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Im Bilde

Vormoderne Geschichte in modernen Medien

0313
2017
978-3-7398-0161-2
978-3-8676-4675-8
UVK Verlag 
Francisca Loetz
Marcus Sandl

Medien prägen unsere Vorstellungen und Interpretationen der Vergangenheit. Während sich die Geschichtswissenschaft im Wesentlichen der Schrift bedient, entwerfen Comic, Theater oder Film »Geschichtsbilder«. Weit davon entfernt, bloße Repräsentationen historiographischen Wissens zu sein, entwickeln sie eine eigene mediale Logik von großer Popularität und Überzeugungskraft. Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Praxis beschäftigen sich im vorliegenden Band mit den Möglichkeiten, Chancen und Grenzen vormoderne Geschichte in modernen Medien darzustellen.

<?page no="2"?> Francisca Loetz / Marcus Sandl (Hg.) Im Bilde <?page no="4"?> Francisca Loetz / Marcus Sandl (Hg.) Im Bilde Vormoderne Geschichte in modernen Medien UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz und München <?page no="5"?> Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz »Kulturelle Grundlagen von Integration«. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-86764-675-8 (Print) ISBN 978-3-7398-0160-5 (EPUB) ISBN 978-3-7398-0161-2 (EPDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2017 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas Einbandilluustration: Frida Bünzli, www.fridabee.ch Druck und Bindung: Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="6"?> 5 Inhalt Francisca Loetz/ Marcus Sandl Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Claudius Sieber-Lehmann Mit dem Comic Unsere Universität unterwegs: Geschichtsschreibung in Bildern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Christian Gasser Im Schatten der Geschichte: Wie Maus, Grabenkrieg und Buddha Geschichte vermitteln . . . 31 Francisca Loetz/ Marcus Sandl - Katja Wildermuth Breaking News: Die Völkerschlacht bei Leipzig - Ein Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Silvana Bezzola Rigolini Vormoderne Geschichte im Dokumentarfilm: Statements aus Sicht einer Dokumentarfilm-Produzentin, Historikerin und Archäologin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Francisca Loetz Eine Historikerin als Drehbuchautorin: Über den Versuch, es besser zu machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Hildegard Elisabeth Keller Zeitlose Geschichten: Von fiktiven Begegnungen mit historischen Figuren . . . . . . . . . 93 Paul Steinmann Das Theater mit der Geschichte: Wie das Freilichtspiel und Landschaftstheater Morgarten - Der Streit geht weiter (2015) entstand. Ein Ablauf-Konzept in 13 Szenen . . . . . . . . . . . . . . . . 113 <?page no="7"?> 6 Inhalt Francisca Loetz / Marcus Sandl Erzählt, erfahren, ersonnen: Geschichtswissenschaft der Vormoderne und moderne mediale Geschichtskulturen . . . . . 127 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 <?page no="8"?> 7 Vorwort Francisca Loetz / Marcus Sandl Vorstellungen und Interpretationen der Vergangenheit sind medienabhängig - und dies in dreifacher Weise. Erstens lassen sich Medien als Dokumente ihrer Zeit, als historische Quellen, vor allem sehen und hören. Die Moderne hat seit ca. 1850 mit der Fotografie, der Tonaufnahme, dem Film, dem Hörspiel und anderen Formen der Inszenierungen inklusive des Internets Medien entwickelt, welche die Vormoderne nicht kennt. Moderne und Vormoderne unterscheiden sich also bereits durch die medialen Formen, die für die Interpretation der Vergangenheit zur Verfügung stehen. Zweitens werden die modernen Medien als (didaktisches) Hilfsmittel zur Popularisierung historischen Wissens genutzt. Sie sind also Verbreitungsmedien historiographischer Erkenntnisse, auch historiographischer Erkenntnisse über die Vormoderne. Die ihnen eigenen medialen Gesetzlichkeiten - ein Film etwa beruht auf optischer Bewegung - prägen dabei die Anschauung von historischen Themen. Hieraus folgt als dritter Aspekt die Frage, wie Medien unsere Vorstellungen und Interpretationen von Medien bestimmen: Was bedeutet es für die Geschichte, dass Medien sich wandeln und immer wieder neue intermediale Konstellationen entstehen? Welche erkenntnistheoretischen Chancen und Grenzen des historischen Arbeitens ergeben sich in der Auseinandersetzung mit modernen Medien für die Geschichtswissenschaft als einer Disziplin, die überwiegend im Medium der Schrift und des Vortrags das Publikum über die Ergebnisse ihrer Arbeit ins Bild zu setzen sucht? Welche erkenntnistheoretischen Fragen werfen die Gestaltung vormoderner historischer Stoffe in modernen Medien für die Geschichtswissenschaft auf ? Vorstellungen und Interpretationen der Vergangenheit sind medienabhängig. Nimmt man diese Prämisse ernst, so folgt daraus, dass man sich von der Vorstellung, es gebe eine Geschichte, nämlich »die« Geschichte im Kollektivsingular, verabschieden muss. Verschiedene Medien führen zu unterschiedlichen »medialen Geschichten«. »Geschichte« umfasst mit anderen Worten das Spektrum von nicht-wissenschaftlichen oder experimentellen »Geschichtsbildern« über popularisierende und breitenwirksame Aufbereitungen historischer Stoffe bis zu »trockenen« wissenschaftlichen Argumentationen. Solange Bezugnahmen auf die Vergangenheit nicht den Anspruch erheben, wissen- <?page no="9"?> 8 Francisca Loetz / Marcus Sandl schaftlich zu sein, macht es keinen Sinn, sie nach geschichtswissenschaftlichen Kriterien zu bebzw. zu verurteilen. Genauso wenig führt es weiter, wissenschaftliche Argumentationen am Maßstab der Popularität zu messen. Stattdessen ist es notwendig und sinnvoll, nach den medialen Eigenlogiken zu fragen, die in den unterschiedlichen Repräsentationsweisen von »Geschichte« angelegt sind. Interdisziplinäre Forschungsprojekte von Medien- und Literaturwissenschaft, die in diesem Sinne die Medialität des Historischen zum Thema machen, gibt es seit einiger Zeit; 1 Historikerinnen und Historiker, die solche Projekte in eigener Sache vorantreiben, hingegen kaum. Genau hier setzt der vorliegende Band an. Er soll das Spektrum an Geschichtsentwürfen entfalten, auf das sich eine Diskussion beziehen könnte, die Fragen der Medialität des Historischen zu thematisieren unternimmt. Die Beiträge des Bandes verweisen hierzu vornehmlich auf das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit, weil es sich um Zeiträume handelt, die im Gegensatz zur Antike, dem Hochmittelalter und der Zeitgeschichte von populären Geschichtsentwürfen eher vernachlässigt werden. Außerdem hat die Geschichte vom ausgehenden 15. bis beginnenden 19. Jahrhundert in den interdisziplinären Medialitätsdebatten bislang kaum besondere Aufmerksamkeit erfahren. Dabei lassen sich gerade hier Fragestellungen und Thesen besonders gut erproben, die epistemische Differenzen zum Gegenstand haben. Nicht von ungefähr haben die Väter und (wenigen) Mütter der Medientheorie auf vormoderne Konstellationen von Mündlichkeit zurückgegriffen bzw. orale Kulturen untersucht, um die medialen Konstellationen der Moderne zu profilieren. Erst in der epochalen Differenz lassen sich die jeweiligen Spezifika herausarbeiten. Der Band vereinigt Beiträge, die sich in der Textsorte, der Perspektive und der Disziplin stark voneinander unterscheiden. In der Vielfalt der Ansätze sollen die Perspektiven und Probleme des jeweiligen medialen Zugriffs auf Geschichte aus möglichst unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet werden. »Praktikerinnen« und »Praktiker« kommen ebenso zu Wort wie »Theoretikerinnen« und »Theoretiker«. Manche Autorinnen und Autoren bewegen sich auch an der Schnittstelle beider »Welten«. Der Fokus des Bandes ist im Prinzip aber ein universitär-akademischer. Für den Gesamtzusammenhang ist die Frage erkenntnisleitend, was die Geschichtswissenschaft mit Blick auf andere (mediale) Repräsentationsformen des Vergangenen lernen bzw. für was dieser Blick sensibilisieren kann. Dabei geht es zunächst darum, über die universitärakademische Nabelschau hinweg die Rezipienten- und die Produzentenseite 1 Das prominenteste Beispiel ist wohl das Graduiertenkolleg »Mediale Historiographien«, das an den Universitäten Weimar, Erfurt und Jena zwischen 2005 und 2013 angesiedelt war. Vgl.: http: / / www.uni-weimar.de/ medien/ grako-medhist/ [20.06.2016]. <?page no="10"?> 9 Vorwort von »Geschichte« möglichst präzis und differenziert in den Blick zu rücken. Im Zentrum stehen also nicht Fragen der didaktischen Vermittlung historischer Stoffe, sondern epistemologische Probleme der Repräsentationen von Geschichte. Die Schwerpunkte liegen auf Comic, Film, Theater und Hörspiel. Um die Heterogenität der diskutierten Medien in Grenzen zu halten, ist die - freilich wichtige und für die Zukunft zentrale - Thematik des Internets nicht aufgegriffen worden. <?page no="12"?> 11 Mit dem Comic Unsere Universität unterwegs Geschichtsschreibung in Bildern? Claudius Sieber-Lehmann Pour Martin, l’ami et l’inspirateur Martin Schaffner, emeritierter Professor für Geschichte der Moderne und begeisterter Comicfan, rief mich unerwartet im 2008 an: Für das Jubiläum »550 Jahre Universität Basel« sei ein Comic geplant, aber das Projektteam benötige fachliche Beratung im Bereich der spätmittelalterlichen Basler Geschichte und gegebenenfalls einen Mitarbeiter am Skript. Die Anfrage überraschte mich sehr, aber sie war auch verführerisch: Bildergeschichten bin ich seit meiner Kindheit verfallen, obwohl sie damals als übler Schund galten. Freunde aus bürgerlichen Basler Familien bestätigten mir, dass zu Hause solche Erzeugnisse früher kurz mit »Bahnhofbüchlein« abgefertigt wurden, da sie bloß an Kiosken erworben werden konnten. 1 Ein ehemals verbotenes Begehren im seriösen universitären Kontext umsetzen zu können, war für mich sehr verlockend. Ich willigte ein und war gespannt, wie sich das Projekt entwickeln würde. Die Vorgaben waren klar: Es sollte sich um einen Comic handeln - also nicht um eine längere Graphic Novel 2 - und im Zentrum musste die Gründungsgeschichte der Basler Universität stehen. Bekanntlich wurde die Basler Hochschule in Rekordzeit gegründet. 