Fatale Gewalt
Ehre, Subjekt und Kriminalität am Übergang zur Moderne. Das Beispiel Bern 1868-1941
0213
2017
978-3-7398-0155-1
978-3-8676-4719-9
UVK Verlag
Dr. Maurice Cottier
Maurice Cottiers Studie zur Praxis und Wahrnehmung von interpersonaler Gewalt in Bern nimmt erstmals in der deutschsprachigen Gewaltforschung das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert in den Blick.
Gestützt auf die Auswertung von über dreihundert Gerichtsakten zu schweren Gewalt- und Sexualdelikten sowie in einer dezidiert diachronen Perspektive untersucht der Autor, wie sich Gewaltverhalten und -narrative am Übergang von einer Ehr- zu einer modernen Subjektkultur wandelten. Dabei zeigt sich, dass die Ausbreitung einer veränderten Auffassung von Gewalt als affektiv, leidenschaftlich und damit als subjektiv motiviertes Handeln einerseits Gewalttaten im Sinne der Ehre einschränkte, anderseits aber eine spezifische Gewaltkultur hervorbrachte, in der sich die Akteure als tragische Helden stilisierten.
Maurice Cottier Fatale Gewalt Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven Herausgegeben von Martin Dinges · Joachim Eibach · Mark Häberlein Gabriele Lingelbach · Ulinka Rublack · Dirk Schumann · Gerd Schwerhoff Band 31 Wissenschaftlicher Beirat: Richard Evans · Norbert Finzsch · Iris Gareis Silke Göttsch · Wilfried Nippel · Gabriela Signori · Reinhard Wendt Maurice Cottier Fatale Gewalt Ehre, Subjekt und Kriminalität am Übergang zur Moderne. Das Beispiel Bern 1868-1941 UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz und München Die Druckvorstufe dieser Publikation wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt. Es handelt sich hierbei um die veränderte Fassung von Maurice Cottiers Doktorarbeit, die 2015 an der Universität Bern angenommen wurde. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1437-6083 ISBN 978-3-86764-719-9 (Print) ISBN 978-3-7398-0154-4 (EPUB) ISBN 978-3-7398-0155-1 (EPDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2017 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandfoto: Staatsarchiv des Kantons Bern (StAB) BB 15. 4. 2225 2638 Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de 5 Inhalt Vorwort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Tatort Bern: Eine Stadtregion im Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Die Berner Strafjustiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Das Berner Strafgesetzbuch von 1866. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Die Controllen der Assisen und Archivkontrollen der Kriminalkammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3. Die Gewalt in der Geschichte und die Geschichte der Gewalt. . . 27 Rückgang der gewaltsamen Tötungen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Ein Prozess der Zivilisation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Gewalt und Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Gewalt und Emotionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Spiel, Emotionen, Ehrhabitus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Gewalt in Familien- und Intimbeziehungen am Übergang zur Moderne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Gefühle im Zivilisationsprozess. Diskurs und Praxis der ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘. . . . . . . . . . . . . . 45 Subjektivität als widersprüchlicher Habitus der Moderne . . . . . . . . . . . 47 Tragische Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Wandlungen bei der sexuellen Gewalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Sexuelle Gewalt und Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 4. Die Berner Untersuchungsakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Verhörprotokolle als ‚Selbstzeugnisse‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Dreifache Lesart der Verhörprotokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 6 II. Gewalthandeln und Wahrnehmung der Gewalt im Amtsbezirk Bern 1868-1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 5. Ehrbezogene Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Sozialprofile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Gesellige Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . 87 Züchtigende Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Praktiken und Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Gesellige Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . 98 Züchtigende Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Sicht- und Hörbares: Narrative über ehrbezogene Gewalt . . . . . . . . . 104 Fazit: Wandel und Bedeutungsverlust der Ehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 6. Fatale Gewalt und tragische Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Sozialprofile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Praktiken und Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Ereignisse im Vorfeld der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Planung und Ankündigung der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Einsatz von Schusswaffen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Thematik der Selbsttötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Abgrenzungen von anderen Gewalttypen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Tragische Narrative über fatale Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Liebend, aufgeregt, deprimiert und eifersüchtig - Sprechen über das Subjektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Vernünftig-normale Subjektivität und die Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . 134 Die Selbstzeugnisse fataler Gewalttäter als tragische Erzählungen. . 144 Fazit: Der tragische Modus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 7. Sexuelle Gewalt, Schande und Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Sozialprofile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Sexuelle Gewalt gegen Erwachsene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Sexuelle Gewalt gegen Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Sexuelle Gewalt in Familie und Haushalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Praktiken und Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Sexuelle Gewalt gegen Erwachsene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Sexuelle Gewalt gegen Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 7 Sexuelle Gewalt in Familie und Haushalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Sicht- und Hörbares: Narrative über ehrbezogene sexuelle Gewalt . . . 182 Fazit: Das Spiel der Schande. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 8. Sexuelle Gewalt und Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Sozialprofile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Sexuelle Gewalt gegen Erwachsene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Sexuelle Gewalt in Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen . . . . . . . . . . . . 197 Praktiken und Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Sexuelle Gewalt gegen Erwachsene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Sexuelle Gewalt in der Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen . . . . . . . . . . . . 201 Narrative über subjektbezogene sexuelle Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Sexuelle Gewalt gegen Erwachsene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Sexuelle Gewalt in der Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen . . . . . . . . . . . . 205 Fazit: Leidenschaft, Tragik und Anomalie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 III. Zusammenfassung: Von der Ehre zur Subjektivität . . . . . 221 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 3. Onlineliteratur und -quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 4. Zeitgenössische Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 5. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 6. Archivquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 8 Verzeichnis der Diagramme Diagramm 1: Registrierte schwere Gewalt- und Sexualdelikte im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Diagramm 2: Registrierte ehrbezogene körperliche Gewalt im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Diagramm 3: Registrierte gesellige Gewalt im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Diagramm 4: Registrierte Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . 81 Diagramm 5: Registrierte schwere Züchtigungsgewalt im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Diagramm 6: Registrierte fatale Gewalt im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Diagramm 7: Registrierte ehrbezogene sexuelle Gewalt im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Diagramm 8: Registrierte ehrbezogene sexuelle Gewalt gegen Erwachsene im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 . . . . . . . . . . . 169 Diagramm 9: Registrierte ehrbezogene sexuelle Gewalt gegen Kinder im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . . 170 Diagramm 10: Registrierte ehrbezogene sexuelle Gewalt in Familien und im Haushalt im Amtsbezirk Bern 1870-1939 . . . . . 171 Diagramm 11: Registrierte subjektbezogene sexuelle Gewalt gegen Erwachsene im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 . . . . . . . . . . . 195 Diagramm 12: Registrierte subjektbezogene sexuelle Gewalt in Familien und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 9 Vorwort und Dank Mit dem vorliegenden Buch nimmt ein langjähriges Forschungsprojekt sein vorläufiges Ende. Der Startschuss bildete im Frühlingssemester 2006 ein Vortrag von Joachim Eibach an der Universität Bern mit dem Titel „Hermeneutisches Dechiffrieren vs. quantitative Analyse. Was können uns Verhörprotokolle sagen? “. Der Vortrag war Teil eines von der Fachschaft organisierten Methodikkolloquiums, in dem fortgeschrittene Forscherinnen und Forscher über methodische Aspekte ihres Arbeitens Auskunft gaben. Übersättigt von der Auseinandersetzung mit Theorien der Geistes- und Sozialwissenschaften war ich auf der Suche nach einem - wie ich es damals verstand - durch und durch empirischen Forschungsvorhaben. Ich saß also im Vorlesungssaal und lauschte den Ausführungen zu Frankfurter Gewaltdelikten aus dem späten 18. Jahrhundert und was diese uns über städtische Lebenswelten im späten 18. Jahrhundert sagen können. Ich war beeindruckt und bald darauf begab ich mich ein erstes Mal ins Staatsarchiv des Kantons Bern, wo ich mehr oder weniger willkürlich nach Gerichtsakten zu Gewaltverbrechen aus dem 19. Jahrhundert verlangte. Als erstes bekam ich einen Fall zu einer Wirtshausschlägerei in den 1860er-Jahren in die Hände und versuchte im Anschluss zwei Wochen lang mühsam die Kurrentschrift zu entziffern. Viele weitere Akten folgten und aus einer Seminararbeit im Jahr 2008 wurde 2009 eine Lizentiats- und schließlich 2015 eine Doktorarbeit. Meine Begeisterung beim Umgang mit Gerichtsakten hat nicht nachgelassen. Dabei ist es nicht die darin dokumentierte Gewalt, die mich fasziniert. Im Gegenteil: Die Lektüre der Akten fiel mir teilweise nicht leicht. Die Extremsituation des Gewalthandelns macht aber - trotz notwendiger Quellenkritik - vergangene Lebensrealitäten auf sehr konkrete Art sichtbar. Was mich berührte und immer noch berührt, ist die Nähe, die die detailreichen Verhörprotokolle zu den beteiligten Menschen, ihren Handlungs- und Wahrnehmungsmustern herstellen. Ein Dissertationsprojekt bedarf der Finanzierung. In meinem Fall ermöglichten Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) und anschließend die Dr. Joséphine de Karman-Stiftung, dass ich mich dreieinhalb Jahre vollständig meiner Forschung widmen konnte. Arbeiten im Archiv und das Schreiben eines Buches ist glücklicherweise nicht gänzlich die Leistung eines Einzelnen. Viele haben das Projekt begleitet und unterstürzt. All ihnen bin ich zutiefst zu Dank verpflichtet. Barbara Studer Immenhauser, Staatsarchivarin des Kantons Bern und ihr Vorgänger Peter Martig bringen Historikerinnen und Historikern viel Vertrauen entgegen. Ohne ihre Offenheit gegenüber Forschenden hätte diese wie viele 10 andere Arbeiten nicht geschrieben werden können. Mein Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Staatsarchivs des Kantons Bern, die unzählige Male in den Keller stiegen, um mir die einzelnen Schachteln - meistens mehrmals - in den Lesesaal zu bringen. Joachim Eibach machte mich nicht nur vor über zehn Jahren auf die Thematik aufmerksam, sondern betreute auch alle meine Qualifikationsarbeiten. Ich schätze seine umsichtige Art, mein Schaffen zu begleiten und mich zu fördern. Er unterstützt auch nach Abschluss des Projekts weiterhin großzügig meinen Werdegang. Ebenfalls wichtigen Einfluss auf das Forschungsprojekt hatten der Austausch mit meinem Zweitbetreuer Gerd Schwerhoff, bei dem ich meine provisorischen Forschungsarbeiten 2014 an der TU Dresden vorstellen konnte, und dessen Gutachten die Überarbeitung des Manuskripts noch einmal wesentlich beeinflusste. Zwei Einladungen von Caroline Arni nach Basel 2011 und 2014 schärften meinen kritischen Blick beim Umgang mit den Quellen. Ebenso hat der dreimonatige Forschungsaufenthalt am Centre d’histoire du XIXe siècle bei Dominique Kalifa im Frühjahr 2014 Spuren in meiner Arbeit hinterlassen. Fruchtbar war auch der Austausch mit Peers aus anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, den mir meine Mitgliedschaft an der Graduate School am Institute of Advanced Study in the Humanities and Social Sciences (heute integriert in den Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern) ermöglichte. Dafür verantwortlich war nicht zuletzt der unermüdliche Einsatz der beiden Koordinatoren der Graduate School, Manuela Rossini und später Michael Toggweiler, die für uns Doktorierende eine angenehme und abwechslungsreiche Arbeitsatmosphäre schufen. Meine Peers am Historischen Institut der Universität Bern haben das Projekt ebenfalls durch ihr großes Interesse und tatkräftigen Support unterstützt. Mit Silvio Raciti und Sonja Matter konnte ich mich stets über methodische und inhaltliche Dinge unterhalten. Roman Bonderer hat bei der Fertigstellung des Manuskripts geholfen. Meine beiden Kollegen aus dem Büro D 314, Arno Haldemann und Eric A. Häusler, haben mich nicht nur durch stetige Diskussionsbereitschaft und Korrekturlesen unterstützt, sondern in Zeiten größerer Arbeitsbelastung auch für manchen heiteren Moment gesorgt. Ganz besonderer Dank geht an meinen Freund aus Schul- und Studienzeiten, Manuel Schär, der vor der Abgabe das gesamte Manuskript sorgfältig lektorierte. Uta C. Preimesser von der UVK Verlagsgesellschaft hat die Finalisierung des Projekts mit ihrer freundlichen Art begleitet und dabei immer wieder mit viel Geduld auf zahlreiche Verspätungen reagiert. In der letzten Phase hat zudem Lena-Sophie Margelisch als Hilfsassistentin viel zur Umwandlung des Manuskripts in ein Buch beigetragen. Bedanken möchte ich mich auch bei meinen Freunden, Geschwistern und Eltern. Sie alle haben mich auf ihre jeweils eigene Weise auf meinem Weg begleitet und mir geholfen. Spezieller Dank gebührt Christina und der kleinen 11 Margot Sibylle, die meinen großen Rückhalt bilden. Die beiden mussten mit meinen zeitweiligen physischen und mentalen Abwesenheiten zurechtkommen und meisterten dies großartig. Ihre Unterstützung kann ich nicht hoch genug einschätzen. Bern, im Oktober 2016 13 I. Einleitung 1. Tatort Bern: Eine Stadtregion im Umbruch Um 1900 hielt in Bern die Moderne Einzug. Wie viele mittelgroße Stadtregionen in Europa durchlief die Schweizer Bundesstadt mit den umliegenden Dörfern eine tiefgreifende ökonomische, soziale und kulturelle Transformation. 1 Ermöglicht durch den Eisenbahnbau seit den 1850er-Jahren setzte ab 1880 und vor allem nach 1890 eine verhältnismäßig späte Industrialisierung ein. 2 Um die Jahrhundertwende läuteten die ersten Warenhäuser das Zeitalter des Massenkonsums ein. 3 Berufe des alten Handwerks gerieten wegen des verstärkten Konkurrenzangebots aus industrieller Produktion in Bedrängnis und verschwanden zunehmend. Auch die Dörfer rund um die Stadt spürten den Puls der Zeit. Durch die Revolution des Verkehrs wurde die Landwirtschaft schrittweise auf die Bedürfnisse der internationalen Märkte zugeschnitten. Die Mechanisierung und Verwissenschaftlichung sorgten dafür, dass die bäuerlich-ländliche Bevölkerungsgruppe mit dem Tempo der Stadt einigermaßen schritthielt. 4 Die Industrialisierung dynamisierte das Bevölkerungswachstum. In den sieben Jahrzehnten des Untersuchungszeitraums vervierfachte sich die Bevölkerung der Stadt von 38‘000 Einwohner im Jahr 1870 auf 132‘000 um 1941. 5 Das 1 Zu Bern im europäischen Vergleich: Bähler u. a. (2003), S. 16. Der Anteil der Erwerbstätigen aus dem Amtsbezirk Bern, der im industriellen beziehungsweise im Dienstleistungssektor beschäftigt war, stieg auf Kosten der Landwirtschaft von 29 beziehungsweise siebzehn Prozent (1856) über 45 beziehungsweise dreißig Prozent (1888) auf 48 beziehungsweise 41 Prozent (1910). Pfister (1995), S. 438. Zum Bevölkerungszuwachs und zur Transformation der Wirtschaft im Kanton Bern von 1850 bis 1914 vgl. Pfister (1995), S. 231-292. Umfassend zur Geschichte des Kantons Bern im 19. und 20. Jahrhundert vgl. auch Martig/ Gutscher (2011). 2 Zur verspäteten Industrialisierung der Stadt Bern vgl. Stuber (2011), S. 256 f. und Sarasin (2014), S. 611 f. 3 Dubler (2011), S. 326 f.; Lüthi (2011a), S. 174. 4 Die Dörfer rund um die Stadt waren ebenfalls von strukturellen Veränderungen betroffen. Zeitgleich mit dem Einsetzen der Industrialisierung und dem Eisenbahnbau wurde auch die landwirtschaftliche Produktion zunehmend in die internationale Marktwirtschaft integriert. Damit wurde auch die bäuerlich-ländliche Bevölkerungsgruppe mit den Umwälzungen der Zeit konfrontiert und musste sich neuen Arbeitsbedingungen anpassen. Während des Untersuchungszeitraums kam es zu einer verstärkten Mechanisierung und Verwissenschaftlichung im Bereich der Landwirtschaft, was wiederum zu einer politischen, kulturellen und sozialen Annäherung der bäuerlich-ländlichen Bevölkerungsgruppe an die städtisch-moderne Gesellschaft und Kultur führte. Vgl. Stuber (2011), S. 255-257. Umfassend zur Geschichte der Landwirtschaft im späten 19. und 20. Jahrhundert: Baumann/ Moser (1999). Eine Überblicksdarstellung über die Schweizer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zwischen 1848 und 1914 gibt zuletzt Wecker (2014). 5 Auch in den umliegenden Dörfern lebten immer mehr Menschen, sodass die Einwohnerzahl 14 Wachstum führte zu intensiver Bautätigkeit. Neue Wohnquartiere entstanden außerhalb der historischen Stadtgrenzen, wodurch die Dörfer näher an die Stadt heranrückten. Aus einer in vieler Hinsicht noch frühneuzeitlich geprägten Gesellschaft wurde eine moderne Industrie-, Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft. Die Umwälzungen beeinflussten die sozialen Beziehungen. Die Durchsetzung der Lohnarbeit zerstörte alte nicht-monetäre Abhängigkeits- und Schutzverhältnisse und führte zu einer Individualisierung. Die Zeit um 1900 war auch geprägt durch eine Neuordnung der Beziehungen zwischen Mann und Frau. Vor dem Hintergrund der individuellen Lebensgestaltung wurde die romantische Liebe in allen Gesellschaftsschichten zum Referenzpunkt der Ehe- und Familienbeziehungen. Das emotionale Band der Liebe machte Ehe und Familie zu äußerst fragilen Gebilden. Die Neuordnung der Geschlechterbeziehung blieb daher nicht ohne Krisenerscheinungen, was sich in einer starken Zunahme der Scheidungen in der Bundesstadt zeigte. 6 Gleichzeitig verdrängte ein neues Freizeitangebot zunehmend die alte Wirtshaus- und Tanzgeselligkeit. Turnvereine und Fußballklubs wurden gegründet. Fahrradfahren kam in Mode, wie aus zeitgenössischen Zeitungsannoncen ersichtlich wird. Das Stadttheater, welches 1903 in ein neues Gebäude einzog, lockte auch die weniger wohlhabenden Bernerinnen und Berner mit Vorstellungen „zu kleinen Preisen“. 7 Nach der Jahrhundertwende hielt zudem das Kino Einzug und machte dem Theater den Rang streitig. 8 Die tiefgreifende soziokulturelle Transformation Berns um 1900 veränderte die Menschen. Das Verhalten, die Wahrnehmungsweisen und das Empfinden der Bernerinnen und Berner wurden - so die zentrale These dieser Arbeit - immer weniger durch den alteuropäischen Ehrhabitus und zunehmend durch den spezifisch modernen Subjekthabitus bestimmt. Dies hatte Auswirkungen auf das Gewaltverhalten und die Gewaltwahrnehmung. Während die Forschung auf das Gewaltpotenzial der Ehre bereits mehrfach verwiesen hat, muss der Zusammenhang zwischen moderner Subjektivität und Gewalt noch erforscht werden. des gesamten Amtsbezirks von 60‘000 (1870) auf 135‘000 (1920) und später 173‘000 (1941) anstieg. Der Anstieg der Einwohnerzahl der Stadt von 99‘000 auf 132‘000 in den Jahren 1920 bis 1941 ist teilweise auf die Eingemeindung des Bauerndorfes Bümpliz mit 6000 Einwohnern im Jahr 1919 zurückzuführen. Der Amtsbezirk Bern umfasste neben der Stadt Bern, die ländlichen Dörfer Bolligen, Bümpliz (bis 1919), Bremgarten, Kirchlindach, Köniz, Muri, Oberbalm, Stettlen, Vechigen und Wohlen. Für die Bevölkerungszahlen vgl. die von Christian Pfister herausgegebene Online-Datenbank Bernhist. Pfister (1994-2002). Zur Bevölkerungs- und Migrationsgeschichte des Kantons Bern zwischen 1700 und 1914 vgl. Pfister (1995), S. 91-159. 6 Arni (2004), S. 66-71. 7 Intelligenzblatt für die Stadt Bern, 31.12.1899. 8 Zur Geschichte des Sports, Kinos und Theaters in Bern im 19. Jahrhundert: Lüthi (2011b); Tschui/ Veraguth (2011); Zaugg (2011). Für eine Kulturgeschichte Europas in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg: Blom (2011). 15 Der Wandel von einer Ehrzu einer Subjektgesellschaft veränderte sowohl Praxis als auch Wahrnehmung der interpersonalen Gewalt. Dies anhand von 182 gerichtlichen Untersuchungsakten zu den schweren Gewaltverbrechen „Mord“, „Totschlag“, „Misshandlung“ und „Raufhandel“ sowie 181 zu den schweren Sexualverbrechen „Notzucht“ und „Schändung“ aus dem Amtsbezirk Bern aus den Jahren 1868 und 1941 aufzuzeigen, ist die grundlegende Aufgabe dieses Forschungsvorhabens. 9 Der Untersuchungszeitraum 1868 bis 1941 wurde gewählt, weil in dieser Zeit das Berner Justizsystem im Wesentlichen unverändert blieb und zudem bis auf zwei Ausnahmen alle Untersuchungsakten überliefert sind. Dies sind wichtige methodische Voraussetzungen, denn dadurch können die seriell angelegten Untersuchungsakten als Maßstab für den Wandel des Gewalthandels und der Wahrnehmung von Gewalt durch die historischen Akteure dienen. Neben schweren Gewaltverbrechen thematisiert diese Arbeit anhand von schweren Sexualdelikten auch Veränderungen der Wahrnehmung und Ausübung von sexueller Gewalt in der Stadtregion Bern um 1900. Die Unterscheidung von ‚sexueller‘ und ‚körperlicher‘ Gewalt ist natürlich arbiträr, denn beide zielen gegen den Körper. Trotzdem werden sie in der historischen Gewaltforschung meist unabhängig voneinander erforscht. 10 Ein Grund dafür dürfte in der unterschiedlichen juristischen Handhabung beider Gewaltphänomene liegen. Wie noch genauer gezeigt werden soll, wurde sexuelle Gewalt rechtlich nicht als Delikt gegen Personen, sondern gegen die Sittlichkeit kategorisiert - so auch im Kanton Bern zwischen 1868 und 1941. Es handelt sich daher um unterschiedliche Quellenbestände. Ebenso wichtig ist aber auch, dass sich die quantitative Auswertung der Gewalttaten, die bei Tötungsdelikten einen wichtigen Pfeiler der Forschung ausmacht, bei der sexuellen Gewalt aus mehreren Gründen schwierig gestaltet. Dadurch unterscheiden sich auch die Forschungsfragen. Schließlich ist auch der Forschungstand unterschiedlich weit. Während zahlreiche Studien zur schweren körperlichen Gewalt existieren, ist die sexuelle Gewalt weit weniger erforscht - insbesondere in Hinblick auf zeitliche Veränderungen. Auffallend ist, dass die Häufigkeit der gerichtlichen Untersuchungen sowohl gegen sexuelle als auch körperliche Gewalt im Amtsbezirk Bern während der erforschten Zeitspanne starken Schwankungen unterworfen war. Eine Aufteilung der 182 Gewalt- und 181 Sexualdelikte nach Jahrzehnten ergibt folgendes Bild: 9 Das Phänomen der interpersonalen Gewalt tritt durch den Fokus auf die Institution Strafjustiz deutlich zu Tage. Gleichzeitig schränkt diese Quellenwahl Gewalt als Untersuchungsgegenstand auch ein. Denn Formen psychischer, struktureller, politischer oder kriegerischer Gewalt gehören aufgrund dieses präferierten Zugangs nicht zu den Untersuchungsgegenständen der auf die Auswertung von Strafgerichtsakten spezialisierten historischen Gewaltforschung. Schwerhoff (2011), S. 40-48. Einen Überblick über das breite Spektrum des Gewaltbegriffs in den Geistes- und Sozialwissenschaften gibt Schnell (2014). In Kapitel 2 wird genauer auf die Definition der Straftatbestände eingegangen. 10 Ausnahmen stellen Töngi (2004) und Schwerhoff (1991) dar. 16 Diagramm 1: Registrierte schwere Gewalt- und Sexualdelikte im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 11 Signifikant ist der Rückgang der gerichtlichen Untersuchungen wegen schwerer Gewaltdelikte. Zwar kam es in den 1880er- und 1890er-Jahren zwischenzeitlich zu einem leichten Anstieg der Untersuchungen, jedoch ist diese moderate Zunahme der Fälle auf das Bevölkerungswachstum zurückzuführen. Setzt man die Fallzahlen ins Verhältnis zur Bevölkerungsgröße wird erkennbar, dass die Gewaltverbrechen während der gesamten Untersuchungsperiode stark rückläufig waren. Aufgrund der Stabilität des strafrechtlichen Rahmens zwischen 1868 und 1941 können die quantitativen Schwankungen der Untersuchungen nicht auf eine veränderte Registrierungs- und Archivierungspraxis zurückgeführt werden. Es ist unwahrscheinlich, dass Gewalthandlungen, die bleibende körperliche Schäden zur Folge hatten oder für die Opfer tödlich endeten, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar gleich häufig begangen, aber bloß weniger oft behördlich untersucht wurden. Es ist also von einem effektiven Rückgang schwerer Gewalt auszugehen. Bern ist dabei keine Ausnahmeerscheinung. Die Berechnung sogenannter Tötungsraten zeigt, dass das Risiko, einen gewaltsamen Tod zu sterben, generell in Europa seit 1800 signifikant zurückging - auch in der Schweiz. 12 11 Da die einzelnen Einträge in den Registern nicht durchgängig mit einer Jahreszahl versehen sind, erfolgt die Einteilung nach dem Datum der Tat, welches in den Untersuchungsakten ersichtlich ist. Drei Fälle mit schwerer körperlicher Gewalt und vier Fälle mit schwerer sexueller Gewalt fallen auf die Jahre 1868 und 1869, ein Fall von schwerer körperlicher Gewalt stammt aus dem Jahr 1941. Diese Fälle sind nicht im Diagramm berücksichtigt. Folgende, von Pfister (1994-2006) bereitgestellte Bevölkerungszahlen für den Amtsbezirk Bern wurden für die Berechnung verwendet: 1870: 58‘810 Einwohner; 1880: 63‘399; 1888: 71‘697; 1900: 92‘385; 1910: 117‘949; 1920: 135‘152; 1930: 146‘277. 12 Eisner (2003); für die Schweiz vgl. Bieri (1998), S. 47. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Anzahl schwere Gewaltdelikte pro Jahrzent Anzahl schwere Sexualdelikte pro Jahrzehnt Schwere Gewaltdelikte pro 100‘000 Einwohner Schwere Sexualdelikte pro 100‘000 Einwohner 17 Im Unterschied zur schweren körperlichen Gewalt nahmen die gerichtlichen Untersuchungen wegen Notzucht und Schändung in den Jahrzehnten vor 1900 zu - sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. Nach der Jahrhundertwende ist der Trend hingegen fast identisch. Auch diese Schwankungen können nicht auf eine veränderte juristisch-institutionelle Handhabung der Fälle zurückgeführt werden. Es stellt sich daher die Frage, ob sexuelle Gewalt tatsächlich zuerst seltener, dann häufiger und schließlich wieder seltener begangen wurde oder ob die Fallzahlen weniger die quantitative Dimension der Gewalt als vielmehr die Veränderungen der Toleranz gegenüber Gewalt widerspiegeln. Bei der Tötungsgewalt wird der zunehmende Verzicht auf Gewalt häufig mit Verweis auf den Soziologen Norbert Elias als Zivilisierungsprozess erklärt. 13 Immer mehr Menschen hätten im Verlauf dieses Prozesses eine Fähigkeit zur Affektkontrolle entwickelt. Diese Theorie aus den 1930er-Jahren ist aber defizitär und war bereits Gegenstand ausführlicher Kritik. Grundsätzlich besteht das Problem darin, dass die Bewohner des vormodernen Europas tendenziell als trieb- und affektgesteuerte ‚Naturwesen‘ konzipiert werden, während nur moderne Menschen ihre Emotionen stärker zu kontrollieren vermögen. Eine überzeugende Alternative zu diesem Ansatz, den quantitativen Rückgang tödlicher Gewalt zu erklären, besteht allerdings bis heute nicht. Um den Veränderungen der Gewaltverbrechen auf andere Weise auf die Spur zu kommen, sollen die Untersuchungsakten mit Blick auf die Transformation Berns von einer alteuropäischen Ehrzu einer modernen Subjektgesellschaft einzeln ausgewertet werden. Methodisch-theoretisch orientiert sich die Studie dabei an einer von der Sozialanthropologie und Mikrogeschichte inspirierten Sichtweise auf Gewalt, die vor allem von Historikerinnen und Historikern aus dem deutschsprachigen Raum in Ablehnung an Elias‘ Zivilisierungsthese entwickelt wurde. 14 Gewalt - ob sexuell oder nicht - war und ist nicht einfach als pure Aggression, sondern als kulturell hervorgebracht, modelliert, mitunter ritualisiert oder auch kommunikativ zu verstehen. 15 Gewaltgeschichte ist daher immer auch Kulturgeschichte, wie Rebekka Habermas und Gerd Schwerhoff festhalten. 16 In diesem Sinn halten zahlreiche kulturhistorisch ausgerichtete Forschungen zur Frühen Neuzeit fest, dass das vormoderne Gesellschaftssetting Menschen dazu zwang, öffentliche Angriffe gegen die Ehre um jeden Preis zu verteidigen - nötigenfalls unter Einsatz von Gewalt. Angriffe auf den Körper hatten daher 13 Elias (1997), Bd. 1 und 2. 14 Für die Kritik an der Zivilisierungstheorie aus der Warte der Gewaltforschung vgl. Dinges (1998a); Schwerhoff (1998). 15 Zum kommunikativen Charakter der Gewalt vgl. Walz (1992); Eriksson/ Krug-Richter (2003). Zum Ritualcharakter der Gewalt vgl. Eibach (2003), S. 236-241. 16 Habermas/ Schwerhoff (2009), S. 9-12. Für eine Übersichtsdarstellung zu den Methoden der historischen Kriminalitätsforschung vgl. Schwerhoff (2011), S. 40-71. Für diesen Ansatz aus soziologischer Perspektive vgl. Trotha (1997). 18 eine gewisse soziokulturelle Legitimation und folgten mehr oder weniger ausgeprägten Codes - insbesondere bei Straßen- und Wirtshausschlägereien zwischen Männern. 17 In einem Aufsatz aus dem Jahr 2009 weist Joachim Eibach darauf hin, dass in der deutschsprachigen Gewaltforschung im Gegensatz zur Frühen Neuzeit das späte 19. und vor allem das frühe 20. Jahrhundert bisher mit Ausnahme der Duellpraxis der bürgerlich-adligen Oberschichten kaum erforscht wurden. 18 An dieser Tatsache hat sich seither nichts geändert. 19 In dieser Arbeit wird daher das anhand von frühneuzeitlichen Städten bereits erprobte, dezidiert kulturhistorisch ausgerichtete Instrumentarium der deutschsprachigen historischen Kriminalitätsforschung erstmals auf das Gewalthandeln in einer Stadtregion am Übergang zur Moderne angewendet. Aufgrund der soziokulturellen Dynamik Berns um 1900 untersucht das Forschungsvorhaben - stärker als es bisher in der historischen Gewaltforschung im deutschsprachigen Raum der Fall war - das Gewalthandeln und die Wahrnehmung der Gewalt in einer diachronen Perspektive. 20 Anders als in der deutschsprachigen liegen aus der französisch- und englischsprachigen Forschung mehrere Arbeiten zu Städten im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor. Die Befunde legen nahe, dass gewaltsame Tötungen nicht nur zurückgingen, sondern auch ihre Gestalt änderten. Während die alteuropäischen ehrbezogenen Gewaltformen in Wirtshaus, Nachbarschaft und Haus seltener wurden, kam ein anderer Typus interpersonaler Gewalt vermehrt auf. 21 Dabei handelte es sich um gezielte Tötungen von Familienmitgliedern und Intimpartnern - oft im Zusammenhang mit einer (versuchten) Selbsttötung der Täter. Das Aufkommen der ‚fatalen Gewalt‘ - so wird dieser Typus in der Folge aufgrund der schicksalshaften Bedeutung, die die Täter ihrer Tat beimaßen, konzipiert - ist auch für Bern um 1900 feststellbar. Die Zunahme der fatalen Gewalt wirft eine entscheidende Frage auf. Ist es möglich, dass die moderne Subjektkultur nicht nur zu einem kaum zu bestreiten- 17 Konzeptuell zum Zusammenhalt von Ehre und Gewalt in frühneuzeitlichen Gesellschaften: Burghartz (1990); Schwerhoff (1991), S. 312-322; Walz (1992); Schreiner/ Schwerhoff (1995); Dinges (1995); Frank (1995); Dinges (1998a); Backmann u. a. (1998); Schuster (2000), S. 86-104; Spierenburg (1998), (2008), S. 7-10; zuletzt: Ludwig (2011); Ludwig/ Krug-Richter/ Schwerhoff (2013), Schwerhoff (2013). 18 Eibach (2009), S. 204 f. 19 In den bisherigen Arbeiten zum 19. Jahrhundert stehen weniger die Akteure im Vordergrund, die in den Fokus der Strafjustiz gelangten, und deren Praktiken, sondern eher die Herausbildung eines neuen bürgerlich-modernen Strafjustizsystems. Dabei sind institutions- und diskurshistorische Fragestellungen zentral. Ludi (1999); Becker (2005); Habermas (2008); Ortmann (2014). 20 Auf den Umstand, dass bisher synchrone Fragestellungen die deutschsprachige Forschung dominieren, verweist zuletzt Schwerhoff (2013), S. 28. Die Frage nach diachronen Entwicklungen stellt auch Eibach (2009 und 2016). 21 Guillais (1991); Parrella (1992); Adler (2006); Roth (2009), S. 279-290. 19 den allgemeinen Rückgang tödlicher Gewalt führte, sondern parallel dazu auch bestimmte Gewaltphänomene begünstigte? Elias’ Theorie ist für die Beantwortung dieser Fragen nicht geeignet. Denn die Persistenz der interpersonalen Gewalt unter anderen Vorzeichen sperrt sich gegen die These der zunehmenden Affekt- und Selbstkontrolle in der Moderne. Allerdings sollte dieser Ansatz nicht einfach falsifiziert und in den Mülleimer verworfener Theorien gekippt werden. Denn John Carter Wood weist darauf hin, dass das Zivilisierungsnarrativ, das Elias in den 1930er-Jahren aufgriff, bereits im 19. Jahrhundert als einflussreiches kulturelles Deutungsmuster präsent war. 22 Das aus heutiger Sicht aus manchen Gründen problematische Verständnis, dass Gewalt rein leidenschaftlich und affektiv ist, muss daher im Sinn einer Quelle, die ein für die moderne Subjektkultur typisches und dabei höchst ambivalentes Wahrnehmungsmuster dokumentiert, unbedingt im Blick behalten werden. Denn die ‚zivilisierte‘ Wahrnehmung animierte nicht nur zum Gewaltverzicht. Die scharfe Trennung zwischen Vernunft und Leidenschaft bot gleichzeitig Raum für Gewaltfantasien, die sich in Form der fatalen Gewalt in der Praxis niederschlugen. Während sich die Abwendung von Gewalt auf den Diskurs rationaler Selbstbeherrschung stützte, speiste sich die Faszination ‚leidenschaftlicher‘ Gewalt aus ästhetischen Skripts aus dem Bereich der Kunst, insbesondere aus der Romantik, in der das Credo der Vernunft nicht berücksichtigt werden musste. Innerhalb der modernen Subjektkultur wurde Gewalt also - ob negativ oder positiv - als ‚leidenschaftlich‘ und ‚affektiv’ konnotiert. Dies macht es notwendig, die bisherigen Forschungskonzepte der Gewaltforschung mit den Erkenntnissen der noch jungen „Geschichte der Gefühle“ (Ute Frevert) anzureichern und zu erweitern. 23 Gewalthandlungen sind sowohl in der Vormoderne als auch in der Moderne eine emotionale Angelegenheit. Dies hat die deutschsprachige Forschung aufgrund ihrer Ablehnung von Elias‘ Ansatz bisher zu wenig berücksichtigt. Die historische Emotionsforschung neuer Prägung konzipiert Gefühle nicht als universell und über die Zeit unveränderlich und damit außerhalb der Kultur stehend, sondern als durch diverse Umwelteinflüsse beeinflusst und modelliert. 24 Wenn in der Folge die Emotionalität der Gewalt hervorgehoben wird, geschieht dies nicht in der Absicht, die historischen Akteure erneut im Sinne von Elias in affekt- oder triebgesteuerte Menschen zu verwandeln. Vielmehr gilt es, anhand des Beispiels von Bern zu zeigen, wie der tiefgreifende soziokulturelle Wandel um 1900, der ungefähr zeitgleich in zahlreichen europäischen Städten stattfand, auch die Gefühlswelten der Menschen und damit die Praxis und Wahrnehmung interpersonaler Gewalt veränderte. 22 Carter Wood (2004), S. 17. 23 Frevert (2009). 24 Für die jüngsten thematischen Einführungen in die historische Emotionsforschung vgl. Reddy (2001); Rosenwein (2010); Plamper (2012); AHR Conversation (2012); Frevert (2013). 20 Die Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: Das folgende Kapitel beschäftigt sich im Sinne einer Quellenkritik ausführlich mit der Berner Strafjustiz. In Kapitel 3 werden die Ergebnisse unterschiedlicher theoretisch-methodischer Zugänge und Forschungskontroversen der historischen Gewaltforschung aufgezeigt. Dabei sollen die bisherigen Leistungen des Forschungszweigs gewürdigt, aber auch bestehende empirische und konzeptuelle Schwachstellen aufgezeigt werden. Am Schluss der Einleitung stehen noch einmal quellenkritische und gleichzeitig methodische Aspekte im Vordergrund. Dazu werden in Kapitel 4 die gerichtlichen Untersuchungsakten und insbesondere die darin zahlreich enthaltenen Verhörprotokolle als qualitative Quelle vorgestellt. Da es sich um Dokumente handelt, die von der Strafjustiz zu einem bestimmten Zweck angefertigt wurden, ist es in einem ersten Schritt unerlässlich, den institutionell-rechtlichen Rahmen zu beleuchten, in dem die Akten hergestellt wurden. In einem zweiten Schritt folgen methodische Überlegungen zur Auswertung der Untersuchungsakten und insbesondere der darin enthaltenen Verhörprotokolle. Teil II beinhaltet die empirische Analyse der Berner Untersuchungsakten zu den Delikten Mord, Totschlag, Misshandlung, Raufhandel, Notzucht und Schändung aus der Zeit zwischen 1868 und 1941. Zuerst werden die körperlichen Gewalthandlungen in ehrbezogene und subjektbezogene Gewaltpraktiken unterschieden. Danach folgt eine Darstellung der sexuellen Gewalthandlungen nach dem gleichen Muster. Innerhalb der Kapitel zu den einzelnen Gewalttypen folgt die Gliederung einer dreifachen Lesart der Verhörprotokolle. In systematischer Weise werden zuerst die Sozialprofile der Angeklagten und Opfer rekonstruiert, danach folgt die Beschreibung typischer Handlungsmuster dieses Gewalttyps. Im dritten Abschnitt stehen jeweils bei der Analyse der Verhörprotokolle als Narrative die Wahrnehmungs- und Sinngebungsmuster der Akteure im Vordergrund. Abgerundet wird jedes Kapitel mit einem Fazit. Zuletzt werden die Ergebnisse dieser Forschung im Teil III zusammenfassend dargestellt. 2. Die Berner Strafjustiz Wie eingangs erwähnt, stellt die Stabilität der Berner Strafjustiz während der untersuchten Periode eine wichtige quellenkritische Bedingung für die Fragestellungen dieser Arbeit dar. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, dass die Archivierungs- und Registriertechnik der gerichtlichen Untersuchungen zwischen 1868 und 1941 im Wesentlichen unverändert blieb. Erst dadurch wird es möglich, verlässliche Aussagen über die Veränderungen des Gewalthandelns und der Wahrnehmung von Gewalt in der Berner Bevölkerung zu treffen. 21 Das Berner Strafgesetzbuch von 1866 Der Untersuchungszeitraum orientiert sich an der Gültigkeitsdauer des ersten kantonalen Strafgesetzbuchs des Kantons Bern von 1866, das 1867 in Kraft trat und 1942 von der ersten gesamtschweizerischen Strafrechtskodifikation abgelöst wurde. Damit wird gewährleistet, dass die Definition der Straftatbestände sowie die Strafbestimmungen im fraglichen Zeitraum unverändert blieben. 25 Die Studie beginnt allerdings erst mit dem Jahr 1868, weil ab diesem Zeitpunkt bis auf zwei Ausnahmen sämtliche Untersuchungsakten überliefert sind. Das Strafgesetzbuch für den Kanton Bern von 1866 legte eine Hierarchie der strafbaren Handlungen fest. „Übertretungen“ hatten lediglich „polizeiliche Strafen“ zur Folge. Eine Stufe darüber standen die „Vergehen“, die mit „korrektionellen Strafen“ belegt waren. Die „Verbrechen“ waren die gravierendsten Straftaten und zogen „peinliche Strafen“ nach sich. 26 Entsprechend dieser Abstufung wurden Übertretungen, Vergehen und Verbrechen von verschiedenen Gerichten beurteilt. Für die Übertretungen und Vergehen waren der Polizeirichter oder die Amtsgerichte zuständig. Verbrechen hingegen mussten ausnahmslos von den Assisen - auch Geschworenengerichte genannt - beurteilt werden. 27 Die Kodifikation von 1866 bestätigte damit die Vorgabe der liberalen Staatsverfassung von 1846, die vorsah, dass gravierende Kriminalfälle nach französischem Vorbild nur von Laien beurteilt werden durften. Bereits 1847 hatte der Kanton Bern deshalb die Assisen als höchste Strafgerichtsbarkeit eingeführt. 28 1880 wurde im Rahmen einer kleineren Reform die sogenannte „Kriminalkammer“ eingeführt, die fortan bei Verbrechen unter gewissen Umständen ohne den Wahrspruch der Geschworenen ein Urteil fällen konnte. Neu konnten Angeschuldigte, die sowohl zum Zeitpunkt der Tat als auch zum Zeitpunkt des Geständnisses als zurechnungsfähig galten und zudem ein „unumwundenes Geständnis“ abgegeben hatten, auf eigenen Wunsch auf einen Assisen- oder Ge- 25 Strafgesetzbuch für den Kanton Bern. 26 Peinliche Strafen waren die „Todesstrafe“, die „lebenslängliche“ und die „zeitliche Zuchthausstrafe“. Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 1, 6. Im Gegensatz zu den Straftatbeständen kam es bei den Strafen mit der Abschaffung der Todesstrafe durch die Bundesverfassung von 1874 zu einer Änderung. Straftaten, die vor diesem Zeitpunkt mit der Todesstrafe verfolgt wurden, waren allerdings auch danach mit peinlichen Strafen bedroht. Zum Vollzug und zur Abschaffung der Todesstrafe im Kanton Bern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Thomi (2011). 27 Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 5-8. 28 Neben den „Kriminal-“ sollten auch die „politische[n]- und Pressvergehen“ von den Assisen beurteilt werden. Staatsverfassung des Kantons Bern 1846, Art. 63. Die Berner Strafjustiz des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war das Produkt einer Reformpolitik, deren Wurzeln in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückreichen. Für eine umfassende und kritische Darstellung, wie das Berner Strafjustizwesen zwischen 1750 und 1850 in den europäischen Strafrechtsdiskurs eingebettet war, vgl. Ludi (1999). Zu Bern vgl. auch Hofer (2011). Für die Strafrechtreformen in den deutschen Staaten im 19. Jahrhundert vgl. Ignor (2002). 22 schworenenprozess verzichten. 29 In diesen Fällen sprach die neu geschaffene Kriminalkammer das Urteil. Die anderen Fälle wurden weiterhin von der Kriminalkammer an die Assisen weitergeleitet. Die höchste Gerichtsbarkeit des Kantons setzte sich ab 1880 aus der Kriminalkammer und den Assisen zusammen. Von den „strafbaren Handlungen gegen Personen“ waren laut dem Berner Strafgesetzbuch von 1866 „Mord“ und „Totschlag“ Verbrechen; auch der Versuch stellte ein Verbrechen dar. „Misshandlung“ und „Raufhandel“ galten dann als Verbrechen, wenn die geschädigte Person einen bleibenden Schaden davontrug. 30 War dies nicht der Fall, wurden Misshandlungen und Raufhandel als Vergehen eingestuft. 31 Sexuelle Gewalthandlungen waren nach dem Berner Strafgesetzbuch von 1866 keine Straftaten gegen Personen, sondern „strafbare Handlungen gegen die Sittlichkeit“. Von diesen wurde die sogenannte „Notzucht“ als Verbrechen eingestuft. Nach der gängigen Definition des späten 19. Jahrhunderts lag Notzucht vor, wenn ein Mann eine Frau mit körperlicher Gewalt zum Beischlaf zwang oder sie zu diesem Zweck betäubte. Damit der Tatbestand erfüllt war, musste der Penis vaginal eingeführt werden. 32 Das Delikt der Notzucht war also geschlechtsspezifisch, da es nur von Männern an Frauen verübt werden konnte; und zwar an Frauen, mit denen sie nicht verheiratet waren. Der Notzuchtartikel des Berner Strafgesetzbuchs umfasste aber zudem „die gewaltthätige widernatürliche Unzucht“. Diese lag vor, wenn der Penis bei Mann oder Frau anal eingeführt wurde. 33 Als Notzucht galt weiter der „Beischlaf mit einem Kind unter zwölf Jahren“. Im Unterschied zu den Vergewaltigungen von Erwachsenen war die Gewaltanwendung oder Betäubung bei Opfern unter zwölf Jahren keine Voraussetzung. Auch bei Notzucht galt bereits der Versuch als Verbrechen. 34 29 Dietrich (1934), S. 105. 30 Strafbare Handlungen gegen Personen, die das Strafgesetz unter gewissen Umständen als Verbrechen gegen Personen qualifizierte und die in dieser Studie nicht berücksichtig werden, sind neben dem Kindsmord die „Abtreibung der Leibesfrucht“ und die „Aussetzung“. Ebenfalls nicht berücksichtigt wird der Raub. Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 129-138, 205. 31 Ist bei einer Misshandlung die Verletzung des Opfers „nicht durch ein gefährliches Instrument […] und in einer Weise verübt worden, bei welcher ein bedeutend geringerer als der eingetretene Erfolg wahrscheinlich war“, konnte eine Misshandlung als Vergehen eingestuft werden. Das gleiche galt, wenn die Angeklagten oder ihre Angehörigen durch „zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung augenblicklich zur That hingerissen worden“ waren. Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 145. Weitere Vergehen und Übertretungen gegen Personen waren der „gegenseitig verabredete Zweikampf“ (vgl. Fußnote 124, S. 116), die „fahrlässige Tödtung“, die „Niederkunftsverheimlichung“, die „heimliche Beseitschaffung des Kindes“ sowie „die strafbaren Handlungen gegen den Familienstand, Menschenraub, Entführung, widerrechtliches Gefangennehmen“. Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 139-160. 32 Aus zeitgenössischer Sicht: Krafft-Ebing (1892), S. 396. Eine ausführliche Darstellung zu den Sittlichkeitsdelikten (Gesetzgebung sowie juristische und medizinische Diskurse) im deutschen Kaiserreich bietet Hommen (1999), S. 23-97. 33 Aus zeitgenössischer Sicht: Krafft-Ebing (1892), S. 404. 34 Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 170. 23 Der Straftatbestand der „Schändung“ umfasste den nicht gewaltsam oder anderweitig erzwungenen Vollzug des Beischlafs mit einer „blödsinnigen oder ihrer Verstandeskräften beraubten“ Frau und galt grundsätzlich als Vergehen. 35 Beging aber ein Mann eine Schändung an einer Frau, mit der er in aufsteigender Linie verwandt war, die er bevormundete oder deren Erziehungsberechtigter, Lehrer oder Arbeitgeber er war, lag ein Verbrechen vor. Dasselbe war der Fall, wenn die Tat unter Beihilfe von Komplizen verübt wurde. 36 Wie bei Notzucht und Schändung stellte auch hier der Versuch ein Verbrechen dar. 37 Die Controllen der Assisen und Archivkontrollen der Kriminalkammer Die Abstufung der strafbaren Handlungen in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen, die von unterschiedlichen Gerichten beurteilt werden mussten, führte dazu, dass die Berner Strafjustiz die einzelnen Gerichtsfälle in zwei unterschiedliche Register eintrug. Die Fälle mit Übertretungen und Vergehen wurden in den sogenannten Archivkontrollen der Polizeikammer (ab 1909 Archivkontrollen der Strafkammer) eingetragen. Obwohl diese Register teilweise zum Vergleich herangezogen werden, wurden sie und die darin eingetragenen Fälle für diese Arbeit nicht systematisch ausgewertet. 38 Die Fälle, bei denen ein Verbrechen infrage kam, wurden separat in den sogenannten Controllen der von den Assisen beurteilten Untersuchungen und nach der Einführung der Kriminalkammer 1880 in den Archivkontrollen der Kriminalkammer aufgelistet. 39 Auf die Archivierungs- und Registriertechnik hatte 35 Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 172. 36 Auch Notzucht, gewalttätige widernatürliche Unzucht und Beischlaf mit einem Kind unter zwölf Jahren wurden härter bestraft, wenn der Angeklagte zum Opfer in einer hierarchischinstitutionellen Beziehung stand oder mithilfe von Komplizen vorging. Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 173. 37 Auch die „Mehrfachehe“ war ein Verbrechen gegen die Sittlichkeit, welches aber für die Studie nicht berücksichtigt wird. Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 161-176. Bloß ein Vergehen gegen die Sittlichkeit war hingegen die „Blutschande“, die den Beischlaf zwischen Verwandten in auf- und absteigender Linie sowie zwischen Geschwister verbot. Das Gleiche galt für „gewaltsame[n] Angriff gegen die Schamhaftigkeit“ und „Unsittlichkeit mit jungen Leuten“. Weitere Vergehen und Übertretungen gegen die Sittlichkeit waren die „Verbreitung sittenloser Schriften“, die „öffentliche Verletzung der Schamhaftigkeit“, welche auch die widernatürliche Unzucht beinhaltete, das „Konkubinat“, die „gewerbsmäßige Unzucht“, die „gewerbsmäßige Kuppelei“, die „Mehrfachehe“ sowie der „Ehebruch“. Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 161-175. 38 StAB BB XV 1123, 1124, 1125. 39 Die Archivkontrollen der Kriminalkammer enthalten teilweise auch Vergehen gegen Personen und die Sittlichkeit. Dies war dann der Fall, wenn die Angeklagten neben einem Verbrechen noch wegen eines oder mehrerer Vergehen angeklagt waren. Fälle, bei denen nicht das Verbrechen, sondern nur die Vergehen gegen Personen oder die Sittlichkeit verstießen, wurden nicht berücksichtigt. Dies war beispielsweise gegeben, wenn eine Person wegen Diebstahls (Verbre- 24 diese Neuerung allerdings keinen Einfluss. Denn weiterhin galten dieselben strafbaren Handlungen als Verbrechen. Der Zugriff auf die 363 Untersuchungsakten, auf denen diese Arbeit aufbaut, erfolgt über diese beiden Register. 40 In den Fokus gelangen deshalb ausschließlich schwere Gewalt- und Sexualverbrechen. In den Controllen der von den Assisen beurteilten Untersuchungen und den Archivkontrollen der Kriminalkammer sind die einzelnen Fälle mit der Nummer der entsprechenden Untersuchungsakte chronologisch aufsteigend aufgelistet. Jeder Eintrag enthält neben dem Namen des Angeschuldigten und dem Delikt auch die Bezeichnung des Geschworenenbezirks, in dem die Straftat begangen und beurteilt wurde. 41 Die Einträge bilden die Grundlage für Diagramm 1. Für die Zeit von 1868 bis 1941 finden sich für den Amtsbezirk Bern 182 Einträge zu „(versuchtem) Mord“, „(versuchtem) Totschlag“, „Misshandlung“ und vereinzelt auch „Raufhandel“. 42 Fast gleich viele Fälle mit sexueller Gewalt sind eingetragen, nämlich 181 zu „(versuchter) Notzucht“, „(versuchtem) Beischlaf“, „gewalttätige[r] widernatürliche[r] Unzucht“ und vereinzelt auch zu „(versuchter) Schändung“ sowie ein Eintrag zu „Lustmord“. Bis auf die letztgenannte Bezeichnung entsprechen die Einträge demnach der Definition des Berner Strafgesetzbuchs von 1866. chen) und unzüchtigen Handlungen (Vergehen) angeklagt war. 40 StAB BB 15. 4. 500, 501, 502, 503, 504. Auch die Umbenennung der Kriminalkammer in Assisenkammer oder 2. Strafkammer im Jahr 1909 wirkte sich nicht auf die Registrierung der Fälle aus. Die Bezeichnung des Registers Archivkontrolle der Kriminalkammer wurde 1909 nicht geändert und bis zur Abschaffung der Geschworenengerichte 1996 beibehalten. Gesetz über die Organisation der Gerichtsbehörden von 1909. Zur Abschaffung der Geschworenengerichte vgl. Sollberger (1996). 41 Die Geschworenenbezirke waren mit den bereits bestehenden Verwaltungsterritorien der Amtsbezirke identisch oder fassten mehrere davon zusammen. Gesetz über die Organisation der Gerichtsbehörden von 1847, Art. 11. Dieses Gesetz wurde geringfügig durch das Gesetz betreffend einige Abänderungen des Gesetzes über die Organisation der Gerichtsbehörden vom 31. Juli 1847 (von 1852) modifiziert. 42 Ebenfalls berücksichtigt wurden vereinzelte Registereinträge zu „tätliche[r] Drohung“, obwohl es sich dabei laut Strafgesetzbuch eigentlich nur um Vergehen handelte. Die Einträge verweisen aber jeweils auf Untersuchungen wegen Totschlagversuchs und sind deshalb zu berücksichtigen. In den 182 Einträgen nicht enthalten ist der Eintrag eines „Totschlag[s]“, bei dem das Gericht auf fahrlässige Tötung entschied (StAB BB. 15. 4. 1171 3976) sowie ein „Mord“, bei dem es sich um die Tötung eines neugeborenen Kindes handelte. Weil in letzterem Fall das getötete Kind einer Ehe entsprang, handelte es sich nicht um den Straftatbestand des Kindsmordes, sondern um Mord. Der Straftatbestand „Kindsmord“, den ich in dieser Arbeit nicht berücksichtige, umfasste nur die Tötung unehelicher Neugeborener durch ihre eigenen Mütter. Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 129. Ebenfalls nicht berücksichtigt wurde der Gerichtsfall StAB BB 15. 4. 1805 402, bei dem ein Berner Staatsbürger im französischen Annemasse eine Misshandlung begangen hatte. Weshalb dieser Fall in Bern untersucht und beurteilt wurde, müsste genauer geklärt werden. Aufgrund seines Ausnahmecharakters habe ich den Eintrag zum sogenannten ‚Käfigturmkrawall‘ von 1893, bei dem eine große Gruppe einheimischer Bauarbeiter gegen italienische Arbeitskollegen und die Polizei gewalttätig wurde, ebenfalls nicht berücksichtigt. Zum Käfigturmkrawall vgl. Fritzsche (1981). 25 Die Stabilität der Definitionen der Straftatbestände sowie die Kontinuität der Hierarchie der Gerichte sprechen dafür, dass es bei der Registrierung der Fälle in den hier ausgewerteten Controllen der von den Assisen beurteilten Untersuchungen und Archivkontrollen der Kriminalkammer über die gesamte Untersuchungsperiode zu keinen Veränderungen kam. Um dies aber endgültig ausschließen zu können, muss auch das Strafprozessrecht berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang fällt die Revision von 1928 auf, bei der das Berner Strafverfahren aus dem Jahr 1854 teilweise verändert wurde. Das neue Strafprozessrecht ermöglichte den Richtern Straftaten, die „wahlweise“ als Vergehen oder Verbrechen eingestuft werden konnten und bei denen „nach den besonderen Umständen des Falles anzunehmen“ war, dass sie lediglich als Vergehen beurteilt würden, dem Amtsgericht zuzuweisen. 43 Diese Regelung führte dazu, dass Fälle, die ursprünglich in den Kompetenzbereich der Kriminalkammer gehörten, neu auf der Stufe des Amtsgerichts behandelt werden konnten. Bei der Betrachtung der Urteile fällt auf, dass die Angeklagten häufig nicht für das angeklagte Verbrechen, sondern nur für ein Vergehen schuldig gesprochen wurden. Es kam daher nicht selten vor, dass das Gericht beispielsweise einen Angeklagten, der wegen Totschlagversuchs (Verbrechen) angeklagt war, nur wegen Misshandlung (Vergehen) verurteilte, oder die Geschworenen werteten einen Notzuchtversuch (Verbrechen) als gewaltsamen Angriff gegen die Schamhaftigkeit (Vergehen). Zudem verhängten die Richter auch bei schweren Misshandlungen oder Totschlagversuchen häufig korrektionelle Strafen, wenn das Gericht den Angeklagten Milderungsgründe zugestanden hatte. 44 In der Mehrzahl der Fälle sprachen das Geschworenengericht und die Kriminalkammer also Strafen aus, die auch die niedere Gerichtsbarkeit hätte aussprechen können. Dies wirft die folgende Frage auf: Wurden gewisse Fälle nach 1928 nicht mehr von einem Geschworenengericht beurteilt und daher auch nicht mehr in die hier ausgewerteten Archivkontrollen der Kriminalkammer eingetragen? Dagegen spricht die Tatsache, dass die Reform zumindest bei den im Rahmen dieser Studie behandelten Delikten zu keinem abrupten Abfall der Einträge führte. Wie 43 Gesetz über das Strafverfahren für den Kanton Bern von 1928, Art. 208. Eine ähnliche Regel bestand bereits von 1850 bis 1866. Nach der Einführung des Strafgesetzbuchs 1867 war es nicht mehr möglich, dass die Anklagekammer auf eigene Initiative Fälle an das Amtsgericht überwies. Vgl. Gesetz betreffend die Einführung des Strafgesetzbuches für den Kanton Bern (von 1866), Art. 2, 15. Nach der Revision von 1928 wurden nur noch Strafhandlungen vor der höchsten Gerichtsbarkeit beurteilt, deren Höchststrafe laut Strafgesetzbuch von 1866 wenigstens fünf Jahre Zuchthaus betrug, die restlichen fielen fortan in den Bereich der Amtsgerichte. Allerdings betraf dies keine der für diese Studie behandelten Straftatbestände, bei denen die Höchststrafe immer mindestens fünf Jahre betrug. 44 In Geschworenenprozessen befassten sich die Geschworenen einzig mit der Schuldfrage. Das Strafmaß wurde durch einen professionellen Richter festgelegt. Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 440, 447. 26 Diagramm 1 zeigt, setzte der Rückgang der schweren Gewalt- und Sexualdelikte bereits Jahrzehnte vorher ein. Damit ist die Frage nach den Kompetenzverschiebungen zwischen den Gerichten allerdings immer noch nicht gänzlich geklärt. Eine weitere verfahrensrechtliche Frage drängt sich auf: Legitimierte die Änderung von 1928 nachträglich eine bereits praktizierte Umverteilung der Fälle von den höchsten auf die niederen Gerichte, die zum allgemeinen Rückgang der Fälle auf der Stufe der höchsten Gerichtsbarkeit führte? Wäre dies der Fall, dann wären die rückläufigen Fallzahlen in den Archivkontrollen der Kriminalkammer nach 1900 als Resultat einer veränderten juristischen Handhabung der Delikte zu interpretieren. Dagegen spricht allerdings, dass auch in den Registern der niederen Gerichtsbarkeit (Archivkontrollen der Polizeikammer, später Archivkontrollen der Strafkammer) die Einträge von Gewaltdelikten während der Untersuchungsperiode rückläufig sind. Überhaupt sind Sittlichkeitsdelikte in diesen Registern kaum zu finden. 45 Es kann daher ausgeschlossen werden, dass der feststellbare Rückgang der Einträge in den Controllen der von den Assisen beurteilten Untersuchungen und den Archivkontrollen der Kriminalkammer auf einer informellen Verschiebung der Fälle in den Kompetenzbereich der niederen Gerichtsbarkeit beruht. 46 45 Um die Entwicklung der Gewalt- und Sittlichkeitsdelikte auf Stufe Polizeikammer/ Strafkammer zu erkennen, habe ich jedes fünfte Jahr der entsprechenden Archivkontrollen ausgezählt. Anders als in den Kontrollen der Kriminalkammer ist in den Kontrollen der Polizeibzw. Strafkammer nicht der Amtsbezirk vermerkt, in dem das Delikt begangen wurde, sondern der Wohnort der angeklagten Person. Für eine ungefähre Deckung addierte ich für jedes ausgewertete Jahr die Gewaltdelikte „Misshandlung“, „Raufhandel“, „Tätlichkeiten“, „Missbrauch des Züchtigungsrechts“ und „unerlaubte Selbsthilfe“ beziehungsweise „Unsittlichkeiten“, „Unsittlichkeiten mit jungen Leuten“, „gewaltsamer Angriff gegen die Schamhaftigkeit“ und „Blutschande“, die von Angeklagten mit Wohnsitz im Amtsbezirk Bern begangen wurden. In der Kontrolle für die Jahre 1866 bis 1876 sind nur die Namen und Wohnorte der Angeklagten, nicht aber die ihnen zur Last gelegten Delikte eingetragen. Für das Jahr 1880 sind 15 der genannten Gewalt- und 5 der genannten Sittlichkeitsdelikte eingetragen; 1885: 15 und 1; 1890: 14 und 0; 1895: 25 und 1; 1900: 11 und 0; 1905: 14 und 1; 1910: 11 und 1; 1910: 11 und 0; 1915: 6 und 3; 1920: 9 und 2; 1925: 3 und 2; 1930: 4 und 2; 1935: 4 und 2; 1940: 2 und 0. Die Gewaltdelikte sind also auch auf der niederen Gerichtsbarkeit in ähnlichem Ausmaß rückläufig wie auf Stufe der Kriminalkammer. Bei den Sittlichkeitsdelikten sind die Einträge überhaupt gering, in der Tendenz aber nicht abnehmend, sondern leicht steigend. Angesichts des starken Bevölkerungszuwachses im Amtsbezirk Bern ist diese leichte Zunahme der Sittlichkeitsdelikte aber zu relativieren. StAB BB XV 1123 Register über die von der Polizeikammer beurteilten Strafprozeduren, Bd. 5 (1866-1876); StAB BB XV 1124 Archivkontrolle der Polizeikammer Bd. 6 (1877-1906); StAB BB 1125 Archivkontrolle der Polizeikammer bzw. der Strafkammer (ab 1909), Bd. 7 (1907- 1945). 46 Der gleichzeitige Rückgang der Gewaltdelikte sowohl in den Archivkontrollen der Kriminalkammer als auch in den Archivkontrollen der Polizeikammer/ Strafkammer verweist indirekt auch darauf, dass der Fortschritt der Medizin keinen wesentlichen Einfluss auf die Verringerung der Fallzahlen hatte. Wären nämlich die Gewalthandlungen aufgrund verbesserter lebensrettender Maßnahmen für die Opfer im zunehmenden Maß einfach weniger gefährlich und folgenschwer geworden, hätte dies zu einem Anstieg der Gewaltdelikte in den Archivkontrollen der Polizeikam- 27 Schließlich gilt es darauf hinzuweisen, dass auch die rechtlichen Bestimmungen, wie eine strafbare Handlung angezeigt wurde, über die gesamte Untersuchungsperiode gleichblieben. Das Strafprozessrecht von 1854 hielt fest, dass „jede Person“ den Behörden eine Anzeige machen konnte. 47 Diese Bestimmung hatte nach 1928 unverändert Gültigkeit. 48 Die formellen Bedingungen des Strafrechts blieben also während der gesamten Untersuchungsperiode gleich. Dadurch kann die Möglichkeit ausgeschlossen werden, dass die Schwankungen der Fallzahlen im Diagramm 1 auf veränderten juristischen Rahmenbedingungen beruhten. Die Abbeziehungsweise Zunahme der Fälle beruht daher auf einer veränderten Wahrnehmung und/ oder einer veränderten Praxis der Gewalt. Es lohnt sich daher, einen ausführlichen Blick auf den Forschungstand und die theoretisch-methodischen Zugänge der historischen Gewaltforschung zu werfen. 3. Die Gewalt in der Geschichte und die Geschichte der Gewalt Rückgang der gewaltsamen Tötungen in Europa Die quantitative Geschichte interpersonaler Gewalt ist kein unbeschriebenes Feld. Das größte Forschungsinteresse wecken bisher die gewaltsamen Tötungen, weil sich diese relativ unabhängig der historischen Kontexte am ehesten über die longue durée quantitativ erfassen und vergleichen lassen. 49 Seit den späten 1960er-Jahren erschien eine Vielzahl sozialwissenschaftlichquantitativer Studien zur Geschichte der tödlichen Gewalt, die Manuel Eisner in einer Synthese zusammenführte. Die zusammengetragenen Forschungsresultate ergeben eine S-Kurve: Auf hohe Tötungsraten im Spätmittelalter folgt eine kontinuierliche Abnahme im Verlauf der Frühen Neuzeit. 50 Nach 1800 verstärkt sich mer/ Strafkammer führen müssen. Dies war aber nicht der Fall. 47 Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 42. 48 Gesetz über das Strafverfahren des Kantons Bern (vom 20. Mai 1928), Art. 70. 49 Die dafür angewandte Methodik ist relativ einfach. Die Forscher nehmen Stichproben aus spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gerichtsakten, zählen die darin enthaltenen Tötungsdelikte pro Jahr und setzen diese in ein Verhältnis zu einer Bevölkerungsgröße von 100‘000 Menschen. Das Interesse an der interpersonalen Gewalt in der Geschichte gründet darauf, dass die Zahl der Gewaltdelikte in den westlichen Staaten in den 1960er- und 1970er-Jahren anstieg. Für die frühe quantitativ ausgerichtete Gewaltforschung aus dem anglofonen Raum: Eisner (2003), S. 83-85. Vgl. auch Gurr (1981). Für die unterschiedliche Interpretation von Gurrs Artikel vgl. Stone (1983); Sharpe (1985). 50 Für eine differenzierte Darstellung zur unterschiedlichen Entwicklung der Tötungsraten in verschiedenen europäischen Regionen vgl. Eisner (2003). Für die quantitative Aufbereitung von Gewaltverbrechen, nicht nur gewaltsamer Tötungen, vgl. auch Roth u. a. (Hg.). Historical 28 die Tendenz noch einmal, sodass die jährlichen Tötungsraten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter eine gewaltsame Tötung pro 100‘000 Einwohner fallen, um nach 1950 - allerdings nur leicht - wieder anzusteigen. 51 Violence Database. A Collaborative Research Project on the History of Violent Crime, Violent Death, and Collective Violence. McMahon, Eibach und Roth verweisen darauf, dass der Befund der kontinuierlichen Abnahme der tödlichen Gewalt vom 13. bis zum 15. Jahrhundert nicht als gesichert gelten kann. Vielmehr zeichnet sich diese Zeitspanne durch große Schwankungen aus. Über den Rückgang der Tötungsarten zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert sind sich die Forscher einig, wenn auch das Ausmaß dieses Rückgangs weiterhin kontrovers diskutiert wird. McMahon/ Eibach/ Roth (2013), S. 8 f. 51 Wie alle quantitativ-statistischen Methoden ist auch die Berechnung historischer Tötungsraten mit Unsicherheiten behaftet. Für die Zeit vor der Einführung nationaler Statistiken im 19. Jahrhundert berechnen Historikerinnen und Historiker Tötungsraten mehrheitlich auf der Grundlage von Gerichtsakten. Gerade für die Vormoderne ist es aber oft unklar, ob sämtliche Akten eines bestimmten Untersuchungsgebietes überliefert sind. Da es in einem Gebiet häufig mehrere Gerichtsbarkeiten gab, kann es zudem auch sein, dass nicht alle gerichtlich beurteilten Tötungen von dem Gericht beurteilt wurden, dessen Bestand ausgewertet wird. Das könnte laut Eisner auch der Grund für die starken Schwankungen der Tötungsraten in den Studien zum Spätmittelalter sein. Um genauere Tötungsraten berechnen zu können, werten Forschende deshalb als Ergänzung zu den Gerichtsakten zunehmend auch medizinische oder journalistische Quellen aus. Letztere sind allerdings erst für die Zeit nach 1800 vorhanden. Das methodische Problem der unvollständigen Zählung gewaltsamer Tötungen stellt den bisherigen Befund der langfristigen Abnahme der tödlichen Gewalt aber nicht grundlegend infrage. Im Gegenteil: Wenn davon ausgegangen wird, dass die Dunkelziffern der gewaltsamen Tötungen für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit höher sind als für das 19. und 20. Jahrhundert, dann wäre der Unterschied der Raten noch ausgeprägter als er nach dem heutigen Stand der Forschung bereits ist. Die berechtigte Vermutung, dass die Zahl der nicht erfassten Tötungen für die Zeit vor 1800 tendenziell größer war, stützt also die These der sinkenden Tötungsraten. Während die tendenziell höhere Zahl nicht registrierter und nicht überlieferter Tötungen kein grundlegendes Problem für die These der abnehmenden Tötungsraten darstellt, stellt die Schätzung der Bevölkerungsgröße ein schwerwiegenderes Problem dar. Wird die Bevölkerungsgröße zu hoch oder zu klein geschätzt, verfälscht dies die Tötungsrate. Gerade in der vorstatistischen Zeit ist die Bestimmung der Bevölkerungsgröße eines gegebenen Gebiets kein einfaches Unterfangen. Es besteht die Gefahr, dass die hohen Tötungsraten der Vormoderne auf der Annahme zu kleiner Bevölkerungsgrößen beruhen. Hier liegt wohl die größte Unsicherheit der quantitativen Resultate. Allerdings: Da mittlerweile eine Vielzahl voneinander unabhängiger Studien zur Vormoderne auf höhere vormoderne Tötungsraten verweist, ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie alle von viel zu tiefen Bevölkerungszahlen ausgehen. Die quantitativ ausgerichteten Gewaltforscher interpretieren die Tötungsraten als Indikator, um generelle Aussagen über das Gewaltverhalten in der jeweilig untersuchten Gesellschaft zu machen. Gegen diese Ableitung werden Einwände erhoben. Insbesondere wird behauptet, dass sich auch die lebensrettenden Techniken der Medizin stark verbessert hätten, was dazu führte, dass sich die Überlebenschancen verwundeter Gewaltopfer zunehmend verbesserten. Allerdings liefert Eisner hier ein schlüssiges Gegenargument. Die tiefen Tötungsraten seit dem späten 19. Jahrhundert seien eventuell aufgrund der wachsenden Fortschritte der Medizin zu relativieren. Für die Zeit davor ist dies allerdings nicht möglich. Auf die bereits vier Jahrhunderte andauernde Abnahme der gewaltsamen Tötungen hatte der medizinische Fortschritt bei den lebensrettenden Maßnahmen für Gewaltopfer, der erst im späten 19. Jahrhundert einsetzte, keinen entscheidenden Einfluss. Roth verweist darauf, dass die Tötungsraten für England für das Mittelalter auf medizinischen Quellen und diejenigen 29 Oliver Bieri berechnet, dass die Tötungsrate für die Schweiz in den späten 1870er-Jahren bei 5,5 pro 100’000 Einwohner lag und mit Ausnahme eines leichten Anstiegs in den 1890er-Jahren kontinuierlich auf einen Wert von unter 1 pro 100‘000 in den 1940er-Jahren sank. 52 Auch in Bern sank die Tötungsrate während dieser Zeit in ähnlichem Ausmaß. Das Beispiel Bern entspricht also dem gesamteuropäischen Trend. 53 Eisners Synthese ermöglicht weitere Einblicke. Eine wichtige Erkenntnis betrifft die quantitative Auswertung der Geschlechterzugehörigkeit der Angeklagten und Opfer. Die von Frauen begangenen Tötungen - Kindstötungen von Neugeborenen ausgenommen - bewegten sich über die Jahrhunderte stets zwischen fünf und zwölf Prozent des Totals. Das bedeutet, dass die immer schon relativ seltenen Tötungen durch Frauen mit den allgemein sinkenden Tötungsraten über die Jahrhunderte weiter abnahmen. Anders verhält es sich beim Anteil der weiblichen Opfer tödlicher Gewalt. Obwohl auch hier eine Abnahme festzustellen ist, war diese weit weniger ausgeprägt als die Abnahme der allgemeinen Tötungsrate. Dies bedeutet eine relative Zunahme der Gewalt gegen Frauen. So zeigt Eisner anhand der verfügbaren Daten eine Steigerung des Anteils weiblicher Opfer von durchschnittlich dreizehn Prozent im 17. Jahrhundert auf siebzehn Prozent im 18. Jahrhundert. Es kann daher festgestellt werden: Je tiefer die Tötungsraten, desto höher lag in der Regel der Anteil der weiblichen Opfer. 54 Die tödliche Gewalt gegen Frauen ging also über die Jahrhunderte weit weniger stark zurück als die tödliche Gewalt gegen Männer. Diese Entwicklung korreliert mit einem Trend bei der Verschiebung der Opfer-Täter-Beziehung. In den mittelalterlichen Gesellschaften mit typischerweise hohen Tötungsraten waren Tötungen von eigenen Mitgliedern der Familie relativ selten und machten meist weniger als zehn Prozent aller Tötungsdelikte aus. Mit der allgemeinen Abnahme der Tötungsraten stieg der Anteil solcher Tötungen. In England und Schweden machten sie Ende des 19. Jahrhunderts rund die Hälfte aller Tötungsdelikte aus. Wie die relative Zunahme weiblicher Opfer lag auch dieser relative Anstieg darin begründet, dass die tödlich endenden Konflikte zwischen nicht-verwandten für die Frühe Neuzeit auf strafrechtlichen Quellen beruhen. Die unterschiedliche Quellenwahl setzt auch ein Fragezeichen hinter die im Vergleich zum Mittelalter tieferen Tötungsraten für die Frühe Neuzeit. Denn Gerichtsakten enthalten nur Tötungen, die gerichtlich angeklagt wurden. Mit der sogenannten capture-recapture-Methode lassen sich die Befunde aus unterschiedlichen Quellengattungen - zum Beispiel medizinische Register, Gerichtsakten, aber auch Zeitungartikel - zusammenbringen und angleichen. Vgl. dazu Roth (2001). Methodisch einschlägig auch Eckberg (2001). Für eine Kritik an der quantifizierenden Methode der Tötungsraten vgl. Schwerhoff (2011), S. 118 f. 52 Bieri (1998), S. 47. 53 Die anhand der Gerichtsakten berechnete (und daher unvollständige) Tötungsrate der Stadt Bern belief sich zu Beginn der Untersuchungsperiode auf drei Tötungen pro Jahr und 100‘000 Einwohner. Nach dem Ersten Weltkrieg sank sie auf 0,5. Cottier/ Raciti (2013), S. 102. Zur quantitativen Abnahme der Gewalt: Eisner (2003), S. 88-92; Spierenburg (2008), S. 3-7. 54 Eisner (2003), S. 109-112, 118 f. 30 Männern im öffentlichen Raum abnahmen. Auch hier gilt tendenziell: Je niedriger die Tötungsrate, desto höher der Anteil an Tötungen von Familienangehörigen. 55 Tödliche Gewalt in der Familie und gegen Intimpartner nahm demnach im Vergleich zur Gewalt gegen Bekannte und Fremde weit weniger stark ab. Der deutliche Rückgang der gewaltsamen Tötungen in der europäischen Geschichte beruhte also in erster Linie auf der Abnahme der Tötungen von Männern durch Männer im öffentlichen Raum. Darüber hinaus hat der Trend zu weniger Gewalt mit Todesfolge nicht nur eine geschlechtsspezifische Komponente, sondern hängt auch mit der Schichtzugehörigkeit zusammen. Für die mittelalterlichen Gesellschaften sind keine sozialen Unterschiede beim Gewaltverhalten auszumachen. In europäischen Städten des 13., 14. und 15. Jahrhunderts, zu denen Daten vorliegen, begingen die Angehörigen der Oberschichten, gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung, ungefähr gleich oft Tötungen wie die Angehörigen anderer Gesellschaftsgruppen. 56 Mit dem Beginn der Frühen Neuzeit setzte diesbezüglich ein Wandel ein. Die von Eisner zusammengetragenen Daten belegen, dass ungefähr ab dem 16. Jahrhundert die Angehörigen der Oberschicht als Täter bei Tötungsdelikten unterrepräsentiert waren. Der Zeitpunkt und die Ausprägung dieses Rückzuges der Oberschicht waren allerdings je nach Region sehr unterschiedlich. 57 Auch die Veränderungen des körperlichen Gewalthandelns im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 lassen sich grosso modo in den skizzierten Trend einordnen. Wie zu zeigen sein wird, beruhte der allgemeine Rückgang der Delikte Mord, Totschlag und schwere Körperverletzung in erster Linie auf der Abnahme der Gewalt zwischen Männern im öffentlichen Raum. Dies führte zu einer relativen Zunahme der Gewalt gegen Frauen und Familienangehörige. Ein Prozess der Zivilisation? Um die sinkenden Tötungsraten zu erklären, stützt sich die vornehmlich quantitativ arbeitende Forschung meist auf Norbert Elias’ Werk Über den Prozess der Zivilisation aus dem Jahr 1939. Trotz ihres vorgeschrittenen Alters genießt die 55 Eisner (2003), S. 119-121. Spierenburg schätzt, dass die Rate der Tötungen von sogenannten intimates (Familienmitglieder und Liebespartner) im Mittelalter rund zwei pro 100‘000 Personen betrug. In der Zeit nach 1800 lag dieser Wert nur noch bei rund 0,5 pro 100‘000 Personen. Spierenburg (2008), S. 134. 56 Für eine nähere Betrachtung der Beteiligung von Angehörigen der städtischen Oberschicht an gewalttätigen Konflikten im spätmittelalterlichen Konstanz vgl. Schuster (2000), S. 135-138; Burghartz (1990), S. 97-121; Schwerhoff (1991), S. 301-312. 57 Eisner (2003), S. 83-123. Eibach beobachtet beispielsweise für Frankfurt am Main in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Abwesenheit von Gewalttätern und -opfern aus der Ober- und Mittelschicht. Eibach (2003), S. 279-284; vgl. zum Rückzug der Mittel- und Oberschichten öffentlich ausgetragener Gewaltkonflikte auch Eibach (2009), S. 213-216; Schwerhoff (2013), S. 40 f. 31 Theorie in bedeutenden Teilen der aktuellen historischen Gewaltforschung ungebrochen hohe Beachtung. 58 Die Attraktivität von Elias‘ Ansatz besteht darin, dass er eine scheinbar stimmige Erklärung für den empirisch messbaren Rückgang der gewaltsamen Tötungen seit dem Spätmittelalter bereithält. Der Prozess der Zivilisation führte, so Elias, zu einer „Wandlung der Angriffslust“. 59 Für ihn war „der Prozess der Zivilisation eine Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in eine ganz bestimmten Richtung“. 60 Der moderne ‚zivilisierte‘ Mensch zeichne sich durch „Selbstkontrolle“, „beständige Selbstüberwachung“ und „stete Selbstregulierung“ aus. 61 Durch die Herausbildung dieser Eigenschaften haben sich Elias zufolge in Europa nach und nach größere „befriedete Räume“ herausgebildet, was den Einzelnen „vor dem plötzlichen Überfall, vor dem schockartigen Einbruch der körperlichen Gewalt in sein Leben weitgehend“ schützte. Gleichzeitig zwang die Befriedung, „den eigenen Leidenschaftsausbruch, die Wallung, die ihn zum körperlichen Angriff eines Anderen treibt, zurückzudrängen“. 62 Der Prozess der Zivilisation förderte nach Elias die „Dämpfung der spontanen Wallungen, Zurückhaltung der Affekte und [führte] zu einer Weitung des Gedankenraums über den Augenblick hinaus in die vergangenen Ursach-, die zukünftigen Folgeketten“. 63 Dadurch wurde „die psychische Selbstkontrollapparatur differenzierter, allseitiger und stabiler.“ 64 Für den Rückgang der Tötungsgewalt liefert der Prozess der Zivilisation also eine scheinbar plausible Erklärung. Auch der Rückgang der schweren Gewaltdelikte Mord, Totschlag und Misshandlung im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 ließe sich im Sinne eines voranschreitenden Prozesses der Zivilisation deuten. So betrachtet wären die Bernerinnen und Berner zunehmend fähiger geworden, ihre Affekte zu kontrollieren und deshalb auf den Einsatz von Gewalt zu verzichten. Auch der Rückgang der Untersuchungen wegen Sexualverbrechen nach 1900 könnte mit Verweis auf die Verfeinerung der Selbstkontrollapparatur als tatsächlicher Rückgang der Gewalt gedeutet werden. Allerdings hat sich im deutschsprachigen Raum ab den späten 1980er-Jahren ein alternativer Zweig der 58 In den Überblickswerken zur interpersonalen Gewalt in der Geschichte liefert Norbert Elias’ Über den Prozess der Zivilisation weiterhin den theoretischen Bezugspunkt, um die quantitative Abnahme der Tötungen zu erklären. Spierenburg (2008), S. 5f.; Muchembled (2012), S. 2 f.; Pinker (2011), S. 106 f. Eine Ausnahme bildet Randolph Roths neues Standardwerk zur Geschichte der tödlichen Gewalt in den USA. Roth zieht Messungen abnehmenden oder zunehmenden Vertrauens der US-amerikanischen Bevölkerung in ihren Staat und seine Institutionen herbei, um quantitative Schwankungen des Gewalthandelns zu erklären. Vgl. Roth (2009), S. 469-474. 59 Elias (1997), Bd. 1, S. 356. 60 Elias (1997), Bd. 2, S. 323. 61 Elias (1997), Bd. 1, S. 52 und Bd. 2, S. 328 f. 62 Elias (1997), Bd. 2, S. 332. 63 Elias (1997), Bd. 2, S. 333. 64 Elias (1997), Bd. 2, S. 330. 32 historischen Gewaltforschung etabliert, der sich kritisch mit Elias‘ Zivilisationstheorie auseinandersetzt. Auf diesen gilt es einzugehen. Gewalt und Ehre Die deutschsprachige Gewaltforschung orientiert sich bei der Auswertung der Gerichtsakten an der Mikrogeschichte und der historischen Anthropologie. Dabei arbeiten Historikerinnen und Historiker meist explizit oder implizit mit der Methode der ‚dichten Beschreibung‘ (Clifford Geertz). 65 Durch eine genaue kulturhistorische Lesart der Gerichtsakten gelingt es, Handlungs-, Denk, und Wahrnehmungsmuster historischer Akteure zu rekonstruieren. Dadurch wird ersichtlich, dass auch Bewohnerinnen und Bewohner der frühneuzeitlichen Städte und Dörfer in einer komplexen Alltagskultur lebten. Konsequenterweise begreift die historische Kriminalitätsforschung deutschsprachiger Prägung Gewalt in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften - anders als der von Elias beeinflusste Forschungszweig - nicht als unkontrolliertes Affekthandeln vormoderner Menschen. Gewalt wird vielmehr als kommunikative Handlungen innerhalb einer komplexen Semantik der Ehre verstanden. Die Menschen in vormodernen Gesellschaften waren demzufolge nicht weniger fähig, ihre Affekte zu kontrollieren als moderne - oder in Elias’ Worten, ‚zivilisierte‘ Menschen. Sie bewegten sich vielmehr innerhalb kultureller Settings, die den Einsatz von Gewalt nicht von vornherein ausschlossen, sondern in gewissen Situationen sogar erforderlich machten. Es erstaunt nicht, dass Kulturhistoriker, die mit einem sozialanthropologisch geschulten Blick den Alltag der europäischen Gesellschaften des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit erforschen, wenig mit Elias’ Werk anzufangen wissen, laut dem der vormoderne Mensch primär durch natürliche oder angeborene ‚Triebe‘ beziehungsweise ‚Affekte‘ gesteuert gewesen war. Schwerhoff interpretiert Elias’ Prozess der Zivilisation denn auch kritisch als die letzte evolutionistische Modernisierungstheorie. Mit dem Verweis, dass die aktuelle Geschichtsforschung und namentlich die Neue Kulturgeschichte auf große Geschichtstheorien verzichtet, charakterisiert er Elias’ Theorie als „the last theoretical dinosaur of its kind“. 66 Um das häufige Gewalthandeln zwischen Männern in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften verständlich zu machen, arbeiten die deutschsprachigen Forscherinnen und Forscher mit dem Konzept der ‚verletzten Ehre‘. Für Klaus Schreiner und Schwerhoff ist Ehre grundsätzlich verletzlich. Sie 65 Für die sozialanthropologische Methode der ‚dichten Beschreibung‘ vgl. Geertz (1987). Für die Anwendung der ‚dichten Beschreibung‘ in der historischen Gewaltforschung vgl. Wettmann- Jungblut (2003); Eibach (2003), S. 241-243; zuletzt Schwerhoff (2013), S. 28. 66 Schwerhoff (2002), S. 11; vgl. für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsprozess in der historischen Kriminalitätsforschung auch Dinges (1998a). 33 nötigenfalls mit Gewalt zu verteidigen, war für alle Bewohnerinnen und Bewohner spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Dörfer und Städte überlebenswichtig - nicht nur für die Mitglieder des Adels, wie es die frühen soziologischen Ehrkonzepte von Elias und Max Weber behaupten. Gewalt wird daher als eine sinnhafte „Reaktion auf Ehrverletzungen“ zum „Erhalt des Sozialkapitals“ analysiert. 67 Die Ehre und ihre Verteidigung war nicht rein symbolisch, sondern eng an den materiellen Besitz gebunden, wie Rainer Walz in seiner Studie zu dörflichen Konflikten am Beispiel der Grafschaft Lippe im 17. Jahrhundert verdeutlicht. Walz zeigt auf einschlägige Weise, dass Ehrkonflikte auch Sachkonflikte sein konnten. Grundlegend dafür ist, dass in Ehrgesellschaften die Vorstellung vorherrscht, dass die vorhandenen Güter begrenzt sind. Gleichzeitig waren die Menschen bei ihren ökonomischen Tätigkeiten auf die Hilfe und Solidarität der Nachbarn grundlegend angewiesen. Dieses Spannungsverhältnis barg großes Konfliktpotential. Konflikte um gestohlene, beschädigte oder ausgeliehene und nicht zurückerstattete Werkzeuge mündeten daher in Lippe regelmäßig in handfeste Streitereien. 68 In besonderer Weise bezog sich die materielle Dimension der Ehre auf das Haus, welches das wertvollste Eigentum darstellte. 69 Schreiner und Schwerhoff sprechen für den frühneuzeitlichen Kontext vom Haus als einer „zweiten Haut“ seiner Bewohnerinnen und Bewohner. 70 Noch im ländlichen Kanton Uri des 19. Jahrhunderts drehten sich gewalttätige Streitigkeiten häufig um das „Eigen“. 71 Wer unerlaubt und unaufgefordert fremde Felder oder fremde Häuser betrat, musste mit einer heftigen und möglicherweise gewalttätigen Reaktion der Besitzer oder auch der Besitzerinnen rechnen. Schließlich wurde auch hervorgehoben, dass Schläge im häuslichen Bereich der sozialen Kontrolle dienten. Durch Prügel wurden, etwa vom Hausvater gegen seine Frau, Kinder oder die Hausangestellten, die soziale Ordnung und Hierarchien gewissermaßen körperlich erfahren und einverleibt. In der Öffentlichkeit des Dorfes oder der Nachbarschaft konnten Rügerituale Gewalt enthalten, mit denen normative Regelverstöße von Anwohnern gleichzeitig offengelegt und abgestraft wurden. Die Rügerituale dienten nicht zuletzt dazu, dass die geltenden sozialen Normen eingeübt und in Erinnerung gerufen wurden. 72 Das Konzept der ‚verletzten Ehre‘ fußt auf dem Entwurf einer Theorie der Praxis, den Pierre Bourdieu anhand von Feldforschungen bei den kabylischen Ehr- 67 Schreiner/ Schwerhoff (1995), S. 14; in diesem Sinne stellt auch Eibach fest: „Ehre ist dann fassbar, wenn sie entweder bedroht oder verletzt wird.“ Eibach (2003), S. 225. 68 Walz (1992), insbesondere S. 222. Zur Bedeutung der Nachbarschaft in der Frühen Neuzeit vgl. auch Eibach (2011), S. 629-632. 69 Haldemann (2015). 70 Schreiner/ Schwerhoff (1995), S. 21. 71 Töngi (2004), S. 93-127, hier S. 98. 72 Grundlegend zu Gewalt als soziale Kontrolle Schwerhoff (2004), S. 236-239; zu den Rügepraktiken in den europäischen Ehrgesellschaften der Frühen Neuzeit vgl. Haldemann (2015). 34 gesellschaften Algeriens in den frühen 1970er-Jahren verfasste. Grundlegend für die soziologische Betrachtung der Ehre ist deren zutiefst kommunikativer und interaktiver Charakter. „Das Ehrgefühl ist das Fundament einer Moral, in der der Einzelne sich immer unter dem Blick der anderen begreift, wo der Einzelne die anderen braucht, um zu existieren, weil das Bild, das er von sich selbst macht, ununterscheidbar ist von dem Bild von sich, das ihm von den anderen zurückgeworfen wird.“ 73 Zugespitzt lässt sich sagen, dass Ehre nur in Anwesenheit anderer relevant ist. 74 Bourdieus Ehrkonzept verdeutlicht, dass Gewalthandeln in vormodernen Gesellschaften in ein umfassendes soziales System eingebunden war. In Ehrgesellschaften generiert die Ehre als „kategorischer Imperativ“ sämtliche sozialen und kulturellen „Verhaltensformen“, also auch die interpersonale Gewalt. 75 Für Bourdieu ist ‚Ehre‘ demnach eine umfassende soziale und kulturelle Kategorie im Sinne von Marcel Mauss‘ fait social total. 76 Obwohl die Sozialstrukturen der kabylischen Gruppen der 1960er-Jahre und des frühneuzeitlichen Europas nicht deckungsgleich waren und sich nicht alle Befunde restlos übertragen lassen, sind Bourdieus Abstraktionen zur Ehre für die Analyse der europäischen Kulturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts doch gewinnbringend. Interessant für die historische Gewaltforschung ist das Ehrkonzept deshalb, da Ehre in der Praxis in erster Linie als potentiell gewalttätiges „Spiel von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung“ zwischen Männern erkennbar ist. 77 Im Spiel der Ehre geht es also nicht darum, den Gegner zu töten, sondern zu zeigen, „dass man die Oberhand hatte“. 78 Wer den anderen herausfordert, stellt diesen laut Bourdieu vielmehr auf die Probe und würdigt ihn so als Ehrenmann. Die Herausforderung ermöglicht dem Herausgeforderten, seine Ehre zu beweisen. Die Erwiderung der Herausforderung fordert wiederum den Herausforderer zur Erwiderung auf. Eingebettet in diese Dialektik, ist dies für Bourdieu mehr als „bloße Aggression“. 