 84 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de einstellen. Darüber hinaus bemängelt er die unzeitgemäße politischphilosophische Fundierung der ordnungspolitischen Konzeption und wendet sich als drittem Weg der deliberativen Ordnungspolitik zu. 209 Gemäß des im vorangegangenen Kapitel entwickelten republikanischliberalen Verständnisses, sollte eine vorgelagerte vernunftethische Ordnungspolitik den Markt regulieren. 210 Zu den Aufgaben einer deliberativen Wirtschaftspolitik zählt er: 211 [a] Rechte: Schutz der wirtschaftsbürgerlichen Grundrechte (s. Kap. 4.3.4) [b] Rechnungsnormen: vitalpolitische Veränderung der Kostenkalküle zur Begrenzung von Machteffekten (z.B. Preisbildung auf dem Wohnungsmarkt zum Mieterschutz) und Neutralisierung unerwünschter Effekte (z.B. Arbeitszeitumverteilung statt Entlassungen) [c] Randnormen: Grenzwerte in ökologischer Hinsicht (Emissionswerte) räumliche und zeitliche Marktbegrenzung (Bauzonen, Sonntagsarbeit) Zulassungsnormen bezüglich Teilnahmeberechtigung an einem Markt (z.B. Jugendschutz, gesundheitspolitische Standard s) Marktaussc haltung im Sinne eines vollständigen Verbots bestimmter Güter Vitalpolitische Gesichtspunkte, wie eine globale Gerechtigkeit (Wahrung der Menschrechte, Deckung der Grundbedürfnisse, Arbeitnehmerrechte), der Eigenwert kultureller Lebensformen (fehlende kulturelle Neutralität des Wettbewerbs) und die ökologische Problematik, gilt es im Rahmen der Globalisierung stärker zu berücksichtigen. Hier sind erste Bestrebungen erkennbar, dass die Welthandelsorganisation (WTO) Minimalstandards gegen Ökodumping und Sozialdumping definiert und kontrolliert. 212 209 Mastronardi (2007), S. 178 210 Ulrich (2008), S. 399 211 ebd., S. 401 f. 212 Ulrich (2008), S. 417 <?page no="86"?> 4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich 85 uvk.de Dieser Ansatz sollte weiter vorangetrieben werden sowie die zusätzliche Einbindung weiterer Institutionen (z.B. UNO) erfolgen. Neben einer kritischen Weltöffentlichkeit bedarf es hierzu der Einbindung der Unternehmer als hier untersuchten dritten Ort der Moral. Die von Ulrich dargestellte deliberative Wirtschaftspolitik greift sehr deutlich in den freien Wettbewerb ein, indem sie bei wichtigen Preisbildungen (z.B. Wohnungsmieten) einhakt und Arbeitszeitumverteilungen statt Entlassungen vorgibt. Fraglich ist, ob die gut gemeinte dahinter stehende lebensdienliche Absicht auf diese Weise auch erreicht wird. So führt ein zu niedriges Mietniveau zu einem Investitionsstopp bei potentiellen Investoren. Die Verhinderung von Entlassungen kann zu Einstellungsstopps und zu vermehrter Leiharbeit führen. 44..33. .66 UUnntte er rnneehhm meen nsseetthhi ikk Die strikte Orientierung des Unternehmens am Gewinnprinzip, wird meist damit legitimiert, dass auf diese Weise auch dem allgemeinen Interesse am besten gedient wäre. Gewinnmaximierung erscheint hier als natürliches Ziel des freien Unternehmertums. Ansätze, die die Maximierung des Shareholder Values als Doktrin betrachten, orientieren sich einzig an den Interessen der Kapitaleigner. Hier wird unterstellt, dass diese wiederum ausschließlich an einer Gewinnmaximierung interessiert sind. Vielfach wird das Gewinnprinzip als historisch gewachsen und nicht zur Disposition stehend betrachtet. Autoren wie z.B. Homann sind der Ansicht, dass die Gewinnerzielung für Unternehmen in einer Marktwirtschaft unabdingbar ist, allerdings unter der Voraussetzung einer geeigneten Rahmenordnung als Ort der Moral. 213 Für Steinmann und Löhr 214 steht die Verfolgung des Gewinnprinzips ebenfalls nicht infrage, sondern nur, mit welchen Mitteln dieser erzielt wird. Mittlerweile wird von den meisten Sozialwissenschaftlern die Meinung vertreten, dass Gewinnstreben nur ein Motiv neben anderen darstellt (Adam Smith, Erich Gutenberg, Armatya Sen, Amitai 213 Homann/ Lütge (2005), S. 122 f. 214 Vgl. Ulrich (2008), S. 441 ff. <?page no="87"?> 86 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de Etzioni etc.). Dabei besteht ein Konflikt zwischen der Verantwortbarkeit unternehmerischen Handelns gegenüber allen Betroffenen und der Zumutbarkeit bestimmter moralischer Forderungen an die Unternehmer. Ulrich unterzieht das unternehmerische Gewinnprinzip einer genaueren Prüfung. Das erwerbswirtschaftliche Prinzip besagt, dass die Unternehmung im marktwirtschaftlichen System bestrebt ist, langfristig den größtmöglichen Gewinn auf das eingesetzte Eigenkapital zu erreichen. Dabei wird unterstellt, dass eine Volkswirtschaft davon dauerhaft profitiere. Die Erfahrung zeigt, dass dies nicht immer stimmt. 215 Ulrich 216 stellt fest, dass sich ein unternehmerisches Gewinnprinzip nicht rational begründen lässt und fragt nach den grundlegenden Legitimitätsvoraussetzungen und Wertordnungen lebensdienlicher unternehmerischer Wertschöpfung. Für ihn kann eine strikte Gewinnmaximierung prinzipiell keine legitime unternehmerische Handlungsorientierung sein, da so alle mit dem Gewinnstreben konfligierenden Ansprüche nur nachrangig seien. „Legitimes Gewinnstreben ist stets moralisch begrenztes Gewinnstreben. ... In der Unternehmensethik geht es darum, zu prüfen, was aus ethischer Sicht Vorrang vor dem Gewinnstreben verdient.“ 217 In der Praxis hat sich mittlerweile eine instrumentalistische Unternehmensethik herausgebildet, bei der ethisches Verhalten durchaus im Einklang mit Gewinninteressen liegt. Hier geht es um die Pflege von Ansehen und den guten Ruf des Unternehmens. Die Einhaltung moralischer Grundsätze ist zwar nicht immer, aber häufig funktional. Problematisch sind Situationen, in denen Ethik sich langfristig wirtschaftlich nicht rechnet. Dieser Punkt bleibt bei den instrumentalistischen Ansätzen unbeantwortet. Neben der instrumentalistischen Unternehmensethik findet auch die korrektive Ethik Verbreitung (z.B. Steinmann/ Löhr). 215 Vgl. Gutenberg (1976), S. 464 216 Vgl. Ulrich (2008), S. 436 217 ebd., S. 450 <?page no="88"?> 4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich 87 uvk.de Bei der korrektiven Ethik wird durch freiwillige Selbstbegrenzung das Gewinnmaximierungsziel aufgegeben. Niederschlag findet dieser überwiegend der angelsächsischen Business Ethics-Bewegung zugrunde liegende Ansatz beispielweise in unternehmensinternen Ethik-Kodizes, also in moralischen Leitlinien. Nach Ulrich greift dieser Ansatz zu kurz, da nur das Sachziel (Strategien und Mittel) und nicht das Formalziel (Gewinnstreben als solches) einer vorbehaltlosen ethischen Prüfung unterzogen wird. In der von Ulrich entwickelten integrativen Unternehmensethik sollen Unternehmer generell nur Handlungen verfolgen, die ethisch legitim und verantwortbar sind. „Integrative Unternehmensethik versteht sich als permanenter Prozess der vorbehaltlosen kritischen Reflexion und Gestaltung tragfähiger normativer Bedingungen der Möglichkeit lebensdienlichen unternehmerischen Wirtschaftens. Die Unternehmung soll (bzw. will in ethischer Selbstbindung) ihre Existenzsicherung und ihren betriebswirtschaftlichen Erfolg im Wettbewerb ausschließlich mit gesellschaftlich legitimen und sinnvollen Strategien unternehmerischer Wertschöpfung erreichen.“ 218 Die Integration von Ethik und betriebswirtschaftlicher Erfolgslogik wird als unternehmerische Herausforderung begriffen. Diese gilt es ordnungspolitisch zu ermöglichen und zu unterstützen. Ulrich unterscheidet ein zweistufiges Konzept der Unternehmensethik. Die erste Stufe benennt er als Geschäftsethik, in der Unternehmer aufgefordert sind, nach rentablen sozialökonomisch sinnvollen Wegen innerhalb der ordnungspolitischen Rahmenbedingungen zu suchen. In einem zweiten Schritt, der republikanischen Unternehmensethik, sollen kritische Wettbewerbsbedingungen hinterfragt sowie Mitverantwortung auf Firmen- und Verbandsebene übernommen werden. Im Rahmen der Geschäftsethik bleibt die Grundfunktion der Erstellung entgeltlicher Leistungen für Abnehmer erhalten, jedoch nicht als hinreichende Bedingung des Unternehmenszwecks. „Vielmehr beginnt integrative Unternehmensethik mit der sinngebenden Orientierung der unternehmerischen Tätig- 218 Ulrich (2008), S. 463 <?page no="89"?> 88 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de keit an einer ‚Vision‘ der lebenspraktischen Werte, die geschaffen werden sollen, seien es solche auf der Ebene der menschlichen Lebensgrundlagen oder solche auf der Ebene der Erweiterung der menschlichen Lebensfülle.“ 219 Dabei kann es um eine Verbesserung der privaten Lebensqualität der Abnehmer oder einen Beitrag zur Erfüllung grundlegender gesellschaftlicher Aufgaben (Bereitstellung von Wohnraum, Bildung, Gesundheit, Infrastruktur etc.) gehen. Als Beispiele für eine dementsprechende gesellschaftliche Funktionsorientierung der Unternehmung nennt Ulrich die Entwicklung innovativer integrierter Verkehrssysteme oder den Beitrag globaler Nahrungsmittelunternehmen zur Verbesserung der Ernährungslage in Entwicklungsländern (z.B. Unterstützung lokaler Produzenten und Händler statt Versorgung einer kleinen Oberschicht). In der integrativen Unternehmensethik hat die Lebensdienlichkeit Vorrang vor der Gewinnträchtigkeit. Eine ethisch fundierte Geschäftsstrategie bezieht den ganzen Lebenszyklus der erstellten Produkte mit ein, von den Rohstoffen über Transportwege bis hin zur Entsorgung. 220 Im Rahmen der Republikanische Unternehmensethik 221 werden Unternehmer und Führungskräfte der Wirtschaft aufgefordert, ihre republikanische Mitverantwortung für die ethische Qualität der Rahmenbedingungen wahrzunehmen, da die Qualität der marktwirtschaftlichen Rahmenordnung erfahrungsgemäß auch davon abhängt, wer realpolitisch einflussreich ist. Darüber hinaus befindet sich unterhalb der staatlichen Ordnungspolitik die Möglichkeit verbandspolitischer Selbstregelung. Hierdurch kann das Dilemma zwischen ethisch wertvollen Innovationen und den damit entstehenden Nachteilen gegenüber Mitanbietern gelöst werden. Beispiele in der Richtung liefern die Fair Labour Association (Vereinigung aller namhafter Wettbewerber zur Vermeidung von Kinderarbeit bei Zulieferern) oder das Selbstverpflichtungsprogramm des internationalen Verbandes der Chemischen Industrie Responsible Care (Bekenntnis zu Produkt- und gesellschaftlicher Verantwortung). Ansätze in der Wirtschaft sind also vorhanden und müssen weiter ausgebaut werden. Führungskräfte zeigen zunehmend ein größeres Bewusstsein für moralisches Handeln und wollen nicht „Prügelknaben“ der Nation sein. 219 Ulrich (2008), S. 464 220 ebd., S. 468 221 ebd., S. 469 ff. <?page no="90"?> 4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich 89 uvk.de Nach der Feststellung, dass es ein wirtschaftsethisch begründbares Gewinnprinzip nicht gibt, kommt Ulrich auf die Frage zurück, wie die Alternative dazu, die Maxime der Lebensdienlichkeit legitimiert wird. Wer entscheidet, was lebensdienlich ist? Ulrich führt zur Beantwortung dieser Frage das Stakeholder-Konzept an. Der Begriff „Stakeholder“ basiert auf den Arbeiten des Sozialforsches Eric Rhenman und ist gleichbedeutend mit dem Anspruchsgruppenkonzept der Unternehmung. 222 Er geht auf das Englische „to have a stake in something“ (an etwas Anteil haben) zurück. 223 Es stellt sich die Frage, wer genau zu den Stakeholdern gehört und wie die Wertschöpfung unter ihnen gerecht verteilt wird. Im Allgemeinen werden unter Stakeholdern alle Gruppen verstanden, die gegenüber dem Unternehmen über legitime Ansprüche verfügen (z.B. durch Arbeit,- Kooperations- und Kaufvertrag) oder allgemeine moralische Rechte haben (z.B. Umweltschutz). Dabei sollen alle berechtigten Ansprüche berücksichtigt werden, nicht nur die wirkungsmächtigen, die Druck ausüben können, sondern auch jene die über keinen Einfluss verfügen. Aus diskursethischer Sicht ist dabei die „Öffentlichkeit“ der Haupt-Stakeholder, als gedankliche „Meta-Institution“. Dies ist der oberste systematische Ort der unternehmensethischen Legitimation. Dem moralischen Recht aller Stakeholder zur „Einmischung“ in die Unternehmenspolitik und zur öffentlichen Prüfung (Kant: Fähigkeit der Publizität) kann die Unternehmensleitung ihre Argumente zur eventuellen Unzumutbarkeit entgegensetzen. Ein Beispiel für die fehlende Berücksichtigung allgemeiner Interessen bot die Firma Shell mit dem Vorhaben, ihre alte Ölplattform BrentSpar kostengünstig in der Nordsee zu versenken. Einsprüche von Greenpeace wurden abgetan. Erst als es zu massiver öffentlicher Kritik und großen Reputationsschäden kam, wurde auf ein umweltverträgliches Entsorgungskonzept umgeschwenkt. Eine Möglichkeit, Stakeholder-Rechte im Unternehmen zu institutionalisieren, bietet eine interessenpluralistische Unternehmensverfassung (stakeholder board of directors). Da der hierzu erforderliche Reformwille aber nicht abzusehen ist, schlagen Evan/ 222 Eric Rhenman (1932-1993) war Professor an der Stockholm-Schule der Volkswirtschaft und der Lund-Universität (1967-1976) in Schweden und Gastprofessor in Harvard (1974-1976). 223 Vgl. Ulrich (2008), S. 476 <?page no="91"?> 90 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de Freeman einen Stakeholder Advisory Board vor. 224 In einer Stakeholder Bill of Rights können die unantastbaren Grundrechte aller Stakeholder definiert werden (z.B. Mitsprache-, Einspruchs- und Klagerechte). Eine solche Lösung wäre auf Branchenebene zur kollektiven Selbstregelung nützlich. Ulrich nennt hierzu zwei Hauptkategorien grundlegender Mitarbeiter- und Wirtschaftsbürgerrechte: 225 Elementare Persönlichkeitsrechte (physische Unantastbarkeit der Person, Gleichbehandlung, Schutz der Privatsphäre) Kommunikationsrechte (offene ungefilterte Information und Partizipation, freie Meinungsäußerung) Gefordert ist eine kritische Loyalität, so dass im Bedarfsfall speziell geschützte Kommunikationskanäle (z.B. Ombudsmann, Ethik-Hotline, Ethikkommission) genutzt werden können. Genau wie bei der generellen Wirtschaftsbürgertugend werden auch hier Rückenstützen benötigt. 226 Hierzu dienen Verhaltensgrundsätze, Führungsrichtlinien und Leistungsa nreizsysteme. Dabei ist zu bedenken, dass Ethikmaßnahmen nicht autoritär zu bestimmen sind, sondern Ergebnis einer offenen Kommunikation im Unternehmen sein sollten. Ulrich entwickelt hierzu sechs Bausteine eines integrativen Ethikprogrammes (siehe Abb. 3). Der Weg dieses sechs Schritte umfassenden Ethikprogramms ist als firmenspezifischer Lernprozess zu verstehen, eingebettet in die Grundsätze der Organisationsentwicklung. Ulrich verfolgt anstelle des von Homann/ Lütge, Steinmann/ Löhr und anderen vertretenen Gewinnprinzips für Unternehmen als oberste unternehmerische Maxime die der Lebensdienlichkeit. Die Legitimität dieses Postulats leitet er aus dem Stakeholder-Konzept im Kontext mit den elementaren Persönlichkeits- und Kommunika- 224 Vgl. Ulrich (2008), S. 489 225 Vgl. ebd., S. 491 ff. 226 Vgl. Ulrich (2008), S. 494 f. <?page no="92"?> 4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich 91 uvk.de tionsrechten ab. Er geht damit über den ethischen Ansatz Homanns und anderer hinaus, die das Gewinnprinzip nicht in Frage stellen, sondern nur durch Spielregeln einschränken wollen. Die sechs von ihm dargestellten Bausteine eines integrativen Ethikprogramms bilden einen möglichen Leitfaden für ethisches unternehmerisches Handeln. Ulrich betont das notwendige Zusammenspiel von (mündigen) Wirtschaftsbürgern, Unternehmen und Staat. Nur im Zusammenwirken dieser drei Orte der Moral ist eine nachhaltige lebensdienliche wirtschaftliche Entwicklung möglich. Abb. 3: Bausteine eines integrativen Ethikprogrammes in Unternehmen nach Ulrich 227 227 Vgl. ebd., S. 498 Sinngebende unternehmerische Wertschöpfungsaufgabe Mission Statement zur Sinnorientierung der Geschäftsstrategie 1 Bindende Geschäftsgrundsätze Business Principles: Deklaration der Selbstbindung in nachprüfbarer Form unter Einbindung der republikanischen Mitverantwortung (insbesondere branchen- und ordnungspolitische Mitverantwortung) 2 Gewährleistete Stakeholderrechte Bill of Stakeholder Rights, Unternehmensverfassung: klar definierte moralische Rechte der Stakeholder 3 Diskursive Infrastruktur Orte des offenen und unternehmensethischen Diskurses: argumentative Klärung von Verantwortbarkeits- und Zumutbarkeitsfragen 4 Ethische Kompetenzbildung Ethiktraining und vorgelebte Verantwortungskultur: Förderung und Ermutigung zu eigenständigen ethischen Reflexionen und Argumentationen 5 Ethisch konsistente Führungssysteme Anreiz-, Leistungsbeurteilungs-, Compliance- und Auditingsysteme: flächendeckende kontinuierliche Überprüfung und ggf. Überarbeitung hinsichtlich Konsistenz mit Ethikprogramm 6 <?page no="93"?> 92 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de Abb. 4: Zusammenspiel von Wirtschaftsbürger-, Ordnungs- und Unternehmensethik Diese drei Orte der Moral beeinflussen sich gegenseitig. Staatliche Maßnahmen im Rahmen der Ordnungspolitik wirken sich auf Unternehmensaktivitäten und das Verhalten von Wirtschaftsbürgern aus. Letztendlich werden aber staatliche Maßnahmen von Unternehmen (z.B. über Lobbyismus) und Wirtschaftsbürgern (z.B. über Wahlen) ebenfalls beeinflusst. Auf die besondere Rolle des Wirtschaftsbürgers wird später in Kap. 7 und 8.3 weiter eingegangen. Ulrichs Ansatz lehnt sich stark an die Diskursethik an, die im folgenden Kapitel näher betrachtet wird. 44..44 DDiisskkuurrsseetthhiikk nnaacchh J Jüürrggeenn HHaabbeerrmmaass Jürgen Habermas gilt mit Karl-Otto Apel als Begründer der Diskursethik. Die Diskursethik stellt eine normative Theorie der (neuzeitlichen) Gesellschaft mit linguistischen Wurzeln dar. Die Diskursethiker gehen davon aus, dass ethische Normen nicht allein mit Hilfe von Wahrnehmung und Logik begründet werden können. Habermas 228 führt aus, wie moralische Fragen kognitiv entschieden werden können. Die Frage, was zu tun sei in Bezug auf 228 Vgl. Habermas (2009), S. 365 1. Stufe der Verantwortlichkeit: Ordnungsethik Ordnungspolitische Rahmenbedingungen: Etablierung von Gesetzen, Normen und Standards mit Sanktionsmöglichkeiten in Bezug auf Unternehmer und Bürger (Bildung) 2. Stufe der Verantwortlichkeit: Unternehmensethik Gestaltung eines lebensdienlichen Zwecks unter der Legitimitätsprämisse und Sinngebung 3. Stufe der Verantwortlichkeit: Wirtschaftsbürgerethik Jeder Mensch ist für moralisches Verhalten selbst verantwortlich. <?page no="94"?> 4.4 Diskursethik nach Jürgen Habermas 93 uvk.de Handlungen, die die Interessen anderer berühren und zu Konflikten führen, soll im fairen Diskurs der Betroffenen geklärt werden. Im strategischen Handeln unterstellen die Beteiligten, dass jeder egozentrisch nach seinen eigenen Interessen entscheidet. Dieser mehr oder weniger latente Konflikt kann ausgetragen, eingedämmt oder im gegenseitigen Interesse beigelegt werden. Voraussetzungen eines im gegenseitigen Sinne beigelegten Konfliktes liegen in einem fairen Argumentationsprozess: 229 Niemand der einen relevanten Beitrag vortragen könnte, darf von der Teilnahme ausgeschlossen werden (Inklusivität). Alle erhalten die gleiche Chance, Beiträge zu leisten. Die Teilnehmer müssen meinen, was sie sagen. Es dürfen also keine Täuschungen vorgenommen werden (Pflicht zur Wahrhaftigkeit). Die Kommunikation muss von äußeren und inneren Zwängen so frei sein, dass Ja/ Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsansprüchen allein durch die Überzeugungskraft besserer Gründe motivier t sind. Wenn alle möglicherweise Betroffenen unter (annähernd) idealen Bedingungen zu der Überzeugung gelangt sind, dass eine bestimmte Handlungsweise oder Norm für alle Personen als verbindlich angesehen werden soll, drückt der entstandene Konsens etwas vergleichsweise Definitives aus. Er stellt keine Tatsachen fest, sondern begründet eine Norm oder Handlungsweise und verbürgt ihre Richtigkeit. 230 „Die Form der Kommunikation soll die vollständige Inklusion sowie eine gleichberechtigte, zwanglose und verständigungsorientierte Teilnahme aller Betroffenen sichern, damit für die richtigen Themen alle relevanten Beiträge zur Sprache kommen und die besten Argumente den Ausschlag geben können. Demzufolge ist eine Aussage wahr genau dann, wenn sie unter den anspruchsvollen Kommunikationsbedingungen rationaler Diskurse allen Entkräftungsversuchen standhält.“ 231 Gefühle haben für Habermas eine ähnliche Bedeutung für moralische Rechtfertigungen von Handlungsweisen wie Wahrnehmungen für die 229 Vgl. Habermas (2009), S. 357 230 Vgl. ebd., S. 411 231 Vgl. ebd., S. 402 <?page no="95"?> 94 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de theoretische Erklärung von Tatsachen. 232 „Ein entfaltetes moralisches Argument verhält sich zu jenem Netzwerk moralischer Gefühlseinstellungen wie ein theoretisches Argument zum Strom der Wahrnehmungen.“ 233 Auf diese Weise würde nicht gegen Humes Gesetz verstoßen werden und kein naturalistischer Fehlschluss begangen. Habermas folgert, dass moralische Urteile in gleicher Weise wie empirische Aussagen als „wahr“ oder „richtig“ behauptet werden können. Die Diskursethik argumentiert als Letztbegründung für moralisches Handeln nicht mit formallogischer Deduktion, sondern reflektiert auf die intersubjektiv gültige Argumentation unter Einhaltung optimaler Randbedingungen. So wie die Wahrheit bei empirischen Aussagen über die Beschaffenheit der Welt begründet werden muss, erfolgt der Anspruch auf ethische Richtigkeit über allgemein akzeptable Argumente. Aufgrund eines zwangfreien Austausches nach den oben genannten Kriterien können ethische Behauptungen als wahr anerkannt werden. Diese Position wird auch als „Konsenstheorie der Wahrheit“ bezeichnet, zu deren Vertretern unter anderem Philosophen wie Paul Lorenzen und Kuno Lorenz gehören. Moralische Gebote sind für Habermas gültig, unabhängig davon, ob der Adressat auch die Kraft aufbringt, sie zu befolgen, also das für Richtig befundene auch zu tun. Die Befolgung unterstützen Gründe, wie z.B. ein schlechtes Gewissen, das jemanden plagt, wenn er wider besseren Wissens handelt. Schuldgefühle können ein Indikator für Pflichtverletzungen sein. Sie zeigen eine Spaltung des Willens. 234 Beim Diskursprinzip geht es um die moralische Beurteilung von Handlungen und Maximen zur Klärung legitimer Verhaltenserwartungen bei interpersonellen Konflikten. Gesucht werden gerechte Lösungen eines Konfliktes im Bereich normenregulierenden Handelns. Das Diskursprinzip lässt sich für moralische Fragestellungen 232 Vgl. ebd., S. 40 233 Habermas (2009), S. 41 234 ebd., S. 377 <?page no="96"?> 4.5 Ökonomische Ethik nach Suchanek 95 uvk.de operationalisieren, indem es der Begründung und Anwendung von Normen dient, die gegenseitige Pflichten und Rechte festlegen. Den von Habermas genannten Diskursregeln fehlt das in positiven Wissenschaften angewandte Kriterium der intersubjektiv übereinstimmenden Beobachtung. Dieses konsensstiftende Kriterium wird bei den meisten Diskurstheoretikern nicht berücksichtigt. Kritisch zum Wahrheitsanspruch ist anzumerken, dass die idealen Diskursvoraussetzungen in der Praxis kaum bestehen und damit auch kein faktischer, sondern nur ein idealtypischer Konsens erzielt werden kann. Es ist möglich, dass alle Beteiligten trotz guten Willens gar keinen Konsens finden oder sich alle Beteiligten zusammen irren. Trotz Einschränkungen kann das Diskursprinzip möglichst wahrheitsannähernd praktisch genutzt werden, z.B. für Beratungen eines politischen Gesetzgebers oder für juristische Diskurse. 235 44..55 ÖÖkkoonnoommiisscchhee E Etthhiikk n naacchh S Suuc chhaanneekk Andreas Suchanek 236 beschäftigt sich im Rahmen ökonomischer Ethik vorrangig mit der Frage, wann Konflikte auftreten, und sucht nach systematischen Wegen diese miteinander verträglich zu machen. Er betrachtet den Menschen als animal sociale mit der Einsicht gegenseitiger Abhängigkeiten und der Notwendigkeit, manchmal kurzfristige Eigeninteressen zurückzustellen. 237 In der individualisierten modernen Gesellschaft existiert für Suchanek ein Pluralismus an Meinungen und Auffassungen hinsichtlich normativer Werte, der es erforderlich macht, dass die Menschen für sich selbst und gemeinsam die Spielregeln ihres Zusammenlebens festlegen. Dabei obliegt der Ethik die Aufgabe, „zu einer gelingenden normativen Selbstverständigung in der Gesellschaft als Grund- 235 Vgl. Habermas (2009), S. 359 236 Suchanek (2007), S. 7 237 Suchanek (2007), S. 8 <?page no="97"?> 96 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de lage einer gelingenden gesellschaftlichen Zusammenarbeit beizutragen.“ 238 Weiter führt Suchanek aus: „Ökonomische Ethik befasst sich mit den Bedingungen der Möglichkeit, wie Moral und Eigeninteresse im Falle ihres Konfliktes kompatibel bzw. füreinander fruchtbar gemacht werden können, um zu einer gelingenderen gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil zu gelangen.“ 239 Die Goldene Regel 240 reformuliert Suchanek als zentrale moralische Norm „Investiere in die Bedingungen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil.“ Hierfür nennt er als wichtigste Voraussetzungen: 241 Die Bereitschaft der Einzelnen, Beiträge zu dieser Zusammenarbeit zu leisten (Idee des Konsenses), Die Koordination dieser Beiträge. Suchanek 242 stellt fest, dass es vergleichsweise einfach sei, zu klären, welche grundlegenden Ideale wichtig seien. Schwieriger sei die Frage, warum Gewolltes nicht umgesetzt würde, obwohl alle dafür wären (z.B. Beseitigung von Armut und Hunger, Einhaltung der Menschenrechte). Als Begründung führt Suchanek empirische Bedingungen an, unter denen er im Kontext von Ethik alle situativen Voraussetzungen und Beschränkungen versteht. Hierzu zählen: Naturgesetze, Klimabedingungen, vorhandene Rohstoffe, verfügbare Technologien, die biologische, psychologische und soziale Verfasstheit der Menschen, Sichtweisen, Einstellungen und Verhalten anderer sowie Institutionen. Ethik habe sowohl mit dem „Sollen“ als auch dem „Können“ zu tun. Suchanek folgert, dass vernünftige moralische Urteile oder Forderungen sich dadurch auszeichnen, dass sie konsensfähige moralische Ideale (normativ „Sollen“) zugrunde legen und die je relevanten empirischen Bedingungen (empirisch „Können“) angemessen berücksichtigen, d.h. normativistische oder empirische Fehlschlüsse vermieden werden. 243 238 ebd., S. 27 239 ebd., S. 39 240 Vgl. Kap.3.1: Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst! 241 Vgl. Suchanek (2007), S. 38 242 Vgl. Suchanek (2007), S. 43 f. 243 Vgl. ebd., S. 34 <?page no="98"?> 4.5 Ökonomische Ethik nach Suchanek 97 uvk.de Trotz der beispielhaft genannten einschränkenden Handlungsbedingungen bleiben individuelle Spielräume für Entscheidungen. Es geht um die Frage, wie mit gegebenen Handlungsbedingungen vernünftig umgegangen wird. 244 Hier greifen ethische Überlegungen zum Abwägen von Moral und Eigeninteresse. Da der Mensch auf situative Anreizbedingungen reagiere, leitet Suchanek ab: „Moral muss anreizkompatibel, d.h. vereinbar mit dem (wohlverstandenen bzw. reflektierten) Eigeninteresse sein.“ 245 Wenn Individualinteressen gegenüber dem Allgemeinwohl schädlich sind, gilt es, handlungsbestimmende Anreize zu finden, damit das dem Gemeinwohl schadende Verhalten unterbleibt. Zur Steuerung bieten sich nicht nur monetäre Anreize, sondern auch soziale und intrinsische (z.B. Selbstachtung und Harmonie) an. 44..55. .11 DDaass GGe effaannggeenneen nddiilleemmmmaa aauuss eetth hi issc chhe er r PPe errs sppeek ktti ivve e Die im vorangegangenen Kapitel postulierte Anreizkompatibilität gelingt häufig, aber nicht immer. Vielfach schwelt ein Konflikt zwischen Eigeninteresse und Moral. Typische alltägliche Konflikte sind Schwarzfahren in der U-Bahn, Schummeln in Prüfungen, überzogene Inanspruchnahme von Sozial- und Versicherungsleistungen, fehlende Mitarbeit im Team und der Bruch eines gegebenen Versprechens. Suchanek möchte diese Konflikte auflösen und Moral und Eigeninteresse füreinander fruchtbar machen. Die regulative Idee der Zusammenarbeit zum Vorteil aller, z.B. durch Verzicht als Investition in die Zukunft, löst manche Konflikte. Viele kurzfristige Verzichtsforderungen erweisen sich durchaus mittel- oder langfristig als sinnvolle Investitionen für die Zukunft. 246 Häufig gelingt dieser Verzicht aber nicht aufgrund der Angst, dass die moralische Vorleistung später nicht zum gewünschten Ergebnis führt. In einer solchen sogenannten „Dilemmastruktur“ verhindern Informations- und Anreizprobleme, dass Investitionen in die Zukunft zum gegenseitigen Vorteil vorgenommen werden. 247 Um das Grundproblem von Dilemmastrukturen näher zu betrachten, bedient sich Suchanek 248 , wie Homann, des einfachen Modells des Ge- 244 Vgl. ebd., S. 49 245 ebd., S. 49 246 Vgl. Suchanek (2007), S. 50 f. 247 Vgl. ebd., S. 52 248 Vgl. ebd., S. 54 <?page no="99"?> 98 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de fangenendilemmas aus der Spieltheorie. Untersucht werden situative Anreizbedingungen, die die Realisierung von gemeinsamen Interessen verhindern. Es geht im Wesentlichen um knappheitsbedingte Interessenkonflikte. Suchanek erweitert das Grundmodell, bei dem zwei Spieler zwischen den beiden Strategien „kooperieren“ oder „defektieren“ wählen können, um die Integration von Sanktionen durch eine Institution. Hierdurch verbessern sich die Anreizbedingungen für das Kooperieren. Im Schaubild wird angenommen, dass „nicht kooperieren“ mit zwei Nutzeneinbußen bestraft wird. Institutionen wie die Verfassung, das Bürgerliche Gesetzbuch oder auch die Straßenverkehrsordnung sind somit standardisierte Lösungen von dilemmabedingten Interessenkonflikten. 249 Abb. 5: Gefangenendilemma mit Sanktionen 250 Fälschlicherweise werden sanktionierende Institutionen oft als Einschränkung der individuellen Freiheit betrachtet. Einerseits engen sie zwar Handlungsspielräume ein, ermöglichen aber andererseits durch (Selbst-)Beschränkung individuelle Freiheit. Dabei wird das Merkmal der Offenheit von Institutionen maßgeblich davon bestimmt, inwieweit sich die Menschen auch ohne Detaillierung nach Regeln richten. In zunehmendem Maße werden z.B. Arbeitsverträge offen gestaltet, ohne Regelungen bis in das kleinste Detail, um Spielräume für eigenständige Entscheidungen zu schaffen. 251 Die Befolgung von Regeln ist zugleich eine 249 Vgl. Suchanek (2007), S. 63 250 ebd., S. 63 251 Vgl. ebd., S. 68 kooperieren nicht kooperieren nicht kooperieren kooperieren A B <?page no="100"?> 4.5 Ökonomische Ethik nach Suchanek 99 uvk.de Investition in das Verhalten anderer, sofern sich diese ebenfalls an die Regeln halten. Man willigt in die Selbstbindung durch Institutionen ein, weil die Bindung der anderen nur zum Preis der allgemeinen bzw. der eigenen Selbstbindung zu haben ist. Unbedingtes Kooperieren führt langfristig zur Ausbeutung. Suchanek fordert deshalb die bedingte Kooperation als Investition unter der Voraussetzung, dass die anderen auch dazu bereit sind. Wenn andere kooperieren, wächst daraus die Verantwortung, selbst auch zu kooperieren. 252 Verantwortung bedingt generell die Zurechnung bestimmter Handlungsfolgen auf verursachende Handlungen. 253 „Verantwortung besteht darin, die eigene Freiheit so zu nutzen, dass damit die Bedingungen der künftigen Freiheit erhalten bzw. verbessert und nicht zerstört werden. ... Wie für den verantwortlichen Gebrauch individueller Freiheit anreizkompatible Institutionen nötig sind, so ist auch zum Erhalt dieser Institutionen ein Sinn für Verantwortung (und entsprechendes Verhalten) erforderlich.“ 254 Nutzt man die eigene Freiheit zum Schaden Dritter, gefährdet man die eigene künftige Freiheit, da die Geschädigten reagieren werden. 255 Die Verantwortung von Akteuren liegt demnach darin, für eine gelingende Zusammenarbeit in institutionelle Bedingungen zu investieren zum gegenseitigen Vorteil. Dies bedeutet nicht, dass jeder Interessenkonflikt vermieden werden sollte. So ist z.B. Leistungswettbewerb konsensfähig, sofern er Menschen dazu anhält, in die gesellschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil zu investieren. Aus ethischer Sicht sind hierzu insbesondere Vermögenswerte, die es weiter auszubilden gilt, notwendig: Humankapital (arbeitsbezogene Kenntnisse und Fertigkeiten sowi e Kooperations- und Konfliktfähigkeit), Sozialkapital (soziale Beziehungen als Netzwerke fü r die Suche von Ko operationspartnern), Institutionelles Kapital (Beachtung und Befolgung geltender Institutionen sowie Mitarbeit diesbezüglich). 256 252 Vgl. Suchanek (2007), S. 70 253 Vgl. ebd., S. 71 254 ebd., S. 72, 74 255 Vgl. ebd., S. 73 256 Vgl. Suchanek (2007), S. 82 <?page no="101"?> 100 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de Knappheit kann einen wesentlichen Motor zur Entfaltung individueller Kreativität und Leistung darstellen. Dabei stellt die Marktwirtschaft das bisher als am besten bekannte Instrument für Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil dar. Wo erforderlich, müssen institutionelle Anreize zur sozialen Gerechtigkeit gegeben werden, in diese Zusammenarbeit zu investieren. „Soziale Gerechtigkeit verlangt (a), dass für jeden Bürger die Voraussetzungen gegeben sind, um in die gesellschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil investieren zu können, und (b), dass die mit diesen Investitionen verknüpften berechtigten Erwartungen erfüllt werden.“ 257 Die Krux der sozialen Gerechtigkeit führt Suchanek an der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vor. Einerseits erscheint eine 100-prozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall solidarisch. Anderseits birgt dies auch die Gefahr von Fehlanreizen, die die folgende Modellierung des Gefangenendilemmas zeigt. Für die Arbeitnehmer bestehen Anreize zum Krankfeiern (vier Nutzeneinheiten, wenn der andere arbeitet bzw. zwei Nutzeneinheiten, wenn der andere auch nicht arbeitet), weil ihre Kosten sozialisiert werden. Akteure, die immer die Option „arbeiten“ wählen, erhalten max. drei Nutzeneinheiten (wenn der andere auch arbeitet anstatt krankzufeiern) oder nur eine Nutzeneinheit (wenn der andere krankfeiert). Er zahlt somit über seine Beiträge das Krankfeiern anderer mit. Wenn deshalb nun fast alle krankfeiern, ist die Unternehmung in ihrer Existenz bedroht und Arbeitsplätze entfallen. 258 Als Lösung wird eine Form der Selbstbeteiligung, wie bei anderen Versicherungen, vorgeschlagen. Mit dieser Zahlung in Form eines reduzierten Lohnsatzes, verringert sich der Anreiz des Krankfeierns. 257 ebd., S. 108, dito S. 115-117, S. 120 258 Vgl. ebd., S. 111 <?page no="102"?> 4.5 Ökonomische Ethik nach Suchanek 101 uvk.de Ab b. 6 : Gefan ge ne ndilemma mit Fehlan r eizen (100pr ozen tige L oh nfortz ahlung) 259 44..55..22 UUnntteerrnneehhmmeenn uunndd iihhrree VVeerraannttwwoorrttuunngg Formell sind Unternehmen durch die Unternehmensverfassung konstituiert, in der Aufgaben, Entscheidungsbefugnisse, Verantwortlichkeiten und Kontrollrechte festgelegt sind. Zur Regelung aller anstehenden Abstimmungsprozesse bezüglich auftretender Dilemmastrukturen reicht die Unternehmensverfassung allein nicht aus. Notwendig sind deshalb sogenannte informelle Regeln, die sich u.a. in der Unternehmenskultur widerspiegeln. 260 Nach Suchanek 261 bietet die Unternehmenskultur die Möglichkeit, Werte und Grundsätze, die Integrität gewährleisten sollen, zu festigen. Eine nachhaltige Unternehmenskultur führt zur Einsparung von Transaktionskosten (geringerer Abstimmungs-, Regelungs- und Kontrollbedarf) und zu einer erhöhten Mitarbeitermotivation. Schwierig stellt sich allerdings die Steuerung der Unternehmenskultur dar. Hier obliegt der Unternehmensführung die zentrale Rolle, auf die Unternehmenskultur gestaltend einzuwirken. Sie benötigt hierfür Reflexions- und Argumentationskompetenz (für die konstruktive Auseinandersetzung mit allen Stakeholdern), Gestaltungskompetenz (für Umsetzung der Unternehmensverantwortung unter Wettbewerbsbedingungen). 259 Suchanek, Andreas (2007), S. 111 260 Vgl. ebd., S. 120 261 Vgl. ebd., S. 121 arbeiten krankfeiern krankfeiern arbeiten Arbeitnehmer A Arbeitnehmer B <?page no="103"?