1458 erteilte Pius II. (Enea Silvio Piccolomini) die Erlaubnis für die Stiftung einer Universität, und im April 1460 fand bereits die Eröffnung statt. Die Promotoren (männlich) und ihre Expertisen sind bekannt, desgleichen die Urkunden, die Ratsbeschlüsse und die organisatorischen Maßnahmen. Für einen Comic reicht dies aber selbstverständlich nicht aus, denn eine wichtige Regel lautet: Eine Bildgeschichte muss zuerst eine überzeugende Story aufweisen. Für Bildgeschichten historischen Inhalts kommt als zweite Regel 1 Zur Geschichte und theoretischen Einordnung der Comics vgl. Platthaus: Fragen.; McCloud: Comics. Insbesondere Wörter wie »Peng«, »Knuff«, aber auch »Galoppel« bei reitenden Pferden oder »Spratzel« bei Elektroschlägen wurden von PädagogInnen beanstandet und als Zeichen der Sprachverarmung gegeißelt. Neuerdings wird für diese Wortart die Bezeichnung »inflektiv« verwendet, umgangssprachlich auch »erikativ«, was als Hommage an die bekannte Übersetzerin der ersten Donald-Duck Hefte, Frau Dr. Erika Fuchs, zu verstehen ist. 2 Zum Unterschied zwischen Comic und Graphic Novel vgl. unten, Anm. 29. <?page no="13"?> 12 Claudius Sieber-Lehmann hinzu: Die geschilderten Ereignisse sollten sich idealerweise mit den aktuellen Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft decken und plausibel wirken. 3 Comics mit historischen Themen sind an sich häufig anzutreffen, wie die Lustigen Taschenbücher des Disney-Verlags zeigen. Sie waren in der Tat nur an Kiosken zu kaufen, aber sie behandelten häufig historische Themen, allerdings aus der Sicht der Ducks und der Perspektive von Micky Maus. 4 Auch die Asterix und Obelix-Serie orientiert sich am Gallien des 1. Jahrhunderts vor Christus. 5 Dank den Bildern von Uderzo wissen heutige Jugendliche viel über die Schildkrötenformation, mit der die Legionen vorzurücken pflegten, und vielleicht sind vereinzelt auch lateinische Sentenzen in Erinnerung geblieben. Art Spiegelmann gelang es schließlich mit Maus, eine Graphic Novel zu zeichnen, die zu Recht als Meisterwerk gilt. Dabei benützte er klassische Comic- Mittel wie den Einsatz von Menschen mit Tierköpfen und erinnerte damit an die klassischen Fabeln mit ihren überhistorischen Erkenntnissen. Gleichzeitig behandelt Maus die Shoah in all ihren furchtbaren und historisch belegten Aspekten, verbindet aber die Handlung mit Spiegelmanns eigener Biographie und knüpft somit an der Gegenwart an. Diese Feststellung führt zur dritten Regel: Bildgeschichten historischen Inhalts dürfen nicht bloß bebilderte Handbücher sein (sozusagen Gebhardts Handbuch der Deutschen Geschichte in der Form einer Biblia Pauperum), sondern sie müssen sich auf die Lebenswelt der jetzt lebenden Leserschaft beziehen. 6 In dieser Beziehung können Comics eigentlich genau jene Bedingung erfüllen, die gelungene Historiographie auszeichnet, nämlich eine Brücke von wissenschaftlich verbürgten Tatsachen hin zu aktuellen Themen und Problemen zu schlagen. Das kann im tragischen Sinne geschehen, wenn Art Spiegelmann die Schwierigkeiten schildert, mit denen heute die Kinder von Überlebenden der Shoah konfrontiert sind, oder mit humoristischen Anspielungen auf die Tagespolitik, wenn bei Asterix und Obelix bekannte französische Politiker in Toga an antik-modernen Gesprächsrunden teilnehmen. 3 Ein abschreckendes Beispiel, worin historische Versatzstücke bloß dazu dienen, Scheusslichkeiten zu bebildern, ist die Serie »Le pape terrible« von Alejandro Jodorowsky (Text) und Theo (Bild). Die Serie spielt zur Zeit des Renaissance-Papstes Julius II. 4 Vgl. beispielsweise die Jubiläumsausgabe von Bd. 150 der »Lustigen Taschenbücher« aus dem Jahr 1993, S. 63-107, wo Micky samt Goofy dank einer Zeitmaschine nach England reisen, wo sie Johann Ohneland, Richard Löwenherz und Robin Hood kennen lernen. 5 René Goscinny kannte seinen Caesar und benützte insbesondere den ethnologischen Exkurs im Liber VI der »Commentarii«. 6 Der Versuch, die Schweizer Geschichte in Bildern zu erzählen, war allerdings wenig erfolgreich, denn es fehlte ein zusammenhängender Plot, und der Text überwog die Bilder: das Ergebnis erinnert an die Images d’Épinal. Vgl. Bory, Schweizer Geschichte. <?page no="14"?> 13 Mit dem Comic Unsere Universität unterwegs Eine gute Story, historisch belegte Tatsachen und möglichst Gegenwartsbezüge: Inwiefern lassen sich diese Regeln auf einen Comic anwenden, der den grundsätzlich nicht sehr dramatischen Gründungsakt der Universität Basel im Jahre 1460 schildert? 7 Für eine gute Geschichte braucht es idealerweise eines oder mehrere Ego-Dokumente, um eine Lebensnähe zu erreichen, die der Gründungsbulle von Pius II. zwangsläufig abgeht. Im Falle des Uni-Comics gibt es einerseits die bekannte, turbulente Jugendgeschichte des Enea Silvio Piccolomini, der am Basler Konzil einerseits das Leben genoss und einen Liebesroman schrieb, andererseits an der Pest erkrankte und sich anschließend für den Priesterstand entschied. Seine schnelle Entscheidung, der Stadt Basel die Errichtung einer Universität zu gewähren, wird in der lokalen Geschichtsschreibung traditionellerweise auf sentimentale Erinnerungen des Papstes an seine Sturm und Drang-Jahre zurückgeführt; se non è vero, è ben trovato. Weniger bekannt sind die lateinischen Aufzeichnungen des Basler Münsterkaplans Johannes Knebel, der zwei Bände mit persönlichen Notizen zum Tagesgeschehen, Abschriften von Missiven usf. hinterließ. 8 Die rund 700 Seiten in der Edition von Wilhelm Vischer enthalten beiläufig eine Fülle von Alltagsszenen und Hinweisen auf die Stimmungslage der Bevölkerung in den Jahren 1473-1479, mehrheitlich also während der so genannten »Burgunderkriege«. Trotz dieser zeitlichen Distanz eignet sich Knebels Diarium 9 für die Ereignisse der Jahre 1458-1460, denn Knebel nahm am Basler Konzil (1431-1449) teil und lobt im Rückblick die Kirchenversammlung, was angesichts seiner ansonsten spitzen Feder auffällt. Sein engster Freund war Peter von Andlau, der seinerseits zum Personenkreis gehörte, der 1458 die Gründung einer Basler Universität vorschlug und vorantrieb. Zu den relativ gut dokumentierten Protagonisten Piccolomini, Andlau und Knebel kommen noch der Stadtschreiber Konrad Kienlin (auch: Kühnlin) hinzu, dessen finanziell schwierige Lebensumstände heute bekannt sind, sowie die Geschäftsfrau Margarethe Brand, die von ihrer Angestellten Berbelin Langenstein kostbare Wirkteppiche (so genanntes »Heidnischwerk«) herstellen ließ und 1467 ein Stipendium für ein Theologiestudium an der neu gegründeten Universität stiftete. Neckisch ist schließlich die historisch belegte (! ) Hundedame Frogindorumb, die bei Jo- 7 Zur Gründungsgeschichte der Universität und ihrer Entwicklung bis zur Reformation vgl. Bonjour, Universität Basel; Soiron, Krisen; Steinmann, Gratulationsschreiben; Wallraff et al., Schatzkammern. 8 Vischer / Boos / Bernoulli, Johannis Knebel Diarium, 1-271. 9 Die Bezeichnung »Diarium« geht auf Wilhelm Vischer, den Herausgeber von Knebels Aufzeichnungen, zurück. Vermutlich handelt es sich eher um eine Materialsammlung für ein noch zu schreibendes Geschichtswerk. <?page no="15"?> 14 Claudius Sieber-Lehmann hannes Knebel wohnte und die einen Anziehungspunkt für junge Leserinnen und Leser bilden konnte. Mit diesem »Personal« ließ sich zumindest ein Beziehungsnetz konstruieren, es fehlte aber der MacGuffin, der gemäß Alfred Hitchcock die Handlung vorantreibt, ohne innerhalb des Plots an sich eine besondere Bedeutung zu haben. In unserem Falle war dies Lulu (cherchez la femme), die als erfundene Geliebte Piccolominis die Zeitebene des Basler Konzils mit der Gründungszeit der Universität Basel verknüpfte und zugleich Wortspiele mit »l’u niversità« Abb. 1: Ein Teil des »Personals« des Universitätscomics <?page no="16"?> 15 Mit dem Comic Unsere Universität unterwegs und »lu ce« erlaubte. Dass es sich bei Lulu um eine hinreißende Phantasiefrau handelt, verrät bereits ihr Name mit seiner Anspielung auf die bekannte, männermordende Opernfigur. Sicherheitshalber wurden im Anhang des Comics im Übrigen die Karten auf den Tisch gelegt und die erfundenen Passagen der Story als solche gekennzeichnet, beispielsweise im Falle der Witwe Margarethe Brand, deren Angestellte Berbelin Langenstein im Plot zur leiblichen Tochter wird. Zu Diskussionen kam es innerhalb der Projektgruppe bei der Frage, wie die Erzählgegenwart der Jahre 1458-1460 mit den Ereignissen des Basler Konzils in den 1430er-Jahren verknüpft werden konnte. Wir entschieden uns für eine größere Rückblende (8 von insgesamt 47 Seiten) in Schwarzweiß, die gleich am Anfang des Bandes in erster Linie dazu dienen sollte, diejenigen Protagonisten einzuführen, die 1458 nicht mehr in Basel lebten, nämlich Piccolomini und seine Lulu. Bei Spaziergängen und in Gesprächen kristallisierten sich die Handlung und der Titel Unsere Universität langsam heraus. 10 Gleichzeitig ging es darum, Anknüpfungspunkte zur Gegenwart in den Plot einzufügen. So bilden sowohl der verwitwete Konrad Kühnlin mit seinem Sohn Hieronymus als auch die Witwe Brandin mit ihrer (fiktiven) Tochter Berbelin eine Patchwork-Familie, wie sie in der Vormoderne aufgrund der niedrigen Lebenserwartung und des Geburtsrisikos für Frauen überaus häufig waren. Sowohl früher als auch heute wachsen viele Kinder mit einem mehr oder weniger fehlenden Elternteil auf. Das Beispiel der Brandin erinnert daran, dass Frauen gestern wie heute in den alltäglichen Arbeitsprozess eingebunden waren (und sind) und überdies den Haushalt bewältig(t)en; erst die Erfindung der bürgerlichen Familie im 19. Jahrhundert ermöglichte es den Frauen, sich einzig dem Familienleben und den Kindern zu widmen. Margaretha Brand repräsentiert überdies eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die in späteren Jahren ein Stipendium für mittellose Theologiestudenten stiftete. Sie steht damit in einer Linie mit den »Ladies First«, einer Gruppe anonym gebliebener Unternehmerinnen, die 2002 der Stadt Basel ein neues Theater schenkten. Margaretha Brands (angedichtete) Tochter Berbelin will lesen und schreiben lernen, was ihr der junge Hieronymus Kühnlin beibringt. Sie verweist auf das Bildungsinteresse spätmittelalterlicher, zumeist frommer Frauen im Bereich der Mystik, aber auch auf die heutigen Frauen, die in Westeuropa häufig gebildeter als ihre Altersgenossen sind. Der Einblick in die Lehrveranstaltungen an der neuen Universität (S. 39 f.) und ein magisches Fernrohr (S. 47) dienen dazu, den Kontrast zwischen dem damaligen und dem heutigen Universitätsleben zu veranschaulichen. Eine 10 Sieber-Lehmann/ Heyne/ Pini, Unsere Universität. <?page no="17"?