79 Bourdieus Lesart der Gewalt als ehrbezogen verunmöglicht es grundsätzlich, sie, wie bei Elias, als reine Affekt- oder Triebhandlung zu konzipieren. Dies hat Konsequenzen für die historiographische Forschung. Der Rückgang der schwe- 73 Bourdieu (1976), S. 27 f. Die Zuschreibung von Ehre durch andere hat Schwerhoff zuletzt erneut unterstrichen. Schwerhoff (2013), S. 31. 74 Die Wichtigkeit der Anwesenheit anderer Personen für die Vergesellschaftung in der europäischen Frühen Neuzeit streicht Schlögl heraus. Schlögl (2014). 75 Bourdieu (1976), S. 31, 36. 76 Vgl. Mauss (1990), S. 175-181. Bourdieu bezieht sich in Entwurf einer Theorie der Praxis zwar nicht explizit auf Mauss. Eine Beeinflussung durch dessen Theorie des Schenkens ist aber deutlich erkennbar. Vgl. Bourdieu (1976), insbesondere S. 20-24. 77 Bourdieu (1976), S. 15. 78 Bourdieu (1976), S. 19. 79 Bourdieu (1976), S. 15 f. 35 ren Gewalttaten kann vor dem Hintergrund der kulturhistorischen Betrachtung der Gewalt als ehrbezogen nicht einfach auf eine zunehmende Fähigkeit zur Affektkontrolle zurückgeführt werden. Wenn der Rückgang der schweren körperlichen Gewalt nach heutigem Forschungsstand nicht als Teil eines fortschreitenden Zivilisationsprozesses zu deuten ist, lautet die Erklärung vielmehr, dass der Rückgang schwerer körperlicher Gewalt auf den Bedeutungsverlust der sozialen Logik der Ehre zurückzuführen ist. 80 Gewalt und Emotionen? Doch bedeutet die Abkehr von Elias‘ Theorem, dass Gewalt zwischen Männern in den vormodernen Gesellschaften Europas, weil sie der wichtigen Ehrverteidigung diente, nichts ‚Affektives‘ an sich hatte? Auf den ersten Blick mag diese Frage sonderbar anmuten. Gewalthandlungen, ist man geneigt zu entgegnen, sind immer hochgradig emotional - sowohl für die Opfer als auch für die Täter. Doch wie ich in der Folge aufzeigen möchte, ist die Wechselwirkung und gegenseitige Bedingtheit von Kulturalität und Emotionalität, wie sie die jüngere Emotionsforschung postuliert, in der historischen Gewaltforschung bisher nicht systematisch befragt worden. Bisher wurden bei der konzeptionellen Handhabung des Gewalthandels die Dualität von körperlichen Emotionen und kulturellen Rationalitäten aufrechterhalten. Dies lässt sich anhand einer Kontroverse zwischen den beiden Lagern der historischen Gewaltforschung um das Jahr 2000 aufzeigen. 81 80 Robert Shoemaker sieht im Bedeutungsverlust der Ehre den Grund für den Rückgang der Gewalt in England im 18. Jahrhundert. Shoemaker (2001). In der historischen Gewaltforschung ist umstritten, ob die Ehre als soziale Tatsache im Verlauf der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts ihre Bedeutung verlor oder veränderte. Diese Frage entscheidet sich daran, ob Ehre als Wechselspiel zwischen Eigen- und Fremdzuschreibung von virtuell Gleichen verstanden wird, oder ob sie als Eigenzuschreibung begriffen wird, die vom Urteil anderer nicht direkt betroffen ist. Spierenburg vertritt die widersprüchliche Auffassung, dass der Gewaltrückgang sowohl auf einer Zunahme der Affektkontrolle als auch auf einer Veränderung der Ehre beruhte. Er behandelt beide Formen als Ehre, wobei die zweite Form zeitlich auf die erste folgte. Er spricht von einer „spiritualization of honor“, also einer Art Internalisierung der Ehre im Verlauf des Prozesses der Zivilisation. Schreiner und Schwerhoff hingegen stellen infrage, ob Ehre ohne unmittelbare Fremdzuschreibung möglich ist und ob für die Moderne nicht treffender von „Würde“ gesprochen wird. Wie die Fortexistenz des Duells des 19. Jahrhunderts zeigt, war Ehre als Fremdzuschreibung auch im bürgerlichen Kontext weiterhin bedeutsam (vgl. Fußnote 124, S. 116). Ich meine, dass die Verinnerlichung der Ehre einhergeht mit dem Aufkommen des Subjekthabitus. Spierenburg (2008), S. 9; Schreiner/ Schwerhoff (1995), S. 9. 81 Es handelt sich dabei um eine Serie von Artikeln, die kritisch aufeinander Bezug nehmen. Dinges (1998a); Spierenburg (2001); Schwerhoff (2002). Beim Konflikt geht es auch um Methodik. Schwerhoff kritisiert die von Spierenburg angewandte quantitative Methode zur Berechnung von Tötungsraten als fehleranfällig und unzuverlässig. Darüber hinaus würden gewaltsame Tötungen allein als Indikator für die Gewalthaftigkeit einer Gesellschaft nicht ausreichen. Allerdings geht auch Schwerhoff letztlich davon aus, dass sich Gewaltakte in den frühneuzeitlichen 36 Wie Schwerhoff konzipiert auch Martin Dinges Gewalt im vormodernen Europa im Sinne von Bourdieu als eine ritualisierte Praxis. Seiner Meinung nach hat sich die Ritualität der Auseinandersetzungen gewalteinhegend ausgewirkt, da Rituale zu einem geregelten Gewalteinsatz geführt hätten. Gewaltrituale seien daher im frühneuzeitlichen Kontext als eine „reflektierte Zweck-Mittel-Relation“ und als „zweckrational“ zu betrachten, weil sie verhindert hätten, dass Gewalt eskalierte. 82 Auch Spierenburg erkennt wiederkehrende Kodizes des Gewalthandelns während der Frühen Neuzeit. 83 Er widerspricht allerdings Dinges explizit, indem er darauf verweist, dass ein einseitiger Fokus auf die gewalteinhegende Funktion von Ritualen aufgrund der höheren Tötungsraten bei der Gewalt zwischen Männern im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa fragwürdig sei. Gegen Dinges‘ These wendet Spierenburg weiter ein, dass Rituale nicht beliebig strategisch oder eben „zweckdienlich“ eingesetzt werden können, da ihr Verlauf im Wesentlichen vorgegeben sei. Diesen Einwänden ist zuzustimmen. Als Anhänger von Elias‘ Zivilisierungsthese macht Spierenburg aber den Fehler, die relative Häufigkeit der Gewaltrituale wieder mit der angeblichen Unfähigkeit frühneuzeitlicher Menschen zur Affektkontrolle zu erklären. Spierenburg geht davon aus, dass Gewaltrituale durch plötzliche und unkontrollierte Affektregungen ausgelöst worden seien. 84 Eine überzeugende Verknüpfung von Emotionalität und Ritualität gelingt ihm dabei nicht. Denn unverständlich bleibt, wie es möglich sein soll, dass das Auflösen jeglicher kulturellen Gebundenheit im Moment des Affektausbruchs, wie es Elias’ Theorie vorsieht, ein komplexes Ehrritual hervorbringen soll. Indem Spierenburg den Verlust der Affektkontrolle außerhalb des Rituellen ansiedelt, begeht er im Grunde den gleichen Fehler, den er Dinges vorwirft. Auch hier muss gelten: Der Ablauf von Ritualen ist größtenteils vorgegeben. Das Ritual kann daher weder vollkommen ein Zweck einer rationalen Ehrgesellschaften Europas häufiger ereigneten als in den modernen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts. Spierenburg kontert, indem er der deutschsprachigen Forschung vorwirft, dass diese ihre vielen einzelnen mikrohistorischen Beiträge zur Gewalt nicht umfassend in eine diachrone Perspektive rückt. Obwohl mittlerweile Anstrengungen unternommen wurden, Veränderungen über die Zeit zu konzeptualisieren, trifft Spierenburgs Kritik tendenziell zu. Schwerhoff weist zuletzt selbst darauf hin, dass die Stärke der qualitativ arbeitenden Gewaltforschung bisher eher in der synchronen denn in der diachronen Perspektive liegt. Seiner Meinung nach muss die Veränderung der Ehrsemantik im Verlauf der Frühen Neuzeit bei der Gewaltforschung stärker berücksichtigt werden. Ähnlich sieht Eibach einen Wandel der Gewalt von einer „Rechtspraxis zur Kompensation fragiler Männlichkeit“, jedoch ohne dabei die quantitative Dimension der Gewalt zu berücksichtigen. Robert Shoemaker sieht im Bedeutungsverlust der Ehre den Grund für den Rückgang der Gewalt in England im 18. Jahrhundert. Schwerhoff (2013), insbesondere S. 28; Eibach (2009), S. 213-216. Vgl. auch Eibach (2016). 82 Dinges (1998a), S. 178, 180. 83 Vgl. dazu Spierenburg (1998). 84 Für die Kritik von Spierenburg an Dinges vgl. Spierenburg (2001), S. 93-96. 37 Strategie sein, noch kann es gänzlich auf einer plötzlichen und willkürlichen Affekthandlung beruhen. Die Gegenüberstellung zeigt, dass die historische Gewaltforschung bisher im Dualismus Emotion/ Kultur verhaftet bleibt. Dies gilt auch für die Elias-kritische Forschung. Denn wenn Dinges Gewaltrituale als „reflektiert“ und „zweckrational“ charakterisiert, um zu widerlegen, dass Gewalt in vormodernen Gesellschaften eine reine Affekthandlung war, macht er aus Elias‘ Vorstellung von Gewalt als ungebändigter „Angriffslust“ das Gegenteil: nämlich eine bewusste und strategische Handlung. Dadurch wird die Gewalt gewissermaßen von ihrer emotional-körperlichen Dimension bereinigt. Zwar werden dadurch die vormodernen Gewalttäter als Kulturmenschen und rational handelnde Akteure rehabilitiert. Die körperlich-emotionale Dimension der Gewalt aber wird implizit negiert. 85 Die hier vorgenommene Darstellung der gegensätzlichen konzeptuellen Ausrichtungen mag zugespitzt erscheinen. Gerade Spierenburg bringt affektive Gewalt im frühneuzeitlichen Europa auch mit den sozialen und kulturellen Codes der Ehre in Verbindung. Und Dinges, Schwerhoff und Schreiner würden wohl kaum bestreiten, dass es bei einer spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Straßen- oder Wirtshausschlägerei emotional zu- und herging. Peter Wettmann- Jungblut und Joachim Eibach haben die gewaltrationalisierende Tendenz der deutschsprachigen Gewaltforschung, zu der sie sich selber zugehörig fühlen, zuletzt kritisch infrage gestellt. 86 Eine Lösung des Problems steht jedoch aus. In beiden Lagern der historischen Gewaltforschung mangelt es an Versuchen, die Emotionalität und die kulturspezifische Rationalität des Gewalthandelns konzeptuell in Einklang zu bringen. Vor dem Hintergrund der historischen Emotionsforschung lautet die zentrale Frage deshalb: Wie kann ritualisierte Gewalt als gleichzeitig körperlich-emotionale und kulturell-sinnhafte Handlung verstanden werden? Spiel, Emotionen, Ehrhabitus Wie oben gezeigt, verwendet Bourdieu den Begriff des Spiels, um die gewaltsamen Ehrenhändel zwischen kabylischen Männern zu beschreiben. Um der Abgestimmtheit der Emotionalität und Kulturalität der Gewalt im Kontext der Ehre näher zu kommen, lohnt sich das Verständnis der Gewalt als Spiel genauer zu betrachten. 85 Eine Ausnahme bildet bezeichnenderweise Freverts Arbeit zum Duell im wilhelminischen Deutschland. Frevert (1991), insbesondere S. 178-232. 86 Wettmann-Jungblut fragt, „ob die Ehre tatsächlich das zentrale Handlungsmotiv von Gewalt […] bildete“. Die Erklärung der Gewalt durch Ehre „rechnet […] Gewaltakte, ungeachtet ihrer oft impulsiven und wenig kalkulierenden Natur, überwiegend in den Bereich des instrumentellen und regelgeleitenden Handelns, indem der Aggressor angeblich mit seiner Handlung gesamt- oder subkulturellen Normen und Leitbildern zu entsprechen sucht“. Wettmann-Jungblut (2003), S. 22; Eibach (2009), S. 199. 38 Was ist soziologisch unter Spiel zu verstehen? Eine Annäherung findet sich bei Georg Simmel, der die „Geselligkeit“ als „Spielform der Vergesellschaftung“ konzipiert. 87 Im Spiel sind die „Wechselwirkungen“ zwischen den Individuen von deren ursprünglich verfolgten „Zwecken“ losgelöst. 88 Die spielerische Interaktion geschieht daher aus Selbstzweck. In diesem Sinn ist die Geselligkeit eine „künstliche Welt“ 89 , in der die Akteure versuchen, eine „ganz reine, durch keinen […] materiellen Akzent debalancierte Wechselwirkung […] herzustellen.“ 90 Laut Simmel wird im Spiel „jene Angemessenheit ästhetisch repräsentiert, die der Ernst der Realitäten sonst ethisch fordert“. Dadurch werden „die ethischen Kräfte der konkreten Gesellschaft“ eingeübt. 91 Simmel denkt bei seinem Geselligkeitskonzept nicht an Schlägereien. Formelle Gespräche 92 und die Koketterie 93 - oberflächlicher Small Talk und inhaltsloses Flirten - sind die beispielhaften geselligen Praktiken. Dennoch bieten Simmels theoretische Überlegungen zur Geselligkeit als Spielform der Vergesellschaftung einen hilfreichen Ansatz, um die häufige Gewalt zwischen Männern im Kontext der Ehre besser zu verstehen. Die Idee einer spielerischen Einübung moralischer oder sozialer Normen findet sich auch in Bourdieus Ehrkonzept. Laut Bourdieu unterscheiden die Kabylen nif (point d’honneur, in der deutschen Übersetzung „Ehrgefühl“) von hurma (honneur, in der deutschen Übersetzung „Ehre“). Das weiblich konnotierte hurma ist sakral und deshalb „etwas Verlierbares [und] Verletzliches“. 94 Hurma zu schützen ist die Aufgabe des männlichen, im dialektischen Spiel von Herausforderung und Erwiderung zur Schau gestellten, nif. Nif ist daher gleichzeitig eine spielerische, emotionale und, liest man es mit Simmel, ästhetische Zurschaustellung des männlichen Ehrgefühls. Der soziale Sinn von nif liegt darin, dass sich die Männer gegenseitig öffentlich ihre Wachsamkeit über hurma als dem sakralen Bereich der Ehre in Erinnerung rufen. Mit Simmel gesprochen dient nif dazu, das Ethos der Ehre spielerisch darzustellen und somit einzuüben. In den Ehrwett- 87 Simmel (2001), S. 53. 88 Simmel (2001), S. 32, 48. Die Wechselwirkungen zwischen den Individuen machen bei Simmel „den Gesellschaftsbegriff […] in seiner weitesten Allgemeinheit“ aus. Wenn Individuen „Wirkungen“ miteinander, aneinander oder gegeneinander senden und empfangen, findet „Vergesellschaftung“ statt. Simmel (2001), S. 11 f. und 48 f. 89 Simmel (1970), S. 57. 90 Simmel (1970), S. 59. 91 Simmel (1970), S. 64. 92 Vgl. Simmel (1970), S. 61. 93 Vgl. Simmel (1983). 94 Bourdieu (1976), S. 45. Die Unterscheidung von nif und hurma verläuft entlang der Trennlinie von aktiv und passiv, draußen und drinnen sowie männlich und weiblich. Das System der Ehre baut auf einer Segregation der Geschlechter auf. Nif deckt sich mit der Virilität des Draußen; hurma entspricht der Sphäre des Hauses und umschließt damit das Weibliche. Wer hurma verliert, dem droht der „symbolische Tod“ in Form der „Unehre“ oder des „Exils“. Bourdieu (1976), S. 34. 39 kämpfen wird „die Manier, Mann zu sein“ eingeübt und erlernt. 95 Den einzelnen Herausforderern muss dieser Zusammenhang nicht unbedingt bewusst sein. Es reicht eben, wenn sie ein Gefühl für Ehre haben. Dass sich diese Logik schemenhaft auf die europäische Frühe Neuzeit übertragen lässt, zeigt Ulrike Ludwigs Studie zur Gewalt zwischen schwedisch-pommerschen Offizieren im frühen 18. Jahrhundert. Die Streitereien können - obwohl teilweise tödlich - als ‚ernste Spiele‘ um Ehre gefasst werden. Dem Ausbruch der Gewalt lagen jeweils keine handfesten Interessen zugrunde, die es ermöglichten, von einem „zweckrationalen“ Charakter der Gewalt auszugehen. Die Auseinandersetzungen entstanden vielmehr situativ und nahmen ihren Anfang nicht selten in Scherzen und Späßen. Auch hier hatten die ‚Gewaltspiele‘ also keine unmittelbare Zweckmäßigkeit. Den Auseinandersetzungen kam jedoch die Funktion zu, die ehrbasierten Gruppennormen des Offizierskorps zu stärken. 96 Ehrgefühle sind daher keine unkontrollierten Affekte oder Triebe, wie es die Theorie des Prozesses der Zivilisation nahelegt. Das körperlich-emotionale Erfahren und Einüben der Ehre dient dem Erlernen sozialer Normen und schützt und stützt dadurch letztlich die soziale Ordnung der Ehrgesellschaften. Auch den häufigen Wirtshaus- und Straßenschlägereien in der alteuropäischen Streitkultur, wie sie in zahlreichen Einzelstudien zum Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit nachgewiesen werden, hängt diese Note eines aus Selbstzweck betriebenen Spiels an. Oft kannten sich die Kontrahenten vor dem blutigen und manchmal tödlichen Zusammentreffen überhaupt nicht. Diese Tatsache verdeutlicht, dass es beim Spiel der Ehre meist nicht um versteckte materielle Interessen oder latent schwelende Konflikte ging, sondern auch hier die Einübung einer habituellen Disposition im Vordergrund stand. 97 Nach den Ausführungen zum Spiel und zur Emotion lässt sich die oben ausgeführte Kontroverse zwischen Spierenburg und Dinges um die Emotionalität und Ritualität von Gewalt in neuem Licht betrachten. Bourdieu zufolge handelt es sich bei den Ritualen nicht wie bei Dinges um strategische Manöver, da Spiele aus Selbstzweck gespielt werden. Gleichzeitig ist es unmöglich, rituelle Abläufe, wie Spierenburg es tut, als Folge von unkontrollierten Affektausbrüchen zu sehen, da ihr sozialer Sinn in der Einübung eines Ethos beziehungsweise einer sozialen Ordnung liegt. Gewaltrituale bringen die körperlich-emotionale Disposition der Ehre vielmehr erst hervor. Die Gefühle sind dem Ritual daher inner- 95 Bourdieu (1976), S. 206. 96 Ludwig (2011), S. 378-380. Für das Konzept der ‚ernsten Spiele‘ in der Soziologie, das auf Bourdieu zurückgeht, vgl. Meuser (2008a und 2008b). Für den Zusammenhang von Geselligkeit, Spiel und Gewalt vgl. Cottier/ Raciti (2013), S. 105-108. 97 Ludwig unterscheidet in diesem Sinne „Stellvertreterkonflikte“ und „Wettkampfspiele“. Ich halte die Bezeichnung ‚Stellvertreterkonflikt‘ für nicht ganz zutreffend, da Ehre (im Sinne von hurma) als soziale Tatsache immer auch strategische Interessen umfasst. Die Ehre tritt daher strenggenommen nicht an die Stelle der Interessen, sondern ist mit diesen gleichzusetzen, wie Walz für die Frühe Neuzeit zeigt. Ludwig (2011), S. 377-380. Walz (1992), S. 221-226. 40 lich. Wenn Gefühle im Gewaltritual kulturell erlernt, modelliert und aktiviert werden, ist es nicht möglich, Gewalthandlungen als Folge einer Unfähigkeit zur Affektkontrolle zu behandeln. Folgt man dieser Richtlinie löst sich der Gegensatz von Kulturalität und Emotionalität auf, der die bisherige historische Gewaltforschung dominiert. Anhand der umfassenden Wirkung der Ehre, die Bourdieu bei seinen Feldstudien in Algerien feststellte, entwickelte er das Habituskonzept als allgemeine soziologische Theorie menschlichen Verhaltens. 98 Für Bourdieu sind soziale Strukturen real, aber sie sind nicht unveränderbar und zeitlos. Tatsächlich seien Strukturen nichts anderes als eine zeitliche Aufeinanderfolge ähnlicher Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsweisen. Für ihre Weiterexistenz und anhaltende Gültigkeit müssen Strukturen deshalb fortlaufend durch die Akteure reproduziert werden. Die Tatsache, dass Strukturen gemacht werden, bedeutet nicht, dass die sozialen Akteure dabei völlig freie Hand hätten, denn die strukturgenerierenden „Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkschemata“ des Einzelnen sind wesentlich durch die bestehenden Strukturen vorgegeben. 99 Bourdieu spricht daher vom Habitus als einer gleichzeitig „strukturierten“ und „strukturierenden Struktur“. 100 Da der Habitus mit den sozialen Strukturen im Einklang steht, erscheinen diese den Menschen als stimmig und evident. Es liegt deshalb nahe, dass sie die Strukturen durch ihre Art zu handeln, zu denken, wahrzunehmen und zu fühlen reproduzieren. Der Habitus neigt also dazu, die Strukturen, die ihn hervorgebracht haben, erneut hervorzubringen. Bourdieu betont aber, dass sich Handlungsmuster aufs Haar gleichen können - so etwa bei Ritualen - „ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein.“ Der Habitus ist daher nicht ein strukturelles Gefängnis, das die Handlungsfreiheit des Einzelnen vollständig einschränkt. Menschen handeln nicht aus blindem Gehorsam oder Zwang; nicht, weil es unbedingt notwendig wäre, sondern weil es aufgrund des Habitus naheliegend und evident erscheint. 101 98 Das Habituskonzept ist Teil eines Theoriegebildes, mit dem es Bourdieu gelingt, zwischen zwei Positionen, die er als „Objektivismus“ auf der einen Seite und „Subjektivismus“ auf der anderen Seite zusammenfasst, zu vermitteln. Bourdieu fordert, den Blick von den objektiv feststellbaren Strukturen, dem opus operatum, zu lösen und auf das Erzeugungsprinzip dieser Strukturen, den modus operandi zu richten. Bourdieu (1976), S. 137-164. Den Begriff ‚Habitus‘ übernimmt Bourdieu vom Kunsthistoriker Erwin Panowsky, der diesen in Zusammenhang mit gotischer Kirchenarchitektur verwendet. Vgl. Bourdieu (1997). 99 Bourdieu (1976), S. 229. 100 Für eine ausführliche Thematisierung vgl. Bourdieu (1976) S. 139-164; auch Schwingel (1995), S. 41-58. 101 Bourdieu spricht von Strategien, die verfolgt werden, relativiert diesen Begriff aber sogleich wieder: „Der Habitus liegt einer Aneinanderkettung von ‚coups‘ zugrunde, die objektiv wie Strategien organisiert sind, ohne in irgendeiner Weise das Resultat einer wirklichen strategischen Absicht darzustellen.“ Bourdieu (1976), S. 165. 41 Indem der Habitus zwischen strukturellen Zwängen und individueller Handlungsfreiheit vermittelt, löst er auch eine klare Grenze zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein auf. Der Einzelne ist sich der Beweggründe für seine Handlungen nicht vollständig bewusst. 102 Der Habitus hat daher eine ausgeprägte körperlichemotionale Komponente. Die sozialen Strukturen werden „einverleibt“, zeigen sich also in der „Art und Weise, sich zu geben, zu sprechen, zu gehen“; darüber hinaus auch in der Art und Weise „zu fühlen und zu denken“. 103 Bourdieu nennt diese Komponenten des Habitus ‚Hexis‘ und meint damit den „wirklich gewordene[n], zur permanente[n] Disposition gewordene[n] einverleibte[n] Mythos“. 104 Das Habituskonzept, das Bourdieu aus seinem Ehrkonzept ableitet, ist also wiederum anschlussfähig an die historische Emotionsforschung. Beide gehen davon aus, dass Gefühle und soziokulturelle Umwelt in Wechselwirkung stehen und sich gegenseitig beeinflussen. Dies bedeutet auch, dass sich Gefühle durch den Wandel der gesellschaftlichen Strukturen verändern können - und vice versa. Dies bringt uns zurück zur Frage nach den Veränderungen des Gewalthandelns und der Gewaltwahrnehmung am Übergang zur Moderne. Gewalt in Familien- und Intimbeziehungen am Übergang zur Moderne Wie weiter oben gezeigt, hält Eisner in seiner Forschungssynthese fest, dass Gewalt von und gegen Frauen im Verlauf der Frühen Neuzeit im Vergleich zur Gewalt zwischen Männern weit weniger stark zurückging. Gleiches gilt für Gewalthandlungen in Familien- und Intimbeziehungen, bei denen der Frauenanteil sowohl bei den Opfern als auch den Tätern im Vergleich zur Gewalt in öffentlichen Settings hoch war. Diese empirischen Befunde sperren sich deshalb gegen die Erklärung, dass der Prozess der Zivilisation generell Aggressionen gedämpft und unterdrückt hätte. Aber auch die alteuropäische Ehrkultur mit ihrem Fokus auf zwischenmännliche Gewaltrituale hilft als Hypothese nicht weiter, um diese Persistenz zu erklären. Zur Gewalt in Familien- und Intimbeziehungen existieren weniger Studien als zur Gewalt zwischen Männern. Trotzdem lässt sich anhand des Forschungstandes erkennen, dass sich der soziale Sinn der Gewalt in Familien- und Intimbeziehungen am Übergang der Moderne entscheidend veränderte. Um den Veränderungen der Gewalt in Familien- und Intimbeziehungen näher zu kommen, muss die Opposition von Kulturalität und Emotionalität von 102 Bourdieu drückt dies folgendermaßen aus: „[D]ie Individuen [sind] eher vom Habitus besessen, als dass sie ihn besitzen“. Bourdieu (1976), S. 209. 103 Bourdieu (1976), S.164, 195. 104 Bourdieu (1976), S. 195. Hexis und Habitus bedeuten im Grunde das Gleiche. Vgl. dazu Bourdieu (1997), S. 59. 42 interpersonalem Gewalthandeln unbedingt überwunden werden. Dabei gilt in einem ersten Schritt das Bild einer affektkontrollierten und gewaltlosen modernen Kultur, das von Elias gezeichnet wird, zu falsifizieren. Denn nur so lässt sich die Fortexistenz der Gewalt in diesen Beziehungen unter den veränderten sozialen Bedingungen der Moderne verstehen. Die ersten Anzeichen einer veränderten Gewaltpraxis sind für das späte 18. Jahrhundert dokumentiert. Spierenburg präsentiert einen Fall aus Amsterdam aus dem Jahr 1775, bei dem der Schauspieler und erfolglose Poet Johannes van Gogh eine Prostituierte tötete, mit der er in einer unsteten Liebesbeziehung stand. Glaubt man van Goghs Verhöraussagen, hatte er ursprünglich den Plan, die untreue Geliebte aufzusuchen und sich vor ihren Augen selbst zu töten. 105 Aus der gleichen Zeit ist eine ähnliche Gewalttat aus London dokumentiert. 1779 lauerte der Geistliche James Hackman vor dem Covent Garden Theater Martha Ray auf, die zuvor dessen Heiratsantrag abgelehnt hatte, und tötete diese, als sie das Theatergebäude verließ, mit Schüssen in den Kopf, bevor er sich selbst mit der Waffe zu töten versuchte. 106 Spierenburg weist vorsichtig darauf hin, dass die Bewegung der Romantik möglicherweise einen Einfluss auf die Gewalttat des Amsterdamer Poeten und Schauspielers van Gogh hatte. 107 Im 19. Jahrhundert vermehrten sich die entsprechenden Fälle, so dass ihre Anzahl in den Gerichtsakten quantitativ ins Gewicht fällt. In den Nordoststaaten der USA häuften sich laut Roth ab den 1830er- und 1840er-Jahren sogenannte romance homicides enttäuschter Liebhaber gegen ihre ehemaligen Liebhaberinnen. Auch hier handelte es sich um gezielte Tötungen, häufig gefolgt von Selbsttötungsversuchen. 108 Für den industrialisierten Norden Frankreichs stellt Parrella fest, dass Tötungen von Familienangehörigen und Intimpartnern um 1870 einen signifikanten Wandel durchliefen. Während es bis zu diesem Zeitpunkt vorwiegend im Zusammenhang mit Streitigkeiten um Erbe und Besitz zu tödlicher Gewalt in Familien kam, dominierten gegen Ende des Jahrhunderts Fälle, bei denen niedergeschlagene oder verzweifelte Täter ihre Ehefrauen oder Geliebten töteten. 109 In Paris war der neue Gewalttypus gegen Familienangehörige und Liebespartner bereits in den 1870er-Jahren verbreitet, wie die Studie von Guillais zeigt. 110 In der durch Immigration rasch wachsenden Stadt Chicago veränderte sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Gewaltverhalten in Familien- und Intimbeziehungen auf ähnliche Weise. Adler berechnet, dass die tödliche Gewalt zwischen Familienangehörigen im Zeitraum zwischen 1875 und 1920 insgesamt zunahm. Gleichzeitig stellt er einen tiefgreifenden Wandel bei 105 Spierenburg (2004), S. 117-197. 106 Brewer (2004), S. 19-21; Brewer (2000), S. 321-324. 107 Spierenburg (2004), S. 160-162. 108 Roth (2009), S. 279-290. 109 Parrella (1992). 110 Guillais (1991). 43 der Gewaltausübung gegen Familienangehörige und namentlich Ehefrauen fest. Zu Beginn der Untersuchungsperiode dominieren in Chicago sogenannte rage killers, die ihre Frauen ohne Absicht im Streit töteten. Die Auseinandersetzungen entfachten häufig aufgrund von Kleinigkeiten. Die Täter, die zum Zeitpunkt der Tat nicht selten betrunken waren, rechtfertigten oder bedauerten ihre Schläge als Züchtigung ihres Opfers. 111 Um die Jahrhundertwende wurden auch in der amerikanischen Metropole die Fälle häufiger, bei denen Täter ihre Opfer nicht während einer Auseinandersetzung töteten, sondern die Tat vorbereiteten. Ausschlaggebend für die Tat waren Trennungen, Scheidungen oder Entlassungen. Um ihr Vorhaben auszuführen, benutzten die Täter meist Revolver. Nach der Tat folgte oft ein teilweise erfolgreicher Selbsttötungsversuch. Ab 1895 stellt Adler für Chicago zudem einen rapiden Anstieg der gezielten Tötungen von heranwachsenden Kindern durch ihre eigenen Väter fest, die nach sehr ähnlichem Muster wie die neue Gewaltpraxis gegen Ehefrauen verliefen. 112 Die umfangreichste Studie zur Gewalt in der Ehe in der Frühen Neuzeit hat Dorothea Nolde anhand von Gerichtsakten aus Frankreich um 1600 vorgelegt. Die Resultate zeigen, dass die tödlich endenden Konflikte gegen Ehegatten dem gleichen Muster folgten, die Parrella und Adler zu Beginn der von ihnen untersuchten Perioden beobachten. Vor Gericht schilderten die Angeschuldigten ihren Gewalteinsatz als Züchtigung, verwiesen dabei auf das Fehlverhalten und die Provokationen des Opfers im Vorfeld der Tat und rückten ihr eigenes Verhalten in ihrer Ehe in ein günstiges Licht. Oder sie stritten die Anklage überhaupt ab. 113 Während Roth mit seiner Bezeichnung romance murder die veränderten Gewaltpraktiken ähnlich wie Spierenburg als Ausdruck romantischer Liebesvorstellungen konzipiert, interpretieren Parrella und Adler den Wandel bei der Gewaltpraxis als Folge tiefgreifender sozialer Transformationen während der Industrialisierung. Die Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft führte zu einer strikteren Trennung von öffentlicher und privater Sphäre. Dies hatte eine vergleichsweise stärkere Intimisierung der Familie und Isolierung des Heims zur Folge. Bei gleichzeitiger Entmündigung durch Fabrik- und Lohnarbeit stellte der private Bereich fortan die Hauptquelle männlichen Selbstbewusstseins dar. 111 Adler (2006), S. 51. 112 Adler (2006), S. 59, 70. 113 Nolde (2003), S. 389. Gerichtsprozesse wegen Gewalthandlungen in Ehe und Familie sind in der deutschsprachigen Gewaltforschung zur Frühen Neuzeit bekannt. Dabei wurde hervorgehoben, dass Gewalthandlungen gegen Ehepartner und Familienmitglieder wesentlich mit der symbolisch-materiellen Ordnung des Hauses zusammenhingen. Forschungsarbeiten im Rahmen der Genderstudies verweisen zudem auf eine Persistenz züchtigender Gewalt bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auffallend ist dabei allerdings wieder, dass in der deutschsprachigen Forschung - ebenso wie bei der Gewalt zwischen Männern - bisher keine Versuche unternommen werden, historische Entwicklungen in den Blick zu nehmen. Zur Frühen Neuzeit: Hohkamp (1995); Eibach (2007); zum 19. Jahrhundert: Töngi (2004), S. 207-308; zum 20. Jahrhundert: Arni (2004), S. 139-155; Matter (2005). 44 Männer, die an diesen neuen Herausforderungen scheiterten oder zu scheitern drohten, konnten beschließen, gemeinsam mit ihren Liebsten zu sterben. 114 Spierenburg und Roth nennen einen wichtigen Punkt. Der Verweis auf die Romantik als ästhetische Bewegung ist vielversprechend. Allerdings dürfen auch die ökonomischen und gesellschaftlichen Realitäten, welche Adler und Parrella für die Veränderung der Gewaltmuster verantwortlich machen, nicht aus den Augen verloren gehen. Um dem veränderten Gewaltverhalten auf die Spur zu kommen, gilt es vielmehr die ambige Beziehung und spannungsreiche Wechselwirkung zwischen der industriellen Moderne und der ästhetischen Bewegung der Romantik unter die Lupe zu nehmen. Denn dahinter verbergen sich die Antworten auf die Frage nach spezifischen Kulturalitäten und Emotionalitäten der Gewalt im Kontext moderner Gesellschaften. In A History of Murder versucht Spierenburg die Veränderungen bei der Gewalt in Familien- und Intimbeziehungen zu systematisieren. Er unterscheidet dabei drei Typen: ‚züchtigende‘ („punishment-related“), ‚wutbezogene‘ („anger-related“) und ‚spannungsbezogene‘ („tension-related“) Gewalt. 115 Obwohl die ersten beiden auch für moderne Kontexte dokumentiert sind, handelt es sich tendenziell um ein vormodernes Gewaltphänomen. Allerdings tut sich Spierenburg in der Folge mit der Unterscheidung der ersten beiden Typen schwer, spricht er doch an anderer Stelle von übermäßiger Züchtigungsgewalt in hierarchischen Beziehungen („hierarchy punishment that got out of hand“). 116 Deutlicher von den ersten beiden Gewalttypen kann Spierenburg die ‚spannungsbezogene‘ Gewalt unterscheiden, die empirisch vornehmlich für die Zeit nach 1800 feststellbar ist. Erstaunlicherweise greift Spierenburg bei systematischen Überlegungen seine These zur Romantik, die weiter oben präsentiert wurde, nicht wieder auf. Als Anhänger von Elias‘ Zivilisierungstheorie fragt er sich vielmehr, wie sich die Zunahme der ‚spannungsbezogenen‘ Gewalt nach 1800 mit der angeblichen Zunahme der Affektkontrolle vereinen lässt. 117 Die Mühe, die ihm die Antwort auf diese Frage bereitet, ist nicht zu übersehen. Wie bei der Gewalt zwischen Männern deutet Spierenburg vorsichtig, dass die Ehre auch für die sogenannte ‚wutbezogene, übermäßige Züchtigungsgewalt‘ in Familien- und Intimbeziehungen konstitutiv war. Um eine Abgrenzung zur ehrbezogenen Variante zu ziehen, betont er, dass bei der ‚spannungsbezogenen‘ Gewalt nach 1800 „Emotionen“ eine wichtige Rolle spielten. 118 Heißt dies, dass Ehre nicht emotional war? Nach den obigen Ausführungen lassen sich Ehre und Emotion allerdings nicht plausibel als Gegensatzpaar denken und gerade Spierenburg betont ja in Abgrenzung zur deutschsprachigen Gewaltforschung, dass Gewalthandlungen im Kontext der 114 Parrella (1992), S. 651-654; Adler (2006), S. 80-84. 115 Spierenburg (2008), S. 132-140. 116 Spierenburg (2008), S. 224. 117 Spierenburg (2008), S. 224. 118 Spierenburg (2008), S. 141. Aus dem Englischen übersetzt von M.C. 45 Ehre hochgradig affektiv gewesen seien. Gleichzeitig kann Spierenburg mit seinem theoretischen Werkzeug nicht schlüssig auflösen, weshalb mit zunehmender Dauer des Prozesses der Zivilisation plötzlich ein Gewalttypus häufiger wird, für welchen Emotionen eine grundlegende Bedeutung hatten. Der Prozess der Zivilisation sieht doch eigentlich eine Dämpfung und Unterdrückung der Affekte vor. Erneut wird deutlich erkennbar, dass die Dichotomie ‚Emotion/ Kultur‘ für das Verständnis von interpersonaler Gewalt mehr Schwierigkeiten schafft als Lösungen bereithält. Gefühle im Zivilisationsprozess. Diskurs und Praxis der ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ Im Zusammenhang mit der Frage um die Emotionalität der ‚spannungsbezogenen‘ Gewalt ist auffallend, dass Spierenburg diesen Typus auch als crime passionnel bezeichnet (er verwendet den französischen Ausdruck). 119 Ebenso verwenden Parrella und Guillais den Begriff crimes of passion, um die neuartigen Gewaltmuster im 19. Jahrhundert zu beschreiben. 120 Damit greifen sie einen Begriff auf, der ursprünglich aus dem französischen Journalismus des frühen 19. Jahrhunderts stammt. ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ wurden nach Ansicht der Zeitgenossen im Unterschied zu anderen Verbrechen ohne Arglist und eben aus purer Leidenschaft begangen. Es handelte sich also um eine positiv konnotierte Bezeichnung, mit der harte Gerichtsurteile und vor allem die Todesstrafe kritisiert wurden. Juristische Bedeutung erlangte diese Unterscheidung nicht. 121 Die unreflektierte Verwendung des Begriffs ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ als analytische Kategorie in der aktuellen Forschung ist vor dem Hintergrund der historischen Emotionsforschung natürlich problematisch, denn Menschen fühlen niemals völlig unabhängig von den kulturellen und sozialen Kontexten, in denen sie sich bewegen. Ein Verbrechen kann - dies sollten die bisherigen Ausführungen gezeigt haben - niemals einfach aus purer Leidenschaft begangen werden. 122 119 Spierenburg (2008), S. 184-192. 120 Als analytischer Begriff wird crime passionnel beziehungsweise crime of passion aktuell in der anglofonen und vor allem frankofonen Gewaltforschung verwendet. Eine breit akzeptierte Definition existiert nicht. Einigkeit besteht darüber, dass die Motive der Liebe und Eifersucht eine grundlegende Rolle spielen und der Gewalteinsatz auf den Tod des Opfers zielt. Opfer von ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ sind typischerweise Geliebte, Ehegatten und unerwünschte Nebenbuhler. Guillais erweitert den Kreis um die Tötung heranwachsender Kinder durch deren Eltern. Parrella (1992), S. 647; Guillais (1991), S. 39-46. Für den Versuch einer Definition der ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ vgl. Garnot (2014) S. 15-42. Ähnlich auch Spierenburg (2004), S. XV f. 121 Zum Ursprung des Begriffs vgl. Garnot (2014), S. 10. 122 Aus der Warte der aktuellen Gewaltforschung unterzieht Eliza Ferguson in ihrer Studie zu intimate violence zwischen Ehe- oder Liebespartnern im Paris des Fin de Siècle den Begriff crime passionnel einer grundlegenden Kritik. Sie verweist darauf, dass den scheinbar rein lei- 46 Als historischer Quellenbegriff ist ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ aber trotzdem äußerst interessant; und zwar aus zwei Gründen: Einerseits ist er Teil und Ausdruck des modernen Diskurses, der eine strikte Trennung zwischen Emotion und Kultur beziehungsweise Natur und Kultur oder Emotion und Vernunft etablierte. Diese Trennung ist auch für Elias‘ Prozess der Zivilisation konstitutiv und leitet dadurch bis heute Teile der historischen Gewaltforschung an. Andererseits verweist die Verwendung des Begriffs im französischen Journalismus auf eine Faszination für ‚leidenschaftliche‘ Gewalt in der Moderne. Für John Baugher Bittinger, der 1873 eine Studie zur Kriminalität im Bundesstaat Pennsylvania publizierte, waren schlicht alle Gewaltdelikte crimes of passion. 123 Differenzierter verwendete der Turiner Arzt und Begründer der naturwissenschaftlich ausgerichteten positiven Schule der Kriminologie, Cesare Lombroso, den Begriff. 124 In seinem Standartwerk L’Uomo delinquente von 1876 (deutsch: Der Verbrecher) bestimmte Lombroso, dass die „Verbrecher aus Leidenschaft“ „[e]ine von allen übrigen Kategorien verschiedene Klasse von Verbrechern“ darstellten. Diese Verbrecher handelten nach Lombroso in „überwallender, plötzlicher Leidenschaft“. 125 Vom Verbrecher aus Leidenschaft, den Lombroso auch „Gelegenheitsverbrecher“ nannte, unterschied er den „geborene[n] Verbrecher“ oder „Gewohnheitsverbrecher“. Die Letzteren galten ihm als „unverbesserlich“. 126 In seiner unsystematischen und widersprüchlichen Darstellungsweise relativierte Lombrosos diese Aussage zwar sogleich, indem er schrieb, dass „Leidenschaften die Grundlage aller Verbrechen“ seien. 127 Er unterschied dabei aber „Liebe oder verletztes Ehrgefühl [als] Leidenschaften, die in der Regel edel und öfter erhaben sind“, von „thierischen Leidenschaften“ der „eigentlichen Verbrecher, […] wie die Rache, Habgier, fleischliche Begierde und Trunksucht“. 128 Der Darwin-Übersetzer und Evolutionist Lombroso glaubte an der Schädelform und den Gesichtszügen verurteilter Verbrecher den Beweis für die Vererbung verbrecherischer Neigungen erkennen zu können. 129 Vor dem Hintergrund dieses Programms ist denschaftlichen Gewaltausbrüchen tiefgreifende, oft durch ökonomische Not bedingte Beziehungskonflikte zugrunde lagen. Der zeitgenössischen und bis in die heutige Zeit nachhallenden Vorstellung, dass die Tötungsversuche ‚aus Leidenschaft‘ begangen wurden, hält Ferguson den schwierigen Alltag der Pariser Unterschichten entgegen. Unter diesem Blickwinkel war Gewalt gegen Ehe- und Liebespartner keineswegs rein affektiv begründet, sondern eine Handlung, die nicht unabhängig vom beschwerlichen Leben in den quartiers populaires der französischen Hauptstadt verstanden werden kann. Ferguson (2010), S. 1-17. 123 Bittinger (1873), S. 222. 124 Für eine diskurshistorische Perspektive auf Cesare Lombrosos Kriminologie vgl. Pick (1993), S. 109-152. Zur Geschichte der Kriminologie in Deutschland vgl. Becker (2001); zur Schweiz vgl. Germann (2004). 125 Lombroso (1890), Bd. 2, S. 1. 126 Lombroso (1890), Bd. 1, S. 214; Lombroso (1890), Bd. 2, S. 12. 127 Lombroso (1890), Bd. 2, S. 1. 128 Lombroso (1890), Bd. 2, S. 12. 129 Pick (1993), S. 109-139. 47 auffallend, dass ihm bei den ‚Verbrechern aus Leidenschaft‘ die „Schönheit der Gesichtszüge“ imponierten. 130 Die „körperliche Schönheit“ der ‚Verbrecher aus Leidenschaft‘ korrelierte für Lombroso mit deren „edle[r] Gesinnung“. 131 Die Begeisterung für die ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ in der Kriminologie flachte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Mehr als fünfzig Jahre nachdem L’Uomo delinquente erstmals erschienen war, bezog der Genfer Kriminologe Léon Rabinowicz 1930 Stellung gegen die angeblich weit verbreitete Nachsicht, mit der die Öffentlichkeit und vor allem die Geschworenen den ‚Verbrechern aus Leidenschaft‘ begegneten und forderte entschieden ein Umdenken. Obwohl Rabinowicz Lombroso als einen großen Meister der Kriminologie huldigte und sich als sein Schüler begriff, prangerte er dessen wohlwollende Beurteilung der ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ an. 132 Für die historische Gewaltforschung reicht es nicht aus, den Begriff ‚Verbrechen aus Leidenschaft’ einfach als moderne Fabel zu entlarven. Denn durch eine diskursanalytische Dekonstruktion allein kommt man den festgestellten Veränderungen bei der Gewaltpraxis nicht näher. Dafür ist es notwendig die Perspektive zu ändern. Es kann nicht länger nur gezeigt werden, dass die ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ oder der ‚Prozess der Zivilisation‘ irreführende Analyseinstrumente für die historische Gewaltforschung darstellen. Vielmehr muss gleichzeitig nach den Effekten gefragt werden, die diese Denk- und Wahrnehmungsmuster auf der Handlungsebene hatten. Die spezifisch moderne Wahrnehmung von Gewalt als unvernünftig, leidenschaftlich und affektiv war für die französischen Journalisten, Lombroso und Elias real. Das gleiche Wahrnehmungsmuster - und das ist im Zusammenhang dieser Arbeit entscheidend - teilten zunehmend auch die Akteure, die Gewalt ausübten - so auch in Bern zwischen 1868 und 1941. Die These, die im weiteren Verlauf verfolgt werden soll, lautet deshalb, dass der neue Gewaltdiskurs und die Veränderungen der Gewaltmuster nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Beide sind Teil einer spezifischen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweise des modernen Subjekthabitus. Subjektivität als widersprüchlicher Habitus der Moderne Inspiriert von Michel Foucaults Arbeiten zur historischen Bedingtheit des Subjekts, konzipiert Andreas Reckwitz die Subjektivität in Anschluss an Bourdieu als spezifisch modernen Habitus, dessen Verbreitung eng mit dem sozialen Aufstieg des Bürgertums beziehungsweise der middle-classes in Europa und den USA seit dem 17. Jahrhundert, aber vor allem seit dem 18., 19. und frühen 20. Jahrhun- 130 Lombroso (1890), Bd. 2, S. 2. 131 Lombroso (1890), Bd. 2, S. 3. 132 Rabinowicz (1931), S. 208. 48 dert verbunden ist. 133 Grundlegend für die Betrachtung der Subjektivität als Habitus ist die Feststellung, dass die Subjektivität - gleich der Ehre - keine universelle Kategorie darstellt. Vielmehr muss sie als soziale und kulturelle Praxis und damit auch als historisch wandelbar behandelt werden. 134 Aus einer kulturhistorischen Perspektive geht es nicht darum zu behaupten, dass es das Subjekt beziehungsweise die Subjektivität nicht gibt oder nie gegeben hat (oder im Gegenteil: schon immer gegeben hat). Die Aufgabe besteht vielmehr darin, Subjektivität als historisch gewachsenen Teil moderner Gesellschaftsordnungen zu begreifen. Um es im Sinne von Bourdieus Habituskonzept zu sagen: Die Subjektivität ist in den modernen Gesellschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert gleichzeitig „strukturierende“ und „strukturierte“ Struktur. 135 Dies bedeutet, dass das Subjekt verschwinden würde, wenn es nicht ständig durch Einübung neu hervorgebracht wird. Um dem Subjekt auf die Spur zu kommen, gilt es deshalb wiederum die Praktiken aufzuspüren, mit denen Menschen ihre eigene Subjektivität und die 133 In Anlehnung an Reckwitz werden die Begriffe ‚Subjektivität‘ und ‚Subjekt‘ in der Folge deckungsgleich verwendet. Vgl. Reckwitz (2006), S. 9-31, 46. Ich erachte die Begriffe ‚Subjekt‘ beziehungsweise ‚Subjektivität‘ synonym zu den Begriffen ‚Individuum‘ und ‚Individualität‘, wie sie in der deutschsprachigen Kulturgeschichte zum Bürgertum Verwendung finden. Zu Individuum/ Individualität und Subjekt/ Subjektivität in der deutschsprachigen Bürgertumsforschung vgl. Trepp (2000), S. 28; Baur (2000), S. 105-107. Zur Geschichte des Individuums klassisch: van Dülmen (1997). 134 Die Fokussierung auf einen weitgehend einheitlichen Subjekthabitus der bürgerlich-modernen Gesellschaft bedeutet, dass es innerhalb dieser Gesellschaft keine schicht-, klassen- oder geschlechtsspezifischen Habitusformen gab. Das zeigt Bourdieu mit seinen Forschungen eindrücklich. Nimmt man den Subjekthabitus in den Blick, dann rückt der Fokus aber von den feinen Unterschieden der sozialen Distinktionen zwischen den Schichten und Geschlechtern ab und schwenkt auf die ‚groben‘ historischen Transformationen des Habitus. Durch den Gewinn an Flughöhe wird die Subjektivität als schicht- und geschlechterübergreifender Habitus in der bürgerlich-modernen Gesellschaft erkennbar. 135 Bourdieu selbst arbeitet in seinen Forschungen zur französischen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts nie einen spezifischen Subjekthabitus heraus. Das anhand der ethnografischen Analyse der kabylischen Ehrgesellschaft entwickelte Habituskonzept dient ihm dazu, die feinen Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Schichten kritisch in den Blick zu nehmen, um an diesen aufzuzeigen, wie scheinbar frei gefällte, ästhetische Geschmacksurteile und scheinbar frei gewählte Lebensstile mit strukturellen Machtverhältnissen zusammenhängen. Subjektivität scheint bei ihm aber nicht ein spezifischer Habitus zu sein, sondern selbst Teil des Habitus. Der Habitus ist seiner Meinung nach „zwar subjektives, aber nicht individuelles System verinnerlichter Strukturen“. Bourdieu versteht daher Subjektivität implizit als eine analytische Kategorie, die tendenziell mit dem Habitus übereinstimmt. Vor allem gegen seinen Zeitgenossen Jean-Paul Sartre gerichtet, betrachtet er das Subjektive als wechselseitig abhängig von den sozialen Strukturen und schreibt so gleichermaßen gegen subjektivistische wie objektivistische Positionen in der Philosophie an. Obwohl Bourdieu selber Subjektivität nicht als Habitus beschreibt, legt er mit dieser Auffassung doch eine Grundlage für eine historische und kulturelle Betrachtung von Subjektivität. Bourdieu (1976), S. 188; Bourdieu (2013), S. 17-27; Barlösius (2006), S. 41-58. 49 Subjektivität anderer hervorbringen. 136 Foucault, dessen Lebenswerk eine historische Annäherung an das moderne Subjekt darstellt, spricht in diesem Zusammenhang von verschiedenen „Formen der Subjektivierung“. 137 Anders als die Ehre, die in Face-to-Face-Gesellschaften von den anwesenden Akteuren in der unmittelbaren Interaktion wechselseitig zugeschrieben und ausgehandelt wird, erfolgt die Bestimmung von Subjektivität - daher die Subjektvierung - weniger von Angesicht zu Angesicht, weniger in der Interaktion, sondern mehr auf indirektem Weg, im Wechselspiel der Individuen mit Institutionen und Wissensfeldern wie die Moralphilosophie (souveränes und moralisches Subjekt), der Staat (Citoyen), das Recht (Rechtssubjekt), die Privatwirtschaft (autonomes Subjekt) und die Humanwissenschaften (normales Subjekt). Die Geschichte der Subjektivierung ist nicht zu trennen von der Geschichte dieser Felder und Institutionen. 138 Aber auch die Kunst - dies unterschätzt Foucault ebenso wie die an ihn anschließende sozial- und kulturhistorische Subjektforschung größtenteils - hielt spezifische Formen der Subjektivierung bereit, die für das Verständnis der Persistenz interpersonaler Gewalt in der Moderne unbedingt in den Blick genommen werden müssen. 139 136 Reckwitz (2006), S. 9-31. Zuletzt sind drei Sammelbände zur Thematik der Subjektivierung erschienen: Keller/ Schneider/ Viehöver (2009); Gelhard/ Alkemeyer/ Ricken (2013); Alkemeyer/ Budde/ Freist (2013). 137 Foucault (2007b), S. 81. Für die Historizität der Subjektivierungspraktiken und des Subjekthabitus sind die Arbeiten von Foucault grundlegend. „Das umfassende Thema meiner Arbeit“ schreibt der französische Philosoph 1982, zwei Jahre vor seinem Tod, „ist also nicht die Macht sondern das Subjekt.“ Er, dem vorgehalten wird, eine subjektlose Geschichte mit einer obskuren anonymen Macht in der Hauptrolle zu schreiben, hält fest, dass es ihm im Grunde nie um etwas anderes als um eine „Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektvierung des Menschen in unserer Kultur“ ging. Foucault (2007b), S. 81. Eine hilfreiche Annäherung an Foucaults Arbeiten zum Subjekt ermöglicht Lemke (1997), S. 151-251. 138 Allgemein zur Kulturgeschichte der modernen Subjektivität Reckwitz (2006), S. 97-274. Die Grundzüge des Zusammenhangs von politischen und humanwissenschaftlichen Diskursen und Institutionen auf der einen und Subjektivität auf der anderen Seite hat Foucault herausgearbeitet. Einen Überblick über Foucaults Arbeiten zur Subjektivität gibt Dahlmanns (2008), S. 24-149. Für den Zusammenhang von Staat, Verwaltung und Subjektivität vgl. Lemke (1997); für den Zusammenhang von Psychologie und Subjektivität vgl. Rose (1998 und 1999). 139 Bei Foucault ist der moderne Mensch in erster Linie ein vernünftig-normales Subjekt, wie er in einem Interview kurz vor seinem Tod 1984 mit Bedauern festhielt: „Wir haben in unserer Gesellschaft kaum mehr eine Erinnerung an diese Idee, die Idee, wonach das Hauptkunstwerk, für das man Sorge zu tragen hat, die wesentliche Zone, auf die man ästhetische Werte anzuwenden hat, man selbst, das eigene Leben ist, die Existenz ist. Man findet das in der Renaissance, doch in einer anderen Form, und noch im Dandyismus des 19. Jahrhunderts, aber das waren nur kurze Episoden.“ Im Dandyismus des 19. Jahrhunderts sieht Foucault eine alternative Art der Lebensführung, die nicht in einer Erfüllung der moralischen und vernünftigen Anforderungen aufgeht, sondern sich diesen durch eine Ästhetisierung des Selbst entzieht. Um dieser anderen Subjektivierung auf die Spur zu kommen „müsste [man]“, folgert Foucault, „eine Geschichte der Selbsttechniken und der Ästhetisierung der Existenz in der modernen Welt schreiben.“ Eine solche, und zwar für Foucaults Perspektive möglicherweise ernüchternde Geschichte, legt 50 Die Besonderheit der habituellen Disposition der Subjektivität besteht laut Reckwitz gerade darin, dass sie sich aus zwei widersprüchlichen und antagonistischen Aspekten zusammensetzt. Das Subjekt ist „hybrid“, wie er es ausdrückt. 140 Verantwortlich für die Friktion ist, dass die Menschen in den modernen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts Vernunft und Leidenschaft beziehungsweise Moral und Ästhetik als Kategorien wahrnahmen, die sich tendenziell wechselseitig ausschlossen. 141 Anders als beim Ehrhabitus, bei dem die hurma als moralisch-soziale Struktur und nif als ihr ästhetischer und körperlich-emotionaler Ausdruck einander reibungslos ergänzen, besteht in der modernen Subjektkultur zwischen den Subjektivierungsformen der Moral und Vernunft auf der einen Seite und der Ästhetik und Kunst auf der anderen Seite ein angespanntes, widersprüchliches und ambiges Verhältnis. Auf der einen Seite steht das moralisch-vernünftige Subjekt, welches sich durch spezifische moralphilosophische, politische, ökonomische, wissenschaftliche und rechtliche Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen konstituiert, die sich im Zuge der Aufklärung als moralische Werte in der westlichen Welt durchsetzen. Der gute Citoyen, der erfolgreiche Geschäftsmann, der gescheite Bildungsbürger, das redliche Rechtssubjekt oder der sorgsame Ehemann und Familienvater handelten diszipliniert, kontrolliert, vernünftig und sorgten sich um ihre Gesundheit. 142 Innerhalb der Matrix der Subjektkultur war die Figur des moralisch-vernünftigen Subjekts stark männlich konnotiert. Frauen wurden die Eigenschaften der Vernunft und Moral nicht vollständig zugesprochen. Trotzdem Bourdieu mit Die Regeln der Kunst vor. Zwar streicht auch Bourdieu die Andersartigkeit der „Lebenskunst“ der Pariser Boheme des 19. Jahrhunderts heraus. Gleichzeitig zeigt er aber auf, dass sich die Boheme als Bewegung erst mit den ökonomischen und sozialen Gegebenheiten der bürgerlichen Gesellschaft formieren konnte, weil sich erst in dieser Gesellschaft ein freier Markt für Literatur und bildende Kunst herausbildete, der eine große Zahl an von patrimonialen Strukturen unabhängigen Künstlern und Literaten aufnehmen konnte. Die Unabhängigkeit von persönlichen Beziehungen war aber nur auf Kosten einer Unterwerfung unter die Kräfte des Marktes möglich. Deshalb war auch die Lebenskunst der Bohemiens und der Dandys als Gegensatz zur moralischen und vernünftigen Lebensführung der Bourgeoisie immer an die Existenz der letzteren gebunden. Die Lebenskunst der Boheme und die Lebensführung der Bourgeoise stützten sich in ihrem Antagonismus gegenseitig. Bourdieu spricht vom literarischkünstlerischen Feld als einer „verkehrte[n] Welt“ der bürgerlichen Gesellschaft. Foucault (2007c), S. 210, 217; Bourdieu (2001), S. 93, 100. 140 Der Titel von Reckwitz‘ Studie lautet: Das hybride Subjekt. Reckwitz (2006). 141 Reckwitz sieht drei antagonistische Subjektkulturen, die aufeinanderfolgend in der Moderne auftraten. Für die bürgerliche Moderne (18. Jahrhundert bis ungefähr um 1920) dominierten das „moralisch-souveräne Allgemeinsubjekt“ und das „expressive Individualsubjekt“. Von 1920 bis ungefähr um 1970 sieht Reckwitz einen Subjekthabitus, dem er die antagonistischen Positionen „nach-bürgerliches Angestelltensubjekt“ und „Avantgarde-Subjekt“ zuweist. Für die Postmoderne geht er von einem „konsumatorische[n] Kreativsubjekt“ und einem „gegenkulturellen Subjekt“ aus. Im Rahmen dieser Arbeit interessiert vor allem die erste Disposition der bürgerlichen Moderne. Reckwitz (2006), S. 97, 275, 441. 142 Zum Verhältnis von Körper und Subjekt vgl. Sarasin (2003), S. 11-31. 51 wurden auch sie an den moralischen Geboten gemessen, obwohl ihnen die Erfüllung des Ideals von männlicher Seite nicht zugetraut wurde. 143 Auf der anderen Seite stand das ästhetisch-leidenschaftliche Subjekt der Kunst, welches als Figur im Gegensatz zur ‚männlichen‘ Vernunft und Moral nicht geschlechtskonnotiert war und beiden Geschlechtern offenstand. Die ästhetischen Formen der Subjektivierung strebten nicht nach Dressur, Unterdrückung, Beherrschung und Kontrolle der eigenen Leidenschaften. Vielmehr ging es um eine Kultivierung, kreative Gestaltung und ein körperlich-emotionales Ausleben des Selbst. Die Beziehung des ästhetischen Subjekts zu sich war die eines Künstlers zu seinem Kunstwerk. Unter diesen Vorzeichen war das Leben keine strenge Dressur, sondern eine stilvolle Inszenierung. Die Ästhetisierung des Selbst hatte ihre eigenen kulturellen Modi. Die Romantik, die, wie es die historische Gewaltforschung vorsichtig andeutet, möglicherweise das Skript für die veränderten Gewaltpraktiken in Familien- und Intimbeziehungen im modernen Kontext bereitstellte, gab ästhetische Subjektivierungsformen vor, die sich nicht auf Vernunft, sondern auf eine Kultivierung des Gefühls stützten. Es bestanden in der modernen Subjektkultur durchaus Brücken zwischen Vernunft und Leidenschaft. Die Durchsetzung der romantischen Liebesheirat im Bürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann als eine Überschneidung leidenschaftlich-ästhetischer Subjektivität und moralisch-vernünftiger Subjektivität verstanden werden. 144 Grundsätzlich kann für die Subjektkultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aber von einem spezifischen Spannungsverhältnis zwischen Emotionen, Affekten sowie Leidenschaften einerseits und Vernunftmoral sowie Affektkontrolle beziehungsweise Selbstbeherrschung andererseits ausgegangen werden. In dieser Matrix wurde der Gegensatz von Emotionalität und Kulturalität festgeschrieben, der, wie oben gezeigt, bisher die historische Gewaltforschung bestimmte und den die historische Emotionsforschung in jüngster Zeit zu dekonstruieren begonnen hat. Hypothetisch ist anzunehmen, dass die Subjektivität durch die starke Betonung auf die Vernunftmoral und der damit einhergehenden Obsession für Affektkontrolle eine gewalteinhegende Wirkung entfaltete. Vor allem Gewalthandlungen und die damit einhergehenden Emotionalitäten, wie sie innerhalb des sozialen Systems der Ehre praktiziert wurden, galten in der spezifischen modernen Wahrnehmung als unangemessenes Überbleibsel einer primitiven, vorzivilisierten Kulturstufe. Vor allem der Rückgang der Gewalt zwischen Männern im öffentlichen Raum aber auch die Abnahme alteuropäischer Gewaltmuster im Haus und in der Familie können daher als Folge des Aufkommens und der Verbreitung 143 Zur Genealogie des biologistisch-hierarchischen Geschlechterverständnisses in der Moderne vgl. Honegger (1991); Butler (1997); aus kulturhistorischer Perspektive: Frevert (1995). 144 Reckwitz (2006), S. 140-146. Vgl. auch Trepp (2000), S. 36-44. 52 dieser neuen habituellen Disposition der Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle begründet werden. Aber wird mit dieser Sichtweise nicht lediglich das Postulat des Zivilisierungsprozesses wiederholt? Auf theoretischer Ebene besteht der entscheidende Unterschied zwischen Foucaults Theorie der Subjektivierung und Elias‘ Zivilisationsprozess darin, dass Foucault nicht evolutionistisch argumentiert. 145 Das Aufkommen und die Verbreitung der Subjektkultur ist nicht das Resultat eines fortschreitenden und unaufhaltbaren Prozesses, sondern beruht auf spezifischen historischen Machtverhältnissen, die, einmal entstanden, auch wieder verschwinden können. Das Bild, das Elias und Foucault vom modernen Menschen zeichnen, ist aber in der Tat zum Verwechseln ähnlich. Selbstbeherrschung, Selbstbeobachtung und Affektkontrolle waren auch für das „vernünftig-normale Subjekt“ (Michel Foucault) konstitutiv. 146 Elias und tendenziell auch Foucault übersehen die Möglichkeiten der ästhetisch-leidenschaftlichen Subjektivierung durch die Kunst, die sich gerade durch eine Kultivierung und Modellierung der Gefühle von den moralphilosophischen, staatlichen, rechtlichen und wissenschaftlichen Subjektivierungsformen abgrenzten und sich diesen entzogen. Deshalb erscheint die moderne Gesellschaft als leidenschafts- und affektlos. Das Übersehen ästhetisch-leidenschaftlicher Selbstentwürfe stellt nach der Unterschätzung der Komplexität spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gesellschaften das zweite Defizit in Elias’ Theoriegebäude dar. Und auch Foucault bietet trotz seinen wertvollen Arbeiten für die historische Gewaltforschung wenig Hilfestellung. Folgt man seinem Konzept der ‚vernünftig-normalen Subjektivierung‘, lässt sich lediglich behaupten, dass Gewalttäter undiszipliniert, unvernünftig und möglicherweise anormal wahrgenommen wurden. Dabei handelt es sich aber um eine rein negative Definition, die zwar das Potenzial besitzt, die Abnahme gewisser Gewalttypen - im Gegensatz zu Elias‘ Theorie - ohne evolutionistischen Unterton zu erklären. Die Frage, weshalb interpersonale Gewalt in der Moderne in veränderter Form als Handlungsoption fortbestand, kann jedoch mit Bezug auf das vernünftig-normale Subjekt allein nicht schlüssig beantwortet werden. 145 Genau wie Bourdieu gehen sowohl Foucault als auch Elias davon aus, dass die conditio humana keine universelle und ahistorische Tatsache darstellt, sondern zeitlichen Veränderungen unterworfen ist. Soziokulturelle und individuelle Strukturen oder Dispositionen verändern sich tendenziell im Gleichschritt. Eine strikte Trennung zwischen Sozialstruktur und Subjekt wäre daher irreführend. Foucault geht aber bei der Historisierung weiter als Elias. Für den Evolutionisten Elias stellt das Subjekt eine Art Gefäß dar, welches im Verlauf des Prozess der Zivilisation ständig weiter gefüllt wird. Wiederholt vergleicht er die Menschen vergangener Gesellschaft mit Kindern, die am Anfang einer Entwicklung stehen. Für Foucault hingegen stellt das Subjekt - zumindest in seinen diskurstheoretischen Werken - eine genuin westlich-moderne Disposition dar, die sich nicht sinnvoll auf andere Gesellschaftstypen anwenden lässt. Für eine subjekttheoretische Gegenüberstellung von Elias und Foucault vgl. Dahlmanns (2008), S. 198-234. 146 Foucault (2007a), S. 75. 53 An diesem Punkt gilt es, vertieft auf die ästhetischen Formen der Subjektivierung in ihrer Widersprüchlichkeit zur moralisch-vernünftigen beziehungsweise vernünftig-normalen Subjektivität einzugehen. 147 Roth und Spierenburg stellen, wie gezeigt, die Vermutung an, dass die zunehmende Gewalt gegen Familienangehörige und Intimpartner nach 1800 in einer Beziehung zur ästhetischen Bewegung der Romantik stand, die möglicherweise ein kulturelles Skript für interpersonale Gewalt bereithielt. Ein Blick auf die Literaturwissenschaft und insbesondere die Tragödienforschung hilft hier weiter. Tragische Subjektivität Die ‚Tragödie‘ und das ‚Tragische‘ sind in der Literaturwissenschaft und Dramentheorie Begriffe mit schwer zu fassender Bedeutungsvielfalt. Dabei unterliegt auch das Verhältnis des Tragischen zur Tragödie einer historischen Dimension und ist nach wie vor Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen. 148 Nützlich 147 ‚Moralisch-vernünftige‘ und ‚vernünftig-normale‘ Subjektivität werden in der Folge synonym verwendet. Das humanwissenschaftliche Konzept der ‚Anomalität‘ beziehungsweise Normalität eines Subjekts ist vor allem beim Zusammenhang von Sexualität und Subjektivität sowie bei der juristischen Frage nach der Zurechnungsfähigkeit bedeutend. 148 Ihren (überlieferten) Ursprung hat die Tragödie im Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus, wo sie neben der Komödie als Drama aufgeführt und von Aristoteles theoretisiert wurde. Die attischen Tragödien dienen bis heute als Ausgangs- und Bezugspunkt für die Diskussionen über die Tragödie und das Tragische. Die attischen Tragödien handeln vom Untergang eines Helden, der meist gleichbeutend mit dessen Tod ist. In der Regel handelt es sich bei tragischen Helden um Menschen mit einem hervorgehobenen Status, beispielsweise Königinnen und Könige oder Halbgöttinnen und Halbgötter. Dadurch ist die nötige Fallhöhe gegeben, die dafür sorgt, dass der Niedergang des tragischen Helden für das Publikum die gewünschte Wirkung erzeugt. Überhaupt unterscheidet sich für Aristoteles die Tragödie von der Komödie vor allem durch ihre Wirkung auf die Zuschauer. Dabei folgt auf phobos (Schauer) eleos (Jammer) und auf elos katharsis (lustvolle Befriedigung). Im Mittelalter scheinen Tragödien weder aufgeführt noch geschrieben geworden zu sein. Mit William Shakespeare in England und Jean Racine in Frankreich erlebte die Gattung im 17. Jahrhundert eine Neuauflage. Die tragischen Stücke dieser beiden Autoren gelten in der Literatur- und Theaterwissenschaft unbestritten als Tragödien. Auch im späten 18., im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Dramen verfasst, die tragische Elemente aufweisen. Ob es sich dabei indes um Tragödien handelt, ist in der Forschung umstritten. George Steiner, der 1962 in seinem gleichnamigen Essai den Tod der Tragödie in der Moderne ausrief, sieht Shakespeare und Racine als die letzten Tragiker. Aus einer kulturtheoretischen Sicht behauptet Steiner, dass die Tragödie in traditionellen, vormodernen Gesellschaften systemstützend wirkte. Die durch das Aufbäumen des tragischen Helden gegen sein Schicksal vorübergehend infrage gestellte Ordnung wurde durch dessen Untergang umso stärker wieder rehabilitiert. Die katharsis, die sich aus dem Wechselspiel von phobos und eleos ergibt, machte die göttlich legitimierte Weltordnung spürbar. Mit dem Aufkommen der Moderne und ihrer radikalen Ablehnung einer objektiven Deutung der Welt hat die Tragödie gemäß Steiner ihren kulturellen Sinn verloren. Steiner (2014). Hans-Dieter Gelfert zählt aber auch Texte deutscher Dramatiker seit Lessing zur Gattung der Tragödie und bestimmt das Ende der Gattung erst mit dem Naturalisten Gerhart Hauptmann. Für die Begriffe phobos, eleos und katharsis bestehen verschiedene Übersetzungen. Vgl. Gelfert (1995), S. 15-17, 113. Die aktuelle Forschung geht 54 für den Anfang ist die minimale Definition von Mark W. Roche, der ein Werk als Tragödie bezeichnet, „in welchem die Größe des Helden zwangsläufig schweres Leid heraufbeschwört.“ Er präzisiert: „Dasjenige, was zu Größe führt und dem Helden erlaubt, einen positiven Wert zu verwirklichen, zieht auch Leiden und schließlich die Zerstörung ebendieses positiven Wertes nach sich.“ 149 Was Größe und was Leiden ist, unterliegt keinen genauen Bestimmungen. Verschiedenste Tugenden können den tragischen Helden stark machen. Wichtig ist aber: Der tragische Held leidet nicht, weil er schwach ist. Das wäre nicht tragisch, sondern traurig. Er leidet, weil er stark ist. Die Moderne und das Tragische standen grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis. Die vernunftbezogene Moral der Aufklärung stellte die Grundsätze der attischen Tragödie infrage. In einer angeblich rationalen Welt war kein Platz mehr für Schicksale, die von Orakeln oder durch den Willen der Götter vorherbestimmt waren. Der Angriff des aufgeklärten Denkens gegen die Tragödie ging aber noch weiter: Die optimistische Anthropologie mit ihrem Fortschrittsglauben und ihrer Vorstellung eines vernünftigen Subjekts stellte die Zwanghaftigkeit des Untergangs des tragischen Helden radikal infrage. Wer nicht untergehen wollte, musste auch nicht untergehen. Die Maxime der Vernunft bedrängte und zähmte zudem die Leidenschaften, die nicht selten die Größe des tragischen Helden ausmachten. Wer vernünftig dachte und handelte, konnte nicht tragisch untergehen. 150 Im Spiegel der Vernunftmoral veränderte sich das Tragische. Jeffrey N. Cox arbeitet die wichtigsten Unterschiede zwischen den romantisch-tragischen Dramen einerseits und den attischen Tragödien sowie den Tragödien des 17. Jahrhunderts andererseits heraus. Die Innovation der tragischen Dramentexte der Romantik liegt nicht in ihrer Form. Wie in den griechischen Tragödien macht eine stark akzentuierte Peripetie, an der das Glück in Unglück umschlägt, das Herzstück des Dramas aus. Das Neue am tragischen Drama der Romantik war inhaltlicher Natur. Cox argumentiert, dass tragische Helden in einer aufgeklärten, säkularen Zeit im Grunde keinen Platz mehr hatten. Das Tragische bedurfte deshalb einer Modifikation. Die tragischen Helden des 19. Jahrhunderts waren in der Regel keine Halbgötter und Könige mehr (und wenn sie es waren, trugen sie deutlich menschliche Züge). Obwohl die Figuren häufig adlig oder bürgerlich sind, konnte grundsätzlich jeder Mensch zum tragischen Helden werden. Vor allem in tragischen Dramen des Realismus und Naturalismus, die auf die Romantik folgten, verloren die tragischen Helden ihren sozialen Sonderstatus. Das Fehlen einer aber grundsätzlich von einem wandelbaren Gattungsbegriff der Tragödie aus und behauptet, dass auch Dramentexte des existenzialistischen und des absurden Theaters aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als modifizierte Fortsetzung der Tragödie verstanden werden können. Zum Tragischen im frühen 20. Jahrhundert: Galle (2010); Schmidt (2010). 149 Roche (2010), S. 339. 150 Fulda/ Valk (2010), S. 3. 55 ‚angeborenen‘ oder ‚natürlichen‘ Größe brachte es mit sich, dass die Fallhöhe des Helden nicht mehr einfach gegeben war. Der Held musste überhaupt erst zum Helden werden, damit er tief genug fallen konnte. Cox schreibt: „His heroism can only be a struggle to become heroic.” 151 Eine wichtige Prämisse der klassischen Tragödie wurde dadurch umgedreht, wie Daniel Fulda und Thorsten Valk anhand der weiter oben aufgeführten Tragödiendefinition von Mark W. Roche aufzeigen. Zur Erinnerung: Nach Roche ist eine Tragödie „ein Werk, in welchem die Größe des Helden zwangsläufig schweres Leid heraufbeschwört.“ 152 Im Sinne von Cox argumentieren Fulda und Valk, dass das kausale Verhältnis von Größe und Leiden im modernen Drama tendenziell umkehrbar wurde. Neu führte das Leiden zu Größe und Heldentum. 153 Jeder konnte also eine Heldin, ein Held sein, solange sie oder er litt. Büchners Woyzek oder Hauptmanns Bahnwärter Thiel sind Bespiele dafür. 154 Cox macht auf eine weitere Modifikation des Tragischen im romantischen Drama aufmerksam. Nach der Aufklärung war es nicht mehr plausibel, dass der tragische Held ein durch ein Orakel oder die Götter vorbestimmtes Schicksal erleidet, gegen welches er sich aufgrund seiner Größe zwar heldenhaft auflehnen kann, um ihm schließlich doch zu erliegen. Die romantische Dramenfigur strebt grundsätzlich danach, die Welt nach ihren Idealen zu gestalten. Die Liebe ist die positive romantische Version der Gestaltbarkeit der Welt und des Lebens. Dem tragischen Helden hingegen droht das Vorhaben, eine Welt nach seinen Idealen zu schaffen, zu misslingen. Er lebt in einer Welt, in der er sich nicht mehr zurechtfindet, während für die anderen um ihn herum alles in Ordnung scheint. Unfähig, die Welt zu verändern, leidet er für sich im Stillen und wird dadurch zum Außenseiter. Das Leiden ist für die Umwelt nicht nachvollziehbar und deshalb verinnerlicht. Seines Heldenstatus versichert sich der tragische Held der Romantik schließlich, indem er sich gewaltsam gegen die Welt erhebt. 155 Die Einsamkeit des Leidens kann im bürgerlich-modernen Drama durch die vollständige Verlagerung des tragischen Konflikts in das Selbst des tragischen Helden akzentuiert werden. Die Figur Emilia Galotti in Lessings gleichnamigem Drama von 1772 ist ein frühes Bespiel dafür. 156 Auch in den Dramentexten 151 Cox (1994), S. 158. 152 Roche (2010), S. 339. 153 Vgl. Fulda/ Valk (2010), S. 13. 154 Gelfert (1995), S. 117 f. 155 Es liegt auf der Hand, dass es sich bei der Dramatisierung dieser Revolten in erster Linie um politische Theaterstücke handelt. Die Zusammenführung von Politik und Tragik wird in Schillers Dramen Die Räuber und Wallenstein deutlich. Sowohl der Räuber Franz Moor als auch Wallenstein versuchen als Außenseiter gewaltsam eine neue Welt zu gestalten. Cox (1994), S. 158-165. 156 Durch eine Entführung kurz vor ihrer Hochzeit gerät Emilia in Gefangenschaft. In der Folge fühlt sie sich von ihrem Entführer angezogen; ihr Begehren steht aber im starken Widerspruch zu ihrer Tugend. Der Konflikt wird dadurch zu einem rein innerlichen. Emilia wird von niemandem gedrängt, ihren Entführer zu lieben. Da sie spürt, dass sie ihrer Empfindsamkeit nicht 56 Heinrich von Kleists findet die tragische Handlung im Helden statt. Nach Gelfert hat Kleist in Penthesilea (1808) gezeigt, dass die Liebe ein großes Potenzial für Tragik in sich trägt. Liebe ist im romantischen Kontext des 19. Jahrhunderts von vornherein als etwas Verinnerlichtes zu verstehen. Das Ideal der absoluten Liebe besteht im gegenseitigen Besitz und in der gegenseitigen Hingabe der Liebenden. Ist diese Idealvorstellung nicht umsetzbar, können Kompromisse eingegangen werden, die jedoch der Liebe ihre Erhabenheit nehmen. Die einzige Alternative zur ewigen Liebe stellt paradoxerweise ihr tragisches Ende dar. Durch den gemeinsamen Tod hält die gefährdete Liebe ewig. 157 Nach diesem Abstecher in die Literaturwissenschaft lässt sich festhalten, dass in den romantischen tragischen Dramen der bürgerlichen Moderne weiterhin Intrigen, folgenschwere Verwechslungen und Missverständnisse oder entscheidende Fehler sattfinden. Es fehlt den modernen Tragödien nicht an expliziten Bezügen zu den attischen Tragödien und den klassischen Tragödien des 17. Jahrhunderts. Erst dadurch lässt sich eine Kontinuität der Gattung überhaupt diskutieren. Im modernen Drama können aber alle Männer und Frauen tragische Helden beziehungsweise Heldinnen werden; Hauptsache, er oder sie leidet an der Welt und ist gewillt, gegen diese zu rebellieren. Gleichzeitig wird der tragische Konflikt verinnerlicht. Das Tragische wird subjektiviert. Der Blick in die Literaturwissenschaft erhärtet den Eindruck, der sich bereits nach der Lektüre von Lombroso eingestellt hatte: nämlich, dass in der Moderne eine Begeisterung für tödliche Gewalt existierte. Wiederum wird deutlich, dass sich der Subjekthabitus nicht auf Affektkontrolle, Selbstdressur und Selbstregulierung reduzieren lässt. Um dieser Faszination für Gewalt auf die Spur zu kommen, muss die Kunst genauer beachtet werden. Hier wurde mit dem Tragischen ein kulturelles Skript formuliert, bei dem unbändige und todbringende Leidenschaft zu Heldentum führte. Mit Bezug auf Reckwitz lässt sich das Tragische als Teil des widersprüchlichen Subjekthabitus verstehen. In seiner Gegensätzlichkeit zur hegemonialen Vernunftmoral blieb das Tragische auf paradoxe Weise an diese gebunden. Denn so sehr das Tragische durch das Überhandnehmen der Leidenschaftlichkeit den Gegensatz zur Vernunftmoral mit ihren Maximen der Affektkontrolle, Selbstdisziplin und Selbstregulierung darstellte, so sehr stützte es diese. Denn das leidenschaftliche Auflehnen gegen die Welt, das Heldentum und Erhabenheit versprach, führte fatalerweise zum Untergang des Subjekts. Auch das Tragische respektierte und reproduzierte daher die hegemoniale Stellung der Vernunftmoral. widerstehen kann, bittet sie ihren Vater, sie zu töten. Als dieser zögert, versucht sie, ihm den Dolch zu entreißen, um sich selbst zu erstechen. Der Vater erkennt darin Emilias Größe und erfüllt ihren Todeswunsch. Die Lösung des tragischen Konflikts ist paradox: Nur durch ihren Tod kann Emilia ihre Tugendhaftigkeit bewahren. Gelfert (1995), S. 88 f. 157 Gelfert (1995), 110 f. 57 Doch welchen Wert haben die Erkenntnisse zum Tragischen in Bezug auf die veränderte Wahrnehmung und Praxis der interpersonalen Gewalt in der Moderne? Im tragischen Drama kommen zwar Morde vor, aber sie werden ja nur gespielt. Schaut man jedoch genauer hin wird die Grenze zwischen Bühne und Realität brüchig. Dies lässt sich anhand der „Selbstmordbriefe“ des spätromantischen Schriftstellers Heinrich von Kleist zeigen. 158 Ähnlich wie Reckwitz unterscheidet der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer bei seiner Analyse der Briefe von spätromantischen Künstlern zwei antagonistische Subjektdispositionen, wobei er einen Gegensatz setzt „zwischen der durch Aufklärungsvernunft […] vermittelten neuen Autonomie des Subjekts einerseits und einer Subjektivität andererseits, die sich nicht über die Vernunfttradition, sondern über imaginativ-ästhetische Kategorien bestimmen lässt“. 159 Diese Zweiteilung entspricht dem oben skizzierten Dualismus von moralischvernünftiger Subjektivität einerseits und ästhetisch-leidenschaftlicher Subjektivität andererseits. Bohrer legt einerseits dar, wie das Selbsttötungsvorhaben in den Selbstmordbriefen Ausdruck und Folge des Scheiterns Kleists an gesellschaftlichen Anforderungen war. Erstmals schrieb Kleist im Zuge einer schriftstellerischen Schaffenskrise im Jahr 1801 über die Selbsttötung. In diesen Briefen erscheint der eigene Tod als Folge des persönlichen Scheiterns an der Welt. Auch in den Briefen aus der Zeit unmittelbar vor der tatsächlichen Selbsttötung 1811 nannte er die Allianz zwischen Preußen und Napoleon, die den preußischen Offizier Kleist demütigten, als Grund für sein Vorhaben. Andererseits insistiert Bohrer überzeugend, dass in den letzten zwei Briefen unmittelbar vor seinem Tod die Selbsttötung nicht in erster Linie als Verzweiflungstat oder als die Folge eines Scheiterns an der Welt erscheint. Kleist sah in der Selbsttötung vielmehr ein neues, letztes Projekt, um zu Ruhm zu kommen. Bohrer hält fest, dass die Briefe in einer „empathisch-heroischen Sprache“ verfasst sind: „Es sind die Motive Erhabenheit, Glück und […] Wollust im Tode.“ 160 Kleist selbst kündigte seinen Tod in seinem letzten Brief bezeichnenderweise als „Triumphgesang“ an. 161 Zu diesem Zeitpunkt ging es Kleist nicht mehr darum, den bevorstehenden Tod moralisch zur rechtfertigen. Vielmehr entwarf er sich als Held. Bohrer resümiert: „In der Entscheidungsphase zum tatsächlich gesuchten Selbstmord inszeniert der romantische Schriftsteller eine neue Identität der Erhabenheit […].“ 162 Zwei Tage nach der Niederschrift dieses Briefs erschoss sich 158 Bohrer (1989), S. 137. 159 Bohrer unterscheidet dabei die „soziale Moderne“ von der „ästhetischen Moderne“. Bohrer (1989), S. 7, 9-15. 160 Bohrer (1989), S. 139. 161 Zitiert nach Bohrer (1989), S. 142. 162 Bohrer (1989), S. 149. 58 Kleist. Er übersetzte damit die Figur, die er zuvor imaginiert und zu Papier gebracht hatte, in die Realität. Interessanterweise starb Kleist nicht allein. Nach Bohrer schlug er offensichtlich kurz vor seinem Tod mehreren Frauen aus seinem Umfeld einen Selbstmordpakt vor. Henriette Vogel, die mit Kleist befreundet war, erklärte sich (laut Bohrer) bereit, gemeinsam mit Kleist zu sterben. 163 Bohrer interpretiert Kleists Wunsch und Vorstellung, gemeinsam mit einer Frau zu sterben, als weiteren Beleg für die lustvolle Erotisierung des Todes. Die Tötung Henriettes verweist aber noch auf einen anderen Aspekt. Durch den gemeinsamen Tod starb Kleist den Tod eines tragischen Helden. Hätte er sich im Stillen und allein getötet, wäre er ein bemitleidenswerter, ‚gewöhnlicher‘ Selbstmörder gewesen. Für die tragische Erhabenheit des eigenen Todes brauchte es die Tötung einer zweiten Person. Denn erst mit dem Mord lud Kleist die für den tragischen Untergang nötige Schuld auf sich. Durch die finale Selbstinszenierung nach dem ihm bestens bekannten Skript der Tragödie war Kleist nicht mehr nur ein an den gesellschaftlichen Anforderungen gescheitertes moralisch-vernünftiges Subjekt, sondern gleichzeitig ein ruhmreiches ästhetisch-leidenschaftliches Subjekt, ein tragischer Held. Ein Tragiker, der mordete und sich danach selbst tötete. Kleists Handlung entspricht dem veränderten Gewaltverhalten, das die Forschung als typisch für die modernen Kontexte feststellt. Mit Fokus auf die tragische Subjektivierung lässt sich die Verbindung zwischen Romantik und Gewalthandeln, die Roth und Spierenburg vorsichtig andeutet haben, besser verstehen. Den Menschen, die innerhalb der modernen Subjektmatrix an den Anforderungen moralisch-vernünftiger Subjektivität scheiterten oder zu scheitern glaubten und damit in ihrer Souveränität bedroht waren, eröffnete die tragisch-leidenschaftliche Selbstinszenierung in der Krisensituation eine Alternative. Um ein tragisches Schicksal erleben zu können, war es nötig - beispielsweise in Form eines Mordes - Schuld auf sich zu laden. Der widersprüchliche Subjekthabitus mit der ihm eigenen Wahrnehmung der Gewalt als leidenschaftlich und unvernünftig hatte also einen widersprüchlichen Effekt auf die interpersonale Gewalt. Innerhalb dieser Ausschlusslogik konnten Gewalthandlungen und ihre Emotionalitäten als barbarisch und primitiv diskreditiert oder als erhaben und edel überhöht werden. Wandlungen bei der sexuellen Gewalt? Obwohl die quantitative Forschung zur sexuellen Gewalt in der Geschichte im Vergleich zur tödlichen Gewalt weniger ins Gewicht fällt, lässt sich das Bespiel Bern auch hier vorsichtig in einen allgemeinen Trend einordnen. Georges Vigarello für Frankreich und Martin J. Wiener für England halten fest, dass Gerichts- 163 Bohrer (1989), S. 151 f. 59 fälle wegen Notzucht in der französischen Strafgerichtspraxis vor dem 19. Jahrhundert im Vergleich zu Mord- und Totschlagsfällen sehr selten waren. 164 Auch in den Gerichtsarchiven des frühneuzeitlichen Stadtstaats Zürich sind Fälle von Notzucht nur vereinzelt zu finden. 165 Ebenfalls sehr wenige Prozesse wurden im Kanton Uri zwischen 1803 und 1885 geführt. 166 Für das 19. Jahrhundert scheint dieser sehr ländlich strukturierte Kanton in den Schweizer Alpen mit seinen niedrigen Fallzahlen jedoch eher eine Ausnahme darzustellen. Denn Vigarello und Wiener zeigen, dass Gerichtsprozesse wegen Notzucht im 19. Jahrhundert in Frankreich beziehungsweise England zunahmen. 167 Auch diesen Trend bestätigen die Befunde aus dem Amtsbezirk Bern, in dem die Fallzahlen zum Ende des 19. Jahrhunderts vorerst ansteigen. Allerdings sanken in Bern die Fallzahlen nach 1900 wieder (vgl. Diagramm 1). Die gleiche Kurve ist bisher auch für England um 1900 feststellbar. 168 Aufgrund der gesicherten Datenlage kann tendenziell von einem Rückgang der tödlichen Gewalt in Europa seit dem Ende der Frühen Neuzeit und möglicherweise bereits seit dem Spätmittelalter ausgegangen werden. Hier verweist die Abnahme der Anzeigen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einen Rückgang des effektiven Gewalthandelns. Aber lassen die zuerst steigenden und später parallel zur körperlichen Gewalt sinkenden Fallzahlen zu den Delikten Notzucht und Schändung im Amtsbezirk Bern auch auf eine Zunahme beziehungsweise Abnahme sexueller Gewalthandlungen in der Praxis schließen? Bei der sexuellen Gewalt ist eine solche Lesart der Quellen nicht ohne weiteres möglich. Die juristisch-rechtlichen Rahmenbedingungen blieben in Bern während der Untersuchungsperiode, wie oben gezeigt, gleich. Auf eine veränderte Handhabung der Fälle durch die Gerichte lassen sich die Schwankungen der Fallzahlen also nicht zurückführen. Es bleibt die Frage, welchen Einfluss das Anzeigeverhalten auf die Fallzahlen hatte. Anders als bei der schweren körperlichen Gewalt, die in Form von gravierenden Wunden und Leichen für das Gericht offensichtliche und deshalb verfolgbare Spuren hinterließ, führten Vergewaltigungen meist zu keinen bleibenden Körperverletzungen. In viel stärkerem Ausmaß als bei den Delikten Mord, Totschlag und schwerer Misshandlung waren die Gerichte bei Vergewaltigungen auf eine Anzeige durch Opfer und Zeugen angewiesen. Möglicherweise veränderten sich durch die eingangs skizzierte tiefgreifende soziokulturelle Transformation Berns die Einstellung gegenüber Gewalt und damit auch das Anzeigeverhalten bei Vergewaltigungen. Angesichts der quellenkritischen Fallstricke verzichten die meisten Historikerinnen und Historiker, die sich in den letzten Jahren anhand von Gerichtsak- 164 Vigarello (2001), S. 27 f.; Wiener (2006), S. 77-82. 165 Loetz (2012), S. 235, 237. 166 Töngi (2004), S. 311 f. 167 Vigarello (2001), S. 146-148; Wiener (2006), S. 85-87. 168 Jackson (2000), S. 5, 18-22. 60 ten mit dem Thema der sexuellen Gewalt in der Geschichte beschäftigten, auf die Frage nach der quantitativen Dimension und zeitlichen Trends. Der Fokus liegt in erster Linie darauf, durch eine genaue Lesart der Quellen die rechtliche, medizinische und soziokulturelle Wahrnehmung sexueller Gewalt in vergangenen Gesellschaften aufzuzeigen. Bei der Auswertung der Gerichtsakten liegt das Hauptaugenmerk deshalb auf den narrativen Strategien der Richter, Ärzte, Opfer und Täter. 169 Dabei zeigt sich, dass eine Anzeige die betroffenen Frauen mit dem Vorwurf der Unkeuschheit und der Unehrenhaftigkeit konfrontierte und daher selbst gewissermaßen unter Verdacht stellte. Die Meldung sexueller Gewalt war für die Opfer mit einem hohen sozialen Risiko verbunden, was viele Frauen von einem Gang zu den Behörden abgeschreckt haben dürfte. 170 Es besteht weitestgehend Konsens, dass die tiefen Fallzahlen in den frühneuzeitlichen Gerichtsquellen nicht auf die Seltenheit von sexueller Gewalt in dieser Zeit hinweisen, sondern dass von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden muss. 171 Trotz des relativen Desinteresses für diachrone Perspektiven liefern die qualitativen Ansätze wichtige Befunde für die Interpretation der Schwankungen der Fallzahlen. Denn die verbreitete Toleranz gegenüber sexueller Gewalt, die sich in den hohen sozialen Schranken für eine Anzeige ausdrückt, hatte wohl zur Folge, dass nur ein verschwindend kleiner Teil der Übergriffe überhaupt vor Gericht kam. Vigarello interpretiert den Anstieg der Fallzahlen in Frankreich im 19. Jahrhundert folgerichtig als Ausdruck einer wachsenden Intoleranz gegenüber sexueller Gewalt und nicht als effektive Zunahme der Übergriffe. 172 Auch der Anstieg der Fälle im Amtsbezirk Bern im späten 19. Jahrhundert lässt sich in diesem Sinn als Folge einer zunehmenden Sensibilisierung verstehen. Doch wie verhält es sich beim Rückgang der Fälle in Bern nach 1900? Wurde sexuelle Gewalt wieder vermehrt toleriert und deshalb weniger oft angezeigt? Das ist durchaus möglich. Aber der Rückgang der Fälle könnte auch auf einem 169 Vgl. die Analyse des Forschungsfeldes bei Loetz (2012), S. 27-31. Für eine umfassende Darstellung der sozialen Wahrnehmung von sexueller Gewalt im französischen Kontext vgl. Vigarello (2001). Für einzelne Studien zum deutschsprachigen Raum: Burghartz (1999); Hommen (1999); Töngi (2004), S. 309-385; Loetz (2009; 2012); mit Fokus auf Inzest vgl. Jarzebowski (2006). Vgl. auch Schwerhoff (1991), S. 390-402 und Schuster (2000), S. 111-119. Zur frankofonen und anglofonen Forschung: Rossiaud (1976) S. 292-305; Clark (1987); D’Cruze (1992); Chaytor (1995); Corbin (1997); Walker (1998). Zu Russland Oberländer (2013). Zu Holland Van der Heijden (2000). Spezifisch zu sexueller Gewalt an Kindern: Sohn (1997); Jackson (2000); Robertson (2005). 170 Clark (1987) S. 77-83; D’Cruze (1992); Walker (1998), Hommen (1999), S. 98-208; Töngi (2004), S. 357-363; 374-376; Loetz (2009) und dies. (2012), S. 37-191. 171 Loetz (2012), S. 94 f.; Gleixner (1994), S. 91-96; Burghartz (1999). Für das 19. Jahrhundert: Töngi (2004), S. 329-353. Auf die Tatsache, dass Verurteilungen bei Vergewaltigungen auch in gegenwärtigen Gesellschaften selten sind, verweist Bourke (2007), S.VII, 389-410. Eine Ausnahme stellt Porter (1986) dar. Vgl. Fußnote 179, S. 63. 172 Vigarello (2001), S. 148. 61 Rückgang bestimmter Gewaltphänomene - also nicht nur auf einer Veränderung der Gewaltwahrnehmung - beruhen. Diese Möglichkeit gilt es trotz quellenkritischer Schwierigkeiten sorgfältig zu prüfen. Dabei dürfen die beiden Erklärungsansätze nicht gegeneinander ausgespielt werden. Denn eine steigende (De)Sensibilisierung kann auch mit einer Veränderung der effektiven Gewaltpraxis zusammenhängen. 