> 102 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de Wie Ulrich spricht sich Suchanek für die Berücksichtigung von Stakeholder-Interessen aus, wohl aber eher mit Anhörungsals mit Stimmrecht. Unternehmensverantwortung möchte Suchanek nicht verwechselt wissen mit Unternehmenswohltätigkeit, bei der, auch in Abhängigkeit der jeweiligen Ertragssituation, Spenden für kulturelle oder karitative Zwecke erfolgen. Wohltätigkeit erweist sich ebenso wie Gewinnstreben nur als sinnvoll, sofern sie ein Teil der Gesamtstrategie des Unternehmens darstellt und der Goldenen Regel folgt. 262 Anders als Ulrich besteht für Suchanek, wie auch für Homann, die Verantwortung von Unternehmen eindeutig darin, die langfristige Gewinnerzielung und damit den Erhalt des Unternehmens zu sichern. Um den dabei entstehenden Grundkonflikt zwischen Gewinn und Moral aufzulösen, schlägt Suchanek Investitionen in die folgenden Bereiche vor: Produkt (z.B. Pioneergewinne durch Vorreiter bei umweltfreundlicheren Produkten); Produktivität der Mitarbeiter (Einbindung der Mitarbeiter in die Pflege der Unternehmenskultur, Erstellung, Implementierung und Weiterentwicklung von Unternehmensgrundsätzen); Beziehungen (Beziehungsnetzwerke als Sozialkapital, z.B. Zusammenarbeit mit Umweltverbänden); Standortbedingungen (Beiträge zur Qualitätserhöhung des Standortes, z.B. Jugendzentren, Bildung, Naturschutz); Rahmenordnung des Wettbewerbs (kollektive Selbstbindung, z.B. gegen Kinderarbeit und Korruption und für die Einhaltung von Sicherheitsstandards). 263 Im Grunde ähneln Suchaneks genannte Investitionen den Rückenstützen Ulrichs. Im Gegensatz zur Suchaneks und Homanns Gewinnprinzip für Unternehmen verfolgt Ulrich jedoch das Prinzip der Lebensdienlichkeit, dessen Legitimität er aus dem Stakeholder- Konzept im Kontext mit den elementaren Persönlichkeits- und Kommunikationsrechten ableitet. Er steht damit im Gegensatz zu 262 Vgl. Suchanek, Andreas (2007), S. 124 ff. 263 Vgl. Suchanek (2007), S. 137 ff. <?page no="104"?> 4.5 Ökonomische Ethik nach Suchanek 103 uvk.de Suchanek und Homann, die das Gewinnprinzip nicht infrage stellen, sondern nur durch Spielregeln einschränken wollen. Diese Spielregeln entstehen primär aus unternehmerischer Selbstverpflichtung. Ulrich geht einen Schritt weiter und bezieht die Notwendigkeit staatlicher Rückenstützen für den Konsumentenschutz (z.B. vollständige Deklaration der Zusammensetzung von Produkten, Verbot der Werbung für gesundheitsschädliche Produkte), eine deliberative Wirtschaftpolitik (z.B. Einführung von Emissionsgrenzwerten, Jugendschutz) und die persönliche Verantwortung als Wirtschaftsbürger mit ein. 44. .55..33 GGeerreecchht tiiggkkeeiitt uunndd MMoorraal l Gerechtigkeit ist für Suchanek 264 der wichtigste Maßstab, mit dem gesellschaftliche Funktionen zu messen sind. Aus wirtschaftsethischer Sicht wird sie vom gesellschaftlichen Konsens abgeleitet. Hierbei handelt es sich um ein normatives Ideal des Konsenses und nicht des Vetorechts jedes einzelnen Bürgers. Die Aufgabe einer Gerechtigkeitstheorie entsteht in der Entwicklung einer Konzeption von Gerechtigkeit, die möglichst von allen akzeptiert werden kann, also konsensfähig ist. Die Brücke für das normative Ideal des Konsenses schlägt der Begriff „Demokratie“. In einer funktionierenden Demokratie erfolgt die Interessenvertretung über freie Wahlen, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Die meisten Entscheidungen werden gemäß der Mehrheitsregel gefällt. Als oberste Regelungsebene dient die Verfassung. Suchanek 265 bezieht sich auf John Rawls Theorie der Gerechtigkeit 266 , in der die Gesellschaft als ein Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil beschrieben wird. Der Grundgedanke der Gerechtigkeit liegt in der Reziprozität bzw. Gleichheit der Menschen dahingehend, dass Ungleichheiten akzeptiert werden, wenn sie objektiv begründet werden können (z.B. mehr Lohn für mehr Arbeit), also fair sind. Alle Menschen sind mit Würde ausgestattete Personen und daher gleich zu behandeln. Ungleichheiten müssen nachvollziehbar sein. Damit die Mit- 264 Vgl. ebd., S. 152 265 Vgl. Suchanek (2007), S. 153 266 Vgl. Kap. 4.1 dieser Arbeit <?page no="105"?> 104 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de glieder unparteiisch und objektiv entscheiden, nutzt Rawls den „Schleier des Nichtwissens“ (Veil of ignorance). Dieser Schleier verbirgt den Entscheidern ihre eigene gesellschaftliche Position und persönliche Vorlieben. Auf diese Weise werden Stand, Herkunft, Einkommen usw. ausgeblendet. Mit der Gerechtigkeit vereinbar sind Unterschiede in der Entlohnung, wenn sie in unterschiedlicher Leistung begründet liegen, nicht aber in Unterschieden der Hautfarbe, der Religion oder des Geschlechtes. Gerechtigkeit erfordert die Stabilität von Institutionen, damit Investitionen in die Zukunft auch erwartungsgemäß erfüllt werden können. 267 Folgt man den Ausführungen Suchaneks und seiner Einbindung von Rawls Theory of Justice ergibt sich folgendes Schaubild: Abb. 7: Entstehung von Gerechtigkeit 268 Gerechtigkeit entsteht aufgrund von Konsensentscheidungen und der Stabilität von Institutionen. Die Konsensentscheidungen ergeben sich auf der Grundlage von demokratischen Wahlen und der Nutzung des Schleiers des Nichtwissens (Unparteilichkeit, Objektivität). 267 Vgl. Suchanek (2007), S. 156 268 Vgl. Suchanek (2007), S. 155 ff. Konsensentscheidungen Gerechtigkeit Demokratie freie Wahlen Stabilität der Institutionen Schleier des Nichtwissens <?page no="106"?> uvk.de Da auf der Welt aber keine absolute Gerechtigkeit herrscht, müssen die vorgelagerten Konsensentscheidungen oder die Nebenbedingung stabiler Institutionen Defizite aufweisen. Auf die Beseitigung dieser Defizite geht Suchanek mittels des Analysemodells des Homo oeconomicus ein, um zu untersuchen, welche Investitionen in bestimmten Situationen anreizkompatibel sind. Zur Analyse komplexer empirischer Probleme bedient ma n sic h hi er bei str uktu ri er ter V er ein fa ch un ge n. D er H om o oe con om icus wird modelltheoretisch als ausschließlich „wirtschaftlich“ denkender Mensch mit uneingeschränkt rationalem Verhalten dargestellt, der stets für sich nutzenmaximierend handelt. Dabei verfügt er über lückenlose Informationen zu sämtlichen Entscheidungsalternativen und ihren Konsequenzen (vollkommene Markttransparenz). Der Homo oeconomicus handelt ausschließlich rational und reagiert eigeninteressiert auf die Anreizbedingungen der Situation. Es handelt sich hierbei um kein umfassendes Menschenbild, das der Wirklichkeit genau entspricht, sondern um ein Analyseinstrument für bestimmte Fragestellungen. 269 Der Ethiker kann mit Hilfe des Homo oeconomicus erforschen, unter welchen Bedingungen erwartet werden kann, dass Menschen im Sinne der Goldenen Regel handeln oder nicht. Er dient als analytisches Modell zur Untersuchung der Bedingungen für anreizkompatible Investitionen in die gesellschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil. Statt z.B. über fehlenden Mut von Unternehmern zu klagen, gilt es hierzu die Anreizbedingungen näher zu betrachten und eventuell zu ändern. Da es sich beim Homo oeconomicus aber eben nur um ein Modell und nicht die Wirklichkeit selbst handelt, vermag es natürlich auch Fehlinterpretationen geben. Da unser Denken immer selektiv ist, kann eben alles auch anders gesehen werden. 270 Im Zuge einer weiteren Differenzierung über den Homo oeconomicus wurde das philosophisch orientierte Menschenbild der ökonomischen Ethik mit den folgenden fünf Merkmalen entwickelt: 271 [1] Intentionalität: Der Mensch setzt sich bewusst für selbstgewählte Zwecke ein. [2] „Animal Sociale“: Bereits Aristoteles beschrieb den Menschen als 269 Vgl. Suchanek (2007), S. 177 270 Vgl. ebd., S. 177 ff. 271 Vgl. ebd., S. 186 ff. <?page no="107"?> 106 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de von Natur aus gesellschaftliches Wesen. Die Existenz anderer Menschen beeinflusst durch die Begegnung mit dem „Du“ die eigenen Entfaltungsmöglichkeiten. [3] Nicht-Bereitschaft zur Ausbeutung: Menschen sind nicht bereit, dauerhaft gegen ihre eigenen Interessen zu verstoßen. [4] Reflexions- und Lernfähigkeit: Aufgrund von Erfahrungen und Einsichten wird aus eigenen und den Fehlern anderer gelernt. [5] Fähigkeit zur Selbstbindung (Autonomie): Menschen können sich bewusst selbst gesetzten Regeln unterwerfen. Mit der Selbstbindung werden künftige Vorteile intendiert, die sich z.B. durch Kooperationen und Vermeidung von Konflikten ergeben. Eine ideale Gesellschaft, in der es weder Konflikte noch Probleme gibt, ist ganz sicher unrealistisch. Die ökonomische Ethik möchte den Status aber so weit wie möglich verbessern. Dies versucht Suchaneks Ansatz mit der Idee, Moral und Eigeninteressen (durch Investitionen in Handlungsbedingungen) füreinander fruchtbar zu machen, und soweit erforderlich, über glaubwürdige Selbstbindungen abzusichern (z.B. Code of Conducts). Sein realistisch orientierter Ethikansatz zielt nicht auf das Anstreben einer idealen Gesellschaft ab, die es obwohl wünschenswert, nie geben kann, sondern auf die Suche von besseren Alternativen zum Status. 272 Ulrich verweist vielmehr auf Rifkin 273 „Man ist nicht realistisch, wenn man keine Ideale hat.“ 44..66 WWe errtte emma annaag ge emme ennt t aalls s EEl leemmeenntt eeiinne es s pprrääv ve en ntti iv v wwi ir r-kkeennddeenn R Riis siik koommaan na ag ge emmeennttss n na ac ch h M Mi icch haae ell F Fü ür rs stt Nach Michael Fürst wurden bisher im Bereich der Wirtschaftskriminalität Warnsignale häufig nicht oder zu spät wahrgenommen, so dass bei der herrschenden Komplexität wirtschaftlicher Zusammenhänge die Institutionalisierung eines werteorientierten präventives Risikomanagements eine große Herausforderung darstellt. In der Ökonomie und Betriebswirtschaftslehre hat das Thema Risikomanagement in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Regulativ schlägt sich dies anhand der 272 Vgl. Suchanek (2007), S. 190 273 Rifkin, in Ulrich (2008), S. 19 <?page no="108"?> 4.6 Wertemanagement nach Michael Fürst 107 uvk.de in Kapitel 5 noch genauer dargestellten vielfältigen Gesetzesnovellen und Richtlinien nieder. Der von Michael Fürst 274 vorgeschlagene risikoorientierte Ansatz der Governance-Ethik befasst sich nicht mit der Begründung allgemeingültiger moralischer Sätze, sondern ausschließlich mit der Implementierung und Institutionalisierung der aus der Gesellschaft heraus entwickelten moralischen Regeln und Werte. Der Begriff Governance bezieht sich auf die Tätigkeit und Kontrolle der Leitung eines Unternehmens. Corporate Governance umfasst „die Steuerungsstrukturen zur Abwicklung wirtschaftlicher Transaktionen oder Austauschbeziehungen in, zwischen und mittels Unternehmen. Eine solche Steuerungsmatrix setzt sich zusammen aus Regeln und organisatorischen Einrichtungen zur Führung und Kontrolle eines Unternehmens.“ 275 Im Risikomanagement fanden bislang vorwiegend „hard facts“, wie Wechselkursveränderungen, Preiseinbrüche oder neue Technologien Berücksichtigung. Zu einem umfassenden Risikomanagement gehört jedoch auch die Integration von „soft facts“ (z.B. opportunistisches Verhalten, Korruptionsanfälligkeit), die über ein Wertemanagementsystem steuerbar sind. Wertemanagementsysteme beinhalten eindeutige Angaben über die erwünschten Verhaltensweisen und förderliche Anreizbzw. Sanktionssysteme. Ein nachhaltiges umfassendes wertorientiertes Risikomanagement zielt auf die Steuerung des Verhaltens in Bezug auf die gesamten Stakeholder. Hierzu bedarf es nach Fürst 276 bestimmter Anreiz- und Steuerungsmechanismen. Wertorientiertes Risikomanagement entfaltet präventive Wirkung und bewirkt die Sicherstellung und Entfaltung moralischer Werte eines Unternehmens. Die Risikokultur eines Unternehmens wird durch externe Einflüsse (Rahmenordnung) sowie interne Managementprozesse geprägt. Fürst 277 empfiehlt, Gefahren in einer Risiko-Relevanz-Matrix darzustellen, aus der hervorgeht, welche Risiken sowohl moralisch als auch ökonomisch signifikant sind. In dieser Matrix können potentielle Risiken den 274 Vgl. Fürst (2005), S. 34 275 ebd., S. 27 f. 276 ebd., S. 44 f., dito S. 123, 129, 130 277 Fürst, Michael (2005), S. 39 ff. <?page no="109"?> 108 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de ökonomisch relevant irrelevant moralisch relevant Korruption Betrug / Untreue mangelnde Integrität in Geschäftsbeziehungen (Ausbeutung, hold-up …) Diskriminierung Kinderarbeit (bei Projekten in En tw icklungslä ndern ) Unternehmen nicht ethical accountable - erschwerter Zugang zu Kapitalmärkten Arbeitssicherheit Kartellverstöße cultural misfit bei M&A- Prozessen Bau eines Fertigungsgebäudes für die Produktion von „Dual-Use-Produkten“ Bau eines Fertigungsgebäudes für die Tabakindustrie, den Hersteller von Abtreibungsmedikamenten etc. Nutzung natürlicher Ressourcen (z.B. Öl) Geschäftsbeziehungen mit Partnern in Lä ndern, in denen differente Wertvorstellungen gelten (z.B. Todesstrafe) technologische Entwicklung (Bioethik) … irrelevant Kreditrisiken Wettbewerb in den Märkten Qualität der Rohstoffe Handelsrisiken politische Risiken Abb. 8: Beispiel Risiko-Relevanz-Matrix 278 jeweiligen Vektoren zugeordnet werden und somit deren Relevanz für ein wertorientiertes Risikomanagement erhoben werden. Stellt sich beispielweise das Risiko für Untreue als moralisch und ökonomisch relevant dar, sind geeignete Gegenmaßnahmen zu entwickeln. 279 Die folgende 278 Fürst (2005), S. 41 279 ebd., S. 42 f. <?page no="110"?> 4.6 Wertemanagement nach Michael Fürst 109 uvk.de Matrix zeigt anhand des Beispiels eines Bauunternehmens, dass Risiken wie Korruption oder Betrug sowohl moralische als auch ökonomische Relevanz haben. Moralische Risiken, wie z.B. der Verbrauch natürlicher Ressourcen (z.B. Öl), sind ökonomisch in diesem Falle irrelevant. Handelsrisiken oder die Qualität von Rohstoffen sind zwar ökonomisch relevant, aber nicht moralisch. Michael Fürst 280 bezieht sich im Rahmen eines wertorientierten Risikomanagementansatzes auf die Erweiterung der bisherigen Risikomanagementsysteme, die in der Regel nur harte Faktoren berücksichtigen, um die Einhaltung vereinbarter oder erwarteter Verhaltensregeln. Auf der Grundlage des Transaktionskostenansatzes der Neuen Institutionenökonomik bildet er den Zusammenhang zwischen Transaktionskosten, Risiko und Faktorspezifität ab. Der Transaktionskostenansatz bildet zusammen mit dem Property- Rights-Ansatz und der Principal-Agent-Theorie einen der bedeutendsten Forschungsstränge der Neuen Institutionenökonomik. Ausgangspunkt der Transaktionskostentheorie bildet die 1937 erschienene Arbeit „The nature of the firm“ von Ronald Coase, der hierfür 1991 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. Coase bearbeitete die Frage, warum es Unternehmen gibt, die in der bis dahin vorherrschenden Theorie von vollkommenen Märkten keinen Platz finden. Er zog den Schluss, dass die von Adam Smith postulierte, das Marktgeschehen ordnende Unsichtbare Hand vielleicht unsichtbar sei, aber nicht kostenlos. Unternehmen beschreibt er als hierarchisches Vertragsgeflecht, für die bei der Nutzung von Märkten sogenannte Transaktionskosten auftreten. Die Transaktionstheorie unterstellt den Vertragspartnern eine begrenzte Rationalität aufgrund einer unvollständigen Aufnahme und Verarbeitung von Informationen. Darüber hinaus geht sie von opportunistischem Verhalten der Akteure aus, d.h. die Akteure versuchen ihren individuellen Interessen entsprechend ihren Nutzen zu maximieren. Transaktionen 281 bilden die Grundeinheit in der Transaktionskostentheorie. Sie umfassen alle Übertragungen von Verfügungsrechten an Gütern und Dienstleistungen in Austauschbeziehungen zwischen zwei Vertrags- 280 ebd., S. 44 ff. 281 Transaktion bezeichnet einen bedeutenden geschäftlichen Vorfall (lat.: Überführung, Übertragung), vgl. http: / / www.wirtschaftslexikon24 <?page no="111"?> 110 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de partnern. Transaktionskosten sind die Kosten, die durch die Transaktion (Übertragung) von Verfügungsrechten (z.B. Kauf, Verkauf, Miete) oder einer innerbetrieblichen Hierarchie entstehen. Transaktionskosten sind damit sämtliche Kosten, die im Zusammenhang mit einem Geschäftsabschluss anfallen. 282 Hierzu gehören z.B. Such-, Informations-, Verhandlungs,- Anpassungs- und Kontrollkosten. Nicht dazu zählen die reinen Produktionskosten. 283 Die Faktorspezifität gibt die transaktionsspezifische Investition an. Sie beschreibt die im Rahmen einer Transaktion erforderliche Investition in eine produktionsspezifische Anlage oder Qualifikation. Damit gibt sie Aufschluss über den Grad der wirtschaftlichen Wiederverwendbarkeit eines Investitionsobjektes. Entsprechend der Ursache der Verwendungsmöglichkeiten wird unterschieden zwischen Standortspezifität (räumliche Gebundenheit der Investition), Sachkapitalspezifität (spezialisierte Maschinen), Humankapitalspezifität (Ausbildung/ Qualifikation), Wid mungsspezifität (im Hinblick auf einen Kunden getätigte Investitionen ), Markennamenspezifität als Investitionen in Reputation, zeitliche Spe zifität (Investitionen, deren Wert von der Einhaltung eines bestimmten Zeitpunktes abhängt). 284 Da b ei der Beendigung einer Beziehung das Investitionsobjekt einen Wertverlust erleidet, besteht die Möglichkeit einer Absicherung (z.B. Kooperation oder geeignete institutionelle Arrangements). Das Ziel der Transaktionskostentheorie liegt darin, die durch einen Vergleich der anfallenden Transaktions- und Produktionskosten effizienteste Alternative für die Akteure auszuwählen. Schwierig stellt sich dabei die Operationalisierbarkeit der Transaktionskosten dar. Diesem Vorwurf wird mit der Argumentation begegnet, dass nur ein relativer Vergleich der Transaktionskosten durchgeführt werde, die absolute Höhe jedoch nicht von Bedeutung sei. 281 .net/ d/ transaktionskosten/ transaktionskosten.htm, Stand: 16.07.2009 283 Vahs/ Schäfer-Kunz (2007), S. 524 284 Vgl. Uni-Münster (2009) http: / / www.wiwi.uni-muenster.de / 06/ / toplinks/ gloss ar/ glossar.php? begriff=8, letzter Zugriff 17.06.2009 <?page no="112"?> 4.6 Wertemanagement nach Michael Fürst 111 uvk.de Davon ausgehend, dass Märkte und Hierarchien (Organisationen) über differente Strukturen und Eigenschaften verfügen, ist anzunehmen, dass sie mehr oder weniger für spezifische Transaktionen geeignet sind. Die unterschiedlichen Transaktionskosten sind in Bezug auf die Durchführung von Wertemanagement in der folgenden Abbildung dargestellt. Abb. 9: Die Wirkung von Wertemanagementsystemen nach Fürst in Anlehnung an Williamson 1991 285 Die Abbildung offenbart den Zusammenhang zwischen Transaktionskosten, Risiko, Faktorspezifität und Wertemanagement. Dabei ist die Graphik nicht im formalen Sinne exakt, sondern soll nur der exploratoren-heuristischen Betrachtung dienen. Die Grafik zeigt mittels der Dimensionen Transaktionskosten TK und Faktorspezifität (erforderliche transaktionsspezifische Investitionen) drei unterschiedliche Kostenfunktionen: die Markttransaktion M, die Hierarchische Transaktion mit Wertemanagement HTmW und die Hierarchische Transaktion ohne Wertemanagement HToW. Die Kostenfunktion HTmW (Hierarchische Transaktion mit Wertemanagement) startet im Vergleich zu HToW (Hierarchische Transaktion ohne Wertemanagement) auf der Abszisse auf einem absolut höheren Kostenniveau. Er- 285 Fürst (2005), S. 46 TK Faktorspezifität S1 S2 HTmW HToW M <?page no="113"?> 112 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de klärbar sind diese Kosten mit anfänglich kostenintensiveren Maßnahmen in ein Wertemanagement. Die Steigung der Kostenfunktion von HToW ist höher als die der HTmW. Ab einer bestimmten Höhe der Faktorspezifität (S2) liegen die Transaktionskosten der HTmW niedriger als die der HToW. Hier amortisiert sich also die Investition in ein Wertemanagement. Jede hierarchisch abgewickelte Transaktion mit Wertemanagement verfügt dann über ein günstigeres Verhältnis zwischen Transaktionskosten und Faktorspezifität bzw. Unsicherheit. Transaktionen werden also kosteneffizienter abgewickelt. 286 Die Differenz zwischen HTmW und HToW nach dem Schnittpunkt S2 kann als Ersparnis oder „Return on Ethics“ angesehen werden. Die dem Wertemanagement zugrunde liegenden Kräfte, wie Integrität, Vertrauen und Vertragstreue können demnach zu einer Einsparung bei Such-, Verhandlungs-, Abwicklungs- und Kontrollkosten führen. Bis zu den Punkten S1 und S2 sind Transaktionen, die über den Markt bzw. ohne Wertemanagement durchgeführt werden, kostengünstiger. In der Praxis stellt sich allerdings das Problem, den exakten Schnittpunkt zu lokalisieren, an dem sich das Umsteigen lohnt. Nach Fürst macht es keinen Sinn, zu versuchen, zwischen den besten Handlungsoptionen umherzuspringen, sondern man sollte sich frühzeitig für die Etablierung eines Wertemanagements entscheiden. Dieses zielt auf eine präventive, nachhaltige und umfassende Wirkung ab. In Anlehnung an die in der Principal-Agency-Theory dargelegte Signaling-Funktion wird eine Präferenz für moralisches Verhalten signalisiert (signaling) und über Sanktionsdrohungen (Screening-Funktion) klargestellt, dass ein Verstoß gegen Verhaltensregeln nicht ohne Konsequenzen bleibt. Durch den handlungssteuernden Charakter entsteht eine Risikoreduktion in Transaktionen bzw. Kooperationen. 287 Die Prinzipal-Agent-Theorie zählt heute neben der Transaktionskostentheorie, der Theorie der Verfügungsrechte und der Ressourcentheorie zu den führenden Erklärungsansätzen der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion. Sie bietet ein Modell, um das Handeln von Menschen in einer Hierarchie zu erklären und trifft generelle Aussagen zur Gestaltung 286 Vgl. Fürst (2005), S. 47 287 Fürst (2005), S. 44 <?page no="114"?> 4.6 Wertemanagement nach Michael Fürst 113 uvk.de von Verträgen. Ihre Grundzüge gehen auf die Theorie unvollständiger Verträge zurück, die unter anderem Ronald Coase begründete. Wie die Erfahrung zeigt, gehen die Prozesse nicht konfliktfrei einher. Das Ziel besteht darin, organisationales Lernen anzustoßen, welches mit Interessenkonflikten einhergeht und eine Organisationsentwicklung zum Besseren nach sich zieht. Risiko entsteht durch ungewisses Verhalten, welches durch individuelle und kollektive Werte gesteuert wird. Wertemanagementsysteme versuchen deshalb Einfluss zu nehmen auf individuelle und kollektive Werte im Unternehmen. 288 Für die Steuerung einer Organisation hinsichtlich ethischer Werte entwickelte das KIWM (Konstanz Institut für Werte Management) vier abzuarbeitende Prozesstufen des Wertemanagements. Beginnend mit einer Kodifizierung der Grundwerte des Unternehmens (vgl. hierzu auch Abb. 8: Risiko-Relevanz-Matrix), gilt es anschließend auf der zweiten Stufe diese intern und extern zu kommunizieren. Hierzu sollen die identifizierten Werte in den Unternehmensalltag implementiert werden (z.B. Leitlinien; Arbeitsanweisungen, Karriereplanungen, Zielvereinbarungen, Entgeltpolitik, Lieferantenbewertungen etc.). Auf der dritten Stufe sind die Instrumente (z.B. Compliance-Programm, Werteprogramm, Ethik-Audit-System) mit einzelnen Maßnahmen miteinander zu verknüpfen und abzustimmen, um einheitliches, möglichst konfliktfreies Handeln zu ermöglichen. So dürfen z.B. Entlohnungs- und Bonisysteme nicht ausschließlich umsatz- oder gewinnorientiert ausgestaltet sein, sondern müssen integres Verhalten berücksichtigen. Die vierte Stufe befasst sich mit der übergeordneten organisatorischen Eingliederung. Während im nordamerikanischen Raum eher Ethic Offices gebildet werden, erfolgt die Integration in Deutschland eher im Rahmen der Qualitätssicherung, der internen Revision, der Kommunikationsabteilung oder als Stabsstelle der Unternehmensführung. Alle aufgezeigten organisatorischen Möglichkeiten sind gangbar, sofern sie glaubwürdig und aktiv von der Unternehmensleitung gestützt werden. 289 Zusammenfassend stellt Fürst 290 fest, dass in dem dargestellten Ansatz die Transformation individueller Werte zu einem organisationalen Anlie- 288 ebd., S. 52 289 Fürst (2005), S. 53 ff. 290 ebd., S. 55 f. <?page no="115"?> 114 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de gen im Vordergrund steht. Die moralischen Grundlagen der Corporate Governance und des Risikomanagements bestimmen maßgeblich die Qualität und Kontrolle der Führung eines Unternehmens. Damit Werte und Ziele der Mitarbeiter entsprechend ausgeprägt werden, bedarf es eines Wertemanagementsystems. Hierbei handelt es sich nicht um eine einmalige Einführung, sondern um einen dauernden Lernprozess, in dem moralische Kompetenzen angeeignet werden als positiver Beitrag zur Sicherung des Unternehmens in ökonomischer, juristischer und gesellschaftlicher Hinsicht. Die Wirkung von Risikomanagementsystemen als Bestandteil einer guten Corporate Governance hängt stark davon ab, wie umfassend und integrativ sie angelegt s in d. Fürst stellt in seinem Ansatz anschaulich den Kostenvorteil durch die Integration moralischer Werte dar. Aufgrund der Investition in Humankapital- und Markennamenspezifität entstehen mittelbis langfristig Transaktionskostenvorteile. So schützt im Rahmen des Wertemanagementsystems moralisch geschultes Mitarbeiterverhalten beispielsweise vor teuren Korruptionsskandalen. Eine zuverlässige Reputation reduziert Such,- Informations- und Verhandlungskosten. Die von Fürst aufgeführten Prozessstufen eines Wertemanagementsystems ähneln den von Ulrich entwickelten Bausteinen eines integrativen Ethikprogramms. Ein eklatanter Unterschied besteht jedoch in der bei Fürst fehlenden expliziten Berücksichtigung von Stakeholdern. Da sich Fürst für die Implementierung und Institutionalisierung der aus der Gesellschaft heraus entwickelten moralischen Regeln und Werte ausspricht, verfolgt er nicht ausschließlich das unternehmerische Gewinnmaximierungsprinzip. <?page no="116"?> 4.7 Hippokratischer Eid für Manager 115 uvk.de 44..77 HHiippppookkrraattiisscchhe err EEiidd ffüürr MMaannaaggeerr nnaacchh RRaakkeesshh KKhhuurraannaa uunndd NNiittiinn NNoohhrriiaa Rakesh Khurana und Nitin Nohria 291 befassen sich mit der „Neuerfindung“ des Managers. Den Verfall von Vertrauen und Selbstkontrolle in der Wirtschaft aufzuhalten bedürfe es einer echten Profession, vergleichbar den Ärzten oder Juristen. Während für diese beiden Berufsgruppen offizielle Zulassungen und Fortbildungsverpflichtungen zur Tätigkeitsausübung festgeschrieben sind, müssen Manager nichts dergleichen vorweisen. Die Autoren fordern, dass Manager ebenfalls eine Prüfung vor Ausübung ihres Berufes ausüben sollten mit der Verpflichtung zur ständigen Weiterbildung. 292 Der Schaden, den nicht richtig ausgebildete Manager in einer immer komplexeren globalisierten Welt anrichten können, kann zu katastrophalen Auswirkungen führen. Aufgrund der hohen internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen steigt das Risiko unüberschaubarer Dominoeffekte. Dies zeigt nicht zuletzt die Subprime- Krise in den USA oder die Staatsschuldenkrise Griechenlands mit eklatanten Auswirkungen auf Europa und teilweise auch die restliche Welt. Dennoch glauben viele Manager, anders als in der Medizin, wo die Professionalisierung drastisch Schäden unzureichend ausgebildeter Ärzte reduzierte, könnte man wirtschaftliche Belange allein durch gesunden Menschenverstand und die richtige Intuition bewältigen. Ausnahmen kreativer Genies, wie Bill Gates (Abbruch seines Harvard Studiums nach zwei Jahren), Steve Jobs (Studienabbruch nach einem Semester), Michael Dell (Abbruch des Medizinstudiums) und Mark Zuckerberg (Abbruch seines Psychologiestudiums), scheinen diese Meinung zu bestätigen. Sie alle verfügten über keine oder nur eine geringe Managementausbildung und prägten den Fortschritt stärker als die meisten ausgebildeten Manager. Dennoch spricht nichts dagegen, unternehmerische Talente durch 291 Vgl. Khurana/ Nohria (2009), S. 28 292 Vgl. ebd., S. 24 <?page no="117"?> 116 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de systematische Wissensvermittlung zu untermauern und Nachhaltigkeitsaspekte zu stärken. Im Rahmen der Business-School-Bewegung werden Zertifizierungen und ein eigener Verhaltenskodex angestrebt. Diese Ziele sind bis heute nicht umgesetzt. Es gibt zwar einzelne Unternehmen, die individuelle Verhaltenskodizes entwickelt haben, aber eine allgemein anerkannte Zusammenstellung an Werten für den gesamten Berufszweig, hinter der eine Standesvertretung mit befugten Kontrollrechten steht, existiert bislang nicht. 293 Zur Erhöhung der Profe ssionalität un d Ethik in M an agem entber uf e n soll te a nalo g zu Är zten und Anwälten die Einführung eines hippokratischen Eids für Manager vorgenommen werden. So wie Är zte die U na nta stba rkei t des men schl ic he n Le be ns u nd Anw ält e die Gerechtigkeit zu vertreten haben, sollten durch einen Eid für Manager nicht nur die Interessen des Unternehmens, sondern auch die der Gesellschaft berücksichtigt werden. Dieser Eid könnte laut Khurana/ Nohria 294 wie folgt beginnen: „Als Manager diene ich der Gesellschaft als Treuhänder einer ihrer wichtigsten Institutionen: Unternehmen, die Menschen und Ressourcen zusammenbringen und dadurch wichtige Produkte und Dienstleistungen hervorbringen, die ein Einzelner allein nicht hervorbringen könnte ... Nachhaltiger Wert entsteht, wenn es {das Unternehmen} ein rentables, soziales und umweltverträgliches Ergebnis erzielt ... Ich gelobe, dass Belange, die von Vorteil für meine Person sind, niemals Vorrang vor dem Interesse des Unternehmens haben werden, mit dessen Management ich betraut bin ... Ich werde gleichermaßen wachsam auf die Integrität anderer in meiner Umgebung achten und auf Handlungen anderer aufmerksam machen, die einen Verstoß gegen diesen gemeinsamen Berufskodex darstellen. ... Ich übernehme die Verantwortung dafür, die Standards der Managementprofession selbst zu 293 Vgl. Khurana/ Nohria (2009), S. 23 294 Khurana/ Nohria (2009), S. 29 <?page no="118"?> 4.8 117 uvk.de verkörpern, zu schützen und weiterzuentwickeln, um diesen Respekt und diese Ehre zu mehren.“ Wenn auch der von Khurana/ Nohria vorgeschlagene Eid für hiesige Verhältnisse etwas pathetisch klingt, bleibt der Kern erstrebenswert. Leider liegt die Problematik in Bezug auf Ethik-Kodizes oder Eide darin, dass sie in einigen Unternehmen viel Lob erfahren, aber über reine Lippenbekenntnisse nicht hinausgehen. Ein trauriges Beispiel bildet unter anderem der US-amerikanischen Energie-konzern Enron, der trotz hehrer Unternehmensgrundsätze mittels Bilanzfälschungen bei seiner Insolvenz einen Börsenwert von 60 Milliarden US-Dollar vernichtete. Interne Kodizes alleine reichen deshalb nicht aus. Sie müssen transparent und von außen überprüfbar sein. 44..8 8 CCSSRR--AAnnssaattzz n naacchh M Miicchhaall E E.. PPoorrtteerr uunndd MMaarrk k RR.. KKrra ammeerr Nach Michael Porter und Mark Kramer 295 haben Regierungen, Umweltorganisationen und Medien in den vergangenen Jahren so viel Druck auf Unternehmen ausgeübt, sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu stellen, dass die Firmen inzwischen ethische Themen zunehmend strategisch annehmen. Nach Angaben der Autoren hatten von den 250 größten internationalen Konzernen 64 % im Jahr 2005 CSR-Berichte unterschiedlicher Qualität veröffentlicht. 296 Viele Unternehmen behandeln Wirtschaftsethik lückenhaft und unkoordiniert mit der Gesamtstrategie des Unternehmens. In öffentlichen Rankings kann nachgelesen werden, wie Unternehmen mit dem CSR-Thema umgehen. Dabei können Selbstauskünfte oft schwierig kontrolliert werden. Teilweise werden kostengünstig und einfach verfügbare Daten genutzt, die keine verlässlichen Anhaltspunkte liefern .297 295 Vgl. Porter/ Kramer (2007), S. 16 296 Vgl. ebd., S. 18 297 Vgl. ebd., S. 20 <?page no="119"?> 118 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de Die Autoren weisen darauf hin, dass CSR (Corporate Social Responsibility) nur einen Sinn ergibt, wenn sich gesellschaftliches Engagement und Unternehmensstrategie ergänzen, so dass beide Seiten Vorteile erwirken. Unternehmen sollten nach Porter/ Kramer Themen auswählen, die für ihr spezielles Geschäft Vorteile bieten und darüber hinaus einen gemeinsamen Mehrwert schaffen. Anhand der von Porter entwickelten Wertschöpfungskette können zahlreiche Ausgangspunkte für nachhaltiges Unternehmensverhalten identifiziert werden. Wie Abbildung 10 zeigt, können im Rahme n der nachhaltig ke it sori ent ie rten An alys e v on Ke rnpr ozess en und unterstützenden Prozessen wichtige Maßnahmen erarbeitet werden, die sowohl dem Unternehmen als auch der Gesellschaft dienen. Porter/ Kramer weisen darauf hin, dass erfolgreiche Unternehmen von einer gesunden Gesellschaft aufgrund steigender Nachfrage und wachsender Ansprüche profitieren. 298 299 CSR eröffne eine Quelle von Innovationen und Wettbewerbsvorteilen. 300 Die Hotelkette Marriot unterstützt z.B. lokale Sozialdienste. Die Sozialdienste schicken unbeschäftigte Kandidaten zu Marriot, die dort eine bezahlte 180-stündige theoretische und praktische Ausbildung erhalten. 90 % der Absolventen arbeiten anschließend bei Marriot, davon nach einem Jahr noch 65 %. Diese Verbleibquote ist deutlich höher als normalerweise üblich. Einerseits wurden die Sozialleistungen des Staates entlastet, andererseits konnte Marriot seine Kosten für die Einstellung von Berufsanfängern erheblich reduzieren. 301 299 Vgl. Porter/ Kramer (2007), S. 22 300 Vgl. ebd., S. 16 301 Vgl. ebd., S. 31 <?page no="120"?> 4.8 CSR-Ansatz nach Porter und Kramer 119 u vk.de <?page no="121"?> 120 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens u vk.de Abb. 10: Soziales Engagement entlang der Wertschöpfungskette 297 297 Vgl. Porter/ Kramer (2007), S. 22 <?page no="122"?> 4.8 CSR-Ansatz nach Porter und Kramer 121 uvk.de Ein weiteres Beispiel zeigt die integrierte Strategie des Nahrungsmittelherstellers Nestlé. Als Nestlé auf dem indischen Markt einstieg, lieferten zunächst 180 lokale Farmen Milch, 2007 waren es 75000. 1962 erhielt Nestlé die Genehmigung, eine Molkerei im nördlichen Distrikt von Moga zu errichten. In der Region herrschte große Armut, da die Böden schlecht bewässert und unfruchtbar waren. Viele hatten nur eine einzige Kuh, die gerade Milch für die eigene Familie geben konnte. Die Kälbersterblichkeitsrate war sehr hoch. Wo es gelang, einen Überschuss an Milch zu erzeugen, konnte dieser mangels Infrastruktur nicht weitertransportiert werden. Nestlé richtete deshalb in den Städten lokale Kühlhäuser ei n und sende t e Ti erärzte, Ernä hrung s - und Agrarw iss ens c haft le r. Die Bewässerungssysteme wurden verbessert, so dass Kühe und Felder bessere Erträge einbrachten. Die Sterberate bei Kälbern sank um 75 %, die Milchproduktion stieg um das 50-fache. Da sich auch die Qualität der Milch verbesserte, konnte Nestlé höhere Preise zahlen als die Regierung festgelegt hatte. Die Farmer wurden durch die regelmäßigen Einnahmen kreditwürdig. Weitere Molkereien und Milchfabriken siedelten sich an. Der Lebensstandard in Moga verbesserte sich deutlich gegenüber den Nachbarregionen. Die meisten Haushalte verfügten nun über Elektrizität und einen Telefonanschluss. In allen Dörfern wurden Grundschulen eingerichtet und vielfach weiterführende Schulen. Nestlé gelang es so, sich mit hochwertigen Erzeugnissen ohne Mittelsmänner zu versorgen. Weitere Kernprodukte wie Kaffee oder Kakao werden oft von kleinen Farmen in Brasilien, Thailand und verschiedenen Entwicklungsländern mit ähnlichem sozialem und wirtschaftlichem Erfolg erschlossen. 302 Die beiden Beispiele zeigen eine idealerweise umfassende gegenseitige Unterstützung von Wirtschaft und Gesellschaft. Nach Porter/ Kramer sollten Unternehmen entlang der eigenen Wertschöpfungskette analysieren, wo die Chancen für effektives Engagement liegen. Letztlich schafft eine gesunde Gesellschaft eine bessere Nachfrage, da menschliche Bedürfnisse befriedigt werden und Ansprüche wachsen. 303 Die Grenzen des Ansatzes von Porter/ Kramer liegen dort, wo (kurz-, mittelbis langfristig) nicht immer Win-win-Situationen für 302 Vgl. Porter/ Kramer (2007), S. 33 303 Vgl. Porter/ Kramer (2007), S. 23 <?page no="123"?