> 16 Claudius Sieber-Lehmann Reihe weiterer Anspielungen und augenzwinkernder Verweise finden sich im Comic, und Elena Pini verewigte sogar den damaligen Universitätsrektor Antonio Loprieno, der den Comic in Auftrag gab. Wo dies geschieht, müssen Leserinnen und Leser selber entdecken ... Die Vorgehensweise bei der Herstellung verlief arbeitsteilig. Philip Karger betreute das Projekt; Martin Schaffner und Hans Syfrig begleiteten als Experten den Produktionsprozess. Zuerst entwarf ich als Szenarist den Plot, wobei ich die bekannten historischen Tatsachen assoziativ zu einer Erzählung verknüpfte. Damit sollte vermieden werden, dass der Comic als bebilderter wissenschaftlicher Aufsatz daherkommt, es ging also letztlich um finden und er-finden. Danach verfassten Andreas K. Heyne und Alice Heyne die Texte für die Abb. 2: Die Aktualität der Figur Margaretha Brand <?page no="18"?> 17 Mit dem Comic Unsere Universität unterwegs Sprechblasen, während Elena Pini erste Panels zeichnete. Für die Erarbeitung der Vorlage benützte ich wie bei früheren Filmprojekten die Struktur des Storyboards: Links eine grobe Beschreibung der Bildinhalte sowie des Ablaufs, rechts der Text. In groben Zügen entspricht die Herstellung eines Comics somit der Arbeitsweise bei der Realisierung eines Films. Grundsätzlich gilt beim Produktionsprozess eines Comics wie beim (guten) Film die Regel »Bild geht vor Text«. Allerdings gibt es im Fall der Comics zusätzliche Einschränkungen. Der Text muss sehr kurz sein, denn Sprechblasen erlauben keine langen Monologe. Wer also den sprachlichen Teil eines Comics übernimmt, darf nicht an seinen Formulierungen kleben. Entscheidend ist schließlich die Kunst der GraphikerInnen, den Hiatus zwischen den einzelnen Panels sinnvoll zu nutzen und die Panels mit zusätzlichen humoristischen Informationen oder Parallelgeschichten auf visueller Ebene anzureichern. So zeichnete Elena Pini einen Tellensohn, der einen Armbrustschuss auf den über die Alpen reitenden Kühnlin abfeuert, und die Hundedame Frogindorumb zankt sich regelmäßig mit der Katze von Margaretha Brand. 11 Mit dem Victory-Zeichen wurde eine bekannte Geste eingeführt, um »Vnsere Vniversität« zu visualisieren und mit der römischen Schreibung eines »V« für »U« gleichzeitig auf die damals noch vorhandene Wichtigkeit des Lateins anzuspielen. Kleinere Spannungsbogen sollten die Handlung vorantreiben: die Liebesgeschichte zwischen Enea und Lulu während des Basler Konzils und die gleichzeitig grassierende Pest wird in eine Parallele gesetzt mit den aufkeimenden Gefühlen von Berbelin und Hieronymus; Kühnlin erlebt beim Ritt über die Alpen nach Rom nicht nur Schönes; die Suche nach Geldgebern erweist sich mühsam und steinig. Am schönsten vermischen sich historische Quellen und Comic-Wirklichkeit bei der Eröffnungsszene im Münster, die von Elena Pini exakt der berühmten Miniatur in der ersten Universitätsmatrikel nachgebildet wurde, allerdings unter Einfügung der aus dem Comic bekannten Figuren; das Bild ziert auch das Cover von Unsere Universität. Die Herstellung unserer Bildgeschichten verlief gut; Diskussionen gab es bei den Texten in den Sprechblasen, wo einzelne Anspielungen auf Aktuelles umstritten waren. Auch bei der Frage, welche Fiktionen dem intendierten Publikum zugemutet werden konnten, gab es Meinungsverschiedenheiten: Sollte Lulu, die Geliebte des Klerikers Piccolomini, als Prostituierte oder als einfache junge Frau dargestellt werden? Wir entschieden uns für die zweite Lösung, um nicht gängige frauenfeindliche Muster zu wiederholen. Die besonderen Möglichkeiten der Visualisierung nützten Elena Pini und wir als Team hingegen 11 Zu »Tell«, vgl. Sieber-Lehmann / Heyne / Pini, Unsere Universität, 23; zu den Zänkereien und der abschließenden Versöhnung der zwei Tiere ebd. 20 und 47. <?page no="19"?> 18 Claudius Sieber-Lehmann Abb. 3: Die Verknüpfung von historischen Fakten mit zeitgenössischen Anspielungen <?page no="20"?> 19 Mit dem Comic Unsere Universität unterwegs öfters aus. So zeigt das Reichsbanner, unter dem Kaiser Sigismund einzieht, einen Pleitegeier, um die marode Situation des Heiligen Römischen Reichs zu suggerieren. Im Vergleich zur »seriösen« Historiographie bereitete die Möglichkeit, im Rahmen des Wahrscheinlichen zu fabulieren, viel Vergnügen. Neben das »Finden« von verbürgten und erforschten Tatsachen trat so das »Erfinden«, und es kam zu einem Dialog zwischen den Anforderungen der historischen Wissenschaft und den Vorzügen der Narrativität. 12 Gleichzeitig boten die Bilder die Möglichkeit, nebenbei vieles beiläufig zu veranschaulichen, beispielsweise die Wichtigkeit von Brillen, die erst im Spätmittelalter den Lesenden mit Augenschwäche zur Verfügung standen. Was für allgemeine Erkenntnisse lassen sich aber aus dem Projekt ziehen? Können Comics die Vermittlung von Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft übernehmen? An welches Publikum richten sie sich? Im Falle von Unsere Universität bestanden genügend Forschungsarbeiten, um über weite Strecken historisch gesichertes Wissen vermitteln zu können. Gleichzeitig ließen sich Bezüge zur Gegenwart herstellen. Die Gründung der Universität war 1460 ein mutiger finanzieller Kraftakt, und immer wieder musste und muss die Universität Basel mit Geldnöten kämpfen. Es handelte sich also um eine Langzeitinvestition, die der Stadt als wirtschaftlichem Standort außerordentlich nützt(e). Ergänzend zu dieser eher abstrakten Aussage ermöglichten die Aufzeichnungen von Johannes Knebel, dem auf den ersten Blick eher trockenen Thema einen human touch hinzuzufügen. Porträts der ProtagonistInnen sind hingegen nicht erhalten, und so konnte Elena Pini ihrer Phantasie freien Lauf lassen und gut identifizierbare Charakterköpfe erfinden. All dies erlaubte es, den Comic Unsere Universität für ein größeres Publikum zu konzipieren. * Der Vergleich mit anderen Comics historischen Inhalts zeigt, wie stark die Quellenlage und der wissenschaftliche Forschungsstand das spätere Ergebnis bestimmen. Als extremes Beispiel ist der Comic Le soleil des morts anzuführen, der am Übergang von der Jungsteinzeit zur Bronzezeit vor 4500 Jahren in den Walliser Alpen spielt. Es handelt sich um das Gemeinschaftswerk von André Houot (Zeichner) und Alain Gallay (Archäologe der Urgeschichte und Ethnologe) und erschien in einer ersten Auflage 1992. Gallay erläutert in einem wissenschaftlichen Beitrag, was ihn zur Teilnahme an diesem Projekt bewegte. 13 12 Vgl. dazu immer noch den Artikel von Stone, Revival. 13 Gallay, Archéologie et bande dessinée. Alain Gallay hatte zuvor während Jahren den Fundort des Petit-Chasseur bei Sion erforscht und eine umfangreiche archäologische Dokumentation erstellt. <?page no="21"?> 20 Claudius Sieber-Lehmann Eingangs betont er, es handle sich bei Le soleil des morts um ein literarisches Werk. Allerdings spielt die Geschichte an einem räumlich festgelegten Ort, der in den Panels so abgebildet wird, dass die heutige Geländeformation sichtbar ist: Die Nekropole des Petit-Chasseur in einem Ortsteil von Sion (Sitten, Kanton Wallis) sowie die Hügel in der Umgebung. Die Dolmen wurden erst 1961 entdeckt und seitdem erforscht. Dabei stellten die ForscherInnen fest, dass an die Stelle von älteren Grabstelen eine neuere Form von Totengedenken trat, die der Glockenbecherkultur zugeordnet werden kann; einige Stelen waren zerstört worden. Offensichtlich hatte eine kulturelle Veränderung stattgefunden. Mehr war am Fundort nicht festzustellen. Houot und Gallay benützten deshalb Belege aus anderen Kontexten, um eine Erzählung zu konstruieren. Was die materielle Alltagskultur betrifft, so konnten Pollenanalysen beispielsweise die damalige Vegetation im Wallis dokumentieren. Wirtschaftliches Leben, Siedlungsformen und Kleidung mussten hingegen durch den Vergleich mit anderen neolithischen Fundstellen rekonstruiert werden. Am heikelsten erwies sich der Versuch, die Glaubensvorstellungen der damaligen Menschen zu belegen. Die Sonne schien damals eine wichtige Rolle zu spielen, da die Eingänge zu den Dolmengräbern sich nach dem Sonnenaufgang anlässlich der Wintersonnenwende orientieren. Zusammen mit dem Hirsch wirkte die Sonne vielleicht als Führerin der toten Seelen und zugleich als Garantin für den Neubeginn der Jahreszeiten; dieser Befund führte zum Titel Le soleil des morts des Comics. Wie aber war die damalige Gesellschaft organisiert? Houot und Gallay nahmen andere Gesellschaften zum Vorbild, die ebenfalls Megalithen erstellten, wie diejenigen auf den Osterinseln, d. h. in Ostasien und Ozeanien; weitere Beispiele finden sich auch in Afrika. Die - teilweise ethnologischen - Forschungen zu diesen Gesellschaften zeigen die Wichtigkeit von Verwandtschaftsbeziehungen, die Rolle der Ahnen, die Macht der Clanchefs und damit verbunden die Rivalitäten innerhalb der Gruppe sowie die Kriege gegen andere Clans. Aus diesen Einzelteilen entwickelten Houot und Gallay die Story, worin der Konflikt zwischen den rings um den Petit-Chasseur siedelnden Clans und den hinzuziehenden Männern der Glockenbecherkultur den Ausgangspunkt bildet. Letztere entführen Frauen, um ein Fortleben ihres Stammes zu ermöglichen. Missernten und Tierplagen bedrohen das Leben der autochthonen Bevölkerung; hinzu kommen Konflikte innerhalb der Führungsschicht. Erst als Aurore, die Tochter des alten Clanchefs, einen Hirten aus der Glockenbecherkultur heiratet, lernen die beiden Stämme, friedlich zu koexistieren. Alain Gallay fasst die verschiedenen Zielsetzungen seines Werks folgendermaßen zusammen: <?page no="22"?