173 Was steckt also hinter dem Rückgang der Fälle nach 1900? Auch hier böte die Zivilisierungstheorie von Elias wie bei der Tötungsgewalt eine einfache und scheinbar stimmige Erklärung. Die Abnahme würde als effektive Abnahme sexueller Gewalt verstanden, da die Berner im Prozess der Zivilisation zunehmend ihre Triebe und Affekte besser kontrollieren konnten und deshalb weniger sexuelle Gewalt verübten. Die Zivilisierungsthese ist verlockend. Aber wie bereits im Zusammenhang mit der körperlichen Gewalt dargestellt, ist sie als analytisches Werkzeug für die historische Gewaltforschung ungeeignet. Bezogen auf die sexuelle Gewalt würde ihre Anwendung bedeuteten, dass Männer in vormodernen Settings - mehr Naturdenn Kulturwesen - ihren Geschlechtstrieb nicht oder nur schwer zu kontrollieren vermochten und deshalb häufiger sexuelle Gewalttaten begingen als moderne, selbstkontrollierte Männer. Sexuelle Gewalt wäre so betrachtet eine kausale Folge sexueller Begierden und Lüste. Gleichzeitig wäre nach dieser Logik sexuelles Gewalthandeln in modernen Kontexten bloßes Überbleibsel aus einer unzivilisierten Entwicklungsstufe. Die Unterscheidung zwischen einer affektbeladenen Vormoderne und einer affektkontrollierten Moderne ist nicht haltbar. Wie schon bei der körperlichen Gewalt muss aber das Zivilisierungsnarrativ als spezifisch modernes Wahrnehmungsmuster im Sinn einer Quelle im Blick behalten werden. Eine ebenfalls nur scheinbar stimmige Erklärung für den Rückgang der sexuellen Gewalt im 19. Jahrhundert bietet Edward Shorter an. In Europa habe vor 1800 unter den ledigen Männern eine „misère sexuelle“ geherrscht. 174 Aufgrund von Heiratsbeschränkungen und fehlender institutionalisierter Prostitution existierte demnach eine „rastlose Masse“ von sexuell frustrierten Männern, die vergleichsweise häufig Vergewaltigungen verübten. 175 Die häufige sexuelle Gewalt 173 Louise A. Jackson begeht beispielsweise in ihrer Studie zum Kindsmissbrauch im viktorianischen England den Fehler, quantitative Schwankungen der Gerichtsfälle kategorisch als Folge juristisch-institutioneller Veränderungen zu interpretieren. Zwar hält Jackson richtigerweise fest: „It is important to distinguish between reported crime and ‚real‘ crime. The statistics do not necessary indicate that more children were being abused […].“ Daraus folgert sie allerdings vorschnell: „[…] they [the statistics] do suggest, however, that these cases were more likely to be prosecuted and tried in the courts.“ ‚More likely‘ ist falsch. Denn denkbar ist auch, dass Gewalthandlungen an Kindern häufiger wurden und es deshalb zu mehr Prozessen kam. Beide Möglichkeiten gilt es jeweils sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Jackson (2000), S. 21. 174 Shorter (1977), S. 475. Kursiv im Original. 175 Shorter (1977), S. 474. Aus dem Englischen übersetzt von M.C. 62 in den frühneuzeitlichen Gesellschaften sei darauf zurückzuführen, dass die Befriedigung des männlichen Geschlechtstriebes durch verschiedene soziokulturelle Faktoren verhindert worden ist. Zu sexueller Gewalt sei es gewissermaßen aus der Not gekommen. Sobald die Hindernisse in der Moderne beseitigt waren, so die Argumentation, konnte die männliche Lust mit ehelicher und käuflicher Liebe auf friedliche Weise gestillt werden. Auf den ersten Blick scheint Shorters These eine Alternative zu Elias’ Theorem zu bieten. Shorter kehrt nämlich den Spieß um, in dem er die Kultur der Vormoderne als überaffektkontrollierend charakterisiert und die Moderne als eine Kultur, in der die Leidenschaften frei ausgelebt werden können. Gleich ist den beiden Positionen jedoch, dass Gewalt einseitig als natürliches Affekt- und Triebhandeln konzipiert wird, dem keinerlei soziokultureller Sinn eigen ist. Der Kultur wird dabei lediglich eine triebeinschränkende oder -hemmende Wirkung zugeschrieben. Ein Blick in die feministische Forschungstradition zur sexuellen Gewalt hilft weiter. Hier wird sexuelle Gewalt nicht als natürliche Affekt- oder Triebhandlung aufgefasst, sondern als Ausdruck und Folge „soziokultureller Machtbeziehungen“ (Tanja Hommen). Damit wird unterstrichen, dass sexuelle Angriffe nicht der Befriedigung eines ‚natürlichen‘ Geschlechtstriebs dienen, sondern vielmehr die soziale Differenz und Hierarchie zwischen den Geschlechtern zementierten. 176 Diese Sichtweise wurde Mitte der 1970er-Jahre erstmals von Susan Brownmiller formuliert. Im Kern war sexuelle Gewalt immer (und ist weiterhin) eine politisch motivierte Handlung von Männern gegen Frauen. Wiederkehrende Vergewaltigungen würden dazu dienen, dass alle Frauen - nicht nur die von Gewalt unmittelbar betroffenen - in einem ständigen Zustand der Angst leben müssten. 177 Nach dieser Sichtweise ist sexuelle Gewalt ein politischer Akt sowie eine Herrschaftspraxis und daher als soziokulturell sinnhaft zu verstehen. Die große Stärke des feministischen Ansatzes liegt darin, dass sexuelle Gewalt als soziokulturelles Phänomen grundsätzlich erklärungsbedürftig wird, da sie nicht mehr als den Männern im Grunde angeborene Affekthandlung begriffen werden kann. Dadurch ändert sich die Perspektive der kulturhistorischen 176 Hommen (1999), S. 215. 177 Brownmiller (1991), S. 15. Shorters These bezog sich explizit auf Brownmillers Buch Against our Will und versuchte die Hauptaussage des Buches zu widerlegen. Edward Shorter kritisiert an Brownmillers Position, dass sie ahistorisch sei, da jede Vergewaltigung zu jeder Zeit als ein politischer Akt zur Unterdrückung der Frauen durch die Männer konzipiert würde. Shorter räumt ein, dass gewisse Vergewaltigungen, zum Beispiel in Kriegssituationen, durchaus politisch motiviert sein können. Allerdings würde dies auf die große Mehrheit der Fälle nicht zutreffen. Shorter wurde für seinen Beitrag seinerseits von Heidi Hartmann und Helen Ross kritisiert. Obwohl auch sie Mängel in Against our Will ausmachen, verteidigen sie Brownmillers Grundsatz, dass sexuelle Gewalt immer - auch im frühneuzeitlichen Setting - als eine politische Handlung zu deuten sei. Shorters These der sexuellen Frustration lehnen sie entschieden ab. Shorter (1977); Hartmann/ Ross (1978), S. 932-934. 63 Analyse. Es geht nicht mehr darum, die kulturellen Einflüsse zu bestimmen, die sexuelle Gewalt - verstanden als Ausdruck und Folge eines natürlichen Triebs - in der Vergangenheit entweder hemmten (wie bei Elias) oder begünstigten (wie bei Shorter), sondern danach zu fragen, welche soziokulturellen Settings sexuelle Gewalt - verstanden als soziokulturelle Machthandlung - überhaupt erst ermöglichten und hervorbrachten. Allerdings blendet die feministische Perspektive - ähnlich wie die Elias-kritische Forschung - die emotional-körperliche Dimension der sexuellen Gewalt aus, zumindest was die Täter anbelangt. Dem Ansatz haften also die gleichen Mängel an. Der Einsatz von Gewalt erscheint tendenziell als strategisch und rational eingesetzte Ressource zur Durchsetzung von Interessen. Wenn aber die Betrachtung der sexuellen Gewalt als natürliche Affekt- und Triebhandlung - analog zum körperlichen Gewalthandeln - erfolgreich widerlegt werden soll, darf die körperlich-emotionale Dimension der Gewalt nicht negiert werden. Vielmehr gilt es zu fragen, wie sich die soziokulturellen Macht- und Herrschaftsverhältnisse in die Körperlichkeit und Emotionalität der Täter einschreiben, diese durchdringen und dadurch handlungsleitend wirken. Dies bedeutet nicht, Körper und Gefühle als gänzlich konstruiert zu verstehen. Auch der menschliche Drang, sich fortzupflanzen, wird dadurch nicht grundsätzlich infrage gestellt. Es geht darum, unter Einbezug soziokultureller Herrschafts- und Machtbeziehungen die angebliche Kausalität zwischen einem natürlichen Geschlechtstrieb und sexueller Gewalt zu widerlegen. Die feministische Perspektive eröffnet Möglichkeiten, sexuelle Gewalt zu historisieren. Wenn sich nämlich die soziokulturellen (oder politischen) Ordnungen transformierten, ist es grundsätzlich möglich, dass sich auch sexuelle Gewalt als Teil dieser Ordnungen qualitativ 178 und/ oder quantitativ veränderte. Allerdings haben die feministischen Ansätze - wiederum gleich wie die Elias-kritische Gewaltforschung - die diachrone Perspektive bei der empirischen Forschung bisher vernachlässigt. 179 Offen bleibt deshalb die in Bezug auf die schwankenden Berner 178 An dieser Stelle gilt es zu festzuhalten, dass sexuelle Gewalt nach ihrer strafrechtlichen Definition als gewaltsam erzwungene oder aus anderen Gründen illegitime vaginale oder anale Penetration kaum historischen Wandel unterlaufen kann. Dies ist ein Unterschied zur schweren körperlichen Gewalt, die strafrechtlich ebenso nach der Folge der Gewalthandlung wie nach der Gewalthandlung selbst definiert wurde. Schwere Misshandlung, Totschlag oder Mord konnte auf verschiedenste Weisen begangen werden. Körperliche Gewalt umfasste mit Faustschlägen, Würgen, durch den Einsatz von Messern, Schusswaffen oder Gift verschiedenste und möglicherweise historisch wandelbare Techniken. Allerdings scheint es auch beim Bezug auf sexuelle Gewalt möglich, dass die soziokulturellen Kontexte historisch veränderbar sind. Bisher haben Historikerinnen und Historiker aber nicht konsequent danach gefragt, ob die Machtbeziehungen, die der sexuellen Gewalt einen Nährboden bieten, historischen Veränderungen unterlaufen. 179 Roy Porter wirft Brownmiller vor, dass sie trotz ihres Verständnisses sexueller Gewalt als Ausdruck von Herrschafts- und Machtverhältnissen, welches Porter grundsätzlich teilt, fälschlicherweise letztlich doch von einem anatomisch-biologischen Determinismus ausgeht. Aufbauend auf Foucaults diskurstheoretischen Überlegungen zur Sexualität stellt Porter die interessante 64 Fallzahlen spannende Frage, ob und inwiefern sich die tiefgreifende Transformation der Stadtregion auf die Praxis sexueller Gewalt auswirkte. Sexuelle Gewalt und Habitus Mit dem Begriff der Hexis unterstreicht Bourdieu, dass Emotionalität und Körperlichkeit zwar nicht gänzlich konstruiert aber doch von Kultur gewissermaßen durchzogen sind. Auch jedes angeblich noch so einzigartige Verlangen, jede noch so individuelle Lust oder Aggression ist grundsätzlich durch kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse mitgestaltet und würde ohne diese Modellierung nicht in der gleichen Form existieren. Gleichzeitig spricht die Habitustheorie einzelnen Handlungen eine „strukturierende Struktur“ zu, so dass auch nach dem sozialen (oder nach feministischer Lesart politischen) Sinn einer Gewalttat in einem spezifischen historischen Setting gefragt werden kann. Oben wurde die Arbeitshypothese aufgestellt, dass die Habitusformen Ehre und Subjektivität spezifische Gewaltformen hervorbringen. Generierten diese beiden Dispositionen auch unterschiedliche sexuelle Gewaltmuster? Dann wäre der Bedeutungsverlust der sozialen Ordnung der Ehre möglicherweise auch dafür verantwortlich, dass sexuelle Gewalt ihren sozialen Sinn veränderte und dass deshalb die Untersuchungen nach 1900 zurückgingen. In der Literatur der historischen Kriminalitätsforschung zur Frühen Neuzeit finden sich Anzeichen für eine Verbindung von Ehre und Sexualität. Martin Dinges und Joachim Eibach verweisen darauf, dass das Beleidigungsvokabular frühneuzeitlicher Ehrgesellschaften, das in Gerichtsakten überliefert ist, geschlechtsspezifisch war. Während Männer häufig als „Diebe“ und „Schelme“ bezeichnet wurden, sind Frauen als „Huren“ oder „Ehebrecherinnen“ beschimpft worden. 180 Ehrbeleidigungen gegen Frauen zielten folglich auf deren sexuelle Integrität. Der Konnex von Ehre und weiblicher Sexualität zeigt sich auch im frühneuzeitlichen Recht. Nach der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), welche die erste umfassende Strafrechtskodifikation im deutschsprachigen Raum These auf, dass die steigenden Fallzahlen im 19. Jahrhundert auf einen tatsächlichen Anstieg der sexuellen Gewalt schließen lassen. Damit stellt er sich gegen den allgemeinen Trend der Forschung, die niedrigen Fallzahlen aus der Zeit vor 1800 als Ausdruck einer weitverbreiteten Toleranz zu deuten. Das für die Moderne charakteristische Verständnis, dass Männer einen natürlich angeborenen Sexualtrieb haben, hätte laut Porter zu neuen Mustern der Legitimation sexueller Gewalt und damit zu einem Anstieg in der Praxis geführt. Allerdings unternimmt Porter keine empirische Untersuchung. Wie weiter unten noch gezeigt wird, wurde in den Berner Untersuchungsakten der Sexualtrieb von den Akteuren tatsächlich zunehmend als Grund für die Übergriffe genannt. Allerdings geschah dies insgesamt nur ausnahmsweise, so dass Porters These nicht haltbar ist. Porter (1986). 180 Allgemein zu Ehre und Geschlecht in der Frühen Neuzeit: Dinges (1998b), für die geschlechtsspezifischen Beleidigungen insbesondere S. 138-140; auch Eibach (2003), S. 229-236; Walz (1992), S. 231. Zur prekären Ehre von Mägden in der Frühen Neuzeit: Dürr (1998). Allgemein zu den frühneuzeitlichen Geschlechterrollen: Wunder (1992). 65 darstellt, war eine Vergewaltigung ein Angriff auf die Ehre der Frau (und deren männliche Angehörige). 181 Anhand von Gerichtsakten zeigt Francisca Loetz in diesem Sinn auf, dass die Verletzung der weiblichen Ehre durch sexuelle Gewalt im frühneuzeitlichen Zürich häufig vor Gericht thematisiert wurde. 182 In der frühneuzeitlichen Wahrnehmung verletzte sexuelle Gewalt also zutiefst die Ehre der Frau. Doch inwiefern hatte auch das Begehen der Tat - also nicht nur die Wahrnehmung der Tat - mit Ehre zu tun? Während die Verbindung von Gewalt und Ehre in der Frühneuzeitforschung mehrfach herausgearbeitet wurde, ist sexuelle Gewalt bisher nicht systematisch in den Kontext der Ehre gestellt worden. Vielleicht wird man einwenden wollen, dass Ehrgewalt typischerweise zwischen Männern und in der Öffentlichkeit des Wirtshauses stattfand. Sexuelle Gewalt, die meist im Versteckten verübt wird, entspräche daher gerade nicht der Ehrsemantik. Folgt man allerdings der Frühneuzeitforschung so war die weibliche Sexualität gerade ein zentraler Bezugspunkt innerhalb des sozialen Systems der Ehre. Wie oben gezeigt, betrachtet Bourdieu zudem die Ehre als fait social total. Als solcher durchdringt sie sämtliche Lebensbereiche und müsste - nach der feministischen Lesart - auch das sexuelle Gewalthandeln betreffen. Um der sexuellen Gewalt im Kontext der Ehre auf die Spur zu kommen, müssen nicht länger die egalisierenden Ehrwettkämpfe zwischen Männern, sondern die Hierarchien der Ehrgesellschaften in den Blick genommen werden. Offensichtlich ist die Hierarchie zwischen den Geschlechtern. Bereits in den vorgestellten Ausführungen Bourdieus zu nif und hurma wird erkennbar, dass Ehrgesellschaften grundlegend durch eine Geschlechterdifferenz und -hierarchie strukturiert sind. Die soziale Kategorie ‚Geschlecht‘ reiht sich nahtlos in den Kosmos der komplementären Gegensätze ein, die die Ehrgesellschaft konstituieren. Das Männliche wird mit dem Aktiven assoziiert, das Weibliche mit dem Passiven. 183 Die weibliche Ehre ist tendenziell negativ konnotiert und wird passiv über den Verlust oder die Schande begriffen. In der formalen Logik der Ehre können Frauen die Ehre der Familie durch ihr Verhalten und Benehmen nicht stärken, aber sehr wohl ruinieren. 184 Während die männliche Ehre, in Form von nif, im Wettkampf eingeübt und demonstriert wird, zeichnet sich die weibliche Ehre, mehr noch als die männliche, durch ihre ausgeprägte Verletzlichkeit, im Sinne von hurma, aus. 181 Umgekehrt bedeutete dies, dass aus rechtlicher Sicht nur ehrbare Frauen vergewaltigt werden konnten, unehrbare wie etwa Prosituierte hingegen nicht. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), Art. 119. Vgl. auch Matter (2013). In der gerichtlichen Praxis dürfte die Unterscheidung ehrbar/ unehrbar allerdings kaum klar vorgegeben gewesen sein. Schwerhoff verweist für das Beispiel Köln im 16. und frühen 17. Jahrhundert diesbezüglich auf die Flexibilität der frühneuzeitlichen Gerichte. Vgl. Schwerhoff (1991), S. 394 f. 182 Loetz (2012), S. 20-23. 183 Bourdieu (1976), S. 32-43, 48-65. 184 Nur indirekt, durch die Heirat, kann die Frau, immer nur als Tochter und Schwester eines anderen Mannes, zur Steigerung der Familienehre beitragen. Bourdieu (1976), S. 38, 397. 66 Die soziale Geschlechtertrennung hat eine ausgeprägte räumliche Dimension. Sehr schematisch gesprochen, konzentriert sich der weibliche Bereich in den kabylischen Gesellschaften auf das Haus. Das Draußen, die Felder und die dörfliche Öffentlichkeit werden als Bereiche des Männlichen begriffen. Die Gleichsetzung des Weiblichen mit dem Haus impliziert auch eine Nähe zwischen weiblicher Ehre und Sexualität. Das Haus und die Frau stehen beide für Sexualität. 185 In einem gewissen Sinne ist das unerlaubte Eindringen eines Fremden in das Haus gleichbedeutend mit der Vergewaltigung einer Frau. Durch ihre Verbindung mit der Sexualität ist die weibliche Ehre ein ständiger Unruheherd für das männliche nif. Vor allem dann, wenn die Frauen sich außerhalb des Hauses bewegen. 186 Nach diesen theoretischen Ausführungen lässt sich Folgendes festhalten: Im Gegensatz zur Gewalt zwischen Männern, bei der die Ehre gegenseitig zugesichert und das symbolische Kapital vermehrt wurde, ging es bei der sexuellen Gewalt um das Gegenteil der Ehre: um Schande, um den Verlust der Ehre und um die Verringerung des Ansehens. In Ehrgesellschaften existieren aber nicht nur Hierarchien zwischen den Geschlechtern. Auch zwischen den Häusern, Familien und Gruppen bestehen bedeutende soziale und ökonomische Unterschiede. Wie die Ausführungen zum Haus zeigen, besteht ein impliziter Zusammenhang zwischen Ehre und materiellem Besitz. Ökonomische Stärke und Ehre beeinflussen sich daher und sind bis zu einem gewissen Grad deckungsgleich. Mehr Reichtum bedeutet mehr Ehre; Armut bedeutet weniger Ehre. 187 Im Sinne der feministischen Ansätze waren Ehrgesellschaften politische Ordnungen mit einer ausgeprägten hierarchischen Differenz zwischen den Ge- 185 Bourdieu (1976), S. 39. Vgl. für den Zusammenhang von Ehre, Haus und Sexualität in der Frühen Neuzeit Cohen: „By this parallel both bodies and houses are enclosures which honor decrees must be protected from illegitimate penetration by outsiders.“ Cohen (1992), S. 618. 186 Bourdieu schildert den Gang der Frauen zum Brunnen als einen kritischen Moment, der erst nach Einbruch der Dunkelheit erfolgt, damit die Frauen vor den Blicken der Dorfgesellschaft bestmöglich geschützt sind. Gleichzeitig ist der Brunnen aber auch der Ort einer weiblichen Öffentlichkeit, wo die Frauen untereinander Neuigkeiten und „intime Angelegenheiten“ austauschen, die auf diesem Weg wieder zu den Männern gelangen, die untereinander nie über Intimitäten sprechen würden. Der Brunnen ist also nicht nur eine Wasser-, sondern auch eine wichtige Informationsquelle. Aber dieser Austausch ist für die Ehre auch gefährlich, da innere Angelegenheiten der Familien zwar nicht ans grelle Tageslicht, aber doch in diese dämmerige Halböffentlichkeit geraten. Auf diese subtile Weise stärken oder untergraben die passiven Frauen doch aktiv ihre eigene Ehre und die Ehre ihrer Männer, Väter, Häuser, Familien. Entsprechend argwöhnisch verfolgen die Männer die außerhäuslichen Aktivitäten ihrer Frauen und Töchter, die sie auf ein Minimum zu begrenzen versuchen. Bourdieu (1976), S. 37. 187 Besonders anschaulich ist der Zusammenhang zwischen ökonomischer Stärke und Ehre beim „Schenken“, welches ebenfalls ein Spiel der Ehre darstellt, das nach der Dialektik der Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung funktioniert. Das Geschenk, das man gibt, muss kostbarer sein, als das Geschenk, das man erhalten hat. Die Ehre steigt mit dem Wert des Geschenks. Entsprechend unmöglich ist ein solches Schenkspiel zwischen zwei ökonomisch allzu ungleichen Parteien. Bourdieu (1976), S. 17-18, 23. 67 schlechtern und zwischen arm und reich. Betrachtet man nur die männlichen Ehrwettkämpfe, bleibt diese Abstufung unberücksichtigt. Ehrgesellschaften hatten also neben ihrem integrierenden, nivellierenden und egalisierenden Charakter auch einen hierarchisierenden und distinguierenden Aspekt. Die Hierarchie der Ehre spielte für die sexuelle Gewalt eine grundlegende Rolle. Die Anbindung der weiblichen Ehre an die häusliche Sphäre schränkte die Bewegungsfreiheit und die Handlungsspielräume der Frauen ein. Wenn Frauen und Mädchen sich außerhalb geschützter Räume bewegten, setzten sie sich tendenziell der Gefahr eines Angriffs aus. Gleichzeitig war die sexuelle Ehre der Frau stark von ihrem eigenen symbolischen Kapital sowie von demjenigen ihrer Verwandten abhängig. Bei armen, rand- oder alleinständigen Frauen war der Schutz daher besonders gering. 188 Auch wenn diese hierarchischen Strukturen auf den ersten Blick völlig gefestigt erscheinen, mussten sie doch praktisch eingeübt und immer aufs Neue hervorgebracht werden. Mithilfe der Habitustheorie lässt sich nun die These formulieren, dass die häufige sexuelle Gewalt in vormodernen europäischen Gesellschaften eine Praxis war, um die soziokulturell vorgegebenen Hierarchien sowohl bei den Tätern als auch bei den Opfern körperlich-emotional einzuüben und damit festzuschreiben. Es ist dabei nicht sinnvoll, durchgehend von einer bewussten Durchsetzung einer männlich dominierten Gesellschaftsordnung auszugehen. Genau wie bei der spielerischen Gewalt zwischen Männern mussten sich die Beteiligten auch bei der sexuellen Gewalt nicht bewusst sein, dass ihre Handlungen die Machtverhältnisse der Ehrgesellschaft stützten. Wie das im öffentlichen Kampf gelebte Ehrgefühl sind auch die geheimen Gefühle der männlichen Überlegenheit und weiblichen Schande, die die sexuelle Gewalt umgaben, Teil einer Hexis, die sich unterhalb der Bewusstseinsschwelle bewegt. Aus diesen Annahmen lässt sich eine weitere These formulieren: Wenn männliche Gewalt in Ehrgesellschaften als ‚Spiel der Ehre‘ gefasst werden kann, bei dem es um spielerische Zuschreibung von Ehre zwischen gleichrangigen Männern ging, kann sexuelle Gewalt als ‚Spiel der Schande‘ verstanden werden, bei dem es um die Einübung und Reproduktion von sozialer Ungleichheit zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Arm und Reich ging. Ein spaßiges Spiel war es natürlich nur für den überlegenen Täter. Der Spielbegriff ist deshalb angebracht, weil damit unterstrichen werden kann, dass die Männer eine Wahl hatten. Sie hätten ihr Handeln auch unterlassen können, denn sexuelle Gewalt war in Ehrgesellschaften weder die Folge eines sozial auferlegten Zwangs zur Enthaltsamkeit, noch diente sie der Befriedigung eines angeborenen natürlichen Affekts oder Triebs. Vielmehr war sie eine soziale Praxis zur Reproduktion von Hierarchien. 188 Vgl. Töngi (2004), S. 323-328. 68 Die Handhabung sexueller Gewalt als habituelle Praxis im Kontext hilft, die Opposition zwischen Kulturalität und Emotionalität zu überwinden. Gleichzeitig eröffnen sich dadurch neue Wege für eine Historisierung der ‚soziokulturellen Machtbeziehungen‘, in denen es zu Übergriffen auf Frauen und Mädchen kam. Damit lässt sich auch die Abnahme der Fälle in Bern nach 1900 in neuem Licht betrachten. Denn wenn sich der Ehrhabitus nach der Jahrhundertwende zugunsten des Subjekthabitus auflöste, müssten auch die der Ehrgesellschaft eigenen Machtbeziehungen und Hierarchien mit den darin wurzelnden sexuellen Übergriffen an Bedeutung verloren haben. Die Abnahme der Fälle in Bern wäre demnach - ebenso wie bei der körperlichen Gewalt - auf einen Rückgang der ehrbezogenen Gewalthandlungen zurückzuführen, die im Verlauf der Transformation Berns zu einer modernen Stadt bei den Akteuren zunehmend als barbarisch, unbeherrscht und unzivilisiert in Verruf gerieten und deshalb weniger häufig praktiziert wurden. Durch diese Lesart des Zivilisierungsnarrativs ergibt sich eine Alternative zur Erklärung, dass das häufige sexuelle Gewalthandeln im vormodernen Kontext auf einer tatsächlichen Unfähigkeit zur Affektkontrolle beruhte. Schränkte die Verbreitung und Durchsetzung des Subjekthabitus also auch das sexuelle Gewalthandeln in Bern ein? Wie Foucault aufzeigt, hing die Subjektivierung auch mit einer ständigen und eindringlichen Beschäftigung mit der eigenen Sexualität zusammen. Die eigenen Leidenschaften, Affekte und Lüste wurden im Spiegel der medizinisch-psychologischen Diskurse über Sexualität und Nervosität interpretiert, wie Joachim Radkau eindrücklich anhand von Krankenakten von sogenannten „Neurasthenikern“ aus dem wilhelminischen Deutschland zu zeigen vermag. 189 Normativer Referenzpunkt war dabei der heterosexuelle Geschlechtsverkehr, der auf einem gesunden, gemäßigten und normalen Sexualtrieb beruhte. Um diesen gesunden Trieb herum formierte der Diskurs viele verschiedene sexuelle Anomalitäten und Perversionen, die Folge eines maßlosen (oder zu wenig ausgeprägten) Sexualtriebs waren. 190 Dabei ging es nicht so sehr darum, dass in der Moderne im Vergleich zur Frühen Neuzeit ein größeres Spektrum an Handlungen verboten wurde. Die Juristen und Mediziner klassifizierten die gesetzeswidrigen beziehungsweise krankhaften Formen der Sexualität im 19. Jahrhundert lediglich weit differenzierter als zuvor. 191 Die entscheidende Neuerung bestand darin, dass unter der Führung der Medizin illegitime sexuelle Handlungen nicht länger als Sünde, sondern als Vorboten, Ausdruck oder Folge einer kranken, perversen oder anormalen Subjektivität interpretiert wurden. Im Kontext der sexuellen Gewalt ist daher Foucaults Verweis auf die Bedeutung der Unterscheidung normaler beziehungsweise anormaler Subjektivität in 189 Radkau (1998), S. 144-169. 190 Grundlegend zur Verbindung von Sexualität und Subjektivität vgl. Foucault (1983), insbesondere S. 55-76; vgl. auch Gerodetti (2005), S. 2-7. 191 Vgl. zur Ausdifferenzierung der Sittlichkeitsdelikte im französischen Strafrecht im frühen 19. Jahrhundert Vigarello (2001), S. 115-127. 69 der modernen Kultur hilfreich. Die vernünftig-normale Subjektivierung gelang nicht zuletzt durch ein normgetreues Sexualleben. 192 Normal war der heterosexuelle Geschlechtsverkehr, idealerweise in der Ehe. Alle anderen Formen der Lust galten als schädigend und pervers. Doch bedeutet dies zwingend, dass die Verbreitung des Subjekthabitus zu einem Verschwinden sexueller Gewalt führte? Auf den ersten Blick scheinen die sinkenden Fallzahlen aus Bern deutlich dafür zu sprechen. Allerdings wurde in den Ausführungen zur körperlichen Gewalt gezeigt, dass die Subjektkultur zwar zu einer Abnahme der ehrbezogenen Gewalttypen führte, aber gleichzeitig im Zuge ästhetisch-leidenschaftlicher Subjektivierung eigene Gewalttypen hervorbrachte. Vielleicht war die ästhetisch-leidenschaftliche Subjektivität auch für die Fortexistenz sexueller Gewalt unter anderen Vorzeichen verantwortlich. Diese neuen Formen wurden möglicherweise nicht seltener begangen, aber als Teil der Subjektkultur eher toleriert und deshalb seltener angezeigt. 4. Die Berner Untersuchungsakten Um die Fragen, die das Diagramm 1 und der Forschungsstand aufwerfen, zu prüfen, weiterzuentwickeln und argumentativ anzugehen, habe ich die einzelnen Untersuchungsakten zu den Einträgen in den Controllen der von den Assisen beurteilten Untersuchungen und den Archivkontrollen der Kriminalkammer qualitativ ausgewertet. Nicht alle der 363 Gerichtsfälle werden in der Folge Berücksichtigung finden. Zwanzig Fälle, in denen die Gewalt instrumentell eingesetzt wurde, etwa zur Bereicherung, bei einem Versicherungsbetrug oder zur Beseitigung einer unerwünschten Person, werden nicht weiter thematisiert. 193 Ebenfalls nicht weiter berücksichtigt wird der bereits erwähnte „Lustmord“, da dieser Fall sowohl von den anderen Tötungsdelikten wie auch von den anderen schweren Sexualdelikten entscheidend abweicht. 194 Schließlich bleiben auch die beiden Fälle von „Misshandlung“ aus den 1880er-Jahren unberücksichtigt, bei denen die entsprechenden Untersuchungsakten nicht überliefert sind. Somit ergibt sich ein Sample von 160 Fällen mit Gewalt- und 180 mit Sexualdelikten. 192 Vgl. Schaffner (2012), S. 1-5; Rose (1999), 155-181; Sarasin (2003), S. 356-451. 193 Die zwanzig Fälle verteilen sich zeitlich wie folgt: Ein Fall stammt aus dem Jahr 1868; zwei fallen auf die Zeit zwischen 1870-79; sechs zwischen 1880-89; zwei zwischen 1890-99; vier zwischen 1900-09; vier zwischen 1910-19; null zwischen 1920-29; einer zwischen 1930-39. 194 StAB BB 15. 4. 2455/ 2456/ 2457 3544. 70 Verhörprotokolle als ‚Selbstzeugnisse‘ Für die qualitative Auswertung der Fälle sind insbesondere die Verhörprotokolle von großem Interesse. Es handelt sich dabei um Texte, die von der Strafjustiz nach gewissen Konventionen angefertigt wurden, die nur teilweise gesetzlich festgeschrieben waren. Selbstredend erfüllten die Akten einen juristischen Zweck. 195 In der hier vorliegenden Arbeit steht aber nicht die Strafjustiz im Fokus, sondern das Gewalthandeln und die Wahrnehmung der Gewalt. In Anlehnung an die Forschungen zur Frühen Neuzeit dienen die Protokolle daher als Zugang zu den Handlungen und Narrativen der Menschen, die vor Gericht aussagten. Für eine Quellenkritik der Verhörprotokolle muss erneut auf das Strafprozessrecht eingegangen werden. Das Berner Strafverfahren von 1854 war zweigeteilt in eine geheim und schriftlich geführte „Voruntersuchung“ sowie ein öffentlich und mündlich geführtes „Hauptverfahren“. 196 Während der Voruntersuchung sammelte ein Untersuchungsrichter „Beweise des Vergehens sowie der Schuld und Unschuld des Angeschuldigten“. Als solche dienten der „richterliche Augenschein“ am Tatort, „Urkunden“ sowie „Anzeigungen“. 197 Ebenfalls als Beweis galt das „Befinden von Sachverständigen“, welches durch den Untersuchungsrichter eingefordert werden konnte. 198 Das wichtigste Beweismittel stellte aber die „Abhörung“ mutmaßlicher Täter und Zeugen durch den Untersuchungsrichter dar. 199 Erhärtete sich der Verdacht gegen einen mutmaßlichen Täter, kam es zu einer Anklage und das Gericht eröffnete ein „Hauptverfahren“. Die Verhörprotokolle entstanden also während der Voruntersuchung. 200 Im Unterschied zum mündlich geführten Hauptverfahren wurde die Voruntersu- 195 Umfassend zum Protokoll als historische Quelle vgl. Niehaus (2005). Verhörprotokolle bieten sich daher als Quellen an, um Strafjustiz mit einem praxeologischen Ansatz quasi ‚von unten‘ zu erforschen. In den Forschungen zum späten 19. und frühen 20. Jahrhundert fanden Verhörprotokolle bisher vor allem in der kulturhistorisch ausgerichteten Neuen Rechtsgeschichte Verwendung. Becker (2005); Habermas (2008), S. 146-159; Ortmann (2014), S. 61-65. 196 Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern, Art. 89-96; 400-448. Mit der Voruntersuchung lebte in der reformierten Berner Strafjustiz des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein Verfahren weiter, das viele Merkmale des frühneuzeitlichen Inquisitionsprozesses weitertrug. Vgl. Ignor (2002) S. 231 f.; Ludi (1999), S. 36. Konnten nicht genügend Beweise zusammengetragen werden, stellte das Gericht das Verfahren ein, ohne dass es zu einem Hauptverfahren kam. Eingestellte Verfahren wurden aber dennoch in den Kontrollen der Kriminalkammer registriert. So etwa der sogenannte „Lustmord“ im Jahr 1932, bei dem das Gericht keinen Tatverdächtigen ermitteln konnte und folglich auch kein Hauptverfahren einleitete. StAB BB 15. 4. 2455/ 2456/ 2457 3544. 197 Als Urkunden galten schriftliche Dokumente und mit „Anzeigungen“ waren die Anzeigen und Landjäger- oder Polizeirapporte gemeint, die zeitlich vor Eröffnung der Voruntersuchung verfasst worden waren. Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 357-359, 362. 198 Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 100. 199 Vgl. Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 345. 200 Ab den späten 1920er-Jahren enthalten die Untersuchungsakten auch Protokolle von Poli- 71 chung ausführlich schriftlich dokumentiert. Nur deshalb entstanden überhaupt die Untersuchungsakten, die nun als reichhaltige kulturhistorische Quelle zur Verfügung stehen. Die Verhörprotokolle in den Berner Untersuchungsakten weisen gewisse stilistische Eigenheiten auf: Alle sind in der ersten Person Singular verfasst. Auffallend ist zudem, dass die allermeisten Protokolle keine Fragen, sondern nur Antworten enthalten. Gelegentliche Brüche im Text lassen auf Nach- und Zwischenfragen schließen. Vor allem die Enden der Protokolle scheinen häufig aus Antworten auf konkrete (aber nicht notierte) Fragen zu bestehen, beispielsweise nach den Beweggründen der Tat, dem Geisteszustand zum Zeitpunkt der Tat oder nach allfälligem Auftreten von Geistesstörungen in der Verwandtschaft. Sprachlich sind die Protokolle in orthografisch korrekten schriftdeutschen Sätzen verfasst. Einzelne Zitate in der Dialektsprache machen aber erkenntlich, dass die Verhöre in der Mundart gehalten wurden. 201 Obwohl die Protokolle von einem Aktuar verfasst wurden, haben sie die Form von Selbstzeugnissen und zwar anders als bei der Frühneuzeitforschung nicht nur im analytischen, sondern in einem spezifisch historischen Sinn. 202 Die Protokollführung in der ersten Person Singular ist nämlich keine Selbstverständlichkeit. In der Frühen Neuzeit verwendeten die Aktuare in der Regel die dritte Person Singular, wie aus Studien der historischen Kriminalitätsforschung ersichtlich ist. 203 Die formellen Neuerungen rühren daher, dass das Verhörprotokoll in der reformierten Strafjustiz nicht mehr nur juristisches Beweisstück, sondern auch „Selbstzeugnis“ zu sein hatte, wie es der Berner Strafrechtsreformer Karl Ludwig von Haller in seinem Gutachten an die Berner Regierung zur „Verbesserung der hiesigen Criminal-Prozessform“ von 1797 ausdrückte. 204 Der Wechsel zur ersten Person Singular erfolgte nicht zufällig. Im Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde von 1838 verurteilte der deutsche Strafrechtler Ludwig von Jagemann den von „Schwerfälligkeit und Pedanterie“ geprägten „indirecte[n] Stil“, den die „gelehrten Verirrungen“ des 17. und 18. Jahrhunderts hervorgebracht hätten. Von Jagemann plädierte stattdessen für die Protokollführung im „directe[n] Stil“, weil dieser „den wesentlichen Vorzug [hätte,] dass Jeder, der das Protokoll später liest, sich lebendig in den Moment der Entstehung desselben, ja in die Seele und damalige Stimmung des Deponenten zeiverhören, die zeitlich vor der Eröffnung der Voruntersuchung abgehalten wurden. Allerdings wurden die hierzu befragten Zeugen und Angeschuldigten während der Voruntersuchung stets noch einmal verhört. 201 Nach der Jahrhundertwende sind Abhörungen mit Kindern teilweise fast vollständig im berndeutschen Dialekt verfasst. StAB BB 15. 4. 1909 884; 1951 1093; 2025 1474. 202 Allgemein zu Selbstzeugnissen als historische Quellen vgl. Schulze (1996). 203 Vgl. beispielsweise Schwerhoff (1991), S. 104. Nolde (2003), S. 400. 204 Im deutschsprachigen Teil des Kantons Bern hatte dieser Text bis zur Einführung des Strafprozessrechts von 1850/ 1854 Gesetzescharakter. Haller (1797), S. 41; vgl. dazu Ludi (1999), S. 304. 72 zurückversetzen kann.“ 205 Obwohl von Jagemann nicht explizit vom Verhörprotokoll als einem Selbstzeugnis sprach, zielte er mit seiner Forderung in die gleiche Richtung wie vierzig Jahre vor ihm von Haller. Vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit verfolgten These, dass die Subjektivität als historische Tatsache an Bedeutung gewann, ist interessant, dass die Protokollführung in der ersten Person Singular eine spezifische Form der Subjektivierung durch das Recht war. Der direkte Stil machte die Verhörten - zumindest auf dem Papier - zu Subjekten. Das Protokoll war so zu schreiben, dass es einen authentischen Einblick in die Verhörten geben sollte. Nach dieser Logik ging es bei der Niederschrift nicht mehr nur darum, dass die Strafjustiz einen schriftlichen Beweis in den Händen hält, sondern auch darum, die Verhörten zu Wort kommen zu lassen. 206 Damit drückte sich der neue Status des Angeklagten als Rechtssubjekt aus. Bei von Haller dürfte dies im Vordergrund gestanden haben. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts scheint auch ein neues Interesse der Richter an einer spezifischen, möglicherweise ‚anormalen‘ Subjektivität des Angeklagten die Forderung nach der neuen Protokollführung unterstützt zu haben. Nach von Jagemann sollten sich die Untersuchungsrichter auch Kenntnisse der aufkommenden Wissenschaft der „Criminalpsychologie“ sowie der „Anthropologie“ aneignen, um die „Triebfedern der Tat“ im Straftäter erkennen zu können. 207 Die neue Protokollführung etablierte den Angeklagten zuerst als vernünftiges Rechtssubjekt (von Haller) und bot im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend auch die Möglichkeit, die Normalität des Angeklagten zu überprüfen (von Jagemann). Es handelt sich folglich um eine schriftliche Formierung der Doppelfigur des vernünftig-normalen Subjekts im Sinne Foucaults, von der weiter oben ausführlicher die Rede war. Da aber die Strafjustiz nicht der eigentliche Gegenstand dieser Arbeit ist, wird die Analyse der neuen subjektivistischen Protokollführung im 19. Jahrhundert an dieser Stelle eingestellt. Wichtiger ist im hier relevanten Zusammenhang, dass die neue Protokollführung dazu führte, dass die Aktuare die Verhöraussagen möglichst wörtlich aufschrieben. Diese Feststellung steht im Kontrast zu Habermas‘ 205 Jagemann (1838-1841) S. 615. 206 Becker hält in diesem Sinn fest: „Der direkte Stil und die dialogische Struktur der Protokolle präsentierten dem Leser das Bild einer Welt, wie sie sein sollte - die Unterhaltung verständiger und verständigungsorientierter Menschen, die als Zeugen über die sinnlichen und sprachlichen Mittel verfügten, um Sachverhalte klar und deutlich darzustellen, und die sich als Straftäter breitwillig dem Spruch des Richters auslieferten, um sich erneut mit der Gesellschaft zu versöhnen.“ Becker (2005), S. 71. 207 Jagemann (1838-1841), S. 295-297. Bei von Haller spielt der „Charakter des Subjekts” nur insofern eine Rolle, als der Untersuchungsrichter die „individuelle Beschaffenheit” des Angeschuldigten berücksichtigen musste, um durch gezieltes Vorgehen möglichst rasch die Wahrheit über die Tat zu erfahren. So sollte der Untersuchungsrichter „gute Gemütsbewegungen” des Angeklagten nutzen, um von diesem möglichst viel zu erfahren. Die Subjektivität des Angeschuldigten spielte bei von Haller also nur für das Verfahren eine Rolle. Sie wurde aber nicht mit der Tat in Zusammenhang gesetzt. Haller (1797), S. 54 f. 73 Befund, dass sich die Protokollführung des 19. Jahrhunderts durch einen angeblich typischen „Duktus der Reduktion“ ausgezeichnet haben soll. Für die Berner Verhörprotokolle zu Gewalt- und Sexualverbrechen trifft diese Vermutung nicht zu. 208 Eine Forderung nach Reduktion ist auch bei von Haller nicht auszumachen, im Gegenteil: „In Absicht der Authenticität ist ferner zu verordnen: dass die Fragen und Antworten, wenigstens im Wesentlichen so genau als immer möglich niedergeschrieben werden.“ 209 Das Strafprozessrecht von 1854 schrieb vor, dass die Fragen und Verhöraussagen „möglichst wörtlich“ protokolliert werden sollten. 210 In der Berner Praxis setzte sich der konsequente Vermerk der Frage, wie erwähnt, nicht durch, was den Charakter der Protokolle als Selbstzeugnisse allerdings nicht schwächte, sondern gerade hervorhob und betonte. Die Protokollierung der Verhöraussagen war sehr ausführlich. Die Protokolle enthalten daher unzählige Details, die zur Aufklärung der Straftat vollkommen irrelevant waren. Beispielsweise ist im Verhörprotokoll von Jakob F., der in einer Juninacht 1872 seine Ehefrau zu Tode prügelte, zu lesen, dass dieser am frühen Abend „zum Barbier“ ging und daraufhin die „Dekorationen“ besichtigte, die „wegen des Turnfestes“ in der Stadt angebracht worden waren. 211 Die Niederschrift solcher Nebensächlichkeiten war nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Ein weiteres Indiz für die relativ genaue Wiedergabe der Verhöraussagen in den Protokollen liefern die Lebensläufe, welche die Angeklagten teilweise ab 1911 auf Geheiß des Untersuchungsrichters schreiben mussten. Auch bei diesen Texten handelt es sich in einem spezifisch historischen Sinn um Selbstzeugnisse. Im Unterschied zu den Verhörprotokollen stammten sie aber tatsächlich aus der Feder der Angeklagten. Die Lebensläufe und Verhörprotokolle stimmen in Inhalt und Erzählstil meist überein. 212 Die Deckung der Lebensläufe mit den Protokollen legt nahe, dass die Aktuare die Verhöraussagen im Wesentlichen nach den Aussagen der Verhörten aufschrieben. Es spricht also viel für eine sehr genaue Protokollierung der Verhöraussagen. Die nächste Frage lautet nun, was im Verhör gesagt werden konnte und was nicht. Wie das Protokollieren unterlag auch das Aussagen juristischen Zweckdienlichkeiten und folgte deshalb bestimmten Konventionen. Das Strafprozess- 208 Eventuell lässt sich dieser Unterschied auch damit erklären, dass der Fokus auf unterschiedlichen Delikttypen liegt. Habermas (2008), S. 146. 209 Haller (1797), S. 206-207. 210 Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 186. Im revidierten Strafprozessrecht von 1928 ist von „sinngetreu[en]“ Protokollen die Rede: „Die Aussagen der abgehörten Person sind sinngetreu zu Protokoll zu nehmen.“ Gesetz über das Strafverfahren des Kantons Bern von 1928, Art. 92. 211 StAB BB. 15. 4. 1172 3979. 212 Das bedeutet nicht, dass die Protokolle einen unverfälschten, da in einem analytischen Sinn ‚authentischen‘ Zugang zu den Angeschuldigten und Zeugen ermöglichen, nur weil sie mit den Lebensläufen als vermeintlich ‚echten‘ Selbstzeugnissen übereinstimmen. 74 recht von 1854 schrieb vor, dass der Untersuchungsrichter die Angeschuldigten „so bald wie möglich“, aber auf jeden Fall innerhalb der ersten zwei Tage nach der Verhaftung einzeln und in Anwesenheit eines Aktuars verhören musste. 213 Den Angeschuldigten war es nicht erlaubt, im Beisein eines rechtlichen Beistandes auszusagen. Überhaupt verbot das Strafprozessrecht von 1854 dem Angeschuldigten vor dem Abschluss der Voruntersuchung einen Verteidiger beizuziehen. 214 In der Untersuchungshaft war es den Angeschuldigten daher nicht möglich, ihre Aussage auf den Rat einer juristisch fachkundigen Person zu stützen. Auch die Zeugen, die das Gericht während des Verfahrens aufbot, wurden stets einzeln vernommen. Das Strafprozessrecht von 1854 verbot den Angeschuldigten und Zeugen, die Aussage zu verweigern. Wenn Angeschuldigte keine Aussagen machten, galt dies als Eingeständnis der Schuld. 215 Die Strafprozessrechtsreform von 1928 hob diese Bestimmung auf, ohne sie jedoch durch ein explizites Recht zur Aussageverweigerung zu ersetzen. 216 Die Verhörsituation in der reformierten Strafjustiz kam also dem Zwang zum Sprechen, der im frühneuzeitlichen Inquisitionsprozess vorgeherrscht hatte, sehr nahe. Allerdings durften die Untersuchungsrichter, trotz des weitgehenden Schweigeverbots, während des Verhörs „kein Zwangsmittel“ einsetzen, um die Angeschuldigten oder Zeugen zum Reden zu bringen. 217 Ebenso war es ihnen untersagt, Aussagen durch „Drohungen“, „Versprechungen“, „Gewaltmaßregeln“, „falsche Vorspiegelungen“ oder „eingebende oder verfängliche Fragen“ zu provozieren. 218 213 Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 190. 214 Es galt das Prinzip der geheimen Voruntersuchung. Den Akten ist zu entnehmen, dass sich die allermeisten Angeschuldigten ohnehin während der gesamten Dauer der Voruntersuchung in Haft befanden. Es scheint daher tatsächlich unwahrscheinlich, dass die Angeschuldigten vor der Abhörung mit einem Rechtsbeistand eine Verteidigungsstrategie vereinbaren konnten. Mit der Revision von 1928 verbesserte sich die Stellung des Angeklagten während der Voruntersuchung leicht, denn es war ihm fortan erlaubt, sich „von einem bestimmten Zeitpunkte [an] an der Untersuchung zu beteiligen“. Dafür konnte er auch einen Verteidiger beiziehen, der bei Zeugenbefragungen anwesend sein und selber Zeugen zur Vernehmung vorschlagen konnte. Wann genau die Voruntersuchung soweit fortgeschritten war, dass sich die Partei des Angeschuldigten aktiv beteiligen durfte, entschied aber weiterhin der Untersuchungsrichter nach eigenem Ermessen. Grundsätzlich galt weiterhin, dass die Voruntersuchung „nicht öffentlich“ und „ohne Einmischung der Parteien“ geführt wurde. Gerade bei der Abhörung der Angeschuldigten durften deren Verteidiger auch nach 1928 nicht anwesend sein. Die Voruntersuchung blieb also auch nach der Revision des Strafprozessrechts weitestgehend geheim. Vgl. Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 93, 95, 97 und 212. Vgl. Diethelm (1928), S. 43; Krebs (1929), S. 477. 215 Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 206. Zeugen drohte in diesem Fall eine Strafe. Nur Verwandte eines Angeschuldigten hatten das Recht, eine Zeugenaussage zu verweigern. Art. 219. 216 Das Schweigeverbot wurde im Kanton Bern bereits im späten 19. Jahrhundert als rückständig kritisiert, wie die Schrift eines Berner Juristen von 1875 zeigt. Müller (1875), S. 97-105. 217 Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 205. 218 Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 214. 75 Zu Beginn eines Verhörs mussten die Verhörten Auskünfte zu ihrer Person geben. Danach sollten sie „frei aus dem Gedächtnis und mündlich […] über alle auf die strafbare Handlung Bezug habenden Thatsachen“ reden. 219 Der Untersuchungsrichter konnte die Verhörten auffordern, „zuerst eine zusammenhängende Erzählung“ über die Geschehnisse zu machen. 220 Erfolgte ein Geständnis, sollte sich der Untersuchungsrichter nach den „Gründe[n]“ erkundigen, die „zur Begehung“ der Tat Anlass gegeben hatten. Dabei sollte auch das Verhältnis zwischen dem mutmaßlichen Täter und seinem Opfer geklärt und herausgefunden werden, ob „absichtlich und mit Vorbedacht“ gehandelt worden war. 221 In diesem Zusammenhang konnten die Untersuchungsrichter die Angeschuldigten auch über deren „früheres Leben“ vernehmen. 222 Die Struktur der einzelnen Protokolle in den Untersuchungsakten lässt erkennen, dass die Untersuchungsrichter den gesetzlichen Vorgaben Folge leisteten und die Verhörten zum freien Erzählen aufforderten. Gerade zu Beginn enthalten die Protokolle häufig keine Bruchstellen, die auf Fragen der Untersuchungsrichter schließen lassen. 223 Das ist wichtig, denn dadurch lassen sich die Protokolle als Texte behandeln, die nicht nur einzelne Aussagen, sondern im Wesentlichen ganze Erzählungen der Verhörten wiedergeben. Das weitgehend offen gehaltene Verhör entsprach letztlich auch dem Anspruch der reformierten Strafjustiz, dass Verhörprotokolle Selbstzeugnisse sein sollten. Dreifache Lesart der Verhörprotokolle Die Verhörprotokolle werden im Rahmen dieser Arbeit auf dreifache Weise ausgewertet: Erstens lassen sich Sozialprofile der an der Gewalt beteiligten Personen nachzeichnen. Zweitens ist es möglich, die Gewaltpraxis und ihre Kontexte zu rekonstruieren. Drittens können die Selbstzeugnisse unabhängig ihres Wahrheitsgehalts als Narrative über Gewalt analysiert werden. Das Erstellen von Sozialprofilen der Gewalttäter und -opfer gehört zum Kern der historischen Gewaltforschung. Vor allem die Kategorien ‚Geschlecht‘ und ‚Beruf‘ dienen als Indikatoren, um verschiedene Ausprägungen von Gewalt zu unterscheiden. Auch im Beispiel Bern enthalten die Verhörprotokolle genaue Angaben zu den Opfern oder Angeklagten. Das Berner Strafprozessecht von 1854 schrieb vor, dass die verhörten Personen dem Untersuchungsrichter ihren 219 Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 183. 220 Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 208. 221 Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 209. 222 Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 211. 223 Für den engen Zusammenhang von Protokollführung und Verhörtechnik sprechen auch die verhältnismäßig seltenen Protokolle in den Berner Untersuchungsakten, in denen die Fragen der Untersuchungsrichter vermerkt sind. Dies kam dann vor, wenn im Verlauf einer Untersuchung widersprüchliche Aussagen vorlagen, die geklärt werden mussten. Dafür konfrontierten die Untersuchungsrichter Angeschuldigte und Zeugen mit widersprüchlichen Aussagen. 76 Namen, ihr Geburtsjahr, ihren Wohnort sowie den Beruf und den Zivilstand angeben mussten. 224 Mehrheitlich wurde dies in der Protokollierpraxis auch umgesetzt. 225 Weiter eröffnen die ausführlichen Verhörprotokolle einen Blick auf die Gewalthandlungen und die Kontexte, in denen diese stattfanden. Dabei ist der Blick des Historikers ein Stück weit identisch mit demjenigen des Untersuchungsrichters, der versucht, das Ereignis der Tat möglichst genau zu rekonstruieren. Es geht darum, sich ein Bild der Ereignisse zu machen, in denen Menschen angegriffen, verletzt oder getötet wurden. 226 Diese - wenn man so will - positivistische oder faktische Lesart der Untersuchungsakten gründet auf der banalen Annahme, dass die Inhalte von Verhörprotokollen nicht gänzlich erfunden sind, sondern ungefähr die tatsächlich stattgefundenen Handlungsabläufe wiedergeben. Natürlich konnten die Angeschuldigten und Zeugen der Vorfälle nicht anders, als diese aus ihrer eigenen Sicht zu schildern. Vor allem die Selbstzeugnisse der Angeschuldigten müssen mit einer gewissen Vorsicht gelesen werden, da es naheliegend ist, dass sie bestimmte Sachverhalte aus strategischen Gründen verschwiegen oder übertrieben. Allerdings legten auch viele Angeschuldigte umfassende Geständnisse ab. Zudem sind die Verhöraussagen der Angeschuldigten, Opfer und Zeugen häufig deckungsgleich. Ist dies der Fall, kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sich die Gewalttat ungefähr so zutrug, wie sie in den Protokollen geschildert ist. Gerade bei Notzuchtfällen stritten die Angeschuldigten aber nicht selten die gegen sie erhobenen Vorwürfe teilweise oder vollständig ab. Hier lässt sich nicht schlüssig rekonstruieren, was sich genau ereignete. Trotzdem sind auch in diesen Fällen bestimmte Kontexte und Handlungen rekonstruierbar, da die Schilderungen der Angeklagten, Opfer und Zeugen meist bis zu einem bestimmten Punkt übereinstimmen. Die Verhörprotokolle eröffnen schließlich einen dritten Zugang, bei dem es nicht um die Rekonstruktion der Gewaltpraxis, sondern um die narrative Repräsentation der Gewalt geht. Eine Analyse der „Sprache der Gewalt“ (Joachim Eibach) ist in der historischen Gewaltforschung bereits fest etabliert. Gerade bei der historischen Aufarbeitung von sexueller Gewalt liegt der Fokus auf den Möglichkeiten und Grenzen, das Vorgefallene vor Gericht auszudrücken. 227 Auch die ausführlichen Berner Verhörprotokolle ermöglichen es, kürzere und längere Textpassagen als spezifische Narrative der Verhörten zu analysieren. Bei dieser Lesart 224 Verhörprotokolle enthalten zudem auch Angaben über die Eltern und den Heimatort der verhörten Person. 225 Bei tödlich endenden Konflikten, bei denen das Opfer nicht vernommen werden konnte, lässt sich das Sozialprofil meist anhand anderer Dokumente in den Untersuchungsakten wie den Anzeigen, Obduktionsprotokollen und Straf- oder Leumundsberichten herleiten. 226 Beispielhaft dazu Wettmann-Jungblut (2003) und Spierenburg (1998). 227 Eibach (2003), S. 225-236; Schwerhoff (1991), S. 315-318; Töngi (2004), S. 343-376; Burghartz (1999); Chaytor (1995). 77 der Protokolle ist es im Grunde gleichgültig, ob die Angeklagten die Wahrheit sagten oder eine erfundene Geschichte erzählten. Denn es geht nicht darum, was die Verhörten erzählten, sondern wie sie es erzählten. 228 Unabhängig vom Wahrheitsgehalt sind Narrative über Gewalt ebenso wie die Sozialprofile der Beteiligten, die Gewaltpraktiken und Handlungskontexte der Gewalt als historische Tatsachen zu behandeln. Als solche geben sie Auskunft über die Wahrnehmungsmuster der verhörten Personen. Vor dem Hintergrund der Habitustheorie muss davon ausgegangen werden, dass zwischen den Sozialprofilen der Beteiligten, den Gewalthandlungen und den Erzählstilen Verbindungslinien bestanden. Führt man die drei Perspektiven auf die Verhörprotokolle zusammen, wird erkennbar, dass Menschen mit bestimmten Sozialprofilen bestimmte Gewalthandlungen begingen, die sie wiederum auf bestimmte Weisen wahrnahmen und erzählten. Aufgrund der dreifachen Lesart der Verhörprotokolle lassen sich die in den Akten dokumentierten Gewalthandlungen in unterschiedliche Typen einteilen, die in der Folge ausführlich dargestellt werden sollen. 228 Grundlegend dazu: Schönert (1991). Zur Historizität von Erzählstilen in der Literaturwissenschaft vgl. Belsey (2010). 79 II. Gewalthandeln und Wahrnehmung der Gewalt im Amtsbezirk Bern 1868-1941 5. Ehrbezogene Gewalt Die Ehre als soziale Tatsache lag im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 über zwei Dritteln der gerichtlich untersuchten Gewalthandlungen zugrunde. Dabei fällt auf, dass die Fallzahlen sich auf die erste Hälfte des Untersuchungszeitraums konzentrieren und stark rückläufig sind. Der Rückgang fällt noch stärker ins Gewicht, wenn man berücksichtigt, dass sich die Bevölkerungszahl des Amtsbezirks in der Untersuchungsperiode stark anstieg: Diagramm 2: Registrierte ehrbezogene körperliche Gewalt im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 1 Das antagonistische ‚Spiel der Ehre‘, bestehend aus der Herausforderung und der Erwiderung der Herausforderung, spielten auch die jungen Männer im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941. Mindestens 81 dieser gewaltsamen Auseinandersetzungen endeten entweder tödlich oder führten zu schweren Körperverletzungen, sodass sie von der höchsten Gerichtsbarkeit beurteilt wurden. Die ‚gesellige Gewalt‘, wie ich sie in der Folge nennen werde, ist damit der mit Abstand am häufigsten dokumentierte Gewalttypus in der untersuchten Periode. 2 Der 1 Insgesamt sind es 130 Fälle, drei Fälle stammen aus den Jahren 1868 und 1869. 2 Die Soziologin Katharina Inhetween verwendet den Begriff ‚gesellige Gewalt‘ im Zusammen- 0 10 20 30 40 50 60 70 Fälle mit ehrbezogener köperlicher Gewalt pro Jahrzent Fälle mit ehrbezogener körperlicher Gewalt pro 100‘000 Einwohner 80 Rückgang der geselligen Gewalt kommt aufgrund der bisherigen Erkenntnisse der Forschung nicht unerwartet. Die historische Gewaltforschung hat, wie oben dargestellt, gezeigt, dass die Abnahme der gewaltsamen Tötungen im Verlauf der Frühen Neuzeit in erster Linie auf einem Rückgang der Gewalt zwischen Männern beruhte. Zum allgemeinen Rückgang der schweren Gewaltdelikte kam es auch im Amtsbezirk Bern vor allem deshalb, weil die Männer aufhörten einander gegenseitig herauszufordern. Überraschend ist aber, wie ausgeprägt die Abnahme des männlichen Spiels der Ehre im Amtsbezirk Bern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Diagramm 3: Registrierte gesellige Gewalt im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 3 Die gesellige Gewalt war, wie ihr Name angibt, Teil der Geselligkeit, die sich soziologisch mit Georg Simmel sowohl als Ort und Zeit als auch als soziale Beziehung und Praxis verstehen lässt. hang mit der spielerischen Vergesellschaftung bei Hardcorekonzerten. Peter Wettmann-Jungblut verwendet den Begriff im Zusammenhang mit der ‚dichten Beschreibung‘ (Clifford Geertz) einer Wirtshausschlägerei aus der Schwarzwaldregion im späten 18. Jahrhundert. Inhetveen (1997); Wettmann-Jungblut (2003), S. 23, 37. 3 Insgesamt sind es 81 Fälle, zwei davon fallen auf die Jahre 1868 und 1869 und sind nicht im Diagramm enthalten. Die hohe absolute und relative Anzahl der Fälle mit geselliger Gewalt in den 1870er-Jahren stellt eine Ausnahme dar und kann nicht als Ausdruck einer kontinuierlichen Abnahme behandelt werden. Unter Berücksichtigung der Einträge der Kontrolle der Kriminalkammer, die bis ins Jahr 1852 zurückreichen, kann gesagt werden, dass für die 1850er- und 1860er insgesamt weit weniger Gewaltdelikte eingetragen sind. Obwohl eine genaue Typisierung aufgrund der nur sehr unregelmäßigen Überlieferung der Untersuchungsakten vor 1868 nicht möglich ist, kann anhand der seltenen Einträge darauf geschlossen werden, dass auch die schweren Gewaltdelikte mit geselliger Gewalt seltener waren als in den 1870er-Jahren. Vgl. StAB BB 15. 4. 500; 501. 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Fälle mit geselliger Gewalt pro Jahrzehnt Fälle mit geselliger Gewalt pro 100‘000 Einwohner 81 Ehrbezogene Gewalt beschränkte sich im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 jedoch nicht auf die Wirtshausgeselligkeit. Auch in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz handelten Menschen gewalttätig. 33 Fälle zeigen, dass ehrbezogene Gewalt auch im Alltag der Menschen präsent war. Wie die gesellige Gewalt konzentrieren sich auch diese Fälle überwiegend auf die erste Hälfte des Untersuchungszeitraums: Gewalthandlungen in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz sind nicht immer eindeutig von der geselligen Gewalt zu unterscheiden. Auch hier forderten sich Männer gegenseitig mit scheinbar belanglosen Provokationen und Beleidigungen heraus. Die Mehrzahl der Streitereien in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz können aber nicht schlüssig als spielerische Einübung von Ehre verstanden werden. Mit Simmel lässt sich sagen, dass Gewalt am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft zwar immer noch eine Wechselwirkung, aber weder ‚ganz reine’, noch ,durch keinen materiellen Akzent debalancierte Wechselwirkung‘ war. Die Ehre, die im Wirtshaus auf symbolische Weise im Spiel eingeübt wurde, galt es am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft mit Bedacht auf materielle Ressourcen und den eigenen Ruf mit Dringlichkeit zu verteidigen. Hier äußerte sich die Ehre nicht nur als Gefühl, sondern als soziale Ordnung. Bourdieus Ehrkonzept zufolge ging es nicht nur um die spielerische Einübung von nif; in Nachbarschafts- und Arbeitskonflikten verteidigte nif hurma. 4 4 Vgl. Kapitel 3, S. 33ff. 0 2 4 6 8 10 12 14 16 Fälle mit Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz pro Jahrzehnt Fälle mit Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz pro 100‘000 Einwohner Diagramm 4: Registrierte Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 82 Schließlich lag Ehre im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 auch gewissen (aber nicht allen) schwerwiegenden Gewalttaten innerhalb der Familie und zwischen Hausbewohnern zugrunde. Insgesamt finden sich unter den 182 Gewaltdelikten nur sechzehn entsprechende Fälle. In diesem Kapitel gehe ich auf die häusliche Gewalt im Kontext der Ehre ein und zeige, dass die Typologie ‚übermäßige Züchtigung‘ (Spierenburg) von Familienangehörigen und anderen Hausbewohnern eine Gewalthandlung war, bei der es grundlegend um die Ehre des Hauses ging. Allerdings handelte es sich um eine äußerst riskante und ambivalente Praxis. Denn wenn in ungerechtfertigter oder übertriebener Weise gezüchtigt wurde, konnten Schläge gegen Hausbewohner und Familienangehörige die Ehre und Ordnung einer Familie und eines Hauses auch gefährden und destabilisieren. Der Grat zwischen Festigung und Auflösung der häuslichen Ordnung und Hierarchie durch Gewalt war schmal. 5 Die sechzehn Fälle mit ‚übermäßiger züchtigender Gewalt‘ konzentrieren sich wiederum trotz Bevölkerungswachstum auf die erste Hälfte des Untersuchungszeitraums (vgl. Diagramm 5). Bisher hat die Forschung züchtigende Gewalt nicht systematisch in einen Zusammenhang mit der sozialen Tatsache der Ehre gestellt. Dass die Ehre eine grundlegende Rolle einnahm, lässt sich daran erkennen, dass die Gewalt eng mit der Ordnung des Hauses und der Familie verbunden war. 6 Wie in den einführenden Ausführungen zu Bourdieus Ehrkonzept gezeigt, ist das Haus wichtiger Bestandteil der verletzbaren Ehre in Form von hurma. In Ehrgesellschaften gilt es nicht nur, das eigene Haus gegen Angriffe von außen zu verteidigen, sondern auch gegen innen die Ordnung des Hauses zu wahren. Eibach zeigt mit seinem Konzept des ‚offenen Hauses‘, dass in den Ehrgesellschaften der Frühen Neuzeit das Haus nicht einen von der Öffentlichkeit gänzlich abgeschlossenen Bereich darstellte. Zwar galten im Haus andere Regeln als außerhalb des Hauses. Die Hausmauern begrenzten das Haus also nicht nur räumlich, sondern steckten auch einen symbolischen Bereich ab. Allerdings schlossen Türen und Fenster das 5 Arni spricht von einem „Ausdruck von Aggression“ oder einem „Mittel zur Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen“. Töngi sieht in der häuslichen Gewalt „eine Reaktion auf einen drohenden oder schon erfolgten Macht- und Kontrollverlust“. Sie führt weiter aus: „In argumentativ ausweglosen Situationen weiblicher Zurechtweisung, die psychisch und sozial mit Ohnmachtsgefühlen verbunden waren, trat körperliche Gewalt in Form von Schlägen, Fusstritten, Würgen, Aus-dem-Bett-Werfen oder Ins-Haus-Einsperren an die Stelle der Sprache“. Nancy Tomes geht von einer „male insecurity rather than complete domination over women” aus. Matter macht deutlich, „dass Gewalt bei der Aushandlung von Machtpositionen in einer Geschlechterbeziehung eine zentrale Funktion einnahm. Dabei gefährdete vor allem eine als fragil empfundene Männlichkeit die Machtbalance in Geschlechterbeziehungen und Gewalt wurde eingesetzt, um die männliche Vormachtstellung abzusichern oder wiederherzustellen.“ Arni (2004), S. 141; Töngi (2004), S. 230-285; Tomes (1978), S. 338; Matter (2005), S. 175 f. 6 Joachim Eibach streicht aber heraus, dass Ehefrauen sich in Frankfurt am Main um 1800 mit dem Ziel, „die ‚Ordnung‘ [und dadurch] die Ehre des Hauses wiederher[zu]stellen“, an die Justiz wendeten. Ehekonflikte sind folglich nicht von der Ehre des Hauses zu trennen. Eibach (2007), S. 185. 83 Haus nicht nur ab, sondern öffneten es auch gegenüber der Nachbarschaft. In diesem Sinn war das Haus in der Frühen Neuzeit kein privater Bereich. Daraus folgt auch, dass die Ehre einer Familie nur anerkannt werden konnte, wenn ihr Haus oder ihre Wohnung bis zu einem gewissen Grad für die Blicke der Nachbarn geöffnet war. Denn diese waren es, die dem Haus und seinen Bewohnern Ehre zuschrieben. Unter den wachsamen Augen der Nachbarschaft war es deshalb grundlegend, dass das häusliche Zusammenleben nach den gängigen sozialen Normen funktionierte. 7 Anders als in der Geselligkeit und in der Nachbarschaft, wo sich die Menschen in Ehrgesellschaften auf Augenhöhe begegneten, waren die häuslichen und familiären Beziehungen durch eine hierarchische Rollenverteilung geprägt. Hier nivellierte die Ehre die Unterschiede zwischen den Menschen nicht, sondern akzentuierte sie. Der Ehemann als Hausvater hatte größtenteils das Sagen über seine Frau, Kinder und die restlichen Hausbewohner. Gleichzeitig war er auch für deren Unterhalt verantwortlich. Die Stellung an der Spitze der Haus- und Familiengemeinschaft erlaubte es den Männern, die Hausbewohner mit Maß körperlich zu züchtigen. 8 7 Eibach (2011), S. 623, 648-655. 8 Hohkamp (1995), S. 300-302. Eibach (2007), S. 168 f. Zum Haus und der Züchtigung in der Frühen Neuzeit aus rechtshistorischer Perspektive vgl. Schlinker (2016). 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Fälle mit schwerer Züchtigungsgewalt pro Jahrzent Fälle mit schwerer Züchtigungsgewalt pro 100‘000 Einwohner Diagramm 5: Registrierte schwere Züchtigungsgewalt im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 84 Zwar begannen im 18. Jahrhundert die Autoritäten - beeinflusst durch die Ideen der Aufklärung - Gewalt in Haus und Ehe zu verbieten, wie Eibach am Beispiel von Frankfurt am Main zeigt. 9 Auch das Berner Strafgesetzbuch von 1866 räumte dem Ehemann und Hausvater kein explizites Züchtigungsrecht ein. Es sanktionierte allerdings ausdrücklich den Missbrauch des Züchtigungsrechts, was ex negativo auf eine gewisse Toleranz schließen lässt 10 Gleichzeitig hielt auch das schweizerische Zivilrecht von 1907 trotz prinzipieller rechtlicher Gleichstellung der Geschlechter weiterhin an der Ehe als einer hierarchischen Beziehung fest. Dadurch wurden die patriarchalischen Ehe- und Familienstrukturen der Frühen Neuzeit in veränderter Form in die Moderne übertragen. 11 Auch am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde züchtigende Gewalt toleriert, solange sie ein gewisses Maß an Brutalität nicht überschritt. Bei den hier vorliegenden Fällen führte die Schwere der Verletzungen aber zu einer Intervention der Justiz. 12 Im folgenden Kapitel werden die drei Typen der ehrbezogenen Gewalt nach der dreifachen Lesart der Selbstzeugnisse dargestellt. Bei der Analyse der Sozialprofile, der Gewaltpraktiken und der Narrative stößt man auf Bekanntes aus der Frühneuzeitforschung. Sozialprofile Gesellige Gewalt Der gesellige Charakter der Gewalt zeigt sich an der großen Anzahl der Beteiligten an diesen Gewalttaten. Nur ausnahmsweise fanden Kämpfe einzig zwischen zwei Männern statt. Anhand der 81 Fälle lassen sich die Sozialprofile von 212 9 Eibach (2007), S. 183 f. 10 Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 146. 11 Arni zeigt am Bespiel der schweizerischen Ehegesetzgebung von 1907 (Inkraftsetzung 1912), dass die Kontinuität der männlichen Dominanz in der Ehe um 1900 nicht selbstverständlich war, sondern von den gesetzgebenden Juristen und Politikern bewusst aufrechterhalten und gestärkt wurde. Arni (2004), S. 34 f. 12 In den Berner Untersuchungsakten finden sich Anzeichen für eine weitverbreitete Toleranz gegenüber züchtigender Gewalt im Haus und in der Familie. Ein „Quartieraufseher“ rapportierte 1872 zu einem tödlichen Streit in der Wohnung F. im Haus 59 des schwarzen Quartiers: „Lezte Nacht wurde ich von Frau D. […] aufgeweckt mit der Meldung, dass in ihrer Location Jakob F. betrunken sei & seine Frau schlage. Da solche Szenen in hiesigem Quartier nicht selten sind & schon bei F. öfters vorgekommen, auch manchmal nicht so arg, wie sie geschildert wurden & ich schon die Worte hören musste ,unser Streit geht Niemand nichts an‘, so gab ich zur Antwort, dass ich nicht komme.“ StAB BB 15. 4. 1172 3979. Auch sind Hinweise zu finden, dass die Opfer die Gewalt des Hausvaters und Familienoberhaupts tolerierten und diese nicht sofort der Polizei meldeten. So erzählte die Hausiererin Anna A. im Jahr 1906: „Es kam wohl schon früher mitunter vor, dass ich von meinem Mann, wenn er betrunken war, geschlagen wurde; es war aber nie richtig, sodass ich keine Veranlassung hatte, gegen ihn klagend aufzuwarten.“ StAB BB 15. 4. 1803 313. 85 Tätern und 131 Opfern rekonstruierten. Ein wichtiges Merkmal der geselligen Gewalt ist es, dass keine signifikanten Unterschiede zwischen der Opfer- und Täterpartei ausgemacht werden können. Der wichtigste soziale Marker der geselligen Gewalt ist die Männlichkeit. Frauen waren am Spiel der Ehre nur ausnahmsweise beteiligt. Es ist nicht dokumentiert, dass eine Frau im geselligen Kontext zugeschlagen oder zugestochen hätte. Daraus zu schließen, dass die Geselligkeit ein sicherer Raum für Frauen war, wäre aber falsch. Darauf verweist ein Fall, in dem eine Frau tätlich angegriffen wurde. 13 Wie weiter unten noch thematisiert wird, war die Geselligkeit zudem ein Ort für sexuelle Übergriffe. 14 Als zweiter Marker der geselligen Gewalt lässt sich das relativ junge Alter der Beteiligten rekonstruieren. Die jüngsten Beteiligten waren sechzehn Jahre alt. 55 Prozent der Angeklagten und 43 Prozent der Opfer waren zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. 88 Prozent der Angeklagten beziehungsweise 74 Prozent der Opfer waren zwischen sechzehn und vierzig Jahre alt. 15 Obwohl die Angaben zum Zivilstand in den Untersuchungsakten nicht konsequent erfasst wurden, wird erkennbar, dass gesellige Gewalttäter tendenziell, aber nicht immer ledig waren. 16 Eine Auswertung der Wohnorte zeigt, dass rund ein Drittel der Angeklagten und ein Viertel der Opfer in den Dörfern rund um die Stadt lebten. Da der Anteil der ländlichen Bevölkerung im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 zwischen 27 und siebzehn Prozent betrug, ist eine sehr geringe Überrepräsentation des ländlichen Raums gegenüber der Stadt erkennbar. 17 13 Christian W. wurde gegen Rosa G. auf offener Straße gewalttätig. Zum Streit war es gekommen, weil Anna Z., die Mitglied eines Tierschutzvereins war, den Ehemann von Rosa G. darüber zur Rede stellte, dass der seinen Hund mit Grien bewarf. Christan W., der die Auseinandersetzung beobachtet hatte, ergriff daraufhin für Anna Z. Partei und schlug Rosa G. mit der Faust aufs Auge. StAB BB. 15. 4. 1714 9435. Bei der anderen Frau, die bei geselliger Gewalt direkt beteiligt war, handelt es sich um eine Mutter, die 1903 gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren zwei Söhnen auf dem Nachhauseweg in Bremgarten bei Bern von ansässigen Burschen nach dem typischen Muster der geselligen Gewalt verbal provoziert wurde. Einer der Söhne schoss während des Streits seinem Widersacher mit einer Schrotpistole ins Gesicht. Vgl. StAB BB. 15. 4. 1749 9684. 14 StAB BB 15. 4. 1660 8997. 15 Altersverteilung der Beteiligten bei geselliger Gewalt. Anzahl Angeklagte/ Opfer: 16-19-jährig: 33/ 10; 20-29: 118/ 56; 30-39: 36/ 31; 40-49: 15/ 6; 50-59: 4/ 3; 60-69: 2/ 2; 70-74: 0/ 1; ohne Angabe: 4/ 22. 16 Zivilstand: Anzahl Angeklagte/ Opfer: Ledig: 94/ 24; verheiratet: 37/ 22; verwitwet: 2/ 2; ohne Angabe: 79/ 83. 17 Wohnorte der Beteiligten an geselliger Gewalt. Anzahl Angeklagte/ Opfer: Stadt: 128/ 91; Land: 66/ 34; ohne festen Wohnsitz: 2/ 2; außerhalb des Amtsbezirks Bern: 8/ 0; ohne Angabe: 8/ 4. 1870 betrug der Anteil der ländlichen Bevölkerung 27 Prozent, 1920 noch siebzehn Prozent und 1941 wieder 24 Prozent. Da die Fälle mit geselliger Gewalt vor allem auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg fallen, sind besonders die ersten beiden Prozentzahlen relevant. Für die Bevölkerungszahl des Amtsbezirks und der Stadt Bern vgl. Fußnote 5, S. 13. Die Verhörproto- 86 Die Zugehörigkeit zu spezifischen sozialen Schichten ist neben dem Geschlecht und dem Alter der dritte wichtige Marker der geselligen Gewalt. Bau- und Fabrikarbeiter stellten mit siebzig Prozent bei den Angeklagten und fünfzig Prozent bei den Opfern den mit Abstand höchsten Teil der geselligen Gewaltbeteiligten. Ebenfalls zahlreich vertreten sind Männer aus dem Handwerk und den landwirtschaftlichen Berufen. Da viele Auseinandersetzungen ihren Anfang im Wirtshaus nahmen, stellte die gesellige Gewalt für Wirte gewissermaßen ein Berufsrisiko dar. Nach der Jahrhundertwende finden sich zudem auch einige Beteiligte, deren Berufsprofile auf eine kleinbürgerliche Existenz verweisen, wie etwa der Handelslehrling Fritz S., der zudem Mitglied in einem Fußballverein war oder der Buchhalter Karl J. Beide waren 1903 beziehungsweise 1911 in Messerstechereien verwickelt. 18 Auseinandersetzungen dieser Art waren im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 eine Angelegenheit junger Männer aus der Unterschicht. Berufe, die auf eine Oberschichtszugehörigkeit schließen lassen, sind zwar nur für sechs Beteiligte nachzuweisen, fehlen aber nicht gänzlich. Im Jahr 1878 prügelten sich beispielsweise zwei Architekten mit einem Maler- und einem Gärtnerlehrling. 19 Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der historischen Gewaltforschung überrascht die Abwesenheit von Oberschichtsangehörigen allerdings nicht. Der Rückzug der höheren Gesellschaftsschichten aus dem Straßenspektakel der geselligen Gewalt ist, wie oben gezeigt, ein gut dokumentiertes Phänomen. War kolle enthalten auch die genauen Wohnadressen der Angeklagten und Opfer. Weil in der Stadt Bern die Wohnquartiere sozial durchmischt waren und nur wenige Elends- oder Armenviertel (Matte und Altenberg) existierten, lässt eine Analyse der Wohnorte nicht mit Sicherheit auf den sozialen Status schließen. Deshalb wird in dieser Arbeit auf eine systematische Auswertung der Wohnadressen verzichtet. Zum relativ hohen Grad der sozialen Durchmischung in Bern: Walser (1998), S. 186-194. 18 StAB BB. 15. 4. 1747 9680; 1018. Weitere Beteiligte mit Berufen außerhalb des Handwerks, der Landwirtschaft oder des Fabrik- und Bausektors finden sich in StAB BB. 15. 4. 1585 8345; 1865 671. 19 StAB BB 15. 4. 1291 5406. Berufsprofile der Beteiligten an geselliger Gewalt: Anzahl Angeklagte/ Opfer Arbeiter: 146/ 68; altes Handwerk: 22/ 16; landwirtschaftliche Berufe: 20/ 20, Wirt: 3/ 5: andere: 17/ 7; berufslos: 1/ 0, ohne Angabe: 4/ 15. Unter die Kategorie ‚Arbeiter‘ fallen folgende Berufe. Handlanger, Mechaniker, Fabrikarbeiter, Bahnarbeiter, „Parqueteriearbeiter“, „Cementer“, Gipser, Bierbrauer, Kaminfeger, „Magaziner“, Polier, Pulverarbeiter, Spengler, „Ziegler“, Maurer, Spinner, Dekorationsmaler, „Installateur“, Monteur, Schlosser, „Einzieher im Gaswerk“, Maschinist, Erdarbeiter, Schreiner, Zimmermann, Dachdecker, Maler, Brenner. Unter die Kategoire ‚altes Handwerk‘ fallen: Schmid, Kesselschmid, Hufschmid, Küfer, Gurtner, Weber, Hafner, Bäcker, Schneider, Müller, Schuhmacher, Metzger, „Korber“/ Korbflechter, Rechenmacher. Unter die Kategorie ‚landwirtschaftliche Berufe‘ fallen: Knecht, Tagelöhner, Landwirt, Landarbeiter, Milchhändler, „Kalberhändler“, Pferdeknecht, Gärtner. Unter die Kategorie ‚andere‘ fallen: Droschkenführer, „Packer“, Flösser, „Coiffeur“, Fuhrmann, Postangestellter, Ausläufer, Portier, Köchin, Handelslehrling. Unter die Kategorie ‚andere‘ fallen auch die Berufe, die auf eine mögliche Oberschichtszugehörigkeit verweisen: Architekt, Baumeister, Tierarzt, Weinhandelsmann und Wasserleitungsunternehmer. 87 diese Entwicklung für Frankfurt am Main zu Beginn des 19. Jahrhunderts weit fortgeschritten, so kann sie für Bern um 1900 als abgeschlossen gelten. 20 Aus dem Jahr 1901 ist aber in den Berner Untersuchungsakten eine Auseinandersetzung zwischen russischen Chemiestudenten überliefert, in der Ehre ebenfalls eine wichtige Rolle spielte. Dieser Konflikt war aber entscheidend anders gelagert als die herkömmlichen Schlägereien und Messerstechereien zwischen Bauern, Handwerkern und Arbeitern. Deshalb werde ich zum Schluss dieses Kapitels näher auf den Streit im akademischen Milieu eingehen. Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz Die Sozialprofile der 54 Angeklagten und fünfzig Opfer bei Auseinandersetzungen zwischen Nachbarn und Arbeitskollegen zeigen, dass auch Frauen und ältere Männer nötigenfalls ihre Ehre mit Gewalt verteidigten. Unter den Angeklagten waren fünf und unter den Opfern elf Frauen. Die Altersspanne der Beteiligten an ehrbezogenen Nachbarschafts- und Arbeitskonflikten war größer als bei der geselligen Gewalt, bei der die meisten Protagonisten zwischen achtzehn und dreißig Jahre alt waren. Die Kohorte der Zwanzigbis Vierzigjährigen ist aber auch bei der Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz am stärksten vertreten. 21 Auffallend ist zudem, dass in einem Fall ein Kind Opfer nachbarschaftlicher Gewalt wurde und in einem anderen Fall gegenüber zwei Kindern Gewalt angedroht wurde. 22 Das im Vergleich zu den geselligen Gewalttätern höhere Durchschnittsalter brachte es mit sich, dass die Mehrheit der Beteiligten bei Nachbarschafts- und Arbeitskonflikten verheiratet waren. 23 Dies zeigt, dass Gewalt im Kontext der Ehre nicht nur eine Praktik junger und lediger Männer war. Keinen Unterschied zu den Sozialprofilen der geselligen Gewalttäter besteht in puncto Zugehörigkeit zum ländlichen Milieu und den städtischen Unterschichten. Bis auf zwei Ausnahmen gehörten alle Opfer und Angeklagten der städtischen oder 20 In der Stadt Frankfurt am Main waren zwischen 1750 und 1850 64,5 Prozent der Beteiligten an Gewaltkonflikten im öffentlichen Raum zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt. Eibach stellt eine geringe Beteiligung von Personen aus der Oberaber auch den marginalisierten Unterschichten an den männlichen Gewaltspielen fest. In Frankfurt waren die meisten Gewalttäter Handwerker, gefolgt von Personen die in der Landwirtschaft beschäftigt waren und Militärs. Eibach (2003), 208-218. Für den ländlichen Kanton Uri im 19. Jahrhundert spricht Töngi von „Nachtbuben“, „Nachtburschen“ und der „jungen Generation“. Töngi (2004), S. 167 f. und 174. Für die frühneuzeitliche Eifel geht Eva Lacour von „eine[r] weite[n] Verbreitung jugendlicher Gewaltausübung aus“. Lacour (2000), S. 92-103. 21 Altersverteilung der Beteiligten an gewalttätigen Konflikten in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz. Anzahl Angeklagte/ Opfer: 7-10-jährig: 0/ 2; 16-19: 4/ 3; 20-29: 21/ 8; 30-39: 13/ 14; 40-49: 11/ 6; 50-59: 6/ 6; 60-69: 1/ 3; 70-73: 1/ 1; ohne Angabe: 0/ 6. 22 StAB BB 15. 4. 1780 159; 1381 6467. 23 Die Angaben zum Zivilstand in den Untersuchungsakten sind lückenhaft. Während 26 Opfer und siebzehn Angeklagte laut den Akten verheiratet waren, waren nur vierzehn Angeklagte und sechs Opfer ledig. Zwei Angeklagte waren verwitwet. 88 ländlichen Unterschicht an und waren im Handwerk und der Landwirtschaft beschäftigt oder arbeiteten in Fabriken und auf Baustellen. 24 Im Vergleich zur geselligen Gewalt fällt die Überrepräsentation von Beteiligten mit ländlichem Wohnsitz deutlicher aus. 25 Züchtigende Gewalt Auch die züchtigende Gewalt, die zu schweren Verletzungen oder zum Tod führte, ist im Amtsbezirk zwischen 1868 und 1909 (der letzte Fall datiert aus diesem Jahr) ebenfalls ein Phänomen des ländlichen Milieus und der städtischen Unterschichten. Sechzehn männliche Angeklagte und fünf männliche Opfer arbeiteten in der Landwirtschaft, im Handwerk oder im Bau- und Fabrikgewerbe. Die teilweise registrierten Berufsbezeichnungen der elf weiblichen Opfer verweisen ebenfalls auf eine Unterschichtszugehörigkeit: Kellnerin, Hausiererin, Tagelöhnerin, Magd oder Näherin. Das Alter der Beteiligten variiert je nach Konstellation des Konflikts. Bei den acht Streitereien zwischen Ehepartnern lag das Alter des männlichen Täters und des weiblichen Opfers jeweils bei über dreißig Jahren, in drei dieser Fälle bei über fünfzig Jahren. Auch hier zeigt sich, dass Gewalt im Kontext der Ehre kein Jugendphänomen war. Jünger und meist ledig waren die Täter bei den Fällen, in denen Söhne gegen ihre Väter und in einem Fall gegen die eigene Schwester gewalttätig wurden. 26 Im Unterschied zu den anderen ehrbezogenen Gewalttaten ist bei der züchtigenden Gewalt keine Überrepräsentation von Beteiligten aus den ländlichen Gebieten festzustellen. 27 24 Bei der einzigen Ausnahme handelte es sich um einen Disput zwischen zwei Redaktoren der Zeitung Berner Tagwacht aus dem Jahr 1896. Auf einen dieser Redakteure, Karl M., wird im Zusammenhang mit sexueller Gewalt in Kapitel 8 eingegangen. StAB BB 15. 4. 1629 8723. Berufsprofile der Beteiligten an Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz: Angeklagte/ Opfer: Arbeiter: 21/ 20; altes Handwerk: 9/ 5; landwirtschaftliche Berufe: 11/ 9, andere: 4/ 4, ohne Angabe 9/ 11. 25 Wohnorte. Anzahl Angeklagte/ Opfer: Stadt: 23/ 25; Land: 28/ 18; außerhalb des Amtsbezirk Bern: 1/ 0; ohne Angabe: 2/ 6. Für die Bevölkerungszahlen vgl. Fußnote 5. 26 Altersverteilung der Beteiligten an Konflikten mit züchtigender Gewalt. Anzahl Angeklagte/ Opfer: 20-29-jährig: 5/ 2; 30-39: 4/ 1; 40-49: 4/ 2; 50-59: 2/ 4; 60-69: 1/ 1. Bei sechs Opfern fehlt die Altersangabe. 27 Wohnorte: Anzahl Angeklagte/ Opfer: Stadt: 9/ 9; Land 6/ 6; außerhalb des Amtsbezirk Bern 1/ 1. Außerhalb des Amtsbezirks wohnten das Hausiererpaar A., welches, als es zum Streit kam, in einer Scheune auf dem Stadtgebiet übernachte. StAB BB 15. 4. 1803 313. Für die Bevölkerungszahlen vgl. Fußnote 5, S. 13. 89 Praktiken und Kontexte Gesellige Gewalt Gesellige Gewalt fand vornehmlich an den Abenden und in den Nächten des Wochenendes statt. Nur in acht der insgesamt 81 Fälle liegt die Tatzeit vor achtzehn Uhr. Über die Hälfte der geselligen Gewalthandlungen fanden an Feiertagen, in den Nächten vom Samstag auf den Sonntag und vom Sonntag auf den Montag statt. An diesen Abenden besuchten die Burschen allein oder in Gruppen und manchmal in Begleitung von Mädchen die Wirtschaften zum abendlichen Beisammensein, tanzten und spielten Karten. In siebzig der 81 Fälle entfachte sich der Konflikt im oder vor dem Wirtshaus, und nur in drei Fällen ist ein Wirtshausbesuch von mindestens einer Partei nicht nachweisbar. 28 Notorische Orte geselliger Gewalt waren in der Stadt Bern die Gerechtigkeitsgasse, der angrenzende Nydeggstalden sowie die Matte. Das heute noch existierende Hotel Adler in der unteren Gerechtigkeitsgasse war allein dreimal Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung. Ebenfalls stark ins Gewicht fallen die nördlichen Gassen der oberen Altstadt (Zeughausgasse, Aarbergergasse und Genfergasse) sowie der nahegelegene alte Berner Bahnhof. 29 Entsprechend der Wohnorte der Beteiligten fand wiederum knapp ein Drittel der Gewalthandlungen (23) auf dem Land statt. Beim geselligen Zusammensein tranken die jungen Männer. Fast alle Beteiligten hatten vorab Bier oder Wein getrunken. 30 Bei keinem anderen Gewalttypus spielte der Alkohol eine so wichtige Rolle wie bei der geselligen Gewalt. Dabei ging es nicht in erster Linie darum, dass der Alkoholkonsum aggressiv oder im Sinne von Norbert Elias’ Theorie zu einem Kontrollverlust führte. Das Trinken war vielmehr ein entscheidender Bestandteil der Geselligkeit und in diesem Sinne eine „kulturelle Praxis des Körpers“, wie Peter Wettmann-Jungblut festhält. 31 Mit dem ersten Schluck verabschiedeten sich die Burschen aus dem Alltag und tauchten in die Geselligkeit ein. Dabei machte die Geselligkeit nicht nur durstig, sondern das Trinken auch gesellig. Der achtzehnjährige Handelslehrling Fritz S. erklärte dem Untersuchungsrichter: „Da wir schon am Nachmittag getrunken, so 28 Zur sozialen und symbolischen Bedeutung des Wirtshauses im Spätmittelalter vgl. Kümin (2005); Rau (2004); Kümin/ Tlusty (2002). 29 Im Bahnhof Bern gab es drei Bahnhofbuffets, die den drei verschiedenen Klassen entsprachen. Vor allem das „Bahnhofbüffet III. Classe“ (StAB BB 15. 4. 1605 8497, 1018, 1795 255, 1865 671) scheint wegen seinen langen Öffnungszeiten ein beliebter Treffpunkt gewesen zu sein und veranlasste einen Richter 1908 zum Kommentar, dass die Gründe für die häufigen „Scandalszenen“ vor allem im „Offenhalten des Berner-Bahnhof-Buffets auch für Stadtbewohner bis Morgens 3 Uhr“ zu suchen seien (StAB BB 15. 4. 1865 671). 30 Wein war das traditionelle Wirtshausgetränk in der Region Bern. Die industrielle Bierproduktion lief erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts an. Bier wurde nun auch deutlich öfter konsumiert als in den 1860er-Jahren. 31 Wettmann-Jungblut (2003), S. 46. 90 waren wir im Adler alle mehr oder weniger betrunken und fingen zu singen an.“ 32 Die vom Alkohol berauschten Zimmermänner Gottlieb A. und Emil W. gingen „Arm in Arm“. 33 Die Aussage des italienischen Maurers Francesco C. lässt erkennen, dass das Trinken geradezu gleichbedeutend mit Geselligkeit war: „Ich kannte [Ernesto B.]. Ich trank schon mit ihm Bier“. 34 Das Trinken und Betrinken ist also nicht nur Auslöser der geselligen Gewalt, sondern als konstitutiver Bestandteil der sozialen Praxis der Geselligkeit zu betrachten. 35 Das Trinken war bereits Teil des Spiels der Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung: Der 28-jährige Metzger Jakob F. berichtete: „Wir begegneten den 4 […] Burschen, von denen einer rief: ‚da kommen auch zwei Volle.‘ Ich erwiderte darauf: ‚Sie hätten auch genug.‘ Darauf gab ein Wort das andere.“ 36 In der Geselligkeit ging es auch darum zu zeigen, dass man trinken konnte, ohne die Kontrolle über die Situation zu verlieren. In diesem Sinn gab Emil W. zu Protokoll: „Abends hatten wir in der Wirtschaft […] ‚Aufrichti‘ & tranken dort bis gegen Mitternacht. Als wir die Wirtschaft verliessen waren wir ziemlich betrunken, wussten aber gleichwohl, was wir machten“. 37 Die Wirtshausgeselligkeit war auch der Ort, an dem junge Männer und Frauen außerhalb der Arbeitszeit aufeinandertrafen. Obwohl die gesellige Gewalt eine männliche Praxis war, waren Mädchen in 65 Prozent der Fälle (53) präsent. 38 Frauen besuchten die Wirtshäuser meist in Begleitung junger Männer. Die Monteure Joseph A. und Wenzel S. aus Böhmen feierten 1908 mit ihren „Mädchen“ Wenzels Abschied aus Bern. 39 Der Handlanger Gottfried H. führte 1891 seine „Geliebte“, die verwitwete Köchin Anna M., in den Gasthof Adler aus. 40 Die Geselligkeit war Teil der zwischengeschlechtlichen Annährung und damit auch des Wettbewerbs um Mädchen. In neun Fällen kam es während oder im Anschluss 32 StAB BB. 15. 4. 1747 9680. Die Orthografie und Grammatik der Quellenzitate wurde größtenteils belassen. Die Interpunktion wurde für eine bessere Lesbarkeit angepasst. 33 StAB BB. 15. 4. 9342. 34 StAB BB. 15. 4. 1687 9221. 35 Wettmann-Jungblut und Eibach weisen auf eine ambivalente Praxis des geselligen Alkoholkonsums hin - das einander Zutrinken und die Verweigerung, jemandem zuzutrinken. Das Ritual des einander Zutrinkens stärkt bestehende Bündnisse, indem es sie gleichzeitig infrage stellt. Es kann schwelende Konflikte lösen oder eskalieren lassen. Wettmann-Jungblut (2003), S. 46 f.; Eibach (2003), S. 241-249. 