> 122 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de alle Beteiligten erzielbar sind, so dass zwischen konkurrierenden Werten und Kosten abzuwägen ist. Der Ansatz stellt kein ganzheitliches Konzept dar, sondern bezieht sich ausschließlich auf die das Unternehmen tangierenden sozialen Bereiche. Dies ist sicher ein Anfang, sollte aber nicht die Endstation eines umfassenden Wertemanagements sein. Der Ansatz zählt zu den instrumentalistischen Ansätzen, da CSR für die Autoren nur einen Sinn macht, wenn sich gesellschaftliches Engagement und Unternehmensstrategie ergänzen, so dass beide Seiten Vorteile erhalten. Uneigennütziges Engagement ist nicht vorgesehen. CSR wird reduziert auf eine Quelle für Innovationen und Wettbewerbsvorteile. 44..99 ZZuussaammm me en nffa asssseennddeer r VVeer rgglleei icchh ddeer r ddaarrgge es stte el llltteen n EEtth hiik k-- AAnnssäättzze e Seit der Antike beschäftigt sich die Menschheit mit Fragen zum moralischen Selbstverständnis. Die Orientierung an den Tugenden sollte helfen, ein glückliches gelingendes Leben zu führen. Im Mittelalter fanden moralische Normen ihre Begründung in übergeordneten Autoritäten, z.B. in den Geboten Gottes. Im Rahmen der Aufklärung wurde im Utilitarismus die Frage, warum moralisch zu handeln sei, mit „dem größten Glück der größten Zahl“ beantwortet. Dieses Glück wurde wiederum mit dem Eigeninteresse und dem Wohlwollen (Empathie) gegenüber anderen Menschen und dem Bedürfnis nach sozialer Anerkennung erklärt. Als problematisch erweist sich hier, dass die Nutzenverrechnung zugunsten der größten Zahl einzelne Eigeninteressen um der Wohlfahrt willen opfert. Fraglich ist, ob eine solche Verrechnung vereinbar ist mit dem fundamentalen Wert der menschlichen Würde jedes Einzelnen. 304 Kant löst das Problem der unbedingten Verbindlichkeit als wesentliches Kennzeichen des moralischen Sollens auf, indem er dieses Sollen unabhängig von empirischen Bedingungen a priori aus der Vernunft begründet. Seine Erklärung entspricht der Idee, dass jeder Mensch zur Freiheit 304 Vgl. Suchanek (2007), S. 170 <?page no="124"?> 4.9 123 uvk.de und Selbstbestimmung begabt ist. Hierin liegt seine Würde, die von jedem anerkannt und zu respektieren ist. Durch die Anerkennung des anderen erfolgt moralisches Handeln und nicht wegen eines zufälligen Ziels, wie Hungerbekämpfung oder Einkommensvergrößerung. Die Form des vernünftigen Wollens drückt Kant durch seinen kategorischen Imperativ aus: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ 305 Problematisch erweist sich hier die Trennung des moralischen Sollens von empirischen Bedingungen. Offen bleibt die Frage, wie und unter welchen Bedingungen Ausnahmen von der strikten Pflicht erfolgen können. Es entsteht deshalb ein Defizit an Stabilität und Verlässlichkeit. In der ökonomischen Ethik (z.B. Homann, Suchanek) wird die Frage des moralischen Handelns damit beantwortet, dass es für einen selbst vorteilhaft sei. Es geht um die eigene und gleichzeitig allgemeine Besserstellung. Was für die Allgemeinheit gut ist, sei letztlich auch für den Einzelnen gut. Aufgrund der gegenseitigen Interaktionen führt die Vernachlässigung der Interessen der anderen zu einer wechselseitigen Schlechterstellung (Dilemmastrukturen). Unmittelbare Interessen werden reflektiert und der Vernunft unterworfen. Dabei geht es nicht darum, dass eigene Interessen eine nachgeordnete Rolle spielen, sondern dass sie in einer vernünftigen Weise verfolgt werden. Eine langjährige Freundschaft setzt man nicht aufs Spiel für einen kurzfristigen Vorteil. Ein Unternehmen riskiert seine gute Reputation durch unlautere Vorgehensweise. Unsere täglichen Erfahrungen zeigen dennoch, dass es häufig schwierig ist, bestehenden Versuchungen der kurzfristigen Vergünstigung gegenüber langfristigen Vorteilen zu widerstehen. Deshalb ist es sinnvoll, unterstützend Formen der Selbstbindung zu finden. Daraus resultiert die praktische Aufgabe der Ethik, den Sinn und die Umsetzungsbedingungen vernünftiger individueller und kollektiver Selbstbindung zu klären. Auf der Basis einer Diagnose (Problemidentifizierung) gilt es, eine Therapie (Lösungsschritte) zu entwickeln in Form von Investitionsmöglichkeiten in die Gesellschaft zum gegenseitigen Vorteil. Entsteht in bestimmten Situationen auch langfristig kein individueller Vorteil für bestimmtes Handeln, müssen über Institutionen anreizkompatible Regeln geschaffen werden. 306 Diese Regeln bieten eine gute Grundlage für ethi- 305 Kant (1968), Berlin, S. 421 306 Vgl. Suchanek (2007), S. 174 ff. <?page no="125"?> 124 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de sches Handeln. Darüber hinaus bietet die ökonomische Ethik keine interne Begründung moralisch motivierenden Handelns. Sie bildet keine umfassende Theorie, sondern bezieht sich auf die funktionale Analyse von Moral unter der Kosten-Nutzen-Perspektive ökonomisch rationaler Wirtschaftssubjekte. Ihr Ziel ist die Erklärung, Prognose und sozialtechnische Nutzung externer Wirkungen. 307 Als Grundlage moralischen Handelns wird auf die eigene und gleichzeitige allgemeine Besserstellung verwiesen (externe Begründung). Moral und Eigeninteresse sollen füreinander fruchtbar gemacht werden über Investitionen in Handlungsbedingungen. Die dahintersteckende Meinung, was für die Allgemeinheit gut ist, sei letztlich auch für den Einzelnen gut, gilt aber nicht immer. Dem Ziel, der Erklärung moralischen Handelns, wird die ökonomische Ethik nicht gerecht, da das ausschließliche Eigeninteresse zu kurz greift und beispielsweise altruistisches Verhalten keine Berücksichtigung findet. Es besteht die Gefahr, moralisches Verhalten auf ein Kostensenkungsprogramm durch die Minimierung von Transaktionskosten zu reduzieren. In der Diskursethik wird versucht, dem Problem der Verlässlichkeit aus der Kantschen Ethik nachzugehen. Auf der Grundlage der These, dass die Vernunft des Menschen durch Sprache zur Geltung kommt, erfolgt die wechselseitige Anerkennung aller Mitglieder als gleichberechtigte Diskussionspartner. Handeln wird demnach an der Grundnorm, dass es von allen Betroffenen in einer zustimmungsfähigen Weise begründet werden kann, ausgerichtet. Mit dem fairen Argumentationsprozess liefert die Diskursethik einen praktikablen Ansatz, wie unter empirischen Randbedingungen eine Lösung für moralische Probleme gefunden werden kann. Als schwierig erweist sich dabei, dass es selbst bei einem fairen Argumentationsprozess sein kann, dass alle Beteiligten trotz guten Willens gar keinen Konsens finden oder sich alle Beteiligten gemeinsam irren. Selbst wenn eine Übereinstimmung aller Beteiligten erzielt wird, handelt es sich aufgrund der utopischen Prämissen eher um einen idealtypischen als um einen faktischen Konsens. Die integrative Ethik Ulrichs legt einen Schwerpunkt auf die Begründung des vernunftethischen Standpunkts der Moral. Sie bindet Vernunft nicht wie die Diskursethik an einen fairen Argumentationsprozess, sondern 307 Ulrich (2008), S. 114 <?page no="126"?> 4.9 125 uvk.de beschreibt sie als bereits in sich selbst befindlich. Der Ansatzpunkt zur Integration von ökonomischer Rationalität und ethischer Vernunft liegt in der Erkenntnis, dass der moralische oder ethische Charakter nicht zum rationalen Charakter einer Handlung sekundär dazukommt, sondern in sich selbst steckt. Als ökonomisch vernünftig gelten Handlungen, die nicht nur für den Handlungsträger selbst effizient, sondern für alle Betroffenen vertretbar sind. Inwiefern moralisches Handeln zugemutet werden kann, wenn es nachhaltig gegen eigene Interessen verstößt und persönliche wirtschaftliche oder soziale Nachteile nach sich zieht, kann nur auf kritisch normativem Weg unter Abwägung aller konfligierenden In teressen abgewog en werden. Di e I nt er essenabw ägu ng könnte im f ai re n Argumentationsprozess der Diskursethik erfolgen. Beide Ansätze stehen sich sehr nahe. Ulrich führt jedoch noch zusätzlich vielfältige erforderliche Rückenstützen für nachhaltig lebensdienliches Wirtschaften an, bei denen die drei Orte der Moral, nämlich der Staat (z.B. gesetzliche Regelungen), die Unternehmen (z.B. Selbstverpflichtungen) und der Wirtschaftsbürger (z.B. Wahrnehmung der Verantwortung als Staatsbürger) miteinander zusammenwirken müssen. Tabelle 7 fasst ansatzweise die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale der dargestellten ethischen Richtungen zusammen. Die Schlüsselfrage 308 lautet, welchen 309 Interessen 310 ein Unternehmen zu dienen hat. Hat es nur Rechenschaft gegenüber den Eigenkapitalgebern abzulegen oder auch gegenüber anderen Bezugsgruppen wie Mitarbeitern oder der Gesellschaft? In Anlehnung an Fisher/ Lovell 311 können verschiedene Unternehmenstypen hinsichtlich ihres ethischen Selbstverständnisses unterschieden werden, das sich unter anderem in der Berücksicht igung von unternehmensexternen Interessen widerspiegelt. Fisher/ Lovell 312 fügen den hier dargestellten drei Ansätzen noch einen vierten, den „Kritischen Ansatz“ an. Vertreter dieser Richtung halten die Wirtschaft für zu einseitig kapitalistisch orientiert, ohne jedoch eine fundierte theoretische Grundlage für eine Alternative zu bieten. 308 Fisher/ Lovell (2009), S. 18 ff. 309 ebd., S. 18 ff. 310 ebd., S. 18 ff. 311 ebd., S. 18 ff. 312 Vgl. Fisher/ Lovell (2009), S. 20 ff., 29 <?page no="127"?> 126 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de Ansatz Begründung von Moral ethische Zielsetzung Regulierung Defizit Antike / Aristoteles Gutes resultiert aus der Seele gemäß Vernunft. Das Gute der Seele zeigt sich in den Tugenden. Endziel des menschlichen Strebens ist Glückseligkeit eingebettet in ein gutes gelingendes Leben. Oberstes Gebot ist das Gemeinwohl der Bürger. Ethische Pflicht, Gutes zu tun. Staatskunst, Bürger zur Tugend auszubilden. Ethik, Ökonomie und Politik gehören untrennbar zusammen. Aristoteles unterstellte Harmonie von individuellem moralischem Handeln und sozialer Ordnung trifft in der Wirklichkeit nicht immer zu. Religionen Moral wird von übergeordneten religiösen Geboten abgeleitet (z.B. im Christentum die 10 gebote Gottes). Verantwortung für das eigene Handeln. Gerechtes Leben miteinander, soziales Handeln. Gewinnstreben a priori weder gut noch schlecht. Fast autark vom Staat (Staat zieht automatisch Kirchensteuer ein und unterstützt mit Steuergeldern teilweise kirchliche Ämter). In der heutigen Zeit zunehmend geringere Anerkennung einer göttlichen Instanz. Kant Jeder Mensch ist zur (Entscheidungs-)Freiheit und Selbstbestimmung begabt. Seine Würde ist von jedem anzuerkennen (unantastbar). Anerkennung der Würde der Mitmenschen. Moralisches Handeln gemäß kategorischem Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Problematisch erweist sich die Trennung des moralischen Sollens von empirischen Bedingungen. Offen bleibt, wie und unter welchen Bedingungen Ausnahmen von der strikten Pflicht erfolgen können. Daraus resultiert ein Defizit an Stabilität und Verlässlichkeit. <?page no="128"?> 4.9 127 uvk.de Utilitarismus (Jeremy Bentham, John Stewart Mill u.a.) Moralisches Handeln erfolgt aus Eigeninteresse und Empathie den anderen gegenüber, menschlicher Wunsch nach nach sozialer Anerkennung. Moralität ist an den Folgen festzumachen. Maßstab für die Folgebewertung ist der Nutzen. Der Nutzen aller ist zu berücksichtigen (größtes Glück der größten Zahl von Menschen). 313 Moralisch ist, was dem „Glück der größten Zahl“ dient. Die Nutzenverrechnung zu Gunsten der größten Zahl opfert einzelne Eigeninteressen um der Wohlfahrt willen. Fraglich ist, ob eine solche Verrechnung vereinbar ist mit dem fundamentalen Wert der menschlichen Würde jedes Einzelnen. Diskursethik (Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel u.a.) Vernunft des Menschen kommt durch Sprache zur Geltung. Wechselseitige Anerkennung aller Mitglieder als gleichberechtigte Diskussionspartner. Moralisches Handeln wird an der Grundnorm, dass es von allen Betroffenen in einer zustimmungsfähigen Weise begründet werden kann, ausgerichtet. Ideale Diskursvoraussetzungen in der Praxis kaum möglich; kein faktischer, sondern nur ein idealtypischer Konsens möglich; Gefahr, dass alle Beteiligte trotz guten Willens gar keinen Konsens finden oder sich alle Beteiligte gemeinsam irren. 313 Vgl. Suchanek (2007), S. 18 <?page no="129"?> 128 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de ökonomische Ethik (Andreas Suchanek, Karl Homann, Lütge u.a.) Menschen sind eigennutzenorientiert. Als Grundlage moralischen Handelns wird auf die eigene und gleichzeitig allgemeine Besserstellung verwiesen (externe Begründung). Keine interne Begründung moralisch motivierten Handelns. Menschen befolgen moralische Normen im Normalbetrieb moderner Gesellschaften dann und nur dann, wenn sie davon - zwar nicht im Einzelfall, aber in der Sequenz von Einzelfällen - individuelle Vorteile erwarten (können). Funktionale Analyse von Moral unter der Kosten- Nutzen- Perspektive ökonomisch rationaler Wirtschaftssubjekte. Moral und Eigeninteresse sollen füreinander fruchtbar gemacht werden über Investitionen in Handlungsbedingungen. Die goldene Regel 314 reformuliert als zentrale moralische Norm „Investieren in die Bedingungen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil.“ Für den verantwortlichen Gebrauch individueller Freiheit anreizkompatible Institutionen nötig. Reflexionsstopp, da nicht weiter nach Legitimation von Moral geforscht wird. Gefahr der gezielten subjektiven Ausnutzung von „Moral“ für außermoralische Zwecke. Ansatz, der primär auf dem Eigen- und Gewinninteresse basiert und Stakeholder nicht umfassend einbezieht. Ob Moral anreizkompatibel sein muss, ist hinterfragbar. 314 Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst! (vgl. Kap. 3.1 dieser Arbeit) <?page no="130"?> 4.9 129 uvk.de Integrative Wirtschaftsethik (Ulrich u.a.) Normativität nicht die Kehrseite der Rationalität, sondern deren Fundament. Der Ansatzpunkt zur Integration von ökonomischer Rationalität und ethischer Vernunft liegt in der Erkenntnis, dass der moralische oder ethische Charakter nicht zum rationalen Charakter einer Handlung sekundär dazukommt, sondern in sich selbst steckt. Der Mensch verfügt über eine soziale Veranlagung aus dem Urinteresse der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Als ökonomisch vernünftige Handlungen gelten nur die, die nicht nur für den Handlungsträger selbst effizient, sondern für alle Betroffeneen vertretbar sind. Permanenter Prozess der vorbehaltlosen kritischen Reflexion und Gestaltung tragfähiger normativer Bedingungen der Möglichkeit lebensdienlichen unternehmerischen Wirtschaftens. Emanzipation aller gemeinsam partiell aus den Zwängen des Wettbewerbs, z.B. durch alternative Arbeitszeitmodelle (Verkürzung der Lebensarbeitszeit), neue Sozialpolitik (ökonomische Grundsicherung außerhalb der Erwerbsarbeit). Prüfung, was aus ethischer Sicht Vorrang vor dem Gewinnstreben verdient. 315 Deliberative Wirtschaftspolitik. Vitalpolitische Gesichtspunkte. Geforderte Rückenstützen: eine staatsbürgerliche Bildung auf allen Schulstufen die rechtliche Ausstattung mit Informations-, Kommunikations- und und Klagerechten korruptionshemmende steuer- und strafrechtliche Bestimmungen branchenübergreifende Vereinbarungen zur kollektiven Selbstbindung ein Ethikkodex mit klaren einschlägigen Regelungen Umfassende Konzeption, teilweise idealisierend. Weitgehende Eingriffe in Wirtschaftsautonomie, wenn staatliche Eingriffe bei Preisbildung (z.B. Mieten) erfolgen. Tab. 7: Vergleichende Zusammenfassung ethischer Ansätze 315 Ulrich (2008), S. 450 <?page no="131"?> 130 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens uvk.de Aspekt Klassisch liberale Ansätze Corporatistische Ansätze Pluralistische Ansätze Grundannahme Märkte regulieren sich weitgehend selbst. „Laissez-faire-Kapitalismus“ (häufig in USA vertreten). Unternehmer vertrauen auf Marktregulierung durch freien Wettbewerb, räumen dabei Mitarbeitern und Staatsinteressen einen höheren Stellenwert ein (häufig vertreten in Deutschland, Japan, Schweden). Staatliche Regulierungen werden als sehr wichtig betrachtet, da sonst Wettbewerbsdefizite und gesellschaftliche Nachteile entstehen. Ziele Bei Unternehmensentscheidungen steht nur das eigene Unternehmensinteresse im Vordergrund. Gewinnmaximierung für Eigenkapitalgeber als Ergebnis eines effizienten Ressourceneinsatzes. Vielfach auf kurzfristigen Unternehmenserfolg orientiert. Neben Eigenkapitalgebern werden insbesondere die Interessen von Mitarbeitern sowie anderen Bezugsgruppen berücksichtigt. Auf mittelbis langfristigen Unternehmenserfolg orientiert. Gewinne der Eigenkapitalgeber sind wichtige Zielsetzung, jedoch gleichzeitig auch Berücksichtigung weiterer Stakeholder-Interessen. Auf langfristigen Unternehmenserfolg orientiert. Rolle des Managements Funktionalistische technokratische Arbeitsweise, autoritärer patriarchaler Führungsstil. Autoritärer bis bis partizipativer Führungsstil (hohe konsultative Komponente). Formale Beteiligung von Mitarbeiterinteressen neben Eigenkapitalgebern. Manchmal auch Einbindung weiterer, z.B. staatlicher Interessenvertreter (z.B. Bündnis für Arbeit). Partizipativer Führungsstil (hohe teamorientierte demokratische Komponente), offene Kommunikationskultur, direkter Meinungsaustausch mit einzelnen Interessengruppen. <?page no="132"?> 4.9 131 uvk.de Menschenbild von Mitarbeitern nach Schein 316 Rational-ökonomischer Mensch: Der Mensch wird durch seine Eigeninteressen motiviert, Motivation hauptsächlich über monetäre Anreize, ist passiv und manipulierbar. Nach Selbsterfüllung strebender Mensch: Der Mensch wird durch anpruchsvolle Aufgaben motiviert, sieht Arbeit positiv (wenn sie der Selbstverwirklichung dient), kann und will sich selbst kontrollieren und motivieren, kann durch eigenverantwortliche rationale Entscheidungen die Organisationen unterstützen. Sozialer Mensch: Bezieht Motivation aus Kommunikation, akzeptiert Führungshandlungen nur, wenn sie seine sozialen Bedürfnisse berücksichtigen, wird durch Einbindung in Gruppe stärker beeinflusst als durch Vorgesetzte. Komplexer Mensch: Der Mensch wird durch alle drei Bedürfnisarten motiviert, ist anpassungs-, lern- und wandelfähig, hat in unterschiedlichen Situationen differenzierte Ziele. Wertorientierung 317 Individuelle Freiheit und Selbstverantwortung. Primat des Individuums vor Gesellschaft und Staat. 318 Regelungen von Klassenkämpfen mittels Einbeziehung von Körperschaften, wie Gewerkschaften, für friedliches Einvernehmen, Soziale Wertorientierung. Die Einbringung vieler Perspektiven führen zu erhöhten Handlungsalternativen. Integrität und Vertrauen als wichtige Attribute. Vertreter John Locke, Adam Smith, David Hume, John Stewart Mill Suchanek („Koalitionen“), Homann (Ordnungsethik), Fürst, Porter/ Kramer Ulrich (integrative Wirtschaftsethik), Rawls, Habermas (Diskursethik), Rakesh Khurana Tab. 8: Klassisch liberale, corporatistischeund pluralistische Ansätze Vergleich 319 316 O.V., Seminararbeit TU Kaiserslautern (2010), S. 6{ http: / / luc.wiwi.uni-kl.de/ file admin/ user_upload/ Studium/ Seminare/ GS_2010_11/ GS_2010-11_Thema_7.pdf, letzter Zugriff 4.1.12, Bühner (2010), S. 256 317 http: / / books.google.de/ books? id=havqNFD6cmQC&pg=PA242& dq= Wertorientierung+Neoliberalismus&hl=de&sa=X&ei=vXgFT4n_BdHzsga8l62ED w&ved=0CEEQ6AEwAw#v=onepage&q= Wertorientierung%20Neoliberalis mus&f=false 318 Vgl. Vogel (2006), S. 242 319 Vgl. Fisher/ Lovell (2009), S. 20 ff., 29 <?page no="133"?> 132 4 Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens Die von Ulrich unterschiedenen korrektiven, funktionalistischen (instrumentalistischen) und integrativ motivierten Unternehmensethiken finden sich in der Tabelle wieder. Die korrektive Unternehmensethik spiegelt sich in der Tabelle bei den klassisch liberalen Ansätzen wider, die funktionalistische bei den corporatistischen und die integrative bei den pluralistischen. 320 320 Vgl. Kap. 4.3 dieser Arbeit. <?page no="134"?> uvk.de 55 SSeettzztt d deerr S Sttaaaatt d diiee r riicchhttiiggeenn R Raahhmmeennbbeeddiinngguunnggeenn? ? Ein altes Sprichwort besagt, dass man einen wohlregierten Staat an guten Schulen und richtigen Uhren erkenne. Die Uhren funktionieren in Deutschland, über die Schulen wird jedoch viel lamentiert. Viel diskutiert wird auch über die Integrationspolitik, hatte doch Friedrich der Große 321 bereits ausgeführt, jeder in seinem Staate solle nach seiner Façon selig werden. Heute ist im ersten Artikel des Grundgesetzes festgeschrieben, dass die Freiheit und Würde des Menschen unantastbar sind. Die Frage ist jedoch, wo die Freiheit des Einzelnen an die Grenzen der Freiheit anderer stößt. Aktuell wird immer wieder über die Bankenkontrolle geredet. Hierbei trug die Politik wesentlich zu Defiziten bei. So hatte z.B. die „Commodity Future Trading Commission“ dem damaligen US-Finanzminister Robert Rubin und später Lawrence Summers in der Clinton-Regierung und dem Notenbankchef Alan Greenspan vorgeschlagen, bestimmte Derivate nicht zuzulassen. Alle drei agierten vehement dagegen. Hochspekulative Derivate der Finanzindustrie wurden daher nicht reguliert. Später hat das politische Konzept der Regierung George W. Bush - „Jeder mittellose Amerikaner soll zum Hausbesitzer werden“ - dazu geführt, dass Kredite ohne Absicherung gewährt wurden. Dadurch blieben Kreditvergabe und der Aktienhandel sich selbst überlassen und das leitende Personal der Wirtschaft konnte sich ungehindert aus dem schwellenden Fluss der Geldströme bedienen. Dass dies gerade in der Phase der definierten Globalisierung des Geldverkehrs geschah, erwies sich als äußerst gefährlicher Leichtsinn. Moralisch scheinen sich nicht unerhebliche Teile der Gesellschaftselite von jedem Maß entfernt zu haben. Wer z.B. fortgesetzt an Lohndisziplin der Arbeiter und Angestellten appelliert und gleich- 321 Friedrich der Große schrieb am 22.6.1740: »Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der andern abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach Seiner Fasson Selich werden.«, Vgl. Büchmann 1898, S. 518. <?page no="135"?> 134 5 Setzt der Staat die richtigen Rahmenbedingungen? uvk.de zeitig sein eigenes bereits hohes Einkommen überproportional erhöht, ist an eigener Glaubwürdigkeit nicht mehr interessiert. 55..11 DDeer r ffe eh hl leennddee AAuussg glleei icchh zzw wi isscchheenn M Moorraall uunndd ÖÖkko onnoommi iee iinn ddeer r FFiinnaannzzk krriissee Die mit der Subprime-Krise 2007 in den USA aufgeworfene sektorale Schwäche des Finanzsystems, bei der den Finanzinstituten in den USA, Europa und Japan ein Schaden von 2,3 Billionen US-Dollar 322 entstanden ist, mündete in Europa in eine Staatsschuldenkrise. Die Staaten der westlichen Welt vertrauten in gefährlicher Sorglosigkeit auf die Wertschöpfung durch den bloßen Geldkreislauf und lockerten zudem auch die rechtlichen Kontrollen der Banken und Börsen (z.B. notwendiges Eigenkapital der Firmen). 323 Zu vielen Bankmanagern mangelte es an ausreichender Integrität, die Kreditwürdigkeit von Kunden richtig einzuschätzen, da die Kredite weiterverkauft werden konnten und das Risiko weniger interessierte. Laut einer in München vorgelegten Studie 324 der Boston Consulting Group (BCG) stieg im Krisenjahr 2009 die Zahl der Millionärshaushalte in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um 23 % auf 430.000. In der Wirtschaftskrise sind Wohlhabende demnach reicher geworden. Europa verteidigte seinen Platz mit dem höchsten verwalteten Privatvermögen. Vor allem die Erholung der Finanzmärkte hat die Vermögen weiter wachsen lassen. Weltweit stieg die Zahl der Millionärshaushalte 2009 im Vergleich zum Vorjahr um 14 % auf 11,2 Millionen. Davon lebten die meisten in den USA (4,7 Millionen), Japan (1,2 Millionen), China (670.000), Großbritannien (485.000) und Deutschland (430.000). Die größten Zuwächse an Millionärshaushalten verzeichnete Singapur mit 35,0 %, Malaysia (33,0 %), die Slowakei (32,0 %) und China (31,0 %). 322 Globale Finanz- und Wirtschaftskrise, in http: / / www.bpb.de/ system/ files/ pdf/ XXKKIL.pdf, letzter Zugriff 02.04.2012 323 Helmut Schmidt (2010), Interview von Claus Kleber 324 Studie: Die Reichen werden auch in der Krise reicher. http: / / www.news.de/ wirtschaft/ 855060782/ die-reichen-werden-auch-in-derkrise-reicher/ 1/ , letzter Zugriff 02.04.2012 <?page no="136"?> 5.2 Mitbestimmung 135 uvk.de Was die Bürger ärgert, aber nicht mehr überrascht, ist die arrogante Haltung von hochrangigen Managern in der Wirtschaft. Das Beispiel des US-Automobillieferanten General Motors (GM) zeigt große Versäumnisse, Fahrzeuge zu entwickeln, die den Kundenwünschen entsprechen. Stattdessen wurden große Benzinschleudern mit argen Qualitätsdefiziten ausgeliefert. Wenn der Crash fast nicht mehr zu umgehen ist, wissen viele Manager, wie Politik funktioniert. So stellte man bei GM die Zukunft der deutschen Tochter Opel in Rüsselsheim infrage. Ausgerechnet im Superwahljahr 2009 drohte der Autohersteller mit dem Wegfall von 80.000 Stellen bei Opel und den damit verbundenen Zulieferern. Ganz bewuss t wurd e V er ha nd lun gsdr uck erz eugt, dem sich viele Pol it iker schwer entziehen können. Deutschland versprach 4,5 Milliarden Euro an Krediten und Bürgschaften. Die Belegschaft verzichtete zur Sicherung ihrer Arbeitsplätze auf Millionenbeträge, die z.B. über Reduzierungen beim Weihnachts- und Urlaubsgeld oder die Verschiebung vorgesehener Einmalzahlungen eingespart wurden. Bislang leidet der defizitäre Hersteller weiter unter Überkapazitäten. Der harte Sanierungskurs, dem nun doch auch das Werk Bochum mit seiner Schließung Ende 2014 zum Opfer fällt, schlägt nur langsam an. Ferner soll die Fertigung des wichtigsten Modells, der Kompaktwagen Opel Astra, früher als geplant 2015 in das polnische Opel-Werk Gliwice verlagert werden. Operativ schreibt Opel derzeitig weiter, wenn auch geringere, Verluste. Bis 2016 will man zurück in der Gewinnzone sein. Das einseitig gewinnmaximierende bzw. das persönliche Einkommen maximierende Verhalten in Banken und Wirtschaftsunternehmen zeigt eklatante Verstöße gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 14 (2) „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Offensichtlich war in der Finanzkrise der Ausgleich von Moral und Ökonomie weit voneinander entfernt. 55..22 MMi ittbbeessttiimmmmuunngg Die in Anzahl und Ausmaß wachsenden Wirtschaftsskandale der letzten Jahrzehnte führten zu vielfältigen Überlegungen, diesen effektiv entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang entstanden nicht wenige Gesetze und Regelungen. <?page no="137"?> 136 5 Setzt der Staat die richtigen Rahmenbedingungen? uvk.de Auf staatlicher Seite erfolgt in Deutschland die Implementierung moralischer Werte im Wesentlichen auf den drei Säulen 325 Mitbestimmung, Umweltschutz und Korruptionsbekämpfung. Die Forderung der Arbeitnehmer nach Mitbestimmung fand erste Ansätze in der Märzrevolution von 1848. Aufgrund der vehement geforderten Bürger- und Freiheitsrechte konstituierte sich 1848 die verfassungsgebende Nationalversammlung und behandelte unter anderem den Minderheitenentwurf einer Gewerbeordnung, in der z.B. der Unternehmerwillkür Grenzen durch die Vorgesetztenwahl und durch eine paritätische Besetzung der einzurichtenden Gewerbekammern gesetzt werden sollten. Heute unterscheidet man im Wesentlichen die Mitbestimmung am Arbeitsplatz (Betriebsverfassungsgesetz von 1972), überbetriebliche Mitbestimm ung und Mitbestimmung im Aufsichtsrat (Mitbestimmungsgesetz von 1976). Laut Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) steht Arbeitnehmern einen Anspruch auf Mitbestimmung am Arbeitsplatz zu. Sie haben einen Aufklärungsanspruch über die Tätigkeitsmerkmale der Stelle und die Verantwortung, die sie dort zu tragen haben. Der Arbeitgeber hat den betroffenen Arbeitnehmer bei betrieblichen Planungen die Auswirkungen auf seinen Arbeitsplatz zu erörtern. Außerdem muss er über die Gefahren der Arbeit aufgeklärt werden. Des Weiteren besitzt er ein Vorschlagsrecht sowie das Recht auf Akteneinsicht. Unter überbetrieblicher Mitbestimmung wird hier die Gesamtheit der Institutionen verstanden, über die die Gewerkschaften oberhalb der Unternehmensebene und außerhalb der traditionellen Tarifautonomie die Lebenslage und die Entfaltungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer zu 325 Vgl. Homann/ Lütge (2005), S. 97 <?page no="138"?> 5.3 Nachhaltigkeit 137 uvk.de verbessern suchen. So wurden beispielsweise die „Bündnisse für Arbeit“ mit der Zielsetzung gegründet, Arbeitslosigkeit zu reduzieren und Beschäftigung aufzubauen. Leider hat dieses Instrument an Bedeutung verloren. Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten unterliegen der Mitbestimmung, d.h. im Aufsichtsrat besteht eine Parität von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern. Allerdings verfügt der Vorsitzende, der immer Arbeitgebervertreter ist, über ein doppeltes Stimmrecht bei Patt-Situationen. Eine Ausnahme bildet die Montan-Mitbestimmung von 1952, die eine echte Parität kennt. Trotz der dargestellten Arbeitnehmermitbestimmungsrechte ist es bis heute offensichtlich nicht möglich, den Vorstand ausreichend zu kontrollieren, um korruptes Handeln zu verhindern. Zu eng ist oftmals die Verzahnung von Vorstand und Aufsichtsrat. Dies drückt sich z.B. in dem beliebten Wechsel des Vorstandsvorsitzenden in den Aufsichtsrat aus, wenn bestimmte Altersgrenzen überschritten sind. Dies widerspricht mittlerweile den Richtlinien für gute Unternehmensführung im Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK). Gemäß DCGK dürfen Vorstandsmitglieder erst nach einer zweijährigen Karenzzeit in das Kontrollgremium ihres Unternehmens einziehen. Als einzige Ausnahme wird die Möglichkeit eingeräumt, dass auf Vorschlag von Aktionären, die mehr als 25 % der Stimmrechte an der Gesellschaft halten, ein solcher Wechsel früher stattfinden darf. 55..33 NNaac chhh haallt ti iggkke eiitt 1983 gründeten die Vereinten Nationen die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (WCED = World Commission on Environment and Development) als unabhängige Sachverständigenkommission mit dem Auftrag, einen Perspektivbericht zu langfristig tragfähiger, umweltschonender Entwicklung bis zum Jahr 2000 und darüber hinaus zu erstellen. Im Rahmen dieses 1987 veröffentlichten Berichtes, der heute als Brundtland-Report bekannt ist (benannt nach der ehemaligen Vorsitzenden und norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland), wurde als <?page no="139"?> 138 5 Setzt der Staat die richtigen Rahmenbedingungen? uvk.de Leitbild erstmals der Begriff „sustainable development“ (nachhaltige Entwicklung) geprägt: „Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs. It contains within the two key concepts: The concept of “needs”, in particular the essential needs of world’s poor, to which overriding priority should be given; and The idea of limitations imposed by the state of technology and social organization on the environment’s ability to meet present and future needs.“ 326 Die WCED versteht unter Nachhaltigkeit eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen. Die Nutzung von Ressourcen, technologische Entwicklungen und institutioneller Wandel sollen miteinander harmonieren und derzeitige und zukünftige menschliche Bedürfnisse erfüllen. Herkömmliche, vormals getrennt betrachtete Problembereiche wie Umweltverschmutzung, globale Hochrüstung, Schuldenkrise und Bevölkerungsentwicklung werden nun in einem gemeinsamen Kontext betrachtet. Der Bericht bildete die Grundlage für die Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992, bei der um die weitere Weichenstellung für eine weltweite nachhaltige Entwicklung gerungen wurde. Als Resultat entstanden fünf Dokumente: die Deklaration von Rio über Umwelt und Entwicklung, die Klimarahmenkonvention, die Artenschutzkonvention, die Walddeklaration und die Agenda 21. Davon bildet die 1994 in Kraft getretene Klimarahmenkonvention den ersten internationalen Vertrag, der den Klimawandel als ernstes Problem bezeichnet und die Staatengemeinschaft zum Handeln verpflichtet. Die Konvention bildet den Rahmen für die Klimaschutz-Verhandlungen, die jeweils als Vertragsstaatenkonferenz der Konvention stattfinden. In der Folge werden seit 1995 jährliche UN- Klimakonferenzen veranstaltet. 326 Brundtland-Report, Chapter 2 <?page no="140"?> 5.3 Nachhaltigkeit 139 uvk.de Auf der dritten Klimakonferenz im Jahr 1997 wurde das Kyoto- Protokoll verabschiedet, bei dem sich die verhandelnden Staaten erstmals darauf einigten, ihre Treibhausgasemissionen zu reduzieren und dafür einen verbindlichen Zeitrahmen zu setzen. Auf der 14. UN- Klimakonferenz im polnischen Posen 2008 wurde ein wichtiger Zwischenschritt im Verhandlungsprozess über ein Klimaschutzabkommen für die Zeit nach 2012 (Ende der ersten Verpflichtungsperiode des Kyoto-Protokolls) beschlossen: der Übergang von der Klärung der jeweiligen Positionen in konkrete Verhandlungen über den Text eines internationalen Klimaschutzabkommens. Doch bis heute gibt es keine konkreten Maßnahmen, die globalen Emissionen zu senken, um steigende Temperaturen und Meeresspiegel aufzuhalten - von heute 50 Milliarden Tonnen pro Jahr auf 44 Milliarden Tonnen. Lediglich die EU verpflichtete sich, als einzige große Wirtschaftsmacht, in den kommenden Jahren neue Reduktionspflichten im Rahmen des Kyoto-Protokolls durchzuführen. Die restliche Welt legte sich bislang nicht fest, weniger Kohle, Öl und Erdgas zu verbrennen. Einerseits könnten hieraus massive wirtschaftliche Wettbewerbsnachteile der EU gegenüber anderen Staaten entstehen, andererseits werden europäische Firmen unter dem Druck der CO 2 -Ziele massiv in Umwelttechnologien investieren. Der daraus resultierende Wissensvorsprung wird wichtige Patente in einigen der relevantesten Zukunftstechnologien verschaffen. Durch Projekte wie die geplanten Solar-Großkraftwerke in Afrika wäre Europa unabhängiger vom Import fossiler Energie aus Russland und von plötzlichen Preissprüngen beim Öl. Das könnte die Wettbewerbsfähigkeit langfristig vor allem gegenüber China steigern. Siemens-Vorstand Barbara Kux meint, der Markt für grüne Technologien sei weltweit da, mit oder ohne der Klimakonferenz in Durban von 2011. 327 Eine weltweite Einigung ist noch in ferner Sicht. Jedoch wird das EU-Ziel, 327 Vgl. Der Spiegel 51/ 2011, 17.12.2011: Riskante Wette, http: / / www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d-83180802.html, letzter Zugriff 02.04.2012 <?page no="141"?> 140 5 Setzt der Staat die richtigen Rahmenbedingungen? uvk.de den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur in diesem Jahrhundert deutlich unter 2°C zu halten, von immer mehr Staaten unterstützt, darunter nun auch Norwegen, Island, die afrikanischen Staaten, Chile, die Schweiz, Mexiko und Korea. Im Rahmen der GATT-Verhandlungen in der Uruguay-Runde anlässlich des Rio-Gipfels 1992 wurde zur Unterstützung nachhaltiger Entwicklungsprozesse der Grundstein für die Umweltnorm ISO 14000 gelegt. Sie bezieht sich auf die mit Produktionsprozessen und Dienstleistungen verbundenen Fragen des Umweltmanagements. ISO 14000 wu rde 1 996 verö ffentlicht und beschr eibt ein systematisches Umweltmanagementsystem (Environment Management System) mit dem Ziel der Verbesserung der Umweltverträglichkeit von Unternehmensprozessen. Die Norm ist im Zusammenhang mit der ISO 9000 (Qualitätszertifizierung) und der ISO 26000 (Leitfaden für gesellschaftlich verantwortliches Handeln) zu verstehen und gilt für alle Organisationen. ISO 14001 befasst sich mit der Spezifikation von Umweltmanagementsystemen mit der Anleitung und der Anwendung und ISO 14031 mit der Leistungsbewertung und Leitlinien des Umweltmanagements. Während ISO 14000 den Schwerpunkt auf die ökologische Komponente setzt, bezieht SA 8000 auch soziale Fragen mit ein. Beide Standards empfehlen jährliche neutrale Revisionen. Der Sozialstandard SA (Social Accountability) 8000 stellt eine konsequente Weiterentwicklung dar. 328 Die Zertifizierung nach SA 8000 ist der erste weltweit zertifizierbare Standard für eine sozial verantwortliche Unternehmensführung. Er basiert auf der internationalen Menschenrechtskonvention und ausgesuchten Artikeln der Internationalen Arbeitsorganisation IAO. Die Idee stammt ursprünglich von einer amerikanischen Verbraucherorganisation, dem Council on Economic Priorities (CEP), aus dem 1997 328 Kreikebaum/ Behnam/ Gilbert (2001), S. 165 ff. <?page no="142"?