> 21 Mit dem Comic Unsere Universität unterwegs »Œuvre de fiction, cette bande dessinée a été conçue pour être lue à plusieurs niveaux. Il s’agit d’abord d’une œuvre romanesque; mais cette dernière est aussi un discours sur l’étranger, sur la confrontation avec l’autre et le métissage des cultures. Enfin le préhistorien y trouvera de quoi alimenter sa réflexion sur les problèmes soulevés par l’interprétation des vestiges archéologiques et par la restitution d’une image plausible de notre passé le plus lointain.« 14 Offensichtlich hatte die Bildgeschichte Erfolg. 1995 erschien eine zweite Auflage, begleitet von einer Ausstellung samt wissenschaftlichem Begleitkatalog. 15 Alain Gallay äußert sich als Szenarist darin noch einmal und ausführlicher zum Kontext von Le soleil des morts und räumt ein, dass die Verknüpfung von archäologischen Befunden und die Rekonstruktion einer Kultur ohne schriftliche Quellen ein heikles Unterfangen darstellt. 16 Bereits die Visualisierung der damaligen Lebensweise traf auf die Kritik der Spezialisten. 17 Ob die Gesellschaftsstrukturen und Glaubensvorstellungen im neolithischen Wallis zutreffend wiedergegeben sind, muss letztlich offenbleiben. 18 Das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen, die sich zuerst bekriegen und dann zu einem friedlichen Zusammenleben finden, entspricht einem gängigen und somit banalen Plot. 19 Wiktor Stoczkowski äußert sich bezüglich des narrativen Schemas von Le soleil des morts im gleichen Katalog deshalb sehr kritisch. Er verweist auf die ähnlich gelagerte Problematik der beliebten historischen Romane im 19. Jahrhundert, die auf Kosten der Wissenschaftlichkeit auf traditionelle Erzählmuster zurückgriffen. 20 Im Falle des Comics von Houot/ Gallay sieht er zwar eine »louable moralité« am Werk, aber er spricht auch von einem »conte populaire«, von der »simplicité des ingrédients« und sogar von »bana- 14 Gallay, Archéologie et bande dessinée, 156. 15 Ders., Alpes. 16 Ders., Archéologie et histoire, 9-22. 17 Ebd., 19f.: Die Spezies der abgebildeten Ratten existierte damals im Wallis noch nicht; Schweine fressen nie Kröten; Dächer aus Schilfrohr sind zu aufwändig. 18 Ebd., 19. Huot und Gallay hofften offensichtlich vergeblich auf eine diesbezügliche Kritik: »Nous attendons par contre toujours des objections fondées et argumentées touchant les composantes proprement culturelles de notre histoire.« Die unsichere Quellenlage ermöglicht aber weder eine Zustimmung noch eine Falsifizierung des Gezeigten. Zum Problem der Falsifizierbarkeit vgl. im gleichen Katalog Gardin, Éloge. Gardin warnt vor einer unbekümmerten Literarisierung archäologischer Befunde; entscheidend ist für ihn, dass Vermutungen und fiktionale Hinzufügungen klar deklariert werden. Im Falle von Unsere Universität geschah dies auf der letzten Seite. 19 Dies räumt auch Gallay, Archéologie et histoire, 19 ein, wenn er mit Kritik an seiner Geschichte als »catalogue d’idées reçues« rechnet. 20 Stoczkowski, Science, 37. <?page no="23"?> 22 Claudius Sieber-Lehmann lité«. Die Einfachheit des Plots verdecke schlimmstenfalls sogar die jahrelange archäologische Erschließungsarbeit, auf der die Visualisierung der neolithischen Gesellschaft im Comic beruhe. 21 Le soleil des morts vermittelt also archäologisches Anschauungsmaterial, aber eine relativ banale, überhistorische Botschaft, die auf Überresten und nicht auf anderen, lokalen Traditionen beruht. Das Werk entspricht damit der alten Maxime fabula docet und erfüllt die bekannten Forderungen, die Markus Tullius Cicero an die Geschichtsschreibung stellte: »Geschichte als Zeugin der Zeiten, als Licht der Wahrheit, als lebendige Erinnerung, als Lehrmeisterin des Lebens und als Botin des Altertums«. 22 Diese moralische Verpflichtung führt aber dazu, dass zwischen guten und bösen Rollen unterschieden werden muss; Geschichtsschreibung wird damit zu einem Gericht, das ein Urteil fällt, eine höchst umstrittene Rolle. 23 Im Falle von Comics, die gemäß der heute gängigen Definition von Scott McCloud dem Visuellen den Vorrang einräumen 24 , bedeutet dies, dass die »Bösen« auch entstellt gezeichnet werden. Im Fall von Le soleil des morts werden die Männer der Glockenbecherkultur als dumpfe Schläger dargestellt, und nur der Hirte besitzt als Vermittler zwischen den beiden Kulturen schöne Gesichtszüge. 25 Im Falle von Unsere Universität stellte sich dieses Problem kaum; nur die engstirnigen Ratsherren erhielten von Elena Pini wenig schmeichelhafte Köpfe. Entscheidend war indessen, dass die Protagonisten visuell klar unterschieden werden konnten: Johannes Knebel mit der Tonsur, Lulu mit der eleganten Kopfbedeckung, Kienlin mit der Brille usf. Grundsätzlich sind häufige Kleiderwechsel in einem Comic nicht vorgesehen, es sei denn, die Gesichtszüge der Heldinnen und Helden sind charakteristisch. Paradoxerweise schränkt die Freiheit, mit der historische Personen zeichnerisch erfunden werden können, gleichzeitig die visuellen Möglichkeiten ein. Die ProtagonistInnen müssen immer identifizierbar sein, und die LeserInnen sollen ihre gute oder böse Rolle innerhalb des Plots erkennen, wie wir bei Le soleil des morts bereits sahen. Ohne gleich auf das bekannte »sine ira et studio« zurückgreifen zu wollen, dem traditionellerweise die Geschichtswissenschaft verpflichtet sein sollte, so wird doch weiterhin von wissenschaftlich arbeiten- 21 Ebd., 38-44. 22 Cicero, De oratore (Lib. 2, 36): »Historia vero testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis, qua voce alia nisi oratoris immortalitati commendatur? « 23 Zur Problematik, Geschichtsschreibung als Urteilsforum zu verstehen, vgl. Graus, Einheit, 646 f. 24 Die klassische Definition findet sich bei McCloud, Comics, 17: »Comic: Zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und / oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen.« 25 Dazu kritisch Stoczkowski, Science, 39 f. <?page no="24"?> 23 Mit dem Comic Unsere Universität unterwegs den HistorikerInnen verlangt, dass sie eine gewisse Distanz zum Objekt ihrer Forschungen einnehmen, oder sie legen vorab ihre Perspektive offen. Im Falle eines Bildes ist dies viel schwieriger, wie an einem Beispiel gezeigt werden kann, das ungefähr zur gleichen Zeit wie die Gründung der Universität Basel 1460 spielt. Es handelt sich um die Burgunderkriege, die Auseinandersetzungen der Eidgenossenschaft mit Karl dem Kühnen in den Jahren 1474 -1477; der Konflikt wird in der historischen Forschung bis heute unterschiedlich beurteilt. Das klassische Bild der schweizerischen Historiographie zeichnet das Bild eines aggressiven und größenwahnsinnigen Fürsten und unterschlägt die Tatsache, dass von 1474/ 1475 die eidgenössischen Söldner die Waadt verwüsteten und in die Gebiete der Verbündeten Karls des Kühnen einfielen. 26 Wie sollte in einem Comic nun der Burgunderherzog gezeichnet werden? Als Bösewicht mit einer bedrohlichen Fratze? Dies wäre durchaus möglich, denn wir besitzen eine genaue Beschreibung seines Aussehens; sie war nötig geworden, um den entstellten Leichnam Karls des Kühnen nach der Schlacht von Nancy zu identifizieren. Die Einzelheiten sind erstaunlich und zeigen, dass der mächtige Fürst nicht besonders attraktiv aussah: Ausgeschlagene Oberzähne, lange Fingernägel usf. 27 Gleichzeitig besitzen wir die schönen Porträts von Rogier van der Weyden, die einen nachdenklichen, attraktiven jungen Mann von südländischem Typus zeigen. Welchen Karl sollen nun die ZeichnerInnen wählen? Sein Aussehen würde von Anfang an verraten, auf welcher Seite der Comic steht. L’image prime le texte. Diese alte semiotische Regel erschwert es Comics deshalb, ein historisches Ereignis aus verschiedenen Perspektiven zu zeichnen. Ein Ausweg bietet höchstens die Möglichkeit, einer Aussage die dazu im Widerspruch stehenden Gedanken der Beteiligten als wolkige Sprechblase gegenüberzustellen. So sagt Piccolomini als Pius II. auf seinem Sterbebett »Lu-«, was die Anwesenden als »luce« interpretieren; in Wirklichkeit denkt der Papst an seine geliebte Lulu. Ein besonders gelungenes Beispiel für die multiperspektivische Behandlung eines historischen Konflikts ist der Klassiker von Tardi C’était la guerre 26 Zur Geschichtsschreibung betreffend Burgunderkriege vgl. Sieber-Lehmann, Nationalismus, insbesondere 11-24. 27 Nach der Schlacht von Nancy musste Karl der Kühne von seinen Dienern identifiziert werden, da nur sein nackter, von Wölfen angefressener Körper gefunden wurde. Unter anderem besass der Burgunderherzog folgende Körpermerkmale: Ausgeschlagene Oberzähne, eine Narbe am Hals, eine Fistel am Unterbauch und die längsten Fingernägel am burgundischen Hof. Das bemerkenswerte Dokument findet sich im Anhang zur Chronique ou Dialogue entre Joannes Lud et Chrétien, secrétaires de René II, duc de Lorraine, sur la défaite de Charles le Téméraire devant Nancy, publié pour la première fois par Jean Cayon, Nancy 1844, 67. <?page no="25"?> 24 Claudius Sieber-Lehmann des tranchées 1914-1918. 28 Die Schrecknisse des Kriegs werden mit Hilfe von Kurzgeschichten gezeigt, wovon eine hier exemplarisch vorgestellt werden soll: Der leicht verletzte Soldat Mazure ersticht nach einer Schlacht seinen deutschen Gegner mit dessen Offizierssäbel und flüchtet, wobei er nicht weiß, welche Richtung er wählen soll. In einem verlassenen Dorf sucht er die Kirche auf und läuft unglücklicherweise in die Arme von Werner, eines deutschen Soldaten, der ihn gefangen nimmt. Zuvor hatte er zwei französische Kavalleristen getötet. Werner spricht gut Französisch, da er Hoteldiener in Nizza war. Die beiden beschließen einen Kuhhandel: Wenn die Deutschen ins Dorf kämen, wäre Mazure der Gefangene von Werner, im Falle der Franzosen wäre es umgekehrt. Nach langem Warten erobert ein französisches Regiment das völlig zerstörte Dorf. Ein Poilu findet die beiden im Keller und erschießt auf der Stelle den deutschen Landser. Mazure wird dagegen wegen Verlassen seines Postens und Feindkontakt vor ein französisches Kriegsgericht gestellt und am Folgetag hingerichtet. Tardi zeichnet die beiden Männer als Menschen mit einer verwüsteten Seele, aber weder Mazure noch Werner sind negativ charakterisiert. Die Gegnerschaft zwischen Welschen und Boches ist aufgehoben. Allerdings gehorcht C’était la guerre des tranchées keiner linearen Narrativität, sondern ist aus einzelnen Episoden zusammengesetzt. Mit dem Verzicht auf einen durchgehenden Plot kann Tardi - zum Glück! - eine klare Stellungnahme für die beiden Kriegsparteien umgehen, aber die Einzelszenen bleiben weniger im Gedächtnis haften als eine Erzählung mit einer narrativen Struktur. Aus wissenschaftlicher Sicht dokumentiert Tardi hingegen neuere historische Kenntnisse, nämlich dass die von den politischen Parteien aufgeputschte Gegnerschaft im Kriegsalltag dem wechselseitigen Wissen Platz machen musste, in einem grauenhaften Schlamassel zu stecken. Die drei Comics Le soleil des morts, Unsere Universität und C’était la guerre des tranchées markieren demnach drei Punkte auf einer Skala der Fiktionalität: Die neolithische Gesellschaft wird mit einem hohen Anteil von (banaler) Fiktionalität geschildert, der Comic zur Basler Universitätsgründung stützt sich auf historische Erkenntnisse und steht mit seinen aktuellen Bezügen in der Mitte, und Tardi schildert das elende Sterben in den Gräben des Ersten Weltkriegs mit wenig Fiktionalität, dafür mit einem harten Realismus. 