36 StAB BB. 15. 4. 1614 8577. 37 StAB BB. 15. 4. 1691 9242. Ähnlich sagte auch Joseph A. aus: „Um ca. 1 Uhr begaben wir uns dann alle nach dem Bahnhofbüffet II. Kl. & tranken dort wieder, so dass ich doch allerdings etwas betrunken wurde, aber nicht so stark, so dass ich ganz gut weiß, was alles ging.“ StAB BB 15. 4. 1865 671. 38 Auch Eibach zeigt, dass das Wirtshaus in Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert kein Ort exklusiver Männlichkeit war. Frauen, die allein das Wirtshaus besuchten, wurden aber der Prostitution verdächtigt. Eibach (2003), S. 247. 39 StAB BB 15. 4. 1865 671. 40 StAB BB 15. 4. 1590 8388. Nur in einem Fall besuchten mehrere junge Frauen gemeinsam ohne männliche Begleitung ein Wirtshaus. StAB BB. 15. 4. 1585 8345. 91 an Tanzveranstaltungen zu geselliger Gewalt. 41 Gleich wie das Trinken barg auch der Umgang mit Mädchen großes Konfliktpotenzial. 1930 kommentierte ein Gerichtspräsident: Es „sei daran erinnert, dass sich der Vorfall am Abend nach einem Tanzsonntag auf dem Land abgespielt hat. Eine gewisse Spannung lag deshalb schon in der schwülen Luft des Tanzsaales.“ 42 Die ‚spannende‘ und ‚schwüle‘ Symbolwelt der Geselligkeit war geprägt von Alkoholkonsum, der Annäherung zwischen den Geschlechtern und eben auch Gewalt. Über die Koketterie schreibt Simmel, dass sie mit der Geselligkeit in „Wesensverwandtschaft“ steht und erstere deshalb „prädestiniert“ ist, ein „Element“ der letzteren zu sein. 43 Gleiches gilt auch für die gesellige Gewalt, die sich nicht nur in der Geselligkeit abspielte, sondern auch nach den Prinzipien der Geselligkeit funktionierte, wie in der Folge gezeigt werden soll. Einige wenige der geselligen Konflikte hatten eine Vorgeschichte. 44 In den allermeisten Fällen war dies jedoch nicht der Fall. Überhaupt kannten sich in 31 der Fälle die Streitenden überhaupt nicht. Wer sich prügelte, musste deshalb zuerst in Kontakt treten. An den Schilderungen der gegenseitigen Provokationen 41 StAB BB. 15. 4. 1178 4052, 1258 5002; 1361 6250; 1421 6890; 1552 8074; 1636 8796; 1671 9091; 1691 9242; 2361 3202. 42 StAB BB 15. 4. 2361 3202. Wenn sich Konflikte anbahnten, zogen sich die jungen Frauen zurück. Ein Zeuge einer Schlägerei im Weissenbühlquartier berichtete: „Das Frauenzimmer, das bei mir gewesen, war sehr erschroken, weshalb ich mit ihr gegen die Wirtschaft Maichtri zu ging & mich um den Streit gar nicht bekümmerte.“ Als sich vor dem notorischen Hotel Adler zwei Parteien gegenüberstanden, sagte die Zeugin Ida R. zu ihrem Begleiter: „Wir wollen lieber weg.“ In zwei Fällen versuchten die Frauen, einen Kampf zu verhindern oder zu beenden. Die Geliebte des böhmischen Monteurs Joseph A., Lina K., gab an, dessen Zungenherausstrecken gegenüber einem Mann in der Berner Bahnhofshalle in der Absicht zu schlichten relativiert zu haben: „[I]ch ersuchte ihn jedoch seines Weges zu gehen; es sei ja möglich, dass mein Begleiter dies gemacht; er solle es aber nicht bös auffassen, da mein Begleiter etwas genug habe. Damit es nun nicht Krach gab, riss ich [Joseph] weg gegen die Treppe zu und hielt ihn an, nicht dazubleiben“. Die Ehefrau von Johann R., der Friedrich W. „[an]pakte […] & überschoss“, aber schließlich unter Friedrich zu liegen kam, versuchte, ihrem Gatten zu helfen. Friedrich „stieß sie aber“ nach eigenen Angaben“ von [sich], ohne sie zu schlagen“. Schläge sollte nur der männliche Widersacher erhalten. StAB BB 15. 4. 1584 8337; 1843 558; 1671 9091. 43 Simmel (1970), S. 61. 44 Der Zimmermann Emil W. gab folgende Beschwerde gegen seinen Mitarbeiter zu Protokoll: „Friedrich S. hatte es seit einiger Zeit darauf abgesehen, Gottlieb A. und mich zu plagen, indem er unsere Arbeiten ausfeuzte & behauptete, wir können nichts. Wir hatten deshalb hie & wieder Wortwechsel.“ Zur handfesten Auseinandersetzung kam es bezeichnenderweise erst außerhalb der Arbeit während eines Geselligkeitsspiels: „Vor ca. 2 à 3 Wochen kam es dann vor, dass Gottlieb A. und Friedrich S. einander in die Finger nahmen & zwar wegen Differenzen, die sie im Kartenspiel gehabt.“ StAB BB 15. 4. 1691 9242. In einem weiteren Fall übertrugen sich Streitereien aus dem Beruf in den geselligen Kontext. StAB BB 15. 4. 1741 9622. In drei weiteren Fällen waren sich die Kontrahenten bereits zuvor im geselligen Rahmen negativ aufgefallen. StAB BB 15. 4. 1584 8337; 1687 9221; 1960 1153. Einer weiteren Auseinandersetzung, auf welche noch eingegangen wird, lag zugrunde, dass beide Kontrahenten das gleiche Mädchen begehrten. StAB BB 15. 4. 1671 9091. 92 in den Verhörprotokollen wird der spielerische Charakter der Ehre erkennbar. Herausfordern war gleichbedeutend mit Spaßen. Joseph M., der im Bahnhof Bern einem vorübergehenden Burschen die Zunge herausstreckte, war nach eigener Aussage „überlustig“. 45 Der Ausläufer Gottfried F. erzählte: Sein Bruder sagte einem anderen „im Spaß, ich sei scharf auf ihn“. 46 Friedrich Z. glaubte, Wilhelm S. „treibe nur Spaß“, als dieser ihm den Weg zur Wirtschaft versperrte, und als der Schlosserhandlanger Arthur S. einem Zeugen aus einiger Entfernung zurief, er sei gestochen worden, „glaubte“ dieser „zuerst, er mache nur Spaß“. 47 Der Grat zwischen ‚lustig‘ und ‚überlustig‘ war schmal. Guiseppe N. erzählte: „[W]ir scherzten miteinander, ohne dass ich sagen kann, wer hiermit angefangen hat. Es war vermuthlich [Carlo] P., der mit den beiden Bernern scherzte & dies artete schließlich in Wortwechsel aus. [Carlo] fühlte sich beleidigt.“ 48 . Auch die Annäherung an Mädchen erfolgte als Spaß. Eine Auseinandersetzung entfachte sich, weil Klara M., die mit ihrem Bruder und zwei anderen Burschen die Genfergasse passierte, von dem ihr unbekannten Metzger Johann K. „fixiert“ wurde. „[A]uf dieses hin ging ich zu B. der schon einige Schritte voraus marschiert war.“ Der Metzger Johann K. schilderte seine Begegnung mit Klara folgendermaßen: „Im Moment, als diese bei uns vorbei marschieren wollten, ging ich zu der Fräulein & und wollte sie obe ine nehmen; ich war gut aufgelegt & lustig; einer der beiden Herren […] sagte nun zu mir, ich solle da nicht d’Kuh machen und die Person in Ruhe lassen, es gehe mich nichts an.“ 49 Das lustige und spaßige Treiben konnte - ob gewollt oder nicht - als Herausforderung aufgefasst werden. Die Erwiderung dieser Herausforderung erfolgte oft in Form einer Anhaltung zu Ruhe und Ordnung. Die beiden Positionen wirkten antagonistisch, konnten aber von den jungen Männern situativ eingenommen werden. Dies lässt sich gut anhand des Beispiels einer eigentlich harmlosen Auseinandersetzung im Bauerndorf Köniz aus dem Jahr 1896 zeigen, die nur deshalb gerichtlich untersucht wurde, weil sich einer der Beteiligten beim Sturz auf den Boden eine tödliche Tetanusinfektion zuzog. Der Milchhändler Johann W. schilderte die Vorkommnisse folgendermaßen: „Ich befand mich an jenem Abend mit Benedikt M. im Sääli [kleiner Saal] des Wirthshauses zum Sternen. Benedikt M. ging einige Zeit in den [großen] Saal und kam sodann zurück, indem er mir 45 StAB BB 15. 4. 1865 671. 46 StAB BB 15. 4. 1747 9680. 47 StAB BB 15. 4. 1663 9031; 1884 759. 48 StAB BB 15. 4. 1795 255. 49 StAB BB 15. 4. 1908 879. Im Adler wurde die bereits erwähnte Anna M. von Jakob J. angesprochen, der sie „forderte […] mit ihm zu kommen“ und der ihr „etwas zu trinken bezahlen“ wollte. „Ich schlug dies ab mit dem Bemerken, ich hätte genug an einem Mann, ich brauche nicht zwei.“ Jakob ließ jedoch nicht locker, denn Annas Geliebter, der Handlanger Gottfried H., stellte beim Verlassen des Lokals fest, dass Jakob, mit zwei anderen Burschen, wieder anfing, „mit der Anna M. den ‚Löl‘ zu machen, worauf ich ihnen abwehrte und sagte, sie sollten die sein lassen, sie gehe sie nichts an“. StAB BB. 15. 4. 1590 8388. 93 sagte, es wäre gut, wenn ich in den [großen] Saal käme, mein jüngerer Bruder Friedrich sei in Wortwechsel mit Albert R. Ich ging sofort hin und richtete zuerst an Albert R. die Frage, was sie da hätten. Albert R. gab mir kurzen Bescheid, worauf ich meinen Bruder veranlasste, sich zu entfernen und nach Hause zu gehen. Als ich damals mit Albert R. redete, war noch Johann S. bei ihm. Ich verfügte mich, nachdem mein Bruder sich auf meine Aufforderung hin nach Hause begeben hatte, wieder ins Sääli zurück. Nach einiger Zeit kam jemand und sagte zu Benedikt M. und mir, wir sollten doch hinunter vor die Wirthschaft, die 2 Weissenstein-Melker könnten sonst noch Schläge erhalten. Da die beiden Melker […], sich den ganzen Abend in unserer Gesellschaft ruhig verhalten hatten und wir nicht dulden wollten, dass dieselben Schläge erhalten, gingen Benedikt M. und ich hinunter. Als wir hinunterkamen standen auf der einen Seite die 2 Weissensteinmelker und auf der anderen Seite Friedrich G., Johann Sch., Albert R. & Johann R., sowie Adolf J. Nachdem die jungen Burschen eine Zeit lang auf unsere Ermahnung hin ruhig gewesen waren, sah ich, dass Johann S. gegen einen der Melker zuging. [Albert] R. folgte ihm auf dem Fuße nach, ergriff ihn beim Naken, indem er sagte: Johann S., ‚du Herrgottsdonner häb Ornig, sonst hast du mit mir zu thun.‘“ 50 Der Erzähler Johann W. betrachtete sich als Herr über das Geschehen. Er ‚verfügte‘, ‚duldete nicht‘ und ‚ermahnte‘. Herausforderung in Form von Späßen und Erwiderung der Herausforderung in Form von Ermahnungen zu Ruhe machten das gesellige Spiel der Ehre aus. Diese Positionen waren gegensätzlich und doch gleich. Ob die Burschen es sich herausnahmen, zu tun und lassen, was sie wollten, oder andere, die taten und ließen, was sie wollten, nachdrücklich zu Ruhe und Ordnung ermahnten, bedeutete das Gleiche. In diesem Schauspiel ging es nicht um die Durchsetzung äußerer Interessen, sondern einzig darum, situativ Stärke zu zeigen. Welche Partei die Ordnung störte und welche sie verteidigte, war belanglos und austauschbar. 51 Weder die Herausforderung noch die Erwiderung der Herausforderung darf daher als sozialer Zwang begriffen werden. Die Schilderungen in den Verhörproto- 50 StAB BB 15. 4. 1634 8783; ähnlich StAB BB 15. 4. 1636 8796. 51 Während beim antagonistischen Spiel der Störung und Wahrung der Ordnung im Wirtshaus die Gleichheit der Parteien von einem Rollenspiel verdeckt wurde, war sie bei den Auseinandersetzungen um das Wegrecht offensichtlich. Auf sehr offensichtliche Weise ging es beiden Parteien in sehr situativer Weise um die Demonstration männlicher Stärke. Der Karrer Jakob B. erklärte: „Wie wir neben ihnen vorbeilaufen wollten, stellte sich der jüngste der 3 Mannspersonen vor uns hin und sagte, das sei nicht unser Weg. Alfred G. stieß ihn auf die Seite und auf dieses hin schlug der junge Bursche ohne weiteres mit einem Stocke gegen Alfred G. Ich trat hinzu und sagte, da gebe es nichts dreinzuschlagen. [Ich] hörte, dass [Alfred G.] rief: loset […] Er wollte sagen: ‚loset ihr Leute geht ihr eures Weges und wir gehen den unsrigen‘. Wie er das Wort ‚loset‘ heraus hatte, sagte oben auf dem Karrwege einer ‚i will euch jezt lose‘ und im gleichen Augenblick fiel von oben herunter ein Schuss.“ StAB BB 15. 4. 1749 9684. Rupert H. sollte nach Aussagen von Karl H. nach einem gemeinsamen Wirtshausbesuch diesen aufgefordert haben nach Hause zu gehen. „Ich erwiderte ihm, ich gehe meines Weges und er solle den seinigen gehen.“ StAB BB 15. 4. 1671 9090, ähnlich 1749 9684; 1671 9091. 94 kollen legen nahe, dass sich die Männer aus Spaß und aus Lust herausforderten. Die herausgeforderte Partei konnte, musste aber nicht reagieren. Vereinzelte Verhöraussagen zeigen, dass Provokationen ignoriert wurden. Bei den oben bereits erwähnten Vorfällen vor der Wirtschaft Sternen in Köniz reagierte einer der beiden „Weissenstein-Melker“ nicht auf die Herausforderung des jungen Johann S. „Im Verlaufe des Abends ging ich einmal vor das Haus, um das Wasser zu lösen. Johann S. der unten stand, titulierte mich dabei als Sauhund, that mir aber sonst nichts, ich ging wieder in den Saal hinauf“. Der gleiche Johann S. versuchte schon früher am Abend, einen Schuhmacher zu provozieren. Dieser erzählte: „Johann S. suchte mich nun zu reizen, mit ihm handgemein zu werden. Da er aber sah, dass ich mich auf nichts einließ, entfernte er sich schließlich.“ 52 Wenn Wortwechsel in Handgreiflichkeiten übergingen, bedeutet dies nicht, dass der Rahmen geselliger Interaktion gesprengt wurde. 53 Auch die Gewalthandlungen folgten den gleichen Prinzipien der Herausforderung und Erwiderung. Wie die Beleidigungen waren auch die Schläge und Stöße gegenseitig. Der Zimmermann Friedrich S. erzählte dem Untersuchungsrichter: „Sie kamen beide Arm in Arm gegen mich & fingen mich zu stoßen an. Ich pakte nun Gottlieb A. am Rock an & schlug ihm den Haken, so dass er zu Boden fiel. Gottlieb A. hielt mich nun unten an den Beinen fest, Emil. W. pakte mich an & machte mich zu Boden.“ 54 Beim Streit zwischen Rudolf B. und Gottfried S. „gab ein Wort das andere, wobei sie sich gegenseitig herumstießen“. 55 Ein Zeuge konnte „nicht einmal“ angeben, „[w]er mit den Thätlichkeiten begonnen hatte“. 56 Der Einsatz von Gewalt veränderte nicht unbedingt den spaßigen Charakter der Interaktion. Johann W. gab an: „Im Übermuth ging ich gegen die beiden zu und versetzte jedem 52 StAB BB 15. 4. 1634 8783. Auch der Maurer Francesco C. verzichtete angeblich darauf, eine offensichtliche Herausforderung eines Gegner zum Kampf anzunehmen: „Ungefähr 10 ½ Uhr kam nun ein großer Bursch mit blondem Schnurrbart zu mir, pakte mich an u. beschimpfte mich. Er forderte mich auf mit ihm hinaus zugehen. Ich ging aber nicht, weil ich mit ihm nichts zu thun haben wollte.“ Über das Verhalten Francescos bestanden aber geteilte Meinungen. Laut einem anwesenden italienischen Gipser nämlich „stieß [Francesco C.] an einen Tisch u rief, er fürchte sich weder vor Italienern noch vor Deutschen u. wenn einer etwas mit ihm wolle, so solle er herauskommen“ Francesco figurierte schließlich auch als einer der Angeklagten eines Raufhandels, bei dem einer der italienische Maurer durch einen Messerstich schwer am Auge verletzt wurde. StAB BB 15. 4. 1687 9221. 53 In der Artois (1400 bis 1660) stellte sich der Aggressor dem Kontrahenten gegenüber und musste ihn als Vorbereitung verbal provozieren, ehe er zuschlagen durfte. Der Angegriffene parierte oder zog sich zurück. Muchembled betont, dass letzteres wahrscheinlich häufig der Fall war. Steckte der Kontrahent nicht zurück, kam es unmittelbar zu physischer Aggression. Auch in der frühneuzeitlichen Eifel eskalierten die „Angriffe auf das Selbstbild“ schnell. Die Konflikte folgten einem Ablauf, dessen Schritte nicht umgedreht, aber übersprungen werden konnten. Im Gegensatz zu Muchembled nimmt Lacour an, dass nach der ersten Beleidigung „niemand bereit war nachzugeben“. Muchembled (1989), S. 253 f.; Lacour (2000), S. 174 f. 54 StAB BB 15. 4. 1691 9242. 55 StAB BB 15. 4. 1636 8796. 56 StAB BB 15. 4. 1747 9680. 95 einen Stoß, sodass sie in den Schnee hinausfielen.“ 57 Johann soll darauf einem der beiden „Schnee in den Mund“ gestopft haben. Ebenfalls aus „Übermuth“ zog Rupert M. seinen Revolver. 58 Gewalt konnte aber auch den Späßen diametral entgegengesetzt als herrische Züchtigung eingesetzt werden. Johann K. erklärte rechthaberisch: „Ich trat hin zu und ergriff ihn mit den Worten: ‚Halt, das geht nicht so‘.“ 59 Wer am Boden lag, versuchte möglichst schnell wieder aufzustehen, um mit dem Widersacher körperlich und symbolisch auf Augenhöhe zu sein. Alfred S., „erhob“ sich „rasch“, nach dem er „auf die Hände zu Boden“ gekommen war. 60 Der Metzger Hans Ü. beschrieb den Anfang seiner Schlägerei mit einem anderen Metzger folgendermaßen: „[Dieser] versetzte mir einen Schupf, so dass ich umfiel; ich fiel nur aufs Knie, stund wieder auf und versetzte ihm ebenfalls einen Stoß, so dass er umflog.“ 61 Bei geselligen Schlägereien ging es nicht darum, den Gegner schwer zu verletzen oder zu töten. Die Burschen versuchten, ihrem Gegenüber am Kopf Platzwunden zuzufügen und sie auf den Boden zu drücken. Blut und Dreck symbolisierten die Niederlage, ebenso der Verlust des Huts. Hermann N. schilderte den Angriff auf ihn folgendermaßen: „Ich erhielt nun auf einmal & ohne Warnung von einem kleinen Burschen […] einen Stoß, sodass ich zu Boden fiel. Hierbei verlor ich meinen Hut. Ich stund wieder auf. Der […] Bursche kam nun neuerdings auf mich los, nachdem ich mich vorher geäußert, was das für eine Manier sei, es tue ihnen ja niemand etwas zu leide. Er schlug mich mit irgendeinem Instrument auf den Kopf, sodass ich blutete & gleich die Strassenböschung herunter fiel.“ 62 Wahrscheinlich endete die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt in der großen Mehrzahl der Wirtshaus- und Straßenschlägereien, wenn eine Partei in offensichtlicher Weise unterlegen war. 63 In den Vorfällen der hier ausgewerteten Gerichtsfälle geschah dies aber wesensgemäß nicht. Die einzige Ausnahme wurde 57 StAB BB 15. 4. 1605 8495. 58 StAB BB 15. 4. 1671 9090. In einem weiteren Fall sagte eine Zeugin: „Als Friederich B. […] in das Zimmer kam, pakte er aus Muthwillen einen der anwesenden Kaminfeger beim Kragen und zog ihn gegen die Thüre zu.“ StAB BB 15. 4. 1671 9091. 59 StAB BB 15. 4. 1671 9091. Zum oben erwähnten nächtlichen Streit über das Wegrecht erzählte Alfred G.: „[Alfred B.] stund vor mich hin und fragte mich, wie ich heiße. Ich verweigerte die Namensangabe, woraufhin mir der Bursche einen Klapf gab. Ich schlug mit meinem Stocke gegen den Burschen“. StAB BB 15. 4. 1749 9684. 60 StAB BB 15. 4. 1843 555. 61 StAB BB 15. 4. 1908 879. 62 StAB BB 15. 4. 1795 255. Ähnlich erging es nach eigenen Aussagen Friedrich S., der sich beim Feiern der ‚Aufrichti‘ mit seinen beiden Arbeitskollegen verstritten hatte: „Sie kamen beide Arm in Arm gegen mich & fingen mich zu stoßen an. Ich pakte nun Gottlieb A. am Rock an & schlug ihm den Haken, so dass er zu Boden fiel. Gottlieb A. hielt mich nun unten an den Beinen fest, Emil W. pakte mich an & machte mich zu Boden. Es lagen nun beide auf mich & schlugen mich an das Straßenbord. Dort schlugen nun beide auf mich los & zwar hauptsächlich auf den Kopf, so dass ich aus verschiedenen Wunden blutete.“ StAB BB 15. 4. 9342. 63 Wettmann-Jungblut (2003). 96 bereits erwähnt. Nachdem Johann S. vor der Wirtschaft Sternen in Köniz von Albert H. auf den Boden geschlagen worden war, wurde er von einem anwesenden Burschen „wieder aufgestellt“ und ihm wurde „mit dem Nastuche das Gesicht abgewischt“. 64 Bei diesem Sturz zog sich Johann, wie bereits erwähnt, die tödliche Tetanusinfektion zu. Auch die geselligen Gewalthandlungen, die tödlich oder mit schweren Verletzungen endeten, folgten anfänglich derselben Logik. Lebensgefährlich wurde es vor allem dann, wenn die Kämpfer ein Messer zückten. 65 26 Mal wurde zugestochen. Es handelte sich dabei um Taschenmesser, welche die jungen Männer für den alltäglichen Gebrauch ständig bei sich trugen. Jedenfalls verlangten die Untersuchungsrichter nie Erklärungen dafür, weshalb die Täter ihr Messer ins Wirtshaus mitgenommen hatten. 66 Wenn „gemässerlet“ wurde, handelt es sich nicht um ein Duell, bei dem man sich mit offener Klinge gegenüberstand. 67 Der Messereinsatz kam für die Opfer und die Umstehenden meist überraschend. Wenzel S. sah angeblich nur, wie sein Begleiter Arnold A. in der Berner Bahnhofshalle „mit der Hand gegen den Hals […] des Burschen einen Stoß versetzte, sah aber nicht, dass [dieser] hierbei ein Messer oder dergl. in den Händen hatte“. 68 Albert S. merkte erst, dass Gottfried H. seinen Kameraden gestochen hatte, als dieser rief: „Halt, der sticht.“ 69 Die „Messerhelden“, wie sie in den Polizeirapporten genannt wurden, agierten fast ausschließlich aus einer defensiven Position. 70 Gottfried H. gab in diesem Sinn zu Protokoll: „Ich hatte nicht die Absicht jemanden zu tödten oder schwer zu verletzen, sondern wollte mich ein- 64 StAB BB 15. 4. 1634 8783. 65 Messereinsätze sind auch Thema in der Historiografie. Bei zwei Fällen aus dem Schwarzwald des ausgehenden 18. Jahrhunderts und Frankfurt am Main zwischen 1750 und 1859 erfolgte der Messereinsatz unilateral aus einer defensiven Position. Eibach (2003), S. 241-246. Laut Töngi werden Messereinsätze im Kanton Uri des 19. Jahrhunderts erst mit der Immigration norditalienischer Bauarbeiter zum Thema. Töngi (2004), S. 195. Auch die jungen Männer („Peers“) im Chicago des ausgehenden 19. Jahrhunderts töteten mit „Clubs“ und eben Messern. Adler (1997), S. 257. Im Amsterdam der Frühen Neuzeit, in Rom (1845 bis 1914) und auf den Ionischen Inseln des 19. Jahrhunderts verfolgte der Messereinsatz eine andere Semantik. Hier forderten sich die jungen Männer zu ritualisierten Messerduellen. Spierenburg (1998) S. 110- 116; Boschi (1998), S. 147-150; Gallant (2000), S. 363-367. 66 Nur in einem Fall ist von einem „dolchartige[n] Messer“ die Rede. Ein solches soll laut der Aussage eines Schweizer Hilfsarbeiters der italienische Handlanger Francesco T. vor einem Wirtshaus gezogen haben. StAB BB 15. 4. 1960 1153. Dolche und Stillettos als mörderische Waffen wurden in der schweizerischen Öffentlichkeit um die Jahrhundertwende zum Stigma des gewalttätigen italienischen Immigranten. Töngi (2004), S. 197-204; Gatani (2003). 67 StAB BB 15. 4. 1960 1153. 68 StAB BB 15. 4. 1865 671. 69 StAB BB 15. 4. 1590 8388. 70 StAB BB 15. 4. 1747 9680; 1884 759. Das galt auch für den Einsatz von Geh- und Spazierstöcken. StAB BB 15. 4. 1093 3131; 1605 8497; 1843 555; 1908 879. In je einem Fall wurden die Verletzungen durch den Schlag mit einem „Versenkstift“ bzw. mit einem „Ordonnanzgewehr“ zugefügt. StAB BB 15. 4. 1691 9242; 1795 255. 97 fach meiner Haut wehren, da ich ja nicht wissen konnte, was die Angreifer noch mit mir vorhatten.“ 71 Die Täter stachen nicht gezielt zu, nahmen aber schwere Verletzungen und den Tod der Widersacher in Kauf. 72 Vor dem Hintergrund des Ehrkonzepts von Bourdieu und des Geselligkeitskonzepts von Simmel können die verbalen und handgreiflichen Herausforderungen und Erwiderungen als spielerische Einübung und Einverleibung der Ehre im Sinne von nif verstanden werden. In der ‚künstlichen Welt‘ der Geselligkeit eigneten sich die jungen Männer die Eigenschaften an, welche die Ehre als moralische und soziale Ordnung im Sinn von hurma im Alltag von ihnen forderte. Die gesellige Gewalt kann deshalb im Sinne von Simmel als eine ästhetische Repräsentation der Moral der Ehre betrachtet werden. Während der gefährliche Einsatz von Messern über den ganzen Untersuchungszeitraum vorkam, ist der Einsatz von Schusswaffen erst für die Jahre um die Jahrhundertwende dokumentiert. 73 Zwischen 1868 und 1941 wurden insgesamt sieben Fälle beurteilt, in denen junge Männer im geselligen Kontext Revolver auf ihre Widersacher abfeuerten. Erstaunlicherweise verursachte der Einsatz von Revolvern nur in einem Fall tödliche und in einem weiteren Fall gefährliche Verletzungen. Dass die Revolverkugeln in den anderen Fällen keine schweren Verletzungen verursachten, lag vor allem an der geringen Schusskraft der damaligen billigen Modelle. Luigi G. beispielsweise, der von einem Geschoss getroffen worden war, wurde nicht gefährlich verletzt. Die Kugel hatte sich in der dicken Winterkleidung verfangen. 74 Der Einsatz von Revolvern passt allerdings nicht recht zum Modus der geselligen Gewalt, bei dem es nicht um die Tötung des Gegenübers, sondern um die situative Demonstration symbolisch-körperlicher Überlegenheit im Kampf ging. Das Ritual der Herausforderung und Erwiderung wurde gestört und blieb unvollständig. Eine Schussabgabe aus sicherer Distanz hob den kulturellen Sinn der geselligen Gewalt als eine Praxis zur Einübung der männlichen Ehre im körperlichen Wettkampf auf. Der Einsatz von Revolvern im geselligen Kontext trug daher möglicherweise zum Bedeutungsverlust der geselligen Gewalt im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 bei. 71 StAB BB 15. 4. 1590 8388. Karl M. sagte aus: „Ich dachte dabei, ich lasse mich nicht noch einmal so verprügeln, zog das Messer hervor, öffnete solches und verwarnte den Burschen noch zuerst, als er mich aber trotzdem angreifen wollte, stiess ich mit dem offenen Messer gegen ihn und traf ihn am Arm. Der Bursche kehrte um und ging zurük.“ StAB BB 15. 4. 2318 3044. 72 Die einzige Ausnahme stellt der Messereinsatz von Fritz S. dar, der an zwei am Boden Kämpfende herantrat und dem Gegner seines Kollegen einen Stich unter das rechte Auge versetzte. StAB BB 15. 4. 1747 9680. 73 Zur Zunahme der Schusswaffen und deren Einsatz in Straßen- und Wirtshausschlägereien im wilhelminischen Deutschland vgl. Ellerbrock (2011), S. 189-192. 74 StAB BB 15. 4. 1741 9622. 98 Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz Am Abend des 20. April 1903 gerieten Gottfried S., ein 33-jähriger Geflügel- und Hundehändler, und sein Namensvetter, der 47-jährige Steinbrecher Gottfried A., auf einem Kartoffelacker unweit ihres gemeinsamen Wohnorts in Streit. A. war der Vermieter von S. und hatte als solcher für S. ein Stück seines Ackers für die Kartoffelaussaat abgesteckt. S. forderte von A. aber ein größeres Stück Land. Nach der Version des Vermieters A. begann damit der Konflikt: „Ich sagte ihm, er solle die Kartoffeln vorderläufig setzen, soweit ich hierfür abgestekt habe. S. erwiderte darauf: ‚Mach mi nid taube‘.“ Die Drohung zeigte Wirkung und S. erhielt ein größeres Stück Land. Die beiden Gottfrieds setzten die Arbeit auf ihren Äckern fort; die Gemüter waren indes noch nicht beruhigt. S. erzählte: „Als ich am Kartoffeln setzen war, kam A. daher und fuhr mich mit den Worten an, es müsse da mehr Mist drein und fing an, mit der Haue den Kartoffelsamen auszuheben. Ich sagte zu A., er solle aufhören. A. erwiderte: ‚Du Fozelstuckeli, di man i de noh.‘ Er ergriff mich und ich nahm ihn nun auch in die Finger und drückte ihn zu Boden.“ Nachdem S. - wie es ein benachbarter Bauer beobachtete - dem A. „Meister wurde“, entfernte A. sich in Richtung seines Hauses und schrie dabei: „Die Fozelbande kommt mir dann hinecht nicht in die Hütte, die muss mir d’Hütte rume.“ Als S. kurz danach ebenfalls zum Haus zurückkehrte, fügte er A. mit einer „Haue“ eine tödliche Kopfverletzung zu. 75 Die Auseinandersetzung in Bolligen weist viele Gemeinsamkeiten mit der geselligen Gewalt auf. Der Gewaltausbruch war Folge und Bestandteil einer Interaktion aus Herausforderung und Erwiderung. Wer den Konflikt auslöste, bleibt unklar und wer Täter und wer Opfer war, entschied erst der Ausgang des Streits. Allerdings gibt es auch Unterschiede. Ein Kartoffelacker ist kein Wirtshaus und eine ausgegrabene Saatkartoffel ist kein zu Boden geschlagener Hut. Während die gesellige Gewalt Ehre auf spielerische Weise einübte, verweist der Streit auf dem Kartoffelacker auf die materielle Dimension der Ehre. Ehre war also auch im Alltag, außerhalb der Geselligkeit, präsent, und dabei ging es um mehr als bloß situative Siege in der ‚künstlichen Welt’ des Wirtshauses. Anders als bei der geselligen Gewalt, aber auch im Gegensatz zu den theoretischen Ausführungen Bourdieus, verhielten sich die Frauen in Nachbarschaftskonflikten keineswegs passiv, sondern verteidigten ihre Ehre nötigenfalls mit Gewalt. Rosa S., eine achtzehnjährige Arbeiterin, und Elisabeth J., eine 53-jährige Schneiderin, kämpften im Januar des Jahres 1875 um knappe Ressourcen und gutes Ansehen. Rosa verdächtigte Elisabeth Brennholz zu stehlen und stellte sie darüber im Treppenhaus des gemeinsamen Wohnhauses zur Rede: „Wir kamen hierbei in Elisabeths Küche, wo ich die Elisabeth aufforderte, das Küchenstübchen aufzumachen, mit dem Bemerken, dass ich meine Worte zurücknehmen 75 StAB BB 15. 4. 1753 9737. 99 werde, falls sich dort das entwendete Holz nicht befindet.“ Elisabeth erzählte dem Untersuchungsrichter, dass Rosa sie ohrfeigte und würgte, weshalb sie mit einem Holzscheit nach Rosa schlug. Im Verlauf des Kampfes, bei dem auch eine Bürste zum Einsatz kam, entriss Rosa Elisabeth das Scheit und schlug dieser damit den Kopf blutig. 76 Zwar waren die meisten Täter und Opfer auch bei Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz Männer. Insgesamt sind aber in sechs Fällen Frauen als Gewalttäterinnen angeklagt. In vier dieser sechs Fälle waren auch die Opfer Frauen. In drei weiteren Fällen wurden Frauen Opfer von männlicher Gewalt. Auch ein zehnjähriger Knabe, der seine Kuh auf dem Boden seines Onkels und Nachbarn grasen ließ, wurde von diesem verprügelt. 77 Unter Ausklammerung der sechs Konflikte, die sich eindeutig in einer von Haus und Nachbarschaft abgetrennten Arbeitswelt ereigneten, waren Frauen an über einem Viertel der verbleibenden 27 Streitereien beteiligt. 78 Züchtigende Gewalt In acht der sechzehn Fälle richtete sich die züchtigende Gewalt gegen Ehefrauen. 79 Schwere Züchtigungsgewalt gegen die eigenen Kinder war hingegen in Bern Gegenstand keiner Anzeige. 80 In drei Fällen wurde wegen Gewalt erwachsener Söhne gegen ihre Väter ermittelt. Wie gezeigt werden soll, lag auch diesen Streitereien die häusliche Ordnung zugrunde. Entweder wehrten sich die Söhne handfest gegen das väterliche Diktat, oder sie züchtigten ihre Väter, weil diese in ihren Augen nicht mehr in der Lage waren, auf angemessene Weise für Haushalt und Familie zu sorgen. 81 Bis es soweit kam, musste aber bereits eine erhebliche Unordnung in Haus, Familie und Ehe bestehen. In einem Fall ist Gewalt gegen eine Hausangestellte dokumentiert. 82 76 StAB BB 15. 4. 1220 4575. 77 StAB BB 15. 4. 1381 6467. 78 Zuletzt hat Manon van der Heijden für Holland im 17. und frühen 18. Jahrhundert auf den hohen Anteil von weiblichen Täterinnen und Opfern in gewalttätigen Nachbarschaftskonflikten hingewiesen. Van der Heijden (2013), S. 83-95. Zu Nachbarschaftskonflikten im frühneuzeitlichen Setting vgl. auch Eibach (2003), S. 266-279; Dinges (1994), S. 125-132. 79 StAB BB 15. 4. 1172 3979; 1484 7449; 1552 8073; 1552 8076; 1592 8406; 1628 8721; 1803 313; 1879 728. 80 Wie im oberen Abschnitt gezeigt, prügelte 1881 ein Onkel den Knaben seines Bruders und Nachbarn, weil dieser seine Kuh auf der Weide des Onkels grasen ließ. Diesen Fall habe ich, wie einen anderen Fall nachbarschaftlicher Gewalt gegen Kinder, als Nachbarschaftsstreit typologisiert. StAB 15. 4. 1381 6467; 1780 159. Die Anna L., Ehefrau eines Handlangers, erklärte, wie sie auf den sexuellen Missbrauch ihrer zehnjährige Tochter durch ihren Stiefsohn reagierte: „Darauf habe ich das Mädchen abgeschlagen wie einen Hund“. StAB BB 15. 4. 2126 2066. Zu schwerer elterlicher Züchtigungsgewalt vgl. Wolff (1988), S. 51-115; Döbler (1995). 81 StAB BB 15. 4. 8643; 1795 256; 1816 410. 82 StAB BB. 15. 4. 1613 8572. 100 Die Gewalthandlungen in den restlichen fünf Fällen lassen sich nur über Umwege dem Topos der züchtigenden Gewalt zuteilen. Beispielsweise findet sich in den Akten ein Streit, bei dem die Frau des Schuhmachers Johann B., die von diesem regelmäßig geschlagen wurde, Hilfe bei ihrem Bruder suchte. Als nun dieser Bruder seinen Schwager in der Wohnung der Familie B. mit den Vorwürfen konfrontierte, gerieten die beiden aneinander und Johann verletzte den Bruder seiner Frau mit einem Schustermesser am Arm. 83 Dieses Beispiel zeigt, dass Männer empfindlich reagierten, wenn sich ein Außenstehender in die Familienangelegenheiten einmischte. 84 Interessant ist auch ein Fall, bei dem Christian B. vom Knecht seines Bruders, Friedrich E., verprügelt wurde. Christian kam betrunken zum Hof seines Bruders in Zimmerwald und verlangte Schnaps. Das Gesinde ließ ihn in die Stube eintreten, forderte ihn aber gleichzeitig auf, bei der Zubereitung des Essens behilflich zu sein, was Christian aber nicht tat. Friedrich zufolge eskalierte der Streit kurz darauf: „Ich sagte ihm, er solle entweder zu uns an den Tisch sitzen und mit uns essen oder weggehen, worauf er mich ‚Herrgottsdonner Cheib‘ schimpfte. Der Knecht H. wies i[h]n zur Ordnung. Er fuhr aber fort zu schimpfen. Dabei stopfte er eine Pfeife & dabei fiel Tabak auf die Teller und in die Schüssel.“ Daraufhin warf Friedrich Christian auf den Boden, wodurch sich dieser beim Sturz eine tödliche Kopfverletzung zuzog. 85 Dieser Fall zeigt, dass Züchtigung nicht nur dem Hausvater vorbehalten, sondern Aufgabe des Ranghöchsten in einer gegebenen Situation war. Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass ein Knecht dieses Recht gegenüber dem Bruder seines Meisters wahrnahm. Indem aber Christian herumtorkelte, seine Mithilfe verweigerte und erst noch durch seine Fahrigkeit das Essen verunreinigte, bedrohte er die Ordnung, für die in diesem Moment der Knecht zuständig war. In diesem Sinne nahmen es sich auch erwachsene Söhne heraus, ihre Väter körperlich zu züchtigen. Darüber hinaus zeigt der Vorfall in Zimmerwald deutlich, wie die spielerische Einübung der Ehre im Kontext der Geselligkeit den Ordnungssinn für das Alltagsleben schärfte. Züchtigende Gewalthandlungen entfachten sich auch bei Ehekonflikten in sehr konkreter Weise als Auseinandersetzung um die häusliche Ordnung. Friedrich V. schilderte in seinem Verhör, wie es zum Streit zwischen ihm und seiner Ehefrau Anna kam: „Als ich um 12 Uhr nach Hause kam, aß ich zu Mittag. Nachher wollte ich etwas abliegen und stellte dabei einen im Zimmer befindlichen Korb auf die Seite. Die Frau sagte mir, ich sei ein Sauhund und brauche den Korb nicht auf die Seite zu stellen. Als ich erwiderte, ich wolle Ruhe haben, rief 83 StAB BB. 15. 4. 1093 3126. 84 In Ehrgesellschaften steht die Herkunftsfamilie der Ehefrau in einem latenten Spannungsverhältnis zur Ehe, da sie als ein möglicher Zufluchtsort der Ehefrau dient, um der Herrschaft des Ehemanns zu entgehen. Ausführlich stellt dies Töngi in ihrer historisch-anthropologischen Studie zum Schweizer Kanton Uri im 19. Jahrhundert dar. Töngi (2004) S. 256-268. 85 StAB BB. 15. 4. 1392 6594. 101 sie mir alle möglichen Schimpfworte zu und streckte mir die Zunge heraus.“ 86 Es sind scheinbare Nichtigkeiten, welche massive Gewalt zu Folge hatten. Doch diese verweisen auf eine dauerhaft und tiefgreifend gestörte Ordnung in Ehe und Familie. In allen Fällen ausufernder züchtigender Gewalt lebten die Eheleute in einem spannungsreichen Verhältnis, wie vor allem aus den Selbstzeugnissen der weiblichen Opfer zu erfahren ist. Anna V. berichtete in ihrer Anzeige: „[Ich komme] nicht aus Angst und Schrecken heraus, kann nie ruhig ins Bett gehen, indem ich stehts befürchten muss, dass er betrunken heim kommt, und mir ans Leben gerathet, nicht genug damit, dass er infolge liederlichen Lebens, und Mangel an Arbeitsgeist, und notorischer Trunksucht die Familie nach und nach ins Elend gebracht, und der öffentlichen und privaten Wohlthätigkeit preisgegeben, sehe ich mich von ihm noch fort und fort thätlich bedroht, und in meiner Wohnung beunruhigt.“ 87 Die mangelnde Unterstützung der Familie durch den Ehemann ist ein wiederkehrender Topos in den Fällen mit züchtigender Gewalt. Der angeblich „etwas schwerfällig[e]“ siebzehnjährige Sohn Rudolf F., der miterleben musste, wie sein Vater Jakob seine Mutter Rosina zu Tode prügelte, gab über die wirtschaftlichen Verhältnisse in seiner Familie zu Protokoll: „In den letzten 4 Wochen gab [der Vater] fast nichts in die Haushaltung und war fast alle Abend betrunken und es gab häufig in der Nacht Auftritte und er misshandelte Mutter und Kinder.“ 88 In diesem Sinne wird auch verständlich, weshalb die Frau von Christian M. (ihr Name erscheint aufgrund ihres Todes nicht in den Untersuchungsakten) dessen Apfel mit der Bemerkung „er brauchte nichts zu fressen“ vom Tisch stieß. Auch Christian trug angeblich (zu) wenig zum Unterhalt seiner Ehefrau bei, wie das Leumundszeugnis des Gemeinderats von Muri festhält: „Wenn er etwas verdient hat, so muss es vertrunken sein und bis dieses geschehen ist, arbeitet er nicht mehr; er lebt bei seiner Ehefrau, aber er unterstützt dieselbe nicht.“ 89 Gemessen an den Normen der Ehrgesellschaften (aber auch der bürgerlichen Gesellschaft) herrschte in diesen Ehen, Familien und Häusern Unordnung. Die Männer wollten oder konnten die ihnen zugewiesene Rolle als Ernährer nicht wahrnehmen, wodurch auch ihr Status als Haus- und Familienoberhaupt wank- 86 StAB BB 15. 4. 1592 8406. In den Verhörprotokollen lassen sich andere Beispiele für häusliche Auseinandersetzungen um die rechte Ordnung finden. Die Eheleute Jakob und Rosina F. gerieten 1872 in Streit, weil Jakob Rosina nach seiner nächtlichen Rückkehr aus dem Wirtshaus vorhielt, sich nicht um die Reparatur eines defekten Fensters gekümmert zu haben. Nachdem Christian S. von der Arbeit im Steinbruch heimgekehrt war, monierte er, dass seine „Frau noch keinen Kaffee gemacht“ hatte. Er verließ daraufhin das Haus in Richtung der nahegelegenen Wirtschaft und rief im Vorbeigehen einer Nachbarin, wie diese aussagte: „Die donners More sei zu faul, um ihm Kaffee zu machen.“ StAB BB. 15. 4. 1172 3979; 1879 728. 87 StAB BB. 15. 4. 1592 8406. Es ist aus den Akten nicht ersichtlich, ob Anna V. diese Anzeige selbstständig verfasste oder mithilfe eines rechtlichen Beistandes. 88 StAB BB. 15. 4. 1172 3979. 89 StAB BB. 15. 4. 1484 7449. 102 te. Offensichtlich wurde der Missstand, wenn die Männer betrunken aus dem Wirtshaus zurückkehrten. Gewiss, der Rausch enthemmte. In nüchternem Zustand hätte Jakob F. wohl seine Frau, mit der er nach eigenen Aussagen „in Frieden lebte, außer wenn [er] betrunken war“, nicht mit bloßen Fäusten erschlagen. Allerdings darf die züchtigende Gewalt ebenso wie die gesellige nicht auf die enthemmende oder aggressionsfördernde Wirkung des Alkohols reduziert werden. Wenn Ehemänner betrunken aus dem Wirtshaus nach Hause kehrten, offenbarte dies in aller Deutlichkeit die herrschenden Missstände in Haus und Ehe. Bertha A. hielt klagend fest: „Ich konnte nichts zu Mittag kochen, da mir mein Mann in den letzten Tagen kein Geld ausgehändigt hatte und ich nicht Schulden machen wollte. Es wäre doch Pflicht eines Mannes gewesen, sein Geld in die Haushaltung zu geben, anstatt sich zu betrinken.“ 90 Der Alkohol emotionalisierte also nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen, die zu Hause warteten, wohlwissend, dass auch dieses Mal wieder dringend benötigtes Geld im Wirtshaus liegenbleiben würde. Die Heimkehr vom Wirtshaus war daher ein prädestinierter Zeitpunkt für Konflikte. Zwar sind alle angeklagten Täter in den sechzehn Fällen mit züchtigender Gewalt Männer. Frauen verhielten sich bei häuslichen Auseinandersetzungen aber keinesfalls passiv. Laut Friedrich V. nannte seine Frau ihn einen „Sauhund“ und streckte ihm die Zunge heraus. Nicht immer blieb es bei verbalen Attacken. Samuel B. schilderte den Vorfall, der zum Tod seiner Frau führte, folgendermaßen: „Meine Frau sprang nun plötzlich auf und versetzte mir mit der Hand einen Schlag über das Gesicht hinunter auf die Nase, infolge dessen die Letztere längere Zeit geschwollen war. Ich gab ihr nun einen Mupf. Derselbe war nicht stark, aber weil meine Frau betrunken war, so fiel sie wie ein Sak Kartoffeln um.“ 91 Wie in Nachbarschaftsstreitigkeiten konnten Frauen also auch bei Konflikten um die häusliche Ordnung Gewalt anwenden. Allerdings ist für den Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 nicht dokumentiert, dass Frauen in häuslichen Auseinandersetzungen je derart zuschlugen oder zustachen, dass ihre Ehemänner schwer verletzt wurden oder starben. Gefährlicher wurde es, wenn Männer bei Konflikten um die Ordnung gewalttätig wurden. Vier Frauen verstarben durch die Schläge ihrer Ehemänner. 92 Zwei weitere wurden durch Messerstiche schwer verletzt. 93 90 StAB BB. 15. 4. 1921 951. 91 StAB BB 15. 4. 1628 8721. 92 StAB BB 15. 4. 1172 3979; 1484 7449; 1628 8721; 1879 728. 93 StAB BB 15. 4. 1803 313; 1552 8073. Jules N. erschoss in einem Handgemenge seinen Vater. Die Auseinandersetzung begann, weil der Vater in einem Ehestreit zwischen Jules und seiner Frau Partei für die Gattin ergriff. StAB BB 15. 4. 1795 256. Die anderen sechs Fälle, die direkt oder indirekt züchtigende Gewalt zum Gegenstand haben, beinhalten die folgenden Gewalthandlungen: Johann B. verletzte seinen Schwager mit einem Schustermesser. Zum Streit kam es, weil der Schwager die Partei seiner Schwester ergriffen hatte (StAB BB 15. 4. 1093 3126). Jakob R. schoss, nachdem er von seinem Vater und seinem älteren Bruder aus dem Haus ver- 103 Gemäß den Angeklagten bestand allerdings keine Tötungsabsicht. Auffallend ist, dass insbesondere die angeklagten Ehemänner ihre Schläge als gerechtfertigte Züchtigung beschrieben. So sagte Christian S.: „Sie teilte mir verschiedene ‚Schlämperlige‘ aus, worauf ich ihr mit der flachen Hand einige ‚suberi‘ Schläge zum Kopf versetzte.“ Maria S. verstarb an den Folgen dieser ‚sauberen‘ Schläge. Da sich der Streit in der Wohnung der Eheleute S. abspielte, gab es keine Augenzeugen. Allerdings „hörte [eine Nachbarin] Schläge fallen & Frau S. weinen. Es ‚tätschte‘ ziemlich hart.“ 94 Auf ähnliche Weise verharmloste Jakob F. seinen tödlichen Gewalteinsatz, indem er von „bloßen Schlägen gegen den Kopf“ sprach. 95 Es mag sich bei diesen Aussagen um strategische Versuche der Angeklagten gehandelt haben, eine mildere Strafe zu erhalten. Allerdings entspricht es der Logik der züchtigenden Gewalt, dass die Täter ihr Opfer nicht töten wollten. Das zeigt sich auch daran, dass gerade züchtigende Gewalt in der Ehe repetitiven Charakter hatte. Rosetta L. wurde vom Gericht beauftragt, einen Lebenslauf für ihren verstorbenen Mann zu schreiben, der von ihrem Sohn im Streit getötet worden war. Darin zählte sie verschiedene Gewalthandlungen ihres Ehemanns gegen sie und ihre Kinder auf und kam zum Schluss „& so könnte man noch ein ganze Reihe Vorfälle aufweisen aber ich hoffe, das sei genug, so das Jedermann in Vater L. sel[ig] ein Scheusal erkennen muss.“ 96 Und Elisabeth B., die an den Folgen eines Ehestreits verstarb, soll laut ihrem Sohn gesagt haben, dass ihr Mann „sie schon lange geschlagen“ habe, „sie habe aber nichts sagen wollen.“ 97 Gewalttätige Streitereien um die Ordnung des Hauses waren daher keine einmalige Angelegenheit, sondern wiederkehrende Ereignisse. Der bereits erwähnte Sohn F., der zusehen musste, wie sein Vater seine Mutter zu Tode prügelte, erzählte, dass Streitereien zwischen seinen Eltern „schon hundert Male geschehen“ seien. 98 Wie bei der Gewalt im Wirtshaus, in der Nachbarschaft und am Arbeitsort ging es auch bei den wiesen worden war, durch die geschlossene Türe und tötete dadurch ungewollt seine Schwester (StAB BB 15. 4. 1315 5717). Der Hausknecht Friedrich R. wehrte sich mit einem Revolver gegen die Prügel zweier Mägde und verletzte dabei eine von diesen. Friedrich war verspätet und betrunken nach Hause gekommen und war von seiner Meisterfrau deswegen getadelt worden. Daraufhin fingen die Mägde an, ihn mit einer Hacke und einem Besen zu verprügeln (StAB BB 15. 4. 1398 6653). In einem Handgemenge zwischen Vater und Sohn S., das ausbrach, weil der Sohn betrunken nach Hause kam, von der Mutter Geld forderte und diese beschimpfte, zog sich der Vater einen Beinbruch zu (StAB BB 15. 4. 1621 8643). Die Haushälterin Katharina S. wurde von ihrem Meister die Treppe hinuntergestossen und starb an den Folgen des Sturzes (StAB BB 15. 4. 1613 8572). Ohne schwere Verletzungen endete der Konflikt um den Korb zwischen den Eheleuten Friedrich und Anna V. Weil Friedrich Anna würgte und Todesdrohungen ausstieß, wertete das Gericht dies als Totschlagversuch. Deshalb wurde der Fall von der höchsten Gerichtsbarkeit beurteilt (StAB BB. 15. 4. 1592 8406). 94 StAB BB 15. 4. 1879 728. 95 StAB BB 15. 4. 1172 3979. 96 StAB BB 15. 4. 1816 410. 97 StAB BB 15. 4. 1628 8721. 98 StAB BB 15. 4. 1172 3979. 104 Konflikten um die häusliche Ordnung nicht darum, die Gegenpartei zu töten oder ihr bleibende Schäden zuzufügen. Das ist ein bedeutender Unterschied zur fatalen Gewalt, auf die in Kapitel 6 eingegangen wird. Sicht- und Hörbares: Narrative über ehrbezogene Gewalt In Ehrgesellschaften, dies lässt sich mit Bourdieu festhalten, erfolgt die Selbstwahrnehmung immer durch die Augen der anderen Anwesenden. Entscheidend ist daher nicht, was der einzelne denkt, sondern was er sagt oder tut. Diese Logik schlägt sich auch in den Narrativen der geselligen Gewalt nieder. Wenn die Angeklagten ihrem eigenen Gewalthandeln Sinn gaben, bezogen sie stets die Handlungen (inklusive Worte) ihrer Kontrahenten mit ein. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass subjektive Motive und Intentionen nur ausnahmsweise Erwähnung fanden. Der Fokus auf Sicht- und Hörbares lässt sich anhand der Narrative geselliger Gewalttäter illustrieren. Die erzählte Zeit in den Narrativen über gesellige Gewalt ist vergleichsweise kurz. Die Geschichten erstrecken sich manchmal über einen gesamten Tag, meist jedoch einzig über einen Abend. Der Leser erfährt auf akribische Weise, wer was sagte oder tat. Diese Abfolge einzelner Handlungen macht, wie gezeigt, den eigentlichen Handlungsstrang der Erzählungen aus. Weshalb wer was sagte und tat, wird jedoch nicht explizit geklärt. Während der Leser also viel über die Handlungen der Figuren in der Geschichte erfährt, bleiben die Motive und die inneren Beweggründe mehrheitlich im Dunkeln. Die Figuren scheinen unpersönlich und austauschbar. Die Motivation der Handlungen ist in den Erzählungen selbstevident: „[E]in Wort gab das andere.“ 99 Bevor die Figuren handeln, müssen sie nicht überlegen. Es herrscht Klarheit. „Wir erhielten Wortwechsel, Carl B. fing mich zu stoßen an, worauf ich ihn natürlich auch stieß.“ 100 Zurückzuschlagen bedarf keiner Reflexion. Vor allem zum Einsatz von Messern oder anderen Gegenständen, welche die schweren Verletzungen verursachten, sind die Figuren in den Erzählungen der geselligen Gewalt ‚gezwungen‘ oder ‚genötigt‘,: „Ich war schließlich gezwungen, von meinem Gewehr Gebrauch zu machen, da ich mich nicht ein drittes Mal [unleserliches Wort] lassen wollte“. Um sein Handeln zu rechtfertigen, fügte Hermann N. an, dass ihm „in diesem Moment […] schon das Blut über die Kleider hinunter“ lief. 101 Heinrich B. erzählte: „Ich musste schießen, damit ich nicht weiter misshandelt wurde.“ 102 Die Erzählungen der geselligen Gewalt bestehen in erster Linie - und zwar sehr ausführlich und genau - aus Handlungen. Über die Handelnden, ihre inneren Beweggründe und Motive ist hingegen wenig zu erfahren. Anders ausgedrückt: 99 StAB BB 15. 4. 1614 8577. 100 StAB BB 15. 4. 1605 8497. 101 StAB BB 15. 4. 1795 255. 102 StAB BB. 15. 4. 1584 8337. 105 Die Subjektivität der Figuren in diesen Erzählungen wird nicht oder kaum thematisiert. Die kurze erzählte Zeit und das Fehlen von Subjektivität bedingen sich gegenseitig. Die Erzählungen beinhalten keine Beschreibungen, die über die Situation der Geselligkeit hinausreichen. Es wird daher auch nicht thematisiert, welche Charaktereigenschaften die Figuren haben und mit welchem Gemütszustand oder welcher Laune sie in den soziokulturellen Raum der Geselligkeit eintraten. Eine Verbindung einer spezifischen Subjektivität der Figuren mit ihren Handlungen ist daher nicht konstitutiv für die Narrative der geselligen Gewalt. Dies vermag ein Auszug aus dem Verhörprotokoll von Karl M. aus dem Jahr 1925 zu zeigen: „Der Bursche gab mir Schläge ins Gesicht, auf die Nase, Spuren sind noch heute sichtbar. S. und 1 Unbekannter entfernten sich; endlich liess mich der Angreifer los. Ich stund auf, suchte meinen Hut und sagte zu meinem Angreifer, er sei ein himmeltrauriger Kerl.“ Karl spricht nur über Dinge, die für alle sicht- und hörbar waren. Die Erzählung geht folgendermaßen weiter: „Der Bursch kam mir nachgesprungen und sagte: ‚du verfluchte cheibe Friburger, ich mach dich noch kaput‘. Ich dachte dabei, ich lasse mich nicht noch einmal so verprügeln, zog das Messer hervor, öffnete solches und verwarnte den Burschen noch zuerst, als er mich aber trotzdem angreifen wollte, stiess ich mit dem offenen Messer gegen ihn und traf ihn am Arm. Der Bursche kehrte um und ging zurük. Ich behändigte mein Velo und ging nach Hause. Ich gebe die Misshandlung mit gefährlichem Instrument ohne weiteres zu, ich wurde dazu gezwungen.“ 103 Möglicherweise fürchtete sich Karl. Darüber gibt sein Narrativ aber bezeichnenderweise keine Auskunft. Diesen Punkt gilt es herauszustreichen. Denn die Nicht-Thematisierung subjektiver Gefühle und Empfindungen ist in den Erzählungen der geselligen Gewalt nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Es gibt allerdings Ausnahmen. Robert A. erzählte: „Ich wurde zornig & zerschlug dann dem Heinrich B. meinen Stock auf den Kopf“. 104 Oder bei Guiseppe M.: „Ich schoss, weil ich Angst hatte, die Burschen prügeln mich, wenn sie mich erwischen. Ich war sehr aufgeregt und zitterte mit dem Arm, als ich die Schüsse abgab“. 105 Diese Aussagen zeigen deutlich, dass es bei den Schlägereien trotz des häufigen Fehlens der expliziten Erwähnung subjektiver Gefühle und Empfindungen sehr wohl emotional zu- und herging. Bezeichnenderweise ist aber auch hier der Gefühlszustand der Furcht und des Zorns erst beziehungsweise nur die direkte Folge der Handlung des Gegenübers. Weiter unten wird gezeigt, dass aus dem Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 zahlreiche Verhörprotokolle überliefert sind, in denen die Subjektivität des Angeklagten ausführlich thematisiert wird. Wenn also in den Verhörprotokollen der geselligen Gewalttäter fast ausschließlich Interaktionen geschildert werden, 103 StAB BB. 15. 4. 2318 3044. 104 StAB BB 15. 4. 1584 8337. 105 StAB BB 15. 4. 1741 9622. 106 bedeutet dies also nicht, dass die Aktuare subjektive Schilderungen unberücksichtigt ließen, sondern dass die Angeklagten solche tatsächlich nicht erwähnten. Während die Narrative in den Fällen von Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz denjenigen der geselligen Gewalt sehr stark ähneln, befördert die Analyse der Narrative der züchtigenden Gewalt weitere Aspekte der Wahrnehmung von Konflikt und Gewalt im Kontext der Ehre ans Licht. Wiederum fällt auf, wie detailliert die eigenen Handlungen und die Handlungen der anderen Erwähnung finden. Beklagt wurde das Fehlverhalten der Gegenpartei. Die eigenen Handlungen wurden dabei meist in ein günstiges Licht gerückt. In diesem Sinn erinnerte sich Jakob F. wage: „[W]ahrscheinlich sagte ich ihr aber grobe Worte, wie dies im Rausche geschieht. Dieselbe fing zu ‚wäffelen‘ und zu ‚kifeln‘ an und ich erinnere mich, dass sie sagte, es sei nicht wahr, was ich ihr zumuthe. Ich kann mich aber nicht erinnern, wessen ich sie beschuldigt habe. Es ärgerte mich, dass sie so spät heimgekommen. Ich gerieth in Zorn und sprang aus dem Bett, gab der Frau mit der Hand einige Streiche an den Kopf, worauf sie zu Boden fiel, die Frau richtete sich auf, blieb aber am Boden sizen, machte mir Vorwürfe, worauf ich ihr nochmals mit der Hand Schläge auf den Kopf gab, sie lag dann wieder am Boden und hielt sich stille.“ 106 Diese Erzählung ist im Grunde gleich strukturiert wie die Erzählungen über die Wirtshausschlägereien. Eine Handlung hat die nächste Handlung zur Folge. Emotionen sind eine unmittelbare Reaktion auf das Verhalten des Gegenübers. Allerdings beinhalten die Narrative über züchtigende Gewalt nicht nur das Ereignis der Gewalt selber, sondern gehen darüber hinaus. Dadurch werden die Erzählungen thematisch reichhaltiger und die erzählte Zeit länger. Vor allem die weiblichen Opfer züchtigender Gewalt in der Ehe stellten teilweise regelrechte Auflistungen von Anschuldigungen auf. Das angeklagte Fehlverhalten stand dabei nicht zwingend in einem direkten Zusammenhang mit der Tat. Deutlich lässt sich dies an einer Passage des Lebenslaufs von Gottlieb L. zeigen, den seine Witwe Rosetta L. 1906 nach Gottliebs Tod aufgeschrieben hatte: „Im Jahre 1881 verheirateten wir uns, im ersten Jahre ging alles gut bis wir ein Kind hatten, dann fing er an zu trinken, was schließlich zum Bruch der beiden Brüder führte [zwischen Gottlieb und seinem Bruder, die gemeinsam den väterlichen Hof gepachtet hatten]. Gottlieb verließ nun das väterliche Haus & arbeitete als Knecht in Wohlen. Er hatte einen geringen Lohn, aber was er verdiente, verjubelte er noch im Wirtshaus, so dass für mich im Monat blos 5-6 fr. übrig blieben, manchmal auch gar nichts. So kam er eines Tages von Bern nach Hause, aber in so betrunkenem Zustande, dass er nicht mehr im Stande war, weiter zu laufen & einfach liegen blieb, bis ihn sein Bruder mit einem Wagen holte.“ 107 Erst nach diesen Ausführungen zählte Rosetta mehrere gewalttätige Übergriffe ihres Mannes gegen sie und ihre Kinder auf. In dieser narrativen Struktur nimmt das Gewaltereignis, 106 StAB BB 15. 4. 1172 3979. 107 StAB BB 15. 4. 1816 410. 107 welches Gegenstand der strafrechtlichen Untersuchung war, keine herausragende Position ein, sondern reiht sich als eine unter anderen Fehlhandlungen des Ehemanns ein. Die konfliktreiche Alltäglichkeit der Ehre des Hauses und der Ehe bestimmte also auch die Art und Weise, wie die Beteiligten über züchtigende Gewalt sprachen. Dass züchtigende Gewalt in der Ehrsemantik wurzelte, zeigt sich wiederum daran, dass in den Erzählungen keine Aussagen zur Subjektivität zu finden sind. „Ich dachte in meinem Rausche und in meinem Zorn nicht daran, dass meine Thätlichkeiten ein Unglük herbeiführen könnten und hatte nie die Absicht, sie zu tödten oder überhaupt schwer zu misshandeln, da mir die Frau lieb war. Ich hatte über ihre Aufführung sonst nicht zu klagen, dennoch kam es schon früher vor, dass ich sie im Rausche misshandelte.“ 108 Im Narrativ von Jakob F. tragen der Rausch und Zorn Schuld an Elisabeths Tod. Betrunken ist Jakob, weil er seinen Feierabend in verschiedenen Wirtshäusern verbringt. Zornig ist er wegen eines Streits nach der Heimkehr. Der geschilderte emotionale Zustand des Täters ist also die direkte Folge bestimmter Tätigkeiten und Interaktionen. Ob Jakobs Handeln möglicherweise auf eine psychopathologische Konstitution oder Alkoholismus zurückzuführen ist, wird in Jakobs Narrativ nicht thematisiert. Die Gewalt entsteht situativ und interaktiv und ist daher nicht Ausdruck und Folge einer spezifischen subjektiven Disposition des Täters. Die narrative Wiedergabe der Gewalt in den Verhören folgt also ebenfalls der Logik der Ehre. Die Handlungen des Erzählers nehmen keinen privilegierten Platz ein, sondern sind immer nur insofern bedeutend, als sie in einer kausalen Wechselwirkung mit den Handlungen des Gegenübers stehen. Die Erzähler beschreiben daher ausführlich Handlungen, Gesten und Worte, weil diese für alle Anwesenden wahrnehmbar sind. Deshalb beinhalten die Erzählungen auch keine ausführlichen Schilderungen von äußerlich nicht wahrnehmbaren, innerlichen Gemütszuständen. Charakteristisch für die Narrative der ehrbezogenen Gewalt sind detailreiche Schilderungen von blutenden Wunden, verlorengegangenen Hüten, unterlassenen Unterhaltspflichten oder ungehorsamem Verhalten. Ein letztes Beispiel vermag ex negativo die typischen Merkmale der Narrative über ehrbezogene Gewalt aufzuzeigen. Ganz unten enthält das Verhörprotokoll des zwanzigjährigen Fabrikarbeiters Johann L., der 1875 im Arbeiterviertel Felsenau seinen Widersachern, den Brüdern Heinrich und Rudolf B., ein Messer in den Hals rammte, die folgenden Aussagen: „Ich muss bemerken, dass ich alle 14 Tage vom fallenden Weh heimgesucht werde; die Zeit wird heute od. morgen wieder da sein. Einige Tage vor Ausbruch des Wehs befällt mich immer eine furchtbare Raserei, wie es eben am 25. dies der Fall war, als ich die beiden B. auf dem Heimwege antraf. Ich wurde daran vor einem Jahr von Dr. König und seither von Dr. Schädler behandelt. Mein Vater beabsichtigte mich in die Irrenan- 108 StAB BB 15. 4. 1172 3979. 108 stalt St. Urban unterzubringen, wofür die Direktion der Felsenau bereits Schritte gethan hat.“ Diese Aussage erfüllt keines der oben herausgearbeiteten Kriterien des typischen Erzählstils der geselligen Gewalt. Hier ist nicht die Stelle um darüber zu urteilen, ob Johann L. durch den Verweis auf seine angebliche Geisteskrankheit versuchte einer Strafe zu entgehen oder diese zu mindern. 109 Auch nicht im Vordergrund steht die Frage, ob jemand, der sein Gegenüber wegen eines scheinbar lapidaren Vorfalls ein Messer in den Hals rammt, psychisch krank ist oder nicht. In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass Johanns Aussage keines der Merkmale des typischen Erzählstils der geselligen Gewalt enthält. Bezeichnend ist, dass die Aussage ganz am Ende von Johanns Protokoll steht, weil dies nahelegt, dass es sich um die Antwort auf die Frage des Untersuchungsrichters handelte, ob Johann noch etwas zu seinen Aussagen hinzuzufügen hätte. Vor dieser Aussage enthält das Verhörprotokoll nämlich eine typische Erzählung über gesellige Gewalt, wie sie in den anderen achtzig Fällen auch dokumentiert ist. Johann trinkt zuerst zu Hause mit den Kostgängern seines Vaters Bier und begibt sich dann nacheinander in zwei verschiedene Wirtschaften, wo er weitere Gläser Bier konsumiert. Der Streit nimmt seinen Anfang, indem Johann auf provokative Weise mit den Brüdern B. auf die Gesundheit anstoßen will und einer der Brüder ihm dies versagt. Vom Wirt sofort zur Ruhe ermahnt, begibt sich Johann wieder an seinen Tisch. Als die Brüder B. die Wirtschaft aber verlassen, folgt er ihnen sofort nach. Unweit der Wirtschaft holt Johann die Brüder ein und es kommt zum Streit. Bevor Johann mit seinem Messer zusticht, wird er zweimal zu Boden geschlagen und wehrt sich mit den „Händen“. 110 Johanns Protokoll enthält also zwei Geschichten, eine für die ehrbezogene Gewalt typische und eine untypische. In der typischen Version ist die Tat die Folge einer Spirale aus Provokation und Gegenprovokation, aus Gewalt und Gegengewalt. Auf eine Handlung folgt die nächste. In der untypischen Erzählung ist die Tat die Folge einer ‚furchtbaren Raserei‘, die jeweils einem ‚fallenden Weh‘ vorausging. Der Messerstich ist hier nicht mehr die Folge einer Erwiderung auf eine Herausforderung, sondern liegt im Zustand des Täters begründet - ein Zustand, der völlig unabhängig von der Tat dem Täter innewohnt. Im Narrativ eines Fabrikarbeiters aus dem Jahr 1875 taucht der Topos der Subjektivität auf. Johann L. knüpfte mit seiner Erzählung über seine ‚Raserei‘ an einen sich gerade in jener Zeit entfaltenden medizinischen Diskurs an, der Verbrechen und Geisteskrankheit miteinander verband. Nach der Logik dieses Diskurses, auf den ich in den Kapiteln 6 und 8 ausführlicher zu sprechen kommen werde, trugen Verbrecher das Potential für ihre Gewalt unabhängig der unmittelbaren Tatumstände als subjektive Eigenschaft in sich. Johanns Erzählung stellt eine Ausnahme 109 Johann L. wurde während der Voruntersuchung vom angesprochenen Dr. Schädler als zurechnungsfähig eingeschätzt. 110 StAB BB. 15. 4. 1250 4917. 109 dar und sie entspricht auch nicht der Logik der geselligen Gewalt. Die typischen Narrative der ehrbezogenen Gewalt mit Fokus auf die eigenen Handlungen und die Handlungen anderer hingegen tun dies. Fazit: Wandel und Bedeutungsverlust der Ehre Wie in der Frühen Neuzeit dominierte die soziale Tatsache der Ehre auch im Amtsbezirk Bern zwischen 1886 und 1941 das Gewalthandeln. Es kann daher eine lange Kontinuität der alteuropäischen Konflikt- und Streitkultur bis ins frühe 20. Jahrhundert festgestellt werden. Die Auswertung der Sozialprofile zeigt, dass schwere Gewalthandlungen im Kontext der Ehre vornehmlich von Männern und vereinzelt auch von Frauen aus dem ländlichen Milieu und den städtischen Unterschichten praktiziert wurden. In diesen Gruppen der Berner Bevölkerung war der Zusammenhang von Ehre und körperlicher Gewalt bis ins späte 19. und frühe 20. Jahrhundert noch immer evident. Die Präsenz von Studenten unter den Gewalttätern zeigt zudem, dass der Zusammenhang von Ehre und Gewalt auch im Bürgertum noch bedeutsam sein konnte. Auf das spezifisch bürgerliche Ehrverständnis wird gleich eingegangen. Drei verschiedene ehrbezogene Gewalttypen lassen sich für den Amtsbezirk Bern unterscheiden. Gesellige Gewalt kann mit Bourdieu und Simmel als Spiel der Ehre gefasst werden, bei dem junge Männer auf ritualisierte Weise die Männlichkeitsnormen der Ehrgesellschaft einübten. Gekämpft wurde, ohne dass es dafür einen ersichtlichen Grund gegeben hätte. Interessen, die über die Situation des Konflikts hinaus bedeutsam gewesen wären, sind in der Regel nicht auszumachen. Die gesellige Gewalt kann daher in einem gewissen Sinne als emotionalkörperliche Aneignung des Ehrethos im Spiel betrachtet werden. Das Ehrgefühl wurde auch bei Nachbarschafts- und Arbeitskonflikten aktiv, in denen es um handfeste Interessen und materielle Ressourcen ging. Zwischen der geselligen Einübung des Ehrgefühls und der zweckgemäßen Verteidigung der Ehre als symbolisches, aber durchaus auch materielles Kapital in Nachbarschafts- oder Arbeitskonflikten ist keine klare Trennung möglich. Die emotionalkörperliche und die moralisch-materielle Dimension der Ehre ergänzten sich reibungslos. Ehre spielte auch bei Gewalt im Kontext der Ordnung von Familie und Haus eine grundlegende Rolle. Im Gegensatz zur geselligen Gewalt und der Gewalt in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz begegneten sich die Konfliktparteien bei der züchtigenden Gewalt jedoch nicht auf Augenhöhe. Durch die Schläge und Tritte wurde die hierarchische Ordnung innerhalb der Familie und des Hauses körperlich-emotional erfahren. Die Ehrbezogenheit der Gewalt zeigt sich auch in den Narrativen der Angeklagten, die fast ausschließlich aus Beschreibungen von Sicht- und Hörbarem bestehen. Der Fokus liegt klar auf Handlungen, Worten und Gesten. Subjektive 110 Gefühle werden hingegen selten geäußert. Daraus darf aber nicht geschlossen werden, dass die Kämpfe nicht hochgradig emotional geführt wurden. Die fehlenden Schilderungen subjektiver Zustände sind der Logik der Ehre geschuldet, in der sich der eine durch die Augen des anderen wahrnimmt. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Innenleben ergab unter diesen Vorzeichen keinen Sinn. Trotz der starken Präsenz ehrbezogener Gewalt in Bern um 1900 ist sie im Verlauf der Untersuchungsperiode rückläufig (vgl. Diagramm 2). Während entsprechende Gerichtsfälle zu Beginn der Untersuchungsperiode häufig sind, nehmen diese bis auf einen leichten Anstieg in den 1890er-Jahren kontinuierlich ab, bis sie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg kaum mehr vorkommen. Die Abnahme der ehrbezogenen Gewalt fällt mit einer tiefgreifenden soziokulturellen Transformation zusammen, die sich vor allem durch die Industrialisierung der Wirtschaft und der dadurch beschleunigten Auflösungen der frühneuzeitlichen Nachbarschafts- und Arbeitsstrukturen auszeichnete. Am längsten hielt sich die ehrbezogene Gewalt im ländlichen Milieu des Amtsbezirks Bern. Bezeichnenderweise fanden sechs der sieben ehrbezogenen Gewalthandlungen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg im ländlichen Kontext statt. 111 Allerdings darf die direkte Wirkung sozialer und ökonomischer Strukturveränderungen auf das Verhalten der Akteure nicht überschätzt werden. Der Ehrhabitus verlor nicht sofort nach dem Eintritt in die Fabrik oder das Büro seine Bedeutung. Die Umwälzungen der Lebenswelt wirkten sich mit zeitlicher Verzögerung auf das Gewaltverhalten der Bernerinnen und Berner aus, wie die vielen an Ehrkonflikten beteiligten Arbeiterinnen und Arbeiter zeigen. 112 Auch Ralph Jessen zeigt in seiner Studie zum Ruhrgebiet zwischen 1870 und 1914, dass Gewalt unter den Grubenarbeitern den Codes der Ehre folgte. 113 Möglicherweise sorgten die Industrialisierung und das damit einhergehende Verschwinden der frühneuzeitlichen Lebenswelten in einer ersten Phase sogar für eine Brutalisierung der ehrbezogenen Gewalt. Anzeichen für eine weniger starke Ritualisierung von Wirtshaushändeln im Vergleich zum 16. Jahrhundert stellt Eibach bereits für Frankfurt am Main um 1800 fest. 114 Eventuell beschleunigte sich der Verfall der Streitkultur im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Ein diachroner Vergleich mit der Stadt Basel zwischen 1750 und 1850 zeigt, dass in Bern die Kämpfer weit häufiger auf gefährliche Weise ein Messer benutzten. Selbst wenn der Modus der Herausforderung und der Erwiderung nach wie vor konstitutiv für die gesellige Gewalt war, so verweist der häufigere Messereinsatz und später 111 StAB BB 15. 4. 2249 2752; 2249 2753; 2249 2755; 2297 2940; 2318 3044; 2329 3083; 2555 3859. 112 Zu Auseinandersetzungen um die Ehre kam es auch auf Baustellen. StAB BB 15. 4. 1642 8845; 8953; 1740 9620; 1781 162; 1986 1278; 1960 1553. 113 Jessen (1992), S. 235-244. 114 Eibach (2003), S. 280. 111 auch die Verwendung von Revolvern auf ein gefährliches Ausufern der Kämpfe. 115 Ob der Befund der Brutalisierung durch Abschwächung der Kampfrituale verallgemeinert werden kann, müssten weitere Studien zur Zeit der Industrialisierung zeigen. Längerfristig führte die Auflösung der Gewaltrituale jedoch zu einer Abnahme der ehrbezogenen Gewalt. 116 Darüber lässt der Rückgang der schweren Gewaltdelikte bei gleichzeitiger Abnahme leichter Gewaltdelikte wenig Zweifel. In erstaunlich ähnlicher Ausprägung wie in der mittelgroßen Stadt Bern nahm gesellige Gewalt auch in Chicago um die Jahrhundertwende ab. 117 Adler sieht den Rückgang vor allem in einer ausgeprägten Marginalisierung der spezifischen Geselligkeitskultur begründet. Die Anzahl der saloons ging nach 1880 laufend zurück und die verbleibenden unterlagen einer strengen staatlichen Aufsicht. Gleichzeitig vervielfältigte sich das Freizeitangebot für die Menschen aus den unteren sozialen Schichten. Ab der Jahrhundertwende rückten das Theater, die dance halls oder die Strandbäder an die Stelle der Wirtshäuser. 118 Adler sieht aber auch veränderte Anforderung des Berufslebens als ausschlaggebend für den Rückgang dieses spezifischen Gewalttypus an. Die Arbeit in den neu entstehenden Industrien verlangte ein „größeres Ausmaß an Selbstkontrolle und Selbstdisziplin“. 119 Im Deutschen Reich forderte, wie Jessen darstellt, die organisierte Arbeiterbewegung und die Sozialdemokratie nach bürgerlichem Vorbild von den Arbeitern Selbstkontrolle, Selbstdisziplin und damit auch Gewaltverzicht. 120 Nancy Tomes zeigt am Beispiel Londons, dass der Rückgang schwerer züchtigender Gewalt im 19. Jahrhundert auf einer Hebung des Lebensstandards der Arbeiterfamilien beruhte. Die Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherheit ging einher mit einer Adoption der Werte der höheren sozialen Schichten. Diese Anpassung erforderte auch einen Einstellungswandel gegenüber Gewalt. 121 Ist die Abnahme der ehrbezogenen Gewalt also doch eine Frage der zunehmenden Fähigkeit zur Affektkontrolle, die nicht nur Adler und Jessen, sondern, 115 Cottier/ Raciti (2013), S. 108-112. 116 Für den allgemeinen Bedeutungsverlust der Ehre spricht zudem die Tatsache, dass Ehrverletzungs- und Injurienklagen in der Stadt Bern nach 1900 in ähnlichem Ausmaß zurückgingen wie die ehrbezogene Gewalt. Für genauere Angaben vgl. Cottier/ Raciti (2013), S. 109 f. 117 Adler (2006), S. 6-44, insbesondere S. 42 f. 118 Eine strengere Regulierung der Unterschichtsgeselligkeit lässt sich für Bern ebenfalls feststellen. Der Kanton Bern erließ 1894 ein neues Wirtshausgesetz, das unter anderem die Wirte unter Androhung einer Buße anwies, betrunkene Gäste nicht weiter zu bedienen. Sie sollten bei „Wortwechseln oder Streit […] die Streitenden zur Ruhe ermahnen und wenn dies nicht fruchtete, [diese] dazu auffordern, das Lokal zu verlassen.“ 1. Kantonales Gesetz über das Wirtschaftswesen und den Handel mit geistigen Getränken. Vom 15. Juli 1894. Art. 25, 27, 28. 119 „[G]reater self-control and personal discipline“ [Übersetzung M.C.] Weitere Faktoren für den Rückgang der geselligen Gewalt sieht Adler darin, dass das Abfüllen von Alkohol in Flaschen die Frequentierung von Saloons unnötig machte und dass der Männerüberschuss in der Einwandererstadt Chicago ab den 1890er-Jahren abflachte. Adler (2006), S. 40. 120 Jessen (1992), S. 251-253. 121 Tomes (1978), S. 342; ähnlich Wiener (2006), S. 289-291. 112 wie eingangs dargestellt, auch Spierenburg für die Abnahme der Gewalt und insbesondere der Gewalt zwischen Männern verantwortlich macht? Wie gezeigt, waren die Selbstkontrolle, Selbstdisziplin, Selbstregulierung oder Selbstregierung wesentliche Komponenten des moralisch-vernünftigen Subjekts. Doch bedeutet dies automatisch, dass gesellige Gewalttäter unkontrolliert und undiszipliniert handelten? Die Antwort muss differenziert ausfallen. In der von der Ehre bestimmten Wahrnehmung versagten Gewalttäter nicht bei der Selbstkontrolle. Die Angeklagten behaupteten aber auch nicht, sich selber unter Kontrolle gehabt zu haben. Wie die Analyse der Narrative zeigt, waren weder das Selbst noch die Selbstkontrolle Thema. Im Kontext der Ehre schlugen Männer und Frauen nach eigenen Angaben zu, weil es sich in der Situation, in der sie sich befanden, um die angemessene und evidente Reaktion auf die Provokation des Gegenübers handelte. Nach dieser Logik waren Gewalttäter nicht unfähig, sich selbst zu kontrollieren (und auch nicht unbedingt fähig dazu), sondern vielmehr Experten im Lesen und Deuten der Umgebung und der Gegenspieler. Nur in einer spezifischen, vom Habitus der Subjektivität geprägten Wahrnehmung war das gewalttätige Verhalten der Schläger unkontrolliert und undiszipliniert. Es handelte sich dabei um eine Matrix, die sich gerade wesentlich in Abgrenzung zum Ehrhabitus der Bauern und Handwerker konstituierte, den zuerst das Bürgertum und später auch die Arbeiterbewegung als unzivilisiert und unkontrolliert verurteilten. Wenn also die Menschen im Amtsbezirk Bern aufhörten, sich im Wirtshaus, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz und im eigenen Heim zu prügeln, lag dies nicht darin begründet, dass sie einfach im Sinne eines evolutionistischen Fortschritts eine Fähigkeit zur Affektkontrolle entwickelt hätten. Vielmehr nahmen sie als Zeitgenossen von Elias Gewalt zunehmend als affektiv, leidenschaftlich, unvernünftig, unkontrolliert, unzivilisiert wahr. Erst in diesem spezifisch modernen Wahrnehmungsmuster erscheint Gewalt als Folge einer Unfähigkeit zur Affektkontrolle. In den Verhörprotokollen finden sich wesensgemäß wenige Anhaltspunkte über subjektbezogene Wahrnehmung der ehrbezogenen Gewalt. Die Berner Untersuchungsakten enthalten aber einen interessanten Fall aus dem Jahr 1901, der aufzeigt, wie Studenten einen Ehrkonflikt führten. Selbstkontrolle beziehungsweise der Verlust derselben war darin das zentrale Thema. 122 Der Angeklagte, der russische Student und „Edelmann“ Michael von D., der im Korridor des Chemischen Instituts auf seinen Kommilitonen und Landsmann Cemasch K. schoss, schrieb in einem selbstverfassten Brief an den Untersuchungsrichter: „Ich habe auf Cemasch K. geschossen im Momente des Verlustes der Selbstbeherrschung, im Momente des Willensverlustes.“ Ein Dr. M., Augenzeuge des Vorfalls, sagte über den Attentäter aus: „Er machte mir den Eindruck, als ob er gar nicht bei Besinnung sei; er stieß thierische Laute von sich […].“ Die Verbindung von Ge- 122 StAB BB 15. 4. 1698 9286. 113 walt und mangelnder Affektkontrolle ist also in den Selbstzeugnissen erkennbar. Es handelt sich um die gleiche Verbindung, die für Norbert Elias’ Narrativ vom Prozess der Zivilisation grundlegend ist und die bis heute die Diskussion um die Gewalt in der Geschichte wesentlich prägt. Im Jahr 1901 handelte es sich um den Diskurs eines Doktors und eines Studenten - beide Angehörige der Oberschicht. Es ist bezeichnend, dass es ein weltgewandter, gebildeter Student und Adliger war, der sein Gewalthandeln als unbeherrscht und willenlos beschrieb. Landarbeiter, Bauern, Handwerker und Arbeiter sprachen, wie gezeigt, noch mehrheitlich anders über Gewalt. Die Verhörprotokolle im Fall des Michael von D. beinhalten noch weitere Aussagen, die den Topos der Selbstkontrolle greifbar machen. Es lohnt sich deshalb, einen genaueren Blick auf die Geschehnisse zu werfen, welche die Schießerei im Korridor des Chemischen Instituts zur Folge hatten. Der Ehrkonflikt zwischen Michael von D. und Cemasch K. entstand nicht spontan. Das Laboratorium des Chemischen Instituts war kein Wirtshaus. Ihren Anfang nahm die „Affaire“ neun Tage vor der Tat, ebenfalls im Laboratorium. Bezeichnenderweise waren Michael von D. und Cemasch K. bei diesem Anlass gar nicht anwesend. Im Verhörprotokoll eines Jeruchim P. ist über den Anfang der „Affaire“ Folgendes zu erfahren: „[W]ir sprachen und lachten [über ganz nebensächliche Angelegenheiten]. Ich trat nach kurzer Zeit zu Alexander K., um ihm etwas zu sagen. Ich legte ihm dabei die Hand auf den einen Arm und sagte: ‚Alexander, hören Sie.‘ Er gab mir nun ohne weiteres einen Stoß an die Brust. Ich fragte ihn, ob es ihm eigentlich ernst sei. Er berührte mich nun etwas barsch an der Achsel und sagte in aufgeregtem Ton: ‚gehen Sie weg‘.“ Jeruchim fühlte sich „durch das Verhalten des Alexander […] beleidigt und beauftragte deshalb den Cemasch, die Angelegenheit vor ein Ehrengericht zu bringen“. Weil aber Cemasch wegen „Unwohlsein“ dem Laboratorium einige Tage fernblieb, übertrug dieser die Aufgabe, zwischen den Streitenden zu vermitteln, einem anderen russischen Studenten, nämlich Menuch N. Dieser richtete Jeruchim aus, Alexander möge sich nicht vor ein Ehrengericht stellen, böte ihm aber an, sich zu „entschuldigen“, falls Jeruchim sich ebenfalls bei Alexander entschuldigen würde. Alexander hingegen behauptete, ein Ehrengericht wäre ihm von Menuch nie vorgeschlagen worden. Vielmehr hätte er seinerseits ein solches verlangt. Die Angelegenheit blieb unbereinigt. Jeruchim wollte die Sache aber nicht einfach so auf sich beruhen lassen: „Da ich mich aber nicht als fehlbar fühlte, beharrte ich darauf, die Sache vor ein Ehrengericht zu stellen.“ Aus diesem Grund entschied er sich, eigenmächtig zu handeln. Anderentags rief er neben zwei anderen Zeugen auch den bisher am Disput unbeteiligten Michael von D. „an den Tisch des Alexander K. Dort erklärte Jeruchim: ‚Sie wissen was vorgefallen, ich habe Alexander vor ein Ehrengericht gerufen, er will aber nicht kommen, deshalb erkläre ich ihn als Schuft.‘ Alexander reagierte nicht auf die Beschimpfungen. Der erste Zeuge, Jakob P., sagte aus, dass er sich „sogleich […] entfernte […] als Jeruchim zu sprechen anfing, […] da [er] ahnte, 114 dass es zu einer Schimpferei kommen würde.“ Der zweite Zeuge, Solomon U., scheint sich mit der Angelegenheit nicht weiter beschäftigt zu haben. Michael D. hingegen konnte sich nicht mit damit abfinden, dass er ungefragt Zeuge einer Beschimpfung wurde. Erst bat er Alexander, ihn als nicht anwesend zu betrachten. „Dann ging ich zu Jeruchim und sagte zu ihm‚ ich betrachte dein Vorgehen, mich an den Tisch des Alexander zu rufen, ohne den Grund anzugeben, weshalb dies geschehe, als ein Schurkisches, er hätte kein Recht gehabt mich zu rufen.“ Jeruchim betitelte nun Michael ebenfalls als „Schurke“, woraufhin Michael ihm mit einer „Ohrfeige“ drohte. Als Jeruchim am selben Abend in sein Zimmer an der Zähringerstrasse heimkehrte, wartete Michael mit einem weiteren russischen Studenten, Wladimir S., vor seinem Haus auf ihn. Michael packte Jeruchim am Arm und machte ihm erneut Vorwürfe wegen der Geschehnisse am Nachmittag. „Ich sagte zu ihm, er habe den Alexander K. in meiner Gegenwart beschimpft und auch mich beleidigt. Daraufhin versetzte ich ihm eine leichte Ohrfeige.“ Michaels Cousine Elisabeth von B. - sie studierte an der Universität Bern Medizin - erzählte, dass dieser nach den Vorfällen an der Zähringerstrasse ihre Wohnung aufsuchte und ihr mitteilte: „Jeruchim P. habe ihn heute beleidigt, er, Micheal von D., habe ihn daraufhin eine Ohrfeige versprochen und ihm solche nun auch gegeben. Er war sehr aufgeregt und sagte, er habe gefehlt & er bereue sein Vergehen und müsse sich entschuldigen.“ Cemasch, bisher weitgehend unbeteiligt am Geschehen, vernahm am folgenden Tag vom Vorfall in der Zähringerstrasse: „Dies brachte mich sehr in Wallung und ich beschimpfte dann meinerseits den Michael D. […] in heftiger Weise, u. a. sagte ich ihm auch, er sei ein Schurke. […] Michael entgegnete nichts.“ Auch der mit Cemasch befreundete Chaim A. war anwesend. Er erzählte: „[Mir] sagte Michael D. in humoristischen Tone: ‚Er habe gestern Abend den Jeruchim ‚gestreichelt‘. Ich bemerkte ihm darauf, es sei dies von ihm eine schändliche That, nur besoffene Bauern können sich auf diese Weise schlagen. Michael von D. erwiderte mir, es komme auch in Parlamenten vor, dass plötzliche Kraft angewendet wurde.“ Auf diese Ereignisse hin organisierten die russischen Studenten eine Versammlung, zu der Michael und Wladimir zuerst ein- und dann wieder ausgeladen wurden. Sie erschienen trotzdem, was wiederum für Spannungen sorgte, die angeblich zusätzlich dadurch verschärft wurden, weil Michael die Versammlung, die mehrheitlich aus jüdischen Studenten bestand, „Kahal“ titulierte. Nachdem Michael und Vladimir die Versammlung verlassen hatten, schrieben die restlichen Studenten eine „Resolution“, in der sie Michaels Benehmen „als schaendlich, barbarisch und beleidigend“ verurteilten und diesen sowie Wladimir aufforderten, die Universität Bern zu verlassen. Es war nach dieser Versammlung, als Michael und Wladimir beschlossen, zur Selbstverteidigung, wie sie angaben, Revolver anzuschaffen. Anderentags wurden 115 sie von einem Kommilitonen in der Stadt gesehen. Cemasch erfuhr auch davon. „Auf das hin vermuthete ich sofort, Michael von D. möchte einen Revolver gekauft haben, um mir ein Duell anzubieten.“ Michael sprach selbst nicht davon, dass er Cemasch zu einem Duell fordern wollte, sondern blieb bei der Aussage, dass er die Revolver zur Selbstverteidigung gekauft hätte. Weshalb er im Korridor des Chemischen Instituts auf seinen Kommilitonen schoss, war ihm, wie gesagt, nicht verständlich. Notwehr machte er nicht geltend. Das Außergewöhnliche dieses Falls im Vergleich zu den Wirtshausschlägereien der Berner Bauern, Handwerker und Arbeiter besteht darin, dass die russischen Studenten nicht nur Ehre, sondern gleichzeitig auch Selbstkontrolle einübten. Gewissermaßen überschnitten sich dabei Subjekt- und Ehrhabitus. Ihre Erzählungen handelten von Beleidigungen, welche gleichzeitig Ehre und Selbstkontrolle testeten. Die Beteiligten waren bis auf Michael stets fähig, trotz heftiger Angriffe auf die Ehre die Beherrschung zu wahren und angemessen - das heißt ohne den Einsatz von Gewalt - zu reagieren. Ihr spezifisches Spiel der Ehre betrieben die Studenten, um sich in expliziter Weise von den ‚Barbaren‘ und ‚besoffenen Bauern‘ um sie herum zu distinguieren. Die Selbstkontrolle erscheint dabei weniger als ethischer Selbstzwang, sondern vielmehr als eine spielerische Inszenierung dieses Zwangs. Für die Gruppe um Michael und Cemasch war Selbstkontrolle nicht nur moralische Pflicht, sondern ebenso - und vielleicht in erster Linie - eine Frage des guten Geschmacks. Einzig Michael scheiterte in diesem Spiel. Bezeichnenderweise bereute er aber seine Ohrfeige, für die er sich entschuldigen wollte. Nur einmal belustigte er sich angeblich über seinen Gewalteinsatz, wofür er prompt den Vergleich mit einem ‚besoffenen Bauern‘ ertragen musste. Anders als für die geselligen Gewalttäter waren Handgreiflichkeiten für die Studenten keine angemessene und evidente Reaktion auf eine Ehrbeleidigung. Bezeichnenderweise konnte Michael keine andere Erklärung für die Schussabgabe im Korridor des Chemischen Instituts finden, als dass er die ‚Selberbeherrschung‘ verloren hatte. Die einzige legitime Form der Gewaltausübung, die Michael - von der Selbstverteidigung abgesehen - zur Verfügung gestanden hätte, wäre wohl ein formalisiertes Duell gewesen. Cemasch dachte ja auch, dass Michael ihn zu einem solchen fordern würde. Es blieb allerdings bei dieser Vermutung. Weder erwähnte Michael selbst die Absicht, ein Duell durchführen zu wollen, noch taten dies Zeugen. Schwerhoff stellt eine tendenzielle Verschiebung der Funktion der Ehre von „sozialer Integration“ zu „sozialer Distinktion“ fest, deren Beginn er vorsichtig auf 1700 datiert. 123 Ehre diente ab dem 18. Jahrhundert zunehmend als Mittel, um sich von anderen Bevölkerungsgruppen zu unterscheiden. Im ländlichen Milieu und in den städtischen Unterschichten Berns scheint die Ehre allerdings bis zu ihrem Bedeutungsverlust im frühen 20. Jahrhundert mehrheitlich eine sozial 123 „From social integration to social distinction“ [Übersetzung M.C.] Schwerhoff (2013), S. 40-42. 116 integrative Funktion behalten zu haben. Die theatralisch anmutende Auseinandersetzung der russischen Studenten hingegen scheint der sozialen Distinktion im Sinne von Schwerhoffs These gedient zu haben. Wie Freverts Studie zum adelig-bürgerlichen Duell im wilhelminischen Deutschland zeigt, konnte auch das adelig-bürgerliche Spiel der Ehre durchaus gewaltsam ausgetragen werden. Erst nach dem Ersten Weltkrieg verlor das formale Duell als Ausdruck des Intermezzos zwischen alteuropäischem Ehr- und modernem Subjekthabitus, seine Bedeutung. 124 Ein Fall aus dem Jahr 1911 enthält Anzeichen, dass auch junge Berner aus der Unterschicht um 1900 begannen, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle zu inszenierten. Der Zeuge Ernst S. erzählte in seinem Verhör: „Der eine von diesen Herren streifte mich mit seinem Arm an meiner linken Ellenboge, worauf ich sagte ‚pardon monsieur‘, derselbe erwiderte ‚pardon aussi‘“. Einer dieser Herren war Max L., welcher die Szene in seinem Verhör in fast exaktem Wortlaut wiedergab. Nicht die Möglichkeit, diese brenzlige Situation zu entspannen, ist hier das Entscheidende. Die Burschen kannten, wie gezeigt, Möglichkeiten, Herausforderungen zu ignorieren oder zu entschärfen. Bezeichnend ist vielmehr die Art und Weise, mit der sich Ernst S. und der ihm unbekannte Max L. gegenseitig entschuldigten. Denn in der Regel sprachen die jungen Männern weder Französisch, noch war es üblich, dass sie sich siezten. 124 Frevert hat in ihrer Studie zum Duell im wilhelminischen Deutschland aufgezeigt, dass Teile des deutschen Bürgertums diese stark ritualisierte Verbindung von Gewalt und Ehre akzeptierten und auch praktizierten. Auch in Frankreich und Italien fand das Duell im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vermehrt Anhänger und Praktizierende aus dem Bürgertum. Damit widerspricht Frevert der Vorstellung, dass das Duell im 19. Jahrhundert einen Anachronismus darstellte. Sie zeigt aber auch, dass das Duell seit der Aufklärung innerhalb des Bürgertums keineswegs nur Befürworter hatte. Die Kritik nahm auch im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht ab, sondern eher zu. Gleichzeitig gab es im späten 19. Jahrhundert auch europäische Länder ohne Duellkultur, wie beispielsweise England. In unserem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass das formalisierte Duellieren eng mit der ebenfalls bürgerlichen Praxis der Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung zusammenhing und diese sowohl erforderte als auch förderte. Das formalisierte Duell des 19. Jahrhunderts war also eine ganz spezifische Praktik, in der Ehre, Gewalt und Selbstkontrolle (und damit der Subjekthabitus) zusammenfanden. Im Schweizer Bürgertum scheint das Duell nicht praktiziert worden zu sein, wie Racitis Auswertung der Basler Gerichtsakten zwischen 1750 und 1850 nahelegt. Ob auch in Bern zwischen 1868 und 1941 keine Duelle zwischen Schweizern stattfanden, ist vor dem Hintergrund der Resultate zu Basel zwar sehr wahrscheinlich, müsste aber noch genau verifiziert werden. Das Berner Strafgesetzbuch kannte nämlich den Straftatbestand des „gegenseitig verabredeten Zweikampf[s]“, den es, wenn er „ohne offensichtliche Verlezung der üblichen oder vereinbarten Kampfregeln“ durchgeführt wurde, nur als Vergehen einstufte. Als Vergehen fiel der „Zweikampf“ in den Bereich der niedrigeren Gerichte, deren Untersuchungsakten ihm Rahmen dieser Studie nicht untersucht wurden. Allerdings scheint es unwahrscheinlich, dass bei schweren oder tödlichen Verletzungen ein Duell nicht von den Assisen beziehungsweise dem Geschworenengericht beurteilt worden wäre. Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 148. Vgl. Frevert (1991), S. 181-184, 233-266. Vgl. zum 19. und 20. Jahrhundert auch Gahlen (2012). Raciti (2013), S. 55. Für länderspezifische und epochenübergreifende Literatur zum Duell: Ludwig/ Schwerhoff (2012), S. 31 f. 117 Der Konflikt war trotz der gegenseitigen Entschuldigung nicht beendet. Alle Beteiligten befanden sich auf dem Heimweg. Karl J. und Max L hatten sich, wie für junge Männer aus der Unterschicht nicht weiter erstaunlich, kurz vor halb vier Uhr morgens in der Bahnhofshalle getroffen. Vorab hatte Karl im Restaurant II. Klasse getrunken. Max L. hatte das Gleiche in der III. Klasse getan. Auch die Gegenpartei um die Brüder Arnold und Oskar B. gab an, in vier verschiedenen Wirtschaften in der oberen Altstadt eingekehrt zu sein. Die Zeit war also reif für eine Schlägerei. Ungeachtet der gegenseitigen Entschuldigung forderte Arnold B. Emil L. heraus: „[E]s gebe hier nichts zu müpfen.