> 5.3 Nachhaltigkeit 141 uvk.de der heutige Träger „Social Accountability International“ (SAI) hervorging. Er wurde von der Global Reporting Initiative (GRI)329 und der Coalition of Environmentally Responsible Economies (CERES) in Partnerschaft mit dem UN-Umweltprogramm UNEP vor allem für große Organisationen ins Leben gerufen und dient als Richtlinie für sogenannte Nachhaltigkeitsberichte (sustainability reports) der ökonomischen, ökologischen und sozialen Entwicklung. SA 8000 umfasst neun Themenbereiche mit den folgenden Hauptforderungen: keine Kinderarbeit, keine Zw angsarbeit, Gewä hrleistung von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, Garantie von Organisationsfreiheit und das Recht auf kollektive Verhandlungen, keine Diskri minierungen, keine Strafmaßnahmen, Arbeitszeit darf wöchentlich 48 Stunden nicht überschreiten, zusätzlich sind wöchentlich maximal 12 Überstunden auf freiwilliger Basis zugestanden, hinreichende Bezahlung, Managementsysteme müssen die Einhaltung der Bedingungen effizient garantieren. Indikatorenbereiche der GRI 2006 (G3) Indikatorenbeispiele Strategie und Analyse Beschreibung der wichtigsten Auswirkungen, Risiken, Chancen, ... Unternehmensprofil Hauptsitz, Mitarbeiteranzahl, Umsatz, ... ökonomische Leistung wirtschaftliche Leistung, mittelbare- und unmittelbare wirtschaftliche Auswirkungen 329 Die Aufgabe der GRI liegt in der Entwicklung weltweit anwendbarer standardisierter Richtlinien für sog. Sustainability Reports (ökonomische, ökologische, soziale und gesellschaftliche Performance), insbesondere für Großunternehmen, aber auch für andere Unternehmen, Regierungen und NGOs. <?page no="143"?> 142 5 Setzt der Staat die richtigen Rahmenbedingungen? uvk.de Governance, Verpflichtungen und Engagement Einbeziehung von Stakeholdern, Verpflichtung gegenüber externen Initiativen (z.B. Verbände) Produktverantwortung Kennzeichnung von Produkten, Kundengesundheit- und Sicherheit Arbeitspraktiken & Beschäftigung Beschäftigung, Aus- und Weiterbildung, Vielfalt und Chancengleichheit, ... Menschenrechte Gleichbehandlung, Vereinigungsfreiheit, ... gesellschaftlich-soziale Leistung Korruption, Politik, ... ökologische Leistung Materialien, Energie, Emissionen, Abwasser, ... Berichtsparameter Berichtzeitraum, Berichtzyklus, Ansprechpartn er , ... Tab. 9: Auszug der Indikatoren SA 8000 330 Breit diskutiert wird das Thema Umweltschutz zudem auf internationaler Ebene im Rahmen der EU-Gipfel. Seit der UN-Konferenz zu „Umwelt und Entwicklung“ in Rio de Janeiro von 1992 treffen sich die Umweltminister der G8 jeweils im Vorfeld des jährlichen G8-Gipfels, um über zentrale umweltpolitische Themen zu beraten. Im Rahmen der Politikagenda der G8 standen immer wieder aktuelle Fragestellungen wie etwa zu Klimaschutz, Biodiversität, Schutz der Wälder, Bekämpfung der Umweltkriminalität und Schutz der Weltmeere, vor allem aber wirtschaftsrelevante Themen im Mittelpunkt. Leider konnten bislang außer Ideen keine international verpflichtenden Maßnahmen zur Kohlendioxid-Reduktion festgelegt werden. Abgeleitete Maßnahmen auf deutscher Ebene finden sich z.B. in den Energiesparverordnungen und der Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ wieder. Im Jahr 1996 erschien die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland - Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung“ (1996), die schon Mitte der 1990er Jahre den Beginn des deutschen Nachhaltigkeitsdiskurses entscheidend prägte und als die „Grüne Bibel“ 330 Vgl. Global Reporting Initiative (2006), S. 26-36 <?page no="144"?> 5.3 Nachhaltigkeit 143 uvk.de in die Geschichte des Nachhaltigkeitsdiskurses einging. Herausgeber sind der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), die evangelischen Entwicklungsorganisationen „Brot für die Welt“ und der „Evangelische Entwicklungsdienst“ (EED), die die Studie mit dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie erarbeiteten. Nachfolgerin ist die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“, die im Oktober 2008 veröffentlicht wurde. Die Verfasser der neuen Studie stellten fest, dass sich im Vergleich zur Vorstudie Deutschland nicht weit genug in Richtung nachhaltige Zukunftsfähigkeit entwickelt hat. Der CO 2 -Gehalt in der Atmosphäre steige immer noch an, die Artenvielfalt reduziere sich weltweit weiter, in den meisten Entwicklungsländern steige die Armut und wirtschaftlicher Aufschwung in Schwellenländern gehe mit drastischer Umweltzerstörung einher. Eine Kooperation zwischen den Ländern des Nordens mit denen des Südens in der Umweltpolitik scheitere daran, „dass der Norden ungebrochen seine strukturelle Macht in der Finanz-, Handels- und Entwicklungspolitik zu Ungunsten des Südens ausspielt“ 331 . Als Ursache wird der Markt gesehen, der weder in der Lage ist, den Naturverbrauch auf einem angemessenen Niveau zu halten, noch eine faire Verteilung der Güter unter den Marktteilnehmern und darüber hinaus herstellen kann. Die Autoren fragen nach notwendigen Veränderungen, damit Deutschland zukunftsfähig werden und seinen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit der Welt leisten kann. Sie halten einen Wandel unserer Zivilisation als unabdingbar. Hierzu fordern sie einen neuen Gesellschaftsvertrag, der nicht nur das Verhältnis von Mensch zu Mensch, sondern auch das von Menschheit und Natur schützt. Die Menschenrechte wie auch die ökologischen Grenzen zu wahren, ist das Kernprogramm der Nachhaltigkeit. Als konkrete Handlungsziele werden beispielsweise genannt: Senkung des durchschnittliche Energieverbrauches pr o Person von 6.500 auf 2.000 Watt, ein Wechsel von Atomenergie, Kohlekraftwerken und Agrotreibstoffen (Biodiesel z.B. aus Raps und Sonnenblumen) auf erneuerbare Energien mit dezentraler Produktion, substantielle Kerosinsteuer im Luftverkehr sowie Deckelung der Anzahl von Starts , 331 BUND et al. (2008) <?page no="145"?> 144 5 Setzt der Staat die richtigen Rahmenbedingungen? uvk.de eine zukunftsfähige Landwirtschaft mit Übergang von der Intensivbewirtschaftung zu einer regenerativen Land- und Viehwirtschaft. Im Rahmen einer internationalen Kooperation mit Vertretern der Wirtschaft, der UN, Zertifizierungsunternehmen weiterer internationaler nicht staatlicher Organisationen wurden Standards entwickelt, die weltweit konsensfähig sein sollen. Sie stellen soziale Mindestanforderungen für unternehmerisches Handeln dar. Einen weiteren Mosaikstein zum Schutz der Umwelt stellen in Deutschland die Energieeinsparverordnungen (EnEV) als Teil des deutschen Baurechts für einen effizienteren Energiegebrauch dar. Sie schreiben in regelmäßigen Novellen (EnEV 2009 und 2012) unter anderem einen immer geringer werdenden Bedarf an nicht erneuerbaren Energien für Neubauten und Bestandsimmobilien vor. Trotz jahrzehntelanger breiter Diskussion zum Umweltschutz und weitgehend unverbindlichen Klimaschutzabkommen erscheinen Umweltprobleme heute schwieriger lösbar denn je. Die Zeit läuft davon. Von heute 7 Mrd. Menschen werden bereits 2042 voraussichtlich ca. 9 Mrd. Menschen die Erde bevölkern. 55..44 KKoorrrruuppttiioonnssbbeekkäämmppffuunngg In Deutschland soll regulativ auch das 1998 erlassene KonTraG (Gesetz zur Kontrolle und Transparenz von Gesetzen) wirken. Dieses Gesetz zielt darauf ab, die Corporate Governance in deutschen Unternehmen zu verbessern, wobei der Schwerpunkt bisher auf finanzwirtschaftlichen Faktoren und Risiken liegt. Darüber hinaus stellt der DCGK (Deutscher Corporate Governance Kodex), ein von einer Regierungskommission der Bundesrepublik Deutschland erarbeitetes Regelwerk, wesentliche gesetzliche Vorschriften zur Leitung und Überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften dar. Er enthält international und national anerkannte Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung. 332 332 Vgl. Regierungskommission (2010), Präambel, letzter Zugriff 02.07.2010 <?page no="146"?> 5.4 Korruptionsbekämpfung 145 uvk.de Eine wichtige Institution für den Kampf gegen Korruption stellt die weltweit agierende nicht staatliche Organisation Transparency International (TI) dar. TI wurde 1993 in Berlin mit dem Ziel der internationalen Korruptionsbekämpfung gegründet. Eine Mitgliedschaft in der Organisation verpflichtet zu folgenden Maßnahmen: 333 Transparenz durch konsequente Offenlegung von Prozessen, lückenlose Dokumentation im Vergabe- und Beschaffungsbereich, laufende Kontrollen unabhängiger Inspektoren, sorgfältige Auswahl und Personalrotation in sensiblen Bereichen, Mehraugenprinzip bei finanzwirksamen Entscheidungen. TI verfügte 2010 über 932 Mitglieder, davon der überwiegende Teil mit 330 individuellen Mitgliedschaften und 43 korporativen. Zu den Firmenmitgliedern gehören z.B. ABB, Allianz, BASF, ThyssenKrupp oder SAP. Auch die Firma Siemens war einige Jahre Mitglied, wurde aber aufgrund ihres „Schmiergeldskandals“, bei dem 1,3 Mrd. EUR in dunklen Kanälen verschwanden, ausgeschlossen. 334 Neben den Mitgliedsbeiträgen wird TI finanziell insbesondere durch die folgenden Quellen unterstützt: Deutsches Ministerium für Entwicklungshilfe, Stiftung en (z.B. Bertelsmann, Rockefeller, Mc. Arthur Foundation), Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), EU-Gelder, Unternehmensspenden. Im Korruptions-Index von Transparency International erzielt Deutschland Platz 14 von 180 Staaten. Vor Deutschland liegen z.B. die Länder Skandinaviens, die bekannt sind für ihre transparente Vorgehensweise in juristischen Fragen, den Einsatz unabhängiger Ombudsmänner und fähiger Beamter. Andere vorne liegende Staaten wie Honkong (Platz 12) 333 Vgl. Jahresbericht 2008, sowie Homepage www.transparency.de 334 S. hierzu auch Kap. 6.1 dieser Arbeit. <?page no="147"?> 146 5 Setzt der Staat die richtigen Rahmenbedingungen? uvk.de zeichnen sich durch eine rigide Gesetzgebung hinsichtlich auftretender Korruption aus. Weitere Hebel gegen Korruption bezeichnet Johann Graf Lambsdorff als den „unsichtbaren Fuß“, der sich querstellen soll. So beruhe Korruption auf Reziprozität, d.h. für eine Leistung wird eine Gegenleistung erwartet. Herrscht große Unsicherheit über die tatsächliche Ausführung der Gegenleistung, reduziere sich korruptes Verhalten. Chile ist ein Land, das kulturell ein sehr geringes reziprokes Verhalten verankert hat und verfügt auf Rang 25 über eine recht gute Platzierung. Hier herrscht also vergleichsweise eine höhere Unsicherheit in Bezug auf Gegenleistungen. Inwiefern diese Ergebnisse statistisch abgesichert sind und weit ere Fakt oren hier e ine Rolle sp ie len, wird noch Geg ens tand zukünftiger Untersuchungen sein. 335 Es ist peinlich für Deutschland, dass die UN-Konvention zur Korruptionsbekämpfung zwar 2003 von Deutschland unterschrieben, aber im Gegensatz zu 143 anderen Ländern noch nicht ratifiziert wurde. Wesentlicher Hinderungsgrund ist die unzureichende Regelung des Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung (§108e StGB). Die Abgeordneten im Bundestag können sich nicht durchringen, die Vorschriften zu verschärfen, die sie selbst betreffen. Was bereits für Beamte gilt, wollen die deutschen Parlamentarier nicht für sich gelten lassen. Bislang machen sich Abgeordnete nur strafbar, wenn sie sich vor einer Abstimmung in Ausschüssen oder im Plenum nachweislich kaufen lassen. Dies gilt bis jetzt nicht für Abstimmungen in Fraktionssitzungen, bei sonstiger Vorteilsgewährung gegenüber Dritten oder regelmäßigen Zuwendungen (sog. „Landschaftspflege“). Halten Parlamentarier etwa erst nach einer Abstimmung die Hand auf, gehen sie ebenfalls straffrei aus. Bei Anfragen an die Bundesregierung hieß es hierzu bislang, dass dieses Thema „nicht auf der Agenda“ stehe, also kein aktueller Handlungsbedarf vorhanden sei. Die internationale Generalversammlung der Antikorruptionsorganisation Transparency International hat deshalb am 6. Juni 2010 in einer Resolution den Deutschen Bundestag aufgefordert, den Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung zu verschärfen und damit endlich die Voraussetzungen für die Ratifizierung der UNCAC (UN-Konvention gegen Korruption) durch Deutschland zu schaffen. Man darf gespannt sein, wann die Bundesregierung Recht nicht mehr mit zweierlei Maßstäben (Parlamentarier oder Nicht-Parlamentarier) messen wird. 335 Vgl. Graf Lambsdorff (2010) <?page no="148"?> 5.4 Korruptionsbekämpfung 147 uvk.de In den Vereinigten Staaten ist die Securities and Exchange Commission (SEC) mit Sitz in Washington für die Kontrolle des Wertpapierhandels zuständig. Die SEC wurde als Reaktion auf den Börsenkrach von 1929 im Jahre 1934 als staatliche Aufsicht über die bis dahin unkontrolliert ablaufenden Wertpapiergeschäfte institutionalisiert. Ihre Aufgaben liegen in der Überprüfung auf Recht- und Ordnungsmäßigkeit und der Einhaltung börsenrechtlicher Anordnungen. Unternehmen, die den amerikanischen Kapitalmarkt nutzen möchten, müssen sich bei der SEC registrieren lassen. Dass ihr Einflussbereich sehr weit reicht, zeigte im Fall Siemens, dass die SEC dem Aufsichtsrat sogar als Begründung diente, den Vertrag des Vorstandschefs Klaus Kleinfeld nicht zu verlängern. Mit großem Aufwand haben die Vereinten Nationen bereits 1976 begonnen, über ein internationales Abkommen gegen Korruption zu verhandeln. Druck machten vor allem die USA, die seit 1977 Bestechungsaktivitäten amerikanischer Firmen im Ausland ahnden. In Wirklichkeit verabschiedeten sich US-Unternehmen keineswegs ausreichend von diesen Praktiken, sondern betrieben sie vielfach über Tochterfirmen in Steueroasen weiter. Es gelang erst ca. zwei Jahrzehnte später, von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ein Abkommen über die Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr zu erzielen. Das am 17. Dezember 1997 in Paris von den OECD-Ländern unterzeichnete Abkommen wurde bisher von 34 Staaten unterzeichnet, 26 von ihnen, darunter Deutschland, haben die Konvention auch schon in nationales Recht umgesetzt. Die Konvention wurde im September 1998 vom Deutschen Bundestag verabschiedet und trat am 15. Februar 1999 in Kraft. 336 Sie richtet sich gegen die Bestechung ausländischer Amtsträger. Die unterzeichnenden Teilnehmernationen verpflichten sich, strafrechtliche Maßnahmen bei Bestechung ausländischer Amtsträger (darunter Abgeordnete) vorzunehmen. Erstmals wurde auch die steuerliche Absetzbarkeit von Bestechungsgeldern untersagt, vorher war dies noch legitim. Seit den US Federal Sentencing Guidelines von 1991 mit dem Schwerpunkt „Sentencing of Organizations“ werden finanziell Verantwortliche 336 Vgl. http: / / www.peterbarth.de/ korruption.htm, letzter Zugriff 30.06.2011 <?page no="149"?> 148 5 Setzt der Staat die richtigen Rahmenbedingungen? uvk.de in den Unternehmen zunehmend zur Verantwortung gezogen. Die verhängten Strafen können sich auf mehrere Hundert Millionen US-Dollar belaufen, insbesondere, wenn das Unternehmen keine integrierten Ethikprogramme nachweisen kann. Gelingt ihnen dieser Nachweis, ist eine Strafminderung von 20-60 % möglich, bei einer Selbstanzeige sogar 80-95 %. 337 Trotz dieser Maßnahmen tauchten weitere Finanzskandale enormen Ausmaßes auf. Zu den wirtschaftlich ruinösen Skandalen in den USA zählt z.B. der Zusammenbruch des Energiekonzerns Enron. Die nach Bilanzfälschungen entstandene Insolvenz vernichtete 60 Mrd. US-Dollar. Bemer ken swert ist, dass bei d er im J anu ar 2 00 5 erfo lgten V erur teilu ng der Mitglieder des ehemaligem Board of Directors eine Entschädigungssumme von insgesamt 168 Mio. US-Dollar verhängt wurde, von der 13 Mio. US-Dollar unmittelbar durch die zehn betroffenen Verwaltungsräte aus ihrem Privatvermögen zu entrichten waren, der Rest durch Haftpflichtversicherungen. Bei der vormals weltweit drittgrößten Telefongesellschaft worldcom erfolgten exorbitante Fehlbuchungen. Nach durch die Börsenaufsicht aufgedeckten Fehlbuchungen von 25 Mrd. US-Dollar wurde der Firmengründer und CEO des Unternehmens, Bernard Ebbers, zu 25 Jahren und der damalige Finanz- und Buchhaltungschef zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Zur Vermeidung weiterer wirtschaftlicher Skandale größeren Ausmaßes wurde in den USA 2002 der Sarbanes Oxley Act 338 (auch SOX, SarbOx oder SOA) 339 erlassen. Hiermit soll die Verlässlichkeit der Unternehmensberichterstattung deutlich verbessert werden. Das Gesetz schreibt an der US-Börse notierten Unternehmen unter 337 Vgl. Kreikebaum/ Behnam/ Gilbert (2001), S. 16 338 Gesetz, das nach den zwei Senatoren Sarbanes and Oxley, unter deren Führung die Gesetzgebung erarbeitet wurde, benannt wurde. Das Gesetz gilt für USamerikanische und ausländische Unternehmen, deren Wertpapiere an US-Börsen gehandelt werden und dient der Verschärfung unternehmensinterner Kontrollsysteme. 339 http: / / www.controllingportal.de/ Fachinfo/ Sonstiges/ Sarbanes-Oxley-Act.html. Stand 14.07.2009 <?page no="150"?> 5.4 Korruptionsbekämpfung 149 uvk.de anderem vor, dass sie geeignete Verfahren zur Entgegennahme (anonymer) Beschwerden von Mitarbeitern zur Ermittlung krimineller Tätigkeiten institutionalisieren müssen. Darüber hinaus wurden Vorschriften zum Schutz von Beschäftigten, die Betrügereien aufdecken, verankert. 340 Der hierfür verwendete angloamerikanische Rechtsbegriff des „Whistleblowing“ 341 findet bislang keine exakte Entsprechung im Deutschen. Menschen betreiben Whistleblowing, wenn sie Kenntnisse von illegalen, irregulären, illegitimen oder unethischen Praktiken und Zuständen erhalten und sich damit an die Öffentlichkeit wenden. 342 In Deutschland werden Begriffe wie Hinweisgeber oder Skandalaufdecker verwendet, die jedoch juristisch weniger stringent abgesichert sind als in den USA, so dass für hinweisgebende Arbeitnehmer größere Rechtsunsicherheiten entstehen. Bevor ein Arbeitnehmer in Deutschland an die Öffentlichkeit treten darf, muss er i.d.R. nachweislich zuerst intern auf das gesetzwidrige Verhalten hingewiesen haben. Dies wird mit der Treuepflicht gegenüber dem Arbeitnehmer erklärt. Ursächlich ist nicht zuletzt die Geschichte Deutschlands dafür, dass Whistleblowing hierzulande weniger geschützt wird. Nach zwei Diktaturen, die sich dieses Instruments durch Gestapo und Stasi grauenhaft bedienten, haben viele Deutsche (noch) genug von Denunzianten. In anderen Worten hat es bereits Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) gedichtet: „Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.“ 343 Auch wenn im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern in Deutschland generell ein vergleichsweise weit entwickeltes Arbeits- und Kündigungsschutzrecht gilt, müssen Whistleblower mehr um ihren Arbeitsplatz bangen. Für Arbeitnehmer ist es häufig schwierig nachzuweisen, dass sie aufgrund ihres Whistleblowings gekündigt wurden, da Unternehmen in der Kündigung andere Gründe angeben. Auch gibt es jenseits von Abmahnungen und Kündigungen wirksame Mecha- 340 Vgl. SOX, Abschnitt 806, in Strack (2009), S. 5 341 Englisch: verpfeifen, verraten 342 Vgl. http: / / www.fairness-stiftung.de/ Whistleblowing.htm, letzter Zugriff 26.11.2011 343 Starck (2009), S. 1 <?page no="151"?> 150 5 Setzt der Staat die richtigen Rahmenbedingungen? uvk.de nismen gegen unerwünschte Kritik. So belegte eine von der Bundesregierung 2002 durchgeführte Studie, dass über 60 % von Mobbingopfern als Ursache des gegen sie gerichteten Mobbings die Ausübung von Kritik angaben. 344 Zivilcourage macht häufig einsam. Beim Whistleblowing geht es meist um viel Geld. Werner Demant, Sachbearbeiter bei der Commerzbank Frankfurt, hatte z.B. den Verdacht, dass in der Bank Wertpapiere illegal nach Luxemburg und in die Schweiz transferiert wurden. Da seine interne Meldung erfolglos blieb, wendete er sich an die Behörden und löste damit einen großen Bankenskandal aus. Hierbei wurde aufgedeckt, wie verschiedene Banken systematisch Hilfe zur Steuerhinterziehung betrieben. Demant wurde gekündigt und befindet sich seitdem am Ende seiner Karriere. Ähnlich ging es der DG-Bankerin Andrea Fuchs, die ebenfalls zunächst intern auf mögliche illegale Insider-Geschäfte im Aktiengeschäft hinwies, bevor sie an die Öffentlichkeit ging. Mittlerweile prozessiert sie im zwölften Jahr gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber, der gerade wieder eine Kündigung aussprach. 345 Im Pflegebereich sorgten Frauen wie Brigitte Heinisch, Heike Hengl und Petra Richers dafür, dass mittlerweile eine öffentliche Diskussion über bessere Qualitätssicherungen geführt wird. Ihre Zivilcourage zahlen sie mit erheblichen psychologischen Belastungen und dem Verlust ihres Arbeitsplatzes. 346 In der Praxis sind Unternehmen, die an den SOX gebunden sind, Vorreiter bei der Integration von Whistleblower-Systemen. Zu unterscheiden sind: Systeme zur bloßen - zumeist auch anonymen - Entgegennahme vo n Meldungen, z.B. über Telefon-Hotlines oder E-Mail-Postfächer, Systeme mit Rückkanal (z.B. anonyme internetbasierte Meldemöglichkeit mit Einrichtung eines Briefkastens) und Ombudsmannsysteme (zumeist mit einem externen Anwalt, der der Schweigepflicht unterliegt, mit innerbetrieblichen Anwälten oder Journalisten). 344 Vgl. Strack (2009), S. 10 345 Vgl. ebd., S. 4 346 Vgl. ebd., S. 4 <?page no="152"?> 5.4 Korruptionsbekämpfung 151 uvk.de Die genannten Systeme können einzeln oder kombiniert auftreten, alle Mitarbeiter oder nur bestimmte Gruppen ansprechen. Thematisch sind sie umfassend oder nur beschränkt auf bestimmte Sachverhalte, wie z.B. Wirtschaftskriminalität und Finanzmanipulation. Eine best practice hat sich hierbei noch nicht abgezeichnet. Unerlässlich bei allen Systemen ist die Gewähr für die Melder, dass ihren Hinweisen sorgfältig nachgegangen wird und Missstände auch dann abgestellt werden, wenn diese Konflikte mit den Interessen des Managements nach sich ziehen. Hierzu sind Transparenz und eine Möglichkeit zur Einschaltung der Aufsichtsratsbzw. der Eigentümerebene wichtig. Letztlich ist aber auch eine Freigabe der Meldemöglichkeit an staatliche Stellen notwendig, da nur so neben der Wahrung der kurzfristigen Unternehmensinteressen auch jene der langfristigen öffentlichen Interessen gewährleistet werden kann. 347 Whistleblowing geht gegen Rechtsbrüche, Korruption, Umwelt- und Gesundheitsschäden vor. Bis heute sind Whistleblower hohen persönlichen Risiken ausgesetzt. Unterstützung bietet als gemeinnütziger Verein das Whistleblower-Netzwerk 348 , der eine Plattform für die Beratung, Vernetzung und den Schutz von Whistleblowern darstellt. Da moralische Appelle in der Vergangenheit weitgehend wirkungslos blieben, geht es darum, wirkliche Anreize gegen korruptes Verhalten zu schaffen. Diesen Weg geht die amerikanische Korruptionsbekämpfung. Richter sind aufgrund der oben erwähnten Sentencing Guidelines befugt, das Strafmaß für nachgewiesene interne Korruptionsbekämpfungsanstrengungen um ein Vielfaches herabzusetzen oder bei mangelnder Aufklärungsarbeit heraufzusetzen. Der Faktor zwischen höchster und geringster Bestrafung für dasselbe Vergehen kann bis zu 80 betragen. Interne Kontrollsysteme, Ethikschulungen etc. zahlen sich hier also aus. Die Erfahrung zeigt, dass die beschriebenen vielfältigen gesetzlichen Bemühungen auf amerikanischer, europäischer und deutscher Seite allein 347 Vgl. Strack (2009), S. 8 348 Vgl. Whistleblower Netzwerk e.V.: http: / / www.whistleblower-net.de/ content/ blogcategory/ 16/ 54/ lang,de/ , letzter Zugriff 29.11.2011 <?page no="153"?> 152 5 Setzt der Staat die richtigen Rahmenbedingungen? nicht reichen, um Verstöße auszuschließen. US-Präsident Obama will deshalb zum Schutz der Verbraucher eine neue unabhängige Behörde mit weitreichenden Befugnissen schaffen. Diese Institution soll Richtlinien für Finanzkonzerne erlassen, unter anderem auch für die Vergabe von Hypotheken und eine höhere Kapitaldecke für Geldhäuser. Die Kontrollrechte der FED werden zusätzlich gestärkt. In der Zwischenzeit agieren Banken weiter wie bisher. Investmentbanker, die die mit Abstand größte Finanzkrise verursacht haben, zählen heute wieder zu den besten Verdienern. Die Investmentsparten von Goldman Sachs, JP Morgan und der Deutschen Bank florieren im Spekulationsgeschäft. Goldman Sachs zahlte z.B. zum Jahresende 2009 Bonuszahlungen an seine Investmentbanker in einer Höhe aus wie nie zuvor. 349 Offensichtlich gelingt es den Staaten nicht, zeitgemäß zu regulieren. Die erlassenen Gesetze sind formaler Natur und geben genauer betrachtet mehr oder weniger Selbstverständlichkeiten wieder. Dringend erforderlich ist die zusätzliche Einbindu ng e in es so zi alen Wer tesy stems a ls Grund lage für all e En ts c heidunge n von Unternehmensmitgliedern. 350 In Deutschland erfolgt die Korruptionsbekämpfung überwiegend durch ein verschärftes Strafrecht. Diese kann aber nur „natürliche“ Personen treffen und fasst zu kurz, wenn Korruption ein größeres Strukturproblem geworden ist. Staatsanwaltschaft und Polizei sind oftmals überfordert. Für einen gerechten Wettbewerb bedarf es der aktiven Mithilfe der Unternehmen. Die alte Unternehmenspolitik der Korruptionsverschleierung gilt es aufzugeben zugunsten ihrer aktiven Bekämpfung. Staatliche Vorschriften alleine sind kein Garant für ethisches Handeln, sondern müssen durch Verhaltensmaximen in den Unternehmen selbst mitgetragen werden. Die folgenden Ausführungen befassen sich deshalb mit dem Ansatz des Wertmanagements innerhalb von Unternehmen. 349 Vgl.: Der Tagesspiegel, Nr. 20334 vom 29.07.2009, S. 2 350 Vgl. Koch/ Wegmann (2007), S. 11 <?page no="154"?> uvk.de 66 WWi iee r reeaaggiieerrtt d daass M Maannaaggeemmeenntt b biisshheerr? ? Auf Deutschland bezogen stellt sich die Frage, wie es mit der ethischen Substanz von Unternehmen steht. Werte wie Vertrauen, Integrität und Fairness sind vielfach in der Gesellschaft nicht (mehr) selbstverständlich. Man mochte in den vergangenen Jahrzehnten laut einer Allensbacher Studie 351 über solche Themen in der deutschen Gesprächskultur eher wenig sprechen. Parallel hat das Interessenspektrum der unter 30- Jährigen an Themen, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zu tun haben, abgenommen. Erstaunlich, da Medien täglich über Moraldefizite informieren: Gewinne werden privat eingestrichen, aber bei Verlusten Millionen vom Staat abgefordert. Trickreiche Bilanzen oder bizarre Unternehmensstandorte helfen, damit möglichst keine Steuergelder abfließen. Solche Meldungen regen die Allgemeinheit zwar auf, aber überraschen tun sie häufig nicht. Dies mag wohl daran liegen, dass man sich untereinander ohnehin nicht mehr vertraut! Ein eklatantes Beispiel für den Vertrauensverlust in die Unternehmensspitze stellt das folgende Beispiel der Firma Siemens stellvertretend auch für andere Unternehmen dar. 66..11 BBe ei is sp piie el l S Si ie em me ennss Das Thema „Ethisches Verhalten“ findet nicht zuletzt aufgrund des Druckes von Öffentlichkeit und Medien zunehmend Resonanz in Unternehmen. In diesem Zusammenhang werden Ethikgrundsätze, Hotlines und Seminare eingeführt. In Hochglanzbroschüren und Vorträgen werden hehre Ansprüche bekundet. Jedoch ist Papier bekanntermaßen geduldig. Zu häufig werden reine Lippenbekenntnisse abgedruckt. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis zeigt das Beispiel Siemens anschaulich. Auf dem Papier war Siemens ein Vorzeige-Unternehmen, Mitglied unter anderem bei der Antikorruptionsorganisation Transparency International. Die frühere Konzernspitze formulierte erhabene Grundsätze - doch die Wirklichkeit sah 351 Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (2009), S. 3-4, letzter Zugriff am 23.12.2010 <?page no="155"?> 154 6 Wie reagiert das Management bisher? uvk.de anders aus. Aus dem Jahre 2004 ist folgender Vortrag des damaligen Finanzvorstandes Heinz-Joachim Neubürger bekannt, der damals für die Abteilung Compliance zuständig war, die Gesetzesverstöße verhindern beziehungsweise aufklären sollte. „Meine Herren, Dr. von Pierer hat mich gebeten, heute zum Thema Compliance zu referieren. […] Ich möchte zu Beginn meiner Ausführungen persönlich, wie auch im Namen meiner Zentralvorstands-Kollegen, nochmals eindeutig und entschieden die Aufforderung an alle im Haus wiederholen, sich an Gesetz und Ordnung zu halten. Kein Mitarbeiter darf vom Haus Loyalität erwarten, wenn er ge ge n Ge set z un d Or dn u ng b eziehu n gsw ei se un ser e in ter n en Regel we rke v erstoßen hat. In solchen Fällen werden auch wir uns rechtliche Schritte vorbehalten und gegebenenfalls zukünftig auch einleiten müssen [...]. Jeder Mitarbeiter wird sonst im Konfliktfall die üblichen Entschuldigungen vorbringen können, die da sind: das hat mein Vorgesetzter gewusst und gebilligt, das war so üblich, auch die Kollegen machen es nicht anders und die Erwartungshaltung der Unternehmensleitung hat mir keine andere Möglichkeit gelassen. Derartigen Ausreden muss von vornherein ein Riegel vorgeschoben werden, andernfalls wird dem Unternehmen ein sogenanntes Organisationsverschulden vorgeworfen. [...]. Integrität und Geschäftsethik zahlen sich aus. Deswegen haben wir unsere Regeln und deswegen sorgen wir mit aller Entschlossenheit für deren Einhaltung.“ 352 Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt seit Anfang 2007 gegen Neubürger wegen Beihilfe zur Untreue und wegen Verstoßes gegen das Aktien- und Handelsgesetz sowie wegen Körperschafts- und Gewerbesteuerhinterziehung zugunsten der Firma Siemens für den Zeitraum 2003 und 2004. Der Schaden für das weit verzweigte System schwarzer Kassen kostete Siemens nach eigenen Angaben mehr als zwei Milliarden Euro. Die früheren Siemens-Vorstandschefs Heinrich von Pierer und Klaus Kleinfeld verpflichteten sich unter Druck zur Zahlung von fünf Millionen beziehungsweise zwei Millionen Euro. Mit Haftpflichtversicherern weiterer verantwortlicher Manager wurden Vereinbarungen zur Schadensregulierung bis zu 100 Millionen Euro getroffen. 353 352 Ott (2008), letzter Zugriff am 23.11.2010 353 Vgl. Meier (2010), letzter Zugriff am 12.04.2010, Nietsch (2013), S. 49 <?page no="156"?> 6.2 Beispiel Motorola 155 uvk.de Wie das Beispiel zeigt, kann Moral weder herbeigeredet noch instrumentell hergestellt werden. Besonders dramatisch, wenn für Compliance verantwortliche Mitarbeiter, von denen man eine Vorbildfunktion erwartet, selbst in den Strudel korrupten Verhaltens gerissen werden. Bis 1999 war es noch legitim, Geschäfte in Exportländern mit Hilfe von Bestechungsgeldern für sein Unternehmen zu gewinnen und zudem die Kosten hierfür steuerlich abzusetzen. Spätestens mit dem Siemens- Skandal wurde deutlich, dass ein Verstoß gegen die geänderte Gesetzeslage kein Kavaliersdelikt mehr ist. Siemens ist nur ein Beispiel unter vielen, wobei die großen Fälle besonders spektakulär sind. So hieß es bei der Deutschen Post im Code of conduct: „Es gibt keine Alternative zu persönlicher Integrität.“ 354 Im Rahmen der Telekom-Bespitzelungsaffäre sowie nachgewiesener Steuerhi nterz ie hu ng e rmi tt el te die Staats an wa lt sc haft ausge rec hnet ge ge n di e Konzernspitze und verhängte eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe nebst Bußgeld in Millionenhöhe. Wie die Beispiele Siemens und Deutsche Post zeigen, kann Moral weder herbeigeredet noch instrumentell hergestellt werden. Besonders dramatisch ist, wenn für Compliance verantwortliche Vorgesetzte, von denen eine Vorbildfunktion erwartet wird, selbst im Strudel korrupten Verhaltens mitschwimmen. Glücklicherweise gibt es außer schwarzen Schafen viele Unternehmen, denen ethisches Verhalten ein ernsthaftes Anliegen zu sein scheint. Im Folgenden werden hierzu nacheinander die Firmen Motorola, L’Oréal, Texas Instruments und Fujitsu betrachtet. 66..22 BBe eiis sp pi ie ell M Mo ot to orrool la a Der US-Telekommunikationsanbieter Motorola nimmt ethisches Verhalten seit vielen Jahren sehr ernst und fühlt sich den Menschen verpflichtet: 354 Hahne (2009), S. 49 <?page no="157"?> 156 6 Wie reagiert das Management bisher? uvk.de „Corporate responsibility means harnessing the power of our global business to benefit people.“ 355 Unternehmensverantwortung heißt für Motorola, dass weltweit operierende Unternehmen ihre Macht einsetzen, um dem Menschen Nutzen zu bringen. Dabei wird die Einhaltung der Menschenrechte sehr wichtig genommen und spiegelt sich in der internen Menschenrechtspolitik wider. Motorola‘s Human Rights Policy gegen Diskrimierung freie Arbeitsplatzwahl keine Kinderarbeit faire Arbeitszeiten und Gehälter Versammlungsfreiheit sichere und gesunde Arbeitsbedingugen keine Verletzung von Menschenrechten Grundsätze zu den Menschenrechten von Motorola 356 Folgerichtig wird bei Motorola Transparenz geschaffen und gegen Korruption hart durchgegriffen. Dabei helfen Hinweise aus der Ethik- Hotline. 2004 liefen beispielsweise 676 Anfragen auf der Ethik-Hotline auf. Die meisten Meldungen bezogen sich auf Human Ressource (224) und Verhaltensrichtlinien/ Code of business conduct (213), am wenigsten auf Umweltthemen (5). Im gleichen Jahr wurden 96 Fälle unethischen Verhaltens im Unternehmen intern geahndet, davon 31 in China, 36 in den USA und 29 im Rest der Welt. Sie teilen sich auf folgende Gebiete auf: Interessenkonflikt (19), Kickbacks (17), Unterschlagung (15), Betrug (10), Bestechung (9), Diebstahl (4), Insiderhandel (2) und anderes (21). Im gleichen Jahr wurden ca. 355 Motorola. Forward Moves: Corporate Responsibility Report 2006, S. 22 356 Vgl. Weiffenbach (2007b) <?page no="158"?> 6.2 Beispiel Motorola 157 uvk.de 20000 Trainingsstunden zum Thema „Ethik“ im Unternehmen durchgeführt. Ein Motorola-Manager, der offenkundig Schmiergelder in seiner Region versprochen hatte, musste binnen 20 Minuten sein Büro unter Aufsicht räumen und wurde fristlos entlassen. 357 Im Corporate Social Report (CSR) werden folgende Kennzahlen ausgewiesen: Indikator 2005 2006 2007 2008 2009 direkte CO 2 -Emissionen in t 28,4 29,7 28,8 33,1 27,8 Verbrauch von Strom und Erdgas in Mio. kWh 712 714 691 745 652 Wasserverbrauch in m³ 2,06 1,94 1,88 1,9 1,6 Sondermüll in t 319 223 670 509 458 Recycling-Rücknahmen in t 1,2 1,5 2,3 2,5 2,6 globale Krankheits- und Verletzungsrate pro 100 Mitarbeiter 0,39 0,30 0,21 0,20 0,18 Ethik Audits 11 11 11 5 2 Compliance Audits 19 8 4 11 11 Strafen in US-Dollar keine keine keine 166.000 keine Spenden der Motorola Stiftung in Mio. USD 13,0 13,8 30,5 23,7 18,4 Frauen in höheren Führungspositionen (Directors, Vice Presidents) in % keine Angabe keine Angabe keine Angabe 15 15 Tab. 10: Motorola CSR-Daten 2005-2009 358 357 Vgl. a.a.O. 358 Vgl. Weiffenbach (2007b) o.S. <?page no="159"?> 158 6 Wie reagiert das Management bisher? uvk.de Für eine genauere Bewertung der Reduzierung von Schadstoffemissionen und des Energieverbrauches fehlen hier die korrespondierenden Produktionszahlen. Die Ethik und Compliance Audits sind über die Jahre fast gleich geblieben. Die einmaligen Strafzahlungen 2008 wurden mit zwei anderen Unternehmen geteilt. Deutlich gesenkt werden konnte die globale Krankheits- und Verletzungsrate. Als Reaktion auf den Klimawandel hat sich Motorola unter anderem zum Ziel gesetzt, von 2005 bis 2010 die Treibhausgas Emissionen um 15 % zu reduzieren und den Elektrizitätsverbrauchsanteil von regenerativen Energien auf 30 % bis 2010 zu erhöhen. Einen wichtigen internen Stellenwert haben Ethik Workshops bei Motorola. 359 Führungskräfte zeigten in diesen Workshops am Anfang persönliche Vorbehalte der Teilnehmer gleich einer gefühlten inneren Opposition, über derartige Themen zu sprechen. Als Gründe wurden Zeitdruck aufgrund der Tagesarbeit, das Eindringen in die Privatsphäre oder befürchtete langweilige Themen, wie Höhe der Bewirtungskosten und zulässige Geschenke, angegeben. Erst als den Teilnehmern klar wurde, dass es sich nicht nur um Vorschriften und Pflichten der Mitarbeiter handelte, sondern um das gemeinsame Verständnis, für welches das Unternehmen mit Rückwirkungen auf die täglichen Entscheidungen und Grauzonen steht, entstand eine sehr offene aufgeschlossene konstruktive Atmosphäre. In der Diskussion entstanden im Wesentlichen Fragen zu den folgenden Gebieten: Verhalten der oberen Führungsschicht Werksschließungen, Auslagerungen von Geschäftsteilen, wenn die Zahlen nicht zufriedenstellend sind Ausrichtung nur am Shareholder-Value ausschließliche ökonomischen Orientierung Auch w enn theoretisch viele Führungskräfte zustimmen, dass Wirtschaften ohne ethische Werte wie Vertrauen, Integrität und wahrhaftiges Verhalten langfristig nicht erfolgreich ist, kommt im Tagesgeschäft teilweise eine Doppelmoral zum Tragen: Obwohl bekannt ist, was das Richtige wäre, wird dem Argument, es täten auch alle anderen, der Vorrang gegeben. Überdacht wurden von den Teilnehmern anfangs genannte 359 Vgl. a.a.O. <?page no="160"?