28 Tardi, Guerre des tranchées; die Szene spielt auf S. 74-85. Tardi gewann für sein Werk 2011 den Eisner-Award in der Kategorie »beste, auf der Realität basierende Geschichte. Multiperspektivität prägt auch das Werk von Joe Sacco, vgl. bspw. Palästina oder das umwerfende Panoramabild Die Schlacht an der Somme. <?page no="26"?> 25 Mit dem Comic Unsere Universität unterwegs Ist eine wissenschaftlich angemessene Geschichtsschreibung mit Hilfe von Bildern möglich, wenn wir im Falle vormoderner Ereignisse über keine Photo-, Ton- oder Filmdokumente verfügen? Zweifellos, falls die MacherInnen die Fallstricke der Narrativität sowie die Macht der Bilder berücksichtigen und gleichzeitig sich bemühen, aktuelle Forschungsergebnisse in ihr Werk einzuarbeiten. Es sind vor allem die Graphic Novels, die sich aufgrund ihrer Länge und ihrer freieren Gestaltungsweise dafür eignen, differenzierte Sichtweisen auf die Vergangenheit zu vermitteln. 29 Comics sind dagegen kürzer, sie fokussieren auf ein Ereignis und verlangen eine prägnante Zuspitzung samt geradlinigem Plot. Allerdings gibt es Versuche, dieser Beschränkung zu entgehen, indem mehrere Comics aneinandergereiht und damit zu einer größeren Geschichte zusammengeführt werden. 30 Um ein historisches Thema aus verschiedenen Perspektiven und in einem einzigen Buch darzustellen, bietet die Graphic Novel derzeit aber wohl die besten Möglichkeiten, um Geschichte in Bildern gerade einem jungen Publikum zu vermitteln. Bezeichnenderweise widmete das Didaktik-Magazin Geschichte lernen im Jahre 2013 ein Heft dem Thema »Comics und Graphic Novels«. Im Editorial weisen René Mounajed und Stefan Semel auf die Vorzüge von gezeichneten Bildern in Comics und Graphic Novels hin: »Die Zeichnung ist ehrlicher als das Foto oder der Dokumentar- oder Historien-Film, die Objektivität nur vortäuschen und schon vor den Zeiten digitaler Bildbearbeitung ihr Realitätsversprechen nicht halten konnten. Die Konstruiertheit der Realität ist im Comic offensichtlicher.« 31 Im Vorwort des bereits erwähnten Werks zum Ersten Weltkrieg betont auch Tardi, dass sein Werk nur bedingt der Geschichtsschreibung zuzurechnen ist: »Grabenkrieg ist nicht das Werk eines Historikers, es handelt sich nicht um eine chronologisch korrekte Darstellung der Geschichte des Ersten Weltkrieges in Comic-Form, sondern um eine Abfolge einzelner Situationen [...]. Es war nicht meine Absicht, einen Katalog von Waffen und Uniformen zu produzieren [...]. Weggelassen habe ich auch alle Fakten von ›historischer Bedeutung‹, wie seit langem von Historikern belegt und analysiert worden sind. [...]. Mein Interesse galt den Menschen und ihren Leiden, und meine Empörung ist groß.« 32 Gerade dieser alltagsgeschichtliche Zugang zur »Urkatastrophe« des Zwanzigsten Jahrhunderts vermittelt aber einen sehr guten Einblick in das Grauen des Grabenkriegs und führt damit 29 Der Begriff »Graphic Novel« wurde von Will Eisner 1978 eingeführt. Er wollte damit die früheren »Comics«, die als Bücher für Kinder galten, aufwerten und eine neue visuelle Erzählform etablieren, die sich an der Form des Romans orientieren konnte (Platthaus, Fragen, 30 f.). 30 Ein Beispiel sind die 10 Bände von Die Türme von Bos-Maury von Hermann Huppen. 31 Mounajed / Semel: Geschichtserzählungen. 32 Tardi wird zitiert bei Bunneberg, Westen, 21. <?page no="27"?> 26 Claudius Sieber-Lehmann unweigerlich zur Frage, wie dieser Erste Weltkrieg überhaupt entstehen konnte. Das schreckliche Schicksal der beiden Soldaten Mazure und Werner kann deshalb sehr wohl einen Denkprozess anstoßen, der weiterführt und nach den Bedingungen fragt, wie es zur Katastrophe der Jahre 1914 -1918 kommen konnte. Die idealen LeserInnen würden deshalb nach der Lektüre C’était la guerre des tranchées 1914-1918 damit beginnen, die einschlägige Fachliteratur zu studieren ... Wenn Tardi damit kokettiert, keinen Katalog von Waffen und Uniformen hergestellt zu haben, so unterschlägt er seine ausgebreiteten Recherchen, die dazu führen, dass er historische Photos - beispielsweise vom Gas verletzte Engländer - als Zeichnungen einfügt. Überhaupt brilliert Tardi in seinen Werken immer mit einer genauen Wiedergabe der materiellen Welt, wobei das Medium des Comics mit dem Vor- und Zurückblättern der Seiten uns LeserInnen erlaubt, unter der Hand die Stimmung einer Epoche zu erfassen. Das zeigt insbesondere der meisterhafte Comic 120, Rue de la Gare, den Tardi 1988 nach einem Roman von Léo Malet zeichnete. Die Situation in Paris zwischen 1940 und 1944 sowie in der »Zone libre« von Vichy wird dank den Propagandaplakaten auf den Mauern sowie mit den patrouillierenden Soldaten sinnlich erfahrbar. Wie wird sich das Verhältnis zwischen Comic und Geschichtswissenschaft entwickeln? Die vielen Bildgeschichten historischen Inhalts, die jedes Jahr erscheinen, verweisen auf den großen Erfolg dieses Mediums, insbesondere im Bereich der Graphic Novels. Allerdings könnten neue mediale Formate die Comics an den Rand drängen. Einerseits erlaubt es die heutige Technik, animierte Bildfolgen mit geringem Aufwand herzustellen. Es genügt, Schauspieler in einem Studio zu filmen, um sie in der digitalen Postproduktion in verschiedenen Situationen und vor unterschiedlichen Hintergründen einzusetzen. 33 Gleichzeitig kann mit dem gleichen visuellen Material ein Game entwickelt werden, womit sich die im Film geschilderten Vorgänge spielerisch vertiefen lassen. Ein überzeugendes Beispiel für diese neue Form der Geschichtsvermittlung ist Griff nach der Weltherrschaft / The conquest of the seven seas, produziert von ARTE und ZDF im Jahre 2014. 34 Auf der entsprechenden Webpage finden sich zwei Filme über Magellan und Francis Drake, ein Strategiespiel und das Bordbuch Magellans. Letzteres lässt sich durchblättern, und regelmäßig erläutern HistorikerInnen die neusten Erkenntnisse der Forschung. Das visuelle Erscheinungsbild der Filme, die sich zwischen Rea- 33 Die stupenden Möglichkeiten digitaler Bildverarbeitung zeigte bereits der gänzlich digital produzierte Film The Life of Pi von Ang Lee aus dem Jahr 2012. Inzwischen entwickeln sich die Möglichkeiten von Computer Generated Imagery (CGI) sprunghaft. 34 http: / / www.conquestofthesevenseas.com [10. Januar 2015]. Der Webauftritt ist viersprachig. <?page no="28"?> 27 Mit dem Comic Unsere Universität unterwegs lismus und graphischer Abstraktion bewegen, lässt kein Zweifel daran, dass es sich um eine rekonstruierte Welt handelt. Die an der Produktion beteiligte Firma »Filmtank« hält auf ihrer Webseite deshalb explizit fest: »Die dokumentarische Spurensuche entlang der damaligen Routen von Magellan und Drake wird in ihren Schlüsselszenen und dramatischen Wendepunkten in einer bei Geschichtsdokumentationen bisher noch nicht gesehenen Ästhetik erzählt. 3D-Animationen und digital bearbeitete Reenactments im Studio und an Originalschauplätzen erzeugen größtmögliche Nähe zu den Ereignissen, ohne jedoch geschichtlichen Realismus vorzutäuschen.« 35 Können Comics und Graphic Novels die traditionelle Geschichtsschreibung beeinflussen, welche vormoderne Quellen interpretiert, in einen Zusammenhang stellt und bisweilen durch Bilder ergänzt? Am ehesten könnte der Montagecharakter von Bildgeschichten die gängige wissenschaftliche Schreibweise beeinflussen. Zwischen jedem Panel befindet sich bekanntlich ein Hiatus 36 , der durch die Phantasie der LeserInnen überbrückt werden muss, um die narrative Kontinuität zu gewährleisten. Diese Fähigkeit stellt eine eigentliche Kulturtechnik dar, denn es gibt (vor allem ältere) Personen, die einen Comic nicht verstehen; Ähnliches lässt sich bei den Mangas beobachten, die von japanischen LeserInnen viel schneller gelesen werden als von EuropäerInnen. Der Einschnitt zwischen den Panels reizt auf jeden Fall die Vorstellungskraft stärker als ein kontinuierlich laufender Text, er verlangt aktive Rezipienten, die sich auf das Gezeigte einlassen müssen. Vergleichbares wird neuerdings in Texten versucht, beispielsweise wenn wir 1913: Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies aus dem Jahre 2012 lesen. Die einzelnen Textschnipsel fügen sich im Kopf der Lesenden zu einem Gesamtbild der »Belle Époque«, ergänzt durch die im Buch eingestreuten Bilder. Dies erinnert an den Kuleschow-Effekt aus der Frühzeit des Kinos, wo Filmemacher versuchten, durch die Montage von zwei aufeinanderfolgenden Sequenzen den ZuschauerInnen die Bedeutung einer Situation zu vermitteln. Berühmt ist das Beispiel, wie sich der Ausdruck eines Schauspielers zu ändern scheint, wenn nach seinem immer gleichen Porträt ein Teller Suppe, eine junge Frau oder ein Sarg montiert wird. Die ZuschauerInnen verbinden damit die Begriffe »Hunger«, »Lust« und »Tod«, auch wenn der Gesichtsausdruck des Schauspielers sich nie ändert. Davon ausgehend ließe sich eine neue Geschichtsschreibung denken, die durch Lücken, Brüche und Gegensätze sowie die parallele Montage von Texten und Zeichnungen in der Phantasie der Leserschaft eine vormoderne Vergangenheit dergestalt entstehen lässt, dass wir uns ins Bild gesetzt fühlen. 