“ Arnold wurde nun von Emils Begleiter Karl der „Haken“ geschlagen, sodass er zu Boden fiel und dadurch den Rücken sichtbar mit „Straßenkot“ beschmutzte. Nach dem Vorfall setzten Max und Karl ihren Heimweg Richtung Länggasse fort. Der unterlegene Arnold erinnerte sich: „[A]ls ich wieder aufgestanden war, kam […] mein Bruder […] auf mich zu und fragte, ob ich mich da von dem Burschen hätte auf den Rücken werfen lassen, ob ich ihn nicht hätte bezwingen können.“ Arnold und sein Bruder folgten nun den beiden und holten sie vor dem Universitätsgebäude ein. Dort forderte Arnold Karl auf: „‚Ich und Du wollen die Sache miteinander ausmachen, aber nicht so, dass die andern sich einmischen.‘ Karl antwortete darauf: ‚Also gut, ich fürchte Dich nicht, wir wollen gehen, ,Komm‘. Ich erwiderte ‚gut, also, wir boxen zusammen‘. Hiermit erklärte er sich einverstanden.“ Arnold nannte diese Abmachung im Verhör einen „Zweikampf“. Die beiden legten ihre Mäntel, Hüte und Stöcke ab. Karl soll die Umstehenden aufgefordert haben, seine Taschen zu durchsuchen. Der Kampf begann, wenig später aber lag der überlegene Karl in seinem eigenen Blut. Arnold hatte während des Kampfes unbemerkt sein Messer geöffnet und in Karls Oberschenkel gestochen. Er erklärte: „[I]ch glaubte, er [Karl] habe auch ein Messer in der Hand.“ Anders als Michael von D. sprach Arnold also nicht von mangelnder Selbstbeherrschung. 125 Möglicherweise ließen sich Arnold und Karl von der Kulisse des Universitätsgebäudes inspirieren. Der geregelte Zweikampf war, wie das obige Beispiel andeutet, unter Studenten verbreitet. 126 Möglicherweise dienten auch englische Preisboxer als Vorbilder. 127 Als Angehörige der Unterschicht hatten Arnold und Karl im Jahr 1911 anscheinend Kenntnis von diesen neuen, stärker reglementierten Gewaltpraktiken, aber, zumindest was Arnold angeht, Schwierigkeiten, diese umzusetzen. Er fiel in alte Muster zurück. Verglichen mit den anderen geselligen Gewalthandlungen zeugt dieser Versuch der reglementierten Konfliktlösung von der Adaption bürgerlicher Umgangsformen durch die jungen Männer aus der 125 StAB BB 15. 4. 1018. 126 Zum studentischen Duell Frevert (1998); Krug-Richter (2012). 127 John Carter Wood betont die Ähnlichkeiten zwischen Preisboxen und den ritualisierten Kämpfen in der englischen Arbeiterschaft im späten 18. und 19. Jahrhundert. Carter Wood (2004), S. 70-94; siehe auch Eibach (2009), S. 211. 118 Unterschicht. Das war kein leichtes Unterfangen und Missverständnisse waren vorprogrammiert. Die Auseinandersetzung vor dem Universitätsgebäude kann als gescheiterter Versuch formalisierter Konfliktaustragung gesehen werden. Andere geregelte Zweikämpfe glückten vielleicht. Wesensgemäß geben Gerichtsakten aber über fair geführte Boxkämpfe keine Auskunft. Aufgrund der geringen Fallzahlen muss bezüglich eines möglichen Rückgangs der schweren züchtigenden Gewalt vorsichtig argumentiert werden. In ihrer Spätphase im 20. Jahrhundert wirkte die Industrialisierung vermutlich auch hier gewalteinschränkend. Der Wandel zur modernen Gesellschaft löste die hierarchische Ordnung der Geschlechter der Ehrgesellschaft nicht auf, obwohl eine gleichberechtigte Beziehung zwischen den Geschlechtern seit den aufgeklärten Egalitätsdiskursen des späten 18. Jahrhunderts und insbesondere um 1900 theoretisch sehr wohl denkbar war. 128 Die um 1800 neu entstehenden soziologischen, medizinischen und rechtlichen Ehe- und Familiendiskurse stützten die hierarchische Ordnung mehrheitlich. Der Mann sollte weiterhin als Oberhaupt der Ehe und Familie fungieren. Im bürgerlich-modernen Verständnis führte der Mann die Familie, allerdings nicht, weil dies einer überlieferten oder göttlichen Ordnung entsprach, sondern weil ihm die Führungsrolle ‚natürlich‘ gegeben war. Das neue medizinische Wissen spielte bei der Erneuerung der patriarchalischen Ordnung unter bürgerlichen Vorzeichen eine wichtige Rolle. Der Mann war aufgrund seines biologischen Geschlechts der Frau angeblich körperlich und geistig überlegen. Die Hierarchie wurde biologistisch definiert, wodurch die „Ordnung der Geschlechter“ die Aura der Natürlichkeit und deshalb der Unveränderbarkeit erhielt. 129 Der Rückgang der züchtigenden Gewalt kann daher nicht auf eine Abflachung der Hierarchie oder eine Angleichung der Geschlechterrollen im Vergleich zur Ehrgesellschaft zurückgeführt werden. Die neue Ordnung schränkte das Konfliktpotential im Bereich der Ehe und der Familie keineswegs ein, wie Arni anhand von zivilrechtlichen Ehescheidungsakten ausführlich darstellt. 130 Trotzdem hemmte die moderne Geschlechterordnung tendenziell den massiven Einsatz züchtigender Gewalt. Wenn Männer in familiären Beziehungen übertrieben gewalttätig handelten, machte dies sie nicht nur verdächtig, ihre Ehefrauen und Kinder nicht im Griff zu haben, sondern auch, die eigenen Affekte und Leidenschaften nicht unter Kontrolle zu haben. 128 Arni zeigt, dass der Bundesrat mit der Einführung des Schweizer Zivilrechts von 1907/ 12 sehr bewusst versuchte, die hierarchische Ehe als „Bollwerk gegen die Krisen der Moderne“ wieder zu stärken. Die rechtliche und soziale Eigenständigkeit der Frau, die das Zivilrecht grundsätzlich anerkannte, wurde in der Ehegesetzgebung zugunsten der männlichen Vorherrschaft eingeschränkt. Arni (2004), S. 23-78. 129 Honegger (1991). Grundlegend für die Historisierung des biologistischen Geschlechterverständnisses auch Butler (1997); aus kulturhistorischer Perspektive: Frevert (1995). 130 Arni (2004). 119 6. Fatale Gewalt und tragische Subjektivität Am 11. Juli 1911 drang Albert S. in das Haus der Eltern seiner ehemaligen Geliebten Augustine H. ein, versteckte sich auf dem Dachboden und wartete. Als Augustine heimkehrte, trat er in ihr Zimmer, verriegelte die Tür und sagte: „Stini, jetz wei mer mitenanger stärbe.“ Daraufhin feuerte er seinen Revolver auf die junge Frau ab. 131 Im gleichen Sommer tötete Emil A. im Bremgartenwald mit gezielten Revolverschüssen zwei seiner Söhne, der eine sieben-, der andere achtjährig. Unmittelbar vor der Tat soll er nach eigenen Aussagen zum älteren der beiden gesagt haben: „Wir wei jetzt i ds Himmeli zu den Engeli ufe“. 132 Wie in den nordöstlichen Staaten der USA, in Chicago, Paris oder in den nordfranzösischen Industriegebieten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts finden sich in den Berner Untersuchungsakten zwischen 1868 und 1941 Gewalttaten, die sich nicht schlüssig mit der alteuropäischen Ehrkultur verbinden lassen. Einige dieser Verbrechen, wie etwa der Tötungsversuch von Albert S., entsprechen zweifelsfrei den Gewalthandlungen, die von den Zeitgenossen, aber auch in der aktuellen Gewaltforschung, ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ genannt wurden beziehungsweise noch immer genannt werden. Wie eingangs besprochen, verwende ich den Begriff ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ nicht als analytische Kategorie, da er dem modernen Selbstbeschreibungsdiskurs des 19. Jahrhunderts entsprang, in dem Gewalt als eine reine Affekthandlung betrachtet wurde. Ich möchte in diesem Kapitel daher das Konzept der ‚fatalen Gewalt‘ einführen, um die nicht ehrbezogenen Gewalthandlungen, darunter auch die meisten der sogenannten ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘, kulturhistorisch einordnen zu können. Dabei soll gezeigt werden, dass fatale Gewalt als Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsweise Teil des für die moderne Kultur typischen Subjekthabitus war. Fatale Gewalthandlungen unterschieden sich durch die folgenden Merkmale von der ehrbezogenen Gewalt. Die Täter kündigten ihre Tat im Voraus an und bereiteten ihren Angriff entsprechend vor. Die Logik der fatalen Gewalt sah den Tod des Opfers vor. Fatale Gewalttäter planten aber nicht nur, andere Personen umzubringen, sondern drohten auch damit, sich nach der Tat selbst zu töten, was sie teilweise tatsächlich versuchten. Schließlich zeichnete sich der Typus dadurch aus, dass die Angeklagten in ihren Selbstzeugnissen die Tat in einem tragischen Stil schilderten. Die dreißig Fälle mit fataler Gewalt aus dem Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 verteilen sich folgendermaßen über die Untersuchungsperiode. 131 StAB BB 15. 4. 1920 949. 132 StAB BB 15. 4. 1921 951. 120 Diagramm 6: Registrierte fatale Gewalt im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 133 Auch in diesem Kapitel wird wiederum nacheinander auf die Sozialprofile der Beteiligten, die Gewaltpraxis und ihre Kontexte sowie auf die Narrative fataler Gewalt eingegangen. Sozialprofile Im Unterschied zu den ehrbezogenen Gewalthandlungen, deren Protagonisten fast ausschließlich in der Landwirtschaft, dem Handwerk oder als Arbeiter auf dem Bau oder in der Fabrik beschäftigt waren, ergeben die Sozialprofile der fatalen Gewalttäter ein weniger homogenes Bild. Auf die dreißig Fälle kommen dreißig Angeklagte. 134 Fünf Angeklagte übten als Schreiner oder Schuhmacher handwerkliche Berufe aus; acht waren als Arbeiter tätig. Dazu kamen ein Stallknecht bei einer Umzugsfirma sowie eine Damenschneiderin. Nur rund die Hälfte der fatalen Gewalttäter übten also Berufe aus, die auch für die Täter und Opfer der ehrbezogenen Gewalt typisch sind. Auffällig ist, dass Protagonisten mit landwirtschaftlichen Berufsprofilen gänzlich fehlen. Acht Angeklagte übten Angestelltenberufe aus: „Commis“, 135 Vertreter, Elektromonteur, Güterarbeiter bei der Bahn, Hausbursche im Bundeshaus, Büroangestellte. Während diese Berufsbilder sich aus einer sozio-ökonomischen Perspektive nicht scharf von prekären Arbeiterberufen unterscheiden, verweisen die Berufe Bauführer und Kaufmann, die insgesamt drei Angeklagte ausübten, auf einen höheren sozialen Status. Das 133 Ein Fall fällt auf das Jahr 1941. 134 Emil A. wurde zweimal angeklagt: 1911 tötete er zwei seiner Kinder; 1939, nachdem er aus der Haft entlassen worden war, schoss er auf seine Geliebte. Sein Sozialprofil wird zweimal gezählt. StAB BB 15. 4. 1921 951; 2582 3939. 135 StAB BB 15. 4. 1474 7359. 0 2 4 6 8 10 12 Fälle mit fataler Gewalt pro Jahrzehnt Fälle mit fataler Gewalt pro 100‘000 Einwohner 121 gleiche gilt für die Ex-Frau eines Revisors der Oberzolldirektion, die 1924 ebendiesem Revisor in den Kopf schoss, sowie für den russischen Medizinstudenten, der 1911 seine Kommilitonin und ehemalige Geliebte umbrachte. 136 Da sich fatale Gewalt gegen Familienangehörige oder Intimpartner richtete, stammten die Opfer jeweils aus der gleichen sozialen Schicht wie die Angeklagten. Auch bei den drei Ausnahmefällen, bei denen die Täter fatale Gewalt gegen Nachbarn beziehungsweise Vermieterinnen ausübten, wiesen die Opfer ein ähnliches Sozialprofil auf wie die Angeklagten. 137 Den Berufsprofilen entsprechend wohnten die Angeklagten und Opfer bei fataler Gewalt fast ausschließlich im Stadtgebiet. 138 Der Großteil der in fatale Gewaltakte involvierten Personen stammte folglich aus der sozialen Unter- und Mittelschicht. Das war auch bei den sogenannten ‚Verbrechern aus Leidenschaft‘ im Paris der 1870er-Jahre der Fall, welche sich häufig als Wirtschaftsmigranten in prekärer Lage und in der Hoffnung auf ein besseres Leben in der Hauptstadt Frankreichs aufhielten. 139 Männer, auffallend häufig deutscher Herkunft, die in Chicago ihre Ehefrauen und ihre Kinder nach dem Muster der fatalen Gewalt töteten, standen tendenziell an der Schwelle von der Unterzur Mittelschicht. 140 Allerdings erstaunt es nicht, dass sich unter den Beteiligten auch Angehörige der bürgerlichen Oberschicht befanden. Randolph Roth verweist darauf, dass die frühen romance murderers in den nordöstlichen Staaten der USA in den 1830er-Jahren auffallend häufig aus den höheren sozialen Schichten stammten. 141 Vom holländischen Schauspieler Johannes van Gogh, dem englischen Geistlichen James Hackmann und dem deutschen Schriftsteller Heinrich von Kleist, die um 1800 fatale Gewalttaten verübten, war bereits die Rede. Diese Beispiele deuten an, dass die fatale Gewalt im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert möglicherweise vor allem ein Handlungsmodus der höheren sozialen Schichten war und erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert zunehmend von Angehörigen der Unterschicht praktiziert wurde. Die Altersstruktur der fatalen Gewalttäter aus dem Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 gleicht derjenigen der ehrbezogenen Gewalt. Bis auf drei Ausnahmen waren alle Angeklagten zwischen siebzehn und 67 Jahre alt. Der Großteil der 50 Opfer war ebenfalls zwischen zwanzig und fünfzig Jahre alt. Die Opfer waren tendenziell jünger als die Täter. Das hat vor allem damit zu tun, dass sich fatale Gewalt auch gegen die eigenen Kinder im Alter zwischen einem Jahr und vierzehn Jahren richtete. Anders als bei der ehrbezogenen Gewalt, die zumindest im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 nur in einem Fall ein kindliches 136 StAB BB. 15. 4. 2225 2638; 1936 1013. 137 StAB BB 15. 4. 1172 3980; 1907 873; 1848 582. 138 Wohnorte der Beteiligten an fataler Gewalt. Anzahl Angeklagte/ Opfer: Stadt: 25/ 41; Land: 2/ 2; ohne festen Wohnsitz: 0/ 2; außerhalb des Amtsbezirks Bern: 3/ 1; ohne Angabe: 0/ 5. 139 Guillais (1991), S. 17-19. 140 Adler (2006), S. 60, 70. 141 Roth (2009), S. 252. 122 Todesopfer zur Folge hatte 142 , waren ein Fünftel aller Opfer fataler Gewalt Kinder. 143 Frauen waren oft deutlich jünger als die Liebhaber und Ehemänner, von denen sie angegriffen wurden. Umgekehrt verhielt es sich, wenn Kinder gegen ihre eigenen Eltern auf fatale Weise gewalttätig wurden. 144 Frauen waren im Vergleich zu den ehrbezogenen Gewalttypen häufiger in die fatalen Gewalttaten einbezogen und zwar vor allem in der Opferrolle. Kinder ausgeschlossen, wurden 29 Frauen und elf Männer Opfer von fatalen Gewalttätern. Nur in drei Fällen richteten männliche Angeklagte fatale Gewalt ausschließlich gegen andere Männer. 145 Auf der Täterseite verhielt sich das Geschlechterverhältnis umgekehrt. 25 männlichen standen lediglich fünf weibliche Angeklagte gegenüber. Bis auf die Ausnahme von Thekla K., die ihrem Ex-Mann, dem Revisor, in den Kopf schoss, 146 richtete sich die fatale Gewalt von Frauen immer gegen die eigenen Kinder. Praktiken und Kontexte Bei der Durchsicht der Untersuchungsakten wird erkennbar, dass sich fatale Gewalt auf der Handlungsebene markant von den ehrbezogenen Gewalttaten unterscheidet. Dies gilt auch für die züchtigende Gewalt, obwohl es sich auch hier meist um Gewalt gegen nahe Verwandte handelte. In diesem Abschnitt sollen die Spezifika der fatalen Gewalthandlungen aufgearbeitet werden. Dabei zeigt sich, dass für Bern ein sehr ähnliches Bild wie für Paris in den 1870er-Jahren und Chicago um die Jahrhundertwende gezeichnet werden kann. 147 Ereignisse im Vorfeld der Tat Aus den Untersuchungsakten lässt sich rekonstruieren, dass fatale Gewalt meist auf bestimmte Ereignisse folgte, welche die Angeklagten als existenzielle Gefährdung erlebten. Dieses Ereignis konnte entweder bereits eingetreten sein oder es drohte in Kürze einzutreten. Dem Bäcker und Handlanger Karl G. stand ein Gerichtsprozess wegen Diebstahls bevor. 148 Dem Schneider Adolf Z. drohten wegen seines geringen Einkommens der Entzug des Sorgerechts und die Einwei- 142 StAB BB 15. 4. 1381 6467. 143 In dieser Berechnung inbegriffen ist die vierzehnjährige Lina A., deren Mutter Adèle H. sich im Jahr 1919 gemeinsam mit ihren beiden Töchtern zu vergasen versuchte. StAB BB 15. 4. 2108 1940. 144 Altersverteilung der Beteiligten bei fataler Gewalt. Angeklagte/ Opfer: unter zehnjährig: 0/ 10; 10-19: 1/ 7; 20-29: 11/ 16; 30-39: 6/ 6; 40-49: 9/ 8; 50-59: 0/ 3; 60-69: 3/ 0. Bei zwei Opfern fehlt die Altersangabe. 145 StABB BB 15. 4. 1907 873; 2179 2396; 1848 582. 146 StAB BB 15. 4. 2225 2638. 147 Guillais (1991), S. 38-112; Adler (2006), S. 59-84; Adler (1997). 148 StAB BB. 15. 4. 2205 2531. 123 sung in eine Arbeitsanstalt. 149 Der alleinerziehenden Mutter und Fabrikarbeiterin Lina H. sowie dem Schlosser Johann A. wurde die Wohnung beziehungsweise das Schlafzimmer gekündigt. 150 Die meisten dieser einschneidenden Ereignisse betrafen Ehe- und Liebesverhältnisse. Auch dem Geflügelzüchter Mathias S. wurde der Mietvertrag nicht verlängert. Für ihn bedeutete dies gleichzeitig, dass er sich von seiner Verlobten trennen musste, die es bevorzugte, in der ehemals gemeinsamen Wohnung zu verbleiben. 151 Im Amtsbezirk Bern war die angedrohte oder tatsächlich vollzogene Trennung der Liebesbeziehung das häufigste Ereignis, das zu fataler Gewalt führte. In dieser Hinsicht ist der anfänglich dargestellte Fall des Albert S. bespielhaft, in dem der eifersüchtige und/ oder enttäuschte Liebhaber auf seine Liebhaberin schoss. Auch eine Gefährdung der Ehe führte in zwei Fällen zu fataler Gewalt. Laut den Aussagen von Emma H. soll ihr Ehemann, der Schreiner Johann H., nachdem sie ihn aufgefordert hatte, die schriftliche Einwilligung zur Ehescheidung zu unterzeichnen, gesagt haben: „Also, Du willst nicht mehr mit mir leben? “ Als Emma ihm antwortete, „er habe ja gesagt, wir wollen im Frieden auseinander, riss er plötzlich den Revolver aus dem Hosensak und setzte [ihr] solchen an die Brust. Dabei sagte er: ‚Darfst die Brust herhalten! ‘“ 152 Thekla K. schoss in einem Café auf ihren Ex-Mann, einige Stunden nach dem gerichtlichen Vollzug der Scheidung (vgl. Umschlagbild). 153 Das Auseinanderbrechen oder nicht Zustandekommen von Ehen konnte allerdings nicht nur fatale Gewalt gegen Ehegatten und Liebhaber, sondern auch gegen die eigenen Kinder zur Folge haben. Dabei ging es jeweils um den effektiven oder befürchteten Verlust des Sorgerechts. Maria M., die ihre eigenen und die Handgelenke ihres Sohnes mit einem Rasiermesser aufschnitt, befand sich in einem Scheidungsprozess, bei dem es auch um das Sorgerecht für den Sohn ging. 154 Der Kaufmann Samuel B., der seine dreijährige Tochter entführte und in einem Hotelzimmer zu erdrosseln versuchte, hatte das Sorgerecht nach der Ehescheidung zum Zeitpunkt der Tat bereits verloren. 155 Germaine H. tötete ihren sechsjährigen Sohn, nachdem sich ihr Verlobter das Leben genommen hatte. Nach eigenen Angaben hätte Germaine den Jungen nur im Fall einer baldigen Heirat bei sich behalten können. 156 Oben wurde dargestellt, dass der Subjekthabitus über eine moralisch-vernünftige und eine ästhetische Dimension verfügte, die zueinander in einer antagonistischen Beziehung standen. Kündigungen der Wohnung oder der Arbeitsstelle, Strafprozesse, Prüfungsängste, Ehescheidungen und verwehrte Liebesbeziehungen gefährdeten den Status des moralisch-vernünftigen Subjekts. Diese Ereignis- 149 StAB BB 15. 4. 2472 3593. 150 StAB BB 15. 4. 1659 8992 und 1848 583. 151 StAB BB 15. 4. 1172 3980. 152 StAB BB 15. 4. 1725 9519. 153 StAB BB 15. 4. 2225 263. 154 StAB BB 15. 4. 2131 2093. 155 StAB BB 15. 4. 2089 1817. 156 StAB BB 15. 4. 2498 3681. 124 se - ob bereits eingetroffen oder vermeintlich kurz bevorstehend - waren gleichbedeutend mit einer subjektiven Krise (und daher einer Krise des Subjekts). Planung und Ankündigung der Tat Als Subjekt bedroht und erschüttert, stießen die Angeklagten gleich wie in Paris in den 1870er-Jahren und in Chicago um 1900 Todesdrohungen aus und kündigten ihre Tat im Voraus an. 157 Johann H. soll 1901, nachdem er sich einen Revolver gekauft hatte, seiner Schwägerin gesagt haben, er hätte diesen „angeschafft, um sich ‚druff‘ zu machen.“ 158 Auch Wladimir M. drohte seiner ehemaligen Geliebten und Kommilitonin. Tamara K. erinnerte sich: „Im Juli sagte er mir, im Oktober werde ich nicht mehr am Leben sein. Hie und da fügte er noch bei, dass er sich selber ebenfalls erschießen werde. […] Ich war […] überzeugt, dass er seine Drohung ausführen wolle, bevor ich mein medizinisches Doktorexamen gemacht habe, denn er äußerte wiederholt, das es vollständig überflüssig für mich sei, das Examen zu machen.“ Wladimir schoss Tamara am 4. Oktober 1911 auf deren Heimweg zwei Kugeln in den Kopf. 159 Andere fatale Gewalttäter und Gewalttäterinnen kündigten ihre Tat subtiler an. Nachdem Lina H. die Wohnung gekündigt worden war, besuchte sie ihren Ehemann, der sich aufgrund einer Geschlechtskrankheit (die er sich nicht bei Lina eingefangen hatte) im Spital befand. Sie gab das Gespräch zwischen ihnen wie folgt wieder: „[W]ir wissen nicht, wann wir einander wieder sehen.“ Sie führte weiter aus: „Als er darauf fragte, ob ich etwas im Sinne habe, entgegnete ich: ‚nüt apartiges‘. Ich hatte mich aber schon damals mit dem Gedanken getragen, mich & die Kinder ums Leben zu bringen.“ 160 Nicht nur die offenkundigen oder subtilen Todesdrohungen verweisen darauf, dass die Angeklagten beabsichtigten, ihr Opfer zu töten. Die Täter bereiteten ihre Tat auch vor. In einem Drittel aller Fälle kauften oder besorgten sich die Angeklagten einige Tage vor der Tat oder am selben Tag eine Schusswaffe, um ihr Vorhaben ausführen zu können. Anschließend verabredeten sie sich mit ihrem Opfer oder suchten es auf. Albert S. versteckte sich, wie bereits erwähnt, auf dem Dachboden von Augustine H. 161 Guiseppe P. verabredete sich mit seiner ehemaligen Geliebten Theresa R. unter dem Vorwand, dass er ihr eine Uhr zurückgeben möchte. Beide hielten dabei den zuvor gekauften Revolver versteckt. 162 Thekla K. schoss auf ihren Ex-Mann in dessen Stammcafé - vor den Augen von dessen an- 157 Adler (1997), S. 259; Guillais (1991), S. 55-70. 158 StAB BB 15. 4. 1725 9519. 159 StAB BB 15. 4. 1936 1013. 160 StAB BB 15. 4. 1659 8992. 161 StAB BB 15. 4. 1920 949. 162 StAB BB 15. 4. 1815 403. 125 geblicher Geliebten. Thekla hatte den Revolver noch auf dem Weg vom Gericht, wo ihr die Scheidung definitiv bestätigt wurde, zum Café gekauft. 163 Einsatz von Schusswaffen Der Einsatz von Schusswaffen ist für die fatale Gewalt typisch. In zwanzig der dreißig Fälle benutzten die Täter entweder Revolver, Pistolen oder - in einem außergewöhnlichen Fall - auch ein Ordonanzgewehr. Nicht nur die Wahl der Waffen, sondern auch die Art und Weise, wie sie eingesetzt wurden, lassen wiederum darauf schließen, dass die Täter beabsichtigten, das Opfer zu töten. 164 Auffällig ist, dass die Angeklagten mit den Opfern nie unmittelbar vor der Tat stritten. Das ist ein grundlegender Unterschied zu den ehrbezogenen Gewalttaten, bei denen Tötungen und schwere Körperverletzungen immer Bestandteil einer zuvor verbal und schließlich tätlich geführten Auseinandersetzung waren. Fatale Gewalttäter traten an ihre Opfer heran, kommunizierten ihr Vorhaben und feuerten Schüsse aus nächster Distanz auf Kopf und Rumpf ab, ohne dass ein Handgemenge oder ein Angriff des Opfers vorangegangen wäre. Auch das Aufschneiden von Pulsadern und das Vergiften durch Kohlenrauch als weitere typische Gewalttechniken zeigen, dass der Tod des Opfers intendiert war (oder zumindest intendiert scheinen sollte). Anhand einer Zeugenaussage der „Falzerin“ Anna H. lässt sich der typische Ablauf einer fatalen Gewalttat darstellen: „Montag den 1. Februar 1915 abends zirka 7 ½ Uhr erschien der Angeschuldigte im angetrunkenen Zustande in unserem Logis, im Zimmer meiner Eltern, die sich bereits im Bett befanden & erkundigte sich nach mir. Meine Eltern erklärten ihm, dass ich mich in der Küche befinde. Er [Johann S.] begab sich hierauf nach der Küche, in welchem Momente ich dieselbe verliess & mich in das Zimmer meiner Eltern begab, um dem Angeschuldigten auszuweichen, da ich Böses ahnte, wohin auch er mir nachfolgte. Während ich im fraglichen Zimmer oben am Tische sass, fragte mich [Johann] mir gegenüberstehend ‚und wie isch jetzt, wost mi hürate‘. Als ich dies jedoch verneinte, zog er aus der rechten Hosentasche einen geladenen Revolver & feuerte einen Schuss auf mich ab, der glückicherweise fehl ging.“ 165 Nicht alle Opfer hatten dabei so viel Glück wie Anna H. In sieben Fällen starben die Opfer an Schussverletzungen. In zehn weiteren Fällen wurden sie durch die Kugeln teilweise schwer verletzt, überlebten aber zumindest bis zum Urteilsspruch. Dass die Schüsse nicht immer zum Tod des Opfers führten, lag auch an der mangelnden Durchschlagskraft der damaligen Handfeuerwaffen. 166 163 StAB BB 15. 4. 2225 2638. 164 Zum vermehrten Gebrauch von Schusswaffen in familiären Gewalthandlungen in Chicago um 1900 vgl. Adler (2006), S. 61 f. 165 StAB BB 15. 4. 2007 1362. 166 In der Untersuchungsakte zum oben erwähnten Angriff von Johann S. gegen Anna H. ist das 126 Thematik der Selbsttötung Neben der vorzeitigen Ankündigung und der Planung der Tat unterschied sich die fatale Gewalt auch dadurch deutlich von den ehrbezogenen Gewalttypen, dass mit Ausnahme von zwei Fällen die Selbsttötung des Angeklagten in irgendeiner Form Thema war. 167 Fatale Gewalttäter gaben typischerweise an, sie hätten sich nach der Tötung ihres Opfers selbst das Leben nehmen wollen. Die bereits zitierte Aussage von Guiseppe P. bringt dieses Vorhaben deutlich zum Ausdruck: „Ich hatte also die Absicht, das Mädchen zu erschießen & mich nachher auch & zwar aus Liebesgram.“ 168 In fünf Fällen zeugen in den Untersuchungsakten enthaltene Abschiedsbriefe vom Vorhaben der Selbsttötung. 169 Andere fatale Gewalttäter kündigten im Vorfeld ihrer Tat nur die Selbsttötung an, verschwiegen aber die Absicht, ihr Opfer töten zu wollen. So berichtete der Wirt eines Restaurants, bei dem Gottlieb S. regelmäßig einkehrte: „Er [Gottlieb] verlangte ein Bier, anbei bemerkend, es sei vielleicht das Letzte. Auf meine Frage: Wieso, ob er nach Amerika wolle, sagte er nein, er wolle sich erschießen.“ Gottlieb tötete am Abend desselben Tages seine Pflegetochter und schoss danach auf seine Frau, die das Attentat aber überlebte. 170 Die Quellengattung der Gerichtsakten bringt es mit sich, dass sich keiner der 29 Angeklagten tatsächlich das Leben nahm respektive nehmen konnte. Gegen Tote wurden in der reformierten Strafjustiz des 19. und 20. Jahrhunderts - anders als in der Frühen Neuzeit - keine Strafverfahren geführt. 171 Es ist daher Gutachten eines Waffenexperten beigelegt: „Der gekaufte Revolver ist eine ganz billige Waffe, ohne Präcision; immerhin wird man auf eine Distanz von 1 m. eine Person, bei zielen, sicher treffen, wenn mit der nötigen Ruhe geschossen wird; der von S. gekaufte Revolver ist im Stande lebensgefährliche Verletzungen beizubringen.“ StAB BB 15. 4. 2007 1362. Karl G. hatte sich zwar nach eigenen Angaben extra eine teure Waffe gekauft, damit sein dritter Selbstmordversuch endlich gelingen würde. Als er jedoch durch eine dünne Holzplatte in der Tür auf einen Polizisten schoss, blieb die Kugel im Notizpapier stecken, das dieser in der Brusttasche trug - und auch Karl vermochte der Kopfschuss, den er sich selbst zufügte, nicht zu töten. StAB BB 15. 4. 2205 2531. Ein von Heinrich G. auf seine Frau abgegebener Schuss wurde zum Querschläger und verfing sich in der Hose ihres Begleiters, ohne diesen im Geringsten zu verletzen. StAB BB 15. 4. 1939 1028. Fatale Gewalt wurde im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 also mehrheitlich durch günstig erworbene Revolver verübt. Das Phänomen kann aber nicht sinnvoll auf das neue Angebot erschwinglicher Handfeuerwaffen reduziert werden. In vier Fällen dienten Messer als Tatwaffen. Zugleich konnte in Kapitel 5 gezeigt werden, dass Revolver auch im Kontext der geselligen Gewalt um die Jahrhundertwende auftauchten, was allerdings in Bern keine Zunahme tödlich endender Wirtshausschlägereien zur Folge hatte. 167 Zur Zunahme von Suiziden und Suiziden durch Gewalttäter in familiären Konflikten in Chicago um 1900 vgl. Adler (2006), S. 61. 168 StAB BB 15. 4. 1815 403. 169 StAB BB 15. 4. 1901 835; 1920 949; 2131 2093; 2498 3681; 2576 3919. 170 StAB BB 15. 4. 1901 835. 171 Zum Straftatbestand der Selbsttötung im frühneuzeitlichen Recht vgl. Kästner (2012), S. 99-103, 162-179. 127 wahrscheinlich, dass in Bern noch weitere fatale Gewalttaten verübt wurden, die aber aufgrund des Ablebens des Täters nicht vor dem Geschworenengericht beurteilt wurden. Wie viele fatale Gewalttaten im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 verübt wurden, bei denen sich der Täter umbrachte, kann deshalb anhand der hier ausgewerteten Gerichtsakten nicht rekonstruiert werden. 172 Dass die Täter ihre Selbsttötungsdrohungen durchaus ernst meinen konnten, belegen vier Fälle, in denen sich die Angeklagten nach der Tat selbst in den Kopf oder in die Brust schossen, den Selbsttötungsversuch aber überlebten und daher vor Gericht gezogen wurden. 173 Zumindest in diesen Fällen handelte es sich nicht bloß um eine Drohung. Das gleiche trifft wohl auch auf zwei Mütter zu, die bewusstlos bei den von ihnen vergasten Kindern aufgefunden wurden. 174 In drei weiteren Fällen unternahmen die Täter ebenfalls Selbsttötungsversuche, bei denen jedoch nicht deutlich ist, wie ernst sie gemeint waren: Maria M. schnitt auf einem Spaziergang ihrem neunjährigen Sohn und sich selbst die Pulsadern auf. Beide überlebten. 175 Gleiches tat auch Ernst B., nachdem er seine Geliebte mit einem Rasiermesser am Hals verletzt hatte. 176 Alfred Z. sprang in die Aare, nachdem er zuvor seine Mutter ins Wasser gestoßen hatte. 177 In den meisten Fällen führten die Angeklagten indes entgegen ihrer Ankündigung nach der Tat keinen Selbsttötungsversuch aus. 178 172 Dieser Frage wäre wohl mithilfe einer Auswertung von Zeitungsartikeln in der Berner Presse nachzugehen. Darauf lässt zumindest ein kurzer Artikel schließen, der einer Untersuchungsakte beigelegt ist, aus dem rekonstruierbar ist, dass sich ein Täter selbst richtete. Dieser Fall wurde schon ausführlich in Kapitel 5 zum geselligen Spiel der Ehre dargestellt. Während einer Schlägerei nach einem Wirtshausbesuch schlug der unterlegene Friedrich S. einem seiner Widersacher, Gottlieb A., einen „Versenkstift“ gegen den Kopf. Gottlieb, der sich eine schwere Kopfverletzung zuzog, suchte kurz vor Prozessbeginn Friedrich S. an dessen Arbeitsplatz auf und schoss ihm in den Arm. Friedrich konnte verletzt flüchten, worauf sich Gottlieb an Ort und Stelle selbst tötete. StAB BB 15. 4. 1691 9242. 173 Vgl. StAB BB 15. 4. 1725 9519; 1936 1013; 2205 2531; 2225 2639. 174 Vgl. StAB BB 15. 4. 1659 8992; 2108 1940. 175 Vgl. StAB BB 15. 4. 2131 2093. 176 Vgl. StAB BB 15. 4. 2576 3919. 177 StAB BB 15. 4. 2661/ 2662 4169. 178 Es ist allenfalls kein Zufall, dass in drei der vier Fälle, in denen sich die Täter in Kopf und Brust schossen, die Opfer zuvor so schwer verletzt worden war, dass diese in Lebensgefahr schwebten. Die Selbsttötung erfolgte deshalb vielleicht im Glauben, dass das Opfer tödlich verwundet worden war. Vielleicht spielte es eine Rolle, dass Albert S. sah, dass Augustine H. noch am Leben war, als er ‚den Mut nicht fand‘, um sich selbst zu töten. Allerdings schossen nicht alle fatalen Gewalttäter, die ihre Opfer mit einer Schusswaffe töteten oder schwer verletzten, nachher auf sich selbst. Nachdem sie ihren sechsjährigen Sohn Jimmy im Schlaf erschossen hatte, gab Germaine H. an, „nicht mehr die Kraft“ gehabt zu haben, sich „auch zu erschiessen“. StAB BB 15. 4. 2498 3681. 128 Abgrenzungen von anderen Gewalttypen Wie oben gezeigt, sah die Logik der für den Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 rekonstruierbaren ehrbezogenen Gewalttypen nicht den Tod des Gegenübers vor, auch wenn dieser in Kauf genommen wurde. Die für fatale Gewalttäter typische Tötungsabsicht war aber kein Novum der interpersonalen Gewalt, das erst in der Moderne aufgetaucht wäre. Auch in den Ehrgesellschaften des frühneuzeitlichen Europas beabsichtigten gewalttätige Akteure, ihre Opfer zu töten. Wie die historische Gewaltforschung zeigt, stellte der sogenannte „Giftmord“ in der Frühen Neuzeit eine Möglichkeit dar, lästig gewordene Ehegatten zu töten. Für eine Vergiftung bedarf es eines Minimums an Planung, die wiederum auf eine Tötungsabsicht schließen lässt. Doch zwischen dem Giftmord und der fatalen Gewalt gibt es markante Unterschiede. Beim Einsatz von Gift sollte die Wahl der Methode den Mord gerade verschleiern. Die Vergiftung sollte den Anschein erwecken, das Opfer sei an einer Krankheit gestorben. Diese Logik lässt sich anhand eines von Silke Göttsch aufgearbeiteten Fallbeispiels aus Schleswig-Holstein aus dem Jahr 1798 verdeutlichen. Obwohl die Angeklagte bis zum Schluss bestritt, ihrem Ehemann vergiftetes Essen serviert zu haben, gab sie ausführlich Auskunft über ihr schwieriges Eheleben. Die geschilderten Streitereien drehten sich um die Ordnung des Hauses und die bäuerliche Familienökonomie. So gab sie zum Beispiel an, dass ihr Mann von ihr verlangte, dass sie ihm auf dem Feld bei der Ernte helfe, was sie mit Verweis auf anstehende Arbeiten im Haus verweigerte. Weiter gab sie zu Protokoll, dass sie von ihrem Mann gepeitscht und aus dem Haus ausgeschlossen worden sei. Obwohl Gift in ihrem Haus gefunden wurde, stritt die Angeklagte bis zuletzt ihre Schuld ab. 179 Die Unterschiede zur fatalen Gewalt treten klar hervor: Trotz der Tötungsabsicht und der sozialen und emotionalen Nähe der Angeklagten zu ihren Opfern liegt der Gewalttat die fragile häusliche, familiäre und eheliche Ordnung zugrunde. Die Tötung sollte vielmehr ein Weiterleben ohne den lästig gewordenen Ehemann ermöglichen. Das wird durch die Verhöraussagen der Angeklagten bestätigt, die ganz im Sinne der Züchtigungsgewalt im Kontext der frühneuzeitlichen Ehrgesellschaft einzig Beschwerden über das Rollenversagen des verstorbenen Ehemannes beinhalten. Die Angeklagte im Fallbeispiel aus Schleswig-Holstein verwendete also das bekannte Erzählmuster, in welchem es um die Ehre des Hauses und der Familie ging. Auch die rund 200 in Dorothea Noldes Studie zum Gattenmord ausgewerteten Fälle aus Frankreich zwischen 1580 und 1620 entsprechen der ehrbehafteten häuslichen Gewalt. Nolde zeigt, dass die Angeschuldigten vor Gericht mit unterschiedlichen Strategien versuchten, die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu entkräften: Sie stritten die Tat ab; verharmlosten ihren Gewalteinsatz, sprachen von Unfällen, Krankheit oder übertriebener Züchtigung; zweifelten die Glaub- 179 Göttsch (1995). 129 würdigkeit der Zeugen an; redeten über das Fehlverhalten und die Provokationen des Opfers im Vorfeld der Tat und rückten ihr eigenes Verhalten in ihrer Ehe in ein günstiges Licht. Diese narrativen Muster finden sich bei der fatalen Gewalt typischerweise nicht. 180 Nolde beschreibt einen Fall aus dem Jahr 1617, bei dem ein Schulmeister seine angeblich untreue Ehefrau an den Ort des Ehebruchs führte und dort von ihr verlangte, mit ihm Geschlechtsverkehr zu haben. Als sie sich weigerte, tötete er sie. Im Verhörprotokoll ist zu lesen: „[…] wenn sie nicht mit ihm gestritten hätt, hätte er sie nicht getötet und vorher sagte er ihr, sie solle zu Gott beten. Dass er es getan hat, um seine Ehre zu retten.“ 181 Von dieser Aussage lässt sich auf eine Tötungsabsicht des Täters schließen. Trotzdem stimmt das Verhalten des Schulmeisters nicht mit dem Handlungsmuster der fatalen Gewalt überein. Ihm ging es bei der Tötung nicht um die Herbeiführung eines gemeinsamen Schicksals durch Tötung und Selbsttötung, sondern explizit um die Wiederherstellung seiner Ehre, die er durch das Verhalten seiner Ehefrau gefährdet sah. Sich das Leben nehmen wollte der Schulmeister im Anschluss an die Tat nicht. Dazu gab es ja auch keinen Grund. Seine Ehre war für ihn wiederhergestellt. Ein Gewaltphänomen, das der fatalen Gewalt sehr ähnlich, aber nicht mit dieser identisch ist, beschreibt Arne Jansson anhand von Gerichtsakten aus Stockholm in den hundert Jahren zwischen 1620 und 1720. In der schwedischen Hauptstadt begingen nicht ausschließlich, aber vornehmlich Frauen Morde mit der selbsterklärten Absicht, selbst zu sterben. Auch hier durchlebten die Täterinnen im Vorfeld der Tat tiefgreifende persönliche Krisen, aus welchen sie keinen anderen Ausweg als den eigenen Tod sahen. Im Unterschied zur fatalen Gewalt ging es allerdings nicht um den gemeinsamen Tod mit dem Opfer und die Wahl des Opfers scheint eher nebensächlich. Vielmehr war der Mord ein reines Mittel zum Zweck. Weil nach der christlichen Lehre eine Selbsttötung zur Verdammung führte und zudem keine Möglichkeit zur Aussöhnung mit Gott gewährte, wollten die Täterinnen sich nicht selbst töten, sondern durch das Schwert der Justiz sterben. Kinder waren die bevorzugten Opfer, weil sie einfacher zu töten waren als Erwachsene und weil sie als unschuldig galten und daher nach zeitgenössischer Auffassung direkt in den Himmel kamen. Im Unterschied zur fatalen Gewalt handelte es sich dabei nur ausnahmsweise um die eigenen Kinder. 182 Tragische Narrative über fatale Gewalt Was trieb fatale Gewalttäter zu ihrer Tat? Plötzliche Verzweiflung, starker Liebeskummer, heftige Eifersucht, tiefe Depression? Gewiss fühlten die Angeklagten im Vorfeld der Tat starke Emotionen. Aber solche, auf die Affektivität des Täters an- 180 Nolde (2003), S. 389. 181 Zitiert nach Nolde (2003), S. 400. 182 Jansson (2004). 130 hebende Erklärungen reichen für eine kulturhistorische Analyse nicht aus. Starke Gefühle lagen auch den ehrbezogenen Gewalttaten im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit zugrunde. Aus welchen Kontexten entstammte der Handlungsmodus der fatalen Gewalt? Und weshalb wollten fatale Gewalttäter überhaupt jemanden töten? Um diese Fragen anzugehen, hilft es, die Narrative der fatalen Gewalttäter einer genauen Analyse zu unterziehen. Dabei lässt sich zeigen, dass fatale Gewalttäter ihre Handlungen auf tragische Art und Weise schilderten. Liebend, aufgeregt, deprimiert und eifersüchtig - Sprechen über das Subjektive Anders als die Angeklagten der ehrbezogenen Gewalt, die in ihren Verhörprotokollen auf Sicht- und Hörbares fokussierten, sprachen fatale Gewalttäter oft und ausführlich über ihre eigenen Gefühle. Die Selbstzeugnisse beinhalten daher ausgedehnte Schilderungen zum eigenen Innenleben, sowohl vor, während und auch nach der Tat. Die Angeklagten thematisierten also auf sehr konkrete Weise ihre eigene Subjektivität. Damit decken sich die Berner Verhörprotokolle mit den Pariser Gerichtsakten aus den 1870er-Jahren, die Guillais verteilt über ihr Buch ausführlich zitiert. 183 Ein Auszug aus dem Verhörprotokoll von Guiseppe P., in dem dieser die Situation kurz vor seiner Attacke auf seine Geliebte beschrieb, liefert hierfür ein anschauliches Beispiel: „Wie ich etwas schweigsam [wurde] & weinte, erklärte mir das Mädchen, ich brauche nicht Angst zu haben, es verlasse mich nicht, ich konnte dies aber nicht recht glauben, ich hatte weiterhin das Gefühl, es wolle nichts mehr von mir wissen & kam in Aufregung, weil ich befürchtete, ich müsse das Mädchen, das ich lieb hab, verlieren.“ 184 Die Liebe ist eines der wichtigsten Schlagworte in den Narrativen der fatalen Gewalt und es verweist auf die Modernität der Narrative. Anne-Charlott Trepp spricht von der Liebe als einem ikonenhaften Gefühl der Moderne, welches für die Konstitution moderner Gesellschaften grundlegend war. 185 Die allermeisten der enttäuschten Liebhaber betonten, dass sie ihre Opfer liebten. Aber auch in den Narrativen zu fataler Gewalt gegen Ehepartner und die eigenen Kinder liebten die Täter explizit ihre Opfer. Solche auf Gefühle fokussierenden Beschreibungen der Opfer-Täter-Beziehung finden sich nicht in den Verhörprotokollen der ehrbezogenen Gewalt. In den Narrativen der züchtigenden Gewalt etwa waren Emotionen kein Thema. Hier verteidigten die Beteiligten ihr eigenes Verhalten und verurteilten dasjenige des anderen. Während Guiseppe P. mit dem Verweis auf das Weinen in seiner Erzählung nur andeutet, dass es ihm in der Zeit vor der Tat nicht gut ging, sprachen oder 183 Guillais (1991), insbesondere S. 73-112. 184 StAB BB 15. 4. 1815 403. 185 Trepp (1996), S. 53-55. Zum Stellenwert der Liebe in der Moderne aus kulturhistorischer Sicht vgl. auch Arni (2004b); Lichtblau (1991). 131 schrieben andere Angeklagte fataler Gewalt explizit über ihren niedergeschlagenen oder depressiven Gemütszustand im Vorfeld der Tat. Lina H. begann ihren Abschiedsbrief, dem sie den Titel „Aus Verzweiflung“ gab, mit den Worten: „Ach ihr lieben Leute, ich halde es nicht mer länger aus hir auf Ehrden.“ 186 Am Tag der Tat ging Johann H. nicht zur Arbeit, weil ihm diese nach eigener Aussage „verleidet [war], weil [seine] Schwiegermutter und [seine] Schwägerinnen [ihn] konstant plagten und mit [ihm] zankten. 187 Emil A. beschrieb sich, nicht nur in der Zeit kurz vor der Tat, sondern grundsätzlich, als „unglücklich“ und phasenweise „deprimiert“. 188 Die Niedergeschlagenheit der Angeklagten im Vorfeld der Tat fiel auch den Zeugen auf. So berichtete die Vermieterin von Johann S.: „In der letzten Zeit hatte S. etwas, das ihn drückte: er war still, und wenn seine Kollegen lachten, so sass er stumm dabei.“ 189 Indes waren nicht alle Angeklagten vor der Ausübung ihrer Tat niedergeschlagen. Der zum Zeitpunkt der Tat „schauderhaft aufgeregte“ Albert S. war im Vorfeld der Tat „fidel“ aufgelegt. 190 Ein ähnliches Wechselbad der Gefühle am Tag, an dem er zwei seiner Kinder erschoss, durchlief nach eigenen Angaben der ansonsten ‚unglückliche‘ und manchmal ‚deprimierte‘ Emil A.: „[I]ch war damals noch gut aufgelegt u. katznüchtern so wie jetzt. Etwa 11 ¾ langte ich zu Hause an. Es war wieder gar nichts gekocht, wie schon oft, und meine Frau schwatzte mit einer Hausgenossin, was sie sonst nicht zu tun pflegt. Nun dachte ich sofort, meine Frau suche einen Grund, um Krach mit mir zu machen. Dies beelendete mich so sehr, dass ich dachte: ‚Jetz machen I Schluss u. das sofort.‘“ 191 Auch Zeugen wählten diese Begrifflichkeit, um die Täter und Täterinnen zu beschreiben. So berichtete eine Zeugin, die Maria M. begegnete, nach dem diese versucht hatte, ihrem Sohn die Pulsadern aufzuschneiden: „Frau M. war in fürchterlich aufgeregtem Zustande als sie zu mir hereinkam; sie hatte einen verstörten Blick und zitterte am ganzen Körper.“ 192 Und auch dem Wirt von Gottlieb S. Stammlokal erschien dieser, während er seine Selbsttötungsabsichten äußerte, als „etwas aufgeregt“. 193 Die ‚Aufregung‘ beziehungsweise das ‚Aufgeregt-Sein‘ als konstitutive Schlagworte der Narrative über fatale Gewalt passen gut in das moderne „Zeitalter der Nervosität“, welches sich laut Joachim Radkau über das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert erstreckte. Radkau identifiziert die Nervosität und das Nervös- Sein als einen Habitus der Menschen um die Jahrhundertwende, welcher weit über den nervenärztlichen Fachdiskurs hinaus als „Gesamtphänomen“ oder 186 StAB BB 15. 4. 1659 8992. 187 StAB BB 15. 4. 1725 9519. 188 StAB BB 15. 4. 1921 951. 189 StAB BB 15. 4. 2007 1362. 190 StAB BB 15. 4. 1920 949. 191 StAB BB 15. 4. 1921 951. 192 StAB BB 15. 4. 2131 2093. 193 StAB BB 15. 4. 1901 835. 132 „Kulturphänomen“ 194 , als reale Lebenserfahrung bedeutsam war. Radkau verweist dabei auf die „lustvolle“ und „euphorische Seite“ 195 des „nervösen Lebensstil[s]“ und charakterisiert die Nervosität als „Leid-Lust-Phänomen“ 196 . Den Grund für das Aufkommen der erlebten und gefühlten Nervosität sieht Radkau in den strukturellen Umwälzungen der Arbeits- und Lebenswelt dieser Zeit. In den Verhörprotokollen der Fälle, in denen Liebhaber wie Carlo P., Guiseppe P. oder Albert S. auf ihre Ehepartner oder Geliebten schossen, wurde die Aufregung meist in Zusammenhang mit Eifersucht geschildert. Albert S. war erst „nicht mehr eifersüchtig“, als ihm seine Geliebte Augustine H. „versichert[e]“, ihm „treu bleiben“ zu wollen. 197 Guiseppe P. „vermute[te]“, dass seine Geliebte „einen anderen gewollt“ habe. Bei Paul L., dessen „Eifersucht [...] zugegebenermassen“, wie er es ausdrückte, sein Liebesverhältnis zu Margritha R. trübte, erzählte: „Obschon ich keine direkten Anhaltpunkte besass, argwöhnte ich stets. Um Fräulein R. zu prüfen, schrieb ich ihr unter Chiffre einen anonymen Brief und ersuchte sie zwecks näherer Bekanntschaft mit dem Schreiber in Verbindung zu treten. Trotzdem sie damals ein Verhältnis mit mir unterhielt, schrieb sie [zurück], worin sie sich geneigt zeigte, mit dem Unbekannten anzuknüpfen und ihn zu einem Rendez-vous […] einlud. [Seit diesem] Brief [in Kombination] mit einer anderen abgefassten Karte, wo ein gewisser Leo ihr schrieb, war mein Misstrauen gegen Fräulein R. stark gewachsen.“ 198 Auch über das Thema der Eifersucht wurde um die vorletzte Jahrhundertwende intensiv diskutiert. 1911 verfasste beispielsweise der deutsche „Nervenarzt“ Max Friedmann in der Zeitschrift Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens einen Artikel Über die Psychologie der Eifersucht. Friedmann stellte fest, dass eine „bemerkenswerte psychiatrische Literatur […] existiert, […] welche [sich] überdies in den letzten Jahren rasch zu vermehren beginnt.“ 199 Im Unterschied zu den damals schon vorhandenen Titeln zur „Eifersucht in der Psychopathologie“ 200 prüfte Friedmann, wie er angibt, als erster „systematisch die psychologischen Grundlagen“ der Eifersucht. Ihren Charakter beschreibt er folgendermaßen: „Wenn wir nun nachsehen, welche psychischen Vorgänge […] wir als eifersüchtig zu bezeichnen pflegen, so finden wir […] mehr oder minder große [Gefühls] Komplexe. Das Element oder der Vorgang, der jedesmal sich vorfindet und der in der Tat auch als das Wesentliche in der Eifersucht uns erscheinen wird, ist ein 194 Radkau (1998), S. 464. 195 Radkau (1998), S. 73. 196 Radkau (1998), S. 27. 197 StAB BB 15. 4. 1920 949. 198 StAB BB 15. 4. 2225 2639. 199 Friedmann zitiert neun Titel aus dem deutsch- und französischsprachigen Raum, welche zwischen 1900 und 1910 erschienen sind und die „krankhafte Eifersucht“ thematisieren. Friedmann (1917), S. 76 und 85. 200 Friedmann (1911), S. V. 133 doppeltes: ein Gefühl unruhiger Erregung beim Anblicke eines Konkurrenten und ein Impuls, diesen zu verdrängen.“ 201 Friedmann unterschied die „Strebungseifersucht“ von der praktisch viel häufiger auftretenden „erotischen Eifersucht“ 202 . Strebungseifersucht komme vor allem im Berufsleben von „höher Gebildeten“ 203 vor. Es gebe aber auch „Arten von Massenerregung“ 204 , die sich als „nationale Eifersucht“ 205 äußerten. Die „Liebesleidenschaft“ 206 oder „erotische Eifersucht“ 207 sei zu trennen in einen „Typus der normalen“ 208 und einen der „krankhaften Eifersucht“ 209 . Friedmann führte aus: „Wir wissen ja alle aus der Erfahrung des täglichen Lebens, wie und wann sich die [Erstere] äußert. Wenn die Hausfreundin zu stark mit dem Manne koquettiert, wenn dieser gar sich eine Mätresse hält; wenn von mehreren Nebenbuhlern einer den Preis davon getragen hat; wenn die Frau den Beruf einer Kellnerin oder nur einer Verkäuferin in einem Zigarettengeschäfte ausübt: in all diesen oder ähnlichen Fällen ist die Eifersucht verständlich. Und alle Male geht das Gefühl primär aus von der Tatsache eines Wettbewerbs; die Auflehnung gegen den Konkurrenten, den peinlich empfundenen Drang, dessen Bewerbungen zwar zu fürchten, aber ihnen doch auf Schritt und Tritt mit Argusaugen folgen zu müssen, das macht das Gefühl aus. Erst sekundär kann leicht daraus auch der Gedanke des Misstrauens gegen den anderen Gatten hervorgehen, und dann wird auch dessen Tun und Treiben zum Gegenstande der Aufpasserei und einer missdeutenden Kritik. Harmlose Liebenswürdigkeit in gesellschaftlichen Formen gilt als direktes Entgegenkommen, die Ausgänge und Besorgungen ohne Begleitung des andern Gatten werden so streng als denkbar überwacht oder verpönt, geheimes Nachfolgen, geduldiges Lauern und Warten vor dem Bureau des Mannes […] gehören zu den gewöhnlichsten Auskunftsmitteln eifersüchtiger Gattinnen.“ 210 Irgendwo beim Misstrauen setzte Friedmann die Grenze zwischen normaler und kranker Eifersucht. Personen mit „Eifersuchtswahn“ würden an „einfache[r] periodische[r] Manie und Melancholie“ 211 leiden. Beim Eifersuchtswahn handle es sich „oft [um einen] relativ milde[n] Charakter der geistigen Störung“. 212 Aus der humanwissenschaftlichen Perspektive, die Friedmann teilte, 201 Friedmann (1911), S. 108. 202 Friedmann (1911), S. 108. 203 Friedmann (1911), S. 23. 204 Friedmann (1911), S. 111. 205 Friedmann (1911), S. 12. 206 Friedmann (1911), S. 10. 207 Friedmann (1911), S. 108. 208 Friedmann (1911), S. 79. 209 Friedmann (1911), S. 77. 210 Friedmann (1911), S. 79 f. 211 Friedmann (1911), S. 86. 212 Friedmann (1911), S. 87. 134 bewegte sich die Eifersucht also an der Grenze zur ‚Anomalie‘, überschritt diese manchmal oder macht kurz davor halt. In Friedmanns Ausführungen taucht die Vorstellung eines vernünftig-normalen Subjekts auf, welches Foucault als charakteristisch für die Moderne betrachtet. Das vernünftig-normale Subjekt durfte zwar unter gewissen Umständen eifersüchtig sein, weil dies aus humanwissenschaftlicher Sicht ‚normal‘ war. Nahm die Eifersucht aber ein ‚krankhaftes‘ beziehungsweise ‚anomales‘ Ausmaß an und steigerte sich zum ‚Wahn‘, gefährdete dies grundlegend den Status des vernünftig-normalen Subjekts. Die Selbstbeschreibungen des ‚eifersüchtigen‘, ‚fidelen‘ und ‚schauderhaft aufgeregten‘ Albert S. und des ‚weinenden‘, ‚verängstigten‘ und ebenfalls ‚aufgeregten‘ Guiseppe P. zeigen, dass Gefühle für die Narration der fatalen Gewalt eine konstitutive Rolle spielten. 213 Mit ihrer empfindsamen Sprache machten die Angeklagten sich selbst zum Thema ihres Narrativs. In der Form der Emotionen taucht die Subjektivität also in sehr konkreter Weise in den Verhörprotokollen auf. Zu klären bleibt, auf welche der beiden Dimensionen des in sich widersprüchlichen Subjekthabitus sich Subjektfiguren in den Erzählungen der fatalen Gewalt beziehen. Die Nähe der ‚Aufregung‘ zum medizinischen Diskurs über Neurasthenie und Friedmanns psychologistische Abhandlung der ‚Eifersucht‘ als Grenzzustand zwischen ‚normalem‘ und ‚krankhaftem‘ Gefühlsleben zeigen, dass die Humanwissenschaften um 1900 Gefühle zu ihrem Thema machten. 214 Aber bedeutet dies automatisch, dass sich die Angeklagten mit ihren Schilderungen ihrer Gefühle am humanwissenschaftlichen Diskurs orientierten und sich als vernünftig-normales Subjekt beschrieben oder als solches infrage stellten? Im nächsten Abschnitt soll auf diese Frage im Zusammenhang mit der rechtlichen Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit eingegangen werden. Vernünftig-normale Subjektivität und die Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit Die Doppelfigur des vernünftig-normalen Subjekts, wie sie Foucault zeichnet, war ganz wesentlich mit der strafrechtlichen Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit verbunden. Wer normal war und vernünftig handelte, galt im strafrechtlichen Sinn als zurechnungsfähig. Um Schuld zuzuweisen und die Strafe festlegen zu können, hatten Richter und Geschworene zu bestimmen, ob ein Täter zum Zeitpunkt der Tat oder zum Zeitpunkt des Geständnisses vollständig, nur gemindert zurechnungsfähig oder gar vollständig unzurechnungsfähig war. Die gerichtliche Voruntersuchung diente also nicht nur dazu, einen Straftatbestand 213 Auch die Narrative der Pariser criminels passionnels aus den 1870er-Jahren, die ausführlich bei Guillais abgebildet und besprochen werden, weisen den gleichen gefühlsbetonten Wortschatz auf. Guillais (1991). 214 Zur Verwissenschaftlichung der Gefühle um 1900 vgl. Jensen (2008). 135 aufzuarbeiten. Es galt auch, die Zurechnungsfähigkeit des Täters zum Zeitpunkt der Tat zu bestimmen. Wie zu zeigen sein wird, stellten die moralphilosophische Unterscheidung von ‚Vernunft‘ und ‚Wahnsinn‘ auf der einen Seite und die medizinisch-humanwissenschaftliche Unterscheidung von ‚normal‘ und ‚anormal‘ beziehungsweise ‚gesund‘ und ‚krank‘ auf der anderen Seite zwei unterschiedliche und im Grunde widersprüchliche Konzepte für die Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit bereit, die in der Berner Strafjustiz amalgamierten. Auch das Berner Strafgesetzbuch von 1866 kannte sowohl die Unzurechnungsfähigkeit als auch die geminderte Zurechnungsfähigkeit. 215 In diesem Abschnitt sollen diese beiden Konzepte kurz vorgestellt werden, um besser abschätzen zu können, ob und wie die Angeschuldigten und Zeugen in ihren Verhören auf diese referierten, wenn sie über ihre eigene Subjektivität sprachen. Dabei soll herausgearbeitet werden, inwiefern sich das Sprechen der fatalen Gewalttäter über die eigene Subjektivität auf explizite oder implizite Weise an der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit orientierte. Dabei ist es nicht entscheidend, ob die Angeschuldigten sich aus strategischen Gründen als unvernünftig oder anormal beschrieben, um eine geringere Strafe zu erhalten, oder ob sie dies taten, weil sie tatsächlich ihren Taten auf diese Weise Sinn verleihen wollten. Wichtiger ist vielmehr die Frage, ob die Angeklagten überhaupt auf die Konzepte referierten. Als Erstes fällt auf, dass keine angeklagte Person die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit direkt ansprach. Überhaupt nur ein einziges Mal taucht der Begriff in einem Verhörprotokoll auf. Laut einem Zeugen soll Heinrich G. am Abend, bevor er auf seine Frau schoss, mit dem Finger auf sein militärisches Dienstbüchlein getippt und dabei gesagt haben, „er habe nicht Angst, dass man ihn verurteilen könne, wenn er etwas Dummes mache, er habe hier den Beweis dafür, dass er unzurechnungsfähig sei […] man könne ihm nichts tun.“ 216 In seinem eigenen Verhör unternahm Heinrich allerdings keinen Versuch, sich als unzurechnungsfähig zu beschreiben. Nun würde sich vielleicht einwenden lassen, dass die Untersuchungsrichter und Aktuare Äußerungen der Angeschuldigten über die eigene Unzurechnungsfähigkeit nicht notierten, um zu verhindern, dass die Geschworenen die Angeklagten freisprachen. Dagegen spricht allerdings, dass die Untersuchungsrichter bei Gewaltverbrechen trotz der Abnahme der Fälle in zunehmendem Maß die Zurechnungsfähigkeit durch psychiatrische Gutachten beurteilen ließen. Auch Heinrich G., der sich laut einem Zeugen vor seiner Tat als unzurechnungsfähig bezeichnete, ist unter den insgesamt 25 Angeklagten von schweren Gewalt- und elf Angeklagten von Sittlichkeitsverbrechen aus dem Amtsbezirk Bern, die zwi- 215 Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 43. 216 StAB BB 15. 4. 1939 1028. 136 schen 1868 und 1941 psychiatrisch begutachtet wurden. Auffallend ist, dass nur sechs dieser Gutachten auf die Zeit vor der Jahrhundertwende fallen. 217 Weiter unten wird vertieft auf die psychiatrischen Gutachten eingegangen. An dieser Stelle reicht es vorerst festzuhalten, dass die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit für die Berner Strafjustiz keine Marginalie darstellte. Wenn die Schlagworte ‚Unzurechnungsfähigkeit‘ und ‚Zurechnungsfähigkeit‘ in den Verhören nicht zu finden sind, kann angenommen werden, dass sie die Verhörten nicht verwendeten. In den Verhörprotokollen der Angeklagten finden sich aber Passagen, die inhaltlich-thematisch an die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit anschlussfähig sind. Um diese Stellen zu erkennen, ist es nötig, auf die Hintergründe des juristischen Konzepts der Zurechnungsfähigkeit einzugehen. Die juristische Frage nach dem geistigen Zustand eines Angeschuldigten zur Zeit der Tat verfügte in Europa bereits im 19. Jahrhundert über eine lange Tradition. 218 Durch die Umsetzung des aufklärerischen Strafparadigmas im späten 18. und im 19. Jahrhundert erhielt die Zurechnungsfähigkeit intensivierte Aufmerksamkeit. Ausschlaggebend dafür war der zentrale Stellenwert der Vernunft in der Strafrechtstheorie der Aufklärung. Ein wichtiger Pfeiler des aufgeklärten Strafrechts war die genaue Festlegung der Straftatbestände und der entsprechenden Strafen. Wer trotz der klaren Kodifizierung des Strafrechts gegen die Gesetze verstieß, tat dies - nach der Vorstellung der aufgeklärten Juristen - aus strategischem Kalkül oder aus Opportunitätsgründen. Eine lückenlose Verfolgung und konsequente Bestrafung der Verbrechen würde schließlich vernünftige Subjekte davon abhalten, das Gesetz zu brechen. Das Verbrechen galt als willentlicher Bruch des Gesellschaftsvertrages durch ein zur Vernunft befähigtes Subjekt. Das bedeutete, dass Schuldfähigkeit eng an Willens- und Vernunftfähigkeit gebunden war. Nur wer zur Zeit der Tat über einen freien Willen verfügte und daher vernünftig war, konnte sich im Sinne eines Vertragsbruchs schuldig machen. Die 217 Fälle mit psychiatrischen Gutachten: StAB BB 15. 4. 1250 4917; 1552 8079; 1563 8179; 1951 8403; 1659 8992; 1654 8943; 1725 9519; 1765 50; 1795 256; 1843 553; 1848 582; 1859 634; 1921 951; 1921/ 1922 952; 1939 1028; 1992 1300; 2007 1362; 2013 1400; 2089 1817; 2108 1940; 2125 2055; 2131 2093; 2205 2531; 2225 2638; 2225 2639; 2419 3490; 2472 3593; 2498 3681; 2499 3883; 2500 3684; 2555 3859; 2576 3919; 2582 3939; 2661/ 2662 4169; 2457 3546. Emil A. wurde zweimal begutachtet (StAB BB. 15. 4. 1921 951; 2582 3939). In drei Fällen von sexueller Gewalt wurde ein psychiatrisches Gutachten des Opfers erstellt: StAB BB 15. 4. 1748 9091; 2457 3546. In StAB BB 15. 4. 2141 2160 ist neben den forensischen Gutachten über den Angeklagten und das Opfer auch ein Gutachten des Angeklagten über das Opfer enthalten. Es handelt sich dabei um einen Prozess wegen Notzucht gegen einen Arzt, der eine Patientin vergewaltigt haben soll. 218 Bereits in der Frühen Neuzeit wurde in der Rechtsprechung der geistige Zustand eines Straftäters berücksichtigt. Zum Beispiel steht in der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina) geschrieben, dass die Strafe eines Verbrechers, „der jugent oder anderer gebrechlicheyt halben, wissentlich seiner synn nit hett“, gemildert oder gar aufhoben werden konnte. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), Art. 179. Vgl. auch Germann (2004), S. 55; Lorenz (1999), S. 256. 137 Fragen der Zurechnungs-, Willens- und Schuldfähigkeit waren somit Entwederoder-Fragen. Wer wahnsinnig war, verfügte nicht über einen freien Willen und war daher auch nicht schuldfähig - und umgekehrt. 219 In drei Selbstzeugnissen fataler Gewalttäter ist die Dichotomie Vernunft/ Wahnsinn konstitutiver Bestandteil des Narrativs. Im Lebenslauf von Werner F. ist zu lesen, dass er „wegen einem charakterlosen Fräulein und [einer] unvorsichtigen Handlung im Eifersuchtswahn [...] verhaftet“ wurde. 220 Hier erscheint die Gewalthandlung als wahnsinnig und damit als Negation der Vernunft. Der ‚Wahn‘ hebelte die Vernunft als sein Gegenteil aus. Ex negativo referierte Werner daher auf die Willensfreiheit und die Zurechnungsfähigkeit, die ihm im Moment der Tat abhandengekommen waren. Ein anderes Beispiel liefert das Verhörprotokoll von Samuel B., der seine Tochter entführte und zu erdrosseln versuchte: „Ich fasste das Kind am Halse, mit dem Vorsatze, es zu erwürgen. Wie lange ich das Kind würgte, ist mir nicht klar; es ist möglich, dass ich durch das wiederholte Klopfen an meiner Zimmertüre veranlasst wurde, von meinem Kinde abzulassen. Ich erinnere mich bloss, dass unversehend meine schwarzen Gedanken von mir wichen und mir meine Handlungsweise plötzlich zum Bewusstsein kam.“ 221 Ähnlich wie Samuels ‚schwarze Gedanken‘, die diesem das ‚Bewusstsein‘ und den freien Willen raubten, waren auch die Aussagen, die Carlo P. über seinen Geisteszustand machte, konstitutiver Bestandteil des Narrativs: „Nachdem ich 2 mal geschossen hatte kam ich wieder etwas zur Besinnung, obwohl mein aufgeregter Zustand noch andauerte.“ 222 Indirekt bedeutete dies, dass Carlo gemäß seinem Narrativ die ‚Besinnung‘ im Augenblick der Tat verloren hatte. Schließlich gaben drei fatale Gewalttäter an, nicht nur ihre Besinnung oder ihr Bewusstsein, sondern ihre Erinnerung an die Tat vollständig verloren zu haben. 223 Insgesamt lässt sich aber festhalten, dass nur sechs der dreißig fatalen Gewalttäter angaben, im Moment der Tat die Vernunft verloren zu haben. Das spricht wiederum dafür, dass die Untersuchungsrichter trotz der Wichtigkeit der Frage der Zurechnungsfähigkeit bei den Verhören zurückhaltend vorgingen und die Angeschuldigten und Zeugen mit offenen Fragen zum Erzählen animierten und die Aktuare das Gesagte im Wesentlichen so aufschrieben, wie es von den Verhörten wiedergegeben wurde. Das Sprechen über die Gefühle und Gemütszustände stand also in den meisten Fällen nicht im Zusammenhang mit der juristischen Frage nach der vollständigen (Un)Zurechnungsfähigkeit. Für die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit spielte seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend das Konzept der ‚geminderten Zurechnungsfähigkeit‘ eine wichtige Rolle. Grundlegend war dabei die Annahme, dass Straftäter 219 Ludi (1999), S. 50-55. 220 StAB BB 15. 4. 2462 3558. 221 StAB BB 15. 4. 2089 1817. 222 StAB BB 15. 4. 1952 1097. 223 StAB BB 15. 4. 1901 835; 2225 2638, 2225 2639. 138 zwar nicht vollständig unzurechnungsfähig, aber auch nicht gänzlich zurechnungsfähig sein konnten. Die bipolare Unterscheidung von Vernunft und Wahnsinn wurde dabei ersetzt durch ein System der graduellen Abstufung, welches im Grunde der aufgeklärten Strafrechtsphilosophie mit ihrer Opposition von Vernunft und Wahnsinn widersprach. Wie Foucault zeigt, öffnete die Einführung der geminderten Zurechnungsfähigkeit im 19. Jahrhundert den Weg für eine zwar nicht widerspruchsfreie, aber doch sehr enge Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Strafjustiz. 224 In der Folge soll daher kurz auf den humanwissenschaftlich-medizinischen Blick auf das Verbrechen eingegangen werden, der für die Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit im 19. Jahrhundert immer wichtiger wurde. Das folgende Zitat des Schweizer Psychiaters Auguste Forel aus dem Jahr 1907 zeigt, dass die Humanwissenschaften Psychiatrie und Kriminologie Gesetzesverstöße nicht mehr länger als eine moralphilosophische Frage betrachteten, sondern als Ausdruck und Folge sozialer Missstände und individueller Geisteskrankheit oder Anomalie: „Ist [das Strafrecht] noch in die Zwangsjacke des römischen Rechtes und metaphysischer Vorurteile eingezwängt, oder ist es fortgeschritten mit den Fortschritten unserer Erkenntnis über die Natur des Menschen, über sein Gehirn und seine Seele? Ist das Strafrecht für das Wohl der menschlichen Gesellschaft da, oder ist es immer noch nur das rächende Instrument des in seinen Rechten verletzten Menschen oder einer, wie man behauptete, beleidigten Gottheit? Hat es sich vor allem mit dem begangenen Verbrechen und seiner Sühne zu beschäftigen, oder hat es außerdem und besonders die Ursachen des Verbrechens in der menschlichen Seele und Gesellschaft zu studieren, ebenso, die Mittel, sie zu bekämpfen. Muss es immer und ewig auf seinen Augen die traditionelle Binde der Themis behalten, oder muss es dieselbe entschlossen abwerfen, die Augen über die Natur des Verbrechens öffnen und daran arbeiten, seiner Entwicklung und seinen Handlungen zuvorzukommen, wie die moderne Medizin danach strebt, den Krankheiten vorzubeugen, da es oft so schwierig ist, sie zu heilen, wenn sie da sind? “ 225 Obwohl Forel nicht direkt für die Abschaffung des nach den Prinzipien der Aufklärungsphilosophie funktionierenden Strafrechts plädierte, richteten sich seine Einwände gegen deren Grundpfeiler der Tatbezogenheit und der Willensfreiheit. Diese Prinzipien waren für Forel eher hinderlich denn förderlich für die Verbrechensbekämpfung. Ein auf moralphilosophischen, oder wie Forel meinte, 224 Die geminderte Zurechnungsfähigkeit wurde in Frankreich 1832 eingeführt. Laut Foucault wurde diese eingeführt, weil die Geschworenen oft auf Unzurechnungsfähigkeit entschieden, um das harte Strafmaß zu verhindern, welches das kodifizierte Recht vorschrieb. Das Gericht musste die Angeklagten freisprechen. Durch die Einführung der geminderten Zurechnungsfähigkeit wurde es möglich, das Strafmaß anzupassen. Foucault (2007d), S. 23 f. Ähnlich zu Deutschland: Wetzell (2000), S. 79-83. 225 Forel (1907), S. 1. 139 ‚metaphysischen Vorurteilen‘ beruhendes Strafrecht galt diesem als Relikt aus der Vergangenheit. Für Forel hatte das Verbrechen eine ‚Natur‘. Dessen Ursachen würden daher nicht mehr im Willen eines Subjekts, sondern in den „konstitutionellen Seelenabnormitäten“ sowie in den sozialen „Verhältnissen“, in denen das Subjekt lebte, liegen. 226 Er erklärte: „Eine der modernen Wissenschaften, die sich aus diesen Fortschritten abgeleitet hat, ist die kriminelle Anthropologie.“ 227 Der humanwissenschaftlich-medizinische Blick auf das Verbrechen im 19. und frühen 20. Jahrhundert führte im Kanton Bern allerdings nicht zu einer Abwendung von den moralphilosophischen Prinzipien des aufgeklärten Strafrechts. Das Gericht traf Schuldsprüche und stellte keine Diagnosen. Ob die Zurechnungsfähigkeit eines Straftäters psychiatrisch begutachtet wurde, lag im Ermessen der Juristen; in erster Linie waren der Untersuchungsrichter, auch der Generalprokurator oder der Anwalt des Angeklagten befugt, eine psychiatrische Expertise des Angeklagten einzufordern. Auf eigene Initiative konnten die Psychiater keine Gutachten ausstellen. Sie waren im Gerichtsverfahren stets nur Sachverständige des Gerichts. 228 Trotz oder gerade wegen ihrer Rolle als Expertin nahm die Psychiatrie im Kanton Bern im Verlauf der Untersuchungsperiode immer mehr Einfluss auf die Strafjustiz. 229 Urs Germann zeigt in einer empirischen Studie auf, dass die Zahl der psychiatrischen Gutachten zur Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit zwischen 1885 und 1920 im Kanton Bern markant anstieg, obwohl die Zahl der Anklagen in Strafsachen während dieser Zeitspanne insgesamt rückläufig war. 230 Auch für die schweren Gewaltdelikte im Amtsbezirk Bern ist eine Steigerung der Gutachtertätigkeit auszumachen. Insgesamt nahmen die Richter die Expertise 226 Forel (1907), S. 8. 227 Forel (1907), S. 8. 228 Gesetzbuch über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern von 1854, Art. 100. 229 Die Gutachtertätigkeit der Medizin zwecks Bestimmung des Geisteszustandes eines Straftäters zum Zeitpunkt der Tat ist älter als das Konzept der ‚geminderten Zurechnungsfähigkeit‘. Zur vermehrten Zuhilfenahme der medizinischen Expertise kam es ab 1700 im Zusammenhang mit dem Aufkommen der medizinischen Säftelehre im 18. Jahrhundert, welche die alten religiösen Vorstellungen des Wahnsinns ablöste, die davon ausgingen, dass der Wahnsinn mit der Präsenz von Dämonen zusammenhing. Mit der Säftelehre wurden Gemütszustände als etwas somatischpsychisches erkannt. Der Wahnsinn als Gegenteil der Vernunft wurde dadurch im Verlauf des 18. Jahrhunderts langsam zu einem Problem, das in den Bereich der Medizin gelangte. In diesem Zusammenhang etablierte sich die Psychiatrie in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts als eigenständige Subdisziplin der Medizin. Zunehmend kam ihr vor Gericht die Rolle der Expertin zu. Allerdings ging es dabei vorläufig nur um die Frage, ob jemand zurechnungs- und daher schuldfähig war oder nicht. Zur Praxis der medizinischen Gutachten für die Strafjustiz im Zeitalter der Aufklärung vgl. Lorenz (1999), S. 256. Im Verfahren der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina) war eine ärztliche Expertise nicht vorgesehen. Allerdings hatte die Meinung der Physici vor gewissen religiösen Gerichten eine Bedeutung. Vgl. Fischer-Homberger/ Ernst (1988), S. 135. 230 Germann (2004), S. 190-195. 140 der Ärzte in 25 Fällen in Anspruch. Bezeichnenderweise fallen bis auf zwei Ausnahmen alle diese Fälle in die Zeit nach der Jahrhundertwende. Auffällig ist, dass es sich bei den 25 begutachteten Angeklagten bei Gewaltdelikten bis auf sechs Ausnahmen um fatale Gewalttäterinnen und Gewalttäter handelt. 231 Bei der fatalen Gewalt mit ihren spezifischen Handlungs- und Erzählmustern tendierten die Untersuchungsrichter also dazu, psychiatrische Gutachten einzuholen. In den Fällen mit ehrbezogener Gewalt hielten sie diese Hilfestellung für die Urteilsbildung bis auf drei Ausnahmen nicht für notwendig. Eine dieser Ausnahmen wurde weiter oben bereits erwähnt. 1875 ließen die Richter den Messerstecher Johann L. psychiatrisch begutachten. Wie gezeigt, machte Johann L. - im Unterschied zu allen anderen geselligen Gewalttätern - neben den situativen Umständen auch seinen subjektiven Krankheitszustand für seine Gewalttat verantwortlich. 232 Der subjektive Erzählstil hat den Entscheid des Untersuchungsrichters, ein psychiatrisches Gutachten erstellen zu lassen, offenbar wesentlich beeinflusst. Die Zunahme der Gutachtertätigkeit scheint daher nicht unabhängig vom Aufkommen der Handlungs- und Erzählmuster der fatalen Gewalt stattgefunden zu haben. Diesen Punkt greife ich weiter unten wieder auf. An dieser Stelle geht es vorerst darum, zu zeigen, dass der humanwissenschaftlich-medizinische Diskurs über die Zurechnungsfähigkeit in der Berner Strafjustiz vor allem nach der Jahrhundertwende sehr prägend war. Dies lässt sich anhand des Gutachtens über den Schneider Adolf Z. aus dem Jahr 1935 illustrieren. Die Zurechnungsfähigkeit Adolfs, der seine Frau erschossen und vor der Tat Selbsttötungsabsichten geäußert hatte, wurde wie folgt beschrieben: „Des Angeschuldigten Bewusstsein war zur Zeit der Tat, wenn sich diese so oder ähnlich zutrug, wie wir vermuten, nicht wesentlich gemindert, aber seine Willensfreiheit war in mittlerem Grade unverschuldet gemindert. Je vorbedachter die Tat war, & je länger ihre Ausführung dauerte, desto weniger gemindert war natürlich die Willensfreiheit des Exploranden. Ganz unvermindert war sie jedoch auf keinen Fall, denn Explorand ist ein schizoider Psychopath & chronischer Alkoholiker & deshalb sowieso in seiner Willensfreiheit beeinträchtigt.“ 233 Der Psychiater scheint in seinem Gutachten verschiedene Facetten der Zurechnungsfähigkeit respektive der Unzurechnungsfähigkeit bedient zu haben, ohne sich auf der imaginären Skala möglicher Differenzierungen festlegen zu wollen. Eines glaubte er jedoch sicher zu wissen: Adolf sei unabhängig von der Tat ein ‚schizoider Psychopath‘ und ‚chronischer Alkoholiker‘. Dadurch leitete er 231 Wie in Fußnote 217, S. 136 erwähnt, wurde ein Gewalttäter zweimal begutachtet. 232 StAB BB 15. 4. 1250 4917. Bei den beiden anderen Fällen handelt es sich um Jules N., der 1905 seinen Vater tötete (StAB BB 15. 4. 1795 256) und den Landarbeiter Johann P., der 1908 auf seinen Nachbar schoss (StAB BB 15. 4. 1859 634). Bei den restlichen drei Fällen, in denen die Angeschuldigten psychiatrisch begutachtet wurden, handelt es sich um Fälle mit Bereicherungsgewalt, die ich in dieser Untersuchung nicht berücksichtige. StAB BB 15. 4. 1765 50; 1921/ 1922 952; 2500 3684. 233 StAB BB 15. 4. 2472 3593. 141 ab, dass Adolfs Willensfreiheit auf jeden Fall weder ganz aufgehoben noch vollständig vorhanden sei. Das gibt den Umgang der Psychiatrie mit dem Verbrechen wieder, wie ihn Forel forderte. Die Tatsache, dass Adolfs Zurechnungsfähigkeit gemindert war, leitete sich für den Psychiater nicht aus den direkten Umständen der Tat ab, sondern aus seiner „angeborenen moralischen Schwäche“ und dem Alkoholmissbrauch. Die Psychiatrie war gewissermaßen auf der Suche nach der ‚Natur des Verbrechens‘, wie Forel es ausdrückte. Für den Psychiater war Adolf deshalb völlig unabhängig von der Tötung seiner Frau in einem nicht klar bestimmten Grad gemindert zurechnungsfähig. Die Tat diente ihm lediglich als Beweis, dass mit Adolf grundsätzlich etwas nicht stimmte. Unter dem humanwissenschaftlich-medizinischen Blick war Adolf ein krankes, anormales und darüber hinaus für die Gesellschaft gefährliches Subjekt. Das Gutachten schlug deshalb vor: „Aus allem dem geht hervor, dass bei einer eventuellen Verurteilung des Exploranden die Freiheitsstrafe gerade wegen der verminderten Zurechnungsfähigkeit möglichst hoch, nicht möglichst niedrig bemessen werden sollte. Wird Explorand aber nicht verurteilt, oder wegen fahrlässiger Tötung nur zu einer relativ kurzen Strafe, so gehört er nachher für eine möglichst lange Zeit administrativ in eine Arbeitsanstalt versorgt. Auf alle Fälle sollte er vor seiner Entlassung in die Freiheit psychiatrisch daraufhin untersucht werden, ob diese nun ohne Gefahr gewagt werden könne.“ 234 Wiederum wird deutlich, wie das psychiatrische Gutachten das Konzept der ‚Zurechnungsfähigkeit‘ in der moralphilosophischen Bedeutung verdrehte und ad absurdum führte. Die geminderte Zurechnungsfähigkeit sollte zur Erhöhung und nicht zur Senkung des Freiheitsentzugs führen. Auffallend ist auch, dass der Psychiater für den Fall eines gerichtlichen Freispruchs eine administrative Versorgung vorschlug und er es als Aufgabe der psychiatrischen Expertise betrachtete, eine Empfehlung abzugeben, ob und wann Adolf wieder aus einer Anstalt, sei es nun ein Gefängnis oder eine andere Einrichtung, entlassen werden konnte. Adolf Z. wurde von den Geschworenen des Totschlags schuldig gesprochen und das Gericht legte eine siebenjährige Zuchthausstrafe fest. Das war eine relativ hohe Strafe. Das Urteil zeigt, wie in diesem Gerichtsfall die Richter die Logik des psychiatrischen Gutachtens aufnahmen. Obwohl keine „Schuld- und Strafmilderungsgründe“ vorlagen, hielt das Gericht fest, dass „es sich beim Angeklagten um einen erblich belasteten Psychopathen und chronischen Alkoholiker [handelt], der die Tat im Zustand geminderter Zurechnungsfähigkeit begangen hat und in hohem Grade gemeingefährlich ist.“ 235 Dieses Beispiel zeigt, wie stark der Einfluss der Psychiatrie auf die Berner Strafjustiz gegen Ende der Untersuchungsperiode war. Die Psychiatrie und ihre Sicht auf die Zurechnungsfähigkeit wurde während der Untersuchungsperiode im Amtsbezirk Bern zum integrativen Bestandteil der 234 StAB BB 15. 4. 2472 3593. 235 StAB BB 15. 4. 2472 3593. 142 Strafjustiz. Die Fälle, die in Zusammenhang mit fataler Gewalt standen und in denen die Angeschuldigten durch ein ausführliches Sprechen über die eigenen Gefühle und das seelische Innenleben ihre Subjektivität thematisierten, nehmen im Amtsbezirk also - gemessen an der steigenden Zahl psychiatrischer Gutachten - ungefähr gleichzeitig mit dem medizinischen Wissen über die Verbrecher im Allgemeinen und die Zurechnungsfähigkeit im Besonderen zu. Es waren überwiegend fatale Gewalttäter, die psychiatrisch begutachtet wurden. Es stellt sich daher die Frage, ob Gewalttäter und insbesondere fatale Gewalttäter in ihren Verhören zunehmend das medizinische Konzept der ‚geminderten Zurechnungsfähigkeit‘ bedienten, wenn sie über ihre eigene Subjektivität sprachen. Zuerst gilt es aus quellenkritischer Sicht hervorzuheben, dass der Einfluss des psychiatrischen Wissens sich zweifelsfrei auf die Verhörtechnik der Untersuchungsrichter auswirkte. Die letzte, ausnahmsweise notierte Frage des Verhörs, die der Untersuchungsrichter an Paul L. richtete, der sich nicht mehr daran erinnern konnte, seine Geliebte erschossen zu haben, lautete: „Ist in ihrer Familie jemand geisteskrank? “ 236 Das war 1924, als die Vererbungslehre, die davon ausging, dass Geisteskrankheiten von einer auf die andere Generation übertragen werden, ihrem Höhepunkt entgegenging. 237 Alfred Z., der 1941 seine Mutter in die Aare stieß und anschließend selbst in den Fluss sprang, um sich zu töten, gab an, „nicht geisteskrank“ zu sein. 238 Auch diese Aussage steht ganz am Schluss des Verhörs, was verrät, dass sie auf einer entsprechenden Frage des Untersuchungsrichters beruhte. Dies bedeutet auch, dass die Frage nach der Geisteskrankheit für Pauls und Alfreds Schilderungen der eigenen Subjektivität in den Selbstzeugnissen nicht konstitutiv war. 239 Es finden sich in mehreren Fällen auch Verhör- und Zeugenaussagen zur Geisteskrankheit der Angeklagten, die nicht direkt durch eine Frage des Untersuchungsrichters provoziert worden zu sein scheinen. Sie sind für unsere Fragestellung interessanter, da sie darauf verweisen, dass sich nicht nur die Untersuchungsrichter psychiatrisches Wissen aneigneten, sondern sich auch die verhörten Angeschuldigten und Zeugen selbst dieses Diskurses bedienten. Von den sehr seltenen Verweisen auf Geisteskrankheit in den Selbstzeugnissen der Angeklagten von ehrbezogener körperlicher Gewalt war bereits die Rede. Erstaunlicherweise sind auch in den Selbstzeugnissen fataler Gewalttäter Verweise auf Geisteskrank- 236 StAB BB 15. 4. 2225 2639. 237 Zur Eugenik in Deutschland: Wetzell (2000), S. 233-294; in der Schweiz: Wecker u. a. (2013). 238 StAB BB 15. 4. 2661/ 2662 4169. 239 Im „Verteidigungsmemorial“ des russischen Studenten Michael von D. (vgl. Kapitel 5) schrieb dessen Anwalt: „D. stammt aus einer alten russischen Adelsfamilie des Kaukasus, in welcher hochgradige Nervosität und Aufgeregtheit sich bei mehreren Familienangehörigen gezeigt haben. Aus diesen Gründen endeten zwei Ahninnen des D. mit Selbstmord. D. selbst, zwei Monate zu früh zur Welt gekommen, war vom Anfang an sehr nervös und leicht erregbar. Diese Schwächen sind ihm geblieben und müssen mit in Betracht gezogen werden.“ StAB BB 15. 4. 1698 9286. 143 heit und Anomalie sehr selten. Der einzige fatale Gewalttäter, der sich explizit als dauerhaft geisteskrank und anormal beschrieb, war Samuel B., der 1918 im Hotel Schweizerhof seine vierjährige Tochter zu erwürgen versuchte. Auf Samuels Aussagen wurde bereits im Zusammenhang mit dem moralphilosophischen Konzept der ‚Willensfähigkeit‘ eingegangen. Samuel bezog sich aber nicht nur auf das Konzept der ‚vollständigen Unzurechnungsfähigkeit‘, sondern auch auf die humanwissenschaftlich-medizinische Logik der geminderten Zurechnungsfähigkeit. Samuel erklärte, weshalb ihm seine ‚schwarzen Gedanken‘ gekommen waren: „Ich habe seit ca. 6 Monaten infolge meiner beständigen Aufregung, welche auf den Scheidungsprozess zurück zu führen ist, sozusagen öfters das geistige Gleichgewicht verloren. Meine unbesonnene Tat im Hotel Schweizerhof in Bern muss ebenfalls in einem Momente geistiger Umnachtung begangen worden sein. Ich bin in Deutschland wegen dem geistigen abnormalen Zustand militärfrei geworden. Ferner bin ich vor ca. 17 Jahren wegen Geisteskrankheit in Strassburg für kurze Zeit in eine Nervenheilanstalt verbracht worden.“ Auch Samuels Ex-Frau benutzte das Konzept der ‚Abnormalität‘: Samuel würde an „sexueller Abnormalität“ leiden und sei „eben geschlechtlich pervers“. Diese Aussagen verwiesen nicht mehr auf einen vorübergehenden Moment, in dem das handelnde Subjekt seine Vernunft verlor, sondern auf einen dauerhaften Krankheitszustand des Subjekts, der unabhängig von der Tat bestand. Samuels Ex-Frau bezog ihre Aussage über dessen angebliche ‚Abnormalität‘ und ‚Perversion‘ bezeichnenderweise nicht auf den Tötungsversuch der Tochter, sondern auf ihre ständige „Angst“, dass Samuel mit der gemeinsamen Tochter hätte „Unsittlichkeiten treiben“ können. 240 Es lässt sich also festhalten, dass der medizinische Diskurs über anormale Subjektivität und verminderte Zurechnungsfähigkeit trotz seiner unverkennbaren Präsenz im Berner Strafjustizwesen nur sehr vereinzelt Spuren in den Selbstzeugnissen der fatalen Gewalttäter hinterließ. Die fatalen Gewalttäter aus dem Amtsbezirk Bern beschrieben sich bis auf eine Ausnahme nicht als anormal oder geisteskrank. Das moralphilosophische Konzept des ‚Vernunftsubjekts‘ war in rund einem Fünftel der dreißig fatalen Gewalttäter ex negativo präsent, indem die Angeklagten behaupteten, die Tat im Wahn, der Besinnungs- und Bewusst- 240 StAB BB 15. 4. 2089 1817. In drei weiteren Fällen bezeichneten nur die Zeugen die Angeschuldigten im Vorfeld der Tat als nicht ‚normal‘. Beispielsweise erinnerte sich der Wirt des Wirtshauses Wangenbrüggli: „[Werner F.] bestellte bei mir noch Tee, ich sagte ihm, er sei heute nicht normal, er sagte darauf, es müsse heute noch etwas gehen, es gebe heute noch einen Krach wie noch nie im Wangenbrüggli, es sei ihm gleich, wenn er lebenslänglich bekomme.“ Während Werner F. sich selbst im ‚Eifersuchtswahn‘ wähnte und damit eher auf das moralphilosophische Konzept der ‚vollständigen Unzurechnungsfähigkeit‘ verwies, das mit der Dichotomie ‚vernünftig-wahnsinnig‘ operierte, rückte der Wirt Werners Zustand in die medizinische Perspektive der ‚Abnormalität. StAB BB 15. 4. 2462 3558. Im Gerichtsfall gegen Karl G. sagte eine Nachbarin aus, dass dieser „seit ca. 14 Tagen total verrückt gewesen“ sei. Dessen Schwester gab zu Protokoll, dass sie „[s]eit einiger Zeit die Wahrnehmung gemacht [hatte], dass [Karl] geistig nicht normal ist“. StAB BB 15. 4. 2205 2531. Vgl. auch StAB BB 15. 4. 2225 2638. 144 seinslosigkeit verübt zu haben. In den meisten Erzählungen der Angeklagten über fatale Gewalt spielte jedoch weder die Negation der Vernunft noch die Anomalität eine Rolle. Die Thematisierung der eigenen Subjektivität führte an der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit vorbei. Die Selbstzeugnisse fataler Gewalttäter als tragische Erzählungen Um den subjektiven Aussagen in den Verhören auf die Spur zu kommen, lohnt es sich, die Selbstzeugnisse - das heißt die Verhörprotokolle, die selbstverfassten Lebensläufe und die (Abschieds-)Briefe - wie bereits bei den ehrbezogenen Gewalttypen als zusammenhängende Erzählungen zu analysieren. Dabei gilt es, nicht so sehr nach den diskursiven Zusammenhängen einzelner Aussagen zu suchen, als vielmehr die Aussagen über die eigene Subjektivität als Teil einer Erzählung zu deuten. Der Fokus wechselt von der einzelnen Aussage auf die ganze Erzählung. Auch die Art und Weise wie fatale Gewalttaten erzählt wurden, stellt eine historische Tatsache dar, die Aufschluss über das Phänomen der fatalen Gewalt geben kann. In fünf Fällen mit fataler Gewalt lassen sich zwar anhand der Untersuchungsakten die für die fatale Gewalt typischen Eigenschaften der gezielten Tötung und der Selbsttötungsabsicht beziehungsweise des Selbsttötungsversuchs rekonstruieren. Die Angeschuldigten selbst schilderten ihre Gewalttat aber ausschließlich im Stil der ehrbezogenen Gewalt als Interaktion mit ihrem Opfer. In diesen Erzählungen fehlen Aussagen zur eigenen Subjektivität. Es handelt sich dabei um Tötungen beziehungsweise Tötungsversuche von Ehefrauen und Geliebten, bei denen die Angeschuldigten das Narrativ der Züchtigung verwendeten, um die angewendete Gewalt zu rechtfertigen. 241 Niklaus P., der nach einem Wirtshausbesuch auf den Liebhaber seiner Frau und dessen zwei Kameraden schoss, sprach über sein Handeln wie es die geselligen Gewalttäter der Frühen Neuzeit in der Regel taten und dies, obwohl Zeugen angaben, dass er seine Tat sowie seine Selbsttötung im Voraus ankündigt hatte. 242 In einem Fall weist das Verhör des Angeschuldigten zwar Aussagen zur Subjektivität auf, ohne dass diese aber Teil einer tragischen Erzählung sind. Ferdinand H., ein „Commis“ aus München, strich explizit 1884 die Affektivität der Gewalt heraus: „Möglich ist, dass ich im Affekte - denn ich war infolge der Schmähungen & der Handlungen meiner Frau überhaupt im Zustande äußerster Gereiztheit - mit dem Dolchmesser auf sie zugegangen bin; möglich aber auch, dass sie sich mir entgegenwarf, von selbst in das vorgehaltene Dolchmesser stürzte. [...] Nach dem erfolgten Stich beruhigten wir uns wieder & wir giengen gleichen Abends nach in bester Stimmung & vollständig versöhnt zu Mätzenberg.“ 243 Diese Aussage des Angeschuldigten 241 StAB BB 15. 4. 1452 7520; 1725 9519; 1939 1028; 2476 3593; 2576 3919. 242 StAB BB 15. 4. 1907 873. 243 StAB BB 15. 4. 1474 7359. 145 bezeugt zwar die moderne Wahrnehmung der Gewalt als etwas Affektives und Leidenschaftliches, die für Norbert Elias’ Zivilisierungstheorie grundlegend ist. Gleichzeitig verweist der Umstand, dass Ferdinand es für möglich hielt, dass sich seine Frau Celine ins Messer werfen wollte, auf die Semantik des gemeinsamen Sterbens, welche die fatale Gewalt charakterisiert. In den anderen Fällen, die in Zusammenhang mit fataler Gewalt stehen, lassen sich in den Erzählungen der Angeschuldigten Spuren des Tragischen finden. Auch hier verhält es sich wiederum gleich wie in den Pariser Verhörprotokollen aus den 1870er-Jahren. Guillais spricht in diesem Zusammenhang mit Anspielung auf die Unterschichtszugehörigkeit der meisten criminels passionnels von „commonplace Othellos“. 244 Exemplarisch aufzeigen lässt sich der tragische Erzählstil anhand der Selbstzeugnisse von Germaine H., die 1935 ihren fünfjährigen Sohn tötete. 245 Im Verhörprotokoll Germaines ist zu lesen: „Ca. 20.15 kamen wir heim. [Fritz S.] kam Punkt 9 Uhr, das Kind war schon im Bett. [Er] wollte wissen, wie die näheren Umstände des Selbstmordes [von Max H.] seien. Ich gab aber darauf keine Auskunft. [Fritz] sprach mir noch zu, ich solle die Sache nicht so tragisch nehmen. Er wollte mir auch einige grössere Noten geben, ich schob diese aber zurück und sagte, damit sei mir nicht geholfen. Ich machte eine Andeutung, ich hätte [Max] versprochen, ihm mit Jimmi nachzufolgen und jetzt sei ich immer noch da. Ich glaube, [Fritz] hat diese Andeutung nicht recht verstanden. Ich habe sofort bereut, diese Andeutung gemacht zu haben. [Fritz] ging dann bei mir ca. um 23.00 fort. Ich hatte nun im Sinn das Kind und mich zu töten. Ich zog mich aus und ging ins Bett. Das Kind schlief neben mir im Nebenbett. Die Pistole hatte ich bei mir. Ich wartete die ganze Nacht bis das Kind fest schlafe. […] Unterdessen wurde es ca. 7 Uhr. Im Hause wurde es lebendig. Ich sagte mir nun, ich wolle nicht feig sein. Ich schoss dann auf das Kind.