> 6.2 Beispiel Motorola 159 uvk.de gängige Ausreden, man könne ohne Bestechungsgeld im Export keine Geschäfte machen. Vertriebsleiter bestätigten inoffiziell, dass ihr Budget sich auf 5 bis 10 % vom Umsatz belief, aber nur im Falle einer Auftragsvergabe. Argumente wie: Werte seien zwar gut, würden aber auch behindern und diese Vorgehensweise würde Arbeitsplätze sichern, wurden oftmals genannt. Mitarbeiter von in Skandalen verwickelten Bereichen bauen damit für sich selbst einen Schutzwall auf. In ihrem persönlichen Umfeld wissen sie meist genau, was richtig oder falsch ist, vor allem, wenn es unmittelbare Auswirkungen für sie selbst hat. Insbesondere im Ausland, weit weg, wird dies immer wieder gebilligt und in Kauf genommen, im Besonderen, wenn es sich um Großaufträge handelt, z.B. Aufträge von Regierungen, die anonymer sind. Dass durch diese Handlungsweise insbesondere Kunden in anderen Ländern geschädigt werden, wird nicht wahrgenommen. Bei Vorträgen war zu hören, die Compliance-Erklärungen gäbe es in den USA nur, um einen Persilschein für ethische Vorkehrungen zu erlangen (z.B. monatliche Compliance- Erklärungen für den jeweiligen Standort als Absicherung nach außen.) 360 In einem weiteren Teil des Workshops, den Anwendungsbeispielen, nahm die aktive Teilnahme weiter enorm zu. Mit einer sogenannten Ted- Maschine 361 , bei der die Teilnehmer sich im Rahmen von authentischen Fallbeispielen zwischen mehreren Antwort-Alternativen entscheiden konnten, stimmten sie per Knopfdruck für die, nach ihrer Meinung, richtigen Antworten ab. Dieses Hilfsmittel trug dazu bei, dass sie ihre ehrliche, eigene Meinung abgaben, weil sie sich gegenüber den anderen nicht rechtfertigen mussten, wenn sie nicht wollten. In abschließenden Diskussionen und Bewertungsbögen des Seminars führten die Teilnehmer aus, dass sie diese inhaltliche Ausrichtung nicht erwartet hätten und solche Themen in ihrem Umfeld (zu) wenig diskutiert würden. Erfahrungen der Teilnehmer waren: Erkenntnis aufgrund unterschiedlicher Antworten der Kollegen, dass es nicht nur eine Option oder Wahrheit gibt, sondern dass um die richtige Option teilweise gerungen werden muss. 360 Corporate Governance: internes Regelwerk zur Führung und Kontrolle in Unternehmen 361 Ted-Maschine: Abstimmgerät für jeden Teilnehmer per Funk, das die Ergebnisse aller anonym zusammenfasst <?page no="161"?> 160 6 Wie reagiert das Management bisher? uvk.de Überdenken der Maßstäbe, an denen das eigene lang- und kurzfristige Handel n ausgerichtet werden kann . Teilw eise bauten gerade Teilnehmer, die hierarchisch weiter unten angesiedelt waren, während des Seminars eine besondere Reputation unter den Kollegen auf. Wer Maßstäbe hat, zeigt Haltung, ist kalkulierbar und erhält in der Regel Respekt. 66..33 BBe ei issppi ieel l L L’ ’OORRÉÉAALL Der französische Konsumgüterhersteller für Kosmetik und Pflegeprodukte L’ORÉAL befasst sich intensiv mit verantwortlichem nachhaltigen Konsum. Das Ziel, integriertes verantwortliches Handeln, wird in einer Pyramide dargestellt. Abb. 11: Weg-Pyramide zu integriertem verantwortlichem Verhalten bei L’ORÉ- AL 362 362 L’ORÉAL (2009), http: / / sustainabledevelopment09.loreal.com/ consumption/ introduction.asp, letzter Zugriff 10.10.2012 Sustainable consumption Stakeholder dialogue Media education Consumer associations partnership Responsible communication Consumer relations management Alternative dispute resolution Consumer services good practices Innovation Creativity Safety Value for money Eco-design from responsible products and marketing to sustainable consumption meeting the Ci tiz en shi p A ge nda Consumer relations quality Supply quality <?page no="162"?> 6.3 Beispiel L’ORÉAL 161 uvk.de Die Grundlage der Pyramide bildet eine solide Lieferqualität, die in der folgenden zweiten Stufe durch den Ausbau guter Kundenbeziehungen weiter verbessert wird. In der dritten Pyramidenstufe setzt sich das Unternehmen insbesondere als „guter Bürger“ aktiv für die lokale Zivilgesellschaft ein. Bei der höchsten vierten Stufe gilt es, von verantwortungsvoller Produktion und verlässlichem Marketing zu einem wirklich nachhaltigen Konsum beizutragen. Es sollen also nur Produkte und Dienstleistungen zum Konsum bereitgestellt werden, die dem Wohle der Bürger und der Gesellschaft wirklich dienen. Für den Wegverlauf händigt L’ORÉAL allen Mitarbeitern Ethikgrundsätze aus, die jedem als Anleitung für sein Verhalten dienen. Bei der Verfassung dieser Ethik-Leitlinie haben Mitarbeiter aus 22 Ländern in internationalen Arbeitsgruppen mitgewirkt. Anschließend wurde die Leitlinie von 50 internen Experten geprüft und in jedem Land dem verantwortlichen Personalleiter und Rechtsberater zur Bewertung vorgelegt. Ethik-Direktor Emmanuel Lulin führte aus: „Wir sind überzeugt, dass in Zukunft diejenigen Unternehmen globale Marktführer sein werden, die Ethik nicht nur in ihre strategische Planung, sondern auch in ihr alltägliches Handeln integrieren. Bei L’ORÉAL sind wir der Ansicht, dass Ethik dort weiter führt, wo Vorschriften enden, ... Durch Ethik ist es uns möglich, das Vertrauen unserer Interessenpartner zu gewinnen und zu bewahren.“ 363 Der Ethik-Direktor ist Ansprechpartner für alle Mitarbeiter in Ethikfragen und berichtet direkt an den Vorstandsvorsitzenden mit folgenden Zuständigkeiten: Messung und Bewertung der Leistung der Gruppe in ethischen Fragen, Fortbildungsangebote und Empfehlungen für ethisches Verhalten, Ethik-Intranetseite, die allen Mitarbeitern offensteht, Sicherung und Einhaltung der ethischen Standards von L´ORÉAL. Zu den Fortbildungsangeboten gehören u.a. folgende Lernprogramme: Wie beweise ich hohe persönliche Integrität? ethische Urteilsbildung ethis che Betrachtung von Geschäftsfällen und ihr Zusammenhang mi t der Wertschöpfung 363 L’ORÉAL (2010a), http: / / www.loreal.de/ _de/ _de/ html/ unser-unternehmen/ interview-mit-dem-ethik-direktor.aspx, letzter Zugriff 10.10.2012 <?page no="163"?> 162 6 Wie reagiert das Management bisher? uvk.de In Situationen, in denen heikle ethische Entscheidungen in „Grauzonen“ getroffen werden müssen, sind Mitarbeiter angehalten, sich die folgenden vier Fragen zu stellen 364 : Steht diese Entscheidung im Einklang mit dem L’ORÉAL- SPIRIT? Ist sie legal? Inwiefern kann meine Vorgehensweise unsere verschiedenen Interessenvertreter betreffen und wie würden sie reagieren, wenn sie davon erfahren würden? Wenn ich nicht sicher bin, habe ich jemanden um Rat gebeten? Als „Goldene Regel“ im Unternehmen gilt, die Angelegenheit anzusprechen und offen zu diskutieren. Alle Mitarbeiter weltweit haben auch die Möglichkeit, direkt online dem Vorstandsvorsitzenden zu den Ethikgrundsätzen Fragen zu stellen. Bis 2009 sind dort insgesamt 10.000 Kontakte, davon 900 Fragen, aufgelaufen. Zwischen 2005 und 2007 wurden 1043 Sozialaudits zu Themenfeldern wie Kinderarbeit, Zwangsarbeit, Gesundheit und Sicherheit durchgeführt. Jedes Jahr organisiert das Unternehmen einen Ethik-Tag, um Kontinuität und interne Kommunikation zu sichern. L’ORÉAL initiierte und finanzierte den ersten Master- Studiengangs „Law and Business Ethics“ in Zusammenarbeit mit der ESSEC Business School der Universität Cergy-Pontoise. 365 In verschiedenen Preisverleihungen wurden die Ethik-Anstrengungen von L’ORÉ- AL bislang honoriert. 366 364 Vgl. Nietsch (2012), S. 70 365 Vgl. L’ORÉAL (2010a), http: / / www.loreal.de/ _de/ _de/ html/ unser-unterneh men/ interview-mit-dem-ethik-direktor.aspx, letzter Zugriff 10.10.2012 366 2010 benannte das Ethisphere Institute L’ORÉAL als eine der „World’s Most Ethical Companies“, 2011 erhielt L’ORÉAL für die Ethik-Exzellenz und die transparente Kommunikation der Gruppe den „Ethical Corporation den Award“ in den Bereichen „Unternehmerische Verantwortung“ und „Nachhaltige Entwicklung“. <?page no="164"?> 6.4 Beispiel Texas Instruments 163 uvk.de 66..44 BBeeiissppiieell TTeexxaass IInnssttrruummeennttss Der US-amerikanische Technologiekonzern Texas Instruments (TI) nennt in seiner Broschüre „value and ethics of TI“ im Vorwort der übergeordnete Slogan: „Know what’s right. Value what’s right. Do what’s right.“ Im darauf folgenden Text wird das ethische Selbstverständnis als wichtiger Eckstein weiter ausgeführt: „Ethics is the cornerstone of TI. Our reputation at TI depends upon all of the decisions we make and all the actions we take each day. Our values define how we will evaluate our decisions and actions … and how we will conduct our business. We are working in a difficult and demanding, ever-changing business environment. Together we are building a work environment on the foundation of Integrity, Innovation and Commitment. Together we are moving our company into a new century … one good decision at a time. Our high standards have rewarded us with an enviable reputation in today’s marketplace … a reputation of integrity, honesty and trustworthiness. That strong ethical reputation is a vital asset … and each of us shares a personal responsibility to protect, to preserve and to enhance it. Our reputation is a strong but silent partner in all business relationships.“ 367 Eine starke ethische Reputation basierend auf Integrität, Innovation und Selbstverpflichtung wird als unerlässlich betrachtet. Ähnlich wie L’ORÉAL empfiehlt Texas Instruments 368 seinen Mitarbeitern bei ethischen Fragen einen Ethik-Schnelltest: Ist die Handlung legal? Stimmt die Handlung mit den Unternehmenswerten überein? Fühlen Sie sich schlecht, wenn Sie die Handlung durchführen? Wie sähe die Handlung als Bericht in einer Zeitung aus? Wenn Sie wissen, dass es falsch ist, führen Sie die Handlung nicht durch! Wenn Sie nicht sicher sind, fragen Sie. Fragen Sie solange, bis Sie eine Antwort erhalten. 367 Texas Instruments, (2006), S. 1, http: / / www.ti.com/ corp/ docs/ csr/ downloads/ ethics.pdf? DCMP=TI-Ethics&HQS=Brochure+OT+values-ethics-at-ti, letzter Zugriff 30.05.2011 368 Vgl. Fisher et al. (2009), S. 145 <?page no="165"?> 164 6 Wie reagiert das Management bisher? uvk.de Ethischen Aspekten im Berufsleben will man bei TI am besten begegnen, indem man Mitarbeiter frühzeitig in Bezug auf ethische Entscheidungsfindung und entsprechenden Urteilsvermögen schult. 66..55 BBeeiissppiieell FFuujji ittssuu Der japanische Technologiekonzern Fujitsu beschreibt ausführlich in übergeordneten Richtlinien sein Selbstverständnis. Ausgehend von der Unternehmensvision werden die Unternehmenswerte abgeleitet. Hieraus ergeben sich die Prinzipien und der Code of Conduct. Die Unternehmenspolitik hat sich an diesen Maßgaben zu orientieren. 369 Abb. 12: Das Selbstverständnis von Fujitsu Die Unternehmensvision und Unternehmenswerte sind in der folgenden Abbildung zusammengefasst: 369 http: / / www.fujitsu.com/ global/ about/ profile/ philosophy/ Stand: 23.05.2010 <?page no="166"?> 6.5 Beispiel Fujitsu 165 uvk.de Abb. 13: Unternehmenswerte We think and act from a global perspective. What we value: We enhance the reputation of our customers and the reliability of social infrastructure. In all our actions, we protect the environment and contribute to society We strive to meet the expectations of customers, employees and shareholders. We seek to continuously increase our corporate value. We respect diversity and support individual growth. We seek to be their valued and trusted partner. We build mutually beneficial relationships. We seek to create new value through innovation. <?page no="167"?> 166 6 Wie reagiert das Management bisher? uvk.de Fujitsu verpflichtet sich in seinen Unternehmenswerten, die Umwelt und die Gesellschaft zu schützen. Dass dies kein reines Lippenbekenntnis ist, zeigt der im Greenpeace Cool IT Leaderboard belegte Platz 3 von 21. 370 In diesem Ranking werden die größten globalen IT-Unternehmen im Kampf gegen den Klimawandel bewertet in Bezug auf saubere IT- Produkte, den Energieverbrauch, Emissionen und politische Einflussnahmen. 371 Erst nach Umwelt und Gesellschaft sowie Kunden, Mitarbeitern und Aktionären erfolgt bei Fujitsu als dritter Grundsatz die kontinuierliche Erhöhung des Unternehmenswertes. Abb. 14: Unternehmensprinzipien 370 Stand: Februar 2012 371 Vgl. Cool IT Leaderboard (2012), http: / / www.greenpeace.org/ international/ en/ publications/ reports/ Cool-IT- Leader board-5/ , letzter Zugriff 10.10.2012 We act as good global citizens, attuned to the needs of society and the environment. We think from the customer's perspective and act with sincerity. We act based on a firsthand understanding of the actual situation. We strive to achieve our highest goals. We act flexibly and promptly to achieve our objectives. We share common objectives across organizations, work as a team and act as responsible members of the team. <?page no="168"?> 6.6 Soziale Verantwortung und finanzieller Erfolg - ein Zielkonflikt? 167 uvk.de In von den Unternehmenswerten abgeleiteten Prinzipien werden Denken und Handeln in dem Unternehmen genauer ausgeführt (s. Abb. 14). Die Unternehmenswerte werden zusätzlich in einen Verhaltenskodex, dem Code of Conduct, für Mitarbeiter spezifiziert. Code of Conduct We respect human rights. We comply with all laws and regulations. We act with fairness in our business dealings. We protect and respect intellectual property. We maintain confidentiality. We do not use our position in our organization for personal gain. Dieser Verhaltenskodex stimmt im Wesentlichen mit dem vieler Konzerne überein. Zu hoffen ist, dass er auch so praktiziert wird. Es stellt sich die Frage, wie im Alltag mit Interessenkollisionen verschiedener Bezugsgruppen umgegangen wird. Nicht selten stehen dem Schutz von Umwelt und Gesellschaft (1. Corporate Value) die Interessen von Aktionären, vielleicht aber auch von Mitarbeitern oder Kunden, die billige Produkte verlangen, gegenüber (2. Corporate Value). Da „Umwelt und Gesellschaft“ in den Values zuerst genannt werden, könnte man hiervon eine Priorität ableiten. Der Frage, inwiefern gesellschaftliche Verantwortung und finanzieller Erfolg ein genereller Gegensatz ist, widmet sich das nächste Kapitel. 66..66 SSo ozziia al le e VVe erraannt tw wo or rttuunngg uun ndd ffiin naannz ziieelllle err EEr rf foollg g -- eeiinn ZZi ieellk ko on nffl li ikktt? ? Wie die vorangegangenen Ausführungen darlegen, wird in den Unternehmen immer mehr über Wirtschaftsethik gesprochen und auch philosophiert. Eine konsequente Umsetzung in einzelne Ethik sichernde Maßnahmen steht noch auf breiter Front aus. Dies betrifft Instrumente, wie nachhaltige Ethik-Programm e, den Eins atz von Ethikkommissione n, <?page no="169"?> 168 6 Wie reagiert das Management bisher? uvk.de die entsprechende Qualifizierung von Mitarbeitern, den Einsatz von Ethik-Beauftragten, umfassende Ethik-Trainings, professionelles Bearbeiten von Hinweisen, Beschuldigungen innerhalb der Firma mit juristischem Beistand, Controlling und Sanktions mittel. Eine Ursache für die zu geringe Nutzung liegt darin, dass die genannten Instrumente nach Kosten, Aufwendungen und einer Gefahr der Verbürokratisierung von Moral klingen. Ethik ist nicht umsonst zu haben. Der teilweise zurückhaltende Umgang mit Ethik wird sich möglicherweise erst konsequent ändern, wenn Unternehmen klar wird, dass bei 70 % aller europäischen Kunden das soziale Engagement eines Unternehmens die Kaufentscheidung beeinflusst. Dies ergab sich aus einer 2004 durchgeführten Umfrage des Emnid Instituts für das World Economic Forum. 372 Management nur nach Kennzahlen und kurzbis mittelfristigen Kosten- Nutzen-Gesichtspunkten zu beurteilen, ist zu eng, wie auch das folgende Beispiel zeigt: Ein Automobilkonzern schätzt aufgrund eines Konstruktionsfehlers 500 tödliche Verkehrsunfälle mit einem durchschnittlichen Schadensersatz von 600.000 US-Dollar. Demnach stehen hier 300.000.000 US-Dollar gegenüber geschätzten 400.000.000 US-Dollar Kosten für eine Rückholaktion. 373 Die hier kosteneffektivste kurzfristige Lösung ist mittel- und langfristig aufgrund der Reputationsschadens nicht die ökonomischste. Auch die Bewahrung der Umwelt unter dem Nachhaltigkeitsaspekt ist ein ethisch gefordertes Ziel, dass auch den langfristigen ökonomischen Interessen aller Unternehmen dient. Vielversprechend sind derzeitig Unternehmensansätze hinsichtlich der Personalauswahl. Viele Unternehmen suchen nach ausbalancierten Mitarbeitern der Bereiche Fachkompetenz, emotionale Fähigkeiten, soziale Kompetenz. 372 Vgl. http: / / www.handelsblatt.com/ unternehmen/ banken/ interview-kemmer-istein-bauernopfer-seite-2/ 3041962-2.html, letzter Zugriff 20.06.2011 373 Vgl. Audi, 2009, S. 37 <?page no="170"?> 6.6 Soziale Verantwortung und finanzieller Erfolg - ein Zielkonflikt? 169 uvk.de Gertrud Höhler 374 fasst in ihrem Buch „Herzschlag der Sieger“ die Erfolgsfaktoren wie folgt zusammen: Nachhaltig erfolgreich ist, wer die drei Faktoren IQ (Intelligenz-Quotient), EQ (Emotionaler Quotient) und soziale Kompetenz miteinander vereint. Selbstverständlich sind Ethikprogramme finanziell mit Augenmaß an das Unternehmen anzupassen. Die Gefahr des Verbürokratisierens ist immer latent vorhanden. Grundsätzlich sind die folgenden (fast kostenfreie) Faktoren für eine erfolgreiche Integration ethischer Prinzipien unabdingbar: [1] Das TOP-Management muss die moralische Führung einer Organisation unterstützen und vorleben. Dabei sind moralische, soziale und geschäftliche Werte miteinander in Einklang zu bringen. [2] Die wichtigste Aufgabe einer moralischen Führungskraft besteht darin, sämtliche Werte ihrer Organisation mit Leben zu erfüllen, damit die Mitarbeiter eine persönliche Beziehung dazu herstellen. Wichtig ist die Nachvollziehbarkeit, wie Werte in der täglichen Arbeit umgesetzt werden können. [3] Eine moralisch intelligente Organisation zeichnet sich dadurch aus, dass die Kultur von nachhaltigen Werten erfüllt ist und ihre Angehörigen ihr Verhalten bewusst an diesen Werten ausrichten. Kommunikation und Verhalten, also Reden und Handeln laufen konform. Die Konsistenz der Botschaften spiegelt Transparenz, Wahrhaftigkeit und Authentizität wider. Das Unternehmen ist berechenbar für seine Stakeholder. [4] Jeder Manager sollte so entscheiden, dass auf Nachfragen die Kriterien und Gründe seiner Entscheidungsfindung nachvollziehbar und vertretbar sind. 375 Das Unternehmen American Express Financial machte die Probe auf das Exempel und führte eine Fallstudie zur Kosten-Nutzen-Relation über 374 Höhler, Gertrud (2005) 375 Vgl. Audi (2009) S. 41 <?page no="171"?> 170 6 Wie reagiert das Management bisher? uvk.de fünf Jahre durch. 376 Von zwei Pilotgruppen wurde eine hinsichtlich ethischen Verhaltens ausführlich geschult. Die ethisch emotionale Kompetenz wurde in diesem Rahmen als Fähigkeit definiert, Ziele, Handlungen und Werte in Einklang zu bringen. Die Wirkungen des Programms auf die Unternehmensergebnisse sind beeindruckend. Die ethisch geschulte Pilotgruppe erzielte einen um 18 % höheren Umsatz als die Kontrollgruppe, die nicht in den Genuss des Trainings gekommen war. Das Programm, das der Entwicklung der Selbstführung und der interpersonalen Effektivität dient, lässt die Ableitung zu, dass diese emotionalen Fähigkeiten den persönlichen Erfolg ebenso begünstigen wie den Erfolg des Unt ernehm ens. Leider gi bt es Studien dieser Art zu we nige, um w ei te r en Aufschluss über die Zusammenhänge von Ökonomie und Ethik zu erhalten. Eine genaue Kosten-Nutzen-Relation für ethisches Verhalten aufzustellen, fällt aufgrund des schwierig quantifizierbaren Nutzens insgesamt schwer. Eine weitere Studie geht dem nach: Webley/ More 377 untersuchten 2003 die Frage, ob sich ethisches Verhalten auszahlt, indem sie zwei Kohorten von 50 Unternehmen aus dem Aktienindex FTSE 350, der die größten an der Londoner Börse gehandelten Aktiengesellschaften umfasst, bildeten. Dabei zeigte sich, dass Unternehmen mit Ethikgrundsätzen im Vierjahresvergleich von 1997 bis 2000 über einen höheren Market Value Added (MVA)-Index verfügten. Dieser gibt den Marktwertzuwachs (Differenz aus Marktwert und Geschäftsvermögens) an. Darüber hinaus fiel der Economic Value Added (EVA)-Index deutlich besser aus. Hierbei handelt es sich um eine Messgröße für die Vorteilhaftigkeit des eingebrachten Kapitals im Vergleich zu anderen Anlagemöglichkeiten der gleichen Risikogruppe (Opportunitätskosten). Günstiger lag ebenfalls das Kurs-Gewinn-Verhältnis. Von 1997 bis 2000 verfügten Unternehmen ohne Ethikgrundsätze über einen besseren Return on Capital Employed (ROCE), ab 2001 Unternehmen mit Ethikgrundsätzen. Die Studie ist ein Indiz dafür, das Unternehmen mit Ethikgrundsätzen sich finanziell stabiler entwickeln als Unternehmen ohne. Einen endgültigen Beweis gibt es dafür jedoch nicht, da hier noch andere bislang unentdeckte Faktoren eine Rolle spielen können. Zu hin- 376 Lennick/ Kiel (2011), S. 197 f. 377 Fisher et al. (2009), S. 13 <?page no="172"?> 6.6 Soziale Verantwortung und finanzieller Erfolg - ein Zielkonflikt? 171 uvk.de terfragen ist auch die Ursache-Wirkungskette. Führen Ethikgrundsätze und damit soziales Engagement zu mehr Profit oder lässt besserer Profit Raum für soziale Belange? In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, welche Interessen Unternehmen zu berücksichtigen haben. Sollen sie der gesamten Gesellschaft dienen oder nur Partialinteressen, wie die der Aktionäre vertreten? Einige Autoren ziehen für die Beantwortung das Stakeholder-Modell heran. 378 Für Ausgewogenheit sorgt die Berücksichtigung der vier Stakeholder- Gruppen Mitarbeiter, Kunden, Kapitalgeber und Gesellschaft. Mit Hilfe der in Abbildung 15 aufgeführten Beispiele für Kennzahlen wird die eingeschlagene Zielrichtung mess- und kontrollierbar. Abb. 15: Mögliche Kennzahlen und Beurteilungskriterien für ethisches Verhalten 379 Eine weitere Studie zu der Frage, ob sozial verantwortliches Handeln in Unternehmen nur Kosten verursacht oder auch finanzielle Vorteile bietet, stammt von Marc Orlitzky et al. 380 Sie haben 2003 in einer Metastudie, bei der 52 Untersuchungen zum Thema Social und Financial Per- 378 Vgl. Epstein (2009), S. 41 ff. 379 ebd., S. 44 380 Vgl. Orlitzky et al. (2003), S. 420, Orlitzky (2005), S. 38 ethisches Verhalten Kapitalgeber Kunden Mitarbeiter Gesellschaft Bilanzen, Jahresberichte, Aktienkursentwicklung, ... Sozialstandard SA 8000, Global Reporting Initiative (GRI), Balanced Score Card, ... Zufriedenheit mit Produkten und Verhalten des Unternehmens, ... Mitarbeiterzufriedenheit und -entwicklung, Effizienz von Belohnungs- und Anreizsystemen für ethisches Verhalten, ... <?page no="173"?> 172 6 Wie reagiert das Management bisher? uvk.de formance ausgewertet wurden, signifikante Korrelationen festgestellt. Social Performance (SP) wurde als „a business organization’s configuration of principles of social responsibility, processes of social responsiveness, and policies, programs and observable outcomes as they relate to the firm’s societal relationships“ 381 definiert. Die Arbeitsdefinition für Financial Performance (FP) lautete „business financial performance included measures of market and accounting rates of return“ Für FP wurden entsprechende Börsenkurse und Renditen als Maßzahlen genutzt. Als wichtigster Einflussfaktor korrelierte die Reputation des Unternehmens am stärksten mit SP und FP, mit großem Vorsprung vor Social Audits (soziale interne Prüfungen), Executive Values (Werte der Geschäftsführung) und SP Disclosures (SP Bekanntgaben/ Veröffentlichungen). Es stellt sich die Frage, was zuerst entsteht, Social oder Financial Performance. Hierzu führt das Forscherteam aus, dass SP sowohl eine Determinante als auch eine Folge von finanziellem Erfolg sei. Demnach verstärkt sich beides gegenseitig. Dies heißt demnach, dass SP zu FP führt und umgekehrt. Als weitere Implikationen stellt Orlitzky fest: 382 [1] Social/ Environmental Management stellt ein zunehmend wichtiges Element im Rahmen von Unternehmensstrategien dar. Der häufig in der Literatur und Praxis aufgeführte Zielkonflikt zwischen sozialer Verantwortung und ökonomischen Zielen ist damit widerlegt. [2] Die Unternehmensreputation ist ein Haupthebel zur Verbesserung von SP und FP. [3] Der zunehmende Einfluss von Massenmedien und weiteren Medien muss noch stärker Berücksichtigung finden. [4] Marktmechanismen können SP fördern. Unternehmen können aus sich selbst heraus bessere SP initialisieren als über staatliche gesetzliche Vorschriften. Dennoch sollte der Staat sein Augenmerk auf 381 Wood (1991) in Orlitzky (2005), S. 38 382 Vgl. Orlitzky (2005), S. 39 f. <?page no="174"?> 6.6 Soziale Verantwortung und finanzieller Erfolg - ein Zielkonflikt? 173 schlecht performende Unternehmen richten, da hier erwartungsgemäß soziale Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft am wenigsten ausgeprägt ist. [5] Ohne ein starkes Kommittment für die eigene Verantwortung können Unternehmen schwieriger ökonomischen Erfolg erringen. Aufgrund der dargestellten Interdependenz von sozialer Unternehmensverantwortung und ökonomischem Erfolg wird deutlich, dass Unternehmen mit geringem wirtschaftlichem Unternehmenserfolg möglicherweise die finanzielle Grundlage fehlt, um SP zu forcieren. Aus diesem Grunde schlägt Orlitzky vor, dass hier staatliche Förderprogramme greifen sollten. In einer weiteren Metastudie untersuchte Orlitzky 2011 383, warum in Bezug auf soziales Manangementverhalten und finanziellen Unternehmenserfolg teilweise sehr unterschiedliche Korrelationen herausgefunden wurden. Er fand aufgrund seiner Analyse seine Hypothese bestätigt, dass in reinen betriebswirtschaftlichen Magazinen (General Management-) Studien veröffentlicht werden, die geringere bis keine Korrelationen nachweisen, während Zeitschriften, die wirtschafts- und gesellschaftsorientierter ausgerichtet sind, (SIM: Social Issues in Management), höhere und positive Korrelationen darlegen. Ursächlich für die unterschiedlichen Ergebnisse seien nicht zuletzt Defizite verwendeter statistischer Analyseverfahren, die z.B. in der Art der Formulierung von Null- und Alternativhypothese liegen. 384 Leider fehlen für die fundamentalen Ergebnisse der Studien Orlitzkys bis heute kaum einschlägige Untersuchungen, die seine Ergebnisse bestätigen. Geht man von ihrer Richtigkeit aus, kann das Management auf die Forderung der Anteilseigener nach maximalen Profit entscheiden, diesen auf dem Wege der Einbeziehung von Ethik-Maßnahmen zu erreichen, da Ethik-Maßnahmen den Profit stützen. Ein Interessenkonflikt wäre so nicht mehr gegeben. Die Bewahrung der Umwelt unter dem Nachhaltigkeitsaspekt ist demnach ein ethisch gefordertes Ziel, dass auch den langfristigen ökonomischen Interessen aller Unternehmen dient. 383 Vgl. Orlitzky (2011), S. 409 384 Vgl. Orlitzky (2011a), S. 47 <?page no="176"?> uvk.de 77 WWaass b beeddeeuutteett M Mor raall ffüürr ddeenn eeiinnzzeellnneenn BBüürrggeerr? ? Nach der Beschäftigung mit dem institutionellen (staatlichen) und unternehmerischen Selbstverständnis von Moral, geht es nun um die Frage der individuellen Haltung. Es gibt Aussagen, z.B. des Psychologen und Moralforschers Georg Lind 385 , der befürchtet, dass die Moral aus unserem Alltag heute so gut wie verschwunden sei. 80 % der Menschen seien isoliert, stellt er fest. Wann komme man schon mal dazu, mit anderen eine Gewissensfrage abzuwägen. Der reduzierte gedankliche Tiefgang liege auch daran, dass die Leute heute weniger miteinander reden zugunsten neuer elektronischer Medien (z.B. chatten, simsen). Auch bestehe eine Tendenz, so die Psychologin Gertrud Nunner-Winkler 386 , alle Bereiche des Lebens einer Kosten-Nutzen-Rechnung zu unterziehen. Moral liegt die Idee der Gerechtigkeit zugrunde, der Ökonomie (primär) der Gewinn. Man erkenne die ökonomisch durchdrungenen Personen sehr schnell. Sie nennen ihre Freunde „Kontakte“ und den Freundeskreis „Netzwerk“. In dieser Effizienzrechnung des Lebens kommt Empathie 387 kaum mehr vor. In einer Studie des Sozialwissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer 388 von 2007 stimmten die Deutschen zu 33,3 % der Aussage zu: „Die Gesellschaft kann sich wenig nützliche Menschen nicht mehr leisten.“ Sie glauben sogar zu 40 %, dass in unserer Gesellschaft zu viel Rücksicht auf Versager genommen wird. Diesen Aussagen stehen altruistische Handlungen vieler anderer Menschen entgegen. Es stellt sich die Frage, woher moralisches Verhalten kommt. Das nächste Kapitel beschäftigt sich daher damit, ob der Mensch von Natur aus eher gut oder schlecht ist. 385 Vgl. Lind (2008) in Diening (2008), http: / / www.tagesspiegel.de/ zeitung/ moralische-leeren/ 1201628.html, letzter Zugriff 16.10.2012 386 Vgl. Nunner-Winkler in Diening (2008), http: / / www.tagesspiegel.de/ zeitung/ moralische-leeren/ 1201628.html, letzter Zugriff 16.10.2012 387 Empathie: Einfühlungsvermögen in andere Personen 388 Vgl. Heitmeyer (2007) in Diening (2008), http: / / www.tagesspiegel.de/ zeitung/ moralische-leeren/ 1201628.html, letzter Zugriff 16.10.2012 <?page no="177"?> 176 7 Was bedeutet Moral für den einzelnen Bürger? uvk.de 77..11 DDiiee mmeennsscchhlliicchhee NNaattuurr uunndd iihhrree SSeellbbsstteerrh haallttuunngg Auf der einen Seite lesen wir ständig von Unrecht und Grausamkeiten, die weltweit oder direkt vor der eigenen Haustür geschehen. Auf der anderen Seite erleben wir täglich kleine und große Zeichen von Aufmerksamkeit, Großzügigkeit, Mitgefühl und Liebe. Soziale Bande schaffen Wohlwollen und bringen Freude in unser Leben. Unser Umgang miteinander ist hier getragen von wechselseitiger Empathie, die wohl unserem eigentlichen Wesen entspricht. Sind demzufolge dunkle Seiten unseres Verhaltens eher als pathologisch von der Norm abweichend zu betrachten? Hierüber streiten sich die Gelehrten seit Jahrhunderten. Schon ein Epos über den altsumerischen König Gilgamesch (ca. 2750 v. Chr.), in Keilschrift auf Tontafeln niedergeschrieben, schildert die Verwandlung eines hochmütigen Tyrannen zu einem gütigen wohlwollenden Herrscher, nachdem er alles gesehen und alle Gefühle erfahren hatte. 389 Fand dieser Herrscher zurück zu seiner vormals guten Natur? Diesem Punkt nachzugehen, dient der folgende Blick auf einige Theorieansätze zur Natur des Menschen. Thomas Hobbes z.B. vertrat zwar kein dezidiert negatives Menschenbild von Natur aus, meint aber, dass der Mensch zur Selbsterhaltung während seines Lebens habsüchtig und argwöhnisch sei. 390 Adam Smith stellte die teilweise noch heute anerkannte These auf, dass der Mensch auf dem Markt nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht sei. 391 Charles Darwin führte in seiner Evolutionstheorie aus, dass der Mensch sich primär am eigenen physischen Überleben und Fortpflanzen orientiere. Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieb Sigmund Freud den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist. Kultur war für ihn geschaffen, um den aggressiven Sexualtrieb des Menschen zu bändigen. 392 Gegen Ende seines Lebens räumte Darwin allerdings den sozialen Instinkt als tieferen Trieb ein als den der eigenen Lustbefriedigung. Als Beispiel führte er wissenschaftliche Beobachtungen an, bei denen sich Kühe gegenseitig ablecken, wo es juckt, Affen sich gegenseitig nach 389 Vgl. Rifkin (2010), S. 142 390 Vgl. Rifkin (2010), S. 234 391 Vgl. Smith (2003, 1776), S. 369 392 Vgl. Rifkin (2010), S. 48 <?page no="178"?> 7.1 Die menschliche Natur und ihre Selbsterhaltung 177 uvk.de Schmarotzern absuchen oder Hunde kranke Katzen ablecken. 393 Selbst eine Elefantenkuh wurde gesichtet, die versuchte, ein fremdes Nashornbaby aus dem Schlamm vor seinem Versinken zu retten. Gefühlsäußerungen, wie Dankbarkeit, die lange exklusiv dem Menschen zugeordnet wurden, konnten bei Schimpansen beobachtet werden. In den meisten Fällen gaben Schimpansen ihren Artgenossen, die ihnen morgens bei der Fellpflege geholfen hatten, Stunden später etwas von ihrem eigenen Fressen ab. Einige Spezies der Säugetiere zeigen Gefühle, sie spielen, unterweisen ihre Jungen und sind liebevoll im Umgang miteinander. 394 Im Rahmen unserer sozialen Grundausstattung verfolgt der Mensch aber auch egoistische Interessen. Treibt er dies zu weit, läuft er Gefahr, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Zyniker behaupten, dass sich selbst hinter altruistischen Taten letztendlich egoistische Motive verbergen, wie z.B. persönliche Befriedigung oder Achtung in der Gesellschaft. 395 Aber dass ein Mensch sich besser fühlt, wenn er jemandem geholfen hat, sagt noch ni cht , d as s di es d er ei nzig e G ru nd f ü r sei n Hand el n wa r. Alle großen Kulturen der Achsenzeit 396 , der Hinduismus und Buddhismus in Indien, der Konfuzianismus in China, die Philosophie des antiken Griechenlands, das Judentum sowie das Christentum betonen die Bedeutung der Goldenen Regel (s. Kap. 3.1). Im Buddhismus ist die Vorstellung eines autonomen Ichs eine Illusion. Vielmehr setzt sich die Identität eines Menschen immer aus seinen Beziehungen mit anderen zusammen. Wenn der Mensch die Summe all seiner Beziehungen ist, dann handelt es sich bei dem Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ weniger um eine Vorschrift als um eine Tautologie. 397 Das mitfühlende Herz wird als Gabe des Himmels betrachtet. Der Hinduismus geht davon aus, dass die Natur des Menschen gut sei und 393 Vgl. ebd., S. 76 f. 394 Vgl. ebd., S. 87 395 Vgl. Rifkin (2010), S. 101 396 Zeitspanne von 800 bis 200 v. Chr., in der parallel in vier voneinander unabhängigen Kulturräumen das geistige Gedankengut als Ausgangspunkt für die heutige Zivilisation gelegt wurde. 397 Vgl. Rifkin (2010), S. 159 <?page no="179"?> 178 7 Was bedeutet Moral für den einzelnen Bürger? uvk.de böse nur der, der seine ursprüngliche Natur verloren habe. 398 Durch Yoga und Meditation versucht man, die im Unbewussten manifestierte Begierde zu begrenzen. Konfuzius betonte, Moral gehöre zum Gewebe des Universums. Moralische Integrität unterliege der eigenen Kontrolle und ist in Wahrheit das einzige, was im Leben anzustreben sich lohne. Tugend komme nur durch gewissenhafte Anstrengung des Menschen zustande. 399 Im 15. Jahrhundert bereitete die durch die Erfindung der Druckerpresse ermöglichte Kommunikationsrevolution zusammen mit einer neuen kosmopolitischen Entwicklung den Boden der humanistischen Ära. 400 Mit der Ergänzung des philosophischen Grundsatzes René Descartes‘ „Ich denke, also bin ich“ um „Ich nehme teil, also bin ich.“ rückt die Empathie in den Mittelpunkt der menschlichen Entwicklung. 401 John Locke war überzeugt, dass Menschen zwar eine Veranlagung zu Besitzstreben hätten, sonst aber als „unbeschriebenes Blatt“ (weder gut noch böse) geboren würden und zu einem tugendhaften Leben erzogen werden müssten. Jean Jaques Rousseau befand den Naturzustand der Menschen gut, aber der Gefahr ausgesetzt, von der Gesellschaft verdorben zu werden. 402 Johann Wolfgang von Goethe, der sich zeitlebens auch als Philosoph und Naturwissenschaftler profilierte, erzählte ein Märchen darüber, was wichtig sei: Eine goldene Königsstatue unterhält sich mit einer Schlange. Die Statue fragt, was herrlicher als Gold sei. Darauf erwiderte die Schlange: Das Licht. Nun wollte die Statue wissen, was erquicklicher als das Licht wäre. Hier entgegnete die Schlage: Das Gespräch, denn nach bisherigem Wissensstand sind die Menschen die einzigen Lebewesen, die Geschichten erzählen. Das Gespräch ist ein Mittel, sich anderen mitzuteilen, Zugang zu ihren Realitäten zu bekommen und so die Position eines anderen einnehmen zu können. 403 Goethe beschreibt jeden Menschen als einmaliges Individuum, das ganz besondere Beziehungen und Begegnungen in sich trägt, die ihn als soziales Wesen erfüllen. Für Goethe ist 398 Vgl. Stevenson (2008), S. 36 399 Vgl. ebd., S. 29 400 Vgl. Rifkin (2010), S. 200 401 Vgl. ebd., S. 117 402 Vgl. ebd., S. 234 403 Vgl. ebd., S. 130 <?page no="180"?