35 http: / / www.filmtank.de/ p/ conquestofthesevenseas_de/ [10. Januar 2015.] 36 McCloud spricht von »gutter« (»Rinnstein«) (McCloud, Comics, 74 ff.). <?page no="29"?> 28 Claudius Sieber-Lehmann Bibliographie Edgar Bonjour: Die Universität Basel, Basel 1960. Jean-René Bory (Hg.): Die Schweizer Geschichte, unter der Leitung von Jean-René Bory, 4 Bde., Neuchâtel 1981-1983. Christian Bunneberg: Aus dem Westen was Neues? Der Erste Weltkrieg in der Graphic Novel Grabenkrieg von Jacques Tardi, in: Geschichte lernen 153/ 154 (2013), 12-21. Marcus Tullius Cicero: De oratore (Lib. 2, 36). Jean Cayon (Hg.): Chronique ou Dialogue entre Joannes Lud et Chrétien, secrétaires de René II, duc de Lorraine, sur la défaite de Charles le Téméraire devant Nancy, publié pour la première fois par Jean Cayon. Nancy 1844. Alain Gallay (Hg.): Dans les Alpes à l’aube du métal. Archéologie et bande dessinée. Exposition à Sion, Musée cantonal d’archéologie et Bibliothèque municipale, 22 septembre 1995-7 janvier 1996, hg. v. Musées cantonaux du Valais, Sion 1995. Alain Gallay: Archéologie et bande dessinée, in: Bulletin du Centre Genevois d’Anthropologie 3 (1991-1992), 154-156. Alain Gallay: Archéologie et histoire. La tentation littéraire, in : ders. (Hg.) Dans les Alpes, à l’aube du métal. Archéologie et bande dessinée, Sion 1995, 9-22. Jean-Claude Gardin, L’ éloge de la littérature et ses ambiguïtés dans les sciences historiques in: Alain Gallay (Hg.), Dans les Alpes à l’aube du métal. Archéologie et bande dessinée, Sion 1995, 23-33. František Graus: Die Einheit der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 231 (1980), 631-649. Heiko Haumann: Hermann Diamanski: Überleben in der Katastrophe. Eine deutsche Geschichte zwischen Auschwitz und Staatssicherheitsdienst, Köln / Weimar / Wien 2011. Hermann Huppen: Die Türme von Bos-Maury, 10 Bde., Hamburg 1986-1994. Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2012 Alejandro Jodorowsky (Text) / Theo (Bild): Le pape terrible, Bd. 1-3, Paris 2009- 2013. Lustige Taschenbücher, Jubiläumsausgabe Bd. 150, Stuttgart 1993, 63-107. Scott McCloud: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, 2. Auflage, Hamburg 2001. René Mounajed / Stefan Semel: Visuelle Geschichtserzählungen, in: Geschichte lernen 153/ 154 (2013), 2-11. Andreas Platthaus: Die 101 wichtigsten Fragen. Comics und Manga, München 2008. Claudius Sieber-Lehmann: Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft, Göttingen 1995. Claudius Sieber-Lehmann (Konzept/ Autor) / Andreas K. Heyne (Text) / Elena Pini (Illustration): Unsere Universität. Der Comic zur Gründung der Universität Basel 1460, hg. von der Universität Basel, Basel 2009. Rolf Soiron: Krisen in goldener Zeit. Der Basler Rat und seine Universität zu Beginn des 16. Jahrhunderts, Basel 2003. Martin Steinmann: Das Gratulationsschreiben der Stadt Basel zur Wahl Papst Pius’ II. im Jahre 1459, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 81 (1981), 175-178. <?page no="30"?> 29 Mit dem Comic Unsere Universität unterwegs Wiktor Stoczkowski: La science inénarrable, in: Alain Gallay (Hg.), Dans les Alpes à l’aube du métal. Archéologie et bande dessinée, Sion 1995. Lawrence Stone: The revival of narrative. Reflections on a new old history, in: Past and Present 85 (1979), 3-24. J ac qu es T ar di : C ’é ta it l a guer re des t ra nché es 1914-1918, T ou rn ai 1993. Jacques Tardi / Leo Malet: 120, Rue de la Gare, Paris 1988. Wilhelm Vischer / Heinrich Boos / August Bernoulli (Hg.): Johannis Knebel capellani ecclesiae Basiliensis Diarium, in: Basler Chroniken 2, Leipzig 1880, Basler Chroniken 3, Leipzig 1887, 1-271. Martin Wallraff et al. (Hg.): Schatzkammern der Universität Basel. Die Anfänge einer 550-jährigen Geschichte. Katalog zur Ausstellung, hg. im Auftrag des Rektorats, Basel 2010. Film/ Internet The Life of Pi, Film von Ang Lee, 2012. http: / / www.conquestofthesevenseas.com [10. Januar 2015] http: / / www.filmtank.de/ p/ conquestofthesevenseas_de/ [10. Januar 2015.] Bildnachweis Abb. 1- 3: Claudius Sieber-Lehmann (Konzept/ Autor)/ Andreas K. Heyne (Text)/ Elena Pini (Illustration): Unsere Universität. Der Comic zur Gründung der Universität Basel 1460, hg. von der Universität Basel, Basel 2009. Abb. 1: Innenseite vorderer Buchdeckel, Abb. 2: S. 43, Abb. 3: S. 40. <?page no="32"?> 31 Im Schatten der Geschichte Wie Maus, Grabenkrieg und Buddha Geschichte vermitteln Christian Gasser Geschichte und Comic. Das ist eine lange und komplizierte Geschichte. Zum einen haftete dem Comic lange der Ruch der Verdummungslektüre an, die kindliche und jugendliche Leserinnen und Leser zum Analphabetismus erzog. Paradoxerweise aber war der Comic schon früh gut genug, wenn es darum ging, Analphabetismus-gefährdeten Kindern einen »niederschwelligen« Zugang zu Literatur und Geschichte zu bieten. Das Problem dieser pädagogisch wertvollen Comics: Sie waren in der Regel langweilig und redundant, Auftragsarbeiten ausgeführt von Autoren und Zeichnern, die vielleicht etwas von Geschichte, beziehungsweise Illustration verstanden, aber keine Ahnung von Comics hatten. Erst mit der Emanzipation des Comics von der reinen Genre- und Serien- Unterhaltung zu einer Ausdrucksform, die den persönlichen Ausdruck erlaubte, begann auch eine interessante Auseinandersetzung mit der Geschichte, jenseits von Belehrung und Abenteuern vor historischer Kulisse. Plötzlich griffen Comic-Autoren aus persönlichen Gründen (zeit-)geschichtlich relevante Themen auf. Wären seine Eltern nicht Auschwitz-Überlebende gewesen, hätte sich Art Spiegelman nie mit dem Holocaust befasst. Ohne die Erfahrungen seines Großvaters und seines Vaters in den Weltkriegen, würden sich Tardis Comics über den ersten Weltkrieg nicht so radikal von den handelsüblichen Kriegsabenteuern unterscheiden. Hätte Osamu Tezuka im Leben Buddhas nicht eine Möglichkeit gesehen, sich mit seinem eigenen humanistischen und pazifistischen Welt- und Menschenbild auseinanderzusetzen, hätte er es nicht auf über 3000 Seiten aufgezeichnet. Maus, Grabenkrieg und Buddha sind Autoren-, keine Auftragscomics. Obschon die Autoren keine Historiker sind, haben sie ihre Stoffe gut recherchiert, bleiben aber durchaus subjektiv; die Leser erfahren viel über die Themen - aber die Faktendichte ist weniger entscheidend als die emotionalen Erfahrungen, die diese Comics vermitteln, und die Strategien, mit denen sie das Mitdenken einfordern. Diese Erfahrungen sind nachhaltig: Belehrcomics vergisst man in der Regel sofort - Maus, Grabenkrieg und Buddha hingegen graben sich tief ein. <?page no="33"?> 32 Christian Gasser Von Mäusen und Masken Art Spiegelmans Maus und Im Schatten keiner Türme Art Spiegelmans Holocaust-Comic Maus ist einer der bedeutendsten Comics überhaupt, aus inhaltlichen und formalen Gründen, aber auch wegen seiner bis heute anhaltenden Wirkung. Maus hat sowohl den Comic entscheidend vorangebracht, als auch die Holocaust-Diskussion um neue Aspekte bereichert. So sprach Art Spiegelman beispielsweise als einer der Ersten die traumatisierende Wirkung des Holocausts auf die Kinder der Überlebenden an, außerdem reflektierte er mit seltener Konsequenz die Darstell- und Vermittelbarkeit des Holocausts. Art Spiegelman stand allerdings unter skeptischer Beobachtung, als er 1978 an Maus zu arbeiten begann, der Lebensgeschichte seiner Eltern, polnischen Juden, die Auschwitz überlebt hatten. Ein Comic über den Holocaust? Und erst noch mit Tierfiguren? Darf man das? Nein, das durfte man damals nicht. 1978 galten Comics als Kinderkram, als Schund und Schmutz, als eskapistisches Abenteuer, allenfalls als subversive Underground-Provokationen, aber ganz gewiss nicht als eine Ausdrucksform, die sich mit so ernsthaften und komplexen Themen wie dem Holocaust beschäftigen sollte. Nicht überraschend war deshalb die Frage eines deutschen Journalisten: Ob es denn nicht geschmacklos sei, einen Comic über Auschwitz zu zeichnen. Art Spiegelmans Replik: Seiner Meinung nach sei Auschwitz geschmacklos gewesen. Von diesem Unbehagen ließ sich Art Spiegelman nicht beirren. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust war für ihn aus persönlichen Gründen existenziell, und der Comic war nun mal seine Ausdrucksform. Dem Comic verfallen Art Spiegelman kam 1948 in Stockholm zur Welt, als der Sohn von Wladek und Anja Spiegelman, deren erster Sohn Richieu in einem Lager gestorben war. 1951 wanderten die Spiegelmans in die USA aus und ließen sich in New York nieder, wo Wladek Spiegelman als Diamantenhändler ein Vermögen machte. Als kleiner Junge verfiel Art den Comics. Auf einem Foto aus dem Frühjahr 1960 sitzen Art und seine Mutter auf der Veranda ihres Hauses in Queens: Die Sonne scheint, Art trägt kurze Hosen, und mit einem strahlenden Gesicht <?page no="34"?> 33 Im Schatten der Geschichte zeigt er seiner Mutter ein Comic-Heft. Anja Spiegelman förderte Arts künstlerische Neigungen - im Gegensatz zum Vater, einem geizigen und gefühlskalten Menschen, der darin nur Zeitverschwendung sah. Mit 15 veröffentlichte Spiegelman seine ersten Comics, schon damals ohne Superhelden oder lustige Tiere. Als in den späten Sechzigerjahren die Underground-Comix aufkamen, rutschte Art Spiegelman ganz natürlich in diese Szene hinein. Robert Crumb, Gilbert Shelton und andere griffen die Themen auf, die die bewegte Jugend der Sechzigerjahre beschäftigten: Sex, Drogen, Rock’n’Roll, Politik. Vor allem entdeckten die Underground-Autoren das Potenzial des Comics, persönliche Dinge auszudrücken: Das was sie selbst dachten und fühlten und erlebten. Die Underground-Comix befreiten den amerikanischen Comic von seinen Stereotypen und Genres, von seinen Superhelden und vom harmlosen Humor für die ganze Familie. History = his story 1972, in der Kurzgeschichte »Gefangener auf dem Höllen-Planeten«, setzte sich Art Spiegelman zum ersten Mal mit dem Schicksal seiner Eltern auseinander. In expressionistischen und holzschnittartigen Zeichnungen schilderte er die Gefühlsschwankungen zwischen Schuld und Wut, die der Selbstmord seiner Mutter ausgelöst hatte. Diese vier Seiten waren im damaligen Kontext überaus ungewöhnlich und verstörend und für Art Spiegelman eine Schlüsselerfahrung: »Ich habe lange gezweifelt, ob ich ›Gefangener auf dem Höllenplaneten‹ überhaupt veröffentlichen sollte. Aber ich wusste, dass ich diese Geschichte zeichnen musste. Ich musste mich der Erinnerung an ein Ereignis stellen, das ich vergessen oder besser: verdrängt hatte: Den Selbstmord meiner Mutter. Kaum hatte ich diese Erinnerung ausgegraben, schmiss ich meine anderen Comics weg.