“ Germaines Erzählung erstreckt sich über das Verhörprotokoll und zwei Lebensläufe, von denen der erste vermutlich im Auftrag des Untersuchungsrichters geschrieben wurde, der zweite für die psychiatrische Expertise. Vervollständigt wird die Erzählung durch Germaines Abschiedsbrief. Selbstverständlich gibt es zwischen den vier Texten gewichtige Unterschiede. Den Abschiedsbrief und die Lebensläufe schrieb Germaine im Gegensatz zum Verhörprotokoll selbst. Den Abschiedsbrief verfasste sie zudem aus eigener Motivation; die Lebensläufe hingegen im Auftrag der gerichtlichen Instanzen. Auch der Zeitpunkt der Entstehung unterscheidet sich. Sowohl das Verhörprotokoll als auch die Lebensläufe entstanden nach der Tat, der Abschiedsbrief davor. Die erzähltheoretische Perspektive erlaubt es, die Unterschiede zwischen den Dokumenten für den Moment auszublenden, da es hier einzig um die narrative Struktur der Texte geht. Die Frage nach den unterschiedlichen Entstehungszeitpunkten der Texte soll erst 244 Guillais (1991), S. 55-61. 245 StAB BB 15. 4. 2498 3681. 146 wieder nach der Analyse der Erzählung aufgegriffen werden. Die Angeschuldigte Germaine interessiert uns aus diesem Blickwinkel vorübergehend weder als Gewalttäterin noch als Autorin der Selbstzeugnisse, sondern lediglich als Figur einer Erzählung. Ob die Figur und die Erzählung fiktiv sind oder sich auf Fakten stützten, ist dabei unbedeutend. In der Folge wird gezeigt, dass Germaines Erzählung in einem literarischen Sinn tragisch ist - wie sie es in ihrem Verhör ansprach - und Germaine als autofiktionale Figur die Kriterien einer tragischen Heldin erfüllt. Die beiden Lebensläufe beginnen ihrem Genre entsprechend mit der Geburt Germaines. Es folgen knappe Angaben zu den Grundschulen, die Germaine besuchte, und zu den Lehrern und Lehrerinnen, die sie unterrichteten. Bereits hier rückt der Fokus ein erstes Mal auf die Hauptfigur der Erzählung. Als dreizehnjähriges Mädchen war Germaine ein knappes Jahr in Kur in Leysin wegen „so etwas wie einer Knochentuberkulose“. Trotz guter Genesung der Krankheit hinterließ dieser Aufenthalt in der Klinik bei Germaine bleibende Spuren. „Diese Kur heilte natürlich meinen Arm, meine Seele jedoch ward verdorben.“ Germaine führt aus: „[D]as will heissen, dass ich seit diesem Leysin schrecklich sentimental, melancholisch und deprimiert geworden bin.“ Gleich zu Beginn der Erzählung stößt der Leser also auf das, was ich weiter oben als ein Sprechen über die Gefühle und die Thematisierung der eigenen Subjektivität in den Verhörprotokollen diskutiert habe. In einem narratologischen Blickwinkel treten die gleichen Aussagen im Lebenslauf von Germaine als ein erzählerisches Mittel in Erscheinung, um den Charakter der Figur Germaine genauer vorzustellen. Die Schilderung der Kinder- und Jugendjahre verleihen dem Charakter Germaines weitere Tiefe. Während der Kuraufenthalt in Leysin in beiden Lebensläufen Erwähnung findet, beinhaltet die Version für den Psychiater noch zwei weitere „Episoden“ aus der Schulzeit. Bei der ersten handelt es sich um einen Ausreißversuch nach Genf. Dort hat Germaine „wohl ganz blöd ins Wasser geschaut“, worauf sie von „[i]rgendjemand[em]“ aufgenommen wird und einige Tage später nach Hause zurückkehrt. Obwohl Germaine durch ihr Ausreißen den Eltern „schweren Kummer“ bereitet, „ging zu Hause alles wie am Rädchen“. Die zweite ‚Episode‘ betrifft nicht einen angedeuteten, sondern einen tatsächlich ausgeführten Selbsttötungsversuch, für den Germaine „der Grund“ allerdings „unbekannt“ ist: „Als ich von der Schule nach hause kam, sperrte ich mich in die Küche ein, es war kein Mensch zu Hause. Ich öffnete den Gashahn, marschierte in der Küche umher, immer auf das Brausen des heranströmenden Gases horchend, tief atmend bis es mich überschlug.“ Germaine kommentiert: „Später erinnerte man mich daran, und sagte mir zum Spass, das habe damals eine hohe Gasrechnung gegeben.“ Und sie resümiert: „Dies [der angedeutete und der explizit erwähnte Selbsttötungsversuch] sind so ungefähr die einzigen Begebenheiten von ein bischen Bedeutung während meinen Schuljahren.“ 147 Auf Wunsch ihres Vaters tritt Germaine nach der obligatorischen Schulzeit mit sechzehn Jahren eine „Bureaulehrzeit“ in einer Anwaltskanzlei an, die sie „jedoch nicht beenden konnte.“ Germaine erklärt den Abbruch der Ausbildung im Lebenslauf für den Untersuchungsrichter folgendermaßen: „Damals besass ich eine überempfindliche Seele; ein einziges Mal ging ich auf das Obergericht in Bern, um im Auftrage meines Prinzipals, Akten aus einem Scheidungsprozess abzuschreiben. Die traurigen Geschehnisse, die in diesen Akten standen, gingen mir so zu Herzen, dass ich diesen Beruf in Hinsicht auf meine Gesundheit verlassen musste.“ Germaine beendet die Berufsschule aber trotzdem und wechselt zwei Mal in Bern die Stellung als Büroangestellte, ehe sie Bern verlässt, um berufshalber nach Paris zu ziehen. In der französischen Metropole nimmt Germaines Liebesleben seinen Anfang. „Nun: hielt der Mann Einzug in mein Leben. Zum Voraus will ich bemerken, dass alle, mit denen ich in Beziehung kam, mir öfters sagten: Du bist eine rätselhafte Frau, aus Dir kommt man nicht heraus, du bleibst vollkommen unverständlich.“ Im Lebenslauf für den Untersuchungsrichter erfährt der Leser mehr über Germaines erste Beziehung. In Paris lernt sie einen „Russe[n]“ kennen, den Vater ihres Sohnes Jimmy, den sie im Alter von neunzehn Jahren zur Welt bringt. Im Lebenslauf für den Psychiater schreibt Germaine, dass der Vater von Jimmy ihr sagt: „’Tu es une drôle de femmes, je ne peux pas te comprendre, mais tu es quand même si gentille, toi mon cœur.’ Ja, diese Worte habe ich oft gehört, ich hörte sie gerne, oh ja ich liebte diese Worte. Dieser Mann war der erste, den ich lieb haben konnte und dem ich angehörte.“ Die bisherigen Ausführungen vermitteln dem Leser ein genaues Bild von der Figur Germaine. Die Ausführungen zur Schul- und Lehrzeit, zu ihrem beruflichen Werdegang und zur ersten Liebesbeziehung zeichnen Germaine als facettenreiche Person mit einer ‚überempfindlichen‘ oder ‚verdorbenen Seele‘. Selbsttötungsversuche geben ihrem Leben ‚Bedeutung‘ und unterstreichen ihr ‚sentimentales‘, ‚melancholisches‘ und ‚deprimiertes‘ Wesen. Gleichzeitig ist Germaine aber auch eine ‚rätselhafte‘ Liebhaberin - eine drôle de femmes -, die einen Mann liebt und ihm ‚angehört‘. In narrativer Hinsicht stellt diese Charakterisierung Germaines die Exposition der Geschichte dar, bevor die eigentliche Handlung oder der Plot einsetzt. Der Kuraufenthalt, die Selbsttötungsversuche und die Liebesbeziehung sind nur insofern bedeutsam, als sie dem Leser zeigen, dass es sich bei Germaine um eine sonderbare und leidenschaftliche junge Frau handelt. Zudem wird klar, dass sie die unbestrittene Hauptfigur der Erzählung ist. Dass die Handlung der Erzählung eine tragische ist, wird durch die Charakterbeschreibung angedeutet. Die Leidenschaftlichkeit Germaines birgt existenzielle Gefahren, wie die zwei Selbsttötungsversuche zeigen. Auch das schwierige Verhältnis der drôle de femmes zu den Männern, das zwischen völliger Hingabe und ewigem Unverständnis pendelt, ist bereits ansatzweise erkennbar. Zwar ist 148 in Germaines Leben bis zu diesem Zeitpunkt noch alles in Ordnung. Die Dinge laufen, um es mit ihren eigenen Worten zusammenzufassen, ‚wie am Rädchen‘. Aber der jähe Fall nach der Exposition ist gerade aufgrund der tragischen Erzählstruktur bereits antizipierbar. Die eigentliche Handlung setzt mit dem Tod des ‚Russen‘ nach einem Autounfall ein. Im Lebenslauf für den Psychiater heißt es: „[D]ieser Mann wurde mir entrissen durch eine höhere Macht […].“ Und im Lebenslauf für den Untersuchungsrichter erklärt Germaine: „Von diesem Moment an lernte ich das Leben kennen wie es ist, nicht nur von der rosigen Seite.“ Das Schicksal (wie zu zeigen sein wird, benutzt Germaine dieses Wort selbst) nimmt plötzlich und unvorhergesehen, aber dennoch nicht gänzlich unerwartet seinen Lauf. Darauf hat die Exposition den Leser vorbereitet. Germaine ist aber gewillt, den Schwierigkeiten entgegenzutreten: „Ich kämpfte mich durch wie ich konnte, u. griff nach jeder Beschäftigung.“ Der Sohn Jimmy ist jetzt ihr Ein und Alles und gibt ihrem Kampf Sinn: „[N]un wollte ich nur für mein Kind leben, kein Opfer war mir zu gross für Jimmy.“ Der Kampf Germaines gegen ihr Schicksal ist die eigentliche tragische Handlung der Erzählung. Germaine wird von Schicksalsschlägen getroffen, unternimmt alles, um dagegenzuhalten, treibt durch den Widerstand ihren Verfall aber nur weiter voran. Durch diese Dialektik aus Schicksalsschlägen und Abwehrhaltung entsteht der tragische Konflikt, der sich im Verlauf der Erzählung hochschaukelt. Anfänglich ist der tragische Konflikt unterschwellig und steigert sich nur langsam. Im Mai 1933 stirbt Germaines Vater nach langer Krankheit. Germaine kommentiert im Lebenslauf für den Untersuchungsrichter: „Dieser Verlust war für mich ein neuer Schlag.“ Wieder reagiert sie kämpferisch, aber - wie sich herausstellen wird - verhängnisvoll: „Mein Vater liebte das Kind wie sein eigenes, und ich versprach i[h]m gerne mein Kind nie zu verlassen, dass es in fremde Hände geraten würde.“ Im Lebenslauf für den Psychiater unterstreicht Germaine den entsprechenden Satz mit dem Versprechen, um dessen Bedeutung hervorzugeben. Die tragische Spirale dreht sich weiter. Das Versprechen an den Vater setzt Germaine großen Spannungen aus. Wollte sie nach dem Tod des Russen Jimmy nicht aus den Händen geben, darf sie es nun aufgrund des Versprechens eigentlich nicht mehr. In der Folge weichen beide Lebensläufe voneinander ab. Im Lebenslauf für den Untersuchungsrichter richtet Germaine, wie bereits nach dem Tod des ‚Russen‘, ihr Leben nach dem Ableben ihres Vaters vollständig auf Jimmy aus. „[Nun] hatte [ich] kein Herz mehr für niemanden ausser mein Kind.“ Allerdings beginnt Germaine erneut ein Verhältnis mit einem Mann, das zwei Jahre Bestand hat. In den Lebensläufen wird der Name dieser Person nicht erwähnt. In den Untersuchungsakten wird allerdings ersichtlich, dass es sich dabei um Fritz S. handelt. Während Germaine im Lebenslauf für den Untersuchungsrichter nüchtern auf die Liebesbeziehung zu Fritz eingeht und lediglich erwähnt, dass diese 149 aufgrund der mangelnden Heiratsaussichten nach zwei Jahren beendet wurde, schildert sie im Lebenslauf für den Psychiater das Verhältnis mit viel Pathos. In dieser Version spielt die Liebe zu Fritz eine wichtige Rolle für den tragischen Plot der Erzählung. An dieser Stelle soll zuerst auf den tragischen Plot des Lebenslaufs für den Psychiater eingegangen werden. Germaine führt aus: „Nun hatte ich zwei Jahre Bekanntschaft mit einer Person, die ich von Herzen lieb habe. Ich gestehe es offen, ich hoffte immer auf eine spätere Heirat mit diesem Herrn. Obschon er mir immer sagte, heiraten wolle er nicht, aber sein lasse er mich auch nicht. Es tat mir sehr weh, diese Worte, aber mein Geliebter durfte nichts merken, denn ich wollte in meinem Stolz nicht verletzt sein. Ich machte alles, was mein Freund wollte […]“. Germaine beschreibt eine schwierige Liebesbeziehung mit diesem Mann, den sie „immer noch von Herzen [liebt]“. Er war „oft sehr grob“ zu ihr, „schlug“ sie, war getrieben von „unberechtigte[r] Eifersucht“ und hatte „immer Angst [sie] zu verlieren“. Indem Germaine verzweifelt versucht, einen Mann zu ehelichen, mit dem sie eine schwierige Liebesbeziehung führt, schreitet die tragische Handlung voran. Bereits weiter oben in Germaines Lebenslauf für den Psychiater erfährt der Leser, dass Jimmy von Amtes wegen einen Herrn Dr. S. zum Vormund hat. Germaine beschreibt diesen als „[e]ine Persönlichkeit, die [sie] sehr ungern hatte.“ Dieser Dr. S. greift nun auf schicksalshafte Weise ins Geschehen ein: „Plötzlich fing es mit Herrn Dr. S. zu happern an. Er sprach mir zu, mein Kind versorgen zu lassen. Ich war schrecklich innerlich erregt, ich hatte die grösste Mühe mich zu beherrschen. Dennoch gelang es mir damals, die Amtsvormundschaft mit meinem Kind an der Hand zu verlassen. Ich glaubte, den Kopf zu verlieren. Der Mensch, der mir hätte helfen können, half mir nicht.“ (Auch dieser Satz ist unterstrichen.) „Ich kann mit Worten nicht erklären, wie ich litt. […] Ich überlegte lange, was wohl das Beste wäre zu tun. [Dr. S.] erklärte mir, ich könnte das Kind bloss in dem Falle behalten, wenn ich mich verheirate. Ich muss hier noch hinzufügen, dass ich die elterliche Gewalt über mein Kind nicht besass, da ich, als dies hätte getan werden müssen, mich im Ausland befand. Nochmals sprach ich über diesen Fall [mit] meinem Freunde. Er wiederholte mir immer dasselbe: ‚Chouchou, je t’aime de tout mon cœur, je ne veux pas te perdre, mais te marier, mon Germaine ça je ne peux pas non plus.’ Ist das nicht herzlos, grausam, wo ich ihn doch so liebe? “ Der tragische Konflikt wird nun deutlich erkennbar. Germaine muss heiraten, um Jimmy nicht zu verlieren und um das Versprechen an ihren Vater einhalten zu können. Der Mann, den sie aufrichtig liebt, will aber nicht. Die Situation ist blockiert. Germaine leidet. Noch scheint eine Lösung des Konflikts möglich: „Ich entschloss mich, mein Kind für eine kurze Zeit von mir aus in ein gutes Haus zu geben. Und in Gottes Namen würde ich meine grosse Liebe aufgeben.“ Germaine versorgt Jimmy im französischen Waisenhaus von Bern und bezahlt die Unterhaltskosten. Bei dieser Einweisung wiederholt sie gegenüber Jimmy das Versprechen, das sie bereits 150 dem Vater gegeben hat: „Ich gab dem Kinde die Versicherung, dass es nach den Sommerferien wieder bei mir bleiben könnte. […] Nun also ich wollte vorwärts machen, damit mein Kind für bei mir immer bleiben könne.“ Die Zeit drängt. Jimmys Unterbringung im Waisenhaus darf ja nur vorübergehend sein. Die folgende ungekürzte Passage zeigt, welche Strategie Germaine verfolgt, um ihr Versprechen einzuhalten: „Man kann sagen, ich war auf Heiratssuche. Ob Liebe vorhanden war oder nicht, es war mir ganz egal, nur das Kind zu haben. Jedesmal wenn ich die Photographie meines Vaters zu Augen bekam (das Bild hängt an der Wand bei mir zu Hause im Esszimmer) dachte ich an das Versprechen und es trieb mich [unleserliches Wort], irgend etwas zu unternehmen. […] Durch eine Heiratsvermittlerin lernte ich jemand kennen. Ich wusste keinen anderen Ausweg [als] mich so schnell verheiraten zu können. Es blieben mir ja noch fünf Monate dazu.“ Die vermeintliche Lösung erweist sich als Trugschluss: „Diese neue Verbindung wurde wieder gestört durch meinen Freund. Alles fiel wieder ins Wasser, denn ich besitze nicht die Kraft, diesem Manne gegenüber zu widerstehen.“ Die tragische Struktur der Erzählung ist jetzt deutlich erkennbar. In der Tragödie handeln die Helden gleichzeitig falsch und richtig. Das trifft auch für Germaine zu, die beim Bestreben, ihre Versprechen einzuhalten, an ihren eigenen Empfindungen scheitert. Sie steckt im Dilemma. Ohne ihren Freund kann Germaine nicht sein, ohne ihren Sohn Jimmy jedoch auch nicht. Was auch immer Germaine unternimmt, es löst das Problem nicht. Ihre Situation ist hoffnungslos. Germaine verletzt ihre Gefühle und hält ihre Versprechen nicht ein. Sie ist zunehmend zerrissen und handlungsunfähig. 246 Als die Lage bereits aussichtslos scheint, nimmt die Handlung eine unerwartete Wendung zum Guten. Bei einem Ausflug mit ihrer Mutter in eine Wirtschaft geht Germaine wegen des langsamen Ganges der Mutter und ihrer eigenen Gewohnheit, schnell zu gehen, aber auch, weil ihre „Nerven schon damals so furchtbar gereizt [sind], dass [sie] bei jedem kleinen Ding aufbraust“, vorne weg. Als die Mutter einige Zeit nach Germaine in der Wirtschaft eintrifft, übergibt sie ihr eine Visitenkarte eines Herrn, welcher Germaine gesehen und die Mutter um ein Rendezvous mit Germaine gebeten hat. „Ich sagte zu meiner Mutter, selbstverständlich werden wir gehen, das Schicksal schickt mir vielleicht den Retter.“ Germaine beginnt den nächsten Paragrafen des Lebenslaufs für den Psychiater folgendermaßen: „Nun tritt eine neue Episode in mein Leben. Dies war also der dritte Mann von Bedeutung in meinem Leben.“ Es klappt also mit der Beziehung. Der neue Liebhaber heißt Max H. Die Handlung steuert nun ihrem Höhepunkt zu. Bemerkenswerterweise verweist Germaine selbst explizit auf die bevorstehende Entscheidung. „Ich hatte sofort das Gefühl, mit diesem Mann werde ich emporkommen, den Hausfrieden finden oder ganz zu Grunde gehn.“ Noch ist alles möglich, aber Germaine hat 246 Vgl. für die wichtigsten Merkmale der attischen Tragödie Gigon (1988), S. 112-115. 151 bereits eine Vorahnung, dass sich die Dinge tragisch wenden würden: „Ich weiss nicht warum dieses zweite Gefühl stärker war als das Erste, auf alle Fälle wollte ich stark dagegen kämpfen.“ Doch entgegen Germaines Erwartungen entwickelt sich ihr Verhältnis zu Max vorerst positiv. „Diesem Herrn vertraute ich alles an. Jede Einzelheit von mir erklärte ich ihm. Er war mit allem einverstanden.“ Germaine spielt mit offenen Karten und hat damit Erfolg. Max und Germaine verloben sich, die Heirat soll bald folgen. Max versichert gegenüber Dr. S., dass er für Jimmy sorgen wird. „Alles ging gut. […] Ich war glücklich mit meinem Kind und hoffte, Herrn H. mit der Zeit so lieb zu bekommen, wie meinen Freund.“ Obwohl Fritz S. anfänglich Germaines neue Liebe wieder sabotiert und es für sie weiterhin schwierig ist, ihm gegenüber auf Distanz zu gehen, gelingt es dem Liebespaar schließlich mithilfe eines richterlichen Entscheids, Fritz von Germaines Wohnung fernzuhalten. Germaine scheint sich mit der neuen Situation anzufreunden. „[I]ch fing an, mich an meinen Lebensgefährten anzupassen, es geschah ja alles für Jimmy.“ Die Ausführungen zum vermeintlichen Glück spannen den Handlungsbogen aufs Äußerste. Anders als befürchtet, entsteht der Eindruck, als wäre der Konflikt überwunden. Endlich scheint Germaine sich von ihrer alten Liebe Fritz losgesagt zu haben, um heiraten zu können, was ihr wiederum erlauben würde, ihre Versprechen einzuhalten. Doch wegen Germaines düsteren Vorahnungen überrascht es nicht, dass die Beziehungsepisode mit Max nicht das Ende der Erzählung darstellt, sondern dieses nur hinauszögert. Durch dieses retardierende Moment schraubt Germaine ihre Fallhöhe als tragische Heldin erzähltechnisch in die Höhe. Die erwartete letzte Wende tritt ein. „Aber da kam wieder ein neuer Schicksalsschlag.“ Max H. wird als Mitarbeiter der Autovertretung von ‚Ford‘ in Bern entlassen. Germaines Hoffnungen lösen sich in Luft auf: „Also seit dem 1. Oktober [dem Tag von Max’ Entlassung] lebte ich wie im Traum. Ich sah alles dahingehen. Ich konnte mit Herrn H. nicht sprechen, er gab keine Antwort, er liess kein Wort mit sich sprechen. Ich fühlte mich unsäglich verlassen, mutlos, und deprimiert. Er ass selten mehr, ich ass selten mehr, nur mein Kind, das ja nicht an unserem Kummer teilnehmen konnte blieb wie vordem. Am ‚Zibelemärit‘ [Berner Volksfest] verbrachten wir drei die letzten gemeinsamen Stunden. Und abends tat mir Herr H. so furchtbar leid, dass wir beide zu schluchzen anfingen. Wir wussten instinktiv beide, es ging zu Grunde.“ Im Lebenslauf für den Psychiater stellt Max’ Entlassung die Peripetie in Germaines Erzählung dar, bei der das Glück in Unglück umschlägt. So richtig überraschen vermag dies die Leserin oder den Leser nicht. Genügend Elemente in ihre Erzählung deuten das tragische Ende an. Auch das ist ein Merkmal der Tragödie. Eine völlig überraschende Wende zum Schlechten wäre nicht tragisch, sondern empörend oder traurig. Was sich über die ganze Erzählung angedeutet hat, wird nun nach der Entlassung zur Gewissheit. Die Peripetie ist auch der Moment der Einsicht. Germaine begreift, dass all ihre Bemühungen und Kämpfe umsonst 152 waren und dass sie gegen ihren tragischen Verfall nichts unternehmen kann. Am Abend desselben Tages führen Max und Germaine ein Gespräch. Dabei fragt Max Germaine, was sie tun würde, wenn er nicht mehr Leben würde. Germaine versucht Max zu beruhigen, was ihr aber nicht gelingt, bis sie ihm die folgende Antwort gibt: „‘Wenn Du gehst, gehen wir alle drei.‘“ Germaine führt weiter aus: „Und darauf hat er gelächelt. War ganz still und beruhigt. […] Er sprach zu mir: ‚Also meine liebe, arme Germaine, Du versprichst mir, dass Du immer bei mir bleibst und im Tod nach mir kommst.[‘] Der Mann tat mir so herzzerreissend leid, dass ich versprach, ich versprach alles. […] Plötzlich kam ich zur Besinnung und zwang mich [zu] lachen, um diese schwarzen Gedanken wegzujagen. Aber es ging nicht.“ Am darauffolgenden Tag treffen sich Germaine und Max erneut. Germaine ist mit ihren „Nerven […] ganz fertig, jede Mut und Hoffnung war verloren. Von diesem Dienstag [an] sollte ich ihn nie mehr sehen; am Samstag morgen erhielt ich die traurige Nachricht. Man erspare mir, nochmals hier auszuführen, was dann geschah.“ Die Geschichte beinhaltet also einen letzten Dreh, ein letztes verhängnisvolles Versprechen, mit dem die gefallene Germaine ihr Schicksal endgültig besiegelt. Zwei Versprechen stehen sich nun gegenüber, die sich gegenseitig ausschließen. Germaine steckt in einer tragischen Pattsituation, bei der das Ausführen der einen Pflicht die andere Pflicht verletzt. 247 In dieser tragischen Logik bleibt der Heldin Germaine nur eine einzige, letzte Handlungsoption offen. Der wesentlich kürzere Lebenslauf für den Untersuchungsrichter verfügt über einen anderen tragischen Plot. Hier spielt, wie erwähnt, die nicht enden wollende Liebe zu Fritz S. keine Rolle. Im Zentrum steht vielmehr ein Wechselbetrug. Max hatte einen Wechsel mit Germaines gefälschter Unterschrift eingelöst. Als Germaine von der Bank gebeten wird, diesen zu bezahlen, insistiert sie, dass sie den Wechsel nicht eigenhändig unterschrieben habe, worauf der Schwindel auffliegt. Auch darin erkennt Germaine ein tragisches Verhängnis: „Indem ich so die Wahrheit sprach, schadete ich natürlich meinem Verlobten und er sagte mir noch, als er mir nach Hause telefonierte, nun sei für ihn alles verloren.“ Dieses Telefonat führen Max und Germaine am Tag vor Max’ Selbsttötung. Die bisherige Rekonstruktion der tragischen Erzählung beruht auf den beiden Lebensläufen. Das Verhörprotokoll - im Gegensatz zu den Lebensläufen nicht direkt von Germaine verfasst - schließt daran an. Hier werden sowohl das letzte Treffen von Max und Germaine (Lebenslauf für den Psychiater) sowie der Wechselbetrug (Lebenslauf für den Untersuchungsrichter) geschildert. Im Verhörprotokoll kündigt Max sein Ende an und verzeiht gleichzeitig Germaine wegen des 247 Für Hegel bestand „[d]as ursprünglich Tragische […] darin, dass innerhalb solcher Kollisionen beide Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben, während sie andererseits dennoch den wahren positiven Gehalt ihres Zweckes und Charakters nur als Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht durchzubringen imstande sind und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe in Schuld geraten“ Zitiert nach Canaris (2012), S. 106. 153 Wechselbetrugs: „[N]un sei es zu spät, nun sei alles verloren ‚es macht nichts, Adieu Germaine.‘“ Am darauffolgenden Tag erhält Germaine in ihrer Wohnung Besuch von einem Ehepaar Z., welches einen Teppich zurückfordert, den Germaine als Geschenk von Max erhalten hat. Der Teppich sei nie bezahlt worden. Bei diesem Anlass teilen die Eheleute Z. Germaine mit, dass Max nicht länger am Leben ist. Germaine geht daraufhin zur Fahndungspolizei, wo ihr der Tod ihres Verlobten bestätigt wird. Der zuständige Polizist fordert Germaine auf, sie „solle nichts Dummes machen, [sie] hätte ja einen Halt, [sie] hätte ja so einen netten Knaben. Germaine erwidert „wörtlich“: „[I]ch verspreche, das ich den Bueb nicht allein lasse. Dies hatte ich auch im Sinn, ich wollte ihn ja mit mir nehmen. Ich hatte schon in diesem Augenblick im Sinn, mich und den Knaben zu töten. […] Samstag Nachmittags dachte ich nun, ich hätte einem Toten ein Versprechen gegeben und müsse dieses Versprechen halten.“ Am selben Abend verfasst Germaine einen Abschiedsbrief, der ebenfalls den Akten beiliegt. Auch dieser Text reiht sich nahtlos in die tragische Erzählung ein. Der Beginn lautet: „Möge man mir verzeihen, dass ich Max H. folge. Ich weiss, dass er nun seine Ruhe haben wird, nachdem ich ihm im Tod beweise, dass ich keinem anderen Manne angehören werde. Bei [Herrn S.], Fahndungspolizei möge man mich entschuldigen; heute nachmittag habe ich ihm versprochen auf dieses Unglück hin nichts unüberlegtes zu unternehmen. Aber mein Sohn kommt ja mit mir. Ich lasse ihn nicht allein zurück. Ich bitte, meine Tat nicht zu streng zu beurteilen. Ich weiss, ich trage auch einen Teil der Schuld von Maxes Tod. Wir beide haben uns gegenseitig zu wenig ausgesprochen, wir sind seelisch aneinander vorbeigegangen.“ Am Schluss des Abschiedsbriefs steht: „Habt ihr eine Ahnung, was Herr H. durchgemacht hat, ein par Stunden vor der Tat? Ich weiss es, ich mach genau dasselbe durch. Ob man wohl den Wunsch von drei Toten erfüllen wird? So begrabe man uns alle drei zusammen, ganz nahe beieinander.“ Die Selbsttötung und die Tötung Jimmys stellen den einzigen Ausweg aus dem tragischen Dilemma dar. Was im Leben nicht möglich ist, ermöglichen paradoxerweise der Tod und die Auflösung. Germaine und Max, deren Beziehung zu Lebzeiten scheitert, sollen nach dem Tod als Liebespaar zueinander finden und einander angehören. Im Grab sollen sie mit Jimmy eine Familie bilden. Der Tod erscheint gleichzeitig als Lösung und Schlusspunkt des tragischen Verfalls. Das Verhörprotokoll gibt Auskunft darüber, was nach der Niederschrift des Abschiedsbriefs geschieht. Am darauffolgenden Tag, dem Sonntag, besucht Germaine mit ihrer Mutter und Jimmy eine Kinovorstellung und trifft im Anschluss zufälligerweise auf ihren ehemaligen Freund Fritz S., den Germaine nun - anders als in den Lebensläufen - beim Namen nennt. Sie beschließen, dass Fritz Germaine am Abend besuchen kommt. Was darauf folgt, gibt der eingangs zitierte Auszug aus dem Verhörprotokoll wieder. Nachdem Germaine Jimmy mit mehreren Schüssen getötet hat, deckt sie ihn zu und sucht vergebens nach dem Revolver, um sich nun selbst zu töten. Anschließend verlässt sie das Schlafzimmer und 154 geht ins Wohnzimmer, da sie „nicht mehr die Kraft“ hat, mit dem toten Kind im gleichen Zimmer zu sein. Im Wohnzimmer fällt sie auf die Ottomane „und war eine Zeit lang ganz von Sinnen“. Am Morgen kommt Germaine durch das Klingeln des Telefons, das sie zuerst nur als „Rauschen“ wahrnimmt, wieder zu sich. Am Apparat ist Fritz S., der Geramaine dann in ihrer Wohnung aufsucht und die Polizei rufen lässt. Zwischen den vier Selbstzeugnissen besteht unabhängig von der Autorenschaft und ungeachtet des Zeitpunkts ihrer Niederschrift eine ausgeprägte Intertextualität. Die vier Texte fügen sich zu einer tragischen Erzählung. Die Exposition besteht aus einer Einführung in den Charakter der Hauptfigur. Beim Einsetzen der Handlung überrascht es nicht, dass sie in Not gerät. Der Plot besteht aus einer verhängnisvollen Dialektik von äußeren Schicksalsschlägen und eigenem Unvermögen. Über mehrere Stufen schaukelt sich der tragische Konflikt hoch. Germaine fällt dabei immer tiefer. Auf dem Tiefpunkt erkennt sie ihr tragisches Dasein, dessen einziger Ausweg paradoxerweise der Tod darstellt. Germaines Erzählung mit ihrer ausführlichen Charakterbeschreibung der Hauptfigur als Exposition, ihrer mehrstufigen Handlung und der durch ein retardierendes Moment herausgezögerten Peripetie ist in ihrer Komplexität außergewöhnlich. Es scheint fast, als sei sich Germaine der literarischen Gattung der Tragödie, der sie sich bedient, bewusst. Ebenfalls stilistisch ausgearbeitet ist das Tragische in der bereits erwähnten Erzählung von Albert S., der 1911 versuchte, seine ehemalige Geliebte Augustine H. zu erschießen. Interessanterweise lassen hier nicht nur die Selbstzeugnisse des Angeklagten, sondern auch des Opfers Elemente des Tragischen erkennen. 248 Exposition: Albert S. erzählt: „Schon als Knabe sah ich die Augustine H. gerne & vor ca. 1 Jahr ging ich zur Familie H. und fragte das Mädchen, ob wir miteinander gehen wollten, womit sie sich einverstanden erklärte. Von da an gingen wir öfters mit einander spazieren, besuchten gemeinsam Tanzanlässe & hatten in derselben Zeit im Zimmer der Augustine H. einmal, ein weiteres Mal neben dem Hause H., ein weiteres Mal auf der Straße & 2 Mal bei mir zu Hause mit einander geschlechtlichen Verkehr. Ich sagte zu ihr, es sei mir gleich, wenn wir uns heiraten müssen.“ Albert verliebt sich in Augustine H., die er seit seinen Jugendjahren gern hatte. Er bittet die Eltern H. um deren Einverständnis, mit Augustine ein Verhältnis anfangen zu dürfen, womit diese anfänglich einverstanden sind. Sein Glück scheint perfekt. Handlung mit retardierendem Moment: Augustine erzählt, dass ihre Eltern anfänglich mit der Liebesbeziehung einverstanden gewesen seien. Das ändert sich aber im Laufe des Jahres, in dem die beiden als Paar zusammen sind. Augustine schildert, wie es zum Umdenken vor allem ihrer Mutter kam. „[E]ine in der Nachbarschaft wohnende […] Wäscherin, [sprach] bei ihren häufigen Besuchen 248 StAB BB 15. 4. 1920 949. 155 meiner Mutter gegenüber wiederholt die Meinung aus, ich könnte jedenfalls einen besser gestellten Ehemann bekommen, als den Schuhmachergeselle S. Nach und nach schenkte meine Mutter diesen Einflüsterungen Gehör; gelegentliche abfällige Äußerungen meiner Mutter gegen S. trug dann die Frau K. dem Letzteren zu, und dadurch entstanden Reibereien zwischen S. und meinen Eltern.“ Auch Albert spricht über die Widerstände von Augustines Mutter gegen die Liebesbeziehung: „Ungefähr im März 1911 wurde mir von Frau H. gesagt, ich solle auf Augustine verzichten. Diese sei noch zu jung zum Heiraten u. ich verdiene zu wenig, um eine Frau zu ernähren. Nachher wurde auch meiner Augustine von ihren Eltern jeder Verkehr verboten.“ Trotzdem halten Augustine und Albert ihr Verhältnis im Versteckten noch eine Weile aufrecht. Albert sagt: „Wir hatten aber trotzdem gelegentliche Zusammenkünfte, außerh. des Hauses H.“ Die Liebesbeziehung leidet allerdings. „Eines Sonntags hatte ich Verdacht gehabt, dass Augustine nun mit einem anderen Burschen eine Liebschaft angefangen hatte, als ich sie darüber zur Rede stellte, versicherte sie mir aber, dass dies nicht der Fall sei, und dass sie mir treu bleiben wolle. Von dahin weg verspürte ich gegenüber ihr keine Eifersucht mehr.“ Am 2. Juli 1911 gehen Augustine und Albert in den Schweizergarten, um zu tanzen. Im Anschluss begleitet er sie nach Hause. Albert berichtet: „Ich war etwas aufgeregt, weil ich erfahren hatte, dass Frau H. mich bei[m] Pfarrer […] angeschwärzt hatte und weil dieser mich anlässlich meines Besuchs aufgefordert hatte, das Mädchen in Ruhe zu lassen. Augustine hatte mir auch erzählt, dass der Pfarrer ihr am Freitag vorher ebenfalls Vorwürfe gemacht habe.“ Albert fährt fort: „Noch vor dem Heimgehen hatte ich ihr gesagt, wenn sie mit einem anderen ein Liebesverhältnis anfange, so mache ich ‚öppis dumms.‘ Ich wollte nur andeuten damit, dass ich in diesem Falle Selbstmord begehen würde. Ich dachte damals noch nicht daran, Augustine zu töten, d. h. mit mir sterben zu lassen.“ Augustine beschreibt die Situation wie folgt: „[Er] machte mir, da er sich einbildete, ich sei ihm untreu geworden, und habe einen anderen Schatz, […] heftige Vorwürfe, und sagte, wenn ich mit einem Anderen ein Verhältnis anknüpfe, so ‚machi er öppis dumms.‘ Er sprach sich nicht eingehender darüber aus, was er mit dieser verschleierten Drohung meinte. Ich verstand ihn damals nur so, dass er sich vielleicht selber ein Leid antun wolle.“ Augustine unterstreicht bei dieser Gelegenheit: „Ich habe dem [S.] keinerlei Anlass zur berechtigten Eifersucht gegeben und habe noch bis zur Stunde keinen neuen Schatz.“ Peripetie: Während Augustine Albert beruhigt, stehen die beiden noch vor dem Haus der Familie H. als, wie Albert wiedergibt, „[p]ötzlich auf unerwartete Weise Augustines ältere Schwester Anna zwischen uns trat“. Sie „machte uns heftige Vorwürfe u. schrie uns zu, wir beide seien Schuld daran, wenn ihre Mutter sich aus Ärger über unser Verhältnis, selbst ums Leben bringe, bis zu diesem Augenblick hatte ich geglaubt, es könne alles noch gut werden, aber nun machte ich mir Gedanken, dass eine spätere Heirat zwischen Augustine und mir unmöglich sein werde, weil mir jedenfalls ihre Eltern die Einwilligung dazu nie geben 156 würden. Dies brachte mich in Verzweiflung, da ich das Mädchen sehr gerne hatte u. es mich auch. Ich bat Augustine hierauf mich gehen zu lassen, sie werde dann schon sehen, was jetzt geschehe, sie kam hierauf mit mir zum Brunnen u. spürte bei einer Umarmung, mein Schuhmachermesser in der Rocktasche, u. fragte mich, was ich damit wolle. Ich suchte sie dann zu beruhigen, in dem ich sagte, ich habe es immer bei mir. Sie bat mich darauf in aufgeregtem Zustande, ich soll ih[r] damit einen Stich geben, ich könne ihr dann das Messer in die Hand geben u. mich entfernen, damit auf mich kein Verdacht falle. Ich antwortete hierauf, dies werde ich nicht tun, wenn sie sterben wolle, dann wolle ich mit ihr sterben.“ Katastrophe: Zwei Tage nach den Vorfällen vor dem Haus der Familie H., schreibt Augustine am 4. Juli 1911 „ganz von [sich] aus“, wie sie im Verhör angibt, einen „Absagebrief“ an Albert. „Mein Geliebter! Es ist schon lange her, dass wir uns lieben durften, ach gar lang ist es her. Wenn ich an diese Tage denke, gar lang ist es her. Da sehn wir bei den Rosen da gleich die Dornen stecken. O’wie glücklich ist ein Bursche - ein Mädchen, die nicht von Liebe wiesen. Doch die Dorne stach, doch das scheiden u. meiden tut weh. Doch das Leben ist ja nur ein Traum, es ist ein Traum, bis einst das müde Auge briecht. Es ist ja bestimmt in Gottesrat, das man vom Liebsten, wo man hat, muss scheiden, ob früher oder später, doch bei uns ist es schon früh. Doch wollen wir sehn, es wird ja schon noch gehen, ach bei mir mus es ja sein, dass ich Dich meide. Ach die Eltern sind ja zu arg aufsichtig, dass ich nicht mehr mit Dir geh. Du weist ja wohl, dass die Eltern Dich seit dem Krach nicht mehr leiden mögen und wir uns nur noch im stillen lieben musten u. jetzt ganz müssen. Doch kann es wieder einmal kommen, dass wir uns lieben dürfen, dann soll unsere Freundschaft stehn und nimmer soll sie vergehn, bis einst die müden Augen brechen und dann sind wir ja in Gotteshut. Drum auf dein Herz ermuntre dich, der Mensch denkt und Gott lenckt. Nun will ich schließen und hoffe diese Zeilen werden dich gesund und gut antreffen Die herzlichsten Grüße u. Küsse von dem Mädchen, dass dich ni vergessen kann. Sage niemand von unserer Liebe, sage nur du kenst mich nicht.“ Albert antwortet drei Tage später, am 7. Juli, ebenfalls brieflich: Meine Geliebte Augstine! Da ich Dein Schreiben mit großer Freude erhalten habe und wenn es möglich ist, noch mit Dir zu reden, so mach, dass Du am Samstag um 157 1 ½ Uhr beim Volkshaus bist, ich warte dort bis 2 Uhr und wenn es so nicht ist, so wird mann mich nicht mehr so sehen, wie ich jetzt bin, ich will noch ein paar Worte mit Dir reden, also nächsten Samstag um 1 ½ Uhr beim Volkshaus Die besten Grüße u Küsse sendet Dir Dein nie vergessener Albert seit Montag kann ich fasst nicht schaffen, weil alles schwarz wird vor den Augen und habe auch furchtpare Kopfschmerzen, das ich so dannach denke. Also komme, Albert. Augustine leistet dem Apell indes keine Folge und lässt Albert warten, weil sie, wie sie angibt, „ihren Bruder von der Bahn abholen musste“. Für Albert ist Augustines Fernbleiben einschneidend. Er „dachte nun, […] jetzt sei alles aus.“ Noch am selben Tag fasst er den Entschluss, sich und Augustine „zu erschießen“. Er kauft sich für vierzehn Franken einen Revolver mit Munition und verfasst einen Abschiedsbrief: Wenn mann im Leben nicht, so wollen wir im Tode beieinander sein Da ich Ihnen auch gerade will Bekannt machen, dass [Frau H.] uns zu diesem Entschluss hat gebracht, das sie Augustine hat behandelt, wie ein Hund und dass soll mann noch einer solchen Rabenmutter noch beistehen und selbst sagte, wenn Du noch einmal bei Albert bist, so bringe ich mich um, Augustine hat auf Sie gelost und mich dadurch wollen unglücklich machen, jetzt sind wir beide glücklich, wenn seine Mutter schon nicht hat wollen, die Leute werden es dann schon sagen, was das für eine Rabenmutter ist […]. Nur ist mein letzter Wunsch noch, dass ich ins Grab neben Augustine komme. Da wir uns haben geliebt, wie wir schon beisammen wären gewesen, das ist der Wunsch hab, geschrieben und auch von der Regierung angenommen wird, wird auch jedermann begreifen können. Nun die letzten Worte, ich sterbe mit meiner Geliebten Augustine [H.] Adiö, adiö. Ich lasse ein letztes Mahl das Schweizer Volk grüßen. Albert S. Am Morgen des 9. Juli 1911 geht Albert mit dem „Tambourenverein“ in den Bremgartenwald, um zu „trommeln“. Er ist dabei nach eigenen Angaben „fidel aufgelegt und nicht in verzweifelter Stimmung“. Nach der Einnahme eines „Frühschoppens“ in der Innenstadt besucht er am Nachmittag mit „Kameraden“ ein „Gartenfest des Scheibenradfahrerbundes“ in der Nähe der Kaserne und drei weitere Wirtschaften im Breitenrainquartier. Albert trinkt Bier und Wein und ist „etwas betrunken“, als er um sieben Uhr abends zu Hause zum Nachtessen erscheint. Seine Mutter will ihn deswegen nicht mehr ausgehen lassen. Albert 158 geht aber trotzdem und trinkt mit „2 Kameraden […] noch ein großes Bier.“ Er beabsichtigt, sich „Mut an[zu]trinken um [seine] Absicht leichter ausführen zu können“. Albert kehrt nun an die Wylerringstraße zurück, an der er und Augustine leben, und lädt dort seinen Revolver. Darauf begibt er sich in den „Schweizergarten, wo ein Bursche, den [er] nicht zu Gesicht bekam, [ihm zuruft], Augustine H. tanze drüben mit einem anderen“. Albert gibt zu Protokoll: „Dies regte mich auf, ich entfernte mich ohne Augustine aufgesucht zu haben und begab mich direkt zu dem Hause H.“ Er tritt durch die unverschlossene Haustüre ein, steigt direkt die Treppe hoch und begibt sich in Augustines Zimmer. Im Licht seiner „elekt[rischen] Taschenlampe“ erkennt er, dass Augustines jüngerer Bruder August in einem der beiden Betten schläft. Darauf versteckt sich Albert auf dem Dachboden neben Augustines Zimmer und wartet auf deren Rückkehr. Augustine wird von einem in der Nachbarschaft wohnenden Burschen nach Hause begleitet und betritt nach elf Uhr das Haus ihrer Eltern. Sie begibt sich kurz in die Küche und dann direkt in ihr Zimmer im oberen Stockwerk. Als Augustine ins Zimmer tritt, folgt ihr Albert vom Dachboden nach. Was dann passiert, schildert Albert wie folgt: „Als sie mich sah, erschrack sie u. kam auf mich zu. Ich schloss von innen die Türe u. schob den Riegel vor. Hierauf sagte ich zur ihr: ‚Stini, jetz wie mer mitenanger stärbe‘. Im gleichen Augenblick hörte ich, dass jemand, vermutlich [Augustines ältere Schwester], die Treppe herauf bis vor das Schlafzimmer kam, ich gab nun aus meinem Revolver kurz nacheinander 2 scharfe Schreckschüsse gegen den Boden oder sonst ins Leere ab. Dann hörte ich wie [die Schwester] wieder ins untere Stockwerk hinabeilte. Augustine bat mich dann ‚nein nein Albert mach es nicht‘ u. kam dabei auf mich zu. Ich rief ‚weg‘! u. schoss auf sie. Worauf sie sich wendete u. gegen ihr Bett zuflüchtete. Ich gab hierauf noch 2 weitere Schüsse auf sie ab und sie fiel hierauf vornüber quer auf ihr Bett. Meinen letzten (6. Schuss) wollte ich auf mich selber abgeben, muss mich aber verfehlt haben […] Dann legte ich den Revolver auf den Tisch [und] nahm […] das Messer hervor u. wollte mir damit die Gurgel aufschneiden, fand aber den Mut nicht dazu.“ Augustine überlebt das Attentat und scheint Albert zu verzeihen: „So viel an mir, gewähre ich dem Albert S. meine Verzeihung.“ Augustines Verletzungen verheilen gut und die Genesung schreitet rasch voran. Obwohl ein Geschoss im „Lungengewebe“ stecken blieb, erwarten die begutachtenden Ärzte keine bleibenden Schäden. Am 11. August kann sie aus dem Inselspital entlassen werden. Ein in der Untersuchungsakte enthaltener zivilrechtlicher Vergleich zwischen Albert und Augustine zeigt, dass Augustine von Albert ein Kind erwartete. Bezüglich des tragischen Stils bestehen Ähnlichkeiten zwischen den Erzählungen von Germaine H. und Albert S. Die Leidenschaftlichkeit und Tugendhaftigkeit des Helden zeigt sich vor dem Einsetzen der Handlung in einer Exposition, die entweder das glückliche Dasein - in Form von Verliebtheit - oder das unglückliche Dasein - in Form einer schwierigen Jugend - aufzeigt. Die Handlung 159 setzt in dem Moment ein, in dem sich der Held oder die Heldin wegen Leidenschaftlichkeit oder Tugendhaftigkeit in einen tragischen Konflikt verstrickt. Die Schicksalsschläge treffen Held und Heldin nicht völlig unerwartet. Von Ängsten und leisen Vorahnungen beschlichen, sehen sie ihre Konflikte kommen, die sie in den Untergang treiben. Wegen der Vorahnung des schicksalhaften Ereignisses leiden Held und Heldin. In beiden Erzählungen sorgen retardierende Momente für Spannung. Die kurzweiligen und enttäuschten Hoffnungen unterstreichen die Aussichtslosigkeit des Konflikts und machen den Held oder die Heldin noch niedergeschlagener. In einer Peripetie schlägt schließlich das Glück endgültig in Unglück um, die Hoffnung weicht unwiderruflich der Hoffnungslosigkeit. An diesem entscheidenden Moment wird dem Helden oder der Heldin bewusst, dass er oder sie untergehen wird. Nicht alle tragischen Erzählungen in den Selbstzeugnissen fataler Gewalttäter verfügen über dieselbe dramaturgische Qualität. Es handelt sich teilweise um einfach strukturierte Erzählungen ohne komplexen Handlungsablauf. In der Erzählung von Johann S. (erstes Verhörprotokoll), der auf Anna H. schoss, weil sie ihn weder liebte noch ihn heiraten wollte, „intrigiert“ beispielsweise ein Mitglied des Abstinenzvereins „Blaukreuz“, dem auch Anna angehört, gegen ein vorher „ungetrübtes Verhältnis“ zwischen den beiden. 249 In dieser Erzählung fehlen detailreiche Ausführungen zum Charakter und zum Leiden der Hauptfigur. Zudem ist die Handlung äußerst kurz: In einem Moment schlägt das Glück auf unwiderrufliche Weise in sein Gegenteil um. Ein anderes Beispiel für eine relativ einfach strukturierte tragische Erzählung liefert das Verhörprotokoll von Reinhard H., der seine Geliebte/ Haushälterin Marie S. und deren Kind tötete. Gemäß dem Narrativ findet Reinhard bei Marie Briefe ihres Ex-Manns, zu dem sie trotz Eheversprechungen gegenüber Reinhard weiterhin eine Beziehung führt, was in Reinhard den Entschluss reifen lässt, einen Revolver zu kaufen und aus dem Leben zu scheiden. In dieser Geschichte gibt es sogar ein kurzes retardierendes Moment, mit dem die Leidenschaftlichkeit der Hauptfigur unterstrichen wird. In der Nacht vor der Tat haben sich Reinhard und Marie „etwas ausgesöhnt“ und erleben eine intensive Liebesnacht, bei der Reinhard „durch starkes Küssen […] am Hals links eine blaue Hautunterlaufung“ erhält. Am Morgen erklärt Marie R. auf Nachfrage aber erneut, dass sie nicht beabsichtige, ihn zu heiraten. 250 In vierzehn Fällen mit fataler Gewalt enthalten die Selbstzeugnisse der Angeschuldigten zwar nicht durchgehend über einen tragischen Plot, aber weisen doch tragische Elemente auf. Emil B. beispielsweise, der auf seine ehemalige Geliebte Rosa R. schoss, gibt im Verhör an, Rosa auf ihre Liebschaften mit anderen Männern angesprochen und dann im „Zorn“, in der „Aufregung“ und der „Trunkenheit“ auf sie geschossen zu haben. „Der Grund meiner Handlung liegt […] in 249 Im zweiten Verhör bestritt Johann S. die Tötungsabsicht und gab an, Anna nur zu erschrecken versucht zu haben. StAB BB 15. 4. 2007 1362. 250 StAB BB 15. 4. 2499 3683. 160 dem liederlichen Leben, welches die R. zu führen anfing.“ Eine Tötungsabsicht streitet Emil im Verhör entschieden ab. Seiner Erzählung fehlt folglich der tragische Plot. Aber man erfährt aus Emils Verhörprotokoll folgendes: „In Genf habe ich einmal einen Selbstmordversuch ausgeführt, ich bin nämlich sehr empfindlich und war in die R. stark verliebt.“ 251 Dieser Satz verweist auf die für die fatalen Gewalttäter typische tragische Selbstwahrnehmung eines leidenden Helden. Die Zeugen sagten aus, dass Emil im Vorfeld der Tat Drohungen ausgestoßen hatte. Den (in diesem Fall ausnahmsweise notierten) Fragen ist demnach auch zu entnehmen, dass der Untersuchungsrichter Emil nicht recht glauben wollte, dass er die Tötung nicht beabsichtigt hatte. Ein anderes Beispiel für eine unvollständige tragische Erzählung liefern die Selbstzeugnisse von Mathias S., welcher nach der Kündigung seiner Wohnung auf seine Vermieterin Maria M. schoss. Das Verhörprotokoll enthält folgende Erzählung: Mathias beabsichtigt, seine Geliebte Elisabeth R. zu heiraten, mit der er gemeinsam in Marias Haus an der Postgasse eine Wohnung mietet. Maria intrigiert gegen die Eheanbahnung und rät Elisabeth, von einer Heirat abzusehen und schließt mit Elisabeth einen neuen Mietvertrag, auf welchem diese als alleinige Mieterin der Wohnung fungiert. Mathias wird in der Folge aufgefordert, die Wohnung zu verlassen, wogegen er sich wehrt: „[I]ch hielt [Maria M.] an, mich nicht unglücklich zu machen, sie gab mir hierauf keine Antwort […].“ Mehrere Male schickt Mathias erfolglos seine Geliebte Elisabeth zur Vermieterin Maria, um die „Vertreibung“ aus der Wohnung zu verhindern. Unter dem Vorwand, im Keller „Iltis[s]e[n] und Katzen aufpassen“ zu wollen, leiht er sich eine Pistole. Zurück im Haus stößt er Drohungen aus: „Zur [Elisabeth R.] sagte ich nun, jetzt sei entweder meine oder der [Marias] letzte Stunde gekommen […].“ Bis zu diesem Punkt enthält die Erzählung einen typischen tragischen Aufbau. Vermeintliches Glück schlägt in Unglück um, der Held erhebt sich erfolglos gegen sein Schicksal, nur um einzusehen, dass die Situation ausweglos ist. Dann bricht das Skript aber. Direkt im Anschluss an die Todesdrohungen erfolgt deren Relativierung: „[I]ch sprach dieses im Zorn so aus, ohne jedoch die Absicht zu haben, die [Maria] zu töten.“ Die Schussabgabe geschieht in der Erzählung dann auch nicht geplant, sondern weil Mathias von Maria M. geschlagen wird. „Ich war dergestalt in Zorn, dass ich gar nicht überlegte, was ich that und was meine Handlungen für Folgen nach sich ziehen könnten.“ 252 In der Erzählung ist die Tat demgemäß nicht beabsichtigt, sondern geschieht affektiv, aber weniger im Sinn des Tragischen als vielmehr im Sinn des Unvernünftigen. Eine ähnliche Schilderung einer fatalen Gewalttat, die das Tragische entbehrt, findet sich in den Selbstzeugnissen von Carlo P., der seine Ehefrau Hulda in flagranti mit einem Liebhaber erwischte und bei diesem Anlass beide mit Revolverschüssen verletzte. Bereits weiter oben wurde gezeigt, dass Carlo seine Tat im Verhörprotokoll damit begründet, vor lauter ‚Aufregung‘ seine ‚Besinnung‘ im 251 StAB BB 15. 4. 1425 6927. 252 StAB BB 15. 4. 1172 3980. 161 Moment der Tat verloren zu haben. Doch auch in seinen Selbstzeugnissen findet sich eine Spur des Tragischen: Obwohl Carlo Tötungsabsichten entschieden bestreitet, erzählt er: „Meine Frau hatte mir vorher einmal geschrieben oder gesagt, sie komme einmal in der Nacht um mich zu überraschen, und wenn ich eine andere Frauenperson bei mir habe, so bring sie uns beide um, oder etwas derartiges. Wir waren nämlich beide aufeinander eifersüchtig.“ 253 In dieser Episode, die in Carlos Erzählung über seine Aufregung, die ihm die Besinnung raubte, isoliert dasteht, steckt das Potenzial für eine tragische Geschichte über zwei Liebende, die aufgrund ihrer Leidenschaftlichkeit gemeinsam untergehen. In diesem Abschnitt sollte gezeigt werden, dass das ausführliche Reden über die eigenen Gefühle, das die Narrative der fatalen Gewalttäterinnen und -täter auszeichnet, der Selbstcharakterisierung als tragischer Held oder tragische Heldin dient. Es handelt sich also in erster Linie um eine ästhetische, genauer um eine tragische Subjektivität. Die Subjektfigur, die in den Selbstzeugnissen gefunden beziehungsweise erfunden wird, ist nicht so sehr das vernünftig-normale beziehungsweise sein Gegenpart das ‚wahnsinnig-anormale‘ Subjekt, sondern die ästhetische Subjektfigur des tragischen Helden. Während sich das ‚wahnsinniganormale‘ Subjekt als Negation des vernünftig-normalen aus der Moralphilosophie und den Humanwissenschaften ableitet, hat das tragische Subjekt seinen Bezugspunkt in der Kunst. Wie in der Einleitung dargestellt, stehen sich die moralisch-vernünftige beziehungsweise vernünftig-normale und die ästhetisch-leidenschaftliche Subjektivität innerhalb der modernen Subjektdisposition widersprüchlich und gegenseitig tendenziell ausschließend gegenüber. In den Selbstzeugnissen fataler Gewalttäter wird dieser wechselseitige Ausschluss erkennbar. In den durchgängig tragischen Erzählungen, wie denjenigen von Germaine H., Albert S. und Johann S., spielen weder Vernunft noch die Unvernunft, Besinnungslosigkeit, Bewusstseinslosigkeit und der Wahnsinn als ihr Gegenpart eine prominente Rolle. Weder Germaine noch Albert schildern sich in erster Linie als unvernünftig. Albert betont vielmehr zum Ende seines Verhörs (was darauf schließen lässt, dass es sich um eine Antwort auf eine konkrete Frage des Untersuchungsrichters handelt): „Ich habe die Tat bei vollständigem Bewusstsein u. nicht etwa im Zustand der Verrücktheit begangen. Doch war ich schauderhaft aufgeregt.“ 254 Ähnlich äußert sich auch Johann S., der angibt, beim Tötungsversuch gegen Anna H. „nicht etwa in einem Augenblick von Zorn gehandelt“ zu haben. 255 Das Tragische tangierte also die Vernunft nicht, es stand gewissermaßen neben oder außer ihr und setzte sich von ihr ab. (Dies bedeutet nicht, dass die Untersuchungsrichter und Psychiater die fatalen Gewalttäter nicht als wahnsinnig oder anormal wahrnahmen, wie die psychiatrischen Gutachten belegen.) 253 StAB BB 15. 4. 1952 1097. 254 StAB BB 15. 4. 1920 949. 255 StAB BB 15. 4. 2007 1362. 162 Wenn die Frage der (Un)Vernunft die Selbstzeugnisse fataler Gewalttäter kreuzt, stört sie tendenziell das tragische Narrativ. Momente der Unvernunft, des Wahnsinns, der Besinnungs- oder Bewusstlosigkeit und der spontanen Unfähigkeit der Affektkontrolle, wie sie in den Selbstzeugnissen von Emil B., Mathias S. und Carlo P. zu finden sind, brechen das typische tragische Skript, indem sie aus der Gewalttat, die in den reinen tragischen Erzählungen den Untergang des Helden und die Lösung des Konflikts darstellt, eine unerklärliche Handlung machen. Aus der Perspektive des Vernunftdiskurses ist die Gewalttat nur als Wahnsinn und Negation der Vernunft begreifbar. Im Lichte des Tragischen betrachtet, ist sie hingegen die konsequente und daher erhabene Handlung eines untergehenden Helden. Die Verbindung von fataler Gewalt und Anomalität wird, wie bereits ausgeführt, nur im Narrativ von Samuel B. hergestellt. Zur Erinnerung noch einmal Samuels Aussage: „Ich habe seit ca. 6 Monaten infolge meiner beständigen Aufregung, welche auf den Scheidungsprozess zurück zu führen ist, sozusagen öfters das geistige Gleichgewicht verloren. Meine unbesonnene Tat im Hotel Schweizerhof in Bern muss ebenfalls in einem Momente geistiger Umnachtung begangen worden sein. Ich bin in Deutschland wegen dem geistigen abnormalen Zustand militärfrei geworden. Ferner bin ich vor ca. 17 Jahren wegen Geisteskrankheit in Strassburg für kurze Zeit in eine Nervenheilanstalt verbracht worden.“ Anders als in den Narrativen derjenigen fatalen Gewalttäter, die angeben, im Moment der Tat kurzzeitig die Besinnung, die Vernunft oder das Bewusstsein verloren zu haben, führt Samuel diesen Zustand als Ausdruck und Folge einer längeren Leidensgeschichte auf. Dadurch entsteht eine Nähe zum Tragischen. Ein Vergleich zwischen dem Verhörprotokoll, in welchem sich Samuel als anormal beschreibt, und seinem Lebenslauf lässt erkennen, dass das Anormale und das Tragische gegenseitig aufeinander verweisen und ineinander aufgehen. Die Ausmusterung aus dem Militärdienst und die Einweisung in eine Nervenheilanstalt in Straßburg, welche Samuel im Verhör als Belege für seine Anomalie angab, erscheinen im Lebenslauf als wichtige Bausteine, um den leidenden Charakter einer tragischen Hauptfigur und einen tragischen Konflikt anzudeuten. Der Lebenslauf lässt sich wie folgt zusammenfassen: Samuel besucht die Grundschule und wird dann von seinem Vater auf das Gymnasium geschickt, das er aber abbrechen muss, weil es ihm „zu schwer“ wird. Der Vater holt ihn wieder nach Hause, damit er den „Handel“ lernt und später die „Geschäftsreisen“ für den Vater übernehmen kann. Mit siebzehn Jahren befällt Samuel „eine Krankheit an den Nerven“ und er leidet „auch sonst Schwermuth“. Sein Vater lässt einen Arzt kommen, der mit der Bemerkung „Das wird schon besser nachher“ die Anweisung erteilt, Samuel „irgendwo hin[zu]tun für ungefähr 4 Wochen.“ Daraufhin schickt der Vater Samuel nach Straßburg (in die besagte Nervenheilanstalt). Die nächste Episode in Samuels Leben stellt der Militärdienst dar. Samuel wird mit zwanzig Jahren zur Musterung einberufen und „sofort angenommen zur 163 Feldartillerie.“ Nach dem Einrücken verschweigt er die diagnostizierte Nervenkrankheit, da er „Freude [hat] den Militärdienst zu machen“. Nach ungefähr sechs Monaten erkrankt Samuel wieder, meldet dies aber weiterhin nicht. Seine „Vorgesetzten“ bemerken jedoch, dass er nicht mehr „fähig“ ist, unterstützen ihn aber vorläufig. Schließlich wird Samuel aber wegen seines „Schwermuth[s]“ aus dem Militär entlassen. 1894 stirbt der Vater, der bisher gemäß Samuels Narrativ sämtliche Entscheidungen in seinem Leben gefällt hat. Samuel denkt nun ans Heiraten: „[D]enn ich habe immer gesagt, es ist doch schön ein familiäres Leben wie meine Brüder und meine Kameraden [zu] haben, aber ich hatte mich nie getraut wegen meiner Krankheit halber und ein tüchtiger Geschäftsmann war ich immer gewesen und ich habe immer geglaubt es vergeht mir wieder.“ Ihm werden „Mädchen angeboten“ und auch seine Mutter fordert ihn auf, sich zu ehelichen. Mit 38 Jahren wird er schließlich mit einer ihm unbekannten Frau „verkoppelt“. 256 Die Ehe ist von Anfang an unglücklich. Der Lebenslauf von Samuel B. liest sich wiederum wie eine Art Exposition einer tragischen Erzählung: Das Leben des Helden ist geprägt von einem aufopferungsvollen, aber erfolglosen Kampf gegen die ‚Krankheit an den Nerven‘ und den ‚Schwermut‘. Dies lässt den Helden erahnen, dass er trotz erfolgreicher Tätigkeit im Beruf niemals im Stand sein wird, ein intaktes Ehe- und Familienleben führen zu können. In Samuels Selbstzeugnissen sind die tragisch-ästhetische Subjektivität und die anormale Subjektivität austauschbar. Das Tragische wird anormal und das Anormale tragisch. Im Verhörprotokoll findet die Erzählung Samuels ihre Fortsetzung, die allerdings mit dem Verweis auf die Besinnungslosigkeit gebrochen wird. Seine Ehe wird geschieden und Samuel das Sorgerecht für das gemeinsame Kind aberkannt. Dies versetzt ihn in „beständige Aufregung“, die zu einem „Moment geistiger Aufregung“ führt, in dem Samuel versucht, seine Tochter Pauline zu erwürgen. 257 Mit dem Verweis auf die Besinnungslosigkeit im Moment der Tat bricht Samuel das tragische Narrativ mit einer negativen Referenz auf das Vernunftsubjekt. Ich werde im Kapitel 8 vertieft auf die Beziehungen zwischen dem Tragischen und dem Anormalen eingehen. Dabei wird verdeutlicht, dass es möglich ist, zwischen dem anormalen Subjekt, wie es die Humanwissenschaften konfigurieren, und dem tragischen Subjekt der Kunst Verbindungslinien zu ziehen. In den Narrativen über die fatale Gewalt war diese Verbindung nicht zentral. Fazit: Der tragische Modus Im letzten Abschnitt wurden die Selbstzeugnisse der fatalen Gewalttäter, unabhängig von der Frage, ob sie wahr oder falsch, erfunden oder erlogen waren, analysiert. Dabei zeigt sich, dass sich die meisten fatalen Gewalttäter in ihren 256 StAB BB 15. 4. 2089 1817. 257 StAB BB 15. 4. 2089 1817. 164 Erzählungen als tragische Helden schilderten. 258 Die Erkenntnis, dass die Erzählungen der fatalen Gewalttäter typischerweise eine tragische Struktur aufweisen, ebnet den Weg, die eingangs gestellte Frage nach den Veränderungen des Gewalthandelns in Familien- und Intimbeziehungen am Übergang zur Moderne zu beantworten. Gleichzeitig hilft sie zu verstehen, weshalb die Narrative fataler Gewalt im Gegensatz zu denjenigen der ehrbezogenen Gewalt explizite Gefühlsäußerungen enthalten. Die ebenfalls im tragischen Stil gehaltenen Abschiedsbriefe, die zeitlich vor der Tat verfasst wurden, verweisen darauf, dass sich die Täter bereits vor der Tat in eine tragische Situation verstrickt sahen. Aus der Perspektive der historischen Gewaltforschung ist entscheidend, dass diese Selbstwahrnehmung dem effektiven Gewalthandeln auf eine gewisse Weise Sinn verlieh. Verstanden als tragische Selbstinszenierung werden die Handlungsmuster der fatalen Gewalttäter begreiflicher. Das Leiden und die Drohungen entsprachen einer Erhebung gegen einen schicksalshaften Untergang. Mit der Tötung eines anderen Menschen luden sich die Gewalttäter die für das Tragische nötige Schuld auf sich, die ihnen gleichzeitig schaurigen Ruhm einbrachte. Eine Selbsttötung allein wäre weniger tragisch und eher traurig gewesen, eben weil dadurch der Beweis, dass der eigene Untergang selbstverschuldet war, weniger manifest wäre. 259 Die Orientierung an der Kunst bedeutet aber nicht, dass fatale Gewalt außerhalb der sozialen Wirklichkeit stattfand - im Gegenteil. Die radikale Ästhetisierung des Selbst ist nur in ihrer Abgrenzung zur moralischen Ordnung moderner Gesellschaften zu verstehen. Auffallend ist, dass sie im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 immer auf einschneidende Ereignisse im Leben der Täter folgte. Die Kündigung der Wohnung oder der Verlust der Arbeitsstelle, die Verweigerung eines Kredits, der Entzug des Sorgerechts, die einseitige Beendigung eines Liebesverhältnisses oder eine Ehescheidung als typische Probleme des modernen Lebens stürzten das moralisch-vernünftige Subjekt in eine tiefgreifende Krise. Das Scheitern an den Idealen und materiellen Erfordernissen der bürgerlichen Gesellschaft und der damit einhergehende Verlust der eigenen Souveränität wa- 258 Ähnlich argumentiert auch Guillais bezüglich den crime passionnel im Paris der 1870er-Jahre. Guillais (1991), S. 55-61. 259 Fatale Gewalttäter handelten und erzählten dabei in gleicher Weise wie der Eltern- und Geschwistermörder Rivière aus der Normandie aus dem Jahr 1835. Unter der Anleitung von Foucault sammelte ein Forscherteam sämtliche auffindbaren Schriftstücke zu diesem Gerichtsfall und gab diese heraus. Darunter befindet sich auch das Memoire des Mörders Rivière, das dieser nach seinem Geständnis während seiner Untersuchungshaft auf Anordnung des Untersuchungsrichters schrieb. Das ursprünglich über fünfzig handgeschriebene Seiten lange Memoire erzählt ausführlich das Eheleben der Eltern, den Charakter Rivières sowie den Mord und die Zeit vom Mord bis zur Verhaftung des Mörders. Foucault beschreibt die Beziehung zwischen Mord und Text als „konsubstantiell“ und spricht in diesem Sinn von einem „Mord-Memoire“. Bezeichnenderweise gab Rivière im Memoire an, dass er ursprünglich vorhatte, den Text vor der Tat zu verfassen. Foucault (1975), S. 232. Vgl. auch Cottier (2016). 165 ren die grundlegende Voraussetzung für fatale Gewalt. Im Moment der Krise des Selbst bot die tragische Subjektivierung mittels fataler Gewalt auf paradoxe Weise die Möglichkeit, trotz des drohenden oder bereits erlittenen Statusverlusts, souveränes Subjekt zu bleiben. Die tragische Selbstinszenierung stellte eine radikale Alternative dar zur gescheiterten moralisch-vernünftigen Subjektivität. Im Sinne der Habitustheorie waren die Handlungsebene und die Wahrnehmungsebene in einem tragischen Modus aufeinander abgestimmt. 260 Fatale Gewalt lässt sich als Teil der in sich widersprüchlichen modernen Subjektkultur deuten. In der modernen Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bestand außer im Krieg und zur Selbstverteidigung kein vernünftiger oder moralisch gerechtfertigter Grund, einen Menschen zu töten. Fatale Gewalt orientierte sich deshalb an der Kunst, in der die Prinzipien der Vernunft und Moral und deshalb auch die Maxime der Affekt- und Selbstkontrolle keine Gültigkeit besaßen. Anders als Norbert Elias’ Theorie der Zivilisierung suggeriert, zeigt die tragische Subjektivierung mittels fataler Gewalt, dass sich das moderne Subjekt nicht auf Selbst- und Affektkontrolle reduzieren lässt. Denn die Leidenschaftlichkeit des Subjekts als Gegenteil der Vernunft war Bedingung für die tragische Selbstheroisierung. Allerdings ist Elias’ Bild des modernen Subjekts zwar unvollständig und einseitig, „gänzlich falsch“ ist es nicht. Die hegemoniale Stellung der moralischen Maxime der Selbst- und Affektkontrolle innerhalb der modernen Subjektkultur zeigt sich gerade darin, dass der tragische Modus, der eine Überwindung der moralisch-vernünftigen Subjektivität ermöglichte, den eigenen Tod und damit die Auflösung des Subjekts beinhaltete. Eine dauerhafte Alternative zur moralisch-vernünftigen Subjektivität stellte die leidenschaftlich-tragische Subjektivierung folglich nicht dar. Offen muss an dieser Stelle die Frage bleiben, durch welche Medien die Menschen mit dem tragischen Modus in Kontakt kamen. Aufgrund des Kunstcharakters der fatalen Gewalt ist es naheliegend, dass das Theater und die Literatur eine wichtige Rolle spielten. Dieser Meinung waren auch die Zeitgenossen. Im seinem Buch Le crime et le suicide passionnels aus dem Jahr 1900 machte der französische Richter Louis Proal in einer ausführlichen Darstellung das Theater und die Literatur für die Verbreitung der ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ verantwortlich. 261 Auch Proal beklagte die grundlegende Abweichung der ästhetischen von den ethischen Werten. In Theater und Literatur führe die Unabhängigkeit der Kunst (la théorie de l’art pour l’art) dazu, dass keine moralischen Werte mehr vermittelt würden. 262 Um den seiner Meinung nach immer häufiger werdenden ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ Einhalt zu gebieten, appellierte er an die Schrift- 260 Habermas zeigt, dass das Gefühl der Liebe im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts durch das Medium des Tragischen modelliert wurde. Habermas (1997). 261 „Contagion du crime passionnel par le roman passionnel“ und „contagion du crime passionnel le théatre passionnel“. Proal (1900), S. 407, 499. 262 Proal (1900), S. 593 f., hier S. 593. 166 steller und die Gründer öffentlicher Bibliotheken, ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen. 263 Von den fatalen Gewalttätern aus dem Amtsbezirk Bern nannte nur Albert S., vermutlich auf eine konkrete Frage des Untersuchungsrichters, Literatur, die er gelesen hatte: „In meinen Jünglingsjahren bis etwa zum 20. Altersjahr las ich gelegentlich Geschichten von Verbrechern, spec. sind mir erinnerl. die von mir seinerzeit abonnierten Kriminalromane ‚Der Räuberhauptmann Zimmermann‘ (in welchem Roman der gemeinsame Selbstmord eines Liebespaares vorkommt) und ‚Gapon‘, ein Roman aus der russischen Revolution, so wie eine Anzahl Hefte aus den Sammlungen Buffalo Bill […], welche ich mir von Kameraden habe leihen lassen.“ 264 In der Untersuchung gegen den russischen Medizinstudenten Wladimir M. sagte dessen Opfer, Kommilitonin und ehemalige Geliebte Tamara K. aus: „Einen besonderen Hang zur Romantik hat M. nicht gehabt, dagegen interessierte er sich immer sehr lebhaft für Verbrechergeschichten, Blutrache und dergleichen und war prahlerisch angelegt.“ 265 Dass fatale Gewalttäter ihre möglichen literarischen Vorbilder nicht als konstitutiven Part in ihre Erzählungen einbauten, vermag aber aufgrund des subjektiven Charakters der fatalen Gewalt auch nicht zu erstaunen. Das tragische Leiden und der inszenierte Untergang wurden als subjektiv wahrgenommen. Die Darstellung des eigenen Schicksals als Nachahmung hätte der Ästhetisierung der Subjektivität grundsätzlich widersprochen. Der Typus der fatalen Gewalt, wie er in diesem Kapitel herausgearbeitet wurde, deckt sich zu großen Teilen mit dem Phänomen, das die Zeitgenossen um 1900 als crime passionnel oder ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ wahrnahmen und welches in der aktuellen historischen Gewaltforschung bisher nur unzureichend eingeordnet werden konnte. Durch die Erkenntnis, dass fatale Gewalttaten dem Modus des Tragischen folgten, kann eine Forschungslücke geschlossen werden. Als ästhetischer Modus der Subjektivierung gehörten fatale Gewalttaten in die moderne Subjektkultur und nicht zur untergehenden Welt der Ehre. Dadurch wird auch verständlich, weshalb fatale Gewalt im Amtsbezirk Bern um 1900 im Gegensatz zu den ehrbezogenen Gewalthandlungen nicht ab, sondern zunahm. Wie gezeigt, bestand zumindest im 19. Jahrhundert eine gewisse Affinität gegenüber diesen Verbrechen, von denen der einflussreiche Zeitgenosse Cesare Lombroso meinte, dass sie aus ‚edlen‘ und ‚erhabenen‘ Leidenschaften begangen wurden. Nach den Ausführungen dieses Kapitels kann festgehalten werden, dass diese Begeisterung vom Tragischen herrührt. Nach der Jahrhundertwende nahm die Begeisterung und das Verständnis für diese gewaltsame Form ästhetischer Subjektivierung zunehmend ab, wie anhand der Ausführungen des Genfer Kriminologen Léon Rabinowicz zu sehen ist. Der Modus des Tragischen wurde aus Sicht der Humanwissenschaften zu etwas Anormalen. Im nächsten Kapitel gilt 263 Proal (1900), S. 282, 489-498. 264 StAB BB 15. 4. 1920 949. 265 StAB BB 15. 4. 1936 1013. 167 es, dieser Verbindung von Leidenschaft, Tragik und Anomalie im Kontext der sexuellen Gewalt näher auf den Grund zu gehen. 7. Sexuelle Gewalt, Schande und Ehre Während der Zusammenhang von Ehre und körperlicher Gewalt in der Forschung Gemeinplatz ist, wurde die sexuelle Gewalt bisher nicht systematisch in Beziehung zur Ehre gesetzt. Wie in der Einführung gezeigt, hat die Forschung aber mehrfach auf den Zusammenhang von weiblicher Ehre und Sexualität hingewiesen. In den einleitenden Ausführungen thematisierte ich mögliche Verbindungslinien zwischen Ehre und sexueller Gewalt auf. In diesem Abschnitt soll nun gezeigt werden, dass 142 Fälle und damit über achtzig Prozent der sexuellen Gewalthandlungen, die im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 gerichtlich untersucht wurden, wie die gesellige, nachbarschaftliche und züchtigende Gewalt einen Bezug zur Ehre aufweisen. Aus dem Kapitel 5 geht hervor, dass körperliche Gewalt in Ehrgesellschaften nicht nur der Verteidigung materieller und symbolischer Ressourcen diente, sondern in erster Linie der spielerischen Einübung und Einverleibung der sozialen Ordnung der Ehre. In diesem Kapitel soll die These entwickelt werden, dass sexuelle Gewalt analog dazu, als ‚Spiel der Schande‘ gedeutet werden kann, bei dem es ebenfalls um die Einübung und Einverleibung der sozialen Ordnung der Ehre ging. Anders als das gesellige Gewaltspiel fand das sexuelle Spiel der Schande gerade nicht zwischen virtuell Gleichen, sondern zwischen virtuell Ungleichen - zwischen Männern und Frauen und zwischen Männern und Kindern - statt. Ein Spiel war es natürlich nur für die männlichen Täter und das Spielkonzept soll in keiner Art und Weise die Brutalität beschönigen und die möglicherweise traumatischen Folgen der Gewalt für die Opfer verharmlosen. Wie zu zeigen sein wird, rückten aber die Angeklagten in ihren narrativen Darstellungen der Gewalt die spielerische Komponente in den Vordergrund. Der Vergleich mit dem Spiel ist nicht nur empirisch fassbar, sondern hilft gleichzeitig auf konzeptueller Ebene verständlich zu machen, dass der sexuellen Gewalt kein direkter sozialer Zwang und auch kein angeblich aufgestauter natürlicher Sexualtrieb zugrunde lagen. Anhand der dreifachen Lesart der Verhörprotokolle mit Fokus auf die Sozialprofile, die Handlungskontexte und den narrativen Stil soll der Ehrcharakter dieser Gewalthandlungen hervorgehoben werden. Dabei zeigt sich, dass in puncto Sozialprofile und narrativem Stil große Ähnlichkeiten zur ehrbezogenen körperlichen Gewalt bestehen. Aber auch bei den Gewaltkontexten lassen sich Verbindungslinien zur ehrbezogenen körperlichen Gewalt ziehen. Aufgrund dieser Nähe erstaunt es nicht, dass die Fälle mit sexueller Gewalt im Kontext der Ehre während des Untersuchungszeitraums rückläufig sind und sich auf dessen erste Hälfte konzentrieren. 168 Diagramm 7: Registrierte ehrbezogene sexuelle Gewalt im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 266 Der in Diagramm 1 festgestellte Rückgang der Fälle mit sexueller Gewalt in Bern nach 1900 hängt folglich - so die These - gleich wie bei der schweren körperlichen Gewalt mit dem Bedeutungsverlust der Ehre und mit der Verbreitung eines spezifisch modernen Subjekthabitus zusammen. Wie eingangs thematisiert, kann aufgrund der hohen Dunkelziffer bei der sexuellen Gewalt, anders als bei der schweren körperlichen Gewalt mit ihrer verhältnismäßig kleinen Dunkelziffer, nicht zwingend von einem effektiven Rückgang der Übergriffe ausgegangen werden. Trotzdem besteht die Möglichkeit, dass durch den Untergang des sozialen Systems der Ehre gewisse sexuelle Gewalthandlungen tatsächlich abnahmen. Bevor die Schwankungen der Fallzahlen, die das Diagramm 7 zeigt, zum Schluss dieses Kapitels diskutiert werden können, ist es notwendig, die Charakteristiken der ehrbezogenen sexuellen Gewalt ausführlich herauszuarbeiten. Auch hier ist es sinnvoll, eine Unterteilung vorzunehmen, um verschiedene Nuancen und Aspekte des Zusammenhangs von Ehre und sexueller Gewalt verdeutlichen zu können. Anhand der dreifachen Lesart der Selbstzeugnisse sollen drei Typen unterschieden werden. Diese Typenbildung meldet keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit an, sondern dient lediglich dazu, die Gewalt und ihre Entwicklungen im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 kulturhistorisch einzuordnen. Zu einem ersten Typus lassen sich 82 Fälle mit sexueller Gewalt gegen erwachsene Frauen und in Ausnahmefällen auch gegen Männer zusammenführen. ‚Erwachsen‘ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Opfer mindestens zwölf Jahre alt waren. Die Altersgrenze folgt der juristischen Logik des Schutzalters, 266 Vier Fälle stammen aus den Jahren 1868 und 1869. StAB BB 15. 4. 1509/ 1510 7661 enthält neben ehrbezogener sexueller Gewalt gegen Erwachsene auch ehrbezogene sexuelle Gewalt gegen Kinder. StAB BB 15. 4. 1728 9540 beinhaltet sowohl ehrbezogene sexuelle Gewalt gegen Erwachsene als auch ehrbezogene sexuelle Gewalt in der Familie. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Fälle mit ehrbezogener sexueller Gewalt pro Jahrzehnt Fälle mit ehrbezogener sexueller Gewalt pro 100‘000 Einwohner 169 nach welcher der Geschlechtsverkehr mit Mädchen unter zwölf Jahren unter den Notzuchtartikel 170 fiel, unabhängig von der Frage, ob diese sich einverstanden erklärten oder sich wehrten. 267 Wie zu zeigen sein wird, fanden diese Gewalttaten in doppelter Hinsicht am Rande der Gesellschaft statt. Erstens handelte es sich bei den Opfern meistens um arme Frauen und Frauen mit körperlicher und/ oder geistiger Behinderung. Die Angeklagten hingegen stammten zwar mehrheitlich aus der sozialen Unterschicht, eine besonders schwache soziale Position nahmen sie jedoch nicht ein. Zweitens lagen die Tatorte häufig fernab der Wohngebiete auf Landstraßen oder in Wäldern. Die Verteilung dieser Fälle über den Untersuchungszeitraum ist die folgende: Diagramm 8: Registrierte ehrbezogene sexuelle Gewalt gegen Erwachsene im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 268 Zum zweiten Typus lassen sich fünfzig Fälle mit sexuellen Übergriffen gegen Kinder - bis auf wenige Ausnahmen handelt es sich um Mädchen - unter zwölf Jahren zusammenfassen. Bezogen auf den Handlungskontext ist die Grenze zwischen ehrbezogenen sexuellen Angriffen auf Kinder und Erwachsene nicht immer deutlich zu ziehen. Trotzdem sind Tendenzen erkennbar: Übergriffe auf Kinder ereigneten sich überwiegend in der Nähe von deren Wohnort. Es handelt sich deshalb in erster Linie um eine Form nachbarschaftlicher Gewalt. Nimmt man die Sozialprofile der Eltern der missbrauchten Kinder zum Maßstab, handelt es sich bei den Opfern in der Mehrzahl nicht um soziale Randfiguren. Im Kontext der Ehre scheint das kindliche Alter genügt zu haben, um Opfer sexueller Gewalt zu werden. 267 Vgl. Kapitel 2. 268 Drei Fälle fallen auf die Jahre 1868 und 1869. 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Fälle mit ehrbezogener sexueller Gewalt gegen Erwachsene pro Jahrzehnt Fälle mit ehrbezogener sexueller Gewalt gegen Erwachsene pro 100‘000 Einwohner 170 Diagramm 9: Registrierte ehrbezogene sexuelle Gewalt gegen Kinder im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 269 Als dritter Typus lassen sich zwölf Fälle der ehrbezogenen sexuellen Gewalt innerhalb der Familie und im Haushalt bündeln. Es gibt auffallend wenige Fälle, die sexuelle Gewalt in der Familie und anderen hierarchischen Beziehungen dokumentieren. Dies verweist darauf, dass die Überlieferung sexueller Gewalt in Strafgerichtsakten zu einem hohen Grad von der Tatsache abhängt, ob es zu einer Anzeige kam oder nicht. Bei sexuellen Übergriffen in der Familie und anderen hierarchischen Beziehungen dürften die emotionalen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Opfer und Täter häufig dazu geführt haben, dass von einer Anzeige abgesehen wurde. Im Zusammenhang mit der quantitativen Zu- und Abnahme der Gerichtsfälle zwischen 1868 und 1941 werde ich ausführlicher auf diese Thematik zu sprechen kommen. An dieser Stelle genügt es, darauf zu verweisen, dass die geringe Anzahl der Fälle mit ehrbezogener sexueller Gewalt in der Familie und anderen hierarchischen Beziehungen kaum ihr effektives Ausmaß widerspiegeln dürfte. Trotzdem ist es wichtig, auf die wenigen Fälle einzugehen, denn diese fanden aufgrund der Opfer-Täter-Beziehungen in anderen sozialen Kontexten statt als die Übergriffe, bei denen die Angeklagten nicht in einer institutionalisierten Machtbeziehung mit den Opfern standen. 269 Ein Fall fällt auf das Jahr 1868. 0 5 10 15 20 25 30 Fälle ehrbezogener sexueller Gewalt gegen Kinder pro Jahrzehnt Fälle ehrbezogener sexueller Gewalt gegen Kinder pro 100‘000 Einwohner 171 Diagramm 10: Registrierte ehrbezogene sexuelle Gewalt in Familien und im Haushalt im Amtsbezirk Bern 1870-1939 Sozialprofile Sexuelle Gewalt gegen Erwachsene Aus den 82 Fällen mit ehrbezogener sexueller Gewalt gegen Erwachsene lassen sich die Sozialprofile von insgesamt 97, ausschließlich männlichen, Angeklagten rekonstruieren. 270 Der jüngste Angeklagte war fünfzehn Jahre alt, die zwei ältesten 53. Rund die Hälfte war zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt, ein knappes Viertel zwischen dreißig und vierzig. 271 Entsprechend ihrem Alter waren die meisten Angeklagten ledig (46). Allerdings war immerhin fast ein Viertel von ihnen verheiratet oder verlobt (21). 272 Mehr als die Hälfte der Männer waren Arbeiter (57). Auch die Berufe des alten Handwerks (15) und die landwirtschaftlichen Tätigkeiten (15) waren stark vertreten. Männer mit Dienstleistungsberufen kommen dagegen kaum vor. Ausnahmen stellen ein „gewesener Briefträger“ und ein Buchhalter dar. 273 Auffallend ist die gänzliche Abwesenheit von Berufspro- 270 Fälle mit ehrbezogener sexueller Gewalt gegen Erwachsene mit mehreren Angeklagten: StAB BB 15. 4. 1185 4136; 1227 4647; 1548 8035; 1585 8347; 1642 8841; 1660 8997. Gegen Christian Z. wurde sowohl 1898 wie auch 1899 Anklage wegen Notzucht erhoben. Für die quantitative Auswertung wird dessen Sozialprofil doppelt berücksichtigt. 271 Altersverteilung der Angeklagten bei ehrbezogener sexueller Gewalt gegen Erwachsene. Anzahl Angeklagte: 15-19-jährig: 14; 20-29: 50; 30-39: 20; 40-49: 8; 50-53: 5. 272 Die Überlieferung des Zivilstands ist lückenhaft. Ein Angeklagter war verwitwet, einer lebte getrennt von seiner Frau. 273 StAB BB 15. 4. 1564 8193; 1271 5144. In die Kategorie ‚Arbeiter‘ fallen: Schlosser, Schreiner/ „Modelleur“, Gipser, Handlanger, Steinbrecher/ Steinhauer, Steinbohrer, Tapezierer, Zimmermann, Dachdecker, Bierbrauer, Ausläufer/ „Paker“, Knecht in einer Wäscherei, Giesser. In 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5 Fälle mit ehrbezogener sexueller Gewalt in Familien und im Haushalt pro Jahrzent Fälle mit ehrbezogener sexueller Gewalt in Familien und im Haushalt pro 100‘000 Einwohner 172 filen, die auf einen erhöhten sozialen Status schließen lassen. Die Analyse der Wohnorte zeigt weiter, dass über die Hälfte der Angeklagten in den Dörfern außerhalb der Stadt wohnten. In Anbetracht der geringeren Bevölkerungszahl der Dörfer im Verhältnis zu Stadt lässt sich daher ein beträchtliches Übergewicht von Angeklagten mit ländlichem Hintergrund feststellen. 274 Das Sozialprofil der Angeklagten in Fällen mit ehrbezogener sexueller Gewalt gegen Erwachsene deckt sich insgesamt mit demjenigen der anderen ehrbezogenen Gewalthandlungen, insbesondere mit demjenigen der geselligen Gewalt. Wesentlich deutlicher ist hier allerdings der überproportionale Anteil ländlicher Protagonisten. Bei den 98 Opfern handelte es sich bis auf sechs Ausnahmen um Frauen. Die Opfer waren tendenziell jünger als die Angeklagten. Zwölfbis Zwanzigjährige und Zwanzigbis Dreißigjährige stellten je zu fast gleichen Teilen gemeinsam zwei Drittel der Opfer. Die untere Altersgrenze der unter diesem Typus behandelten Fälle liegt beim juristischen Schutzalter von zwölf Jahren und folgt daher der juristischen Logik. Das bedeutet, dass die elf Übergriffe auf zwölf-, dreizehn- oder vierzehnjährige Frauen bezüglich den Handlungskontexten Ähnlichkeiten mit den Übergriffen auf Kinder in der Nachbarschaft haben können. Die große Mehrheit der Opfer war dem juristischen Schutzalter mit fünfzehn oder mehr Jahren aber bereits deutlich entwachsen; ein knappes Viertel war dreißig und älter. Auffallend ist, dass auch ältere Frauen angegriffen wurden, wie etwa die 76-jährige verkostgeldete und als „blödsinnig“ geltende Anna Elisabeth Z. 275 Angriffe auf Frauen über fünfzig sind sieben Mal dokumentiert und bilden folglich keine Ausnahme. 276 Obwohl Angaben über den Zivilstand der Opfer häufig fehlen, zeichnet sich ab, dass auch diese - wie ihre Peiniger - ihrem jungen Alter entsprechend mehrheitlich ledig waren. 277 Anders als bei Männern sind die Berufe von Frauen in den Akten generell selten vermerkt. Aus den Verhörprotokollen lassen sich deshalb nur für rund ein Drittel der Opfer Berufsbezeichnungen ablesen. Mehrfach vertreten sind die typischen Berufe für Frauen aus der Untersicht: Dienstmägde, Schneiderinnen und Näherinnen, Köchinnen, Tagelöhnerinnen und Landarbeiterinnen. Teilweise sind die Berufe der Väter oder Ehemänner der die Kategorie ‚altes Handwerk‘ fallen: „Korber“, Schneider, Schmid, Küfer, Bäcker, Schuster, Sattler, Metzger, Wagner. In die Kategorie ‚landwirtschaftliche Berufe‘ fallen: Tagelöhner, Landarbeiter, Gärtner, Pächter, Karrer, Knecht, Landwirt, Melker. Weitere Berufe waren: Kutscher, Wirt, Dienstmann, Schüler, Rekrut und Wärter in einer Irrenanstalt. Ein Angeklagter war ohne Beruf. 274 49 Angeklagte wohnten in den Dörfern des Amtsbezirks, 33 in der Stadt, zehn hatten keinen festen Wohnsitz, vier wohnten außerhalb des Amtsbezirks. Bei drei Angeklagten fehlt eine Angabe. Zum Verhältnis der städtischen und ländlichen Bevölkerung des Amtsbezirks Bern zwischen 1868 und 1941 vgl. Fußnote 1, S 13. 275 StAB BB 15. 4. 1816 405. 276 Altersverteilung der Opfer bei ehrbezogener sexueller Gewalt gegen Erwachsene. Anzahl Opfer: 12-19-jährig: 34; 20-29: 31; 30-39: 10; 40-49: 5; 50-59: 6; 60-69: 0: 70-76: 3; bei acht Opfern fehlt die Angabe. 277 33 Opfer waren erwiesenermaßen ledig, vierzehn verheiratet und ein Opfer war verwitwet. 173 Opfer angegeben. Diese verweisen ebenfalls auf eine Herkunft aus der Unterschicht. Die Opfer stammten also überwiegend aus den gleichen sozialen Schichten wie die Angeklagten. Allerdings fehlen Opfer mit modernem Berufsprofil nicht gänzlich, wie die Berufsbezeichnung ‚Lehrerin‘ in zwei Fällen zeigt. Wie die Angeklagten stammten auch die Opfer überwiegend aus den Dörfern rund um die Stadt. 278 Gemeinsam war den Angeklagten und den Opfern die Zugehörigkeit zur, meist ländlichen, Unterschicht; unterschiedlich war (in den allermeisten Fällen) das Geschlecht. Die Geschlechterdifferenz von Angeklagtem und Opfer ist im Zusammenhang mit sexueller Gewalt eine fast banal anmutende Feststellung. Dennoch ist es wichtig, diese Tatsache hervorzuheben, denn sie drückt die soziale Hierarchie zwischen den Geschlechtern aus, die für Ehrgesellschaften konstitutiv war. 279 Wenn Männer gegen Frauen im Kontext der Ehre gewalttätig wurden, handelte es sich daher nie um eine Auseinandersetzung zwischen Gleichen, sondern, im Gegenteil, immer um eine zwischen Ungleichen. Sexuelle Übergriffe von Männern auf Frauen fanden in einer sozialen Ordnung statt, in der die Männer den Frauen höhergestellt waren. Deshalb war es kein Zufall, dass die Mehrzahl der Opfer ledig war, denn dies bedeutete, dass sie nicht unter dem symbolischen Schutz eines Ehemannes standen. Diese Frauen verfügten im Sinne von Bourdieus Ehrkonzept über wenig hurma. In diesem Zusammenhang ist auch auffällig, dass ein Drittel (33) der angegriffenen Opfer als geistig oder körperlich behindert galten. Rosetta S. beispielsweise war laut der Anzeige „sowohl körperlich als geistig nicht normal“, und Susanna S. wurde im Leumundszeugnis des Gemeinderats von Zollikofen als „ziemlich beschränkte und unselbstständige Person“ beschrieben. 280 Frauen wie Rosetta und Susanna standen in der Hierarchie der Ehrgesellschaft weit unten. Sie verfügten über entsprechend geringes symbolisches Kapital und waren aufgrund ihrer Schicht- und Geschlechterzugehörigkeit sowie ihrer Behinderung, die mit großer Wahrscheinlichkeit bedeutete, dass sie lebenslang ledig blieben, auf vierfache Weise der Gefahr ausgesetzt, Opfer sexueller Gewalt zu werden. 281 278 48 Opfer lebten in den Dörfern, vierzig in der Stadt, drei waren ohne festen Wohnsitz und zwei wohnten außerhalb des Amtsbezirks. Bei fünf Opfern fehlt die Angabe zum Wohnort. 279 Bei der Geschlechterdifferenz in Ehrgesellschaften handelt es sich um eine soziale und nicht biologische Unterscheidung. Dies verdeutlicht eine Studie zur zeitgenössischen Ehrgesellschaft in Nordalbanien, in denen die Möglichkeit besteht, dass die Position des Familienoberhaupts oder Clanführers vorübergehend durch eine Frau eingenommen werden kann, bis ein geeignetes männliches Mitglied zur Verfügung steht. Die Voraussetzung für ein solches Manöver ist, dass diese Frauen einen männlichen Habitus annehmen und entwickeln, sich daher wie Männer kleiden, sprechen und benehmen und unter Männern verkehren. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, dass niemand sie als Frauen in einem biologischen Sinn erkennt, sondern darum, dass die hierarchische soziale Ordnung der Familie und der Geschlechter aufrechterhalten wird. Zum Phänomen der Albanian Sworn Virgins Vgl. Young (2000). 280 StAB BB 15. 4. 1642 8841; 1664 9034. 281 Töngi hat sehr ähnliche Opfer- und Täterprofile für die sexuelle Gewalt im Kanton Uri im 174 Sexuelle Gewalt gegen Kinder Einen ähnlich niedrigen sozialen Status wie ledige und/ oder von körperlicher und geistiger Behinderung betroffene Frauen aus der Unterschicht hatten im Kontext der Ehre - gemessen an sexuellen Übergriffen - auch Mädchen unter zwölf Jahren. In diesem Sinn streicht Renate Dürr heraus, dass Mägde in Ehrgesellschaften auf derselben Stufe der sozialen Hierarchie wie Kinder standen. 282 Die 51 Angeklagten, wiederum ausschließlich Männer, in den fünfzig Fällen mit ehrbezogener sexueller Gewalt gegen Kinder waren tendenziell jünger als Männer, die erwachsene Frauen angriffen. 283 Mit einem Drittel stellten die Fünfzehnbis Zwanzigjährigen den größten Anteil. Die Kohorte der Zwanzigbis Dreißigjährigen, die bei den Angriffen auf Erwachsene den größten Anteil stellte, war mit elf Angeklagten ebenfalls gut vertreten. Übergriffe auf Kinder begingen aber nicht nur junge Männer. Rund die Hälfte der Angeklagten war dreißig Jahre alt oder älter. 284 Zwanzig der Angeschuldigten waren erwiesenermaßen ledig und elf verheiratet. 285 Die Berufsprofile der Angeklagten waren die gleichen wie bei allen ehrbezogenen Gewalthandlungen. Allerdings fällt auf, dass verhältnismäßig viele der Angeklagten in der Landwirtschaft tätig waren (18). Bei der einzigen Berufsbezeichnung, die möglicherweise auf eine Beschäftigung in einem modernen Wirtschaftszweig schließen lässt, handelt es sich um einen „Komiker“ eines Wanderzirkus. 