> 7.1 Die menschliche Natur und ihre Selbsterhaltung 179 uvk.de es ein wichtiger Prozess sich „in die Zustände anderer zu finden, eine jede besondere Art des menschlichen Daseins zu fühlen und mit Gefallen daran teilzunehmen.“ Es gilt, die Welt durch Introspektion in sich aufzunehmen als Mittel für das übergeordnete Ziel der menschlichen Verbindung. „Sehen wir nun während unseres Lebensganges dasjenige von anderen geleistet, wozu wir selbst früher einen Beruf fühlten, ... dann tritt das schöne Gefühl ein, dass die Menschheit zusammen erst der wahre Mensch ist und dass der Einzelne nur glücklich sein kann, wenn er den Mut hat, sich im Ganzen zu fühlen. “404 Das Ringen von Verstand und Gefühl zeigte sich im Ausbruch der Französischen und Amerikanischen Revolution. Beide Revolutionen richteten sich in erster Linie gegen monarchische Strukturen. Während die Amerikanische Revolution jedoch den Schwerpunkt auf die Chancen des Einzelnen (auf Leben und Eigentum) und das Recht eines jeden Menschen nach Glück zu streben legte (life, property, liberty), betonten die Franzosen Gleichheit und Brüderlichkeit (égalité, fraternité, liberté). 405 Dabei spielt die Freiheit bei beiden eine ähnlich wichtige Rolle. Die Philosophen der Aufklärung betrachteten die Welt mechanistisch mit dem Menschen von Natur aus nach Gewinn strebend. Fortschritt wurde rein materiell definiert. Als Reaktion auf die Vernunftfixierung der Aufklärung entwickelte sich mit der Romantik eine starke Gegenbewegung, die die menschliche Natur für sozial und liebevoll hielt. Dem jugendlichen Ausbruch romantischer Gefühle mit der Hoffnung einer neuen Gesellschaftsordnung auf der Basis natürlicher menschlicher Güte und sozialer Einstellungen verdankt die Revolution von 1848 auch den Namen „Völkerfrühling“. 406 Fortschritt betrachteten die Romantiker als kreative Kraft zur Förderung von Selbsterfüllung und Gemeinschaftssinn. Die damit einhergehende Welle der Empathie gipfelte in Arthur Schopenhauers Schrift „Über die Grundlage der Moral“: 407 „Hat eine Handlung einen egoistischen Zweck zum Motiv; so kann sie keinen moralischen Werth haben: soll eine Handlung morali- 404 Goethe in Rifkin (2010), S. 228 f. 405 Vgl. Audi (2009), S. 5 406 Vgl. Rifkin (2010), S. 274 407 Vgl. ebd., S. 254 <?page no="181"?> 180 7 Was bedeutet Moral für den einzelnen Bürger? uvk.de schen Wert haben, so darf kein egoistischer Zweck, unmittelbar oder mittelbar, nahe oder fern, ihr Motiv sein. [...][M]an setze zum letzten Beweggrund einer Handlung, was man wolle; immer wird sich ergeben, dass, auf irgend einem Umwege, zuletzt DAS EIGE- NE WOHL UND WEHE DES HANDELNDEN die eigentliche Triebfeder mithin die Handlung EGOISTISCH, folglich OHNE MORALISCHEN WERTH ist. Nur einen einzigen Fall giebt es, in welchem dies nicht Statt hat: nämlich wenn der letzte Beweggrund zu einer Handlung, oder Unterlassung, geradezu und ausschließlich im WOHL UND WEHE irgend eines dabei passive beteiligten ANDERN liegt, also der aktive Teil bei seinem Handeln, oder Unterlassen, ganz allein das Wohl und Wehe eines ANDERN im Auge hat und durchaus nichts bezweckt, als daß jener Andere unverletzt bleibe, oder gar Hülfe, Beistand und Erleichterung erhalte. DIE- SER ZWECK ALLEIN drückt einer Handlung, oder Unterlassung, den Stä mp el des MO RA LISC HE N WE RTH ES a uf; welcher demnach ausschließlich darauf beruht, daß die Handlung bloß zu Nutz und Frommen EINES ANDERN geschehe, oder unterbleibe.“ 408 Nach Schopenhauer ist eine Handlung moralisch, wenn sie nicht dem eigenen Vorteil dient, sondern nur dem Wohle des anderen. Dieses geschieht aufgrund der Identifikation mit dem anderen aufgrund von Mitleid und Teilnahme. Mitleid gilt ihm als Basis von Gerechtigkeit und Menschenliebe. Als obersten Grundsatz der Ethik leitet er ab: Neminem laede; imo omnes, quantum potes, juva. [Schade niemandem, nütze allen; hilf, wo du kannst.] 409 Schopenhauer, der sich selbst als Nachfolger Kants betrachtete, legte den kategorischen Imperativ in der Konfrontation mit den harten Bewährungsproben der Empirie ad acta. Hier bestehe nach seiner Ansicht nur das Mitleid im Wettbewerb mit den beiden anderen essentiellen Triebfedern im Leben eines Menschen, dem Egoismus und der Bosheit. Durch Einfühlung in den anderen kontrolliere er seinen egozentrischen Willen. Resultiert Kants kategorischer Imperativ aus der Verpflichtung gegenüber der Vernunft, so argumentierte Schopenhauer mit der aufrichtigen 408 Schopenhauer (1979), § 16, Aufstellung und Beweis der allein ächten moralischen Triebfeder. 409 ebd., § 16 <?page no="182"?> 7.1 Die menschliche Natur und ihre Selbsterhaltung 181 uvk.de Verbundenheit mit der Not eines anderen und dem Gefühl aus gemeinsamer Menschlichkeit zu helfen. Menschen handeln nach Schopenhauer nicht teilnahmslos aufgrund eines a priori bestehenden Moralgesetzes, es sei denn damit wäre eine Belohnung oder Bestrafung verbunden. Für ihn ist moralisches Verhalten im tieferen Inneren des Menschen angelegt. 410 Die meisten Menschenbilder gehen davon aus, dass sowohl gute als auch schlechte Anlagen im Menschen existieren, die durch Erziehung zu fördern bzw. einzuschränken sind. Sie unterscheiden sich darin, ob positive oder negative Neigungen mehr oder weniger vo n Gr und a uf a ng ele gt s ind . Im G run de i st es weni ger w ich tig, o b der Mensch von Natur eher gut oder böse ist, sondern vielmehr, was später aus ihm wird. Bedeutend ist die Sozialisation und Zivilisation. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft greift Jeremy Rifkin in seinem Buch „Die empathische Zivilisation - Wege zu einem globalen Bewusstsein“ als elementaren Bestandteil des menschlichen Wesens auf. Wer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird, gerät zur Unperson. Ohne Gemeinschaft bestehe Isolation und Vereinsamung. Empathie betrachtet er als inneres Instrument, zur Teilhabe am Leben anderer. Bekannt sind auch Untersuchungen, nach denen von Kindern, die in Waisenhäusern gut genährt und rein gehalten wurden, erschütternde 32-75 % starben, wenn ihnen sonst keine Empathie und Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Damit es zu sicheren Bindungen kommt, spielt nicht unbedingt die Zeitdauer der Mutter oder Pflegeperson eine Rolle, in der das Kind gehalten wird, sondern die Art, wie mit ihm umgegangen wird. Wenn die Mutter oder Pflegeperson nicht fähig ist, sich emotional auf das Kind einzustellen, kann das Gehirn des Kindes bleibende Schäden davontragen. 411 Anders als bei Kant, der die moralischen Gesetze in den Menschen hinein verlegt, muss bei Schopenhauer in der harten Daseinswirklichkeit um ethische Grundsätze gerungen werden. Mit der Annahme, die ethischmoralischen Kapazitäten des Menschen erschließen sich aus seiner erfahrbaren Lebensrealität, passt Schopenhauers Ethik in unsere Zeit, wie 410 Vgl. Rifkin (2010), S. 262 411 Vgl. Rifkin (2010), S. 60 <?page no="183"?> 182 7 Was bedeutet Moral für den einzelnen Bürger? uvk.de kaum eine andere. Mit der zunehmenden Globalisierung unserer Gesellschaft wird gegenseitiges Verständnis und Kooperationswillen immer wichtiger. Menschen müssen lernen, in einer multikulturellen globalen Gesellschaft miteinander zu leben. Die Sensibilisierung für ethnische und religiöse Unterschiede, für Generationskonflikte und Benachteiligungen aufgrund von Geschlecht, sexueller Orientierung oder Behinderung erfordert ein Sensibilitätstraining im schulischen und beruflichen Umfeld. Hier können kulturelle Regeln und Werte überdacht und verbessert werden. 412 Bereits vor einem halben Jahrhundert konstatierte der Studentenverband Democratic Society in der Port-Huron-Erklärung 413 , die sich gegen Ungerechtigkeiten der politischen und gesellschaftlichen Politik richteten: „Einsamkeit, Entfremdung, Isolierung sind Ausdruck der großen Kluft zwischen den Menschen in unserer Zeit. Dieser vorherrschenden Tendenz ist weder mit Personalpolitik noch mit immer vollkommeneren technischen Errungenschaften beizukommen, sondern nur, wenn an Stelle der Verherrlichung von Dingen durch den Me nsc he n die L ie be zum Mens ch en tritt . “ In e in er tec hn isch u nd w irtschaftli ch vernetzten, aber gleichzeitig entfremdeten Welt wurde versucht, die universelle Empathie in einer zunehmend globalen Gesellschaft zu stärken. 414 Die Entwicklung zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft verlagert im Vergleich zu vorindustriellen Gesellschaftssystemen und der Industriegesellschaft die Betonung auf immaterielle Dinge und Lebensqualität. So wuchs nach dem US-Politologen Ronald Inglehart 415 die Zahl der Postmaterialisten in sechs westlichen Nationen von 1972 um ca. 25 % auf ca. 50 % bis 2005. Ferner geht aus den Umfragen hervor, dass 83 % der Hochlohnländer zu postmaterialistischen Kulturen geworden sind, dagegen aber 74 % der ärmsten Länder um ihr Überleben kämpfen müssen. Bei ungesicherter Existenz wird kulturelle Vielfalt oft als bedrohlich erlebt. Gibt es nicht genügend Nahrung, werden Fremde als 412 ebd., S. 304 413 Die Port-Huron-Erklärung wurde 1962 von 50 amerikanischen Delegierten amerikanischer Studentengruppen als Gesprächsgrundlage zur politischen Auseinandersetzung unterschrieben. 414 Roszak in Rifkin (2010), S. 310 f. 415 Vgl. Inglehart in Rifkin (2010), S. 334 <?page no="184"?> 7.2 Genetische und soziale Entwicklungsstufen von Moral 183 uvk.de gefährliche Außenseiter wahrgenommen. Offensichtlich gibt es hier Situationen, in denen gemeinschaftliches agieren nicht als Vorteil erscheint oder nicht gelernt wurde. Hieraus resultiert die Frage, ob ein kleiner Teil der Menschheit derzeitig eine Welle der Empathie erlebt und versucht, postmaterialistische Wertvorstellungen gesellschaftspolitisch durchzusetzen, und ein gegenüber dem anderen Teil weitaus größere Teil der Menschheit Empathie dem Überlebenskampf opfert. Die heutige Zahl von etwa 25 Millionen Umweltflüchtlingen, die auf der Suche nach Nahrung, Wasser und besseren Lebensbedingungen ihre Heimat verlassen, könnte sich bis zum Jahr 2050 schätzungsweise auf 200 Millionen erhöhen. 77..22 GGe enneet ti is scch hee uunndd sso oz ziiaallee EEnnttw wi icckklluun nggs ss sttu uffe enn vvo on n MMoor raal l Kommen wir zurück auf die Frage, was in unserer Gesellschaft schief läuft. Wer Gewissensfragen zu stellen für unnötig erachtet und sich nicht austauscht in Bezug auf Maßstäbe, wird in seinen Entscheidungen in Bezug auf moralische Vertretbarkeit angreifbar. Wie sollen Bürger persönliche Maßstäbe kennen, wenn sie sich nicht vorher damit auseinandergesetzt haben? Das Für und Wider zu erwägen, führt zu Klarheit in der eigenen Haltung. Die These und Botschaft Daniel Golemans 416 , Professor für klinische Psychologie an der Harvard University, lautet: Ohne ein intaktes Gefühlsleben taugt der beste Intellekt nichts, denn beide Systeme, das emotionale und das rationale stehen in beständiger hochkomplexer Wechselwirkung. Um moralische Entscheidungen zu treffen, benötigen wir nicht nur eine moralische Hardware, sondern auch eine moralische Software mit einer geeigneten Programmierung. Es geht also um die Kombination von Biologie (genetische Vorprägung) und Erfahrung. Ein Blick auf die Sprache als Beispiel zeigt: Jeder spricht normalerweise seine Muttersprache fließend. Dies gelingt nicht von Geburt an, sondern 416 Vgl. Goleman (2010), S. 54 <?page no="185"?> 184 7 Was bedeutet Moral für den einzelnen Bürger? uvk.de muss erst im Laufe der Kindheit und Jugend erlernt werden. Die Sprache ist eine erworbene Fähigkeit, da Kinder durchweg die Sprache derjenigen sprechen, die sie versorgten. Aber bekannt ist auch, dass der Spracherwerb eine angeborene Fähigkeit voraussetzt, zu sprechen und zu verstehen. Die Entwicklung von Realität folgt einem ähnlichen Muster. Niemand kann einem den Unterschied zwischen „richtig“ und „falsch“ abschließend beibringen. Der Mensch ist vielmehr dazu prädestiniert, selbst einen moralischen Kompass zu entwickeln und sich daran zu halten. Diese Fähigkeit ist nicht alleine angeboren, sondern braucht Zeit zum Sammeln von Erfahrungen. Die empathische Bedeutung in der Evolution unterstützen neurologische Experimente von Rizzolatti. 417 Er entdeckte in seinen berühmten Versuchen bei Makaken die sogenannten Spiegelneuronen, bei denen bestimmte Gehirnregionen sowohl bei Eigenschmerz als auch beim erkannten Schmerz anderer aktiviert wurden. Spiegelneuronen versetzen Menschen u. einige Säugetierarten (neben Makaken z.B. Elefanten, Hunde, Delfine und andere „soziale“ Tiere) in die Lage, das Verhalten und die Empfindungen anderer zu erfassen, als seien es die eigenen. Umgekehrt fand man heraus, dass bei autistischen Kindern Spiegelneuronenschaltkreise nicht oder gering aktiv sind. Die Fähigkeit, von sich auf andere zu schließen und sich so in deren Gefühle hineinzuversetzen, wird in der Psychologie und anderen Kognitionswissenschaften als Theory of Mind bezeichnet. Laut IQ-Statistik 418 geht man heute davon aus, dass bei der Gesamtintelligenz die Erziehung 15 bis 20 % ausmacht. Das mag auf den ersten Blick gering erscheinen, zeigt aber, dass eine Person mit einem unterdurchschnittlichen IQ von 90 durch Erziehung auf überdurchschnittliche 110 % kommen kann. Auf der Suche nach den Gründen für unterschiedliche Intelligenz stellten Grazer Neuropsychologen einen positiven Zusammenhang zwischen Intelligenz und der Verarbeitungsgeschwindigkeit des Gehirns (Leitungs- 417 Vgl. Rifkin (2010), S. 70 f. 418 Vgl. Roth (2009), S. 114 f. <?page no="186"?> 7.2 Genetische und soziale Entwicklungsstufen von Moral 185 uvk.de geschwindigkeit der Axone von Nervenzellen) fest. 419 Diese Leitungsgeschwindigkeit versucht man durch Maßnahmen, wie z.B. Gehirnjogging, zu verbessern. Bezüglich der Veränderung von Persönlichkeitsstrukturen kommen Längsschnittstudien über 20 Jahre zu dem Ergebnis, dass sich die Grundstruktur der Persönlichkeit, die Paul T. Costa und Robert R. McGrae 420 als Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Offenheit definieren, schon sehr früh ausprägt. Eltern mit mehreren Kindern merken schon früh sehr deutlich Temperamentunterschiede ihrer Kinder, die sich gegen Erziehung und sonstige Umwelteinflüsse als sehr resistent erweisen. Die Frage, in welchem Ausmaß menschliche Handlungen durch Gene, frühkindliche Erziehung und spätere Erfahrungen determiniert werden, ist von großer Wichtigkeit, wenn es um abweichendes korruptes oder allgemein kriminelles Verhalten geht. Interessanterweise werden die meisten Straftäter, nämlich ca. 92 %, nur einmal im Leben straffällig. Dies mag zum Teil an der erzieherischen Wirkung der Strafanstalt sowie der sozialen Ächtung, die mit Gefängnisstrafen einhergeht, liegen. Vermutlich werden viele Menschen auch aus Dummheit, Unvorsichtigkeit und Leichtgläubigkeit das erste Mal straffällig. Der harte Kern von 8 % Mehrfachtätern begeht zwei Drittel aller Straftaten. Untersuchungen der Lebensläufe dieser Straftäter zeigen, dass sie überwiegend schon in früher Kindheit mit 3 bis 4 Jahren sozial auffälliges Verhalten zeigten (Rüpeleien, Schikanieren von Schwächeren, kleine Diebstähle etc.). Genauere psychologische und neurowissenschaftliche Untersuchungen belegen charakteristische Kombinationen von Auffälligkeiten dieser Kinder: 421 [a] motorische Hyperaktivität (Kinder zappeln und rennen häufig herum) [b] verringerte Affekt- und Impulskontrolle (schnelles Aufregen und nicht warten können) [c] starkes Gefühl der Bedrohtheit (veranlasst häufig dazu, als erster zuzuschlagen) 419 ebd., S. 116 420 Vgl. Roth (2009), S. 117 f. 421 Vgl. ebd., S. 121 f. <?page no="187"?> 186 7 Was bedeutet Moral für den einzelnen Bürger? uvk.de [d] kognitiv-emotionale Defizite im Bereich des Erkennens von Gestik und Mimik sowie mangelnde Mitleid- und Empathiefähigkeit [e] ungenügendes Selbstvertrauen. Als Nächstes stellt sich die Frage nach den Ursachen für die genannten Auffälligkeiten, die mit einer höheren Gewaltbereitschaft in Verbindung stehen. Hier konnten in den letzten Jahren bahnbrechende neue Erkenntnisse verzeichnet werden. Zusammengefasst werden als Ursachen die folgenden (neuro-)biologischen Hauptfaktoren genannt: 422 [1] Geschlecht (Männer neigen eher zu körperlicher Gewalt als Frauen, die eher verbale Gewalt wie Schikanen und Intrigen nutzen) [2] Genetische Dispositionen (vorgeburtliche, geburtliche und nachgeburtliche physiologische Hirnschädigungen sowie niedriger Serotoninspiegel 423 ) [3] Psychologische Faktoren (insbesondere traumatisierende psychische Belastungen in der Kindheit, wie körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch, seelische Erniedrigungen und Vernachlässigung in der eigenen Familie bzw. im engen Lebensbereich) Eine weitere geringere Gruppe an Gewalttätern, die durch besonders intelligent und heimtückisch geplante mitleidlose Taten auffällt, zeigt schwere Fehlfunktionen in den Gehirnbereichen der Amygdala und des orbitofronatlen Cortex wieder im Kontext mit traumatischen frühkindlichen Traumatisierungen. Unser „Ich“ setzt sich aus unterschiedlichen Teilzuständen, Körper-Ich (Schmerzen, körperliche Lust), Emotionales Ich (starke Gefühle) und Selbstreflektives Ich, zusammen. Man geht davon aus, dass sich die unterschiedlichen Ich- Empfindungen eigenständig, also selbstorganisierend, ohne übergeordnete Instanz verbinden. 422 Vgl. Roth (2009), S. 122 f. 423 Personen mit einem niedrigen Serotoninspiegel produzieren diesen Neurotransmitter zu wenig oder bauen ihn zu schnell ab. Serotonin wirkt beruhigend und besänftigend. <?page no="188"?> 7.2 Genetische und soziale Entwicklungsstufen von Moral 187 uvk.de Das selbstreflektierende Ich, also das Gewissen als Instanz, das mir sagt, was ich zu tun oder zu lassen habe, wird dem orbitofrontalen Cortex zugeordnet. Patienten mit Störungen in diesem Bereich verhalten sich typisch unmoralisch bzw. unethisch und auch rücksichtslos gegen sich selbst. Bei Persönlichkeitsstörungen oder neurologischen Schäden können Personen sehr unterschiedliche Rollen spielen, z.B. einerseits unmenschlicher KZ-Aufseher sein und andererseits liebevoller Vater und Ehemann. Auch gibt es tagsüber dominante Büroleiter, die abends unter dem „Pantoffel“ ihrer Frau stehen. Zusammenhänge zwischen unterdurchschnittlich bezahlten Berufen und einer besonderen Neigung zu korruptivem Verhalten konnten bislang in Deutschland nach Aussagen des Landeskriminalamtes (LKA) nicht festgestellt werden. Schon eher spielt die individuelle Geldnot eine Rolle. 424 Das lymbische System integriert verschiedene Ebenen, zu denen die Verarbeitung von Gerüchen (Pheromone), affektive Reaktionen (insbesondere bei Stressreaktionen wichtig) sowie Verhaltensüberwachung, Fehlerkorrektur und Impulskontrolle gehören. Letztere entwickeln sich zeitlich relativ langsam bis zum Beginn des Erwachsenenalters. Sie sollen unser egoistisches, auf sofortige Bedürfnisbefriedigung ausgelegtes Verhalten zügeln und sozial verträglich lenken. Der junge Mensch ist als Erwachsener sozusagen „zur Vernunft“ gekommen und bändigt Temperament und Emotionen (überschäumende Freude, starke Enttäuschung, heftige Wut und Aggressionen). Treten einzelne Elemente der dargestellten Beeinflussungsfaktoren auf, zeigen sich bei den Trägern keine Auffälligkeiten des Verhaltens, sondern nur in ihrer Kombination. 425 Die Wahrscheinlichkeit, dass bei der Kombination mehrerer Faktoren Kinder gewaltkriminell werden, liegt sehr hoch, sofern sie keine geeignete Therapie besuchen. Die Früherkennung neurobiologischer Muster im Kontext mit Verhaltensauffälligkeiten sowie die Anwendung geeigneter Thera- 424 Freymann (2010), S. 14 425 Vgl. Roth (2009), S. 122 f. <?page no="189"?> 188 7 Was bedeutet Moral für den einzelnen Bürger? uvk.de pien sind für eine positive gesellschaftliche Entwicklung von höchster Priorität! Leider sind Diagnose und Therapie in der Vergangenheit eher stiefmütterlich behandelt worden. Wie so oft sind aber auch hier die Vorsorge und Vorbeugung das Beste. 77. .33 MMoorraall mmuussss/ / kkaannnn mmaann ttrra aiinniieerre enn Aus den beschriebenen neurobiologischen und psychologischen Erkenntnissen lässt sich die These ableiten, dass moralisches Verhalten in der Gesellschaft durch die Wechselwirkung von [1] einer genetischen Grundausstattung und Eigenheiten der Hirnentwicklung, [2] frühen psychische Erfahrungen und [3] weiteren psychosozialen Erfahrungen in der Familie, im Freundeskreis und in der Schule geprägt wird. Elementare Grundlagen ethischen Verhaltens bilden die erlernte Verhaltensüberwachung, die Fehlerkorrektur und die Impulskontrolle. Moralisches Urteilen ist eine Fähigkeit, die sich von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter entwickelt. Der Entwicklung des Moralbewusstseins sind in der moralpsychologischen Forschung Jean Piaget 426 und darauf aufbauend Lawrence Kohlberg 427 nachgegangen. Kohlberg entwickelte drei bzw. vier Entwicklungsstufen des Moralbewusstseins vom Kleinkind bis zum mündigen Erwachsenen. Hierbei handelt es sich um einen mehrstufigen Reifungsprozess, der von jedem Individuum in allen Kulturen in derselben Reihenfolge durchlaufen wird. 426 Schweizer Biologe, Psychologe und Philosoph (*9.8.1896 Neuchâtel/ Schweiz, †16.9.1980), Jean Piagets Studien über die Entwicklungsstufen des Kindes sind von grundlegender Bedeutung für die heutige Pädagogik und Psychologie. 427 US-amerikanischer Psychologe und Professor für Erziehungswissenschaft an der Harvard-Universität in Cambridge/ Massachusetts. (*1927, †1987), Dissertation mit dem Titel „Die moralische Entwicklung des Menschen“. <?page no="190"?> 7.3 Moral muss/ kann man trainieren 189 uvk.de I Präkonventionelle Ebene (Niveau des Kleinkindes) 1. Stufe: Heteronome Orientierung an Strafe und Gehorsam (Unlustvermeidung) 2. Stufe: Instrumentelle Orientierung am gegenseitig nützlichen Austausch (do ut des 428 ) II Konventionelle Ebene (Niveau des gut sozialisierten Kindes) 3. Stufe: Interpersonelle Orientierung an moralischen Erwartungen anderer, insbesondere von Autoritätspersonen („Good Boy“bzw. „Nice Girl“-Orientierung) 4. Stufe: Gesellschaftliche Orientierung an der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung („Law and Order“) Übergangsstufe (Niveau des Adoleszenten) 4½ Stufe: Rein subjektive Orientierung: nicht mehr sozial orientiert, aber noch non-kognitivistisch (ethischer Relativismus und Skeptizismus) III Postkonventionelle Ebene 5. Stufe: Liberale Orientierung am Sozialbzw. Gesellschaftsvertrag gleichberechtigter Individuen (Konstitutionalismus und Kontraktualismus) 6. Stufe: Autonome Orientierung an universalen ethischen Prinzipien (Vernunftstandpunkt der Moral) Tab. 11: Entwicklungsstufen des Moralbewusstseins von Ulrich nach Kohlberg 429 Jeder Stufe ist je nach Reifegrad ein bestimmtes Denkmuster zugrunde gelegt. Auf der präkonventionellen Ebene handelt das Kleinkind ab etwa vier Jahren in egozentrischer Perspektive ohne klares Verständnis für moralische Ansprüche und orientiert sich an positiven oder negativen Sanktionen der Bezugspersonen. In der zweiten Stufe vermag das Kind bereits eine instrumentelle Reziprozität wahrzunehmen. Die konventionelle Ebene entspricht in etwa dem Alter eines gut sozialisierten Schul- 428 Latein: „Ich gebe, damit du gibst.“, Grundsatz für soziales Verhalten, ähnlich wie „manus manum lavat“ (eine Hand wäscht die andere). 429 Vgl. Ulrich (2005), S. 54 <?page no="191"?> 190 7 Was bedeutet Moral für den einzelnen Bürger? uvk.de kindes ab 8 Jahren. Es will den Erwartungen der Bezugspersonen gerecht werden und nach geltenden Maßstäben ein gutes Kind sein. Im Alter von 10 bis 12 Jahren können sich Kinder abstrakte Gedanken über ihr allgemeines Sozialverhalten und Schuldbewusstsein machen. Sie entwickeln ein Pflichtgefühl. Die soziale Perspektive wird auf der vierten Stufe erweitert von der konkreten Lebensgemeinschaft auf die abstrakte Gesellschaft. Anstelle persönlicher Erwartungen der Bezugspersonen treten zunehmend unpersönlich geltende staatliche Gesetze, Vorschriften und Normen. Der Sinn der Gesetze und die Pflicht zur Einhaltung wird in der folgenden Stufe 4½ kritisch hinterfragt (Adoleszenzkrise). Auf der postkonve nt io nell en E bene we rde n in de r fü nft en S tuf e di e vorher hinterfragten vorgegebenen Normen anerkannt, wenn sie als gerechtfertigt erscheinen aufgrund von Nützlichkeit und Gerechtigkeit. In der sechsten Stufe tritt vor alle Nützlichkeitsgesichtspunkte die Idee der Würde und gleicher Grundrechte für alle Menschen. Das Individuum versucht, moralische Konflikte argumentativ mit guten Gründen zum Einverständnis aller Beteiligten zu lösen. Nach Kohlberg erreichen diese letzte Stufe nur 5 % der US-Amerikaner. Der heutige vom ethischen Skeptizismus sehr geprägte Zeitgeist deutet auf eine epochale Adoleszenzkrise der Menschheit hin. 430 Offensichtlich gibt es in der Stufe 4½ des Adoleszenzalters zunehmend einen Bruch. Althergebrachte Normen und Werte werden häufig nicht mehr als lebenswert anerkannt. 431 Auf Kohlbergs Ansatz beziehend fragt sich Lind 432 , ob bei Zumwinkels, Hartzens und Volkerts etwas schiefgelaufen ist im jugendlichen Alter. Seine Antwort lautet, dass Manager sich zunehmend mit Personen umgeben, die einem nicht widersprechen. Es kann also zu Verschleierungen kommen, die meistens mit einer Immunisierungsstrategie einhergehen, hervorgerufen manchmal auch durch einschneidende Erlebnisse. Manager schafften sich einen sozialen Kreis, der sich immer mehr nach der eigenen Nützlichkeit optimiert. Daraus folgert Lind, dass diesen Leuten ihr Verhalten nicht wirklich bewusst wäre. Alle Menschen, so meint Lind, würden aus ihrer Sicht nur das Gute wollen, auch Mörder! Sie bräuchten deshalb Lerngelegenheiten für moralisches Verhalten. 430 Vgl. Ulrich (2005), S. 55 ff. 431 Vgl. Rifkin (2010), S. 99 432 Vgl. Lind (2008) in Diening (2008), http: / / www.tagesspiegel.de/ zeitung/ morali sche-leeren/ 1201628.html, letzter Zugriff 16.10.2012 <?page no="192"?> 7.3 Moral muss/ kann man trainieren 191 uvk.de Auf jeden Fall ist Lind zuzustimmen, dass Moral Anstöße braucht. Seine weiteren Aussagen mögen zwar für eine Gruppe von unmoralisch Handelnden gelten, aber sicher nicht für alle. Daher gilt es, die Ursachen der konstatierten Bruchstelle in der Übergangsstufe des Adoleszenzalters (Stufe 4½) näher zu erforschen. Sicherlich spielen dabei folgende Kernelemente des Kohlbergschen Forschungsansatzes eine wichtige Rolle: Vermeidung von Strafen, Belohnungen, Anerkennung, Teil haben an einer Gesellschaft, Orientierung des Menschen an den Regeln demokratischer Willensbildung, Orientierung an abstrakten Prinzipien, wie den Menschenrechten. Nicht behandelt wird bei Kohlberg die Überlegung, dass Moral neben Erziehung und Sozialisation noch von anderen Faktoren abhängt, wie endogene und personale Einflussfaktoren. Darüber hinaus bezieht sich Kohlbergs Theorie im Wesentlichen auf heutige demokratische Gesellschaftssysteme, die dem Individualismus betonen. Fraglich ist die Übertragbarkeit auf Gesellschaftssysteme, denen andere Kulturen, z.B. mit verschiedenen Gerechtigkeitsvorstellungen, zugrunde liegen. Späte Einflüsse im Erwachsenenalter haben eine weitaus geringere Wirkung als Erfahrungen in der Kindheit und Jugend. 433 Dementsprechend sind Ethikbemühungen, wie Ethikhotlines, Ethik- Seminare etc. in Unternehmen sehr viel geringer wirksam als die vorgenannten drei Komponenten (neurobiologische Grundausstattung, frühkindliche Erlebnisse und psychosoziale Erfahrungen des Heranwachsenden). Hier sollte verstärkt versucht werden, Mitarbeitern und besonders Führungskräften „Lerngelegenheiten“ zu vermitteln, um die eigenen Maßstäbe für sich auf- oder auszubauen, so dass ein moralischer Kompass entsteht. Dieser Kompass muss in gewissen Abständen „kalibriert“ werden, am besten im Rahmen eines „reality check“ mit Mitarbeitern und Kollegen. 433 Vgl. Roth (2009), S. 122 ff. <?page no="193"?> 192 7 Was bedeutet Moral für den einzelnen Bürger? uvk.de Die Vorhersagbarkeit von bestimmten Bewusstseinsinhalten weisen Forschungsergebnisse von John Haynes an der Humboldt-Universität Berlin zum mind reading (Gedankenlesen) aus. Hirnaktivitäten werden hier unter anderem mittels der Kernspintomographie und dem EEG gemessen. Man kann so feststellen, wann jemand still zu sich spricht, sich unhörbare Musik vorspielt und beim Kopfrechnen addiert oder subtrahiert! Die Psychologin Neuner-Winkler weist auf ein weiteres interessantes Verhalten bereits im Kindesalter hin: Bei Kindern liege eine Spaltung zwischen Wissen und Tun vor. Sie beschreibt Vierjährige, die genau wissen, dass man keine Bonbons mopsen soll, aber dennoch dabei noch Glück empfinden. Woran liegt das? Dies ist ein Phänomen des „Happy Victimizer“. 434 Der Happy Victimizer ist jemand, der sich wissentlich daneben benimmt und sich auch noch glücklich fühlt. Dies kann z.B. jemand im Erwachsenenalter sein, der aus Geldgier andere übervorteilt. Geldgier ist im Prinzip unter moralischen Gesichtspunkten eine Krankheit wie eine Durchblutungsstörung. Ergebnisse aus der Neurologie und Psychologie zeigen hierzu, dass unser Gehirn auf Geld wie auf Alkohol, Nikotin und Sex reagiert. Die Ergebnisse der Studie 435 , vorgestellt im Fachmagazin „Neuron“ sind verblüffend. Anhand von Hirnströmen waren die Forscher schon nach einigen Durchläufen in der Lage, die Geldgeschäfte ihrer Testpersonen vorherzusagen. Bei Probanden, die auf Nummer sicher gingen, war eine Region im Gehirn aktiv, die für Furcht und Verlustangst verantwortlich ist, die Insula, das Panikzentrum unseres urzeitlich verdrahteten Hirns. Anders bei Risikofreudigen: Bei ihnen regte sich die Hirnregion, die auch als Suchtzentrum bekannt ist, der nucleus cumbes. Neurologen vermuten dort den Sitz von Erregung, Verlangen und Glücksgefühlen. Ausgelöst werden die Emotionen vom Botenstoff Dopamin. Egal ob Furcht oder Lust, jede Entscheidung der Probanden war von Instinkten geleitet. Niemals kam eine Hirnregion ins Spiel, die mit Pragmatismus oder Vernunft zu tun hat. Beide Emotionen waren etwa zu gleichen Teilen vertreten, Furcht etwas häufiger als Glück. Die Signale im Hirn ließen sich schon Sekundenbruchteile vor der Ent- 434 Happy Victimizer: glücklicher Schikaneur 435 Vgl. Bodderas (2007): http: / / www.welt.de/ wissenschaft/ article871261/ Forscher_sehen_uns_beim_Ein kaufen_ins_Gehirn.html, zuletzt geprüft am 12.07.2010 <?page no="194"?> 7.3 Moral muss/ kann man trainieren 193 scheidung messen, schreibt Knutsen. Damit konnten die Versuchsleiter voraussagen, wie sich die Probanden entscheiden würden. 436 Dies zeigt, dass unsere Vernunft zu schwinden droht, sobald Geld ins Spiel kommt. Die Objektbeziehungstheorie umfasst unterschiedliche Ansätze (ursprünglich auf Melanie Klein, *1882 Wien, †1960 London, zurückgehend), die die zentrale Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung und die Vorstellungen des Kindes über sich und seine Bezugspersonen in den Vordergrund stellen als maßgeblich für die spätere Beziehungsgestaltung die Persönlichkeitsentwicklung. Aufbauend auf der Objektbeziehungstheorie gelangte der Psychoanalytiker Heinz Kohut aufgrund jahrelanger klinischer Beobachtungen zu der Überzeugung, dass die Bestätigung und Empathie, die ein Kind von seinen Eltern erfährt, ausschlaggebend für seine Persönlichkeit wird. Nach seinen Erfahrungen kann die Bedeutung des empathischen Umfeldes nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er geht davon aus, dass alle späteren Interessen des Individuums im Hinblick auf Kooperationsfähigkeit und sonstige kulturellen Prägungen ein Ersatz für die allererste Beziehung, nämlich die Bindung zwischen dem Säugling und der Mutter, sei. Fehlende mütterliche Zuwendung führe zu Angst, Hass, Aggressionen und dem Streben nach Macht. 437 Andere Wissenschaftler kamen unabhängig zu ähnlichen Ergebnissen. Der Psychoanalytiker David Levy untersuchte beispielweise Kinder überfürsorglicher Mütter mit anderen, die als Säugling im Waisenhaus waren und überhaupt keine mütterliche Fürsorge kannten. Obwohl Kinder, denen eine frühe Mutterbindung fehlte, sich nach außen hin positiv entwickelten, waren sie unfähig zu echter emotionaler Wärme und neigten stark zu unsozialem Verhalten. Sie litten unter Affekthunger. Es ist davon auszugehen, dass sich die heutigen Ansätze des Gedankenlesens in den nächsten Jahrzehnen enorm weiterentwickeln werden. Dennoch wird eine bestimmte Grenze der Genauigkeit nicht überschreitbar sein. Hier geht es dann weniger um die wissenschaftliche als vielmehr um die gesellschaftliche und politische Frage, inwiefern wir uns mit einer Voraussagegüte für Verhalten von 70, 80 oder 90 % zufriedengeben. 438 436 Vgl. ebd. 437 Vgl. Rifkin (2010), S. 56 438 Vgl. Roth (2009), S. 138 ff. <?page no="196"?> uvk.de 88 BBaauusstteeiinnee z zuurr n naacchhhhaallttiiggeenn I Inntteeggrraattiioonn e etthhiisscchheenn VVeer rhhaalltteen nss 88..11 WWaass kkaannnn ddeerr SSt taaaatt ttuunn? ? Dem Staat obliegt laut Grundgesetz, Artikel 6, die Überwachung der Erziehung von Kindern. Es gilt bereits bei der frühkindlichen Erziehung, eine positive Sozialisation zu unterstützen. Dies ist vor allem in bildungsfe rnen Fa mil ie n mi t h äu fig em M igrat ions grund w ich ti g. D esh al b fo rde rn nicht zuletzt Bürgermeister von Problemregionen, wie Heinz Buschkowski in Berlin-Neukölln, eine Kindergartenpflicht, Ganztagsschulen und geringere Klassengrößen. 439 Wie Erfahrungen in Skandinavien zeigen, wurden staatliche Zahlungen für häusliches Betreuen von Kindern vor allem von bildungsfernen Familien und Familien mit Migrationshintergrund genutzt. Dies ist wohl nicht die gewünschte Entwicklung einer bildungsorientierten Integrationspolitik. 440 Auch der Vergleich mit anderen EU-Ländern 441 zeigt keinen direkten Zusammenhang zwischen der Höhe von Transferzahlungen an Familien und einer hohen Geburtenrate. Weiterhin weisen die Beispiele skandinavischer Länder und Großbritanniens darauf hin, dass eine überdurchschnittliche Erwerbsbeteiligung der Frauen einer überdurchschnittlichen Geburtenrate nicht entgegensteht. Wichtig ist, dass alle Kinder außerhalb und während der Arbeitszeit ihrer Eltern eine qualitativ gute Bildung erhalten. Ethik hängt auch mit dem sozialen Zusammenhalt zusammen. Eine starke Polarisierung gefährdet den sozialen Zusammenhalt. In den letzten Jahren zeigt sich in Deutschland eine Polarisierung der Einkommen dahingehend, dass mittlere Einkommensgruppen kleiner werden durch Abwanderung in die obersten oder untersten Ein- 439 Buschkowski (2012), S. 4 440 Jung (2007), http: / / idw-online.de/ pages/ de/ news235752, letzter Zugriff 17.10.2012 441 Engelbrech (2002), http: / / www.boeckler.de/ wsimit_2002_03_ engelbrech.pdf, letzter Zugriff 17.10.2012 <?page no="197"?> 196 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens uvk.de kommensgruppen. 442 Aus sozioökonomischer Sicht steigt so das Gewicht der zunehmenden oberen und unteren Randgruppen. In der Wahrnehmung der Menschen wird dies als eine Vergrößerung der Ungleichheit wahrgenommen, was zu Gefährdungen der sozialen Kohäsion führen kann. Im unteren Einkommenssegment sind überproportional Familien mit Migrationshintergrund zu finden. 2010 hatten ca. 20 % der Deutschen einen Migrationshintergrund. Aufgrund der stärkeren Geburtenrate von Familien mit Migrationshintergrund wird sich der Anteil der Deutschen mit Migrationshintergrund weiter erhöhen. Unterstellt man, dass dieser Bevölkerungsanteil bislang bildungsferner und einkommensschwächer ist, wird Handlungspotential offenbar. Gelingt es nicht, dieser Bevölkerungsgruppe bessere Möglichkeiten für selbst erarbeiteten Wohlstand zu bieten, wird sich dies überproportional auf die gesamte Entwicklung Deutschlands auswirken. Der gleichberechtigte Zugang aller Bevölkerungsgruppen Deutschlands zu Lebens- und Konsumchancen ist eine der vordersten staatlichen Aufgaben. Bereits vor der Schule sollten sorgfältige Untersuchungen von Kleinkindern sowie die Anwendung und Weiterentwicklung von Verhaltenstherapien eindeutig gestärkt werden. Hier sind neben den Eltern, Kindergärten und Schulen mit an vorderster Stelle Kinderärzte herausgefordert, ihren Beitrag zu leisten. Kontaktpersonen der Betroffenen müssen stärker für relevantes auffälliges Verhalten sensibilisiert werden. Lehrer und Erzieher sind in ihrem Alltag i.d.R. nicht ausgebildet mit der richtigen Kenntnis und dem angemessenen Umgang mit Auffälligkeiten. So werden Eltern „gestörter“ Kinder, die sich manchmal zu Hause gar nicht so schlimm verhalten, zu spät oder zu wenig auf die Probleme hingewiesen. Selbst bei ausreichender Information der Eltern, sind diese mit dem Problem oftmals überfordert und kommen allein nicht weiter. Auf Therapieplätze muss häufig unzumutbar lange gewartet werden. Die durchgeführten Therapien sind dann oft noch unzulänglich. Bei ADHS- Kindern beschränkt man sich oft als „Therapie“ auf Medikamentengaben zur Ruhigstellung, die zudem schädliche Nebenwirkungen nach sich ziehen. 