« 1 Sechs Jahre später, 1978, als in den USA die mehrteilige Fernseh-Dokumentation »Holocaust« ausgestrahlt wurde, begann Art Spiegelman mit der Arbeit an Maus. Die Grundlage waren lange Gespräche mit seinem Vater. Wladek Spiegelman erzählte seinem Sohn von den unbeschwerten Dreißigerjahren in Polen, von seiner großen Liebe zu Anja, er schilderte den Ausbruch des zweiten Weltkriegs und die deutsche Besetzung Polens, die ersten 1 Alle Zitate und O-Töne Art Spiegelmans stammen aus Interviews und Gesprächen, die der Autor zwischen 1992 und 2007 mit ihm führte. <?page no="35"?> 34 Christian Gasser Pogrome, die Gettos, die Jahre auf der Flucht und in unsicheren Verstecken, die Geschäfte auf dem Schwarzmarkt und den Verrat: Anja und Wladek wurden von zwei angeblichen Fluchthelfern an die Nazis verkauft und nach Auschwitz deportiert. Maus beschreibt das Überleben im Konzentrationslager, die Befreiung, die Todesmärsche und nicht zuletzt die Schwierigkeiten im Leben nach Auschwitz. Diese weitgehend chronologisch erzählte Lebensgeschichte verknüpft Art Spiegelman mit zwei weiteren Zeitebenen. Auf einer zweiten Ebene setzt sich Art Spiegelman mit der schwierigen Beziehung zu seinem Vater auseinander und konfrontiert die Aufzeichnung der »oral history« mit einem virulenten Vater-Sohn-Konflikt. Anjas Selbstmord hatte die Beziehung zwischen Art und Wladek endgültig zerrüttet; sie konnten nur miteinander reden, ohne sofort zu streiten, wenn ein Mikrophon zwischen ihnen stand. Da wachsen die Biographie des Vaters und die Autobiographie des Sohns zusammen. Art Spiegelman schildert sein Aufwachsen im Schatten des Holocausts, über den seine Eltern ihm gegenüber nie sprachen, und die traumatisierende Wirkung des Holocausts auf die Nachkommen der Überlebenden - ein Aspekt, der in der Holocaust-Forschung zuvor kaum betrachtet worden war. Auf einer dritten Ebene reflektiert Spiegelman im zweiten Teil von Maus auch den Erfolg seines Comic-Romans und die daraus resultierenden Lähmungen und Depressionen; er reflektiert die Fragen, die ihm in Interviews gestellt wurden und die gewählte Form und ihre Angemessenheit für das Thema. Geschichte, so Spiegelman, lässt sich nur indirekt vermitteln. »Beschäftigt man sich zu direkt mit den Fakten, verlieren sie an Wirkung.« In Maus bricht er ein Stück Weltgeschichte auf etwas Persönliches, Kleines herunter: Auf die Lebensgeschichte seiner Eltern, auf seine Auseinandersetzung mit seinem Vater, auf die Wirkung des Schicksals seiner Eltern auf sein eigenes Leben. »Falls es so etwas wie ein thematisches Rückgrat gab, dann Folgendes: Geschichte ist das, was Menschen widerfährt. So einfach ist das.« Deshalb konzentrierte er sich auf seine Eltern. »Mir gefällt, dass man im Englischen ›history‹ auch als ›his story‹ lesen kann. Für mich war es wichtig, die Geschichte in einem kleinen Maßstab zu halten; ich wollte die Menschen weder zu Helden machen, noch auf zweidimensionale Figuren reduzieren.« Und: »Nur die Verbindung des Persönlichen mit dem Politischen erzeugt sinnvolle Geschichten. Sonst ist man entweder zu ich-bezogen oder macht Propaganda.« <?page no="36"?> 35 Im Schatten der Geschichte Ein Zeichner erfindet sich neu Maus ist kein Werk, das ein Underground-Comix-Zeichner einfach so runterrotzte - Maus ist ein akribisch durchdachtes, bis ins letzte Detail geplantes, sehr kohärentes und konsequent umgesetztes Werk, in welchem Form und Inhalt eine Einheit bilden, und das die Geschichte in einer Art und Weise aufarbeitet, wie nur der Comic es mit seiner Verknüpfung von Bild und Text leisten kann. Art Spiegelman ist kein Zeichner mit einem angeborenen oder angelernten »Stil«. Er ist ein konzeptioneller Autor, der für jede Geschichte nach dem passenden Stil sucht. Vor Maus zeichnete er experimentelle (später im Band »Breakdowns« veröffentlichte) Comics, in denen er auf großen, kunstvoll komponierten Seiten die klassischen Genres und Erzählweisen des Comics unterlief und untersuchte, wie weit Text und Bild auseinander klaffen können, ohne dass die Geschichte ihren Sinn verliert. In Maus erfand sich Spiegelman neu: Die Seiten sind kleinformatig, der Strich ist spröde und nüchtern, die Schwarzweiß-Zeichnungen sind reduziert und schmucklos. Bild und Text sind eng miteinander verzahnt, die Bilder führen kein Eigenleben, sondern stehen ganz im Dienst der Geschichte. Der Leser soll die Bilder nicht betrachten, sondern lesen. Wichtiger als das einzelne Bild und sein ästhetischer Gehalt, sind seine Verknüpfung mit dem Text und die Bewegung, die von einem Bild zum nächsten führt. Erst die Kombination von Text, Bild und Bewegung ergibt Sinn - das ist nichts anderes als eine Definition des Comics. Ähnlich bewusst sind das Skizzenhafte und die Verletzlichkeit der Zeichnungen: Sie beanspruchen weder Autorität noch Deutungshoheit, sie sind fern von historischem Realismus. Sie vermitteln keine allgemeingültige historische und persönliche Wahrheit, sondern höchstens den Versuch einer Annäherung, die aber nie abgeschlossen sein kann. Mit jedem Strich macht Spiegelman deutlich, dass er nur aufzeichnet, was sein Vater erzählt. Die Zeichnungen sind so brüchig wie der Prozess des Erinnerns selber. Der Eindruck von Skizzenhaftigkeit und Spontaneität täuscht jedoch. Er war das Resultat harter und hartnäckiger Arbeit: Gewisse Kästchen hat Art Spiegelman bis zu 40 Mal gezeichnet, bis sie so einfach und schmucklos waren, wie er sich das wünschte. Mit seinen betont un-emotionalen Zeichnungen, die sich allem Pathos, aller Dramatisierung, aller Heroisierung verweigerten, reagierte Spiegelman nicht zuletzt auf die Nazipropaganda, die das emotionale Potenzial von Bildern instrumentalisiert hatte. Der Leser von Maus soll nicht überwältigt, nicht mitgerissen werden, im Gegenteil. <?page no="37"?> 36 Christian Gasser Verknüpfungen und Brüche Die Sinneinheit im Comic ist nicht das Einzelbild, sondern die Seite, allenfalls sogar die Doppelseite. Die Comic-Lektüre ist immer mehrschichtig. Der Leser muss nicht nur mehr oder weniger simultan Text und Bild entziffern und zusammenbringen, sondern nimmt auch die Seite als Ganzes wahr, also das Vor- und Nachher von jedem Einzelbild. Im geschriebenen Text und im Film gibt es diese Gleichzeitigkeit verschiedener Informationen nicht: Der neue Satz, das neue Bild schieben das Vorhergehende weg. »Im Gegensatz zur landläufigen Meinung«, betont Spiegelman immer wieder, »ist der Comic eine hoch komplexe Ausdrucksform. Man muss nicht nur als Autor und als Zeichner leidlich begabt sein, sondern auch fähig sein, Wort und Bild zu etwas Dritten zu verbinden, das mehr ist als die Summe seiner Einzelteile.« So kann Art Spiegelman auf einer (Doppel-)Seite mehrere Zeitebenen einander gegenüberstellen. Diese Verknüpfungen, aber auch die Brüche und Zeitsprünge verunmöglichen eine lineare Lektüre, sie verunmöglichen auch das Eintauchen des Lesers in eine historische Abenteuergeschichte. Immer- Abb. 1: Reflektieren des Schreibprozesses <?page no="38"?> 37 Im Schatten der Geschichte sion ist unmöglich, weil wir immer wieder den Erzähler Wladek oder seinen Sohn in der Gegenwart sehen oder zumindest Wladek im Off als Erzähler hören. Art Spiegelman ist überzeugt, dass die hybride Form des Comics unserem Denken mehr entspricht als das Wort oder das Bild allein. Der Leser navigiert von einer Bedeutungsebene zur nächsten, von einer Bewusstseinsebene in die nächste. Diese konstante Bewegung hält den Leser wach und aufmerksam; er arbeitet, er denkt mit, er vervollständigt die Lücken zwischen den Wörtern und den Bildern. Das schafft in Maus auch die notwendige Distanz für kriti- Abb. 2: Kennzeichen verschiedener Zeitebenen <?page no="39"?> 38 Christian Gasser sches Mitdenken, die Grundlage für eine echte, rationale Auseinandersetzung mit dem irrationalen Horror des Holocausts - eine Auseinandersetzung auch, die deutlich macht, dass der Holocaust noch längst nicht abgeschlossen ist, sondern immer noch weiter wirkt. Hitler als Mitarbeiter Ein andere Strategie zum Schaffen von Distanz löste die wohl hitzigsten Debatten rund um Maus aus: Art Spiegelmans Rückgriff auf die Gattung der Tierfabel und/ oder den klassischen Funny Animal Comic in der Tradition von »Krazy Kat« bis »Mickey Mouse«: Er zeichnete die Juden als Mäuse, die Deutschen als Katzen, die Polen als Schweine. Das wird ihm bis heute immer wieder zum Vorwurf gemacht - das sei nicht weniger rassistisch als die Rassenlehre der Nazis. Gegen diesen Vorwurf hat sich Spiegelman immer gewehrt: »Mein Problem war, dass ich Hitler als Mitarbeiter hatte. Ich habe lediglich seine Metaphern verwendet - es war schließlich seine Idee, gewisse Völker als Ungeziefer zu betrachten. Wichtig war für mich, die Metaphern so zu verwenden, dass sie sich selber zerstören: Am Schluss sehen die Leser Wladek nicht als Maus, sondern als Menschen, sie sehen Polen, die sich vorbildlich und andere, die sich schrecklich verhielten. Letztlich sind diese Tiergesichter nur Masken.« Tatsächlich sind die Tiermetaphern genial. Sie funktionieren so gut, weil sie so simpel und einleuchtend sind, weil sie provozieren und herausfordern, weil sie immer wieder gebrochen werden. Die Tiermasken befreiten Maus von vielen Ansprüchen, die Art Spiegelman nicht erfüllen wollte, zuallererst vom Anspruch des historischen Realismus in den Zeichnungen. Sie befreiten Spiegelman auch von der Schwierigkeit, Juden, Polen und Deutsche zu zeichnen, ohne äußerliche Klischees zu bedienen. Dazu kommt die Macht der Abstraktion. Es ist kein Zufall, dass viele populäre Comic- und Trickfilmikonen betont einfache, geradezu abstrakte Gesichter haben: »Tintin«, »Charlie Brown« und, um bei den Mäusen zu bleiben, »Mickey Mouse« sind ein paar Beispiele unter vielen. Abstrakte, reduzierte Punkt-Punkt-Komma-Strich-Gesichter bieten eine größere Projektionsfläche für den Betrachter; gleichzeitig sind sie universaler - eine interessante Kombination. In Charlie Brown erkennt man sich besser als in einer realistisch und <?page no="40"?