286 Auch hier fällt auf, dass die Hälfte der Angeklagten aus den ländlichen Gebieten des Amtsbezirks stammte. 287 Angeklagte mit ländlichem Sozialprofil waren also aufgrund der niedrigeren Bevölkerungsgröße des ländlichen Umlands übervertreten. Den 51 Angeklagten stehen 86 Opfer gegenüber. Bis auf drei Ausnahmen handelt es sich um Mädchen. Diese Kinder stammten fast ausschließlich aus den gleichen sozialen Schichten und lebten in derselben Nachbarschaft wie die Angeklagten. Ausnahmen sind die Übergriffe des Gärtners Joseph W. auf zwei Töchter 19. Jahrhundert herausgearbeitet. Vgl. Töngi (2004), S. 323-338. 282 Dürr (1998), S. 170-173. 283 In StAB BB 15. 4. 2148 2214 wurden zwei Männer angeklagt. 284 Altersverteilung der Angeklagten bei sexueller Gewalt gegen Kinder in der Nachbarschaft. Anzahl Angeklagte: 15-19-jährig: 16; 20-29: 11: 30-39: 12; 40-49: 8; 50-59: 2; 60: 2. 285 Je ein Angeklagter war geschieden beziehungsweise verwitwet. Bei vierzehn Angeklagten ist der Zivilstand nicht eingetragen. 286 StAB BB 15. 4. 1261 5041. Zwanzig waren als Arbeiter angestellt; achtzehn in der Landwirtschaft; sieben im alten Handwerk. In die Kategorie ‚Arbeiter‘ fallen: Handlanger, Steinbrecher, Schlosser, Maschinenputzer, Mechaniker, Einleger, Zimmermann, Zieglereiarbeiter, Gipser, Maler, Nachtwächter in einer Maschinenfabrik. In die Kategorie ‚altes Handwerk‘ fallen: Schneider, Schuhmacher, Schriftsetzer, Sattler. In die Kategorie ‚landwirtschaftliche Berufe‘ fallen: Tagelöhner, Gärtner, Landarbeiter, Landwirt, Holzhauer, Knecht, Milchträger. Zwei Angeklagte waren ohne Beruf, ein Angeklagter war Komiker und bei zweien fehlt eine Berufsangabe. 287 22 Angeklagte wohnten in den Dörfern, 23 in der Stadt, drei waren ohne festen Wohnsitz, einer wohnte außerhalb des Amtsbezirks und bei einem Angeklagten fehlt die Angabe. 175 eines „Vorstehers einer Blindenanstalt“, auf dessen Anwesen er arbeitete, sowie des Gärtners Adolf W. auf die neunjährige Ingenieurstochter Clara C. am Rand des Bremgartenwalds. 288 Anders als die angegriffenen Frauen waren die Mädchen selten ausgesprochene Randfiguren. Nur drei von ihnen galten als körperlich oder geistig behindert, und nur elf Kinder lebten nicht bei ihren leiblichen Eltern, sondern in Heimen, bei Pflegeeltern oder waren verdingt. 289 Dies bedeutet nicht unbedingt, dass Pflege- und Verdingkinder seltener Opfer sexueller Übergriffe wurden als Kinder, die bei ihren leiblichen Eltern wohnten. Hier muss wiederum berücksichtigt werden, dass bei der sexuellen Gewalt wahrscheinlich eine sehr große Dunkelziffer besteht. Weiter unten werde ich zeigen, dass Kindsmissbrauch in erster Linie auf die Initiative der Eltern angezeigt wurde. Trotz möglicher Verzerrungen durch schichtspezifisches Anzeigeverhalten scheint allerdings der Befund plausibel, dass überwiegend Mädchen aus den unteren sozialen Schichten Opfer sexueller Gewalt wurden. Diese Mädchen waren im Kontext der Ehre aufgrund ihres Geschlechts, ihres Alters und ihrer sozialen Herkunft auf dreifache Weise gefährdet, Opfer eines sexuellen Übergriffs zu werden. 290 Sexuelle Gewalt in Familie und Haushalt Bei sieben Angeklagten handelte es sich um die Väter, Pflege- oder Stiefväter der Opfer. Sie waren alle dreißig Jahre und älter und damit tendenziell älter als die anderen ehrbezogenen sexuellen Gewalttäter. Ein Angeklagter war der sechzehnjährige Bruder des Opfers. Die restlichen drei Angeklagten waren als Arbeitgeber und ältere Mitarbeiter der Opfer mit 29 Jahren und älter tendenziell ebenfalls älter als die anderen Angeklagten bei ehrbezogenen sexuellen Gewalthandlungen. Die Angeklagten übten als Ausläufer, Landarbeiter und Landwirt, Metzger und Kutscher, Schmied und Handlanger, Maler und Steinbrecher für ehrbezogene Gewalttäter typische Unterschichtsberufe aus. Ein Wirt belästigte seine Magd. Auch bei diesem Gewalttypus lebten verhältnismäßig viele Angeklagte auf dem Land. 291 In den Fällen, in denen die Angeklagten mit den Opfern verwandt waren, ist neben der räumlichen auch die soziale Nähe gegeben. Bei den anderen Fällen handelte es sich bei den Opfern um Mägde und damit ebenfalls um Angehörige der Unterschicht. Die Frauen waren zwischen dreizehn und 26 Jahre alt. Die verkostgeldete Anna B. war laut Arztbericht zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. 288 StAB BB 15. 4. 11580 8304; 1362 626. 289 StAB BB 15. 4. 1407 6764; 1429 6964; 1619 8629; 2053 1621. 290 Sohn belegt für Frankreich zwischen 1870 und 1939, dass sowohl die Angeklagten als auch die Opfer vornehmlich aus den unteren und den ländlichen Gesellschaftsschichten stammten. Clark zeigt für England zwischen 1800 und 1830, dass sexuelle Übergriffe vor allem im Arbeitermilieu vorkamen. Laut Jackson gehörten in England in der viktorianischen Zeit Angeklagte und Opfer meist der „working class“ oder „petite bourgeoisie“ an. Sohn (1997), S. 67-70; Clark (1987), S. 98 f., Jackson (2000), S. 29. 291 Je sechs Angeklagte lebten auf dem Land und in der Stadt. 176 Praktiken und Kontexte Sexuelle Gewalt gegen Erwachsene Die ehrbezogenen sexuellen Übergriffe gegen Erwachsene richteten sich nicht nur zu einem bedeutenden Teil gegen randständige Frauen, sie fanden auch an gesellschaftlichen Randorten statt, wie sich anhand einer Analyse der Tatorte der 104 Übergriffe zeigen lässt, die in den 82 Fallakten überliefert sind. 292 Mehr als die Hälfte (55) der Übergriffe ereigneten sich in der relativen Abgeschiedenheit von Wäldern, Landstraßen und Äckern. In starkem Kontrast dazu stehen die Gassen und Straßen der Innenstadt oder der städtischen Wohnquartiere, die nur in vier Fällen als Tatorte fungierten. Aus der Tatsache, dass sich sexuelle Übergriffe meist außerhalb der Dörfer und Wohnquartiere ereigneten, darf allerdings nicht geschlossen werden, dass die Nachbarschaft Schutz vor sexueller Gewalt bot, denn bei knapp einem Drittel der Übergriffe (32) wurden Frauen in ihren eigenen vier Wänden überfallen. 293 Aus den Verhörprotokollen wird teilweise ersichtlich, weshalb die Frauen ihre Behausungen verließen. Die Weißnäherinnen Anna B. und Margaritha B. suchten im August 1868 im Bremgartenwald nach Kräutern. Zumindest für die laut der gerichtlichen Anzeige an „Athmungsbeschwerden“ leidende Anna B. lässt sich vermuten, dass sie dies nicht aus Vergnügen, sondern aus materieller Notwendigkeit tat. 294 Die laut ihrer Mutter „etwas beschränkte“ Anna H. sammelte im Februar 1875 im Gurtenwald Holz. 295 Diese Tätigkeiten weisen darauf hin, dass der Aufenthalt am Tatort einer relativ schwachen sozioökonomischen Stellung geschuldet war. Dies lässt wiederum darauf schließen, dass diese Frauen über verhältnismäßig wenig symbolisches Kapital verfügten. Die Angeklagten waren teilweise ebenfalls aufgrund ihrer Arbeit oder aus Gründen der Bedarfsdeckung in den Wäldern und auf den Landstraßen unterwegs. Der Tagelöhner Ferdinand S. trieb 1870 eine Kuh durch den Schüpfenriedwald, wo er auf die angeblich „blödsinnige“ Anna I. traf. Anders als bei den Frauen wird in den Untersuchungsakten aber erkennbar, dass der Wald für die Männer auch ein Ort der Freizeit und Geselligkeit war. Im Mai 1875 verbrach- 292 StAB BB 15. 4. 1455 7187; 1620 8642; 1664 9034; 1816 405 dokumentieren je zwei unabhängige Übergriffe desselben Angeklagten. StAB BB 15. 4. 1509/ 1510 7661 weist neun unabhängige Übergriffe desselben Angeklagten auf. 293 Dreimal war der Wohnort des Angeklagten Tatort. Dabei handelte es sich in zwei Fällen um einen Nachbarn des Opfers (StAB BB 15. 4. 1430 6967; 1920 946). Im anderen Fall wurde eine Wäscherin angegriffen, als sie in der Wohnung des Angeklagten die Wäsche holte (StAB BB 15. 4. 1459 7237). Hotelzimmer beziehungsweise Herbergen stellten in vier Fällen die Tatorte. Es handelte sich dabei ausnahmslos um Übergriffe von Männern gegen Männer. StAB BB 15. 4. 1278 5244; 1620 8642; 1647 8883; 1661 9004. 294 StAB BB 15. 4. 1093 3119. 295 StAB BB 15. 4. 1220 4572. 177 ten drei junge Arbeiter einen Nachmittag mit Biertrinken am Waldrand, als die 29-jährige Dienstmagd Elise M. vorbeikam und sie diese zum Mittrinken aufforderten. 296 Wenn Frauen in den Wald gingen, offenbarte sich nicht nur ihre relative Armut, sondern sie setzten sich auch dem Verdacht der Prostitution aus. Ein Zeuge sagte aus, dass der Giessereiarbeiter Ernst H. der Fabrikarbeiterin Luise L. auf ihrem Heimweg durch den Bremgartenwald anbot, „geschlechtlich mit ihr zu verkehren“. Dies führte dazu, dass der Untersuchungsrichter Luises Leumund prüfen ließ. 297 Ähnlich erging es Rosina G., die ebenfalls im Bremgartenwald angegriffen wurde: „Dass ich eine Dirne sei, muss ich entschieden bestreiten, ich habe mich immer brav aufgeführt. Richtig ist, dass ich hie & da kiltgangsweise Besuche von Mannspersonen empfangen habe.“ 298 Auch die Angeklagten verdächtigten Frauen, die sich in den Wäldern aufhielten, Prostituierte zu sein. Der „Ausläufer und Paker“ Johann S., der sich - wie gleich näher gezeigt wird - als „Baumwart“ ausgab, beschimpfte die Begleiterin seines Opfers als „dumme alte Hure“. 299 Frauen wurden auch in ihren eigenen vier Wänden überfallen. Dass bei diesen Übergriffen die relativ schwache soziale Position des Opfers ebenfalls eine Rolle spielte, lässt sich anhand eines Übergriffs im Dorf Gasel illustrieren. In einer Julinacht kam laut der vierzigjährigen Magdalena M. eine Gruppe von Burschen zum „Scheuerlein“, in dem sie gemeinsam mit ihrem Mann wohnte. „[Einer der Burschen] sagte meinem Manne, er solle machen, dass er fortkomme, er werde von den Landjägern gesucht, weil er die Beiträge für die von der Gemeinde verkostgeldeten Kinder nicht bezahle. Mein Mann glaubte dies und verfügte sich sofort in die Stadt auf die Arbeit […]. Sobald mein Mann fort war, kam [der 25-jährige Metzger Gottfried] R. auf mich los, fasste mich und zwang mich, mit ihm den Umgang zu vollziehen […].“ Vom Angeklagten erfuhren die Untersuchungsrichter zu diesem Vorfall nichts. Obwohl mehrere Zeugen angaben, er wäre nüchtern gewesen, erwähnte Gottfried wiederholt, vollkommen betrunken gewesen zu sein und sich deshalb an nichts mehr erinnern zu können. Gesprächiger zeigte sich Gottfried gegenüber seiner Mutter, die daraufhin ebenfalls angehört wurde. Gottfried hätte ihr die Geschichte mit Magdalena M. erzählt und „darüber gelacht“. Die Mutter wusste auch zu berichten, dass die Gruppe den Ehemann M. nicht nur aus seinem eigenen Haus fortgejagt, sondern auch noch „geklopft“ hätte. 300 Die soziale Position des Angeklagten und des Opfers unterschieden sich in diesem Fall. Magdalena lebte mit ihrem Mann am Rand der Gesellschaft. Ihre 296 StAB BB 15. 4. 1227 4647. 297 StAB BB 15. 4. 1831 496. 298 StAB BB 15. 4. 1459 7238. 299 StAB BB 15. 4. 1474 7357. Ähnliche Fallbeispiele von Übergriffen abseits der bewohnten Gebiete finden sich bei Töngi (2004), S. 353-372; Hommen (1999), S. 113-116. 300 StAB BB 15. 4. 1563 8182 178 Armut machte sie zum Zielpunkt von gewalttätigen Schikanen und Späßen heranwachsender Burschen aus der Umgebung. Während der Ehemann M. laut Aussage der Mutter des Angeklagten den erniedrigenden Schlägen der nächtlichen Besucher ausgeliefert war, wurde Magdalena zum Opfer sexueller Gewalt durch Gottfried R., der als Metzger vermutlich wirtschaftlich abgesichert und als Musiker in die Dorfgesellschaft integriert war. Während Magdalena in einer Ehe mit einem armen Mann in einer Behausung lebte, die sie selbst ein ‚Scheuerlein‘ nannte, bewegte sich Gottfried im Zentrum der dörflichen Gesellschaft. 301 Anders als die Angriffe auf Frauen in deren Wohnungen, die ein Minimum an Planung erforderten, erfolgten die Überfälle im Freien meist auf eine spontane Begegnung. Nur in zwei Ausnahmefällen begaben sich das Opfer und der Angeklagte gemeinsam zum späteren Tatort. Die Dienstmagd Rosina G. ließ sich auf dem „Dienstenmarkt“ in Bern verdingen. Bei dieser Gelegenheit wurde sie von Landarbeiter Johannes K. angesprochen, der vorgab, für seinen Meister in Zollikofen eine Magd zu suchen. Im Verhör gab Johannes zu: „Ich lokte das Mädchen in den Wald in der Absicht, mit demselben den Beischlaf auszuüben, falls es dies zulassen würde.“ 302 Auch der Steinbrecher Adolf A. begab sich gemeinsam mit der Dienstmagd Arnolda C. in ein Waldstück, um sie dort zu vergewaltigen. Adolf hatte im Vorfeld Arnoldas Meister einen besseren Kaufpreis für eine Ziege in Aussicht gestellt, falls er seine Magd schicken würde, um diese abzuholen. Der Meister und Arnoldas Vater durchschauten Adolfs Absicht und warteten bereits im Waldstück auf Arnoldas Rückkehr. 303 Zwei Umstände sprechen dafür, dass die restlichen Angriffe in den Wäldern und auf den Landstraßen nicht geplant waren. Sowohl die Angeklagten als auch die Opfer gaben stets an, dass sie den Angeklagten erst kurz vor der Tat begegnet seien. Gleichzeitig sprechen auch die 301 Ähnlich auch StAB BB 15. 4. 1243 4832. Der Übergriff auf Magdalena M. weist gewisse Ähnlichkeiten auf zu den Gruppenvergewaltigungen von heiratsfähigen Frauen durch junge ledige Männer, die Rossiaud in seinem einschlägigen Aufsatz zur Prostitution in den spätmittelalterlichen Städten im Südosten Frankreichs thematisiert. Auch hier stammten die männlichen Angeklagten im Gegensatz zu den weiblichen Opfern aus der Mitte der Gesellschaft. Rossiaud deutet die nächtlichen Angriffe als eine Art Revolte der Jugend gegen ihre schlechten Chancen auf dem hartumkämpften Heiratsmarkt. Der Angriff auf Magdalena M. ähnelt indes auch einer stark sexuell konnotierten Rügepraktik, mit der junge Männer in den frühneuzeitlichen Dörfern die Kultur- und Sozialordnung auf rituell-spielerische Weise sichtbar machten und gleichzeitig einübten. In seinem Forschungsüberblick zu den frühneuzeitlichen Rügepraktiken hat Haldemann zuletzt auf einen doppelten Zusammenhang von Rügepraktiken und Sexualität verwiesen. Einerseits wurde sexuelles Fehlverhalten, etwa Ehebrüche, durch Charivaris und Katzenmusik öffentlich sichtbar gemacht; andererseits haftete auch den Rügepraktiken selbst ein sexueller Unterton an, wenn sie sich gegen das Haus als Ort der (weiblichen) Ehre richteten. Der Eintritt ins Haus und die Vergewaltigung entehrten daher nicht nur Magdalena, sondern auch ihren Ehemann auf doppelte Weise. Die Problematik des Eindringens ins Haus findet sich auch in einem von Chaytor präsentierten Fallbeispiel aus England im 17. Jahrhundert. Rossiaud (1976), S. 292-305; Chaytor (1995); Haldemann (2015). 302 StAB BB 15. 4. 1459 7238. 303 StAB BB 15. 4. 1659 8991. 179 Tatorte in Wäldern, auf Landstraßen und auf Äckern für die Spontanität der Begegnung, da die Frauen diese Orte nicht in geregelten zeitlichen Abständen aufsuchten. Die Begegnung war meist gleichbedeutend mit dem Beginn einer kurzen Interaktion. Bevor die Männer gewalttätig wurden, traten sie an die Frauen heran und sprachen sie an, meist indem sie ihnen eine triviale Frage stellten oder nebensächliche Bemerkungen machten. Der Handlanger Rudolf G. und der Rekrut Rudolf H. sprachen 1893 die vom „Armenbureau“ verpflegte Maria Magdalena S. im Bremgartenwald an, indem einer sagte: „[E]s sei nicht viel Holz zu erwischen […].“ 304 Die Männer boten den Frauen teilweise auch ihre Hilfe beim Erledigen ihrer Arbeiten an. Ebenfalls im Bremgartenwald gab sich der 26-jährige „Ausläufer und Paker“ Johann S. bei der 31-jährigen Rosina B. als Baumwart aus, um sie mit dem Versprechen, ihr junge Bäume zum Ausreißen zeigen zu können, tiefer in den Wald zu locken. 305 Laut der Aussage der Mutter der sechzehnjährigen Rosina H. wurde diese vom 37-jährigen Handlanger Johann S. gefragt, „ob er ihr holzen helfen solle, als sie dies ablehnte, habe er ihr zu gewissen Zweck 1 Franken angeboten; sie habe geantwortet, sie sei noch zu jung dazu [...]“. 306 Der unverzügliche Übergang von der ersten Konversation zu sexuellen Anspielungen ist typisch. Nach dem Ansprechen begannen die Männer „etwelche Zumuthungen“ 307 zu machen und benahmen sich „zudringlich, [so] dass es unschwer zu errathen gewesen sei“, 308 was sie beabsichtigten. Oder sie fragten die Frauen sehr direkt, ob sie „mit ihnen zu thun haben“ 309 wollten. Laut der 36-jährigen verkostgeldeten Anna Z. soll Friedrich S. zu ihr gesagt haben: „[M]ir wollen geschwind zusammen ‚vögeln‘.“ 310 Von der ersten Begegnung bis zum Überfall verging wenig Zeit - manchmal ging es auch sehr schnell. Der 22-jährige Sattler Johann Friedrich R. trat an die sechzehnjährige Luise U. heran, als diese auf einem Kartoffelacker arbeitete, und fragte nach der Zeit. Luise schilderte die Szene folgendermaßen: „Ich gab ihm Antwort, aber zu gleicher Zeit überschlug mich der Unbekannte, drückte mich zu Boden […].“ 311 In den meisten Fällen wurden die Frauen „zu Boden“ 312 geworfen oder ihnen wurde der „Haken“ 313 geschlagen. Nur ausnahmsweise benutzen die Angeklagten Waffen. Einer schlug seinem Opfer mit einem Stein ins Gesicht, zwei drohten mit dem Messer und einer schüttete seinem Opfer Säure ins 304 StAB BB 15. 4. 1848 8035. 305 StAB BB 15. 4. 1474 7357. 306 StAB BB 15. 4. 1220 4572. 307 StAB BB 15. 4. 1076 2933. 308 StAB BB 15. 4. 1572 8234. 309 StAB BB 15. 4. 1220 4572. 310 StAB BB 15. 4. 1585 8347. 311 StAB BB 15. 4. 1538 7959. 312 StAB BB 15. 4. 1132 3550. 313 StAB BB 15. 4. 1774 7357. 180 Gesicht. Am Boden versuchten die Männer, den Frauen die Kleider hochzuheben und sie zu vergewaltigen. Die Frauen „setzte[n] sich zur Wehr“ und „schrien“. 314 Anna B. schlug den Angreifer mit einem Stock. 315 Sexuelle Gewalt gegen Kinder Die fünfzig Fälle mit ehrbezogenen sexuellen Übergriffen gegen Kinder unter zwölf Jahren dokumentieren insgesamt 61 unabhängig voneinander stattfindende Übergriffe. 316 Anders als bei der ehrbezogenen sexuellen Gewalt gegen Erwachsene lagen die Tatorte nicht mehrheitlich in Wäldern und auf Landstraßen (14). Auch auf den Straßen der Innenstadt und der städtischen Wohnquartiere fanden nur ausnahmsweise Übergriffe auf Kinder statt (2). Über die Hälfte der Fälle (36) ereignete sich am Wohnort der Kinder oder in unmittelbarer Nähe davon. 317 Bei über einem Drittel (22) aller Übergriffe lebte der Angeklagte im gleichen Haus wie die missbrauchten Kinder. 318 Aufgrund des Tatorts ‚Nachbarschaft‘ erstaunt es nicht, dass die Kinder die Angeklagten meistens kannten. Nur sechzehn der 61 Übergriffe wurden von Männern verübt, die den Opfern unbekannten waren. Meist handelte es sich aber um Nachbarn. Über ein Fünftel (14) der Übergriffe wurde von Knechten, Gesellen oder Kostgängern der Eltern verübt. 319 Ich werde weiter unten auf diesen relativ hohen Anteil von Tätern, die mit den Eltern des Opfers in einer Beziehung standen, zurückkommen, da dieses Verhältnis bedeutsam dafür war, ob eine Tat angezeigt wurde oder nicht. An dieser Stelle ist entscheidend, dass die Angeklagten als Knechte, Gesellen und Kostgänger genauso wie Nachbarn regelmäßig mit den Kindern in Kontakt kamen. Wohl deshalb gelang es ihnen, die Kinder an versteckte Orte wie Abtritte, Keller, Werkstätten, Scheunen oder Heuspeicher zu locken. Johann G., ein 36-jähriger Fabriknachtwächter, lockte die elfjährige Maria G. in den Keller, um ihr dort Kaninchen zu zeigen. 320 Auch Unbekannte versuchten durch Versprechungen, die Kinder dazu zu bewegen, ihnen an abgelegene Orte zu folgen. Die achtjährige Bertha S., Tochter einer Fabrikarbeiterin, rekonstruierte in ihrem Verhör die Worte des 24-jährigen Handlangers Friedrich A. wie folgt: „[I]ch solle mit ihm kommen, er krame mir dann etwas.“ Fried- 314 StAB BB 15. 4. 1383 6485. 315 StAB BB 15. 4. 1093 3119. 316 StAB BB 15. 4. 1281 5395; 1554 8099; 1580 8304; 1619 8629; 1992 1300; 2053 1621 dokumentieren mehrere unabhängig voneinander stattfindende Übergriffe desselben Angeklagten. 317 Vier weitere Übergriffe fanden am Arbeitsort des Angeklagten statt. Bei drei Übergriffen ist der Tatort nicht genau bestimmbar. 318 Auch im viktorianischen England wurden sexuelle Übergriffe auf Kinder überwiegend von Männern aus der Nachbarschaft begangen. Jackson (2000), S. 43 f. 319 In StAB BB 15. 4. 1362 6261 handelt es sich beim Angeklagten um einen Gärtner, der auf dem Anwesen der Eltern seiner beiden Opfer arbeitete. 320 StAB BB 15. 4. 1552 8079. 181 rich gelang es damit, Bertha in einen naheliegenden Keller zu locken. 321 Der neunjährige Carl W., der von seiner Mutter zum Güterbahnhof geschickt wurde, um herumliegenden Koks zu sammeln, wurde vom 29-jährigen Maschinenputzer Jakob S. mit dem Versprechen, ihm Brot zu geben, in eine Maschinenhalle geführt. 322 Mehrere Angeklagte gaben den Kindern auch kleinere Geldbeträge. Bei Opfern unter zwölf Jahren war der Einsatz von Gewalt oder Betäubungsmitteln vonseiten des Angeklagten keine Bedingung, damit der Straftatbestand des Notzuchtartikels 170 des Bernischen Strafgesetzbuchs von 1866 erfüllt war. Deshalb war die Frage, ob der Beischlaf gewalttätig erzwungen worden war, aus juristischer Perspektive - anders als bei den sexuellen Angriffen gegen Personen oberhalb des Schutzalters - nicht grundlegend. Aus den Verhörprotokollen der Opfer wird denn auch erkennbar, dass die meisten Angeklagten keine Gewalt anwendeten, um den Beischlaf(versuch) auszuführen. Es gibt allerdings Ausnahmen. Der siebzehnjährige Ziegeleiarbeiter Ernst Z. zerrte die ihm bekannte zehnjährige Bertha B. nach einem kurzen Gespräch von einer Landstraße in ein Roggenfeld. 323 Ida B. schilderte den Gewalteinsatz des siebzehnjährigen Handlangers Ernst B. bei einem Übergriff im Wylerwald folgedermaßen: „Ich schrie, der Bursche schlug mich auf den Mund und verhielt mir den Mund.“ 324 Solche Attacken gleichen den Übergriffen auf erwachsene Frauen, wie sie im vorangehenden Abschnitt dargestellt wurden. Nachdem der Übergriff erfolgt war, verlangten die Angeklagten meist von den Kindern, über das Vorgefallene zu schweigen. Der 46-jährige Landarbeiter Friedrich B. erzählte in seinem Verhör: „Ich stund […] auf und gab ihm ein Zehnrappenstück, mit dem Bemerken, es solle von dem Vorgefallenen niemandem etwas sagen.“ 325 Sexuelle Gewalt in Familie und Haushalt Bei den zwölf Fällen mit ehrbezogener sexueller Gewalt in häuslichen und familiären Beziehungen ist es nicht möglich, die Zahl der einzelnen Übergriffe aufzulisten, da es meist zwischen den gleichen Angeklagten und Opfern über eine längere Zeitspanne zu wiederholten Missbräuchen kam. Die soziale Beziehung zwischen Opfer und Täter war daher, gleich wie bei der züchtigenden Gewalt, durch eine dauerhafte Hierarchie der häuslichen Ordnung geprägt. In diesem Zusammenhang fanden die Übergriffe bis auf eine Ausnahme innerhalb des ge- 321 StAB BB 15. 4. 1663 9028. 322 StAB BB 15. 4. 1551 8065. 323 StAB BB 15. 4. 1620 8639. 324 StAB BB 15. 4. 1633 8770; weitere Fälle, bei denen der Beischlaf(versuch) an Kindern unter zwölf Jahren laut den Opfern mit Gewalt oder unter Androhung von Gewalt erzwungen wurde: StAB BB. 15. 4. 1262 5054; 1375 6398; 1551 8065; 1725 9514; 1816 407. 325 StAB BB 15. 4. 1479 7399. 182 meinsamen Haushalts statt. Während sich die Übergriffe auf Pflegetöchter und Schwestern im Kindesalter in der gleichen Weise abspielten wie die oben dargestellten Übergriffe auf Kinder in der Nachbarschaft, folgten die Attacken auf die Töchter im Teenageralter und die verkostgeldete, „schwerhörige und schwachsinnige“ Anna B. nach einem ähnlichen Muster wie die Übergriffe auf Erwachsene. Der Unterschied lag aber darin, dass sich die Übergriffe wiederholten. Die jungen Frauen wurden unter Anwendung oder Androhung von Gewalt zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Die fünfzehnjährige Frieda R., die über zwei Jahre wiederholt von ihrem Vater missbraucht wurde, erzählte in ihrem Verhör: „Ich setzte mich zur Wehr, so gut ich konnte; ich weinte & schrie sogar, der Vater liess mich aber nicht los.“ 326 Im Fall der neunzehnjährigen Frieda W. reichten die Drohungen des Stiefvaters aus: „[B.] hat keine Gewalt anwenden müssen, um mich zum Umgang zu veranlassen; ich war durch die Drohungen, ich bekäme Prügel so eingeschüchtert, dass ich willenlos mit mir machen ließ, was er wollte.“ 327 Kraft ihrer Autorität als Väter untersagten die Angeklagten ihren Opfern über die Übergriffe zu sprechen. So erzählte die vierzehnjährige Bertha B.: „[Der Vater] verbot mir, jemandem etwas von der Sache zu sagen.“ 328 Marie Luise S., die aufgrund einer Abtreibung befragt wurde, log bezeichnenderweise, um ihren Vater zu schützen: „Als ich Abends spät nach Hause kehrte, wurde ich zwischen Törishaus & der Studweid, es war etwa Nachts 11 Uhr, von einem Unbekannten überfallen und vergewaltigt. Ich kann den Unbekannten nicht beschreiben. Da es ‚schauderhaft‘ finster war. Ich kann auch nicht mehr sagen, an welchem Samstag dies passierte.“ 329 In einem späteren Verhör gab Marie Luise die Vergewaltigung durch ihren eigenen Vater zu. Sicht- und Hörbares: Narrative über ehrbezogene sexuelle Gewalt Der zwanzigjährige Tagelöhner Ferdinand S. erzählte 1870 dem Untersuchungsrichter: „Am 18. dies., gegen Mittag, fuhr ich mit einer Kuh von Uettligen gegen Möriswil u. kam durch den Schüpfenriedwald. Ich traf in diesem Walde die Anna I. an, welche nicht am besten reden kann. Ich sprach allergattig mit ihr u. suchte sie zu fleischlichem Umgang an. Sie weigerte sich, worauf ich sie zu Boden 326 StAB BB 15. 4. 1665 9041. 327 StAB BB 15. 4. 1915 914. 328 StAB BB 15. 4. 1728 9540. 329 StAB BB 15. 4. 1874 707. Fast identische Erzählungen wie diejenige von Marie Luise S. finden sich in den Verhörprotokollen zu Vaterschaftsklagen aus dem ländlichen Kanton Uri im 19. Jahrhundert. Diese erfundenen Geschichten mussten so glaubhaft und gleichzeitig so wenig verifizierbar wie möglich sein. Um die wahre Identität des Vaters ihrer Kinder, bei denen es sich meist um die Dienstherren handelte, zu verschweigen, gaben die Frauen deshalb an, an einem abgelegenen Ort von einem Unbekannten vergewaltigt worden zu sein. Töngi (2004), S. 329- 333, hier S. 329. 183 machte, auf den Rüken legte u. ihr die Kleider aufhob.“ 330 Ein junger Mann aus der ländlichen Unterschicht traf also im Wald auf eine Frau mit körperlicher und geistiger Behinderung, die er nach einer kurzen Konversation zu vergewaltigen versuchte. In seinem zweiten Verhör gab Ferdinand schließlich auch zu, dass es sich um Notzucht und nicht nur um versuchte Notzucht handelte. Ähnlich gestaltet sich das Verhörprotokoll des 43-jährigen Tagelöhners Benedict K. aus dem Jahr 1868: „Ich gebe die Anzeige als richtig zu, ich kenne die Elisabeth S. vom Sehen. Am 16. dies., als ich von der Stadt, Abends 8. Uhr nach Bolligen gehen wollte, traf ich die S. beim Todtenhof an. Sie war ebenfalls auf dem Heimweg begriffen. Ich machte der S. etwelche Zumuthungen, dieselbe wollte aber nicht darauf eintreten. Zwischen dem Eisenbahnübergang u. dem äußeren Krankenhaus, legte ich die S. auf den Bord des Trottoirs auf den Boden u. wollte den Umgang mit ihr erzwingen, dies weil ich etwas betrunken war; die S. fieng aber an heftig zu schreien; der Landjäger kam dazu u. verhaftete mich.“ 331 Unabhängig von der Frage, ob die Aussagen der Wahrheit entsprachen, aus strategischen Gründen modelliert oder gänzlich gelogen waren, lassen sich diese Protokolle als Erzählungen analysieren. Die Aussagen der ehrbezogenen sexuellen Gewalt gegen Erwachsene weisen eine ähnliche Erzählstruktur auf wie diejenigen der geselligen Gewalt. Dies lässt sich an den obigen Narrativen Ferdinands und Benedicts zeigen. Ein bedeutendes Merkmal ist auch hier die kurze erzählte Zeit, in der sich eine Handlung entfaltet, die daraus besteht, dass Ferdinand und Anna beziehungsweise Benedict und Elisabeth aufeinandertreffen, er sie anspricht und kurz darauf angreift. Damit zusammenhängend zeichnen sich die Erzählungen der Angeklagten wiederum dadurch aus, dass sie bis auf eine Ausnahme, auf die noch einzugehen sein wird, ausschließlich Hör- und Sichtbares enthalten. Geschildert werden je zwei Interaktionen zwischen zwei Figuren, über deren Innenleben ist nichts zu erfahren. Wie Ferdinand S. und Benedict K. bestätigten die Angeklagten in ungefähr zwei Dritteln der 82 Fälle vollständig oder zumindest teilweise die gegen sie erhobenen Anschuldigungen. Aber auch die Erzählungen der Angeklagten, welche die Vorwürfe abstritten, erlauben interessante Rückschlüsse auf die Wahrnehmung sexueller Gewalt. In knapp einem Fünftel der Fälle sagten die Männer aus, den Frauen eine Gegenleistung für den Geschlechtsverkehr angeboten zu haben. Im Verhörprotokoll des 42-jährigen Franz Jakob C. lehnt es die 25-jährige Maria B. auf einer Landstraße vorerst ab, „fleischlichen Umgang zu pflegen“. Dies mit der Bemerkung, sie habe keine „Lust“. Nachdem Franz Jakob ihr Schnaps gibt, legt sie sich hin und fordert nach erfolgtem Geschlechtsverkehr Geld. Als er ihr dies verweigert, will sie stattdessen seinen Wagen zur Benutzung erhalten. Marias Schilderung der Vorkommisse ist eine ganz andere. 332 Ein ähnliches Narrativ 330 StAB BB 15. 4. 1132 3550. 331 StAB BB 15. 4. 1076 2933. 332 StAB BB 15. 4. 1202 4366. Töngi zeigt, dass der gemeinsame Alkoholkonsum im Kanton Uri 184 verwendete der 21-jährige Zimmermann Johann S., um sich gegen den Vorwurf der Schändung zu wehren: „Ich begegnete ihr allein auf der Straße, als ich eben vom Wirthshaus in Köniz hinweg nach Hause gehen wollte. Ich frug sie, wohin sie gehe, ob sie nicht ein wenig versäumen lassen wollte, sie merkte gleich, was ich wollte und antwortete: ‚wenn ich sie bezahle, so könne ich‘.“ 333 In den Schilderungen des 22-jährigen Bäckers Albert S. erscheint sein Opfer Anna L. „als herumstreichende Dirne“. Dies hindert ihn allerdings nach eigener Aussage nicht daran, diese „mit Gewalt auf die Seite der Straße“ zu ziehen. 334 Auch im Zürich des frühen 19. Jahrhunderts sprachen die Angeklagten von einem Akt der Prostitution, um die Schuld von sich zu weisen. 335 Die Berner Akten zeigen zudem, dass diese Behauptung ein Eingeständnis der Gewalthandlung nicht ausschließen musste. So zeigt es sich etwa im Verhörprotokoll des neunzehnjährigen Gießereilehrlings Johann W., der gemeinsam mit zwei Kollegen angeklagt war. Die Täter bezeichneten ihr Opfer ebenfalls als Prostituierte: „Hierauf misshandelten wir sie mit den Fäusten, aber nicht mit den Füssen oder auf andere Weise. Ebenso bedeckten wir ihr den Kopf mit Moos & Erde. Besondere Gründe hatten wir hierzu nicht.“ 336 Diese Aussage verweist auf den Zusammenhang von Gewalt und Spaß, der bereits für die Narrative über die gesellige Gewalt nachgewiesen wurde. Im Verhörprotokoll des 21-jährigen Dachdeckers Friedrich M. steht beispielsweise: „[I]ch [habe] ihre Scham berührt und sonst mir ihr Spaß getrieben.“ 337 Der 52-jährige Handlanger Rudolf P. erzählte: „Ich habe auch damals der Z. unter den Rok gelangt und mit ihr den Löl gemacht.“ 338 Auch der 27-jährige Handlanger, der im Könizbergwald die 53-jährige Landarbeiterin Maria S. auf den Boden warf und zu vergewaltigten versuchte, sprach in diesem Zusammenhang von „Spass“ und hielt ebenfalls fest, dass er mit Maria den „Löl“ machte. 339 Schließlich finden sich einige wenige Narrative, in denen die Opfer mit den Handlungen einverstanden waren oder sogar selbst die Initiative ergriffen. Der 52-jährige Jakob K. bestritt den Vergewaltigungsversuch an einer Magd, die im gleichen Betrieb angestellt war, folgendermaßen: „Ich sprach es an, ich fragte es, wie es ihm gefalle. Ich nahm das Mädchen von oben herein, was dasselbe ruhig geschehen ließ 340 . Sonst habe ich dem Mädchen gar nichts getan.“ Noch weiter zum Anbahnungsritual zwischen den Geschlechtern gehörte und als Zeichen für die Bereitschaft zum Sex gewertet wurde. Töngi (2004), S. 358. 333 StAB BB 15. 4. 1455 7187. 334 StAB BB 15. 4. 1435 7028. 335 Loetz (2012), S. 79. 336 StAB BB 15. 4. 1227 4647. 337 StAB BB 15. 4. 1455 7187. 338 StAB BB 15. 4. 1816 405. 339 StAB BB 15. 4. 1732 9573. 340 StAB BB 15. 4. 1686 9214. 185 ging der 21-jährige „gewesene Briefträger“ Gottfried F., indem er aussagte: „Es machte mich an.“ 341 Sowohl beim Topos der Gegenleistung als auch bei demjenigen des Spaßes liegt dem Geschlechtsverkehr eine Interaktion zwischen dem Angeklagten und seinem Opfer zugrunde. Zur Tat kommt es in diesen Erzählungen, weil der Angeklagte und das Opfer aufeinandertreffen und sich in der daraus resultierenden Situation in einer bestimmten Weise verhalten. Es handelt sich also um dieselbe Erzählstruktur, die auch in den Verhörprotokollen zur körperlichen ehrbezogenen Gewalt zu finden ist. Der Fokus liegt auf sicht- und hörbaren Handlungen der Beteiligten. Subjektive Zustände oder Empfindungen, die außerhalb der situativ entstehenden Interaktion bereits bestehen, werden kaum genannt. Der interaktionistische Charakter der Gewalt in den Narrativen der ehrbezogenen sexuellen Gewalt gegen Erwachsene lässt sich ex negativo anhand einer Ausnahme illustrieren. Die sechzehnjährige Lehrtochter Hanna Z. wurde 1935 in einem Wald in der Nähe des Dorfes Thörishaus von dem ihr unbekannten 26-jährigen Landarbeiter Gottlieb N. angesprochen und kurz darauf angegriffen. Der Tatort, der Handlungsablauf und die Sozialprofile sind typisch für ehrbezogene sexuelle Gewalt gegen Erwachsene. Gottliebs Narrativ hingegen weist einen anderen Stil auf: „Als ich am Pfingstmontag das Mädchen daherkommen sah, habe ich geradezu angefangen zu zittern. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Ich fragte sie zuerst um den Geschlechtsverkehr. Als sie ablehnte, konnte ich einfach nicht anders, als den Geschlechtsverkehr mit Gewalt zu erzwingen.“ 342 Im Unterschied zu den allermeisten Angeklagten (auf die zweite Ausnahme komme ich gleich zu sprechen) thematisiert dieses Narrativ die Subjektivität des Angeklagten. Mit dem Topos der Selbstbeherrschung ist es anschlussfähig an Norbert Elias Werk Über den Prozess der Zivilisation, welches dieser zur Zeit des Vorfalls in Thörishaus wohl gerade schrieb. Es geht an dieser Stelle wiederum nicht um die Frage, ob Gottlieb log oder ob im Gegenteil nicht die restlichen angeklagten Gesellen, Handwerker und Arbeiter auch alle vor Erregung ‚zitterten‘ und ‚nicht anders konnten‘. Entscheidend ist, dass in den Erzählungen der Angeklagten von ehrbezogenen sexuellen Übergriffen gegen Erwachsene eine situative Interaktion zwischen dem Angeklagten und dem Opfer die Handlung vorgab und nicht das Innenleben oder der Gemütszustand des Angeklagten. Zur Situativität der Gewalt passt weiter, dass über die Hälfte der Angeklagten angaben, zum Zeitpunkt der Tat unter Alkoholeinfluss gestanden zu haben. Dabei konnte die Trunkenheit, wie im Narrativ von Benedict K. ersichtlich, eine konstitutive Rolle für die Erklärung des Übergriffs einnehmen. Trunkenheit zum 341 Die 34-jährige „blödsinnige“ Marie N. hingegen schilderte dieselbe Szene wie folgt: „[I]ch bemerkte ihn erst, als er bei mir stund & mich frug, ob ich Rübli jätte. Im gleichen Moment fasste er mich an einem Arm an & riss an mir, so dass ich auf den Rücken zu liegen kam.“ StAB BB 15. 4. 1564 8193. 342 StAB BB 15. 4. 2557 3546. 186 Zeitpunkt der Tat war juristisch relevant. Wenn die Richter der Aussage Glauben schenkten, konnte dies das Strafmaß verringern. Gut möglich, dass Benedict und andere Angeklagte deshalb aus strategischen Gründen angaben, vor der Tat getrunken zu haben. Aber unabhängig von dieser Frage verweist die Trunkenheit auf einen vorübergehenden Zustand. Wenn die Trunkenheit narrativ für den Übergriff verantwortlich war, bedeutet dies auch, dass die sexuelle Gewalt an den Rausch gekoppelt wurde. Mit dem Abflachen des körperlich-mentalen Rauschzustands verschwand auch der Grund für die Vergewaltigung, bis er mit dem nächsten Rausch wieder kam. Diese Logik lässt sich ex negativo anhand des zweiten Ausnahmefalls aufzeigen. Im Mai 1896 holte Lina N. am Brunnen vor ihrem Haus an der Badgasse im Matte-Quartier Wasser, als sie vom ihr unbekannten 36-jährigen Maler und ehemaligen Sträfling Friedrich S. angesprochen wurde. Dieser bot ihr Geld an und folgte ihr ins Haus, wo er über sie herfiel. Dank ihrer Gegenwehr und der Hilfe einer herbeigeilten Nachbarin gelang es Lina, die Vergewaltigung zu verhindern. All dies ist Linas Verhörprotokoll zu entnehmen. Friedrich gab in seinem Verhör an: „Ich mag mich mit dem besten Willen nicht an das erinnern, was Frau N. behauptet. Ich hatte früher hie und da Gliedersucht und von da her eine Schwäche im Kopf; infolgedessen hat auch mein Gedächtnis abgenommen.“ 343 Das Außergewöhnliche an diesem Fall liegt nicht darin, dass Friedrich als Angeklagter angab, sich nicht an die Vorfälle erinnern zu können. Das tat beispielsweise auch der bereits erwähnte Metzger Gottlieb R., der den nächtlichen Überfall auf Magdalena M. verübte. Im Unterschied zu Friedrich gab Gottlieb - wie die Angeklagten in fünf weiteren Fällen - an, aufgrund ausgeprägter Trunkenheit keine Erinnerung mehr an den Vorfall zu haben. 344 Gemäß Friedrichs Narrativ handelte es sich beim Erinnerungsunvermögen um einen dauerhaften Zustand, auf den er keinen Einfluss nehmen konnte. Die Narrative der Angeklagten in den fünfzig Fällen mit sexueller Gewalt gegen Kinder in der Nachbarschaft sind sehr ähnlich strukturiert wie die Narrative der Angeklagten von sexueller Gewalt gegen Erwachsene. Die erzählte Zeit ist typischerweise kurz und umspannt lediglich die Begegnung sowie den rasch darauf folgenden Übergriff, und die Narrative fokussieren auf die eigenen Handlungen und die Handlungen der Kinder. Knapp in der Hälfte der Fälle (22) gaben die Angeklagten die ihnen zur Last gelegten Handlungen zu. Elf stritten gesetzeswidrige Handlungen gänzlich ab und dreizehn weitere gaben zu, mit den Opfern lediglich unzüchtige Handlungen, aber nicht Notzucht getrieben zu haben beziehungsweise keinen entsprechenden Versuch unternommen zu haben. 345 Auch beim Entschuldigen, Abstrei- 343 StAB BB 15. 4. 1620 8642. 344 In zwei weiteren Fällen stritten die Angeklagten ab, überhaupt am Tatort gewesen zu sein. StAB BB 15. 4. 1532 7892; 1538 7959. 345 In einem weiteren Fall bestritt der Angeklagte, überhaupt als Täter infrage zu kommen, weil er gar nicht mit dem Kind in Kontakt kam. StAB BB 15. 4. 1725 9514. 187 ten oder Verharmlosen benutzten die Angeklagten dasselbe narrative Repertoire wie diejenigen bei Übergriffen gegen Erwachsene. In rund einem Drittel der Fälle gaben die Angeklagten an, zum Zeitpunkt der Tat betrunken gewesen zu sein, und teilweise machten sie diesen Zustand für die Tat verantwortlich. Der 33-jährige Karrer Karl L. sagte aus: „Ich war, wie gesagt, betrunken, sonst würde ich diese unzüchtigen Handlungen nicht begangen haben.“ 346 Auch der Topos des Spaßes ist zu finden. Der 49-jährige Schuhmacher Christian K. „kitzelte das Mädchen […] ein wenig“, nachdem es ihm auf den Abtritt gefolgt war. 347 Als spaßige Handlung beschrieb auch der 35-jährige Schlosser Ernst S. sein Fehlverhalten: „Im Zimmer spielten die Kinder […]. Sie waren bereits zu Bett und machten den ‚Löl‘ miteinander.“ 348 Auch die Schuldzuweisung an die Opfer stellte eine Argumentationsmöglichkeit dar. So erzählte der 48-jährige Gipser- und Malermeister Christian H.: „Eingangs hatte es das Mädchen Helena F. darauf abgesehen, mir überall hin nachzustreichen und mir zu flattieren.“ 349 Wie bei der geselligen, der nachbarschaftlichen und der sexuellen Gewalt gegen Erwachsene handeln die Narrative der ehrbezogenen Gewalt gegen Kinder von einer situativ entstandenen Interaktion zwischen dem Angeklagten und seinem Opfer. Auffallend ist wiederum die Nicht-Thematisierung der Subjektivität. Der Fokus liegt auch in diesen Erzählungen auf Sicht- und Hörbarem. 350 In fünf Fällen bestätigten die Angeklagten weder ihre Schuld an der Tat, noch bestritten sie diese, sondern gaben an, sich nicht mehr an die Tat erinnern zu können. In drei dieser Narrative entstand die Gedächtnislücke aufgrund von Trunkenheit. In den anderen zwei Narrativen aber wurde die fehlende Erinnerung auf eine geistige Störung zurückgeführt: Der dreißigjährige Mechaniker Alfred M. erklärte: „Seither bin ich oft geistig ganz gestört und weiß manchmal gar nicht, was ich thue. […] So muss [der Übergriff] in einem Anfall von Geistesstörung geschehen sein, denn ich weiß gar nichts davon.“ 351 Auf ähnliche Weise erklärte der 46-jährige arbeitslose Einleger Johann W.: „Dagegen ist es möglich, dass ich mich am Mädchen Emma G. einmal vergriffen habe, ich vermag mich aber mit dem besten Willen nicht mehr daran erinnern. [...] Ich leide seit Jahren an fallendem Weh, das sich in Zwischenräumen von 14 Tagen bis 3 Wochen stets einstellt. Wenn ein solcher Wehanfall besteht, so komme ich zuweilen ganz von Sinnen & weiß dann nicht mehr, was ich mache.“ 352 Diese letzte Aussage vom ‚fallenden Weh‘ erinnert stark an diejenige des Messerstechers Johann L. 353 Im 346 StAB BB 15. 4. 1747 9682. 347 StAB BB 15. 4. 1464 7285. 348 StAB BB 15. 4. 1816 407. 349 StAB BB 15. 4. 1679 9158. 350 Ähnliche Angeklagtennarrative sind zwischen 1500 und 1850 auch aus Zürich überliefert. Vgl. Loetz (2012), S. 89 f. 351 StAB BB 15. 4. 1563 8179. 352 StAB BB 15. 4. 1591 8403; vgl. auch 1552 8079. 353 Vgl. Kapitel 5. 188 Unterschied zu diesem erklärte Johann W. seine Tat nicht mit der Krankheit, sondern gab - gleich wie Alfred M. - an, gänzlich das Bewusstsein verloren zu haben und deshalb auch keine Aussagen über die Tat machen zu können. 354 Ob Johann W. und Alfred M. sich tatsächlich an nichts mehr erinnern konnten oder ob diese Aussagen strategischer Natur waren, um als vermindert zurechnungsfähig oder gar unzurechnungsfähig zu gelten, ist an dieser Stelle nicht relevant. Behandelt man die Verhörprotokolle als Erzählungen, ist entscheidend, dass aufgrund der Erinnerungslücke der Übergriff auf die Kinder nicht wie sonst typisch als Leichtsinn, Spaß oder kindliche Verführung erscheint. Die Tat bleibt außerhalb des Bewusstseins und ist deshalb unerklärbar. Gleich verhält es sich, wenn in den Narrativen vollständige Trunkenheit die Erinnerung außer Kraft setzt. Im Unterschied zu diesen Erzählungen, in denen die Tat als Folge eines Rauschs erscheint, verortet der wiederkehrende Bewusstseinsverlust durch Geistesstörung die Tat außerhalb des moralisch-vernünftigen Subjekts und rückt sie dadurch in die Nähe des Wahnsinns. In Kapitel 6 wurde ausführlich auf die juristisch-medizinische Frage der Zurechnungsfähigkeit und damit auch auf den narrativen Topos des Bewusstseinsverlusts in den Verhörprotokollen eingegangen. An dieser Stelle ist wichtig, festzuhalten, dass solche subjektbezogenen Narrative bei der sexuellen Gewalt gegen Kinder in der Nachbarschaft eine Ausnahme darstellen. In den allermeisten Narrativen der Angeklagten ist der Übergriff Teil und Ausdruck einer leichtsinnigen oder spaßigen und dabei gewalttätigen Interaktion zwischen dem Angeklagten und seinem Opfer. Teilweise bedauern die Angeklagten ihre Handlungen. Mit der eigenen Subjektivität bringen sie die Tat deswegen jedoch nicht in Verbindung. Auch bei den zwölf Fällen mit sexuellen Übergriffen in der Familie oder im Haushalt beschreiben die Narrative der angeklagten Väter, Stief- und Pflegeväter ausschließlich Interaktionen, alternativ leichtsinnigen Spaß und/ oder Verführung durch das Opfer. Der 33-jährige Schmied und Steinbrecher Friedrich B., Stiefvater von drei Teenagerinnen, sagte aus: „Sie ist daran schuld, dass sie zu mir ins Bett kam.“ Und er fügte hinzu: „Auch habe ich mit der Tochter Marie, als sie aus der Schule entlassen war, den Löl gemacht […].“ 355 Der 45-jährige Maler Johann D., der zugab, die bei ihm verkostgeldete, „schwachsinnige“ Anna B. ‚geschändet‘ zu haben, hielt aber fest: „Anna B. hat die Sache selbst provoziert.“ 356 Eine besondere Begründung für den Beischlaf mit der eigenen Tochter hatte der Landwirt Johann S. Er gab an, dass er aufgrund eines Brands, bei dem viel Mobiliar verloren gegangen sei, mit seiner Tochter im selben Bett schlafen musste. 357 354 Ähnliche Angeklagtennarrative nennt Jackson für England um 1900. Jackson (2000), S. 118. 355 StAB BB 15. 4. 1915 914. 356 StAB BB 15. 4. 1819 429. 357 StAB BB 15. 4. 1874 707. 189 Wie dem auch war, typisch ist, dass Johann äußere Umstände und nicht subjektive Motive als Gründe für den Übergriff nannte. 358 In den obigen Abschnitten wurde jeweils auf Ausnahmenarrative eingegangen, in denen die eigene Subjektivität im Zentrum stand. Bei sexuellen Übergriffen in der Familie sind solche subjektbezogenen Erzählungen ebenfalls zu finden. Allerdings sind sie im Verhältnis zu den ehrbezogenen Narrative so zahlreich, dass sie nicht als Ausnahmen eingestuft werden können, sondern in Kapitel 8 als eigener Gewalttypus dargestellt werden müssen. Fazit: Das Spiel der Schande In diesem Kapitel wurde anhand der dreifachen Lesart der Verhörprotokolle gezeigt, dass rund drei Viertel der sexuellen Gewalttaten, die zwischen 1868 und 1941 im Amtsbezirk Bern als (versuchte) Notzucht oder (versuchte) Schändung gerichtlich untersucht wurden, starke Ähnlichkeiten zur ehrbezogenen körperlichen Gewalt aufweisen. Es stellt sich daher die Frage, ob die soziale Tatsache der Ehre auch für die sexuellen Gewalthandlungen entscheidend war. Wenn die gesellige Gewalt als Vergleich herangezogen wird, fallen die Parallelen bei den Sozialprofilen der Angeklagten auf. Wie die Männer, die sich im Wirtshaus prügelten, gehörten auch die Vergewaltiger den unteren sozialen Schichten an und waren überproportional häufig im ländlichen Milieu verwurzelt. Auch bei den Handlungskontexten gibt es Überschneidungen zwischen ehrbezogener sexueller und geselliger Gewalt. 1898 griff eine Gruppe von Männern auf der Straße von Bern Richtung Felsenau ein Liebespaar an, welches sich auf dem Heimweg befand. Während der Partner der Frau in der für die gesellige Gewalt typischen Weise zu Boden geschlagen, über das Straßenbord geworfen und blutig geschlagen wurde, wurde die 32-jährige Näherin Maria I. von zwei der Angreifer vergewaltigt. In diesem Fall war die gesellige Gewalt sexualisiert und die sexuelle Gewalt gesellig. 359 Markante Ähnlichkeiten bestehen schließlich bei den Narrativen der geselligen Gewalt und der in diesem Kapitel geschilderten sexuellen Gewalt gegen Erwachsene. Konstitutiv für die Handlung der Narrative ist die Interaktion zwi- 358 Auch wenn die Angeklagten, wie in zwei Fällen, die Tat komplett abstritten, spielten Interaktionen die entscheidende Rolle. Der 55-jährige Landarbeiter Johann I. erklärte, dass ein Nachbar sich an ihm habe rächen wollen, weil er bei einem Gerichtsprozess gegen diesen wegen unzüchtiger Handlungen als Zeuge ausgesagt hätte. Ebenfalls als Akt der Rache verstand der Metzger und Kutscher Rudolf R. die Anzeige wegen Notzucht an seiner Tochter. In seiner Erzählung reagiert die Tochter mit der Anzeige auf eine Züchtigung seinerseits, zu der es kam, weil die Tochter einen Liebesbrief erhalten hatte. StAB BB 15. 4. 1519 7778; 1665 9041. 359 Die Angeklagten sagten später vor Gericht aus, dass sich Maria I. gegen Geld prostituiert hätte. StAB BB 15. 4. 1660 8997. Vgl. ähnlich auch 1691 9245; 1533 7899. Für vergleichbare Fälle in Zürich aus dem frühen 19. Jahrhundert vgl. Loetz (2012), S. 103 f. Für einen ähnlichen Fall aus dem Paris der 1760er-Jahre vgl. Vigarello (2001), S. 7. 190 schen den Konfliktpartien. Geschildert wird daher vor allem Hör- und Sichtbares. Innere Handlungsmotive oder Gefühlszustände sind selten Teil der Aussagen. Sexuelle Übergriffe konnten in der Wahrnehmung der Angeklagten Spaß und Vergnügen sein, wobei dies den Einsatz von Gewalt nicht ausschloss, sondern vielmehr miteinbezog. Diese Verbindung von Spaß und Gewalt stellt eine weitere wichtige Gemeinsamkeit zwischen der geselligen Gewalt und den Vergewaltigungen auf Landstraßen und in Wäldern dar. Vor dem Hintergrund dieses Vergleichs lassen sich auch die oben dargestellten sexuellen Übergriffe gegen Kinder in und außerhalb der Familie in den Kontext der Ehre stellen. Die Angeklagten weisen dasselbe Sozialprofil auf und ihre Opfer lebten im gleichen sozialen Nahraum und entstammten der gleichen sozialen Schicht. Die Handlungskontexte sind die Nachbarschaft und das Haus, die nicht nur Schauplatz körperlicher Auseinandersetzungen waren, sondern auch sexueller Übergriffe auf Kinder und auf andere Hausbewohner. Die Analyse der Notzuchtfälle zeigt, dass die Nachbarschaft und das Haus im Kontext der Ehre nicht einfach schützende, sondern auch sehr gefährliche Räume waren. Die Akten legen nahe, dass Kinder latent der Gefahr ausgesetzt waren, Opfer sexueller Übergriffe durch Nachbarn oder Angestellte des elterlichen Betriebs zu werden. Schließlich spricht wiederum die Struktur der Narrative dafür, dass diese Übergriffe der Welt der Ehre angehörten, in der nicht subjektive Zustände, sondern die eigenen Handlungen und die Handlung der anderen relevant waren. Auch hier findet sich vonseiten der Angeklagten die narrative Darstellung sexueller Gewalt als spaßige Interaktion. Für den Zusammenhang von Ehre und sexueller Gewalt spricht weiter, dass die Angeklagten in ihren Verhören die Opfer häufig als käuflich bezeichneten. Indem sie die Frauen der Promiskuität bezichtigten, stellten sie gleichzeitig ihre Ehre infrage. In diesem Sinn sagte der Vater des 27-jährigen Brunnengräbers Christian W. aus: „Anna Maria B. hatte schon zwei uneheliche Kinder, ich glaube nicht, dass man grosse Gewalt anzuwenden gebrauchte, um mit ihr den Beischlaf vollziehen zu können.“ 360 Dieser Aussage zufolge genügte ein Verweis auf außereheliche Mutterschaft, um die Ehre der Frau anzuzweifeln. 361 Solche Aussagen legen ein zweideutiges Zusammenspiel zwischen sexueller Gewalt und Ehre offen, welches in zugespitzter Form folgendermaßen formuliert werden kann: Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Sexualität und weiblicher Ehre verletzte und verringerte sexuelle Gewalt die Ehre der Frau. Im Umkehrschluss führte diese Logik auch dazu, dass Frauen mit geringem sozialem Status, verstärkt der Gefahr ausgesetzt waren, Opfer einer Vergewaltigung zu werden. 360 StAB BB 15. 4. 1572 8234. 361 Die Diffamierung des Opfers als Strategie vor Gericht war im Amtsbezirk Bern nicht unbedingt von Erfolg gekrönt. Christian W. wurde für die Vergewaltigung der Anna Maria B. zu dreizehn Monaten Zuchthaus verurteilt. 191 Wenig Ehre hatten nicht nur Frauen, die promiskuitiv lebten (oder von welchen man dies annahm), sondern ganz allgemein Frauen, die arm waren. 362 Hier kommt der Zusammenhang von Ehre und materiellem Besitz zum Tragen. Neben ökonomisch-materieller Schwäche wirkte gerade bei älteren Frauen das Ledig-Sein ehrvermindernd. Bei Frauen mit körperlicher und/ oder geistiger Behinderung waren die Chancen, einen Ehemann zu finden, besonders gering. Aufgrund dieser Logik wird verständlich, weshalb im Untersuchungszeitraum vor allem solche Frauen Opfer sexueller Gewalt wurden. Über einen sehr schwachen sozialen Status - so legen es Notzuchtakten aus dem Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 nahe - verfügten in Ehrgesellschaften auch Kinder, insbesondere Mädchen. Wenn gesellige Gewalt als ein Spiel der Ehre charakterisiert wird, lässt sich die sexuelle Gewalt als Spiel der Schande konzipieren. In diesem Spiel ging es nicht darum, sich gegenseitig seines wachsamen Ehrgefühls zu versichern. Nicht Gleichheit zwischen den Konfliktpartien wurde spielerisch hervorgehoben und demonstriert, sondern - im Gegenteil - Ungleichheit. Im sexuellen Spiel der Schande wurden auf mehrfache Weise soziale Differenzmarkierungen und Hierarchien der Ehrgesellschaft eingeübt, wiederholt und damit bestätigt. Dabei handelte es sich um die hierarchische Differenz zwischen den Geschlechtern, zwischen wirtschaftlich besser und schlechter Situierten sowie zwischen Erwachsenen und Kindern. Ein lustvolles Spiel war die sexuelle Gewalt, so lassen es ihre spaßigen Narrative erkennen, allerdings nur für die männlichen Angeklagten. Gerade in dieser Einseitigkeit reproduzierte sich die Geschlechterhierarchie der Ehrgesellschaften. Wie körperliche Gewalt war auch sexuelle Gewalt daher integraler Bestandteil des Systems der Ehre, dessen Hierarchien und Differenzmarkierungen durch die sexuelle Gewalt im Sinne der Hexis körperlich und emotional erfahren wurden. So betrachtet war sie mit sozialem Sinn behaftet. Auffallend ist, dass die Fälle, die in diesem Kapitel analysiert wurden, in den ersten drei Jahrzehnten des Untersuchungszeitraums ansteigen, bevor sie nach 1900 weniger werden, um in den 1920er- und 1930er-Jahren fast gänzlich zu verschwinden (vgl. Diagramm 7). Wie ist diese Entwicklung vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Gewalt und Ehre zu deuten? Zuerst zu den ansteigenden Fallzahlen am Beginn des Untersuchungszeitraums: Wurden Übergriffe in den ersten drei Jahrzehnten der Untersuchungsperiode effektiv häufiger begangen oder verweist der Anstieg der Fallzahlen auf eine zunehmende Intoleranz gegenüber diesen Gewalthandlungen? Beide Szenarien sind möglich und schließen sich nicht gegenseitig aus. Möglich ist dass die soziale Transformation im Verlauf des 19. Jahrhunderts vermehrt Möglichkeiten für sexuelle Übergriffe schuf. Anne-Marie Sohn stellt in diesem Sinne die These auf, dass eine verstärkte „Mobilität der Mädchen“, also das Verdingen und Verkostgelden von Töchtern außer Haus, deren Schutz- 362 Zum Zusammenhang von sexueller Gewalt und Armut vgl. Töngi (2004), S. 324-336. 192 losigkeit vor sexuellen Übergriffen steigerte. 363 Die Berner Untersuchungsakten bestätigen diese Korrelation aber nicht, denn wie gezeigt, handelte es sich bei den Opfern in den vor Gericht behandelten Fällen nur ausnahmsweise um fremdplatzierte Mädchen. Der Anstieg der Fälle in Bern vor 1900 kann nicht auf ein vermehrtes Auftreten dieses Opferprofils zurückgeführt werden. 364 Für das Beispiel Bern ist also eher nicht von einem effektiven Anstieg ehrbezogener sexueller Gewalt auszugehen. Wahrscheinlicher ist, dass die Übergriffe zunehmend stärker verfolgt wurden. Mit Blick auf die Anzeigen lässt sich sagen, dass direkte Meldungen durch die Behörden relativ selten waren. Selbst in den 1880er- und 1890er-Jahren, die absolut sowie im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße die größte Zahl der Fälle aufweisen, waren Anzeigen durch Amtspersonen (Landjäger, Polizisten, Lehrer oder Pfarrer) nicht höher, sondern verhältnismäßig eher seltener als in den Jahrzehnten mit tieferen Fallzahlen. Der größte Anteil der Übergriffe wurde daher durch die Opfer selbst oder deren Angehörige angezeigt. 365 Diese Tatsache legt nahe, dass die Zunahme der Fälle mit sexueller Gewalt im Amtsbezirk in erster Linie auf einer zunehmenden Intoleranz der Bevölkerung gegenüber den in diesem Kapitel analysierten Gewalthandlungen beruhte. Was Vigarello für Frankreich feststellt, trifft daher auch auf den Amtsbezirk Bern zu: „The logic that rejected violence was the same logic that made sexual violence more visible. The link was fundamental, and it means that we should see in the increased number of persecutions not so much an increase in ‚real‘ crime as an increase in hostility towards it.“ 366 Wichtig ist aber festzuhalten, dass es in erster Linie die sexuellen Gewalthandlungen im Kontext der Ehre waren, die nicht mehr länger geduldet wurden. Im nächsten Kapitel wird ausgeführt, dass die moderne Subjektkultur spezifische Gewaltformen hervorbrachte, die möglicherweise eher toleriert wurden und deshalb nicht im gleichen Maß der Verfolgung durch die Justiz ausgesetzt waren. Vigarellos Feststellung führt uns zum Problem, wie die Abnahme der Fälle mit ehrbezogener sexueller Gewalt im Amtsbezirk Bern nach 1900 zu erklären ist. Meine These lautet, dass die zunehmende Intoleranz gegenüber sexueller Gewalt nicht nur den Willen der Opfer und ihrer Angehörigen verstärkte, sexuelle Gewalt anzuzeigen, sondern dass der Wandel in der Wahrnehmungs- und Denkweise im Sinne der Habitustheorie auch mittelfristig zum Wandel der Handlungsweise der potenziellen Täter führte. Die Herausbildung und Distribution des vernünftig-normalen Subjekts mit den Maximen der Selbstkontrolle und Selbstbeherr- 363 Sohn (1997), S. 64. 364 Das bedeutet natürlich nicht, dass diese selten Opfer sexueller Gewalt wurden. Gerade bei diesen Opferprofilen ist von einer enorm hohen Dunkelziffer auszugehen. 365 Anzeigen ehrbezogener sexueller Gewalt durch Amtspersonen/ Nachbarn oder andere Privatpersonen/ Opfer und Verwandte: 1868-1869: 3/ 0/ 1; 1870-1879: 4/ 0/ 11; 1880-1889: 9/ 0/ 18; 1890-1899: 7/ 1/ 29; 1900-1909: 7/ 2/ 15; 1910-1919: 6/ 2/ 5; 1920-1929: 0/ 2/ 1; 1930-1939: 1/ 2/ 0. 366 Vigarello (2001), S. 148. 193 schung wirkte sich auch auf dem Gebiet der sexuellen Gewalt hemmend aus. In diesem Sinn zeigen Anna Clark und Louise A. Jackson für England - ähnlich wie Nancy Tomes und Martin Wiener in Bezug auf die körperliche Gewalt in der Familie - auf, dass sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts neue „middle-class codes of manliness“ herausbildeten, welche einerseits aggressives Sexualverhalten verboten und andererseits den intimen Kontakt mit Kindern außerhalb der Familie untersagten. 367 Diese Entwicklung korreliert mit der Verbreitung der vernünftignormalen Subjektivität, die eine ständige Selbstbeobachtung, Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle einforderte. Der Rückgang der Untersuchungen wegen Notzucht und Schändung nach 1900 (vgl. Diagramm 1) ist also auf eine effektive Verringerung der spezifisch ehrbezogenen sexuellen Gewalttypen im Zuge der Transformation Berns zu einer modernen Gesellschaft zurückzuführen. Stimmt Elias’ Theorie also doch? Verfügten die Männer, die sich auf Landstraßen und in Wäldern auf Frauen stürzten und Mädchen aus der Nachbarschaft in Keller lockten, über kaum oder überhaupt nicht entwickelte Fähigkeiten zur Affektkontrolle? War also der Rückgang der in diesem Kapitel behandelten Gewalttaten eine Folge der zunehmenden Fähigkeit zur Affektkontrolle? Wieder muss die Antwort differenziert ausfallen. In der typischen Wahrnehmung der modernen Subjektkultur mit ihrer dichotomen Unterscheidung von Affekt und Kultur handelten die Angeklagten unzivilisiert beziehungsweise triebgesteuert. In diesem Sinn schrieb der Anwalt des neunzehnjährigen Milchträgers Friedrich B. 1888 in einem Verteidigungsmemorial über seinen Mandanten: „Er ist nämlich ein ziemlich beschränkter junger Mann von wenig oder fast keiner Bildung.“ Weiter ist zu lesen: „Zudem steht er unter dem Einflusse der ländlichen Anschauungen, welche in sittlicher oder deutlicher gesagt in geschlechtlicher Beziehung manches noch zum Erlaubten oder wenigstens Entschuldbaren rechnen, was vom sittlichen Standpunkte aus schon lang zum Verbotenen & Strafbaren gehört.“ 368 In dieser Aussage scheint die Vorstellung durch, dass sich Friedrich B. auf einer niedrigeren, unzivilisierten Stufe der menschlichen Evolution befindet und deshalb den Übergriff auf ein fünfjähriges Mädchen beging. Aus einer spezifisch modernen Wahrnehmung handelten die Knechte, Landarbeiter, Handwerker und Arbeiter unzivilisiert und waren unfähig, ihre Affekte und Triebe unter Kontrolle zu halten. Betrachtet man die sexuelle Gewalt im Sinne der feministischen Ansätze als Teil und Ausdruck des Ehrhabitus und damit als Teil der sozialen Ordnung der Ehre, fällt das Urteil anders aus. Aus dieser Perspektive ist das gewaltsame Spiel der Schande gerade nicht auf ungezügelte Affekte zurückzuführen. Vielmehr handelte es sich bei den Übergriffen um soziale Praktiken, die geltende Hierarchien reproduzierten und bestärkten - in erster 367 Jackson (2000), S. 111; vgl. auch Clark (1987), S. 110-127; Tomes (1978); Wiener (2006). Vgl. Fußnote 121, S. 111. 368 StAB BB 15. 4. 1479 7399. Ähnlich ist die richterliche Urteilsbegründung auch in StAB BB 15. 4. 2613 4031. 194 Linie die zwischen den Geschlechtern und Generationen, aber in zweiter Linie auch diejenigen zwischen gut integrierten und randständigen Menschen. 8. Sexuelle Gewalt und Subjektivität Wie im letzten Kapitel gezeigt, lassen sich rund 80 Prozent der sexuellen Gewalthandlungen in den ausgewerteten 181 Fällen, die im Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 gerichtlich untersucht wurden, als ehrbezogen charakterisieren. Die Analyse der Narrative der Angeklagten zeigt, dass nur in Ausnahmefällen subjektbezogene Aussagen zu finden sind. In diesem Kapitel geht es darum, Aspekte des Zusammenhangs von sexueller Gewalt und der in Bern um 1900 sich durchsetzenden Subjektkultur aufzuzeigen. Aus den Berner Untersuchungsakten lassen sich dabei zwei unterschiedliche Typen sexueller Gewalt rekonstruieren, in denen die Subjektivität als soziale Tatsache eine Rolle spielt. Im Kapitel zur fatalen Gewalt wurde gezeigt, dass das Gefühl der Liebe im Kontext von interpersonaler Gewalt Bedeutung erlangte. Auch bei siebzehn Fällen von Notzucht kam der bürgerlich-modernen Liebessemantik eine entscheidende Rolle zu. Bei der sexuellen Gewalt gegen Erwachsene stand allerdings nicht der tragische Ernst der Liebe, sondern ihr flüchtiger und spielerischer Ausdruck im Vordergrund. Simmel beschreibt die Koketterie als amivalentes ‚Spiel‘ der Liebe: „[Der Kokette] […] ist es eigen, durch Abwechslung oder Gleichzeitigkeit von Entgegenkommen und Versagen, […] durch Geben und Nichtgeben […], die sie gegeneinander spannt, indem sie sie doch wie mit einem Schlage fühlen lässt, […] Gefallen und Begehren zu wecken.“ 369 Die Koketterie enthält eine subjektive Note. Denn ihre Amivalenz sorgt dafür, dass sich der Wille des Gegenübers von dessen äußerlich wahrnehmbaren Handlungen und Aussagen unterscheiden kann. Ihr Reiz besteht gerade darin, dass Innen und Außen nicht unbedingt übereinstimmen. Simmel dachte wohl beim Schreiben über die Koketterie ebenso wenig an Vergewaltigungen, wie er bei seiner Konzeption der Geselligkeit als Spielform der Vergesellschaftung Wirtshausschlägereien im Blick hatte. Aber wie anhand der Verhörprotokolle der Angeklagten gezeigt werden kann, spielt die Logik der Koketterie, nach der ein Ja Nein und ein Nein Ja bedeuteten kann, in bestimmten Fällen eine Rolle (vgl. Diagramm 11). Der zweite subjektbezogene Typus von sexueller Gewalt setzt sich aus Übergriffen innerhalb der Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen zusammen. Insgesamt handelt es sich um 21 Fälle. Wie in Kapitel 7 gezeigt, konnte sexuelle Gewalt gegen Familienangehörige auch im Zusammenhang der Ehre vorkommen. Das Quellenkorpus enthält zudem Fälle von sexueller Gewalt innerhalb der Familie, in denen, wiederum ähnlich wie bei der fatalen Gewalt, die tragische Selbstwahrnehmung durch die Angeklagten auftaucht. Tra- 369 Simmel (1983), S. 82. 195 gische Subjektivität findet sich also auch im Kontext von sexueller Gewalt in der Familie. Gleichzeitig lässt sie sich auch bei einem Übergriff eines Pfarrers auf eine junge Frau aus dem Dorf, in dem dieser amtete, und im Fall eines Arztes, der sich an einer jungen Patientin verging, feststellen. 370 Daher ergibt es Sinn, in der Folge von Übergriffen innerhalb der Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen zu sprechen (vgl. Diagramm 12). 370 StAB BB 15. 4. 1726 9522; 2141 2160. 0 1 2 3 4 5 6 7 Fälle mit subjektbezogener sexueller Gewalt gegen Erwachsene pro Jahrzehnt Fälle mit subjektbezogener sexueller Gewalt gegen Erwachsene pro 100‘000 Einwohner Diagramm 11: Registrierte subjektbezogene sexuelle Gewalt gegen Erwachsene im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 0 1 2 3 4 5 6 7 Fälle mit subjektbezogener sexueller Gewalt in Familien und anderen hierarchischinstutionellen Beziehungen pro Jahrzehnt Fälle mit subjektbezogener sexueller Gewalt in Familien und anderen instutionellen Beziehungen pro 100‘000 Einwohner Diagramm 12: Registrierte subjektbezogene sexuelle Gewalt in Familien und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen im Amtsbezirk Bern 1870 bis 1939 196 Die zweifache Typenbildung lässt erkennen, dass - zumindest anhand der gerichtlichen Untersuchungsakten aus dem Amtsbezirk Bern zwischen 1868 und 1941 - kein subjektbezogener Typus von Gewalt gegen Kinder außerhalb familiärer und anderer hierarchisch-institutioneller Beziehungen rekonstruiert werden kann. Auf die möglichen Gründe für die Nichtexistenz einer solchen Verbindung möchte ich zum Schluss dieses Kapitels kurz eingehen. Sozialprofile Sexuelle Gewalt gegen Erwachsene Durch die Rekonstruktion der Sozialprofile der Beteiligten lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Sozialprofilen der ehrbezogenen sexuellen Gewalt gegen Erwachsene erkennen. Die 21 Angeklagten unterschieden sich bezüglich Geschlecht und Alter nicht von den anderen sexuellen Gewalttätern. Der jüngste der Männer war der vierzehnjährige Karl D., der laut seiner Aussage angeblich im Einverständnis mit der elfjährigen Bertha G. geschlafen hatte. 371 Weitere fünf Angeklagte waren jünger als zwanzig Jahre. Der älteste Angeklagte war 48 Jahre alt. 372 Wiederum waren unter den Angeklagten mehr Ledige (13) als Verheiratete (6). Der Unterschied zu den Sozialprofilen der Angeklagten in den Fällen mit ehrbezogener sexueller Gewalt ergibt sich vor allem durch die berufliche Tätigkeit und die Wohnorte der Angeklagten. Zwar waren auch diese Angeklagten größtenteils Arbeiter (10) und Handwerker (5). Der Berufstitel ‚Baumeister‘ verweist jedoch auf eine höhere soziale Stellung innerhalb des Baugewerbes. Dasselbe trifft möglicherweise auf einen Dekorationsmaler zu. Die Berufe ‚Musiker‘, ‚Theaterschneider‘ und ‚Zeitungsredaktor‘ verweisen auf eine Beschäftigung in der modernen Dienstleistungsgesellschaft. Wie bei der fatalen Gewalt fällt wiederum auf, dass Angeklagte mit landwirtschaftlichen Berufen gänzlich fehlen. Zu diesem Befund passt, dass alle Angeklagten in der Stadt lebten. 373 Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich zur ehrbezogenen Gewalt gegen Erwachsene weisen auch die Sozialprofile der neunzehn Opfer auf. Bis auf eine Ausnahme waren die zwanzig Opfer weiblich. Diese waren aber auffallend häufig unter zwanzig Jahre alt. In einem Fall war das Opfer erst elf Jahre alt, der oben bereits erwähnte Angeklagte allerdings erst vierzehn. 374 Übergriffe auf Frauen, die über 34 Jahre alt waren, sind nicht überliefert. 375 Elf Opfer wa- 371 StAB BB 15. 4. 1355 6194. 372 Altersverteilung der Angeklagten bei subjektbezogener sexueller Gewalt gegen Erwachsene: 14-19-jährig: 7; 20-29: 5; 30-39: 5: 40-49: 4. 373 Ein Angeklagter hatte keinen festen Wohnsitz. 374 StAB BB 14. 4. 1355 6194. 375 Altersverteilung der Opfer bei subjektbezogener sexueller Gewalt gegen Erwachsene: 11-19-jäh- 197 ren den Untersuchungsakten zufolge erwiesenermaßen ledig, sieben verheiratet. Unterschiede zur ehrbezogenen sexuellen Gewalt ergeben sich bei den Opfern bezüglich der Berufsprofile und der Wohnorte. Wiederum sticht ins Auge, dass keine Opfer in der Landwirtschaft tätig waren und nur zwei außerhalb des Stadtgebiets lebten. Im Unterschied zu den Angeklagten, deren Berufe teilweise auf Oberschichtszugehörigkeit verweisen, übten die Opfer fast ausschließlich Berufe aus, die für Frauen aus der Unterschicht typisch waren. Sie arbeiteten als Mägde, Fabrikarbeiterinnen, Schneiderinnen und Kellnerinnen. 376 Ein Opfer stammte vermutlich aus einer bürgerlichen Familie, denn der Bruder der 21-jährigen Hulda G. war von Beruf Ingenieur. 377 Im Unterschied zu den Frauen und Mädchen, die Opfer ehrbezogener sexueller Gewalt wurden, lebten die Opfer wie die Angeklagten der hier diskutierten Gruppe bis auf zwei Ausnahmen alle in der Stadt. Im Vergleich mit der ehrbezogenen sexuellen Gewalt gegen Erwachsene fällt schließlich auf, dass keine der angegriffenen Frauen als geistig oder körperlich behindert galt. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Fälle mit subjektbezogenen sexuellen Übergriffen die Tendenz erkennen lassen, dass ältere und besser situierte Männer mit städtischem und modernem Sozialprofil jüngere, weniger gut situierte Frauen mit ebenfalls städtischem und modernem Sozialprofil angriffen. Wie ihr ehrbezogenes Pendant fand auch die subjektbezogene sexuelle Gewalt - das zeigt der Blick auf Geschlecht, Alter und Schichtzugehörigkeit - tendenziell zwischen sozial Ungleichen statt. Sexuelle Gewalt in Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen Ähnliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede wie zwischen der subjekt- und ehrbezogenen sexuellen Gewalt gegen Erwachsene lassen sich auch zwischen der subjekt- und ehrbezogenen sexuellen Gewalt in der Familie sowie in anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen beschreiben. Die 22 Männer 378 , die subjektbezogene sexuelle Gewalt in solchen Beziehungen und in der Familie ausübten, waren ihrer sozialen Stellung als Väter, Stiefväter, Onkel, aber auch Pfarrer und Ärzte entsprechend bereits relativ alt. 379 Auch bei diesem Gewalttypus stellrig: 8; 20-29: 8; 30-39: 3. 376 Beim männlichen Opfer handelte es sich um einen Eisenbahnarbeiter. 377 StAB BB 15. 4. 1989 1295. 378 Samuel J. wurde im Abstand 1897 und 1901 zweimal angeklagt. Die Angaben zu seinem Sozialprofil werden zweimal verwendet. 379 Die Ausnahme bildet der achtzehnjährige Ernst K., der wegen Notzucht an seiner Schwester angeklagt war. StAB BB 15. 4. 2069 1718. Altersverteilung bei subjektbezogener sexueller Gewalt in der Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen. Anzahl Angeklagte/ Opfer: 0-9-jährig: 0/ 7; 10-19: 1/ 17; 20-29: 6/ 3; 30-39: 6/ 0; 40-49: 6/ 0; 50-59: 2/ 0; 60-69: 1/ 0. 198 ten Arbeiter (8) den größten Anteil. 380 Allerdings sind unter den Angeklagten neben den Oberschichtsberufen Pfarrer, Arzt, Bauführer und Baumeister auch ein Möbelhändler, ein Lokomotivführer, ein Elektriker, ein Notar, ein Reisender, ein Kaufmann und ein Naturheilkundler zu finden. Berufsprofile des alten Handwerks und der Landwirtschaft finden sich nicht. Bis auf eine Ausnahme lebten alle Angeklagten in der Stadt. 381 Die 23 ausschließlich weiblichen Opfer waren zwischen acht und 27 Jahren alt. Neun fielen unter das Schutzalter von zwölf Jahren. Nur ein Opfer war erwiesenermaßen verheiratet. Die Frauen arbeiteten als Mägde, Fabrikarbeiterinnen oder Näherinnen (Lingère). Es finden sich aber auch die Berufsbezeichnungen Telefonistin, Büroangestellte und ‚Officemädchen‘, die auf eine Beschäftigung im modernen Dienstleistungssektor verweisen. Die häufig familiäre Beziehung zwischen Angeklagten und Opfern bringt es mit sich, dass die Opfer aus derselben sozialen Schicht wie die Angeklagten stammten. War dies, wie in sechs Fällen, nicht oder nicht ausschließlich der Fall, gehörten die Opfer in fünf dieser Fälle einer niedrigeren Schicht an. Der Notar Ludwig Eduard R. vergriff sich an der elfjährigen Martha B., die er und seine Frau zu „adoptieren“ beabsichtigten. Martha war eigentlich die Stieftochter eines Wirts. 382 Im Falle des angeklagten Pfarrers handelte es sich bei den Opfern um das ‚Officemädchen‘ und eine Magd, beim Arzt um die Telefonistin. Der Naturheilkundler August R. notzüchtige nicht nur seine eigene Tochter, sondern auch ein Kinder- und ein Zimmermädchen sowie eine Lingère - und der Bauführer Wilhelm R. seine Büroangestellte. 383 Auch hier zeigen die Wohnorte, dass die Mehrheit der Opfer von subjektbezogener sexueller Gewalt einen städtischen Hintergrund hatte. 384 Im Gegensatz zur ehrbezogenen sexuellen Gewalt fällt weiter auf, dass nur die 25-jährige Marie S., Tochter eines Handlangers, als „schwach begabt“ galt. 385 In Bezug auf die Sozialprofile der subjektbezogenen sexuellen Gewalt in der Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen lässt sich festhalten, dass Angeklagte und Opfer mehrheitlich aus der Stadt stammten. Die Angeklagten waren älter als die Opfer, und wenn sie nicht aus der gleichen Familie stammten, gehörten sie tendenziell einer höheren Schicht an als die Opfer. Auch bei diesem Gewalttypus handelte es sich also aufgrund des Geschlechter- und Altersunterschieds sowie teilweise unterschiedlicher Schichtzugehörigkeit um Gewalt zwischen Ungleichen. 380 Maurer, Mechaniker, Gasarbeiter, (Bau)Handlanger, Maschinenarbeiter, Magaziner. Ein Angeklagter war Wirt. 381 Ein Angeklagter hatte keinen festen Wohnsitz. 382 StAB BB 15. 4. 1413 6828. 383 StAB BB. 15. 1413 6828; 1726 9522; 2141 2160; 1748 9691; 2087 1806. 384 Fünf Opfer lebten auf dem Land. 385 StAB BB 15. 4. 2419 3410. 199 Praktiken und Kontexte Sexuelle Gewalt gegen Erwachsene Im Kontrast zu den ehrbezogenen Übergriffen nach spontanen Begegnungen in den Wäldern und auf Landstraßen ereigneten sich die 17 subjektbezogenen sexuellen Gewalthandlungen bis auf zwei Ausnahmen nicht im Freien. In über der Hälfte der Fälle handelte es sich beim Tatort um das Haus oder die Wohnung des Opfers. Weitere Tatorte waren der gemeinsame Arbeitsplatz des Opfers und des Angeklagten oder die Wohnung des Angeklagten. Alle Übergriffe fanden im Stadtgebiet statt. Unterschiedlich sind auch die Opfer-Täter-Beziehungen. Wie gezeigt, kannten sich bei den ehrbezogenen Gewalthandlungen Täter und Opfer meist nicht. Bei den subjektbezogenen Übergriffen war dies hingegen mehrheitlich der Fall. Die Angeklagten waren Nachbarn, Arbeitskollegen, Mitbewohner, Geschäftspartner oder Gäste der Opfer. Zwischen Opfer und Täter musste zwar keine intensive Beziehung vorhanden sein, doch stellte die Tatsache, dass sich die Involvierten kannten, eine wichtige Voraussetzung für diesen Typus der sexuellen Gewalt dar. Aus den Verhörprotokollen ist abzulesen, dass die Übergriffe nicht sofort auf die Begegnung folgten, sondern dass der Angeklagte und das Opfer typischerweise eine längere Zeit miteinander verbrachten. Rosa B. und Jakob R. verbrachten am 11. November 1900, nachdem sie sich im Länggassequartier auf der Straße begegnet waren, den gesamten Nachmittag und Abend zusammen und erstatteten dabei Rosas Meisterleuten einen Besuch ab. 386 Der Bierbrauer Jakob R. und die fünfzehnjährige Fabrikarbeiterin Carmelina D. begegneten sich auf der Straße, kauften gemeinsam in einer Wirtschaft Bier und begaben sich dann in Jakobs Zimmer, um Gläser zu holen, wo er sich dann aber an ihr vergriff. 387 Der 45-jährige Maschinenschlosser Ernst S. suchte die Ehefrau seines Arbeitskollegen auf, als dieser außer Haus war, und wurde von ihr hereingelassen. 388 Während des Zusammenseins im Vorfeld der Tat wurde Konversation betrieben. Hulda G. unternahm mit ihrem Nachbarn, dem 25-jährigen Musiker August B., einen Spaziergang, bei dem sie nach ihren Angaben über ihren „Schatz“ redeten und sie ihm Komplimente wegen seines schönen Spiels machte. Sie verteidigte sich gegenüber dem Untersuchungsrichter: „Ich sagte das aber in aller Einfalt und hatte dabei keine Hintergedanken […].“ 389 Der achtzehnjährigen 386 StAB BB 15. 4. 1696 9277. 387 StAB BB 15. 4. 1816 406. 388 StAB BB 15. 4. 2318 3046. Weitere Beispiele: Der 33-jährige Bauführer Karl H. kehrte in die Wirtschaft Maulbeerbaum zurück, wo er am Abend zuvor die 22-jährige Kellnerin Martha M. kennengelernt hatte (StAB BB 15. 4. 1915 918); der 45-jährige Bäckermeister Gottlieb L. und der 34-jährige Eisenbahnarbeiter Gottfried Z. trafen in einer Wirtschaft aufeinander und begaben sich danach gemeinsam auf den Heimweg (StAB BB 15. 4. 1843 553). 389 StAB BB 15. 4. 1989 1295. 200 Elise W. und ihrer Begleiterin spendierten drei junge Burschen, die sie aus der Nachbarschaft kannten, auf dem Rummelplatz eine Karussellfahrt und luden sie zu einem Glas Sirup ein: „B. machte den Vorschlag, noch etwas spazieren zu gehen, und da wir nichts Böses ahnten, so gingen wir mit.“ 390 Die Kontexte, in denen sich Angeklagte und Opfer begegneten, unterscheiden sich also von den spontanen und zufälligen Treffen auf den Landstraßen und in den Wäldern und auch von den Einbrüchen in die Behausungen der Opfer, wie sie für ehrbezogene Übergriffe typisch waren. Die Begegnungs- und Tatorte waren - anders als bei der ehrbezogenen Gewalt - nicht ausnahmslos, aber tendenziell weniger der Sphäre der Arbeit und mehr der Privatsphäre und der Freizeit zuzurechnen, die sich im Zuge der Verbürgerlichung der Lebensweise herausbildete. Die ausgedehnten Spaziergänge und einfühlsamen Konversationen zeugen von einer modernen Form der Zweisamkeit zwischen den Geschlechtern, die in den über 142 Fällen mit ehrbezogener sexueller Gewalt nicht rekonstruiert werden kann. 391 Diese spezifischen Formen der modernen Zweisamkeit zwischen den Geschlechtern boten Raum für sexuelle Gewalt. 392 Im Verlauf des Zusammensein wurden die Männer „zudringlich“, wie es Hulda G. ausdrückte: „Plötzlich reckte er mir hinten an den Hals; ich wehrte mit der Hand ab und schaute ihn schroff an. […] Er machte immer den Versuch, mich zu umarmen […].“ 393 Die 22-jährige Magd Elisa P. wurde vom Handwerker bedrängt, der im Haus ihrer Meisterleute Arbeiten erledigte: „Der Maler verfolgte mich wieder & wider meinem Willen gelang es ihm, mich zu umarmen & zu küssen. Während er mich am Arm festgehalten, schob er den Nachtriegel der Küchenthüre, so dass wir eingeschlossen waren. [...] Er pakte mich an beiden Armen an & stiess mich rücklings auf eine nahegelegene leere Kiste.“ 394 Die fünfzehnjährige Fabrikarbeiterin Carmelina D. beschrieb den Angriff durch den 33-jährigen Bierbrauer Jakob B. folgendermaßen: „Als wir in das [...] Zimmer kamen, schloss er dasselbe ab, löschte das Licht aus und legte mich auf das Bett und vollzog an mir den Beischlaf, ich wollte um Hilfe schreien, der Unhold hielt mir aber die Hand auf den Mund.“ 395 390 StAB BB 15. 4. 1824 459. 391 Eine klare Grenzziehung ist allerdings nicht möglich, denn auch bei diesen subjektbezogenen sexuellen Gewalttaten spielten teilweise materiell-ökonomische Aspekte mit. So versprach der 44-jährige Zeitungsredaktor Karl M. der sechzehnjährigen Kellnerin Maria R. Kleider, die er angeblich in seinem Hotelzimmer bereithielt. Am nächsten Tag gab er ihr stattdessen fünf Franken (StAB BB 15. 4. 1674 9120). Auch beim Übergriff auf Johanna H. durch ihren Chef - ebenfalls auf einem Hotelzimmer - ist die ökonomisch-materielle Komponente evident (StAB BB 15. 4. 2087 1806). Zum Spaziergang als spezifisch bürgerliche Praktik und Begegnungsort der Geschlechter vgl. König (1996), S. 31-63. 392 In England fand im frühen 19. Jahrhundert sexuelle Gewalt teilweise im Kontext von Rendezvous und Theaterbesuchen statt. Vgl. Clark (1987), S. 83-89. 393 StAB BB 15. 4. 1989 1295. 394 StAB BB 15. 4. 1989 1295. 395 StAB BB 15. 4. 1816 406. 201 Sexuelle Gewalt in der Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen Bei Vergewaltigungen in der Familie lassen sich auf der Ebene der Handlungskontexte keine signifikanten Unterschiede zwischen ehrbezogenen und subjektbezogenen Übergriffen feststellen. Auch hier wurden die Opfer meist mehrfach vom gleichen Täter missbraucht, der in einem hierarchisch-institutionellen Verhältnis zum Opfer stand. Die zehnjährige Martha A. sagte aus: „[I]ch folgte ihm, weil es mein Onkel ist.“ 396 Im Unterschied zu den ehrbezogenen Gewalthandlungen lagen die Tatorte mehrheitlich auf städtischem Gebiet. An manchen Stellen scheint in den Quellen der moderne Hintergrund durch: Der 26-jährige Baumeister vergewaltigte seine vierzehnjährige Stieftochter, Insassin einer Mädchenerziehungsanstalt, während eines gemeinsamen Spaziergangs. 397 Der „Naturheilkundige“ August Emil R. missbrauchte seine Tochter in einem Hotelzimmer. Derselbe August Emil R. wurde anzeigt, weil er in einem zu einer Praxis umfunktionierten Hotelzimmer zwei Frauen vergewaltigte, die zu ihm in die Behandlung kamen. Nur aufgrund dieser Anzeigen kamen auch die Übergriffe auf die eigene Tochter ans Licht. 398 Auch der „prak. Arzt in physikalisch-dietischer Richtung“, der 61-jährige Paul S., wurde wegen eines Übergriffs auf eine Patientin in seiner Praxis angeklagt, die er zu diesem Zweck während der Behandlung mit Äther betäubt haben soll. 399 Die missbrauchten Mädchen und Frauen schilderten die Übergriffe - gleich wie die Opfer der ehrbezogenen Übergriffe in Haus und Familie - als gewaltsam. Martha A., die ihrem Onkel gehorchte, gab zu Protokoll: „Das erste Mal, als er dies probierte […], schrie ich und sagte, er solle mich sein lassen. Dann schlug er mich aber mit der Hand fest auf den Mund und sagte, ich solle schweigen.“ 400 Die fünfzehnjährige Frieda R., die von ihrem Stiefvater missbraucht wurde, sagte aus: „Ich wehrte mich dagegen, stiess ihn weg, weinte und bat ihn, er solle doch so etwas nicht machen. Als ich laut weinte, hielt er mir mit den Händen den Mund zu.“ 401 Auffallend ist an diesen zwei Fällen, dass die Angeklagten den Mädchen drohten, sie würden ins Gefängnis kommen, falls sie jemandem etwas über das Vorgefallene erzählten. In insgesamt vier Fällen machten die Väter, Stiefväter und Onkel die missbrauchten Mädchen durch solche Drohungen für ihr persönliches Wohlergehen und das Wohlergehen der Familie verantwortlich. Es handelt 396 StAB BB 15. 4. 1977 1233. Ähnlich die achtzehnjährige Fabrikarbeiterin Suzanna K: „Ich hatte mich gegenüber meinem Vater jeweilen nicht zur Wehr gesetzt; ich durfte dies nicht, weil ich befürchtete, der Vater könnte mich sonst schlagen.“ StAB BB 15. 4. 1823 456. 397 StAB BB 15. 4. 1794 250. 398 StAB BB 15. 4. 1748 9691, vgl. auch 2087 1806. 399 StAB BB 15. 4. 2141 2160. Bei einem weiteren symbolisch aufgeladenen Tatort handelt es sich um ein Pfarrhaus. StAB BB 15. 4. 1726 9522. 400 StAB BB 15. 4. 1977 1233. 401 StAB BB 15. 4. 1963 1160. 202 sich dabei um eine Form der psychischen Gewalt, die im Kontext der Ehre nicht zu finden ist. 402 Narrative über subjektbezogene sexuelle Gewalt Sexuelle Gewalt gegen Erwachsene Die Männer, die angeklagt waren, im oben ausgeführten modernen Setting des Spaziergangs, der einfühlsamen Konversation und des Rendezvous eine Vergewaltigung begangen zu haben, äußerten sich auf andere Weise über die Gewalthandlungen als die ehrbezogenen Gewalttäter. Neben den Sozialprofilen und den Kontexten der Taten unterscheiden sich also auch die Angeklagtennarrative. Anhand der Fälle lassen sich verschiedene Narrative rekonstruieren: Eine Möglichkeit bestand darin, wie der 33-jährgie Bierbrauer Jakob R., die sexuelle Annäherung überhaupt abzustreiten, was allerdings eine Ausnahme darstellte. 403 In den restlichen Fällen gaben die Männer an, dass die Frauen mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden gewesen wären, und zwar - im Gegensatz zur ehrbezogenen Gewalt - ohne dass sie dafür eine materielle Gegenleistung erhalten hätten. 404 So erklärte der 25-jährige Musiker August B. 1914: „In diesem Moment wurde sie ganz anders. Ich setzte mich auf einen Stuhl; sie setzte sich auf meine Knie, fasste mich um den Hals und wir küssten uns während 10 Minuten ab.“ 405 Der 29-jährige Steinhauerpolier Friedrich H. sagte 1892 aus: „Als ich mit dem Frauenzimmer in die Wohnung ging, wurde dasselbe sofort zärtlich und zwar in einer Weise, dass ich annehmen musste, sie wolle mich veranlassen, mit ihr den Beischlaf zu vollziehen. […] Ich ließ mich nun verleiten und erlaubte mir ebenfalls verschiedene Zärtlichkeiten.“ 406 Auch im Verhörprotokoll des 23-jährigen Dekorationsmalers Paul M. beruhte die intime Annäherung mit der Magd Elisa P. auf Gegenseitigkeit: „Ich sah in jener Villa ein Mädchen, das mir von Anfang an freundliche Blike zuwarf & mich anlächelte. Das Mädchen gefiel mir auch nicht übel. Eines Nachmittags, wie ich in die Küche kam, um Leim zu kochen, schaute mich das Mädchen wieder so freundlich an & wir schwatzten miteinander. Ich fasste das Mädchen mit dem einen Arm um die Taille, sie war hierbei ein wenig unruhig, ließ mich aber machen. Ich gab ihr nun auch einen Kuss, sie 402 Vgl. auch StAB BB 15. 4. 2579 3929. Im Fall Emil M., auf den weiter unten ausführlich eingegangen wird, drohte dieser seiner Tochter, dass er in die Stadt gehen würde, um sich zu betrinken. Seine fünfzehnjährige Tochter lenkte nach dieser Drohung ein, ohne dass Emil sie mit Schlägen traktierte. StAB BB 15. 4. 2439 3490. 403 StAB BB 15. 4. 1816 406. 404 Eine Ausnahme bildet der Übergriff des 44-jährigen Zeitungsredaktors Karl Theophil M., der 1896 der sechzehnjährigen Kellnerinnen Kleider versprach, wenn sie ihm auf sein Zimmer folgen würde. StAB BB 15. 4. 1674 9120. 405 StAB BB 15. 4. 1989 1295. 406 StAB BB 15. 4. 1550 8061. 203 schloss ihre Augen & hatte nichts hingegen. Ich gab ihr deshalb noch mehrere Küsse, was sie alles mit sich gehen ließ, ohne mich etwa von sich zu stoßen.