442 Häußermann et al. (2010), S. 3 <?page no="198"?> 8.1 Was kann der Staat tun? 197 uvk.de Gemäß Grundgesetz (Artikel 7) steht das gesamte deutsche Schulwesen unter der Aufsicht des Staates. Hier bieten sich an Grund- und Oberschulen Möglichkeiten, Gleichheitsdefizite durch spezielle Fördermaßnahmen auszugleichen und ethische Verhaltensnormen zu stärken. Ob letztere über Unterrichtsfächer wie LER oder den traditionellen evangelischen oder katholischen Religionsunterricht untermauert werden, ist im Grunde unwesentlich, solange die Inhalte der Fächer miteinander dahingehend abgestimmt werden, dass alle Weltreligionen unvoreingenommen behandelt und verglichen werden hinsichtlich ihrer kulturellen Wurzeln und Werte. Im Rahmen dieser Fächer können verpflichtende oder freiwillige soziale Schulpraktika in der Schulzeit bzw. an Nachmittagen, Wochenenden oder in den Ferien angeboten werden. Hierbei wird die Sensibilität der Heranwachsenden für soziale Fragestellungen gestärkt. Einige private Schulen bieten dies als Vorreiter bereits an. In den letzten 20 Jahren wurden in den USA Lernprogramme in bürgerschaftlichem Engagement eingeführt. Junge Menschen sollen vor dem Schulabschluss ehrenamtlich gemeinnützig arbeiten und etwas zum Wohle der Gesellschaft beitragen. Darüber hinaus gibt es in vielen US- Bundesstatten Empathie-Lehrpläne und Empathie-Workshops. Hier lernen die Schüler, kollaborativ in Projekten zu arbeiten. Kollaborative Erziehung beginnt mit der Erkenntnis, dass meistens ein gemeinsam erarbeitetes Ergebnis reichhaltiger ist als die Summe der Expertise Einzelner. Kooperation wird gefördert anstatt Wettbewerb. In Deutschland gibt es an einigen Privatschulen ähnliche Programme, z.B. ein einwöchiges soziales Praktikum in der 8. Klasse. Im Rahmen des Konfirmandenunterrichts gilt es, ein soziales Gemeindepraktikum zu absolvieren. Viele kleine Mosaiksteine stärken soziales Lernen. Unsere empathische Prädisposition ist kein fehlersicherer Mechanismus, sondern muss ständig trainiert werden. Der Kollaps unserer Erde kann nur verhindert werden, wenn rechtzeitig der größte Teil der Menschheit ein universalisiertes empathisches Bewusstsein bildet, das auf die Erhaltung unserer Umwelt und Spezies ausgerichtet ist. Bei der weiterführenden Bildung stellt sich im Rahmen der Hochschul- Curricula die Frage, inwieweit Studierende heute ausreichend auf die ethischen Herausforderungen des Geschäftslebens vorbereitet werden. <?page no="199"?> 198 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens uvk.de Schwalbach/ Schwerk 443 untersuchten im Rahmen einer Bestandsaufnahme das akademische Lehrangebot zum Thema Corporate Responsibility (CR) an 287 wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten in Deutschland (118 Universitäten und 169 Fachhochschulen). Lehrveranstaltungen zum Thema CR wurden von ca. 50 % der Fachhochschulen und ca. 60 % der Universitäten mit wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichen oder Studiengängen angeboten. Hier besteht also schon allein quantitativ erheblicher Handlungsbedarf. Die Autoren empfehlen für die Vermittlung von CR-Kompetenzen auf einer interdisziplinär praxisorientierten Basis aktualisierte Lehr- und Lernmethoden sowie neues Lehrmaterial, z.B. in Form von Fallstudien. 444 Ein Wegweiser für die Hochschulen ergibt sich aus der 2009 durchgeführten Umfrage des Studentischen Netzwerks für Wirtschafts- und Unternehmensethik (SNEEP). 445 Hier antworteten rund 3400 Studierende unterschiedlicher Fakultäten in Köln und München. 74 % der Befragten bejahten die Aussage „Ethische Kenntnisse sind wichtig für mein späteres Berufsleben“. Zwei Drittel forderten, dass Wirtschafts- und Unternehmensethik ein Pflichtfach in der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung wird. Die Mehrheit der Studierenden interessierte sich für Wirtschaftsethik, schätzte aber ihr Wissen zu gering ein. Das Lehrangebot wurde bislang als zu wenig eingeschätzt. 446 In einem offenen Brief an die Rektoren deutscher Hochschulen forderte Sneep daher eine stärkere Implementierung der Wirtschafts-und Unternehmensethik. Die Frage sei nicht „ob“, sondern „wie“ Wirtschaftsethik an den Hochschulen zu integrieren sei. Sneep fordert sowohl Pflichtveranstaltungen als auch Wahlveranstaltungen zum Thema Wirtschafts- und Unternehmensethik für alle Studierenden. Dabei sollen wirtschaftliche Lehrinhalte insbesondere in betriebswirtschaftlichen Teildisziplinen (z.B. Marketing, Produktion, Personalmanagement) in Form von Case Studies bearbeitet werden. 447 443 Schwalbach/ Schwerk (2008), S. 6 444 ebd., S. 6 f. 445 Sneep (2009a), S. 4 446 ebd., S. 2 447 Sneep (2009b), o.S. <?page no="200"?> 8.2 Was kann das Management tun? 199 uvk.de Ähnliche Ergebnisse wie SNEEP lieferte 2011 eine von der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) bei ca. 17000 Studierenden und ca. 700 Dozenten durchgeführte Studie. Rund 85 % der antwortenden Studierenden und 83 % der Dozenten hielten Ethik in der Managementausbildung für sehr wichtig oder wichtig. 448 Die große Mehrheit der befragten Studierenden (81 %) und Dozenten (74 %) betrachteten Hochschulen fast im gleichen Maße verantwortlich für eine Ethikausbildung wie die Unternehmen. Als wesentlichen Nutzen der Ethikausbildung sahen die Studierenden die Charakterbildung (84 %) und die Erweiterung der Wissensbasis (51 %). 449 Wie oben ausgeführt, scheint das Thema „Ethik“ langsam in Schulen einen größeren Stellenwert zu erlangen. Dies ist unabdingbar für eine weitere positive Entwicklung im Lebenslauf, insbesondere für Heranwachsende mit schwierigem sozialem Hintergrund, wo Eltern keine Vorbildrolle übernehmen können. Auftretenden Auswüchsen, wie Diskriminierung oder Korruption, gilt es von staatlicher Seite noch konsequenter als in der Vergangenheit entgegenzutreten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die noch offene Ratifizierung der UN-Konvention zur Korruptionsbekämpfung, die zwar 2003 von Deutschland unterschrieben, aber im Gegensatz zu 143 anderen Ländern noch nicht ratifiziert wurde. 450 Elementar erscheint darüber hinaus, dass Whistleblower, die sich für das Allgemeinwohl einsetzen, besser geschützt und nicht benachteiligt werden. 451 88..22 WWaass kka annnn ddaass MMaan naagge em me enntt ttu unn? ? Immer mehr Menschen beginnen an der Lebensdienlichkeit des zunehmend eigendynamisch wirkenden ökonomischen Rationalisierungspro- 448 Heinemann (2011), S. 58, 75 449 Heinemann (2011), S. 88 450 Vgl. Kap. 5 dieser Arbeit. 451 Vgl. ebd. <?page no="201"?> 200 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens uvk.de zess zu zweifeln. Nicht der Markt, sondern die Bürger verdienen es, in einer modernen Gesellschaft frei zu sein. 452 Die Kernfrage liegt darin, wo die Ökonomie das Sagen haben sollte und wo gesellschaftliche Werte und ethische Grundregeln in den Vordergrund gehören. Auf den ökonomischen Maßstab im Unternehmen blickend bedeutet dies, dass Unternehmer eine Verantwortung für den Erhalt des Unternehmens haben und unter diesem Gesichtspunkt manchmal auch harte Einschnitte zu rechtfertigen sind. Unternehmen sind aber auch Teil ihrer Gesellschaften und Kulturen, die die Werteskala erweitern. Besonders in rasanten Übergangszeiten liegen nicht nur rationale Entscheidungen an, sondern auch soziale, die folgerichtig abgearbeitet werden müssen. Ohne Anpassungen werden viele Unternehmen nicht in der Lage sein, die großen Transformationen, die die globalisierte Welt erfordert, zu überstehen. Ohne finanzielle Einschnitte und Personalreduktion, die auch zur Schließung von Standorten führen können, werden tragfähige Unternehmenskonzepte häufig nicht realisierbar sein. Wenn situationsgemäß alle Fakten umfassend vorliegen, vollständig abgewogen und geprüft sind und auch die nachhaltigen Konsequenzen für die Verlierer bzw. Gewinner erarbeitet und berücksichtigt wurden, sind personelle Einschnitte auch ethisch vertretbar. In solchen Übergangszeiten muss sich das Management die dialektische Beziehung zwischen ökonomischer Notwendigkeit und ethischer Erwägung zu einer zentralen Aufgabe machen. Hier kann beispielhaft das wirtschaftsethische Konzept von Georg Ulrich an der Universität St. Gallen herangezogen werden, bekannt unter dem Begriff „Integrative Wirtschaftsethik“. Ulrich geht es um das Einbeziehen von Gesichtspunkten wie Sinn- und Legitimationsfragen neben der Ökonomie. 453 Die Erkenntnis, dass eine Marktwirtschaft Spielregeln einhalten muss, führte in der Schweiz zur Entwicklung der folgenden sieben Prinzipien als Grundpfeiler guten unternehmerischen Handelns und ethischer Qualitätsstandard: Verantwortung Integrität Resp ekt Gere chtigkeit 452 Vgl. Ulrich (2008), S. 12 453 Vgl. Kap. 4.3 dieser Arbeit. <?page no="202"?> 8.2 Was kann das Management tun? 201 uvk.de Nachhaltigkeit Transparenz Corporate Citizenship (gesellschaftliches Engagement von Unternehmen) 454 Diese sie ben ethischen Prinzipien dienen als integratives Element unternehmerischen Handelns und damit als Qualitätsstandard. Da in den letzten Jahren, nicht zuletzt auf öffentlichen Druck, das Thema „Ethik“ zunehmend Resonanz in Unternehmen fand, wurden unter anderem Ethikgrundsätze eingeführt, Hotlines eingerichtet und Seminare durchgeführt. Zu häufig handelt es sich in den Hochglanzprospekten um reine Lippenbekenntnisse. Diese Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, teilweise in trivialen Verhaltensgrundsätzen dargestellt, werden ihren ethischen Ansprüchen im praktischen Alltag oftmals nicht gerecht. Worthülsen wie „faire Kundenbeziehungen“ sind nicht immer leicht zu füllen. [1] Sicherstellung von Zustimmung und Unterstützung des Topmanagements [2] Identifizierung relevanter ethischer Berührungspunkte und der Verantwortung gegenüber Bezugsgruppen [3] ethisch konsistente Personalauswahl [4] dialogische Entwicklung von ethischen Unternehmensgrundsätzen [5] Transparenz/ Integration von Ethik-Kennzahlen [6] Aufbau einer diskursiven Infrastruktur mit Ethik-Kompetenzbildung [7] Integration ethisch orientierter Führungssysteme [8] Implementierung eines Ethik-Kontrollsystems Acht Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens in Unternehmen 455 454 Vgl. o. V., letzter Zugriff am 16.11.2010 455 In Anlehnung an Ulrich (2008), S. 498 <?page no="203"?> 202 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens uvk.de Dass im Deutschen Corporate Governance Codex postulierte Ziel der nachhaltigen Wertschöpfung gilt es, mit Inhalten auszustatten. Für eine nachhaltige Wertschöpfung ist ethisches Verhalten unabdingbar. Um Unternehmen einen Leitfaden für die praktische Integration ethischen Verhaltens an die Hand zu geben, dienen in Anlehnung an Ulrich die vorstehenden acht Bausteine. Sie leiten als Ethik-Kompass hin zu einem nachhaltig werteorientierten Unternehmensalltag. Der erste Baustein bezieht sich auf die Zustimmung und Unterstützung des Topmanagements. Die oberste Führungsebene entscheidet über die Bedeutung ethischen Verhaltens im Unternehmen. Als nächstes erfolgt im zweiten Schritt die Identifizierung relevanter ethischer Berührungspunkte. Hierzu zählen Themen der sozialen Nachhaltigkeit (z.B. Kinderarbeit, Diskriminierung und Entlohnung), der ökologischen (z.B. Schadstoffemissionen und Energieverbrauch) und der wirtschaftlichen (z.B. Schaffung einer dauerhaften tragfähigen Grundlage für den Erwerb von Wohlstand und der Schutz wirtschaftlicher Ressourcen vor Ausbeutung). Zu den identifizierten Themen gilt es, Stellung zu beziehen (auch als Grundlage für Unternehmensgrundsätze im noch folgenden vierten Baustein). Drittens ist eine ethisch konsistente Personalauswahl erforderlich. Bekanntermaßen können Organisationen nur so gut sein, wie die Menschen, aus denen sie sich konstituieren. Bewerber, die durch Werbung, Wettbewerb und öffentliche Meinung tagtäglich darauf konditioniert werden, sich Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen, verlieren leicht ihr Solidaritätsgefühl. 456 Bei Personaleinstellungen sollten deshalb neben der Fachkenntnis ethische Verhaltensdispositionen als Kombination von genetischen und sozial geprägten Anlagen besser eingeschätzt und berücksichtigt werden. Um moralische Entscheidungen zu treffen, benötigen wir nicht nur eine moralische Hardware in Form neurologischer Anlagen, sondern auch eine moralische Software mit einer geeigneten Programmierung durch eine gute Sozialisation. Der vierte Punkt umfasst die dialogische Entwicklung von ethischen Unternehmensgrundsätzen. Hierbei finden sinnorientierte Handlungsmaximen Berücksichtigung (z.B. Verbot von Kinderarbeit und Diskriminierung, faire Arbeitszeiten und gerechte Entlohnung). Die Grundsätze 456 Vgl. Precht (2010), S. 350 <?page no="204"?> 8.2 Was kann das Management tun? 203 uvk.de gilt es, in die Corporate Identity (corporate communication, corporate behavior und corporate design) zu integrieren. Bei der Firma L’ORÉAL haben z.B. Mitarbeiter aus 22 Ländern in einer internationalen Arbeitsgruppe an den Ethikgrundsätzen mitgewirkt. Alle Mitarbeiter weltweit haben die Möglichkeit, dem Vorstandsvorsitzendem online Fragen zu den Ethikgrundsätzen zu stellen. Diese Hotline wird rege genutzt: 2009 gab es 10.000 Kontakte, davon 900 Fragen. 457 Ethisches Verhalten in Unternehmen kann nicht durch Grundsätze (Conduct) diktiert werden, aber gute Grundsätze reflektieren eine ethische Grundhaltung, die ethisches Verhalten stützt. 458 Fünftens erfolgt die Integration von Ethik-Kennzahlen. Hier geht es nicht zuletzt darum, festzustellen, inwiefern ethische Grundsätze im Alltag auch tatsächlich umgesetzt werden. Um Aufschluss über den Status des eigenen ethischen Verhaltens zu erlangen, helfen festgelegte Indikatoren. Eine gute Möglichkeit, Unternehmensleistungen nicht nur am Shareholder Value festzumachen, bietet unter anderem der Dow Jones Sustainability Index (DJSI). In diesem für große börsengelistete Unternehmen entwickelten Index gehen zu je einem Drittel Ökonomie, Ökologie und soziales Verhalten als Dimensionen der Nachhaltigkeit ein. Für große Unternehmen bietet sich auch eine Zertifizierung durch die internationalen Standards SA (Social Accountability) 8000 oder ISO (International Organization for Standardization) 14000 an. 459 Da mit den Zertifizierungen viel Zeitaufwand und Papierwerk verbunden ist, besteht für kleine und mittlere Unternehmen alternativ die Möglichkeit der Nutzung einer Balanced Scorecard. Dieses auf Kaplan und Norton von der Harvard Business School zurückgehende Kennzahlensystem basiert auf der Identifizierung kritischer Erfolgsfaktoren (KEF), die mittels zugeordneter Kennzahlen überprüft werden. So können z.B. dem Erfolgsfaktor „Mitarbeiterzufriedenheit“ die Kennzahlen Mitarbeiterfluktuation, Krankheitsstand und Empfehlungen zur Überprüfung zugeordnet werden. 457 Vgl. L’ORÉAL (2010) und Kapitel 6.3 dieser Arbeit. 458 Vgl. Audi (2009), S. 90 459 Vgl. Kap. 5.3 dieser Arbeit. <?page no="205"?> 204 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens uvk.de Finanzperspektive Umsatzanteil „grüner“ Produkte Recycling-Einnahmen Energiekosten Strafen und Gebühren für Umweltverschmutzung Stakeholderperspektive Auszeichnungen/ Preise für Nachhaltigkeit Mittel zur Unterstützung von Kommunen und Gemeinden Anzahl öffentlicher Beschwerden Mitarbeiterzufriedenheit Prozessperspektive Prozentzahl zertifizierter Lieferanten Sondermüll-Volumen Verpackungsmaterial- Volumen Anzahl der Beschwerden von Gemeinden/ Kommunen Kosten für Kleineinkäufe Anzahl der Produktrückrufe Lern- und Innovationsperspektive Vielfalt in Belegschaft und Management Anzahl der Einsatzstunden pro Mitarbeiter Kosten für Mitarbeiterunterstützung (Begünstigungen) Prozentsatz der in Nachhaltigkeit trainierten Mitarbeiter Tab. 12: Balanced Scorecard mit Ethik-Kennzahlen 460 Eine weitere Anregung resultiert aus der vorher beschriebenen American Express-Fallstudie. Hier wird eine Scorecard (Berichtsbogen) für „die persönliche, moralische Entwicklung“ implementiert. In gut geführten Wirtschaftsunternehmen bildet dies die gelebte Praxis. Zuzüglich zu ökonomischen Zielen (Gewinn, Qualitätsfortschritte etc.) finden ethische Faktoren zusätzlich Berücksichtigung. Unternehmen, die ethische Entwicklungen in ihren Unternehmen mittels Kennzahlensystemen messen, erhalten Klarheit über ihre Position auch im Vergleich zu anderen. Sie demonstrieren damit als wichtige Pfeiler der Unternehmenskultur Transparenz, Zuverlässigkeit und Verantwortungsbereitschaft. Der folgende sechste Punkt gilt dem Aufbau einer diskursiven Infrastruktur, um Grauzonen offen ansprechen und diskutieren zu können. 460 Vgl. Epstein (2008), S. 138 <?page no="206"?> 8.2 Was kann das Management tun? 205 uvk.de Zu erörtern ist, wie ethikrelevante Entscheidungen im Unternehmen getroffen werden. Ethische Bewertungsmaßstäbe bzw. -grundsätze im Unternehmen müssen klar definiert sein, um als Orientierungshilfe zu dienen. Die Kompetenz für Ethikentscheidungen wächst über kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen, wie day-to-day-activities (z.B. open talk), Fortbildungsangebote (z.B. ethische Urteilsbildung), Workshops (z.B. Analysen von Geschäftsfällen in Bezug auf Ethik und Wertschöpfung), Hotlines und eine vorgelebte Verantwortungskultur. Für die praktische Anwendung der in Kap. 4 dargestellten Theorien und Ansätze zur ethischen Entscheidungsfindung dient der folgende Fragebogen, bei dem den unterschiedlichen ethischen Prinzipien ein Rang als Relevanzkriterium zugeordnet werden kann. Prinzip Beschreibung Rang Goldene Regel Tue anderen ni ch ts, wa s d u n ic ht willst , dass dir gegenüber getan wird. Deontologische Ethik Kategorischer Imperativ: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein eigenes Gesetz werde. Teleologische Ethik (Zielorientierung) Der Zweck heiligt die Mittel. Utilitarismus Moralität ist an den Folgen festzumachen. Der Maßstab für die Folgebewertung ist der Nutzen. Der Nutzen aller ist zu berücksichtigen (größtes Glück der größten Zahl von Menschen). John Rawls „Schleier des Nichtwissens“ Handle so, als hättest du keine Kenntnis über deinen gesellschaftlichen Status mit Einkommen, Vorlieben, Abneigungen etc. (so, als ob du auch in der Position eines anderen sein könntest). <?page no="207"?> 206 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens uvk.de Konventionelle Ethik (Grundgesetz, Artikel 2 (1)) Jeder hat das Recht zur Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Hedonistische Ethik Wenn es sich gut anfühlt, tue es. Intuitive Ethik Tue, was deine innere Stimme dir sagt. Organisationsethik Handle loyal gegenüber deiner Organisation. Berufsethik Richte deine Handlungen so aus, dass du sie gegenüber einem Komitee von Fachkollegen vertreten kannst. Tab. 13: Ethische Entscheidungsfindung 461 Als Kurzform für eine ethische Entscheidungsbildung können auch die folgenden fünf Fragen dienen. [1] Ist die Handlung legal? Stimmt die Handlung mit Wertesystemen der Organisation überein? [2] Würdest du dich schlecht fühlen nach der Entscheidung? [3] Wie sähe die Entscheidung in der Zeitung aus? [4] Wenn du nicht sicher bist, frage solange, bis du eine Antwort bekommst. 462 Für den Austausch mit externen Bezugsgruppen ist eine angemessene Informationsoffenlegung erforderlich, z.B. über jährliche Geschäftsberichte und Zeitungsberichte. Bei einer Umfrage unter Stakeholdern, welche Daten für sie am wichtigsten sind und von Unternehmen veröffent- 461 In Anlehnung an Fisher/ Lovell (2009), S. 144 f. 462 In Anlehnung an Fisher/ Lovell (2009), S. 145 <?page no="208"?> 8.2 Was kann das Management tun? 207 uvk.de 1,80% 27,90% 1,80% 7,90% 24% 25,90% 10,40% keine Angaben Länge egal 81-100 Seiten 51-80 Seiten 31-50 Seiten 16-30 Seiten bis 15 Seiten licht werden sollten, wurden den zehn in der folgenden Abbildung dargestellten Werten die größte Relevanz beigemessen. Abb. 16: Informationsbedürfnis von Stakeholdern nach Epstein 463 Menschenrechte, Energieeffizienz und Gesundheit & Sicherheit stehen an vorderster Stelle der Themen, über die Stakeholder informiert werden möchten. In Bezug auf die Ausführlichkeit der Informationen gaben über 50 % der Befragten an, dass sie vom Umfang der Berichterstattung zwi sc hen 16 u nd 80 S eiten b ev or zue n. Eine G ruppe v on 28 % h ie lt d ie Länge für egal. Abb. 17: Gewünschte Länge von Berichten zu Umweltfragen 464 463 Vgl. Epstein (2009), S. 228 0.54% 0.54% 0.57% 0.57% 0.59% 0.59% 0.59% 0.60% 0,61% 0.61% Umweltmanagementsystem Wasseru. Bodenkontaminierung Standards in Entwicklungsländern Corporate Governance… Umweltpolitik Umweltfreundliche Produktion Klimaschutz Gesundheit & Sicherheit Energie-Effizienz Menschenrechte <?page no="209"?> 208 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens uvk.de Siebentens erfolgt die Integration ethisch orientierter Führungssysteme durch eine Ankopplung an die internen Leistungsbeurteilungs- und Anreizsysteme. Häufig sind die Belohnungssysteme für Mitarbeiter noch ausschließlich an ökonomischen Zielen orientiert (Umsatz, Absatz, Gewinn, Anzahl der Vertragsabschlüsse etc.). In letzter Zeit werden jedoch auch zunehmend wertebasierte Kennzahlen integriert. Zur Unterstützung ethischen Verhaltens sollte eine Ankopplung an das interne Vergütungssystem erfolgen. Nachhaltiges Mitarbeiterverhalten kann über eine gewichtete Punkteskala für Boni mit einbezogen werden. So hat beispielsweise das nordamerikanische in der Abfallwirtschaft tätige Unternehmen BFI (Browning Ferries Industries zu Allied Waste Industries gehörig) eine Punktskala für nachhaltiges Mitarbeiterverhalten in das Anreiz- und Beitragssystem integriert. Die Höhe der Boni hängt somit auch vom Multiplikator „Nachhaltigkeit“ ab. Erzielte Punkte Multiplikator Nachhaltigkeit 95-100 1.00 90-94 0.90 85-89 0.80 80-84 0.75 75-79 0.50 70-74 0.25 unter 70 0.00 Tab. 14: Integration von Nachhaltigkeit bei Gehaltszulagen 465 Der achte und letzte Baustein befasst sich mit der Implementierung eines Ethik-Kontrollsystems. Die folgenden Sachverhalte sind hierbei zu untersuchen: 466 464 Vgl. Epstein (2009), S. 231 465 Epstein (2009), S. 135 466 In Anlehnung an Epstein ( 2008), S. 81 <?page no="210"?> 8.2 Was kann das Management tun? 209 uvk.de [a] Wie werden Ethikprogramme gemessen und bewertet? [b] Sind Managern und Mitarbeitern ethische Verpflichtungen und entsprechende Vorgaben ausreichend bewusst? [c] Agieren alle Unternehmensbereiche gemäß geltender Gesetze und Vorschriften? [d] Gibt es Rechtstreitigkeiten, bei denen es auch um Fragen von Moral und Sittlichkeit geht? [e] Welche Prozesse stellen sicher, dass das Management über abweichendes gesetzliches Handeln in Unternehmensbereichen informiert wird? [f] Gibt es Prozesse, in denen routinemäßig der Einfluss von sozialen und Nachhaltigkeitsaspekten bei Unternehmensentscheidungen ausgewertet werden? [g] Sind vorliegende Kennzahlensysteme ausreichend? Den Unternehmensnutzen für ethisches Verhaltens hat Epstein in die zwei Kategorien marktorientierter Nutzen und nicht marktorientierter Nutzen zusammengefasst. marktorientierter Nutzen nicht marktorientierter Nutzen höhere Verkaufszahlen und Marktanteile aufgrund höherer Nachfrage höhere Verkaufspreise aufgrund besserer Qualität (z.B. durch Mitarbeiterzufriedenheit) und Reputation Kosteneinsparung durch verbesserte Effizienz (z.B. niedrigere Verwaltungskosten, Prozess-Innovationen, Abfallreduzierung) geringere Risiken über verbesserte Stakeholder-Beziehungen reduzierte Zukunftskosten (keine Schadensregulierung erforderlich) höherer gesellschaftlicher Nutzen dank einer sauberen Umwelt Freude über eine größere Artenvielfalt qualitative Verbesserung und Verlängerung des Lebens Tab. 15: Nutzen ethischen Verhaltens nach Epstein 467 467 Epstein (2009), S. 145, 251 <?page no="211"?> 210 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens uvk.de Beim marktorientierten Nutzen wird z.B. davon ausgegangen, dass eine nachhaltige Unternehmensführung besseren Verkaufszahlen und höheren Marktanteilen dient. Höhere Verkaufspreise können z.B. über eine entsprechende Qualität und eine gute Reputation erzielt werden. Kosteneinsparungen entstehen beispielsweise über Prozessverbesserungen (Abfallreduktion, Energiereduzierung, Risikoverringerung). Zu den nicht marktorientierten Vorteilen ethischen Verhaltens zählt der nicht direkt tangierende allgemeine gesellschaftliche Nutzen mit einer Verbesserung der Lebensqualität. Langfristig gesehen wirken sich diese aber auch positiv auf das Unternehmen aus (z.B. gesunde leistungsfähige Mitarbeiter, zahlungskräftige Kunden). Eine genauere Kosten-Nutzen-Relation für ethisches Verhalten anzustellen, fällt aufgrund des schwierig quantifizierbaren Nutzens schwer. Einige empirische Studien haben sich bemüht, dem nachzugehen, wie z.B. Webley/ More, die feststellten, dass Unternehmen mit im Vierjahresvergleich von 1997 bis 2000 über bessere Finanzwerte verfügten. 468 Allerdings ist diese Ursache-Wirkungskette noch hinterfragbar. In der folgenden Abbildung wurde versucht, das Zusammenwirken von externen und internen Stützen für ethisches Verhalten darzustellen. Zu den unterstützenden externe Rahmenbedingungen gehören z.B. das regulative Umfeld und der Input an Mitarbeiter- und Managementqualifikation (über Schulen, Berufs- und Hochschulen). Die internen Stützen umfassen Unternehmensprozesse, zu denen z.B. umweltfreundliche Technologien, nachhaltiges Personalmanagement und transparente Kennzahlensysteme gehören. Unternehmen haben unter anderem über Verbände und Lobbyismus die Möglichkeit, die externen Rahmenbedingungen zu beeinflussen. 468 Vgl. Fisher et al. (2009), S. 13 und Kapitel 6.6. dieser Arbeit. <?page no="212"?> 8.2 Was kann das Management tun? 211 uvk.de Abb. 18: Stützen und Nutzen für ethisches Verhalten Der wesentliche Kern für ethisches Verhalten ist die richtige externe und interne Ausbildung von Mitarbeitern. Von den Mitarbeitern gehen alle internen Prozesse und Rückmeldungen zu externen Stützen aus. Bereits bei der Personalauswahl integrer Persönlichkeiten ist das Augenmerk insbesondere auf die herausgearbeiteten Risikomerkmale (genetische Grundausstattung, schwierige Sozialisation) zu legen. Praktisch wird es sich allerdings als schwierig erweisen, Dinge wie einen Serotoninmangel oder Traumata zu erkennen. Inwieweit hierzu ausgeklügelte psychologische Tests ehrlich beantwortet werden und dienlich sind, ist empirisch schwierig überprüfbar und noch Gegenstand zukünftiger Untersuchungen. Das Ziel, gleichzeitig Exzellenz in finanziellen, sozialen und ökologischen Bereichen zu beweisen, ist hochgesteckt. Ein Beispiel für den Unternehmens- und Umweltnutzen liefert der Toyota Prius als erfolgreiches Hybridfahrzeug in den USA. Nach seiner Einführung 1997 schoss <?page no="213"?> 212 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens uvk.de Toyotas Markenwert um 47 % in die Höhe. 469 Gewinn, Marktanteil, Markenwert und Renommee wurden enorm durch die umweltfreundlichere Technologie verbessert. 470 Gleichzeitig erfolgte durch die Reduzierung der Schadstoffemissionen ein gesellschaftlicher Nutzen. Wie auch die Beispiele von Motorola, L’ORÉAL und Texas Instruments zeigen, sind einige Ethik-Ansätze vielversprechend. Viele Unternehmen bemühen sich, intensiv nach den UN-Milleniumsentwicklungszielen ihre Ökobilanzen zu verbessern (z.B. Reduzierung von nicht regenerierbarer Energie, von Emissionen und von Abfall) sowie Beiträge zur Reduzierung von Armut, Krankheit oder sonstigen sozialen Defiziten zu leisten. Zu viele Unternehmen haben hier jedoch noch recht großen Nachholbedarf. Staatliche und unternehmerische Aktivitäten alleine reichen nicht aus, um ethischen Verhalten dauerhaft zu stützen. Hierzu bedarf es auch der Mitwirkung der Wirtschaftsbürger, die im nächsten Kapitel abschließend näher betrachtet werden. 88..33 WWaass kkaannnn ddeerr WWiirrttsscchhaaffttssbbüürrggeerr sseellbbsstt ttuunn? ? Die Frage ist, wo die im Grundgesetz Art. 1 festgeschriebene Freiheit des Einzelnen an die Grenzen der Freiheit anderer stößt. Anders ausgedrückt: Wie viel Individualismus verträgt die Gemeinschaft? Eine Gemeinschaft funktioniert nur über ein ausgewogenes Geben und Nehmen. Berufstätige und Rentner zahlen Steuern und Abgaben und erhalten dafür hierzulande eine relativ gute Infrastruktur (Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Bildungszugang etc.). Wer gesundheitliche Defizite hat, wird durch die Gemeinschaft unterstützt. Wenn mehr aus der Gesellschaft herausgezogen als eingezahlt wird, entsteht ein Ungleichgewicht, das bis zur Auflösung führen kann. Es liegt an jedem Einzelnen, je nach seinen Möglichkeiten, einen adäquaten Beitrag zum Gemeinwohl beizufügen. Dieses Bewusstsein ist bei vielen Menschen verloren gegangen, die immer wieder nach Schlupflöchern suchen, gemeinschaftliche Leistungen zu ergattern, ohne einen angemessenen Ausgleich ihrerseits zu leisten. 469 Vgl. Epstein (2009), S. 259 470 Vgl. ebd., S. 258 f. <?page no="214"?> 8.3 Was kann der Wirtschaftsbürger selbst tun? 213 uvk.de John Rawls bindet die gleichen Grundfreiheiten und das Unterschiedlichkeitsprinzip eines jeden in seine Theorie der Gerechtigkeit ein. 471 Demnach erlaubt die Gerechtigkeit soziale und ökonomische Ungleichheiten, wenn auch schlechter Gestellte davon profitieren. Dabei unterstützt das eigene Selbstinteresse beide Prinzipien dahingehend, dass es besser ist, ein kleines Stück eines größeren Kuchens zu haben als ein gleiches Stück eines kleineren. Abb. 19: Gleichheit versus größerer Anteil des Wohlstandskuchens 472 Die Einsicht in die kritische Verletzlichkeit der Natur führt bei vielen Bürgern zu dem Bewusstsein der menschlichen Verantwortlichkeit für unseren Planeten. Sprichwörtlich schlachtet man die Gans nicht, die goldene Eier legt, oder sägt nicht den Ast, auf dem man sitzt, ab. 473 Das Schicksal des Menschen in seiner Abhängigkeit von der Natur führt zu einer Verantwortung, diese zu erhalten. Die rationale Begründung der Verantwortung überhaupt stellen transzendentalphilosophische Ansätze, die die Bedingungen für Erkenntnis in den Mittelpunkt rücken, dar. Die Aufgabe der philosophischen Ethik sieht Apel 474 weniger in Vorschlägen zu situationsbezogenen Normen als in der Analyse der normativen Bedingungen der Organisation zur kollektiven Verantwortung auf der Basis praktischer Diskurse. 471 Vgl. Rawls (2001, 2006), S. 78 und Kap. 4.1 dieser Arbeit. 472 Vgl. Audi (2009), S. 11 473 Vgl. Jonas (1984), S. 26 f. 474 Vgl. Apel (1997), S. 211 f. <?page no="215"?> 214 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens uvk.de In der Krisensituation der Gegenwart gilt es, ein Fortschrittsprinzip der Bewahrung des Daseins und der Würde des Menschen zu befolgen. 475 Dem Prinzip Hoffnung wird das Prinzip Verantwortung gegenübergestellt, nicht die Furcht. Dabei gehören die Furcht wie die Hoffnung beide mit zur Verantwortung. Die Furcht als Begleiterscheinung entsteht durch die letztliche Ungewissheit vor dem Unbekannten. Hoffnung ist die Grundlage jedes Handelns, dass auf Veränderung ausgerichtet ist. 476 Ein Bürger kann Verantwortung nur tragen, wenn er sich dieser bewusst ist. Er kann sich seiner Verantwortung nur bewusst werden, wenn er auch verstanden hat, was Verantwortung bedeutet. 477 „Verantwortung ist die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei der Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur Besorgnis wird.“ 478 Der Begriff „verantworten“ entstammt ursprünglich der römischen Rechtssprache (respondere). 479 „Eine Sache verantworten, heißt eine Sache verteidigen.“ 480 Dabei kann man für eine andere Sache der Verteidiger sein oder auch sich selbst verantworten. Häufig wurde der Begriff Verantwortung auch für die Rechtfertigung vor Gottes Richterstuhl verwendet. Der Begriff der moralischen Verantwortung ist christlichen Ursprungs. Hier bezeichnet er keine rechtliche, sondern eine ethisch begründete Fürsorgepflicht, die über das hinausgeht, wofür man haftbar gemacht werden kann. 481 Es gibt eine Eigenverantwortung und eine Mitverantwortung. Konsumenten sind immer dann individuell verantwortlich, wenn sie die Folgen ihres Konsumentenverhaltens kausal bewirkt haben und sie reflektieren und beeinflussen können. Sie sind kollektiv verantwortlich, wenn sie einer Gemeinschaft oder Gesellschaft ange- 475 Vgl. ebd., S. 216 476 Vgl. Jonas (1984), S. 390 f. 477 Vgl. Picht (2004), S. 342 478 Jonas (1984), S. 391 479 Vgl. Jonas (1984), S. 391 480 Picht (2004), S. 318 481 Vgl. ebd., S. 320 <?page no="216"?> 8.3 Was kann der Wirtschaftsbürger selbst tun? 215 uvk.de hören, deren Normen und Werte sie teilen. Ihnen obliegt die Verantwortung, sich um strukturelle Ungerechtigkeiten und Schadensfolgen von Marktprozessen zu kümmern. 482 Ein Wirtschaftsbürger muss sich nur verantworten, wenn er für die betreffende Sache auch einstehen muss. Von Verantwortung kann nur gesprochen werden, wenn es einen Spielraum für unterschiedliche Handlungsalternativen gibt. 483 Neutral gegenüber Verantwortung sind demnach alle Vorgänge, auf die der Mensch keinen Einfluss nehmen kann. Der Begriff Verantwortung umfasst sowohl das Verantwortlichsein für eine Sache oder einen Menschen als auch vor einer Instanz. So sind Eltern z.B. für ihre Kinder verantwortlich. Die gewählte Regierung ist vor den Wählern, der Beamte vor den Vorgesetzten und der Schüler vor seinem Lehrer verantwortlich. Das „Selbstsein, vor dem und für das der Mensch verantwortlich ist, nennt man die autonome Vernunft.“ 484 Die klassische Formel für Vernunft findet sich im kategorischen Imperativ Kants. Heidbrink et al. 485 unterscheiden zwischen [a] assertorischer Verantwortung: Einhaltung von Regeln, Gesetzen, Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen [b] apodiktischer Verantwortung (höherer Verpflichtungsgrad): Nichtschädigungsgebot von Mitmenschen und natürlicher Umwelt (z.B. Einhaltung der Menschenrechte); Sorge für das eigene Wohlergehen. Wir leben in einer Geschichtsepoche, in der es an Trägern von Verantwortung für die schon sichtbaren großen Aufgaben der Geschichte für die nächsten Jahrzehnte fehlt. 486 Noch gibt es zu wenig mündige Wirtschaftsbürger, die die Fähigkeiten, kritisch zu urteilen und Verantwortung zu übernehmen, ausfüllen. Was einer allein 482 Vgl. Heidbrink et al. (2011), S. 47 483 Vgl. Picht (2004), S. 323 484 Picht (2004), S. 321 485 Heidbrink et al. (2011), S. 44 486 Vgl. Picht (2004), S. 341 <?page no="217"?> 216 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens uvk.de nicht schafft, schaffen viele. Ein umfassendes bürgerschaftliches Engagement ist eine unverzichtbare Bedingung für den Zusammenhalt der Gesellschaft“, so die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements. 487 Bürgerschaftliches Engagement ist eine Tugend, die maßgeblich zum Funktionieren eines demokratischen Gemeinwesens beiträgt. Die Kommission hebt deshalb die Wichtigkeit des freiwilligen bürgerlichen Engagements in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens als Bindekräfte der Gesellschaft hervor. Durch bürgerliches Engagement wird eine Atmosphäre der Solidarität, der Zugehörigkeit und des gegenseitigen Vertrauens geschaffen. 488 Zur Stärkung des bürgerlichen Engagements empfiehlt die Kommission unter anderem eine Verbesserung des Schutzes vor Haftungsrisiken und die Einbeziehung ehrenamtlich Tätiger in die gesetzliche Unfallversicherung. Bürgerschaftlich Engagierte, die in Ausübung ihres Engagements einen Schaden erleiden, sollen gegen gesundheitliche Schädigungen und berufliche Benachteiligungen besser abgesichert werden. Ferner werden eine Verbesserung des Bewusstseins für bürgerliches Engagement durch unterstützende Maßnahmen durch Bund, Länder und Kommunen gefordert. 489 Der Wirtschaftsbürger als Konsument hat einen häufig unterschätzten Einfluss auf die Dynamik von Marktprozessen. In der neoklassischen Ökonomik gilt er als der wirkliche Herr im marktwirtschaftlichen System. 490 In den letzten Jahren zeigt sich ein zunehmendes Interesse an verantwortlichem Konsum. Nachhaltige Produkte und sozial verträgliche Dienstleistungen spielen eine zunehmend wichtige Rolle bei Kaufentscheidungen. Heidbrink et al. 491 bescheinigen dem Konsumenten dabei eine widersprüchliche Rolle in seiner moralischen Selbsteinschätzung und seinen marktorientierten Handlungsweisen. 487 Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“, S. 2 488 Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“, S. 2 489 Vgl. ebd., S. 349 f. 490 Vgl. Heidbrink et al. (2011), S. 9 491 Vgl. ebd., S. 10 <?page no="218"?> 8.3 Was kann der Wirtschaftsbürger selbst tun? 217 uvk.de Dem Verbraucher wird vorgeworfen, sich mit dem gelegentlichen Kauf von sozial und ökologisch verträglichen Produkten zufriedenzugeben, anstatt durch bürgerschaftliches Engagement zur nachhaltigen Änderung von Rahmenbedingungen beizutragen. Trotz dieser wohl berechtigten allgemeinen Kritik zeigen sich bestimmte Verbrauchergruppen immer häufiger in der Position des Treibers wirtschaftlicher und politischer Veränderungsprozesse, so z.B. im „boycott“ von Produkten, die gegen ethische Standards verstoßen oder im „buycott“, der Kaufentscheidung für nachhaltige Produkte. 492 In Smart Mobs finden sich Bürger zu kurzen, scheinbar unorganisierten spontanen Menschenaufläufen auf öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen zu Protesten zusammen (z.B. Globalisierungsgegner). Als schnelle Kommunikationswege dienen Social Networks, Twitter und sonstige Internetplattformen. Smart Mobs haben z.B. im Jahr 2001 in Manila zum Sturz des unter Korruptionsverdacht stehenden Präsidenten Joseph Estrada beigetragen. Wo er auftauchte, organisierten Smart Mobber blitzschnell Demonstrationen, zu denen Tausende in schwarzer Kleidung erschienen. In Deutschland fand ein Smart Mob gegen die Bahnprivatisierung 2007 mit über 2000 Menschen in 50 Städten statt. Aufgerufen hatte dazu das Bündnis Bahn für Alle. Eine Sonderform des Smart Mobs stellt der sogenannte Carrotmob dar. Wie einem Esel muss man dem Gegner eine Karotte hinhalten, damit er sich bewegt. Über moderne Kommunikationswege werden Unterstützer aufgerufen, in einem begrenzten Zeitraum in einem bestimmten Geschäft einzukaufen. Vorher wurde mit dem Besitzer abgesprochen, dass er den Mehrumsatz zur nachhaltigen Modernisierung nutzt (z.B. Verringerung des Energieeinsatzes). Die Rolle des Konsumenten bleibt insofern ambivalent, als dass er zwischen Markt und Moral hin- und herpendelt. Die Kluft zwischen Einstellungen und Handeln sehen Heidbrink et al. 493 im 492 Vgl. Heidbrink et al. (2011), S. 13 493 Vgl. Heidbrink et al. (2011), S. 15 <?page no="219"?> 218 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens uvk.de komplexen Umfeld, in dem weniger ein Homo oeconomicus als ein überlasteter, zeitknapper, wenig kompetenter und nicht immer disziplinierter Verbraucher agiert. Bislang wurde in Literatur und Praxis primär die Verantwortung von Unternehmen beleuchtet und weniger die des einzelnen Bürgers. Hier besteht Nachholbedarf. Analog zur CSR gilt es, eine Consumer Social Responsibility (ConSR) zu entwickeln. 494 Boykott-Aktionen gehören ebenso wie Buykott-Aktionen zum politischen Repertoire des Konsumenten. Dabei reicht die Rolle des Konsumenten von Ignoranz über die Verringerung der negativen Auswirkungen des eigenen Konsumhandelns bis hin zum Handeln im Einklang mit moralischen Prinzipen und zum bürgerschaftlichen Engagement mit Einflussnahmen auf Unternehmen und Staat. 495 Verantwortlich handeln können Bürger nur, wenn sie über die erforderlichen Informationen verfügen sowie ausreichend Wissen und Erfahrung erlangt haben. Die ökologische Qualität von Produkten ist oftmals nicht leicht durchschaubar. Konsumenten können oftmals nur auf Gutglauben kaufen. Im Sinne eines verantwortlichen Konsums müssen Informationen über die Bedingungen der Herstellung leicht verfügbar sein. So kann ein wenig gespritzter Apfel eines Regionalanbieters nachhaltiger im Verzehr sein als ein Apfel, der hunderte oder gar tausende von Kilometern entfernt ungespritzt von einem Biohof stammt. Trotz der Verbreitung von Informationsmaterialien durch Verbraucherzentralen, Warentests, Kennzeichnungen und Labels bestehen Informationsdefizite. Einerseits werden Konsumenten auf Märkten von Informationen quantitativ überflutet, andererseits fehlt es häufig an der gefragten Qualität von Informationen. Aufgrund der genannten Informationsdefizite, einer begrenzten Verarbeitungskapazität, Herdenverhalten, Gewohnheit, Ermüdung, Verlustaversion (Verluste werden stärker bewertet als Gewinne) und Selbstüberschätzung wird die Übernahme von Verantwortung durch den Konsumenten erschwert, aber nicht ausgeschlossen. 496 Für den Konsumenten ergeben sich Handlungsspielräume, 494 Vgl. ebd., S. 16 495 Vgl. ebd., S. 34 496 Vgl. Reisch/ Hagen in Heidbrink et al. (2011), S. 228 ff. <?page no="220"?> 8.3 Was kann der Wirtschaftsbürger selbst tun? 219 uvk.de sich mit der gesellschaftlichen Dynamik verantwortungsvoll auseinanderzusetzen. Unterstützung erhält der Konsument durch das Verbot irreführender Werbung und Informationsinstrumenten, wie z.B. staatlich kontrollierter Vertrauenslabels (z.B. Fair Trade, EU-Bio-Zeichen bei Lebensmitteln) Iso-Norm 26 000 für SR Klimas chutzkampagnen Web Communities zum nachhaltigen Lebensstil (z.B. Utopia.de) Di e Verantw or t un g des Ko nsu me nte n k ann als abg es tuft e Fo rm der gesellschaftlichen Mitverantwortung betrachtet werden. Über ethisch reflektiertes Nachfrage-, Nutzungs- und Entsorgungsverhalten können Konsumenten (durch kollektive Organisation) maßgeblich Einfluss nehmen. 497 Bildung ist eine elementare Voraussetzung von Konsumentenverantwortung. 498 Hier sind neben gemeinnützigen Organisationen, Schulen und sonstige Ausbildungsträger mit in der Pflicht. Die Nachhaltigkeit eines Lebensstils kann über die Summe der ökologischen Wirkungen aller von einem einzelnen Subjekt ausgeübten Tätigkeiten identifiziert werden. Gemäß des sogenannten Budgetansatzes des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen (WBGU 2009) 499 dürfte zur Erreichung des 2-Grad- Klimaschutzzieles jeder Weltbürger jährlich bis 2015 nur 2,7 Tonnen CO 2 verursachen (Carbon footprint). Die durchschnittliche CO 2 -Bilanz eines Bundesbürgers wird derzeitig auf 11 Tonnen pro Jahr geschätzt. Allein ein Flug nach New York hin und zurück verursacht ca. 4,2 Tonnen CO 2 . Den meisten Bürgern stehen diese nackten Tatsachen nicht wirklich vor Augen. Wackernagel/ Ree 500 haben den Carbon footprint zum Ecological footprint erweitert, der neben Kohlendioxid noch weitere Indikatoren 497 Vgl. Heidbrink et al. (2011), S. 44 498 Vgl. Backhaus-Maul et al. in Heidbrink et al. (2011), S. 212 499 Vgl. Paech in Heidbrink et al. (2011), S. 289 500 Vgl. ebd., S. 289 <?page no="221"?> 220 8 Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens umfasst. In diesem Zusammenhang hat sich das Life Cycle Assessment (LCA) kontinuierlich weiterentwickelt. Diese Verfahren ermitteln die kumulierten Umweltwirkungen entlang der gesamten Herstellungskette bis hin zur Entsorgung. Unternehmen könnten verpflichtet werden, ihren Abnehmern die nötigen Informationen zur Verfügung zu stellen, z.B. über Hinterlegung der Daten im Internet. So könnte der Konsument seine individuelle Ökobilanz grob abschätzen. Letztlich sind Konsumenten wie Unternehmen auf Rahmenordnungen angewiesen, die Defizite in der Handlungsrationalität ausgleichen und Anreize für soziales Handeln schaffen. Das Verantwortungsprinzip leistet einen Beitrag zur Förderung sozialen Verhaltens, indem es Normen der Gemeinwohlverträglichkeit und Reflexionskriterien zur Überprüfbarkeit der Erfolgswirkung verfügbar macht. Die Konsumentenethik bildet die notwendige Ergänzung zur Unternehmensethik. Zukünftig sind hier empirische Forschungen zum Verbraucherverhalten weiter gefragt, um die Eigenverantwortung des Konsumenten zu stärken. <?page no="222"?> uvk.de 99 FFaazziitt/ / AAuussbblliicckk Unternehmensethik wirkt dauerhaft nicht isoliert, sondern bedarf der Stützpfeiler der staatlichen Regulierung und der bürgerlichen Verantwortung. Auf der Basis von ökonomischer Freiheit und freiem Wettbewerb ist sicherzustellen, dass die Grenzen der Freiheit anderer nicht negativ tangiert werden. Die Kernfrage lautet, wie ökonomisches Gewinnstreben und gesellschaftliche Interessen miteinander in Einklang gebracht werden können. Praktisch gibt es in Organisationen nicht zuletzt durch die zunehmende Bedeutung von Stakeholdern derart viele konfligierende Interessen, dass faires ausgleichendes Handeln ein schwieriges Unterfangen ist. Hier hilft die von Apel und Habermas entwickelte Diskursethik, bei der im Zuge eines nach Regeln gestalteten vernünftigen Argumentationsprozesses ein Konsens gesucht wird. Die aufgezeigten acht Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens dienen über die Identifizierung von ethischen Problemzonen bis hin zur Einrichtung eines Ethik-Kontrollsystems als Ethik- Kompass der Selbstregulierung von Unternehmen. Die Bausteine können individuell möglichst „schlank“ angepasst und durchgesetzt werden. Die Herausforderung liegt darin, ethische Prinzipien möglichst unbürokratisch, aber dennoch effektiv, zu verwirklichen. Hierbei hilft die Rückbesinnung auf die Vorbildfunktion der Führungskräfte. Moralische Prinzipien, die tagtäglich für jeden ersichtlich im Alltag gelebt werden, bedürfen keiner dicken Broschüren mit detaillierten Verhaltensanweisungen. Ethik und Profit sind langfristig gesehen ökonomisch miteinander vereinbare Zielvorstellungen. Studien, wie z.B. von Olitzky, zeigen unter anderem, dass die Reputation einen gravierenden Einfluss auf den finanziellen Erfolg eines Unternehmens hat. Allein wirtschaftliches Wissen und technologische Führerschaft werden zukünftig zum Erfolg nicht ausreichen, wenn ethische Führung keine oder eine zu geringe Berücksichtigung findet. Wie die Praxis zeigt, reicht eine unternehmerische Selbstregulierung für ethisches Verhalten in Unternehmen alleine oftmals nicht aus. Hier ist der Staat gefordert, mit entsprechenden Rahmenbedingungen ethisches Verhalten von Unternehmen zu sichern. Über Anreize (z.B. Förderungen/ Auszeichnungen für nachhaltiges Verhalten) und Sanktionen (z.B. <?page no="223"?> 222 9 Fazit/ Ausblick uvk.de Ausschlüsse bei öffentlichen Auftragsvergaben oder Strafzahlungen) gilt es, ethisches Verhalten zu unterstützen. Seitens des Staates ist zukünftig der Aufdeckung und Sanktionierung von Korruption noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen. In diesem Rahmen sollten Whistleblower besser geschützt werden. Da soziales Verhalten bereits ab der frühsten Kindheit geprägt wird, ist in der staatlichen Erziehung ein noch größerer Schwerpunkt auf die soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu legen, insbesondere bei denjenigen, die aus bildungsfernen Elternhäusern stammen. Aus demografischer Sicht gewinnt der Stellenwert von Kindern mit Migrationshintergrund zunehmend an Bedeutung. Bereits im Kleinkindalter müssen die Grundlagen für gute Sozialisation gelegt werden. Hier gilt es, zur Aufdeckung und Behandlung von Defiziten, den Rahmen für frühzeitige medizinische Untersuchungen und Therapien ab dem Kleinkindalter fest zu statuieren. Im weiteren Entwicklungsprozess sollten die Curricula in Schulen und Hochschulen verstärkt durch ethische Lebensfragen und Lerninhalte nachhaltig ergänzt werden. Hierzu gehört auch das freiwillige oder obligatorische Absolvieren von Sozialpraktika. Staatliche Regulierungen sind jedoch meist aufwändig und bürokratisch. Zudem können sie meist nicht alles abdecken, so dass Lücken entstehen. Wie die Vergangenheit zeigte, werden diese Lücken sehr häufig für Eigeninteressen ausgenutzt. Da die Unternehmen und der Staat nur so gut wie ihre Mitarbeiter sein können, stehen eine qualifizierte ethikorientierte Schulung und Ausbildung besonders im Fokus. Der sich daraus entwickelnde mündige Staatsbürger trägt als dritter Ort der Moral neben dem Staat und den Unternehmen zu ethischem Unternehmensverhalten bei. Jeder mündige Wirtschaftsbürger trägt eine Eigen- und Mitverantwortung. Bürgerschaftliches Engagement ist eine unverzichtbare Voraussetzung für das Funktionieren von demokratischen Strukturen. Als Konsument zeigt sich der Wirtschaftsbürger bislang ambivalent zwischen Markt und Moral hin- und herpendelnd. Sein maßgeblicher Einfluss (als Kollektiv) auf die Dynamik von Marktprozessen wird häufig noch unterschätzt. Boykott-Maßnahmen gehören ebenso wie Buykott-Aktionen zu seinem Regulierungsrepertoire. Für den Stellenwert der Consumer Social Responsibility (ConSR) bzw. Konsumentenethik besteht noch Nachholbedarf. Sie bildet die notwendige Ergänzung zur Unternehmens- und Ordnungsethik. Zukünftig sind empirische Forschungen zum Verbrau- <?page no="224"?> 9 Fazit/ Ausblick 223 cherverhalten weiter gefragt, um die Eigenverantwortung des Konsumenten zu stärken. Werte wie Wohlstand und Nachhaltigkeit oder Freiheit und Gleichheit können kurz- und mittelfristig konfligieren. Langfristig kann jedoch ohne Nachhaltigkeit kein allgemeiner Wohlstand erzeugt werden. Diese Erkenntnis wird sich hoffentlich bei den Unternehmen wie auch beim Staat und den Wirtschaftsbürgern im Handeln zunehmend durchsetzen. <?page no="226"?> uvk.de LLiitteerraattuurrvveerrzzeeiicchhnniiss Albert, Hans (1967): Modell-Platonismus: Der neoklassische Stil des ökonomischen Denkens in kritischer Beleuchtung. 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Der Begriff ist oftmals im Zusammenhang mit Corporate social responsibility zu finden. CCoommpplliiaannc cee ooffffiiccee Büro oder Abteilung einer Organisation, die für Regeltreue (auch Regelkonformität) und die Einhaltung von Gesetzen und Richtlinien in Unternehmen zuständig sind. CCoon nssuum meerr SSoocciiaal l RRees sppoonnssiibbiilliitty y ((CCoonnSSRR) ) Analog zur Corporate Social Responsibility wird neu auch von der Consumer Social Responsibility (ConSR) gesprochen. Boykott-Aktionen gehören ebenso wie Buykott-Aktionen zum politischen Repertoire des Konsumenten. Dabei reicht die Rolle des Konsumenten von Ignoranz über die Verringerung der negativen Auswirkungen des eigenen Konsumhandelns bis hin zum Handeln im Einklang mit moralischen Prinzipien und zum bürgerschaftlichen Engagement mit Einflussnahmen auf Unternehmen und Staat. CCoorrppoorraattee SSoocciiaall RReessppoonnssiibbiilliittyy ((CCSSRR)) Der anglo-amerikanische Begriff CSR beschreibt die gesellschaftliche Verantwortung einer Unternehmung. Es gibt keine allgemeingültige <?page no="235"?> 234 Glossar uvk.de Definition. Die Europäische Union definiert in ihrem Grünbuch (Europäische Rahmenbedingungen für die Soziale Verantwortung der Unternehmen) CSR als ein System, welches den Unternehmen als Grundlage dient, auf freiwilliger Basis soziale und Umweltbelange in ihre Unternehmenstätigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Stakeholdern zu integrieren. DDeeuuttsscch heerr CCoorrppoorraattee GGoovveerrnnaannccee KKooddeexx ((DDCCGGKK)) Der Deutsche Corporate Governance Kodex wurde von der durch die Bundesministerin für Justiz im September 2001 eingesetzten Regierungskommission 2002 als gesetzliche Grundlage verabschiedet. Mit diesem Kodex sollen die in Deutschland geltenden Regeln für Unternehmensleitung und -überwachung für nationale wie internationale Investoren transparent gemacht werden, um so das Vertrauen in die Unternehmensführung deutscher Gesellschaften zu stärken. Er gibt gesetzliche Vorschriften zur Leitung und Überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften (Unternehmensführung) vor und enthält international und national anerkannte Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung, z.B. Diversity. Der DCGK schreibt beispielweise auch vor, dass Vorstandsmitglieder erst nach einer zweijährigen Karenzzeit in den Aufsichtstrat ihres Unternehmens einziehen dürfen. Als einzige Ausnahme wird die Möglichkeit eingeräumt, dass auf Vorschlag von Aktionären, die mehr als 25 Prozent der Stimmrechte an der Gesellschaft halten, ein solcher Wechsel früher stattfinden darf. DDe eo onnt tool loog gi is sc chheerr eetthhi is scchheerr AAn ns sa attzz griech. deon: die Pflicht. Die ethische Bewertung erfolgt für die Handlung alleine. Der Grundsatz „der Zweck heiligt die Mittel“ wird abgelehnt. DDiisskkuurrsseetthhiikk (Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel) Jürgen Habermas gilt mit Karl-Otto Apel als Begründer der Diskursethik. Die Diskursethik stellt eine normative Theorie der (neuzeitlichen) Gesellschaft mit linguistischen Wurzeln dar. Die Diskursethiker gehen davon aus, dass ethische Normen nicht allein mit Hilfe von Wahrnehmung und Logik begründet werden können. Habermas führt aus, wie moralische Fragen kognitiv entschieden werden können. Die Frage, was zu tun sei in Bezug auf Handlungen, die die Interessen anderer berühren <?page no="236"?> Glossar 235 uvk.de und zu Konflikten führen, soll im fairen Diskurs der Betroffenen geklärt werden. GGo ol lddeennee RReegge ell Es handelt sich um einen alten, bis in das 7. Jh. v. Chr. zurückgehenden Grundsatz, der in allen Weltreligionen ähnlich verbreitet ist: „Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem andern zu! “ Geprüft wird hier die die moralische Zulässigkeit einer bestimmten eigenen Handlung in Bezug auf andere Menschen. IInntteeggrraatti ivvee WWiirrttsscchhaaffttsseetthhiikk (Peter Ulrich) Der Schweizer Peter Ulrich entwickelte in St. Gallen seine Theorie, wie wirtschaftliches Handeln in eine allgemeine ethische Konzeption menschlichen Handelns eingebunden werden kann. Für Ulrich ist der kantianische Weg zur moralisch autonomen, mündigen und verantwortungsfähigen Person der eindeutige Weg der Vernunftethik. Dabei ist Normativität nicht die Kehrseite der Rationalität, sondern deren Fundament. Der Ansatzpunkt zur Integration von ökonomischer Rationalität und ethischer Vernunft liegt für Ulrich in der Erkenntnis, dass der moralische oder ethische Charakter nicht zum rationalen Charakter einer Handlung sekundär dazukommt, sondern in sich selbst steckt. Die grundsätzliche Maxime für ethisches Verhalten stellt die Lebensdienlichkeit dar. Ulrich liefert eine wegweisende Perspektive für lebensdienliche Wirtschaftsgestaltung. IISSOO 11440000 ISO 14000 wurde 1996 als internationale Norm veröffentlicht und beschreibt ein systematisches Umweltmanagementsystem (Environment Management System) mit dem Ziel der Verbesserung der Umweltverträglichkeit von Unternehmensprozessen. KKaatteeggoorriisscchheerr I Immppeerraattiivv Emmanuel Kant benannte als ethischen Grundsatz den sogenannten kategorischen Imperativ: „ ... handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein eigenes Gesetz werde.“ Es soll demnach so gehandelt werden, dass die Maxime der eigenen Handlung zu einem allgemeinen Naturgesetz werden könnte. KKeeyyn neessiiaanniissmmuuss Eine Abkehr von den klassischen und neoklassischen Gleichgewichts- <?page no="237"?> 236 Glossar uvk.de theorien fand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch John Maynard Keynes (1883-1946) statt. Er sprach sich für eine sinnvolle Konjunkturpolitik des Staates aus. Geprägt durch den Börsenkrach von 1929 und der folgenden weltweiten Rezession trat Keynes für die Notwendigkeit einer grundlegend neuen Wirtschaftspolitik ein, in der der Staat im Gegensatz zur Laissez-faire-Marktwirtschaft eine entscheidendere Rolle spielt. Nach seiner Meinung kann es das neoklassische, durch Vollbeschäftigung charakterisierte Gleichgewicht nicht geben. Er hielt die unsichtbare Hand als zu schwach und forderte staatliche Eingriffe mittels Steuern, Zins- und staatlicher Ausgabenpolitik. KKl laassssiik k Als Klassik wird in der Nationalökonomie im Allgemeinen die Periode vom 18. Jh. bis zum Beginn der 70er Jahre des 19. Jh. bezeichnet. Bekannte Namen hierzu lauten z.B. Adam Smith, David Ricardo und Jean Baptiste Say. Der klassischen Ökonomie kommt der Verdienst zu, die Wirtschaftswissenschaft zu einer selbständigen Disziplin erhoben zu haben. Die klassische Nationalökonomie löste den Merkantilismus ab und verfolgte einen weitgehenden wirtschaftlichen Liberalismus. Der klassischen Ökonomie folgte um 1870 die neoklassische Theorie. NNa acchhhhaallttiig gkkeeiitt Die WCED (World Commission on Environment and Development) versteht unter Nachhaltigkeit eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen. Die Nutzung von Ressourcen und technologischen Entwicklungen sowie institutioneller Wandel sollen miteinander harmonieren und derzeitige und zukünftige menschliche Bedürfnisse erfüllen. NNe eookkllaassssiikk Die Neuklassik folgte um 1870 der Klassik. Im Gegensatz zu ihren klassischen Vorgängern wollten die Neoklassiker keine Moralphilosophen mehr sein, sondern strebten eine wertfreie, objektive möglichst formalisierte Theorie an. Die Ökonomie sollte von weltanschaulichen Prämissen bereinigt werden zugunsten mathematischer Formalisierungen. Betont wird die Rolle des Preises zur Herstellung von Marktgleichgewichten. Eine zentrale Annahme der neoklassischen Theorie ist das Modell des <?page no="238"?> Glossar 237 uvk.de „Homo oeconomicus“. Beim Homo oeconomicus handelt es sich um ein fiktives Wirtschaftssubjekt, das feststehende Präferenzen hat und immer rational handelt im Sinne der eigenen Nutzenmaximierung. Die Neoklassik dominierte das (liberale) ökonomische Denken bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Danach folgte der Keynesianismus, der für einige Jahrzehnte eine dominierende Rolle übernahm. Nachdem dieser in den 1970er Jahren langsam wieder verdrängt wurde, erlebte neoklassisches Denken eine Renaissance. SSa arrbbaan neess OOx xlle eyy AAcctt ((S SOOXX)) Zur Vermeidung weiterer wirtschaftlicher Skandale größeren Ausmaßes wurde in den USA 2002 der Sarbanes Oxley Act (auch SOX, SarbOx oder SOA) erlassen. Hiermit soll die Verlässlichkeit der Unternehmensberichterstattung deutlich verbessert werden. Das Gesetz schreibt an der US-Börse notierten Unternehmen unter anderem vor, dass sie geeignete Verfahren zur Entgegennahme (anonymer) Beschwerden von Mitarbeitern zur Ermittlung krimineller Tätigkeiten institutionalisieren müssen. Darüber hinaus wurden Vorschriften zum Schutz von Beschäftigten, die Betrügereien aufdecken, verankert. SScchhlleeiie err ddeess NNiic chhttwwiisssse ennss ((vveeiill ooff iiggnnoorraannccee)) John Rawls folgt der Vorstellung einer Gesellschaft als einer fairen und langfristig von einer Generation zur anderen fortwirkenden Kooperation. Diese Kooperation wird geprägt durch den angenommenen Urzustand mit dem „Schleier des Nichtwissens“. Im Urzustand verdeckt der hypothetische Schleier des Nichtwissens für alle Beteiligten die eigene soziale Stellung, die ethnische Gruppenzugehörigkeit, das Geschlecht, die Stärke und die Intelligenz. Auf diese Weise werden Eigeninteressen der Beteiligten ausgeschlossen. Gerechtigkeit entsteht aufgrund von Konsensentscheidungen und der Stabilität von Institutionen. Die Konsensentscheidungen ergeben sich auf der Grundlage von demokratischen Wahlen und der Nutzung des Schleiers des Nichtwissens (Unparteilichkeit, Objektivität). SSmmaar rtt MMoobb / / CCa arrrroot tm moob b In sogenannten Smart Mobs finden sich Bürger zu kurzen, scheinbar unorganisierten spontanen Menschenaufläufen auf öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen zu Protesten zusammen (z.B. Globalisierungsgegner). Als schnelle Kommunikationswege dienen social networks, twit- <?page no="239"?> 238 Glossar uvk.de ter und sonstige Internetplattformen. Eine Sonderform des Smart Mobs stellt der sogenannte Carrotmob dar. Wie einem Esel muss man dem Gegner eine Karotte hinhalten, damit er sich bewegt. Über moderne Kommunikationswege werden Unterstützer aufgerufen, in einem begrenzten Zeitraum in einem bestimmten Geschäft einzukaufen. Vorher wurde mit dem Besitzer abgesprochen, dass er den Mehrumsatz zur nachhaltigen Modernisierung nutzt (z.B. Verringerung des Energieeinsatzes). SSoozziiaallsstta annddaarrdd ((SSo occiiaall AAccc coouunnt taabbiilliittyy)) SSAA 88000000 Die Zertifizierung nach SA 8000 ist der erste weltweit zertifizierbare Standard für eine sozial verantwortliche Unternehmensführung. Er basiert auf der internationalen Menschenrechtskonvention und ausgesuchten Artikeln der Internationalen Arbeitsorganisation IAO. SSp piieelltthheeoorriiee Die Spieltheorie untersucht die strategische Interaktion zwischen vernunftbegabten Entscheidern. Als Ausgangspunkt der Spieltheorie wird die Analyse des Homo oeconomicus insbesondere durch Bernoulli, Bertrand und Cournot (1838) betrachtet. Als mathematische Methode leitet die Spieltheorie rationales Entscheidungsverhalten nicht nur vom eigenen Verhalten, sondern auch dem anderer ab. Durch die Handlungsbedingungen bzw. Spielregeln können Marktteilnehmer moralischen Standards unterworfen werden. Für spieltheoretische Arbeiten wurden bisher acht Nobelpreise vergeben, angefangen 1994 mit John Forbes Nash Jr., John Harsanyi und Reinhard Selten bis Roger B. Myerson im Jahr 2007 für ihre Forschung auf dem Gebiet der Mechanismus-Design- Theorie. SStta akkeehhoollddeerr Als Stakeholder oder Anspruchsgruppen bezeichnet man interne und externe Personenkreise, die von der unternehmerischen Tätigkeit direkt oder indirekt betroffen sind. Erfolgreiche Unternehmensführung berücksichtigt die Interessen ihrer Anspruchsgruppen. Zu den internen Anspruchgruppen gehören Mitarbeiter und Eigenkapitalgeber; zu den externen gehören Lieferanten, Kunden, Wettbewerber, Fremdkapitalgeber, Staat und Öffentlichkeit. TTeel le eo ollo oggiissc chhe e EEt thhiikk griech. Telos: Ziel, Zweck. Nach diesem ethischen Ansatz werden die <?page no="240"?> Glossar 239 Folgen von Handlungen mit einbezogen. Der Zweck kann also in bestimmten Situationen die Mittel heiligen. TTrraan ns sppa arreennc cy y IIn nt teerrnna attiioon na all ((T TI I) ) Die Organisation Transparency International (TI) wurde 1993 in Berlin mit dem Ziel der internationalen Korruptionsbekämpfung gegründet. TI verfügte über rund 1000 Mitglieder, davon der überwiegende Teil mit 330 individuellen Mitgliedschaften und 43 korporativen. Zu den Firmenmitgliedern gehören z.B. ABB, Allianz, BASF, ThyssenKrupp und SAP. UUttiil li ittaarriissmmuuss Die Frage nach dem Orientierungspunkt moralischen Handelns wird u.a. von den Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832) und Stewart Mill (1806-1873) im sogenannten „Utilitarismus“ aufgegriffen. Im Utilitarismus liegt die Antwort für anzustrebendes Handeln in der größtmöglichen Nutzenorientierung für die größte mögliche Anzahl an Gesellschaftsmitgliedern. WWhhiissttlleebblloowwiinngg Der angloamerikanische Rechtsbegriff des „Whistleblowings“ (verpfeifen) findet bislang keine exakte Entsprechung im Deutschen. Menschen betreiben Whistleblowing, wenn sie Kenntnisse von illegalen, irregulären, illegitimen oder unethischen Praktiken und Zuständen erhalten und sich damit an die Öffentlichkeit wenden. Whistleblowing geht gegen Rechtsbrüche, Korruption, Umwelt- und Gesundheitsschäden vor. Bis heute sind Whistleblower in Unternehmen hohen persönlichen Risiken ausgesetzt. Unterstützung bietet als gemeinnütziger Verein das Whistleblower-Netzwerk, das eine Plattform für die Beratung, Vernetzung und den Schutz von Whistleblowern bietet. <?page no="242"?> uvk.de IInnddeex x American Express Financial 169 animal sociale 95, 105 Ansatz, deontologischer 21 Apel 92 Aristoteles 15, 16, 28 Audi 20, 54 Balanced Scorecard 204 Bentham 38 Berufsethik 206 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) 136 Boston Consulting Group (BCG) 134 Buddhismus 177 Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) 143 Bürgerhumanismus 77 Business Ethics 53 Code of Conduct 164, 167 Code of Ethics 54 ConSR 218 Consumer Social Responsibility (ConSR) 218 Corporate Governance 144 Corporate Identity 203 Corporate Responsibility (CR) 156, 198 Corporate Social Responsibility 118 Costa 185 CSR 118, 218 Darwin 176 DCGK (Deutscher Corporate Governance Kodex) 137, 144 deontologische Ethik 205 deontologische Theorien 37 deontologischer Ansatz 21 deontologisch-ethischer Aspekt 81 Deutsche Post 155 Deutscher Corporate Governance Kodex (DCGK) 137, 144, 202 Dilemmastrukturen 97 Diskursethik 22, 92, 124 Dow Jones Sustainability Index (DJSI) 203 Empathie 183 Engagement, bürgerschaftliches 217 <?page no="243"?> 242 Index uvk.de Entscheidungsfindung, ethische 206 Entwicklung, nachhaltige 138 Ethic Offices 113 Ethics Committee 54 Ethik 19, 195 Ethik, Berufs- 206 Ethik, deontologische 205 Ethik, Diskurs- 22, 92, 124 Ethik, Governance- 107 Ethik, hedonistische 206 Ethik, integrative 124 Ethik, intuitive 206 Ethik, konventionelle 206 Ethik, ökonomische 123, 124 Ethik, Organisations- 206 Ethik, philosophische 213 Ethik, teleologische 21, 205 Ethik-Direktor 161 Ethik-Kompass 202 Ethikprogramme 169 Ethik-Schnelltest 163 Ethos 21 Financial Performance (FP) 172 Fujitsu 164 Fürst 107 Gedankenlesen 192 Gefangenendilemma 97, 101 Gerechtigkeit 22, 104 Gerechtigkeit, Theorie der - 103 Gerechtigkeitstheorien 37 Geschäftsethik 87 Gewinnprinzip 85, 89, 90, 103 Gewissen 186 Goethe, von 178 Goldene Regel 27, 96, 205 Governance-Ethik 107 Grundgesetz, Artikel 2 (1) 206 Habermas 92 Handeln, moralisches 94 Happy Victimizer 192 hedonistische Ethik 206 Hinduismus 178 Hobbes 37, 176 Homann 59, 123 Homo oeconomicus 42, 79, 105 Honnet 22 Instinkt, sozialer 176 integrative Ethik 124 integrative Wirtschaftsethik 70 intuitive Ethik 206 IQ-Statistik 184 ISO 14000 140 Kant 36, 122 Kaplan 203 <?page no="244"?> Index 243 uvk.de kategorischer Imperativ 36 Keynes 43 Khurana 115 Klassik, ökonomische 40 Klimakonferenz 139 Kommunitarismus (klassischer Bürgerhumanismus) 77 KonTraG (Gesetz zur Kontrolle und Transparenz von Gesetzen) 144 Konventionelle Ethik (Grundgesetz, Artikel 2 (1)) 206 Korruptionsbekämpfung 152 Korruptions-Index 145 Kramer 117 L’ORÉAL 160, 203 Lebensdienlichkeit 89, 90, 199 Letztbegründung 23, 94 Levy 193 Lütge 59 McGrae 185 Menschenbilder 181 Mill 38 mind reading 192 Mitbestimmung 136 Moral 17, 66, 71, 77, 97, 124, 175, 183, 188 More 170 Motorola 155 Neoklassiker 41 Neoliberalismus 77, 82 Neuner-Winkler 192 neurobiologische Muster 187 Nohria 115 Norton 203 ökonomische Ethik 123, 124 ökonomische Klassik 40 ökonomischer Liberalismus (Neoliberalismus) 77 Ordoliberalismus 82 Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 147 Organisationsethik 206 Orlitzky 171 Pflichtenethik 37 philosophische Ethik 213 Piaget 188 Platon 16, 28 Porter 117 Port-Huron-Erklärung 182 Prinzipal-Agent-Theorie 113 Qualitätsstandard, ethischer 200 Rawls 37, 103 Ree 219 republikanischer Liberalismus (moderner Republikanismus) 77 Republikanismus 77 <?page no="245"?> 244 Index uvk.de Rifkin 181 Risiko-Relevanz-Matrix 107 Rizzolatti 184 Rousseau 15, 178 SA 8000 142, siehe auch: Sozialstandard Sarbanes Oxley Act 148 SarbOx 148 Schleier des Nichtwissens 56, 205 Scholastik 31 Schopenhauer 179 Securities and Exchange Commission (SEC) 147 Seneca 15 Siemens 153 SIM Social Issues in Management 173 Smart Mobs 217 Smith 40, 176 SNEEP 198 SOA 148 Social Accountability (SA) 140 Social Performance (SP) 172 Sokrates 28 SOX 148 Sozialstandard SA 140 Spieltheorie 61 Stakeholder 89, 90, 102, 103, 171 Steinmann/ Löhr 20, 86 Studentisches Netzwerk für Wirtschafts- und Unternehmensethik (SNEEP) 198 Suchanek 95, 98, 103, 123 sustainable development 138 teleologische Ethik 21 teleologische Ethik (Zielorientierung) 205 teleologisch-ethischer Aspekt 81 Texas Instruments (TI) 163 Theorie der Gerechtigkeit 103 Theorie der unvollständigen Verträge 64 Theorie, Prinzipal-Agent- 113 Theorien, deontologische 37 Theory of Justice 104 Thomas von Aquin 33 Transaktionskostenansatz 109 Transparency International (TI) 145, 153 Tugenden 15 Ulrich 18, 70, 124 Umweltkonferenz 138 Umweltnorm ISO 14000 140 Unternehmensethik 20 US Federal Sentencing Guidelines 147 Utilitarismus 38, 122, 205 <?page no="246"?> Index 245 Verantwortung 214, 215 Vernunftethik 73 Wackernagel 219 Webley 170 Werte 15 Wertemanagement 106 Wertemanagementsysteme 107 Whistleblowing 149, 151 Wirtschaftsbürgerethik 77 Wirtschaftsethik 24 Wirtschaftsethik, integrative 70 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen (WBGU 2009) 219 Zielorientierung 205 <?page no="247"?> www.uvk.de E i n B u c h , d a s n i e m a n d e n m e h r r u h i g s c h l a f e n l ä s s t . Schöne neue Welt? Die Datensammelwut der Internetgiganten ist kein Geheimnis - und aufgrund dieser Datenbasis und neuer digitaler Produkte wie Haustechnik, Autoelektronik, Drohnen, digitaler Währungen etc. dringt die New Economy immer weiter in alle Systeme ein. Doch wie sieht eine Welt aus, in der Google, Facebook & Co. als gigantische globale Monopole agieren? Regieren sie längst die Welt? Arno Rolf und Arno Sagawe beschreiben den Weg in die digitale Welt - in die smarte Gesellschaft - und untersuchen auf spannende Weise, ob die digitale Transformation und stabile Gesellschaften überhaupt miteinander vereinbar sind. Arno Rolf, Arno Sagawe Des Googles Kern und andere Spinnennetze Die Architektur der digitalen Gesellschaft 2015, 278 Seiten, flex. Einb. ISBN 978-3-86764-590-4 <?page no="248"?> www.uvk.de Neues Vertrauen schaffen Das Vertrauen in unsere Währungen sinkt: Die Zentralbanken fluten die Finanzmärkte mit billigem Geld. In Deutschland boomt die Wirtschaft, während in anderen Euro-Ländern hohe Arbeitslosigkeit und Staatspleiten drohen. Kann ein System mit Niedrigzins, Deflationsgefahr und geliehenem Wohlstand dauerhaft bestehen oder sollte eine Suche nach alternativen Geldsystemen beginnen? Schließlich haben Menschen seit jeher auch andere Tausch- und Finanzsysteme verwandt. Und: Heute sind Miles & More-Punkte, realer Warentausch oder digitale Währungen wie Bitcoins bereits Realität. Auch die Systemfrage stellt sich: Sollten allein Zentralbanken Geld ausgeben oder auch die Geldausgabe frei für Jedermann möglich sein? Lernen Sie durch das Buch mehr über das aktuelle Geldsystem und seine Alternativen in Form von Ersatz- oder Komplementärwährungen, die neues Vertrauen schaffen könnten. Ottmar Schneck, Felix Buchbinder Eine Welt ohne Geld Alternative Währungs- und Bezahlsysteme in einer immer turbulenteren Finanzwelt 2015, 250 Seiten, Flexcover ISBN 978-3-86764-601-7 19,99 € <?page no="249"?> www.uvk.de Der Einfluss der Kirche auf die Wirtschaft Ökonomie und Kirche - das ist kein Widerspruch. Klöster häuften früher durch geschicktes Handeln ein gewaltiges Vermögen an. Heute finden religiöse Werte durch den Corporate-Governance-Kodex Eingang in die Geschäftswelt und christliche Parteien prägen die Wirtschaftspolitik. Auf das Spannungsfeld zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gehen Päpste durch Sozialenzykliken seit dem 19. Jahrhundert ein: Leo XIII. forderte 1891 Lohngerechtigkeit sowie Arbeitnehmerrechte und gab damit der Sozialpolitik in Europa Aufwind. Weitere Sozialenzykliken folgten, wenn das freie Spiel der Marktkräfte zu sozialen Problemen führte. 2009 verwies Benedikt XVI. nach der Finanzkrise darauf, dass Globalisierung von einer »Kultur der Liebe« beseelt sein müsse. Damit brachte er die Globalisierung mit Verteilungsgerechtigkeit und Gemeinwohl in Zusammenhang. Auf die Sozialenzykliken der Päpste gehen die Autoren im Detail ein: Sie beleuchten den geschichtlichen Kontext ebenso wie deren Auswirkungen auf Wirtschaft und Politik. So skizzieren sie einen dritten Weg der Päpste - ein alternatives Wirtschaftskonzept zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Hans Frambach, Daniel Eissrich Der dritte Weg der Päpste Die Wirtschaftsideen des Vatikans 2015, 283 Seiten, Flexcover ISBN 978-3-86764-600-0 19,99 €