“ 407 In diesen Narrativen stritten die Angeklagten ab, den Geschlechtsverkehr mit Gewalt erzwungen oder käuflich erworben zu haben, sondern beschrieben sie als ein romantisch-leidenschaftliches Liebesspiel. Hier zeigt sich eine weitere Facette des ästhetischen Subjekts der Romantik (welches immer auch ein unvernünftiges und unkontrolliertes Subjekt ist). Es finden sich allerdings auch Fälle, in denen die Angeklagten nicht abstritten, dass sie den Widerstand der Frauen durch den Einsatz von Gewalt gebrochen hatten. Dieses Eingeständnis wurde jedoch auf bemerkenswerte Weise ergänzt. So gab der 45-jährige Maschinenschlosser Ernst S. im Jahr 1929 zu Protokoll: „Ich erfasste dann Frau F. mit dem linken Arm um die Schultern und drückte sie gegen mich. [...] Letztere sagte zu mir, ich solle sie sein lassen. [...] Auf dies hin wurde ich ‚sexuell‘ erregt. Frau F. sagte fortwährend, ich solle sie in Ruhe lassen. Ich gewann jedoch den Eindruck, dass sie es nicht sehr ernst meinte. [...] Frau F. hat sich während meinem Vorgehen nicht stark zur Wehre gesetzt. Ihre gemachten Anstrengungen, ich solle sie in Ruhe lassen, erscheinen mir als ein Manöver. Ich halte dafür, dass sie innerlich für den Geschlechtsakt einverstanden war, obwohl sie sich anscheinend dagegen sträubte.“ 408 Ein ähnliche Aussage traf 1873 auch der Theaterschneider Georg C.: „Es ist richtig, dass sie sich etwas gesträubt hat, doch konnte ich ihrem ganzen Benehmen nach schließen, dass es mit ihrem Widerstand so sehr ernst nicht war.“ 409 Beschrieben werden Frauen, die sich gegen Gewalt wehren und insgeheim hoffen, dass ihre Gegenwehr erfolglos bleibt. Dieses Narrativ findet sich in den Verhörprotokollen der Angeklagten ehrbezogener sexueller Gewalt nicht. Dort vergewaltigen die Angeklagten die Frauen trotz ihrer Gegenwehr, verkehren spaßweise mit ihnen oder offerieren eine materielle Gegenleistung. In den Narrativen der Angeklagten von ehrbezogener sexueller Gewalt deckt sich das Verhalten der Frauen stets mit ihrem Willen beziehungsweise Nichtwillen. Bei der narrativen Figuration der Frauen im Kontext subjektbezogener Gewalt ist diese Deckung teilweise aufgehoben: Äußerliche Wahrnehmung, das Sicht- und Hörbare, das in den Narrativen der ehrbezogenen Gewalt stets bis ins äußerste Detail beschrieben wird, hat nicht mehr den gleichen Stellenwert. Hervorgehoben wird vielmehr ein angebliches inneres Einverständnis der Frauen, das in Kontrast zum Verhalten steht. Arni verweist darauf, dass um 1900 innerhalb der soziologischen und medizinischen Beschäftigung mit Liebe und Sexualität ein oft mit - aus heutiger Sicht - misogynem Unterton geführter Diskurs existierte, der die Koketterie als spezifisch weibliche Praktik charakterisierte, mit der Frauen auf männliches Drängen 407 StAB BB 15. 4. 1585 8343. 408 StAB BB 15. 4. 2318 3046. 409 StAB BB 15. 4. 1191 4223. 204 reagieren konnten. 410 Wie Joanna Bourke zeigt, ermöglichte die moderne Vorstellung, dass Frauen im Zusammenhang mit Liebe und Sexualität aufgrund ihres angeblich eigentümlichen Wesens zur Koketterie neigen, im Kontext der Gewalt ein Narrativ, mit dem Frauen, auch wenn sie sich zur Wehr setzten, als Partnerinnen eines Liebesspiels oder eines Flirts dargestellt werden konnten. 411 Bei der Figur der Kokette differiert das ‚Innerliche‘, wie es Ernst S. ausdrückte, das Verlangen und Empfinden vom sicht- und hörbaren Verhalten. In der Welt der Ehre, in der sich die Menschen durch die Augen der anderen wahrnahmen, ergibt die Vorstellung eines von den äußeren Verhaltensweisen abweichenden Empfindens wenig Sinn. In der Logik der Koketterie hingegen befinden sich die Ebenen der Handlung und jene des Empfindens in einem antagonistischen Wechselspiel. Ernst S. wird in seinem Narrativ bezeichnenderweise gerade deshalb ‚sexuell erregt‘, weil Lina F. ihn auffordert, sie in ‚Ruhe‘ zu lassen. 412 Ein Nein ist nicht länger ein Nein, über das sich die Täter hinwegsetzen, sondern insgeheim ein Ja. 413 In der widersprüchlichen und ambivalenten Figur der Kokette spiegelt sich der moderne Subjekthabitus. Auf der einen Seite wahrt sie mit dem abwehrenden Verhalten die moralische Sittlichkeit, die die moderne Gesellschaft von den Frauen auf sehr ähnliche Weise wie in Ehrgesellschaft erforderte. 414 Auf der anderen Seite hofft die Figur der Kokette insgeheim auf ein amouröses Abenteuer außerhalb der Ehe und damit außerhalb des sittlich-moralisch Erlaubten. Durch diese Widersprüchlichkeit und Ambivalenz stimmt die Koketterie mit dem modernen Subjekthabitus mit seinen antagonistischen Dimensionen der moralisch-vernünftigen und einer ästhetisch-leidenschaftlichen Subjektivität überein. Indem sie die Avancen scheinbar ignoriert und die Annäherungen abwehrt, verhält sich die Kokette entsprechend der moralisch-vernünftigen Subjektivität; indem ihre Empfindungen und Leidenschaften diesen Moralvorstellungen widersprechen, konstituiert sich die Kokette gleichzeitig als ästhetisches Subjekt. 410 Arni (2004), S. 208-215. 411 Bourke (2007), S. 67-76. 412 Im Verhörprotokoll der Maria M. findet sich derselbe Topos des Wechselspiels von Begehren und Ablehnung: „Wenn es mir gelang [die Beine] wieder zusammen zu halten, so sagte er: ‚jetzt machst Du es wieder so, ich werde ganz wahnsinnig‘, oder etwas dergleichen.“ StAB BB 15. 4. 1674 9120. 413 Vgl. dazu Clark (1987), S. 134. 414 In Bezug auf die Sexualität hatte die als passiv verstandene weibliche Ehre auch im bürgerlichmodernen Sittlichkeitsdiskursen weiterhin große Bedeutung. Arni zeigt, dass gerade die Praxis der Koketterie als gefährdend für die Ehre der Frauen, die gleichzeitig immer die Ehre ihrer männlichen Verwandten war, galt, weil sie diese zu untergraben vermochte. Arni (2004), S. 213-215. In der Urteilsurkunde des Verfahrens gegen den 26-jährigen Maler Johann H., der im Dählhölzliwald die 21-jähgrige Lehrerin Hanna P. angegriffen hatte, ist von Hannas angegriffener „Frauenehre“ die Rede. Bezeichnenderweise handelte es sich bei der in der Schosshalde wohnenden Lehrerin um die einzige (dokumentierte) Angehörige der Oberschicht, die im Freien von einem Unbekannten angegriffen wurde (StAB BB 15. 4. 1808 348). 205 Nicht in allen Angeklagtennarrativen wurde die Abwehr als verdecktes Signal des Begehrens dargestellt. Auch die Umkehr dieses Spiels ist zu finden. Der 31-jährige Schreiner Jakob R. beispielsweise, der der Vergewaltigung der siebzehnjährigen Magd Rosa B. beschuldigt wurde, erzählte: „Unterdessen kam ein Mädchen neben mir vorbei und grüßte mich, es kam mir bekannt vor, ich glaube, ich habe früher einmal mit ihm im Bierhübeli getanzt. Ich erwiderte den Gruß, das Mädchen marschierte zu, schaute aber immer zurück und nikte mir zu. Ich ging ihm nach in der Absicht, einige Worte mit ihm zu sprechen und lud es zu einem Glas Wein ein.“ Rosa und Jakob verbrachten daraufhin den Nachmittag zusammen. Am Abend kamen sich die beiden gemäß Jakobs Narrativ näher: „Ich stellte […] den Antrag mit einander geschlechtlich zu verkehren, wogegen das Mädchen nichts einwendete. Wir kamen zusammen zu Boden zu liegen, ich kann aber nicht mehr sagen, wie dies zu und her gegangen, weil ich eben betrunken gewesen. Wie ich auf ihm lag, musste ich wahrnehmen, dass das Mädchen nicht mehr einverstanden war.“ 415 In diesem Narrativ schlägt die Koketterie in die andere Richtung aus: Rosas Wille ist sittlich, ihr verführerisches Verhalten ist es nicht. Der Fall Jakob R. enthält bezüglich Subjektivität noch eine weitere Note. Rosa erzählte nämlich Folgendes: „Als er immer nicht von mir wollte, fing ich zu schreien an, er sagte hierauf, ich solle ihn jetzt machen lassen, sonst lege er sich auf die Eisenbahnschienen, und er hätte gute Lust, mich gerade zu erwürgen.“ 416 Der Geschlechtsverkehr ist eine Frage von Leben und Tod, und zwar nicht für das Opfer, sondern für den Angeklagten. Fatalität und Todesdrohungen tauchen also auch im Kontext sexueller Gewalt auf. Wie im nächsten Abschnitt zu zeigen ist, war Jakob R. nicht der einzige Angeklagte im Bereich der sexuellen Gewalt, der so argumentierte. Vor allem in den Narrativen der Angeklagten von sexuellen Übergriffen innerhalb der Familie ist eine Tendenz zu erkennen, aus den Übergriffen eine schicksalshafte Frage zu machen. Wie im nächsten Abschnitt ausgeführt wird, war es möglicherweise kein Zufall, dass sich Jakob gegenüber Rosa als entfernter Verwandter ausgab. Sexuelle Gewalt in der Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen In vier Fällen mit sexuellen Übergriffen in der Familie sind Suiziddrohungen der Angeklagten rekonstruierbar. Wie im oben erwähnten Fall Jakob R. 417 wurden sie dabei in den Zeugenverhörprotollen erwähnt. 1884 war der 28-jährige Notar Eduard R. wegen Notzucht an der elfjährigen Martha M. angeklagt. Laut Eduards Frau war Martha vom Ehepaar R. „aufgenommen“ und wie ein „eige- 415 StAB BB 15. 4. 1696 9277. 416 StAB BB 15. 4. 1696 9277. 417 StAB BB 15. 4. 1696 9277. 206 nes Kind behandelt“ worden: „Wir beabsichtigten dasselbe zu adoptieren.“ Gegenüber dem Stiefvater des Mädchens soll Eduard den Übergriff zugegeben und gleichzeitig gedroht haben: „Er springe eher ins Wasser, als dass er ins Zuchthaus gehe.“ Eduard bestätigte diese Aussage gegenüber dem Untersuchungsrichter, stellte aber klar: „Es war mir nicht ernst damit, dass ich gedroht hatte, ich werde ins Wasser gehen.“ 418 Unabhängig von der Frage, wie der Angeklagte seine Aussage verstanden haben wollte: Vor dem Hintergrund der Ausführungen zur fatalen Gewalt sticht diese Selbsttötungsäußerung eines Mannes aus der bürgerlichen Oberschicht, der eines sexuellen Übergriffes angezeigt wurde, ins Auge. In einem weiteren Fall findet sich ein klarer Bezug zum tragischen Skript der fatalen Gewalt: Die sechzehnjährige Fabrikarbeiterin Frieda S. erklärte 1906: „Mein Vater sagte mir damals, ich solle niemandem etwas davon sagen, sonst nehme er sich das Leben & töte mich auch. […] Kurz nach der Admission frage mich mein Vater wieder, ob ich ihn ein wenig gern haben wolle. Ich sagte ihm, es geht nicht, ich sei sein Kind. Mein Vater sagte jedoch, er könne nicht anders, wenn ich es nicht geschehen lasse, so nehme er sich das Leben & ich müsse dann auch auf die Seite.“ 419 Derselbe Liebes- und Todesbezug findet sich auch in den Akten des Prozesses gegen den 38-jährigen Elektromonteur Johann G., der 1939 wegen Notzucht an seiner Stieftochter angeklagt war. Johann sagte aus: „[Bei der körperlichen Züchtigung] kam mir das erste Mal der Gedanke, dass dieses Mädchen eine weibliche Person sei [...]. Das Mädchen wurde grösser und ich musste viel an es denken.“ Johann behauptete, dass die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Untersuchung vierzehnjährigen Nathalie S. seine Zuneigung erwidert habe und mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden gewesen sei: „Es wehrte sich gegen meine Liebkosungen nicht, sondern suchte mich ebenfalls auf, und ich hatte das Gefühl, dass das Mädchen auch mich liebte und gut leiden mochte.“ In diesem Fall drohte der Angeklagte nicht, sich gemeinsam mit dem Opfer zu töten. Ein begutachtender Arzt machte sich aber Sorgen um die Mutter, wie aus einem Gutachten ersichtlich wird: „Frau Gerber ist zur Zeit sehr stark schwermütig wegen der Vorkommnisse.“ Der Arzt warnte daher vor einem möglichen Suizid der Mutter und war besorgt wegen „des eventuellen Mitnehmens der Nathalie“. Aus demselben Gutachten ist zu erfahren, dass auch der Stiefvater nach Aussagen seiner Frau „in der letzten Zeit sehr merkwürdig gewesen [sei, er] habe seit Wo- 418 StAB BB 15. 4. 1495 7547. Der 26-jährige, angeklagte Pfarrer Friedrich G. äußerte sich gegenüber der sechzehnjährigen Metzgersmagd Bertha B. folgendermaßen, als er sie dazu bewegen wollte, seine Unschuld schriftlich zu bezeugen: „Er sagte, wenn ich dieses Schriftstück unterzeichne, so seien er und seine Familie gerettet, und wenn ich es nicht mache, so erschieße er sich und die Frau gehe ins Wasser“ (StAB BB 15. 4. 1726 9522). 419 Friedas Vater, ein 44-jähriger Maschinenarbeiter, stritt die Tat in seinem ersten Verhör ab: „Ich habe aber die Tochter Frieda nicht angerührt, ich habe solches nicht notwendig, da meine Frau mir nie den Beischlaf verweigerte.“ In seinem zweiten Verhör gab er auf konkrete Fragen des Untersuchungsrichters die Selbstmordäußerungen und unzüchtige Handlungen an Frieda zu. StAB BB 15. 4. 1818 426. 207 chen kaum mehr geschlafen, habe auch den Krieg herbeigewünscht.“ 420 Es war das Jahr 1939. Weder Friedas Vater noch Johann äußerten sich zu ihren angeblichen Todessehnsüchten beziehungsweise Kriegswünschen. Die Zeugenaussagen verweisen aber darauf, dass der tragische Modus nicht nur der fatalen Gewalt zugrunde lag, sondern auch bei den sexuellen Übergriffen in der Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen eine gewisse Rolle spielte. 421 Wenn die Angeklagten sexueller Gewalt ihre Subjektivität in den Selbstzeugnissen thematisierten, wurde die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit wiederum nicht explizit angesprochen. Es finden sich aber Aussagen, die - bewusst oder nicht - auf diese Frage abheben. Der 29-jährige Friedrich S. vermochte 1912 seinen Übergriff auf seine Nichte nicht zu erklären: „Es tut mir leid, dass ich mich soweit habe gehen lassen, ich muss meine Sinne verloren haben.“ Spuren des Tragischen sucht man in seinem Verhörprotokoll vergebens. 422 Gleich verhält es sich im Verhörprotokoll des 58-jährigen Jakob S. aus dem Jahr 1933: „Ich kann nicht begreifen, dass ich […] mit meiner Tochter geschlechtlich verkehrt habe.“ 423 Im Gegensatz zu diesen beiden Beispielen steht die einzige explizite 420 StAB BB 15. 4. 2579 3929. 421 Vigarello nennt Beispiele aus Frankreich in den 1880er- und 1890er-Jahren von Vätern, die sich nach einer Anzeige wegen sexuellen Übergriffen auf ihre Töchter das Leben nahmen. Diese Vorfälle wurden von der Presse breit behandelt. Als Erklärung für die Tat wie auch für den Suizid nannten die Journalisten die Degeneration der Täter aufgrund von Alkoholkonsum. Auch Jackson nennt Bespiele von Vätern, die in England um 1900 nach Anzeigen wegen Übergriffen auf ihre eigenen Töchter versuchten, sich das Leben zu nehmen. Vigarello (2001), S. 169 f.; Jackson (2000), S. 121 f. 422 StAB BB 15. 4. 1951 1093. 423 Die Untersuchungsakten enthalten zwei selbstverfasste Lebensläufe, die nicht im tragischen Stil geschrieben sind. Der erste Lebenslauf gibt zuerst die Familienverhältnisse wieder, aus denen Jakob stammte, gefolgt von seinen frühen Arbeitsstationen: „[Ich] arbeitete in der Konstruktions Werkstat als Hilfsarbeiter bis 1918 als der Waffenstillstand kam. Da gab es Massenentlassungen in sämtlichen Eidgenössischen Betriben, von da arbeitete ich wieder als Landarbeiter. Im Jahr 1926 begieng ich eine Missethat mit meiner Tochter Marie. Dafür bekam ich eine Straffe von 20 Tag Gefangenschaft, ich kan noch heute nicht erklären, wie ich so etwas machen kan, ich muss mir blos sagen, du bist nicht klar im Kopf, ich und meine frau sind deswegen nicht in Streit gekommen. Sie weiß, dass ich manchmal zu schwach bin um mich zu beherschen. [...] Im Jahr 1932 erlit ich einen schweren Unfall in einem Neubau, ich erlit schwere innerliche Verlezungen, seither bin ich zweitweise leidend, ich kan nicht mehr jede schwere Arbeit verrichten. Jezt bin ich noch angeklagt wegen Blutschande gegenüber meiner Tochter aber wie ich auf solche Gedanken kome, kann ich nicht erklären. Ich bitte Gott den Allmächtigen und den Richter um Gnade und Barmherzigkeit. Gott im Himmel [...] mich in Zukunft behüten und bewaren vor jeder Sünde und Missethat.“ Jakob schrieb einen weiteren Lebenslauf während seines Aufenthalts in der psychiatrischen Klinik, wo er gerichtsmedizinisch begutachtet wurde. „Gebohren den 30. Januar 1875 in Wohlen bei Bern. Ich bin von der ersten Lebensstunde an ein armer Mensch gewesen [...]. Wie ich im späteren Leben erfahren habe, lässt meine Erziehung zu wünschen übrig. Es wurden Redensarten geführt, die meinen Ohren fern bleiben dürften und musste Alkohol trinken wie die Erwachsenen, wurde auch schlecht gekleidet, so dass ich im Winter manchmal sehr frohr und habe auch Hunger gelitten, so dass ich auf dem Schulweg 208 Nennung subjektiver Normalität beziehungsweise Anomalität in einem Selbstzeugnis eines Angeklagten von sexueller Gewalt: Der 46-jährige Lokomotivführer Rudolf B. erwiderte 1912 auf die Vorwürfe seiner Frau, dass er von ihr „Schweinereien“ (Verhör der Ehefrau) verlange: „Ich will nicht bestreiten, dass ich in geschlechtlicher Beziehung anormal bin und von meiner Frau unnatürliche Sachen verlangte. In nüchternem Zustand bin ich geschlechtlich ganz normal.“ 424 Wie bereits im Fall Samuel B., der sich als ‚anormal‘ beschrieb und von seiner Ex-Frau als ‚geschlechtlich pervers‘ charakterisiert wurde, stand die Anomalität des Angeschuldigten auch hier nicht in direktem Zusammenhang mit der Tat. 425 Vor Gericht ging es nämlich nicht um Rudolfs ‚Schweinereien‘, die er mit seiner Ehefrau treiben wollte, sondern um seinen Übergriff gegen die Tochter. Samuel und Rudolf galten unabhängig ihrer Straftaten als ‚pervers‘ beziehungsweise ‚anormal‘. In diesen Narrativen erfolgte die Tat nicht im Zustand eines unerklärlichen und nur im Moment stattfindenden Verlusts der Kontrolle und Vernunft, der sich letztlich gerade dadurch auszeichnete, dass er außerhalb des Erklärbaren lag. Die Verringerung des Bewusstseins war viel mehr die Folge eines latenten, über längere Zeit anhaltenden oder regelmäßig wiederkehrenden subjektiven Zustands des Angeklagten. Rudolf erklärte: „Ich habe mich leider in den letzten 2 Jahren öfters betrunken, und zwar hatte ich die schlechte Gewohnheit, wenn ich schon genug Bier hatte, noch einen Schnaps darauf zu schütten, dadurch wurde ich geschlechtlich erregt und gleichzeitig wurde mein Gedächtnis geschwächt, so dass ich nicht genau weiss, was ich in solchen Zuständen jeweilen getan habe.“ 426 Auf den ersten Blick scheint diese Erzählung den Narrativen der ehrbezogenen sexuellen Gewalt zu entsprechen, in denen die Angeklagten im Zusammenhang der Tat auf ihre Trunkenheit verweisen. Der Unterschied besteht aber darin, dass in Rudolfs Narrativ der Alkoholkonsum nicht die alleinige Erklärung für die sexuelle Gewalt ist. Vielmehr verändert die Trunkenheit jedes Mal das vernünfmanchmal gefrohrene Rüben auszog und sie aß. Mitleidige Menschen haben mihr manches Stücklein Brot gespendet aus Erbarmen. Ich wurde leidend, so dass ich in den letzten Schuljahren viel in ärztlicher Behandlung war, bis ich die Lehrerschaft ins Mittel legte, von da an gieng es mir wenig besser, aber es war zu spät, meine Schulzeit war beendigt und ich verschafte mir eine andere Stelle bei einem Landwirth in der Nähe meiner Pflegeltern. [...] Ich war einfach ohne Schutz und Aufsicht. [...] Jetzt habe ich noch in den alten Tagen mit einer solchen schweren [darauf folgt kein Wort] zu verantworten, dass es mich manchmal fast zum Verzweifeln bringt. [...] Ich habe jetzt den rechten Weg gefunden während meiner Gefangenschaft Gott Lob und Dank für diese Gnade.“ In diesen zwei Erzählungen besteht kein Zusammenhang zwischen dem schweren Lebensbedingungen der Hauptfigur und deren Angriff auf die Tochter. Es fehlt der tragische Konflikt. Die Anzeige ist lediglich eine weitere Station des leidvollen Lebens, für das er keine Verantwortung trägt. Jakobs Schicksal ist daher nicht tragisch, sondern traurig. StAB BB 15. 4. 2419 3410. 424 Die Worte „anormal bin und“ sind im Protokoll durchgestrichen. 425 Vgl. Kapitel 6. 426 StAB BB 15. 4. 1957 1132. 209 tig-normale Subjekt Rudolf zu einem besinnungslos-anormalen, dessen sexuelle Erregtheit zu den Übergriffen auf die Tochter führt. Bereits in der Präsentation des Falls Samuel B., der 1918 seine Tochter zu erdrosseln versuchte, wurden allfällige Verbindungslinien zwischen der Figur des anormalen Subjekts der Humanwissenschaften und der Figur des tragischen Subjekts der Kunst angesprochen. Beispielhaft aufzeigen lässt sich diese Verbindung an den Selbstzeugnissen des Emil M., der sich 1933 selbst der Polizei stellte. 427 „Im September 1933 wurde meine Frau herz- und nervenkrank. Auf Anraten des Herrn Dr. med. F. […] wurde meine Frau nach dem Erholungsheim ‚Neuhaus‘ in Münsingen verbracht. Sie war dort von Anfang September bis Anfang Oktober. Kurze Zeit war meine Frau nun zu Hause. Es zeigte sich aber bald, dass meine Frau noch nicht geheilt war. Sie trug sich mit Selbstmordgedanken um, weshalb eine Versorgung in die Waldau angeordnet wurde. Am 6. Oktober 1933 wurde sie per Sanitätsauto nach der Irrenanstalt Waldau verbracht. Sie konnte die Irrenanstalt Waldau erst am 21. Dezember 1933 verlassen, wurde aber zur Beobachtung zu einer Schwester namens K. [...] verbracht. Bis Mitte Januar war meine Frau nun bei der erwähnten Schwester und seit diesem Datum ist sie nun wieder zu Hause und besorgt die Haushaltung. Während der Abwesenheit meiner Frau hatte ich eine Heimpflegerin namens H. Hedwig […]. Frl. H. war 8 Wochen bei mir. Hierauf besorgte mir Frl. S. Martha [...] 2 Monate lang die Haushaltung.“ Vermutlich auf eine entsprechende Frage des Untersuchungsrichters, wie es um seine Ehe stünde, gab Emil zu Protokoll: „Seit dem Jahr 1924 bin ich abstinent. Ich hatte mit meiner Frau ein sehr gutes Verhältnis. Ich hatte jedoch schon längere Zeit das Gefühl, meine Frau zeige mir gegenüber keine Liebe.“ Im zweiten Verhör gab Emil an, dass seine Ehefrau Lina bereits „im September 1933 richtig gesagt verrückt“ geworden sei, und er „glaubte, dass sie niemals mehr gesund werde“. Wie man im zweiten Verhör von Emil lesen kann, wurde die Ehe zusätzlich durch Emils „Liebesverhältnis“ mit der Haushälterin Hedwig H. belastet. Erst nach diesen längeren Ausführungen kommt Emil auf den Gegenstand der Anzeige zu sprechen: „Es war nun ca. Mitte September 1933, als ich mit meiner ältesten Tochter namens Marie […] allein im Schlafzimmer schlief. Es [Marie] lag anfänglich auf der Ottomane und ich im Bett. Ich konnte das Mädchen überreden, dass es zu mir in das Bett kam. Da ich längere Zeit keinen Geschlechtsverkehr hatte, war ich sehr gereizt und dies führte dazu, dass ich meine Tochter zum Geschlechtsverkehr verleiten konnte. Das Mädchen war mit dem Vorgehen nicht einverstanden und weinte. Ich machte ihm jedoch Angst, indem ich ihm sagte, sonst gehe ich in die Stadt um zu trinken. Nach längerem Zureden konnte ich das Mädchen überreden und vollzog regelrechten Geschlechtsverkehr.“ Als die Mutter Lina, die mittlerweile aus der Klinik nachhause zurückgekehrt war, 427 StAB BB. 15. 4. 2439 3490. 210 einen der Übergriffe ihres Ehemannes auf die Tochter bemerkte, konfrontierte sie diesen damit. Dies veranlasste Emil, sich der Polizei zu stellen, obwohl seine Tochter und seine Ehefrau angeblich dagegen waren. Seinen Entscheid begründete er folgendermaßen: „Da ich vermutete, dass doch alles an den Tag kommen werde, hielt ich es nicht mehr länger aus und bin nun auf die Polizei gekommen um Aufschluss zu geben. Es hat mich zu diesem Schritte niemand gedrängt.“ Er erklärte, dass er „seine Verfehlungen eingesehen habe und beschloss ein anderes Leben zu beginnen.“ Im Narrativ Emils ist also dessen ‚Gereiztheit‘ ausschlaggebend für die Straftat. Im Polizeirapport wird folgende Aussage zitiert, die den zentralen Stellenwert dieses Zustandes innerhalb der Erzählung auf den Punkt bringt: „Dies [die Übergriffe auf die Tochter] sei hauptsächlich aus dem Grunde geschehen, weil er geschlechtlich sehr gereizt sei, da seine Ehefrau schon seit längerer Zeit herz- und nervenleidend sei und er deshalb mit ihr nicht verkehren konnte.“ 428 Mit der ‚Gereiztheit‘ liegt ein anhaltender subjektiver Zustand des Angeklagten zugrunde, der bereits vor und unabhängig von der Tat besteht. Zu den Übergriffen kam es nicht rein situativ. Emil stellte deshalb in diesem Sinne auch klar: „Ich war jeweils nicht unter Einfluss von Alkohol, allein konnte ich meiner Erregung nicht widerstehen.“ Um zu verstehen, weshalb Emils Erzählung eine tragische Note anhängt und welche Rolle die sexuelle ‚Gereiztheit‘ beziehungsweise ‚Erregung‘ der Hauptfigur dabei spielt, ist es nötig, einen Blick auf den zeitgenössischen humanwissenschaftlichen Diskurs über krankhafte Sexualität und Neurasthenie zu werfen. ‚Geschlechtliche Gereiztheit‘ und ‚Erregung‘ - Begriffe, die für Emils Narrativ konstitutiv sind - waren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wissenschaftliche Schlagworte. Die „Reizung“ war für die aufkommende Sexualwissenschaft und die Neuro- und Psychopathologie als Konzept grundlegend, wie Jaochim Radkau in seiner kulturhistorischen Studie zur Nervosität im wilhelminischen Deutschland zeigt. 429 Der neurologisch-psychiatrische Diskurs über normale und anormale Subjektivität kreiste gegen 1900 um ein Zuviel oder Zuwenig an nervlichen Reizen. In der Ausgabe der Psychopathia sexualis des deutschen Psychiaters Richard von Krafft-Ebing von 1892 ist zu lesen: „Unterliegt das Individuum nicht seinem mächtigen Drang, so steht es in Gefahr durch erzwungene Abstinenz sein Nervensystem im Sinne einer Neurasthenie zu ruinieren oder eine be- 428 Im Hauptverfahren machte Emil das kokette Verhalten der Haushälterin Hedwig H. für seinen Zustand verantwortlich, da sie „jeweilen abends etwas da [blieb] und es […] stets eine Liebelei mit ihr [gab]. So wurde ich gereizt und das war auch der Anstoss zu meiner Verfehlung.“ 429 Krafft-Ebing (1892), S. 39. Während die Nervosität beziehungsweise Neurasthenie in den 1880er-Jahren ursprünglich von ihrem Namensgeber, dem New Yorker Nervenarzt George M. Beard, als Diagnose eines Schwächezustandes formuliert worden war, wurde das Konzept spätestens ab der Jahrhundertwende vor allem benutzt, um einen krankhaften Zustand der „Reizbarkeit“ oder „Überreizung“ zu beschreiben. Radkau (1998), S. 63-73. 211 reits vorhandene bedenklich zu steigern.“ 430 Die ‚Gereiztheit‘ war also um 1900 kein harmloser Begriff. Sie konnte laut Krafft-Ebing die Gesundheit ‚ruinieren‘. Hier liegt die Grundlage für die Tragik von Emils Erzählung. Geht es nach dem tragischen Plot dieses Narrativs, hätte Emil, wäre er nicht seiner ‚Erregung‘ ‚unterlegen‘, das gleiche Schicksal gedroht wie seiner nervenkranken Frau. Gleichzeitig verstieß der außereheliche oder inzestuöse Geschlechtsverkehr gegen das Strafgesetz und damit gegen die Moral. 431 Der Untergang war in diesem verhängnisvollen Konflikt unausweichlich. Simmel definierte 1911 ein tragisches Verhängnis folgendermaßen: „Denn als ein tragisches Verhängnis - im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes - bezeichnen wir doch wohl dies: dass die gegen ein Wesen gerichteten, vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; dass sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat.“ 432 Die sexuelle ‚Gereizt- und Erregtheit‘ lässt sich nach Simmel als eine ‚vernichtende Kraft‘ bezeichnen, welche aus Emils ‚tiefsten Schichten selbst entspringt‘ und seine vernünftig-normale Subjektivität angreift und schließlich ‚zerstört‘. Dazu passt, dass der selbst ernannte Abstinenzler Emil seiner Tochter droht, in die Stadt zu gehen ‚um zu trinken‘. Um 1900 diskutierten die Ärzte intensiv über die negativen körperlichen und gleichzeitig sozialen Auswirkungen des Alkoholkonsums. 433 Der Gang ins Wirtshaus als Alternative zur Reizbefriedigung hätte folglich Emil und die Familie ebenfalls weiter ins Verderben getrieben. Durchbrochen werden kann die Abwärtsspirale nur durch eine radikale Maßnahme. Vor dem Hintergrund des Tragischen kann die Selbstanzeige als symbolischer Freitod gedeutet werden, mit dem das ‚krankhaft gereizte‘ Subjekt verschwindet und ein ‚anderes Leben‘, wie Emil es ausdrückt, beginnen kann. Der tragische Tod des Helden ist dabei gleichzeitig Tiefpunkt und Befreiung. 434 In Emils Narrativ ist die Straftat Ausdruck und 430 Krafft-Ebing (1892), S. 49. Auch Erektionsstörungen und Impotenz deuteten die Ärzte um 1900 als eine bedrohliche Erscheinung des nervlich belasteten „modernen Kulturmenschen“. Der deutsche Arzt Iwan Bloch schrieb: „Die Mehrzahl aller Fälle von Impotenz gehört der eigentlich nervösen oder neurasthenischen Impotenz an [...].“ Bloch (1907), S. 497. Der Magaziner Ernst S. und der Arzt Hans S. stritten den Notzuchtversuch an ihrer Tochter beziehungsweise ihrer Patientin ab, indem sie angaben, aufgrund von Erektionsstörungen gar nicht als Täter infrage zu kommen. Auch diesen Aussagen hängt deshalb eine Note von tragischer Subjektivität an. StAB BB. 15. 4. 1823 456; StAB BB. 15. 4. 2141 2160. 431 Ehebruch und Blutschande (nicht gewalttätig erzwungener Beischlaf zwischen Verwandten) standen beide unter Strafe. Vgl. Strafgesetzbuch für den Kanton Bern, Art. 175 beziehungsweise 167. 432 Simmel (1996), S. 411. 433 Vgl. Spode (1993), S. 221-228, 251-259. Für den zeitgenössischen Diskurs über die angeblich verheerenden Auswirkungen des Alkoholkonsums auf die Vererbung und damit für die Zukunft der „Kulturmenschheit“ vgl. Forel (1917), S. 589; auch 39 f. 434 Auch im Lebenslauf des 51-jährigen Gasarbeiters Friedrich S., der zugab, seine zwei erwach- 212 Folge eines unausweichlichen subjektiven Zerfalls, der durch den Widerspruch zwischen einem körperlichen Trieb und den geltenden Moralvorschriften angetrieben wird. Auch hier wird eine spezifische Ausprägung des Gegensatzes von ästhetisch-leidenschaftlicher Subjektivität und vernünftig-normaler Subjektivität erkennbar. Ein Brief des 38-jährigen „Naturheilkundige[n]“ August R. aus der Untersuchungshaft zeugt ebenfalls von einer tragischen Selbstwahrnehmung. Adressatin war Augusts Ehefrau: „Du hast mich schon oft über meine traurige Jugenderziehung im Hause des Oheims zu Dir reden hören.“ Dieser Satz bildete den Auftakt einer tragischen Lebensgeschichte: Frühe Verführung zum „Laster“ der „Onanie“, gegen die August mit dem „Aufgebot der ganzen [ihm] zu Gebote stehenden moralischen Kraft“ angekämpft habe, ohne es je vollständig in den Griff zu bekommen. Die Übergriffe auf die Tochter wurden wie im Narrativ von Emil M. als Ausdruck und Folge eines subjektiven Verfalls dargestellt, der bereits lange vor und unabhängig von der Straftat eingesetzt habe. Augusts Verzweiflung saß tief. Im gleichen Brief erwähnte er, dass er sich mit Selbsttötungsgedanken herumgeschlagen habe, von denen er jedoch wieder wegkam. Trotzdem zweifelte er, ob ihm der „Verstand bleiben wird“, wenn seine Frau, die Adressatin, ihn verlassen sollte. An anderer Stelle im Brief erklärte er dagegen euphorisch, dass er durch die Anzeige gerettet werde. Die ausgesprochene Wahrheit ermöglichte ihm, „endlich ganz die Augen aufzureißen u. [ihm] den Abgrund, vor dem [er] stand, zu zeigen“. Er schloss daraus: „[I]ch bin geheilt! “ 435 Auch in der Figur August tobt ein innerer Konflikt, bei dem körperlich-leidenschaftliche Begierden und Reize der herrschenden Moral der Vernunft und Selbstbeherrschung gegenüberstehen. Wie die ‚Gereiztheit‘ war auch die ‚Onanie‘ seit dem 18. Jahrhundert ein medizinisches Schlagwort im Diskurs über strapazierte Nerven und krankhafte Sexualität. Angenommen wurde, dass ‚verfrühte‘ und intensive Masturbation im Verlauf des Lebens zu irreversiblen gesundheitsenen Töchter vergewaltigt zu haben, ist zu lesen: „Ich will nun ein anderer Mensch werden […].“ StAB BB 15. 4. 2125 2055. In einem weiteren Fall lässt sich rekonstruieren, dass der Angeklagte der Tat weitreichende Veränderungen für sein Leben zuschrieb. Nachdem ihn seine Frau wegen Notzucht an der gemeinsamen Tochter angezeigt hatte, machte sich der 35-jährige Möbelhändler Jakob M. 1889 auf die Reise nach Amerika. In Le Havre kehrte er allerdings wieder um. In einem Brief kündigte er seine Rückreise an: „Maria, gute Frau. […] Ich war krank, ich mag nicht essen. Es ist mier unmöglich nach Amerika zu gehen, ich habe lang Zeit. Es war mir ser schlecht, drum kome ich heim.“ Von der Frau unterrichtet, verhaftete die Polizei Jakob bei seiner Ankunft am Bahnhof Bern. Geständig war Jakob allerdings im Verhör nicht. Er gab vielmehr an, dass seine Frau ihn mit der Anzeige loswerden wollte. StAB BB 15. 4. 1495 7547. 435 StAB BB 15. 4. 1748 9691. Auch der vom Untersuchungsrichter eingeforderte und selbstständig verfasste Lebenslauf des Gasarbeiters Gottfried S., der seine zwei erwachsenen Töchter zu vergewaltigen versuchte, verfügt über einen tragischen Stil. Er enthält das folgende Ende: „Heute befinde ich mich in einer Lage, dass ich nie geglaubt hätte.“ Ähnlich wie bei Emil M. ‚hilft‘ die vollständige Abkehr von der bisherigen Existenz: „Ich will nun ein anderer Mensch werden und das Trinken ganz weg lassen.“ StAB BB 15. 4. 2125 2055. 213 lichen Schäden führt und insbesondere das Nervensystem angreift. 436 Wie Radkaus Studie zum Phänomen der Neurasthenie im wilhelminischen Deutschland zeigt, sahen nicht nur die Nervenärzte, sondern auch die Patienten die Gründe für ihre nervösen Erkrankungen häufig in der Onanie. 437 Weder Emil noch August beschrieben sich explizit als anormal oder pervers und, wie bereits erwähnt, auch nicht als vermindert zurechnungsfähig. Auch die Untersuchungsrichter erachteten es nicht als notwendig, die beiden diesbezüglich psychiatrisch begutachten zu lassen. Die tragische Subjektvierung erfolgte daher nicht in direktem Zusammenhang mit dem juristisch-humanwissenschaftlichen Konzept der ‚geminderten Zurechnungsfähigkeit‘. Trotzdem verweisen die Schlagworte ‚sexuelle Reizung‘ und ‚Onanie‘ auf eine Nähe zu den humanwissenschaftlichen Diskursen. Diese rührt daher, dass auch die Diskurse über strapazierte Nerven und krankhafte Sexualität in ein bedeutendes humanwissenschaftlichen Narrativ über die ‚Degeneration‘ beziehungsweise ‚Entartung‘ der westlich-modernen Zivilisation eingebettet waren, welches sich in den Schriften von Ärzten wie Auguste Forel oder Cesare Lombroso findet und ebenfalls nach tragischem Skript strukturiert war. 438 Anhand der Ausführungen von Forel lässt sich der tragische Stil des Degenerationsdiskurses aufzeigen. 439 Forel glaubte zu Beginn des 20. Jahrhunderts an die „sexuelle Entartung“ der gesamten „Kulturmenschheit“. 440 Den Hauptgrund für diese Entartung sah Forel im Hang seiner Zeitgenossen zum Trinken. Entscheidend für Forels Überlegungen war dabei, dass er glaubte nachweisen zu können, dass übermäßiger Alkoholkonsum das Erbgut schädigte, wodurch die ‚Entartung‘ nicht nur vererbt, sondern fortschreiten würde. Nachfahren von Alkoholikern waren nach seiner Meinung verstärkt der Gefahr ausgesetzt, zu „Idioten, Epileptikern, Zwergen, Psychopathen, Rhachitikern und dergleichen zu werden“; dies auch dann, wenn sie selber keinen Alkohol tranken. 441 ‚Entartung‘ verselbstständigte sich, da auch diese Krankheiten vererbt würden. In einer „Zukunftsperspektive“ erklärte Forel, dass die „Kulturmenschen“ wegen der zunehmenden ‚Entartung‘ „durch inferiore Menschenrassen [...] überwuchert“ würden. 442 Als „Quellen sexueller Missstände“ erkannte Forel das „moderne Manchestertum“, die Prostitution, „religiöse Dogmen“, die soziale und rechtliche 436 Schaffner (2012), S. 33-43. Für das medizinische Verständnis der Onanie um 1900: Krafft- Ebing (1892), S. 38 f.; Bloch (1907), S. 454-502; Forel (1917), S. 254-262. 437 Radkau (1998), S. 144-169. 438 Ausführlich zur Entfaltung des humanwissenschaftlichen Diskurses über Degeneration in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert insbesondere mit Fokus auf Lombroso, vgl. Pick (1993). Zum Degenerationsdiskurs in den Humanwissenschaften und der Literatur vgl. Schaffner (2012). 439 Zu Auguste Forel vgl. Koelbing-Waldis (2005). 440 Forel (1917), S. 582, 589. 441 Forel (1917), S. 39. 442 Forel (1917), S. 582, 589. 214 Ungleichheit zwischen Mann und Frau, den Konsum von Alkohol und anderen Drogen sowie die Pornografie. 443 Laut Forel handelte es sich bei der Entartung daher nicht um eine äußere Bedrohung. Mit Simmels Definition des Tragischen lässt sich sagen: Die ‚gegen‘ die Gesellschaft ‚gerichteten vernichtenden Kräfte entspringen aus den tiefsten Schichten eben‘ dieser Kultur ‚selbst‘: Kapitalismus, Alkohol und Prostitution waren für Forel hausgemachte Probleme der modernen Gesellschaft. Im Stil eines tragischen Helden erhob sich Forel gegen den - selbst gezeichneten - Niedergang der ‚Kulturmenschheit‘, der er sich zugehörig fühlte. Er forderte „rationelle Reformen auf dem sexuellen Gebiet“, um die „sexuellen Missstände“, die der ‚Entartung‘ zugrunde lagen, zu bekämpfen. 444 Forel sah vor allem in der „Eugenik [...] eine neue Kunst“, mit der verhindert werden sollte, dass „Untermenschen“, zu welchen er „Geisteskranke, Schwachsinnige, vermindert Zurechnungsfähige, boshafte, streitsüchtige, ethisch defekte Menschen“ und „Verbrecher“ zählte, sich nicht mehr vermehren könnten. 445 Die „menschliche Zuchtwahl“ galt Forel als „Prinzip, das uns zu einem noch fernen Ziele führen muss.“ 446 Er betonte zwar, dass es nicht darum gehen würde, „eine neue menschliche Rasse, einen Übermenschen zu schaffen“. Dennoch forderte er, „defekte Untermenschen“ an der Fortpflanzung zu hindern. 447 Um das tragische Schicksal der ‚Kulturmenschheit‘ abzuwenden, brauchte es für Forel ein - wie Emil M. es ausdrückte - ‚anderes Leben‘. Emil M. und August R. beschrieben, dass sie ‚geschlechtlich gereizt‘ waren beziehungsweise ‚Onanie‘ betrieben und verwendeten damit zur Selbstbeschreibung Schlagworte des medizinisch-soziologischen Diskurses der Zeit um 1900. 448 Die Ähnlichkeiten ergeben sich aber auch durch den tragischen Stil. Bei Forel wird die moderne Gesellschaft durch die ihr inhärenten Missstände existenziell bedroht. Auch Emil und August werden durch etwas bedroht, das aus ihnen selbst stammt und ihnen eigen ist. Es sind daher Parallelen zwischen den Selbstzeugnissen von Inzesttätern und dem grand récit der zeitgenössischen Medizin erkennbar. Um 1900 fanden die humanwissenschaftlichen Gesellschaftstheorien über die ‚Entartung‘ und ‚Degeneration‘ Eingang in die tragischen Narrative. Die tragische Selbstwahrnehmung von Gewalt- und Sexualverbrechern hatte spätestens um 1900 seinen Bezugspunkt nicht mehr nur im Bereich der Kunst, der Literatur 443 Forel (1917), S. VI, 582-591. 444 Forel (1917), S. 580, 582. 445 Forel (1917), S. 592-594. 446 Forel (1917), S. 592. 447 Forel (1917), S. 593. 448 Die Nähe von sexueller Gewalt und medizinischem Wissen zeigt sich auch darin, dass drei Angeklagte die ihnen angelastete Tat bestritten, indem sie angaben, ihre Töchter, Nichten und Stieftöchter gesundheitlich im Intimbereich untersucht zu haben. 1894 erklärte der 22-jährige Reisende Samuel J. dem Untersuchungsrichter, dass „[er sich] privatim mit dem Studium medizinischer Bücher abgegeben [habe] und noch jezt abgebe, wenn [er] ein solches erhalte.“ StAB BB 15. 4. 1570 8231. 215 und des Theaters, sondern auch in der scheinbar streng durch die Vernunft gesteuerten Wissenschaft. Das anormale Subjekt der Humanwissenschaften erwies sich daher anschlussfähig an das tragische Subjekt der Kunst. Fazit: Leidenschaft, Tragik und Anomalie Ästhetisch-leidenschaftliche Subjektivität lag also nicht nur der fatalen Gewalt, sondern auch sexueller Gewalt auf doppelte Weise zugrunde. Die Figur des selbstkontrollierten, disziplinierten Subjekts beging keine Gewalt, weder sexueller noch körperlicher Art. Wenn Männer mit modernen Sozialprofilen in modernen Kontexten sexuell gewalttätig wurden, orientierten sie sich deshalb an ästhetisch-leidenschaftlicher Subjektivität, bei der die Maxime der Vernunft und Selbstkontrolle außer Acht gelassen werden konnte. Den Fallakten der Vergewaltigung der sechzehnjährigen Kellnerin Maria R. durch den 44-jährigen Zeitungsredaktor Karl M. aus dem Jahr 1896 liegt diesbezüglich ein interessantes Schreiben des „Arbeitersekretärs“ Nikolaus Wassilieff bei. Vermutlich nahm dieser zu den Vorkommnissen Stellung, weil sowohl Karl als Redaktor der sozialdemokratischen Zeitung Berner Tagwacht als auch Marie als Kellnerin im Volkshaus, einem Zentrum der Arbeiterbewegung, aus unterschiedlichen Gründen der organisierten Arbeiterschaft nahestanden. 449 Wassilieff machte Karl Vorwürfe, weil er sich in seiner „exponierten Stellung“ einen solchen Fauxpas geleistet hatte. Der Arbeitersekretär äußerte sich auch zur Reaktion des Redaktors: „Er ärgerte sich selbst darüber und sagte: ‚wenn er sich nur zusammennehmen könnte, es sei eine abscheuliche Geschichte‘“. 450 Ebenfalls in diesem Sinne gab der 29-jährige Steinhauerpolier Friedrich H. an, dass er sich durch das anzügliche Verhalten von Magdalena W. habe „verleiten“ lassen, die „Zärtlichkeiten“ zu erwidern. 451 Im Kontext der Subjektivität war Sexualität außerhalb der Ehe, ob gewaltsam erzwungen oder nicht, ein Ausdruck mangelnder Fähigkeit zur Affektkontrolle und damit einer defizitären moralisch-vernünftigen Subjektivität. Wiederum zeigt sich, dass diese Vorstellung, die Norbert Elias’ Zivilisierungstheorie zugrunde liegt, durch die Akteure geteilt wurde. Allerdings bestand im zeitgenössischen Sexualdiskurs, wie Philipp Sarasin am Beispiel Frankreichs im 19. Jahrhundert aufzeigt, eine weitgehende, durch medizinisches ‚Wissen‘ genährte Toleranz gegenüber sexuellen Abenteuern von Männern außerhalb der Ehe. Die staatliche Regulierung der Prostitution in Frankreich von 1836 etwa beruhte auf der Vorstellung eines natürlichen männlichen Geschlechtstriebs, der, wie bei Krafft-Ebing gesehen, nicht zuletzt aus ge- 449 Zur Zeitung Berner Tagwacht: Bollinger (2012); zu den ‚Volkshäusern‘ in der Schweiz: Eigenheer (2014). 450 StAB BB 15. 4. 1674 9120. 451 StAB BB 15. 4. 1550 8061. 216 sundheitlichen Gründen regelmäßig befriedigt werden müsste. 452 Spuren dieses Diskurses finden sich auch in den Berner Untersuchungsakten: „Er sagte öfters zu mir, der Geschlechtsverkehr müsse einfach da sein für das Wohlbefinden des Menschen.“ 453 Dies hat laut Emma G. der Arzt Paul S. gesagt, der diese mit Äther betäubt und danach vergewaltigt haben soll. Weiter ist bezeichnend, dass derselbe Arzt vor Gericht auf die eigene Impotenz, also das Fehlen eines natürlichen Geschlechtstriebs, verwies, um die Schuld abzustreiten. Sexuelle ‚Aussetzer‘ von Männern waren im modernen Setting also legitimierbar, solange sie sich dabei mit Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter abgaben und angaben, dass die Frauen offensichtlich oder insgeheim einverstanden waren. Weiter unten soll auf den unentschlossenen Umgang des Berner Geschworenengerichts mit solchen Gewalttaten eingegangen werden. An dieser Stelle gilt es hervorzuheben, dass die Spannung zwischen moralisch-vernünftiger und ästhetisch-leidenschaftlicher Subjektivität durch die medizinisch mitlegitimierte Doppelmoral für Männer relativ leicht zu ertragen war. Außerehelicher Geschlechtsverkehr, ob mit leichter Gewalt erzwungen oder nicht, galt schlimmstenfalls als unvernünftig und unsittlich, aber zumindest aus medizinischer Sicht nicht als anormal. Es handelte sich in den Augen der Angeklagten um ein Kavaliersdelikt. Ein tiefgreifender Konflikt in der Selbstwahrnehmung entstand dadurch nicht. Während sexuelle Gewalt gegen erwachsene Frauen innerhalb der Subjektkultur also als Unbeherrschtheit und Ärgernis abgetan werden konnte, war dies bei der sexuellen Gewalt innerhalb der Familie und in anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen nicht möglich, wie die Narrative der Angeklagten zeigen. Im modernen Setting stürzte das (drohende) Bekanntwerden der sexuellen Verfehlung die Angeklagten in eine existenzielle Krise, wie die tragischen Narrative und die Selbsttötungsdrohungen zeigen. Anders als bei Vergewaltigungen von erwachsenen Frauen, wo die Angeklagten ihr Handeln als harmloses Liebesspiel oder als Folge der Koketterie abtaten, konnte die Selbstwahrnehmung bei den Angeklagten von sexueller Gewalt innerhalb der Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehung dieselbe tragische Ernsthaftigkeit annehmen, die auch der fatalen Gewalt zugrunde lag. Bei inzestuösen Übergriffen macht es mitunter den Eindruck, als habe das Tragische nicht nur nachträglich zur Sinngebung gedient, sondern als habe der tragische Modus auch dem Übergriff selbst zugrunde gelegen. Darauf verweisen beispielsweise die angeblichen Selbsttötungs- und Morddrohungen des Vaters der Fabrikarbeiterin Frieda S., durch welche dieser den Beischlaf erzwingen wollte. Auch die Erpressung von Emil M. gegenüber seiner Tochter, dass er wieder mit dem Trinken beginnen würde und so die Familie ins Elend stürze, falls sie nicht zum Beischlaf einwillige, stellt ein Indiz dafür dar, dass nicht nur das Narrativ, sondern auch die Tat dem schicksalshaften Modus des Tragischen folgte. Voraus- 452 Sarasin (2003), S. 375-386. 453 StAB BB 15. 4. 2141 2160. 217 gesetzt, diese Aussagen geben reale Gegebenheiten wieder, verweisen sie darauf, dass sich die Angeklagten bereits vor dem Übergriff in einen tragischen Konflikt verstrickt sahen. Der Übergriff, mit dem der Angeklagte unweigerlich Schuld auf sich lud, wäre dann bereits Teil des tragischen Modus und nicht nur die Narration vor Gericht. 454 Die tragischen Narrative im Kontext der sexuellen Gewalt zeigen zudem eine Nähe zu den humanwissenschaftlichen Diskursen über ‚Degeneration‘ und ‚Entartung‘ um 1900 auf, die bei der fatalen Gewalt nur am Rande präsent sind. Im Licht der tragischen Narrative in Notzuchtfällen wird erkennbar, dass das tragische Subjekt auch ein ‚anormales‘ oder ‚perverses‘ Subjekt sein konnte - und umgekehrt. Ich habe im letzten Kapitel argumentiert, dass die meisten sexuellen Gewalthandlungen, die zwischen 1868 und 1941 im Amtsbezirk Bern gerichtlich untersucht wurden, in den Kontext der Ehre gestellt werden können. Als soziale Tatsache verlor die Ehre während des Untersuchungszeitraums aber immer mehr an Bedeutung, weshalb auch die ehrbezogene sexuelle Gewalt rückläufig war. In diesem Kapitel versuchte ich zu zeigen, dass der Subjekthabitus durch die zeitgenössische Wahrnehmung der romantischen Liebe als Spiel oder Koketterie zusammen mit der Vorstellung eines naturgegebenen natürlichen Geschlechtstriebs, der befriedigt werden musste, sexuelle Gewalt tolerierte und dadurch auch hervorbrachte. Bei den moralisch schwerwiegenden Vergehen innerhalb der Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen bot zudem der tragische Modus eine Möglichkeit, Gewalt zwar nicht zu legitimieren, aber zumindest mit Sinn zu versehen. Wieder zeigt sich, dass die moderne Kultur aus Sicht der historischen Gewaltforschung nicht allein auf die Maxime der Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung reduziert werden darf. Der Subjekthabitus bot Raum nicht nur für fatale, sondern auch sexuelle Gewalt. Zum Schluss dieses Kapitels können vorsichtig einige Bemerkungen über das quantitative Ausmaß der sexuellen Gewalt im Kontext der Subjektkultur angebracht werden: Wie die Diagramme 8 und 11 zeigen, sind die Fälle mit sexueller Gewalt gegen Erwachsene im Kontext der Ehre viel häufiger als diejenigen mit sexueller Gewalt gegen Erwachsene im Kontext der Subjektivität. Doch bedeutet dies, dass die letzteren in der Realität weniger häufig waren? Mit Sicherheit ist diese Frage aufgrund der Quellenlage nicht zu klären. Trotzdem können diesbezüglich einige Überlegungen angestellt werden. 454 Zumindest Geschwisterinzest war analog dem Tragischen im 19. und frühen 20. Jahrhundert Thema der Künste. Peter L. Thorslev beschreibt „incest as romantic symbol“, welches den Romantikern einen hervorragenden Inhalt für tragische Dramen bot, er unterstreicht allerdings, dass der Eltern-Kind Inzest in der Romantik im Gegensatz zu anderen inzestuösen Beziehungen keine Idealisierung erfuhr. Thorselv (1965). Zur Inzestthematik bei Goethe vgl. zuletzt Lehleiter (2014), S. 103-188. 218 Auffallend ist, dass beinahe ein Drittel der Angeklagten von sexuellen Übergriffen gegen Erwachsene im Kontext der Subjektivität von allen Anklagepunkten freigesprochen wurden. Bei den ehrbezogenen Übergriffen gegen Erwachsene verließ nur ungefähr jeder achte Angeklagte das Gericht als freier Mann. Männer mit modernem Sozialprofil, die in den typisch modernen Kontexten des Rendezvous oder des Spaziergangs sexuell gewalttätig wurden und die ihnen angelastete Tat als Teil eines romantischen Liebesspiels oder als Folge des koketten Verhaltens des Opfers verharmlosten, hatten also weit größere Chancen auf einen Freispruch. Obwohl die Angeklagten auch bei ehrbezogenen Übergriffen, wie aufgezeigt, diverse Verteidigungsstrategien hatten, bekundeten die Geschworenen (es handelte sich ausschließlich um Männer, die über ein gewisses Vermögen verfügen mussten) 455 bei sexueller Gewalt in modernen Kontexten größere Mühe bei der Schuldigsprechung. Möglicherweise ist deshalb die Dunkelziffer höher einzuschätzen als bei der ehrbezogenen Gewalt. Unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass sich die Fälle mit subjektbezogener sexueller Gewalt gegen Erwachsene vor allem auf die zwei Jahrzehnte nach der Jahrhundertwende konzentrieren und danach ebenfalls selten sind, könnte zudem argumentiert werden, dass entsprechende Übergriffe aufgrund der schlechten Aussichten vor Gericht seltener angezeigt wurden. Die tiefen Fallzahlen sprechen daher - anders als bei der ehrbezogenen Gewalt - nicht unbedingt für einen tatsächlichen Rückgang der subjektbezogenen sexuellen Gewalt. Tiefe Fallzahlen und hohe Dunkelziffern bei sexueller Gewalt waren charakteristisch für die Frühe Neuzeit. Diese Tatsache wird in der Forschung als Indiz für eine verbreitete Toleranz gegenüber sexueller Gewalt in den Ehrgesellschaften gewertet. Möglicherweise war die Situation in Bern im frühen 20. Jahrhundert unter umgekehrten Vorzeichen ähnlich: In modernen Gesellschaften war bei Vergewaltigungen im Kontext der Liebesemantik und der Koketterie die Chance gering, dass der Angeklagte verurteilt wurde. Wie bereits erwähnt, ist es nicht möglich, anhand der Berner Untersuchungsakten zwischen 1868 und 1941 einen subjektbezogenen Typus von Gewalt gegen Kinder außerhalb von Familien und hierarchisch-institutionellen Beziehungen zu rekonstruieren. Daher scheint es wahrscheinlich, dass der Subjekthabitus Übergriffe auf Kinder im semiöffentlichen Raum der Nachbarschaft tatsächlich hemmte. Weitere qualitativ ausgerichtete Studien zu Stadtregionen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert müssten zeigen, ob Bern diesbezüglich einem allgemeinen Trend folgte. Die von Jackson und Sohn präsentierten Daten zeigen, dass 455 Die Geschworenen wurde aus der „Zahl der stimmfähigen Einwohner des Assisenbezirks, welche das fünf und zwanzigste Altersjahr zurückgelegt hat“ demokratisch gewählt. Gesetz über die Organisation der Gerichtsbehörden von 1847, Art. 12. Die Beschränkung auf die Stimmfähigkeit schloss Frauen und vorerst auch besitzlose Männer aus. 1915 wurde zwar Zensusbeschränkungen als verfassungswidrig erklärt, armengenössige oder straffällige Männer blieben aber weiter ohne Stimm- und Wahlrecht. Vgl. Poledna (2014). 219 Fälle mit sexuellem Kindsmissbrauch auch in England beziehungsweise Frankreich im späten 19. Jahrhundert zuerst anstiegen und nach der Jahrhundertwende rückläufig waren. 456 Bei den sexuellen Übergriffen in der Familie und andern hierarchisch-institutionellen Beziehungen zeigt das Beispiel Bern, dass trotz der Veränderungen bei den Sozialprofilen und den Narrativen auch in modernen Gesellschaften gleich wie in Ehrgesellschaften von einer ungebrochenen Kontinuität bei hoher Dunkelziffer auszugehen ist. 456 Jackson (2000), S. 18-22; Sohn (1997), S. 59 f. 221 III. Zusammenfassung: Von der Ehre zur Subjektivität Die mittelgroße europäische Stadtregion Bern durchlief um 1900 eine tiefgreifende und rasche soziokulturelle Transformation von einem in vielen Belangen noch frühneuzeitlich geprägten Sozialgefüge zu einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Das Ziel der vorliegenden Arbeit bestand darin, anhand von 363 gerichtlichen Untersuchungsakten aus dem Amtsbezirk Bern zu erforschen, wie sich das schwere interpersonale Gewalthandeln durch den tiefgreifenden sozialen Wandel in quantitativer und qualitativer Hinsicht veränderte. Die Periode zwischen 1868 und 1941 bietet sich als Untersuchungszeitraum an, weil in dieser Zeit das Berner Strafjustizsystem weitestgehend unverändert blieb. Die Untersuchungsakten können deshalb als Maßstab für die Veränderungen des Gewalthandelns und der Wahrnehmung von Gewalt verwendet werden. In quantitativer Hinsicht lässt sich sagen, dass sowohl die Fälle mit körperlicher und - nach der Jahrhundertwende - simultan dazu auch die Fälle mit sexueller Gewalt in Bern stark rückläufig waren. Ein Blick in die Untersuchungsakten zeigt, dass diese Abnahme in erster Linie Fälle mit Gewalthandlungen zwischen Männern in der Öffentlichkeit oder im semi-öffentlichen Raum der Nachbarschaft betraf. Körperliche und sexuelle Gewalt in häuslichen, familiären und intimen Beziehungen - mehrheitlich von Männern gegen Frauen und Kinder verübt - ging nicht zurück. Allerdings lassen sich tiefgreifende Unterschiede bei den Sozialprofilen, den Gewaltpraktiken und -kontexten sowie bei den Narrativen über Gewalt feststellen. In den Berner Gerichtsakten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ist eine Reihe von Gewaltphänomenen anzutreffen, die aus der Frühneuzeitforschung bestens bekannt sind. Auch in Bern wirkte die soziale Tatsache der Ehre, die sich unter anderem bei Gewalt in nachbarschaftlichen und familiären Beziehungen äußerte. In einer durch Ehre geprägten Gesellschaft, in der die Wahrnehmung begrenzter materieller Alltagsressourcen vorherrschte und das Ansehen im sozialen Nahraum wichtig war, reagierten in erster Linie Männer, aber durchaus auch Frauen, empfindlich auf Angriffe gegen die Ressourcen und das Ansehen. Diese Konfliktsituationen verliefen nach demselben Muster wie in der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe (Rainer Walz) oder im ländlich-alpinen Kanton Uri im 19. Jahrhundert (Claudia Töngi). Ehre und Besitz waren nicht voneinander zu trennen und beide galt es gegen Verletzungen vehement zu schützen. Gleichzeitig ordnete die Logik der Ehre die häuslichen und familiären Beziehungen. Das Haus in der Ehrgesellschaft war ein ‚offenes Haus‘, welches für die 222 wachsamen Blicke der Nachbarschaft zugänglich war, für die Zuschreibung von Ehre aber auch sein musste, wie Eibach festhält. Wenn die Ordnung des Hauses, der Familie oder der Ehe nicht nach den gängigen sozialen Normen funktionierte, konnte dies zu großen Spannungen zwischen den Hausbewohnern führen. In diesen Konfliktsituationen kam es auch in Bern in häuslichen Beziehungen zu schweren Körperverletzungen, vor allem - aber nicht ausschließlich - von Ehemännern gegen Ehefrauen. Die quantitativ mit Abstand bedeutendste Form folgenschwerer ehrbezogener Gewalt in Bern um 1900 war aber die gesellige Gewalt zwischen jungen Männern. Bei den verbalen und tätlichen Auseinandersetzungen im Kontext des abendlichen Wirtshausbesuchs ging es nicht um die Verteidigung von materiellen Ressourcen oder nachhaltigen Interessen. Häufig kannten sich Opfer und Täter vor der Tat überhaupt nicht. Gesellige Gewalt kann daher am ehesten als spielerische Einübung und Einverleibung der Moral der Ehre verstanden werden. Gerade das gewaltsame Spiel der Ehre im Wirtshaus zeigt, dass Gewalt im Zusammenhang mit Ehre nicht auf eine strategische, kalkulierte Handlung zur Verteidigung des eigenen Besitzes und des Ansehens reduziert werden darf. Im Licht von Simmels Geselligkeitskonzept lässt sich sagen, dass die Kämpfer in diesen geselligen Gewaltspielen, bei denen es um nichts als die Ehre ging, keinen Zweck verfolgten, der über die Situation der Gewalt hinaus Bedeutung gehabt hätte. Junge Männer prügelten sich nicht, weil sie mussten, sondern weil sie wollten. In der stickigen und alkoholgeschwängerten Luft der Berner Wirtshäuser inszenierten junge Männer Ehre und übten auf diese Weise für die Anforderungen der Ehrgesellschaft. Die Schlägereien in und um die Wirtshäuser brachten Ehre in erster Linie als körperlich-emotionale Erfahrung, als Gefühl, hervor. Gerade weil gesellige Gewalt tendenziell nicht der Interessensdurchsetzung diente, offenbarte sie mit Deutlichkeit die emotionale Dimension der Ehre, die auch bei gewalttätigen Konflikten in der Nachbarschaft und in der Familie stets präsent war. Mit Simmel lassen sich die Wirtshausschlägereien daher als spielerisch-ästhetische Repräsentation des Ethos der Ehrgesellschaft deuten, in der Gewalt ein legitimes Mittel der Ordnungs- und Interessensdurchsetzung war. Mithilfe von Bourdieus Habituskonzept lassen sich die verschiedenen Ausdrucksweisen und Facetten der ehrbezogenen Gewalt als Handlungen eines Ehrhabitus begreifen. Die Stärke dieses Konzepts liegt darin, dass es ermöglicht, die zweifellos intensiven Gefühle, welche die ehrbezogene Gewalt hervorbrachte, begleitete und zur Folge hatte, als körperlich-emotionalen Teil der Logik der Ehre zu verstehen. Mit Blick auf Elias‘ Zivilisierungstheorie kann festgehalten werden, dass Gewalt im Kontext der Ehre sehr wohl emotional war und somit als Affekthandlung verstanden werden kann. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie keine kulturelle Handlung gewesen wäre. Vor dem Hintergrund der kulturhistorischen Erforschung der Gefühle ist das Gegensatzpaar ‚Emotion/ Kultur‘ nicht haltbar. Das 223 soziale System Ehre und die einverleibten Ehrgefühle ergänzten, reproduzierten und stützten sich gegenseitig. Gemessen an den Gewalthandlungen, die das soziale System der Ehre hervorbrachte, ließ seine Strahlkraft im Amtsbezirk Bern während der Untersuchungsperiode nach. Der Ehrhabitus verlor an Bedeutung, was dazu führte, dass die schwere körperliche Gewalt insgesamt stark zurückging. Vor allem aus den zwei Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg sind kaum mehr ehrbezogene körperliche Gewalthandlungen überliefert (vgl. Diagramm 2). Dieser Rückgang lässt sich nahtlos in einen allgemeinen Trend abnehmender schwerer interpersonaler Gewalt in Europa einordnen. Die Auswertung der Untersuchungsakten zeigt, dass ehrbezogene Gewalt im Wirtshaus, in der Nachbarschaft und im Haus bis auf wenige Ausnahmen von Angehörigen des ländlichen Milieus und der städtischen Unterschicht praktiziert wurde. Angehörige der Oberschicht wurden kaum mehr im Namen der Ehre gewalttätig. 1 In der bürgerlichen Oberschicht Berns hatte sich das Band zwischen Ehre und Gewalt im 19. Jahrhundert gelöst. Für den Amtsbezirk Bern um 1900 sind bis auf den Ausnahmefall mit russischen Studenten keine Anzeichen für die Existenz folgenschwerer oder todbringender formalisierter Duelle zwischen Oberschichtsangehörigen überliefert. Die qualitative Auswertung von Verhörprotokollen hilft in erster Linie, Gewalthandeln in seinen soziokulturellen Kontexten zu untersuchen. Für die Gründe des Gewaltrückgangs sind sie weniger ergiebig. Dennoch bieten die Berner Untersuchungsakten Anhaltspunkte zur Erklärung der Abnahme der ehrbezogenen körperlichen Gewalt. Das ausführlich besprochene Beispiel des Ehrkonflikts zwischen russischen Studenten zeigt, dass die Akteure den Topos der Selbstkontrolle aufgriffen, den Norbert Elias dreißig Jahre später zum konstitutiven Teil seiner Zivilisierungstheorie erheben sollte. Wie die jungen Arbeiter, Handwerker, Bauern und Knechte Ehre und Unehre im körperlich-emotionalen Spiel gewaltsam probten, inszenierten die jungen Studenten ihre Fähigkeit zur Selbstkontrolle und übten so einen modernen Subjekthabitus ein. Im Licht dieses Fallbeispiels erscheint die demonstrierte Selbst- und Affektkontrolle weniger als Folge eines strukturell auferlegten Zwangs zum Selbstzwang, wie ihn die Theorie von Elias vorsieht. Eher handelte es sich um ein Stilmittel der Distinktion, um sich gegenüber den unteren und ländlichen Gesellschaftsgruppen abzugrenzen. Mit Simmel ließe sich der Konflikt zwischen den Studenten als eine spielerisch-ästhetische Repräsentation des Ethos der modernen Gesellschaft mit ihren Maximen der Selbstbeobachtung, Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung deuten. Der Modus der Selbstkontrolle war daher durchaus für den Rückgang der ehrbezogenen Gewalt im Amtsbezirk Bern um 1900 mitverantwortlich. Es handelte 1 Da in dieser Arbeit ausschließlich Gewaltdelikte mit tödlichen oder schwerwiegenden Folgen untersucht wurden, kann davon ausgegangen werden, dass ein hoher sozialer Status keinen hinreichenden Schutz vor einer gerichtlichen Untersuchung geboten hätte. 224 sich dabei aber nicht um einen evolutionistischen Fortschritt im Sinne eines nach vorne gerichteten, theoretisch infiniten Prozesses, sondern um die Herausbildung und Verbreitung eines spezifischen Subjekthabitus. Gerade dieser Subjekthabitus generierte die Denkweise einer evolutionistisch fortschreitenden Zivilisierung. Der Einsatz von Gewalt galt innerhalb dieser Matrix als Affekthandlung, die der zivilisierte Mensch zu kontrollieren hatte. Diese Vorstellung, die während des Untersuchungszeitraums von immer mehr Bernerinnen und Bernern geteilt wurde, hatte den Effekt, dass zwischen 1868 und 1941 der Einsatz von Gewalt, wie ihn die soziale Ordnung der Ehre hervorbrachte, als unangebracht, als nicht mehr evident, als ‚unzivilisiert‘ wahrgenommen wurde. Die ehrbezogenen Gewalttypen galten den Zeitgenossen von Elias zunehmend als Handlungsweise einer niedrigeren Kulturstufe. Der moderne Subjekthabitus lässt sich jedoch nicht auf den Modus der Selbstkontrolle und des Gewaltverzichts reduzieren. Das zeigt ein Gewalttypus, der in Bern - wie in den nordfranzösischen Industriestädten im Verlauf des 19. Jahrhunderts und der Metropole Chicago um 1900 - im Gegensatz zur ehrbezogenen Gewalt nicht ab-, sondern zunahm. Im Rahmen dieser Arbeit habe ich diesen Typus als fatale Gewalt konzipiert, die als Teil der modernen Subjektkultur zu verstehen ist. Da sich fatale Gewalt meistens gegen Geliebte, Ehepartner oder die eigenen Kinder richtete, hilft dieses Konzept, die hartnäckige Persistenz von Gewalt in Intim- und Familienbeziehungen in veränderter Form nach 1800 zu erklären. Die Auswertung der Untersuchungsakten zeigt, dass fatale Gewalt eine Praxis von Menschen aus der Stadt mit modernen Sozialprofilen war. Fatale Gewalttäter sprachen ausführlich über Aufregung, Niedergeschlagenheit, Liebe und Eifersucht. Die Subjektivität erscheint also in sehr konkreter Form als ausführliche Beschreibung der eigenen Gefühlszustände, vor, während und nach der Tat. Unter Beachtung der narrativen Struktur der Selbstzeugnisse fataler Gewalttäter lassen sich die subjektiven Aussagen als konstitutiver Bestandteil einer schicksalshaften und tragischen Erzählung lesen. Fatale Gewalttäter schilderten sich aber nicht nur als leidenschaftlich-tragische Helden. Sie handelten auch als solche. Der tragische Modus rekurrierte auf die Romantik und damit auf die leidenschaftlich-ästhetische Seite des modernen Subjekthabitus, bei der die Maximen der Selbstkontrolle, der Selbstbeherrschung und damit auch des Gewaltverzichts außer Kraft gesetzt waren. Das Tragische ermöglichte eine Modellierung der Gefühle und Leidenschaften jenseits des Verlusts der Vernunft und der Selbstkontrolle. Diese Erkenntnis stellt den Schlüssel für eine kulturhistorische Einbettung dieses Gewalttypus in die moderne Kultur bereit. Bei der Historisierung der fatalen Gewalt gilt es, die Trennlinie zwischen Gewalt- und Leidenschaftsästhetik auf der einen Seite und Vernunftmoral auf der anderen Seite als Spezifikum der modernen Subjektkultur im Auge zu behalten. In der Praxis folgten nämlich fatale Gewalttaten mit ihrer radikalen Ästhetisierung des Selbst auf eine existenzielle 225 Krise der moralisch-vernünftigen Subjektivität. Die beiden Seiten des Subjekthabitus waren also in ihrem Antagonismus miteinander verbunden. Wer an den Anforderungen der modernen Gesellschaft scheiterte oder zu scheitern drohte, dem eröffnete die tragische Selbstheroisierung mittels fataler Gewalt auf paradoxe Weise einen letzten Weg, um souveränes Subjekt zu bleiben. Der Preis für das erhabene Heldentum war allerdings der eigene Untergang. Während Fälle mit sexueller Gewalt zu Beginn der Untersuchungsperiode insgesamt anstiegen, nahmen sie zu deren Ende hin ab (vgl. Diagramm 1). Diese Schwankungen werden verständlich, wenn sie analog zur körperlichen Gewalt in den Kontext der Transformation von einer alteuropäischen Ehrzu einer modernen Subjektkultur gestellt werden. Die Ehrbezogenheit sexueller Gewalthandlungen äußert sich in den Sozialprofilen und im narrativen Stil. Männer aus den städtischen und ländlichen Unterschichten sprachen auf dieselbe Weise über sexuelle Gewalt, die auch für die ehrbezogene körperliche Gewalt typisch war. Die Selbstzeugnisse setzen sich aus Aussagen über Interaktionen des Angeklagten mit dem Opfer zusammen. Aufgrund der Logik der Ehre, in der die Selbstwahrnehmung unmittelbar mit der Fremdwahrnehmung zusammenhing, standen sicht- und hörbare Handlungen im Zentrum. Auf subjektive Äußerungen stößt man hingegen nur in wenigen Ausnahmefällen. Die Übergriffe, die auf diese Art erzählt wurden, weisen spezifische Opferprofile und Handlungskontexte auf. Einerseits zielten sie auf arme Frauen, die zudem häufig eine körperliche oder geistige Behinderung hatten, die in abgelegen Wäldern, auf Landstraßen oder in ihren eigenen Behausungen angefallen wurden. Andererseits richteten sich die Angriffe gegen Kinder, fast ausnahmslos Mädchen, aus der Nachbarschaft. Vor dem Hintergrund feministischer Ansätze, die davon ausgehen, dass sexuelle Gewalt und soziale Ordnung sich gegenseitig bedingen, kann sexuelle Gewalt im Kontext der Ehre als gewaltsames ‚Spiel der Schande‘ verstanden werden, dem die Funktion zukam, die starken sozialen Hierarchien zwischen den Geschlechtern und Generationen körperlichemotional einzuüben und dadurch hervorzubringen. Im Rahmen dieser Arbeit wurde die These aufgestellt, dass das gewaltsame Spiel der Schande, welches der Welt der Ehre zuzurechnen ist, durch den Siegeszug der Subjektkultur mit ihren moralischen Maximen der Selbst- und Affektkontrolle von immer mehr Bewohnern der Stadtregion als barbarisch und unzivilisiert wahrgenommen wurde. Der Anstieg der Untersuchungen vor der Jahrhundertwende kann deshalb als Folge einer zunehmenden Sensibilisierung gegenüber sexuellen Gewalthandlungen gedeutet werden, die zuvor toleriert und deshalb nur selten angezeigt wurden. Dies spricht tendenziell gegen einen effektiven Anstieg der sexuellen Gewalt in der Praxis. Gleichzeitig kann auch der Rückgang der Untersuchungen nach der Jahrhundertwende als Effekt dieser Wahrnehmungsänderung gedeutet werden. Die ehrbezogenen Gewalthandlungen verloren durch den Niedergang der Ehrkultur ihren sozialen Sinn. 226 Bemerkenswert ist insbesondere das fast vollständige Verschwinden von Vergewaltigungen beziehungsweise Vergewaltigungsversuchen an Kindern unter zwölf Jahren in der Nachbarschaft in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Da dieser Rückgang nicht auf Veränderungen des Justizsystems zurückzuführen ist und mit der Abnahme der anderen ehrbezogenen Gewalttypen zusammenfällt, ist es denkbar, dass die Absenz von sexuellen Übergriffen auf Mädchen zum Ende des Untersuchungszeitraums auf einen effektiven Rückgang verweist. Weitere Studien zum Gewalthandeln in Stadtregionen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert würden bei dieser Frage mehr Klarheit schaffen. Die moderne Subjektkultur führte aber nicht einfach zu einem Rückgang sexueller Gewalt. Die Romantik ermöglichte einen Modus, bei dem sexuelle Gewalt von den männlichen Angeklagten als Teil eines Liebesspiels und die Gegenwehr der Frauen als kokettes Verhalten wahrgenommen werden konnten. Die Angeklagten gaben an, dass ihre Opfer innerlich mit dem Beischlaf einverstanden waren, dies aber nicht nach außen zeigten. Für dieses Narrativ bedurfte es der Vorstellung, dass ein eigenständiger Raum für subjektive Empfindungen existierte, der vom äußerlich wahrnehmbaren Verhalten grundsätzlich abweichen konnte. Aus den Narrativen der ehrbezogenen Gewalt, in denen es vornehmlich um Sicht- und Hörbares geht, lässt sich diese Logik nicht herleiten. Auffallend ist, dass die subjektbezogenen Vorfälle häufig in den von der bürgerlichen Kultur inspirierten modernen Kontexten von Privatbesuchen, Spaziergängen und Rendezvous stattfanden. Neben den Narrativen und den Handlungskontexten verweisen auch die Sozialprofile der Angeklagten auf die Modernität und den urbanen Charakter dieses Gewalttyps. Auffallend ist, dass die Geschworenen - anders als bei den ehrbezogenen sexuellen Gewalthandlungen - Mühe bekundeten, die subjektbezogenen Angriffe auf Frauen zu verurteilten. Dies verweist auf verbreitete Toleranz gegenüber solchen Handlungen innerhalb der modernen Gesellschaft. Gerade das Narrativ der Koketterie verweist auf die Dichotomie von männlichem Aktiv und weiblichen Passiv, die auch in den modernen Gesellschaften in veränderter Form weiterhin strukturierend für die Geschlechterdifferenz wirkte. Der tragische Modus findet sich auch bei sexuellen Übergriffen in familiären und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen. In diesen Fällen beschrieben Angeklagte - mehrheitlich aus der Stadt und mit modernem Sozialprofil - den Übergriff nicht in erster Linie als Liebesspiel, sondern als Ausdruck und Folge eines tragischen Verhängnisses, welches sich aus einem Konflikt zwischen sexuellen Trieben und moralischen Verboten entspann. Dabei zeigt sich, dass die tragischen Narrative der sexuellen Gewalttäter anschlussfähig waren an den humanwissenschaftlich-medizinischen Diskurs über normale Subjektivität beziehungsweise über anormale Subjektivität als deren Gegenteil. Im Kontext der sexuellen Gewalt war das tragisch-leidenschaftliche Subjekt gleichzeitig ein anormales, nervöses oder perverses Subjekt. 227 Mit Blick auf die Geschichte der Gefühle zeigt die Geschichte der Gewalt am Bespiel Bern, dass die alteuropäischen Ehrgefühle über einen langen Atem bis ins frühe 20. Jahrhundert verfügten. Nach dem Ersten Weltkrieg waren allerdings die gewaltgenerierenden Gefühle der Ehre und Schande weitgehend abgeklungen. An ihre Stelle trat zunehmend ein kultureller Modus, bei dem Gefühle vor allem als zu kontrollierend und zu beherrschend präsent waren. Diese für die Moderne typische Disposition der Affektkontrolle ermöglichte es aber paradoxerweise, dass Gefühle im Sinne des Tragischen als gewaltsame Befreiung von der Last vernünftig-moralischer Subjektivität modelliert werden konnten. Interpersonale Gewalt lebte in der Moderne als ästhetisch-leidenschaftliche Alternative zur dominanten Vernunftmoral der Selbstkontrolle fort und war als solche integraler Teil der Subjektkultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Folgt man einzig den Kulturtheorien von Elias und Foucault bleibt dieser Aspekt der Subjektivität unbeachtet. Allerdings unterstrichen die tragischen Gewalt- und Todessehnsüchte gerade die hegemoniale Stellung der Vernunftmoral mit ihren Maximen der Affektkontrolle und Selbstbeherrschung, die Elias und Foucault als Signum der Moderne hervorheben. Die tragische Ästhetisierung des Selbst, die sich radikal von der Vernunftmoral abwandte, führte zwingend den eigenen Untergang herbei und konnte daher nicht von Dauer sein. Der Zusammenschluss der ästhetischen Kategorie des Tragischen und der wissenschaftlichen Kategorie des Anormalen, wie er vor allem in den Selbstzeugnissen der Sexualstraftäter zu finden ist, verweist auf einen Trend in den Humanwissenschaften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der noch genauer zu untersuchen wäre. In der Kriminologie Lombrosos aus den 1870er-Jahren galten fatale Gewalttäter als ‚Verbrecher aus Leidenschaft‘, die im Gegensatz zu den sogenannten ‚gewöhnlichen Verbrechern‘ edel und erhaben seien. Zu diesem Zeitpunkt beeinflussten die heroisierenden Effekte des Tragischen noch den ärztlichen Blick (oder das ärztliche Gefühl). Einer von Lombrosos Nachfolgern, der Genfer Kriminologe Léon Rabinowicz, konzipierte die ‚Verbrecher aus Leidenschaft’ dann in den 1930er-Jahren als anormale und kranke Subjekte. Ob die Entzauberung der fatalen Gewalt durch Psychopathologisierung zur Abnahme des Phänomens der fatalen Gewalt führte, müsste noch untersucht werden. Das Tragische verschwand interessanterweise aber nicht von der Bildfläche, denn die Diskreditierung der fatalen Gewalt wurde paradoxerweise begleitet von einer Adaption des tragischen Narrativs durch die Humanwissenschaften, wie sich anhand von Forels Ausführungen zur ‚Entartung‘ beziehungsweise ‚Degeneration‘ zeigen lässt. Der Schweizer Arzt warnte 1917 in tragischem Stil vor einem Untergang der modernen, ‚zivilisierten‘ Gesellschaft. Das Tragische fusionierte in den Humanwissenschaften mit der Vernunftmoral, der es zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegenübergestanden hatte. Fulda und Valk betonen in diesem Sinn, dass das 228 Tragische um 1900 zu einem dominanten kulturtheoretischen Deutungsmuster geworden war. 2 Vor dem Hintergrund der Berner Untersuchungsakten stellt sich die Frage, ob die weitverbreitete tragische Denkweise im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch auf dem politischen Parkett einen fatalen Gewaltmodus erzeugte, der möglicherweise für die Kriegsbegeisterung und die Entfesselung der beiden Kriegskatastrophen eine Rolle spielte. Gelfert verweist auf die Empfänglichkeit der nationalsozialistischen Ideologie für das Tragische und spricht in diesem Zusammenhang von einer „regelrechten Sucht nach Tragik“. 3 Florian Hubers jüngstes Buch zur „Selbstmordwelle“ in der deutschen Bevölkerung im Frühling 1945, bei der es sich im Sinne der fatalen Gewalt häufig auch um erweiterten Suizid handelte, zeugt möglicherweise von einer weitreichenden Präsenz des tragischen Modus nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs. 4 Weitere Forschungen zur Bedeutung des Tragischen für die Geschichte der Moderne wären für die Weiterführung und Klärung dieser Frage nötig. 2 Die Autoren nennen Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Max Weber und Georg Simmel als Beispiele. Fulda/ Valk (2010), S. 5. 3 Gelfert (1995), S. 141. 4 Huber (2014), S. 59, passim. 229 Anhang 1. Tabellen Verteilung der Gewalt- und Sittlichkeitsdelikte nach Jahrzehnten 1868- 1869 1870- 1879 1880- 1889 1890- 1899 1900- 1909 1910- 1919 1920- 1929 1930- 1939 1940- 1941 Total Anzahl schwere Gewaltdelikte pro Jahrzehnt 4 40 31 32 32 23 10 9 1 182 Anzahl schwere Sittlichkeitsdelikte pro Jahrzehnt 4 17 34 52 32 28 7 7 0 181 Verteilung der Fälle nach Gewalttypen (absolute Zahlen) Gesellige Gewalt 81 Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz 33 Züchtigende Gewalt 16 Fatale Gewalt 30 Bereicherungsgewalt oder aus anderen Gründen strategisch eingesetzte Gewalt (nur in Diagramm 1 und 2 berücksichtigt) 22 Fälle mit körperlicher Gewalt insgesamt 182 Ehrbezogene sexuelle Gewalt gegen Erwachsene 80 Ehrbezogene sexuelle Gewalt gegen Kinder 49 Ehrbezogene sexuelle Gewalt in Familie und Haushalt 11 Ehrbezogene sexuelle Gewalt gegen Erwachsene und gegen Kinder 1 Subjektbezogene sexuelle Gewalt in Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen 1 Subjektbezogene sexuelle Gewalt gegen Erwachsene 17 Subjektbezogene sexuelle Gewalt in Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen 21 „Lustmord“ (nur in Diagramm 1 berücksichtigt) 1 Fälle mit sexueller Gewalt insgesamt 181 230 2. 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Straf- und Strafprozessgesetze für den Kanton Bern. Mit einer Einleitung, Anmerkungen, Urteilen, einem Anhang und einem Nachtrag, hg. von Walter Krebs., Bern 1916. Verordnung vom 27. Juni 1803, in: Helvetisches peinliches Gesetzbuch. Mit den dasselbe in einzelnen Paragraphen und ganzen Titeln aufhebenden, modifizierenden und ergänzenden späteren Gesetzen für die Republik Bern, Burgdorf 1839, S. 106. 6. Archivquellen Controlle der von den Assisen beurteilten Untersuchungen: Bd. 1 (1852-1863). StAB BB 15. 4. 500. Controlle der von den Assisen beurteilten Untersuchungen: Bd. 2 (1863-1874). StAB BB 15.4.501. 244 Archivrodel der Kriminalkammer: Bd. 3 (1875-1893). StAB BB 15.4.502. Archivkontrolle der Kriminalkammer: Bd. 4 (1893-1905). StAB BB 15.4.503. Archivkontrolle der Kriminalkammer: Bd. 5 (1905-1944). StAB BB 15.4.504. Archivkontrolle der Kriminalkammer: Bd. 6 (1945-1996) StAB BB 15.4.505. Register über die von der Polizeikammer beurteilten Strafprozeduren, Bd. 5 (1866-1876). StAB BB XV 1123. Archivkontrolle der Polizeikammer, Bd. 6 (1877-1906). StAB BB XV 1124. Archivkontrolle der Polizeikammer bzw. der Strafkammer (ab 1909), Bd. 7 (1907-1945). StAB BB XV 1125. Untersuchungsakten gesellige Gewalt: StAB BB 15. 4. 1093 3128; 1093 3131; 1132 3555; 1143 3678; 1150 3754; 1158 3828; 1164 3904; 1165 3906; 1171 3977; 1172 3983; 1178 4052; 1184 4123; 1194 4266; 1195 4275; 1210 4450; 1210 4452; 1211 4454; 1219 4560; 1234 4746; 1243 4828; 1250 4917; 1258 5002; 1278 5250; 1283 5310; 1284 5328; 1291 5406; 1293 5429; 1304 5578; 1331 5915; 1361 6250; 1361 6252; 1368 6330; 1374 6385; 1375 6396; 1397 6651; 1421 6890; 1436 7036; 1448 7124; 1448 7126; 1504 7614; 1533 7899; 1542 7992; 1552 8074; 1554 8092; 1584 8337; 1585 8345; 1590 8388; 1605 8495; 1605 8497; 1614 8577; 1634 8783; 1636 8796; 1660 8997; 1663 9031; 1671 9090; 1671 9091; 1687 9221; 1691 9242; 1714 9435; 1715 9439; 1741 9622; 1747 9680; 1749 9684; 1748 9690; 1788 209; 1794 253; 1795 255; 1807 339; 1843 555; 1843 558; 1865 671; 1884 759; 1908 879; 1920 945; 1937 1018; 1950 1092; 1960 1153; 1986 1281; 2318 3044; 2329 3083; 2361 3202. Untersuchungsakten Gewalt in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz: StAB BB 15. 4. 1149 3748; 1171 3975; 1178 4058; 1194 4271; 1220 4575; 1249 4911; 1250 4914; 1262 5053; 1349 6128; 1381 6467; 1413 6823; 1424 6919; 1533 7894; 1603 8433; 1629 8723; 1642 8845; 1655 8953; 1696 9276; 1740 9620; 1749 9694; 1753 9737; 1780 159; 1781 161; 1781 162; 1859 634; 1939 1030; 1986 1278; 1960 1553; 2249 2752; 2249 2753; 2249 2755; 2297 2940; 2555 3859. Untersuchungsakten züchtigende Gewalt: StAB BB 15. 4. 1093 3126; 1172 3979; 1315 5717; 1392 6594; 1398 6653; 1484 7449; 1552 8073; 1552 8076; 1592 8406; 1613 8572; 1621 8643; 1628 8721; 1795 256; 1803 313; 1816 410; 1879 728. Untersuchungsakten ehrbezogene sexuelle Gewalt gegen Erwachsene: StAB BB 15. 4. 1076 2933; 1085 3044; 1093 3119; 1132 3550; 1132 3753; 1185 4136; 1202 4366; 1204 4383; 1220 4572; 1227 4647; 1234 4740; 1243 4832; 1271 5144; 1278 5244; 1343 6065; 1348 6121; 1383 6485; 1408 6772; 1421 6886; 1424 6921; 1424 6923; 1425 6927; 1430 6967; 1435 7028; 1455 7187; 1459 7237; 1459 7238; 1474 7357; 1487 7474; 1495 7546; 1509/ 1510 7661; 1515 7708; 1524 7825; 1532 7892; 1533 7899; 1538 7959; 1548 8035; 1563 8182; 1564 8193; 1564 8193; 1572 8234; 1585 8347; 1591 8405; 1620 8642; 1620 8642; 1628 8717; 1641 8834; 1642 8841; 1647 8883; 1659 8991; 1660 8997; 1661 9004; 1661 9006; 1664 9034; 1669 9076; 1672 9107; 1672 9108; 1686 9214; 1691 9245; 1691 9246; 1692 9251; 1694 9266; 1700 9303; 1708 9373; 1728 9540; 1732 9573; 1740 9614; 1807 341; 1808 348; 1815 404; 1816 405; 1823 452; 1831 496; 1966 1182; 1998 1337; 2013 1400; 2067 1699; 2125 2054; 2220 2612; 2457 3546; 2457 3546; 2613 4031. 245 Untersuchungsakten ehrbezogene sexuelle Gewalt gegen Kinder: StAB BB 15. 4. 1098 3186; 1190 4213; 1261 5041; 1262 5054; 1271 5145; 1281 5395; 1362 6261; 1368 6319; 1375 6398; 1386 6527; 1407 6764; 1408 6768; 1429 6964; 1459 7241; 1459 7242; 1464 7285; 1479 7399; 1508 7647; 1509/ 1510 7661; 1523 7817; 1551 8065; 1551 8066; 1552 8079; 1554 8099; 1563 8179; 1574 8255; 1580 8304; 1580 8305; 1591 8403; 1614 8579; 1619 8629; 1619 8632; 1620 8639; 1679 9158; 1687 9223; 1702 9326; 1715 9422; 1713 9438; 1725 9514; 1747 9682; 1816 407; 1909 884; 1915 916; 1920 946; 1992 1300; 2025 1474; 2029 1496; 2053 1621; 2124 2049; 2148 2214. Untersuchungsakten ehrbezogene sexuelle Gewalt in der Familie und anderen institutionellen Beziehungen: StAB BB 15. 4. 1349 6133; 1519 7778; 1665 9041; 1728 9540; 1760 12; 1819 429; 1874 707; 1915 914; 1915 916; 2007 1364; 2069 1718; 2212 2569. Untersuchungsakten fatale Gewalt: StAB BB 15. 4. 1172 3980; 1425 6927; 1474 7359; 1492 7520; 1659 8992; 1725 9519; 1815 403; 1848 582; 1901 835; 1907 873; 1920 949; 1921 951; 1936 1013; 1939 1028; 1952 1097; 2007 1362; 2089 1817; 2108 1940; 2131 2093; 2179 2396; 2205 2531; 2225 2638; 2225 2639; 2462 3558, 2472 3593; 2498 3681; 2499 3683; 2576 3919; 2582 3939; 2661/ 2662 4169. Untersuchungsakten subjektbezogene sexuelle Gewalt gegen Erwachsene: StAB BB 15. 4. 1191 4223; 1355 6194; 1550 8061; 1585 8343; 1661 9005; 1674 9120; 1696 9277; 1816 406; 1824 459; 1843 553; 1900 833; 1915 918; 1957 1131; 1989 1295; 2069 1718; 2131 2092; 2318 3046. Untersuchungsakten subjektbezogene sexuelle Gewalt in der Familie und anderen hierarchisch-institutionellen Beziehungen: StAB BB 15. 4. 1413 6828; 1495 7547; 1563 8179; 1570 8231; 1654 8943; 1726 9522; 1748 9691; 1794 250; 1818 426; 1823 456; 1951 1093; 1957 1132; 1963 1160; 1977 1233; 2087 1806; 2125 2055; 2126 2066; 2141 2160; 2419 3410; 2439 3490; 2579 3929. Untersuchungsakten sonstige und nicht berücksichtige Fälle: StAB BB 15. 4. 1093 3124; 1171 3976; 1259 5011; 1292 5416; 1348 6123; 1349 6131; 1349 6135; 1362 6258; 1413 6825; 1460 7248; 1483 7441; 1538 7955; 1685 9209; 1698 9286; 1725 9619; 1765 50; 1803 312; 1805 402; 1921/ 1922 952; 1960/ 1961 1154; 1990/ 1991/ 1992 1299; 2089 1819; 2383 3289; 2500 3684; 2455/ 2456/ 2457 3544. : Weiterlesen Konflikte und Kultur Herausgegeben von Martin Dinges, Joachim Eibach, Mark Häberlein, Gabriele Lingelbach, Ulinka Rublack, Dirk Schumann und Gerd Schwerhoff Band 11 Irmgard Schwanke Fremde in Offenburg Religiöse Minderheiten und Zuwanderer in der Frühen Neuzeit 2005, 308 Seiten, Broschur ISBN 978-3-89669-708-0 Band 12 Gerd Schwerhoff Zungen wie Schwerter Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200-1650 2005, 362 Seiten, Broschur ISBN 978-3-89669-716-5 Band 13 Christian Hochmuth, Susanne Rau (Hg.) Machträume der frühneuzeitlichen Stadt 2006, 408 Seiten, Broschur ISBN 978-3-89669-566-6 Band 14 Wulf Wäntig Grenzerfahrungen Böhmische Exulanten im 17. Jahrhundert 2007, 662 Seiten, Broschur ISBN 978-3-89669-612-0 Band 15 Falk Bretschneider Gefangene Gesellschaft Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert 2008, 636 Seiten, Broschur ISBN 978-3-89669-624-3 Band 16 Ulrike Ludwig Das Herz der Justitia Gestaltungspotentiale territorialer Herrschaft in der Strafrechts- und Gnadenpraxis am Beispiel Kursachsens 1548-1648 2008, 318 Seiten, 10 s/ w Abb., Broschur ISBN 978-3-86764-074-9 Band 17 Christian Hochmuth Globale Güter - lokale Aneignung Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak im frühneuzeitlichen Dresden 2008, 272 Seiten, 6 s/ w u. 3 farb. Abb., Broschur ISBN 978-3-86764-082-4 Band 18 Mathis Leibetseder Die Hostie im Hals Eine ›schröckliche Bluttat‹ und der Dresdner Tumult des Jahres 1726 2009, 200 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-208-8 Band 19 Sarah Bornhorst Selbstversorger Jugendkriminalität während des Ersten Weltkriegs im Landgerichtsbezirk Ulm 2010, 374 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-249-1 Band 20 Mark Häberlein, Christian Kuhn, Lina Hörl (Hg.) Generationen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (ca. 1250-1750) 2011, 220 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-254-5 www.uvk.de Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Band 21 Päivi Räisänen Ketzer im Dorf Visitationsverfahren, Täuferbekämpfung und lokale Handlungsmuster im frühneuzeitlichen Württemberg 2011, 370 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-255-2 Band 22 Jan Willem Huntebrinker »Fromme Knechte« und »Garteteufel« Söldner als soziale Gruppe im 16. und 17. Jahrhundert 2010, 452 Seiten, 54 s/ w Abb., Broschur ISBN 978-3-86764-274-3 Band 23 Ulrike Ludwig, Barbara Krug-Richter, Gerd Schwerhoff (Hg.) Das Duell Ehrenkämpfe vom Mittelalter bis zur Moderne 2012, 372 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-319-1 Band 24 Alexander Kästner Tödliche Geschichte(n) Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547-1815) 2011, 688 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-320-7 Band 25 Albrecht Bukardt, Gerd Schwerhoff (Hg.) Tribunal der Barbaren Deutschland und die Inquisition in der Frühen Neuzeit 2012, 452 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-371-9 Band 26 Matthias Bähr Die Sprache der Zeugen Argumentationsstrategien bäuerlicher Gemeinden vor dem Reichskammergericht (1693-1806) 2012, 316 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-397-9 Band 27 Christina Gerstenmayer Spitzbuben und Erzbösewichter Räuberbanden in Sachsen zwischen Strafverfolgung und medialer Repräsentation 2013, 386 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-403-7 Band 28 Alexander Kästner, Gerd Schwerhoff (Hg.) Göttlicher Zorn und menschliches Maß Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften 2013, 218 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-404-4 Band 29 Andreas Flurschütz da Cruz Zwischen Füchsen und Wölfen Konfession, Klientel und Konflikte in der fränkischen Reichsritterschaft nach dem Westfälischen Frieden 2014, 460 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-504-1 Band 30 Nina Mackert Jugenddelinquenz Die Produktivität eines Problems in den USA der späten 1940er bis 1960er Jahre 2014, 338 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-559-1 : Weiterlesen