> 39 Im Schatten der Geschichte individualisiert gezeichneten Figur. Das ist ein Vorteil des Comics gegenüber dem Realfilm, dessen fotografische Bilder immer alles zeigen, was die Kamera sieht, und der nur begrenzte Möglichkeiten zu Stilisierung, Abstraktion und Universalisierung hat. Das Fehlen einer äußeren Individualisierung macht diese Mäuse, Katzen und Schweine zunächst einmal zu Typen: Der Jude, der Pole, der Deutsche, später auch der Amerikaner. Auf einer zweiten Ebene gibt Spiegelman seinen Figuren durch ihr Verhalten, durch ihre Gestik, durch ihre Kleidung eine Persönlichkeit. Jeder Leser weiß, dass Wladek keine Maus ist, sondern ein Mensch. Das wissen wir auch von KZ-Wärtern, die durch ihre Uniformen vordergründig sehr anonym wirken, sich aber durch ihr Verhalten voneinander unterscheiden. Der aufmerksame Leser begreift rasch, dass sich hinter den Tieren und Typen Menschen und Individuen verbergen. Er sieht Mäuse, Schweine und Katzen im selben Raum und fragt sich: Warum sehen sich die Mäuse, Schweine und Katzen nicht als das, was sie sind: Menschen? Vielsagend ist etwa die Szene, in der Wladek sich eine Schweinemaske überzieht, um seine jüdische Identität zu verstecken. Oder das Bild der Katzen, die mit Schäferhunden Mäuse aufspüren. Oder Spiegelmans Überlegungen, wie er seine französische und Wladek zuliebe zum Judentum konvertierte Frau Françoise Mouly zeichnen soll - als Fröschin? Oder doch auch als Maus? Mit diesen Tiermetaphern entlarvt Spiegelman, wie beliebig und künstlich die Beziehung zwischen Identität, Nationalität und Ethnizität sein kann. Man kann Spiegelman vieles vorwerfen, nicht aber, dass er mit seinen Tiermasken die Rassentheorien der Nazis unterstützt. Das Gegenteil ist der Fall. Eine antisemitische Karikatur Für nicht weniger Debatten - vor allem in jüdischen Kreisen - sorgte Art Spiegelmans Porträt seines Vaters. Er brach mit der Tradition, Holocaust-Opfer schonungsvoll zu behandeln und sie als Heilige und Märtyrer zu verklären. Wladek Spiegelman ist kein guter und schon gar kein sympathischer Mensch, und vor allem muss er ein schrecklicher Vater gewesen sein. Der Überlebenskampf nahm im KZ ungeheuerliche Dimensionen an. Wo es ums nackte Überleben geht, bleiben Menschenwürde und Menschlichkeit auf der Strecke. Wladek überlebt Auschwitz nur, weil er der schlauere Händler ist, ein Opportunist. Er spürt instinktiv, wen er sich zum Freund machen muss und welche Wärter sich bestechen lassen. Schnell lernt er, die Dinge höher einzuschätzen als die Menschen. <?page no="41"?> 40 Christian Gasser Wladek ist kein Held, keine Identifikationsfigur. Auschwitz hat ihn nicht geläutert. Überlebt hat Wladek als griesgrämiger, egozentrischer und krankhaft geiziger Tyrann mit rassistischen Zügen. »In mancher Hinsicht entspricht er genau der antisemitischen Karikatur des geizigen alten Juden«, sagt Spiegelman in Maus. Diesen Tabubruch haben ihm viele nicht verziehen - aber er brachte wichtige Diskussionen in Gang. Art Spiegelman hält nichts von der Vorstellung, dass das Martyrium den Menschen verbessere: »Das ist eine christliche Idee. Beim Leiden fällt mir nur eines ein: Es schmerzt. Würde das Leiden den Menschen läutern, hätte es ja einen Sinn. Aber das Leiden ist sinnlos. Manche Menschen kamen größer aus dem KZ heraus, andere kleiner, wiederum andere haben sich im KZ irgendwie nicht verändert. Es grenzt an Verachtung zu denken, dass die Überlebenden besser oder schlechter sind als die Toten. Das Überleben war reiner Zufall. Hätte der Krieg ein Jahr länger gedauert, wäre mein Vater vermutlich gestorben. An einer Krankheit oder in einer Gaskammer.« Auch mit dem schonungslosen Bild seines Vaters schafft Art Spiegelman Distanz: Er verunmöglicht es dem Leser, sich mit bequemer Sympathie-Zuweisung und Mitgefühl für das Opfer aus dem Holocaust-Horror zu schummeln. Es gibt keine versöhnliche Auflösung. Es gibt kein Happy End. Der Holocaust geht weiter. Keine Auf- und Erlösung Maus ist ein in vielerlei Hinsicht sehr erfolgreiches Werk: Die Brüchigkeit der Darstellung, die Brüche und Widersprüche, die Lückenhaftigkeit von Erinnerung und Oral History, die provokativen Metaphern, die Verschränkung mehrerer Zeitebenen, der autobiographische Ansatz und nicht zuletzt das negative Bild des Opfers Wladek - all das verhindert, dass Maus zu einem Stück Holocaust-Erbauungsliteratur wird, das der Leser mit dem Gefühl zuklappt, nun habe er mit seiner Holocaust-Gedenkstunde ein bisschen Buße geleistet. Nein, Art Spiegelman macht es uns nicht einfach. Er macht deutlich, dass sich Auschwitz letztlich nicht erfassen lässt. Es gibt keine versöhnliche Moral, keine Auf- und Erlösung. Wir können dem Horror von »Mauschwitz« nicht entfliehen, wir werden immer wieder auf uns zurückgeworfen, wir müssen <?page no="42"?> 41 Im Schatten der Geschichte darüber nachdenken und arbeiten. Das ist nicht das geringste Verdienst von Maus. Als 1992, nach 14jähriger Arbeit, der abschließende zweite Band von Maus erschien, hatte Spiegelman bewiesen, dass der Comic in der Lage ist, jedes Thema auf eine ihm inhaltlich wie formal angemessene Art zu verarbeiten. Der Autor Spiegelman erhielt den Pulitzerpreis, der Zeichner Spiegelman wurde mit einer Einzelausstellung im Museum of Modern Art in New York geehrt, Maus erhielt auf allen Comic-Festivals der Welt wichtige Preise und schaffte es auf die Bestseller-Liste der New York Times. Und Spiegelman selber? Für ihn habe Maus keine kathartische Wirkung gehabt, betont er. Der Erfolg von Maus wurde zum Problem. Der Erfolg lähmte ihn künstlerisch, das führte zu Depressionen. Zehn Jahre lang zeichnete Art Spiegelman keinen einzigen Comic. Er zeichnete Titelbilder für The New Yorker, hielt Vorträge, schrieb. Zertrümmert in tausend Bruchstücke Erst als die Zeitgeschichte wieder mit seinem Leben kollidierte, kehrte er zum Comic zurück. Das war am 11. September 2001. Seine Tochter Nadja war drei Tage zuvor in eine Schule ganz in der Nähe des World Trade Center eingeschult worden. »An diesem Morgen«, erinnert er sich, »war ich überzeugt, ich würde sterben. Das ist vermutlich die beste Motivation, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: In meinem Fall sind das Comics.« In Im Schatten keiner Türme schildert Spiegelman auf zehn großformatigen Seiten, die zunächst in der deutschen Wochenzeitung Die Zeit erschienen, wie seine Frau und er ihre Tochter suchen, während der erste Turm - und später der zweite - einstürzt. Seine Reflektion über die Wochen nach dem 11. September ist eine schwindelerregende, von Zweifeln und Selbstzweifeln, von paranoiden Wahnvorstellungen, von beißender Satire, allerhand Theorien und schwarzem Humor beschleunigte Irrfahrt durch den amerikanischen Alptraum. Seine Rundumschläge richten sich nicht nur gegen den Terror von außen - bereits auf der ersten Seite drückt er seine Wut aus über die Instrumentalisierung von 9/ 11 durch die Bush-Regierung, von der er sich gleichermaßen terrorisiert fühlt wie von der Al-Kaida. Beeindruckend ist dabei einmal mehr Spiegelmans Umgang mit der Form: Die Größe der Seite erlaubt ihm, gestalterisch die Höhe der verschwundenen Türme aufzugreifen. Außerdem sind die Comics gelayoutet wie Zeitungssei- <?page no="43"?> 42 Christian Gasser ten: Art Spiegelman fügt auf derselben Seite verschiedene, sich bisweilen ergänzende, manchmal auch widersprechende Stile, Textsorten und inhaltliche Ansätze. Und nicht zuletzt spielt er, der besessene Liebhaber des Zeitungscomics, mit unzähligen Verweisen auf klassische Figuren wie Little Nemo, Krazy Kat oder die Katzenjammer Kids und klischierte Slapsticksituationen. Aber auch die spektakuläre Form ist alles andere als ein Selbstzweck, sondern der Versuch, den Zustand seines Lands, seiner Stadt, aber auch seiner selbst zu verstehen: »Im Schatten keiner Türme ist ein Kriegstagebuch über die Befindlichkeit meiner Stadt und meines Gehirns im Monat nach dem 11. September: Ich fühlte mich zertrümmert in tausend Einzelteile und versuchte, die Scherben zu Comic-Bildern zusammen zu fügen.« Im Schatten keiner Türme ist nur zehn zeitungsformatige Seiten kurz - und doch gibt es kaum eine eindringlichere Auseinandersetzung mit diesem amerikanischen Trauma. Art Spiegelmans Arbeit ist der Beweis, wie verdichtet und mit welcher Komplexität der Comic ein zeitgeschichtliches Ereignis vermitteln kann, wenn Wort und Bild so bewusst und raffiniert zueinander in Verbindung gesetzt werden. Dennoch kehrt Art Spiegelman immer wieder zu seinem Lebensthema zurück, zuletzt im aufschlussreichen MetaMaus, in welchem er in einem langen Interview die Entstehungsgeschichte von Maus nachzeichnet. Er hat sich längst damit abgefunden, dass er Maus nicht loswerden kann. »Egal was ich noch schaffe«, sagt er halb resigniert, halb stolz, »auf meinem Grabstein wird eine riesige Maus sitzen …« Der Krieg im Comic Jacques Tardi: Geschützdonner und Grabenkoller Kriegsgeschichten haben im Comic eine lange Tradition. Man kann zurückgehen bis zu Gustave Doré, der sich bereits 1854 mit seinem anti-russischen Comic Histoire de la Sainte Russie auf satirische Weise in den Krimkrieg einmischte. Spätestens in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts wurden Kriegsgeschichten zum kommerziell bedeutenden Comic-Genre. Wie anderswo in der populären Kultur erfüllten Kriegscomics alle möglichen Aufgaben: Sie dienten der Propaganda, sie stillten das Bedürfnis nach Helden und Hel- <?page no="44"?> 43 Im Schatten der Geschichte dentum, sie inszenierten den Krieg als Spektakel oder schilderten seine Zerstörungswut, sie wollten und wollen einfach unterhalten oder im Gegenteil pazifistisch aufklären. Der gezeichnete Krieg krankt oft an denselben Problemen wie die Darstellung des Kriegs im Film: Auch die lautersten und pazifistischsten Absichten werden in den meisten Fällen durch die Macht der Bilder unterlaufen und mutieren dank der Schilderung von spektakulären Kriegshandlungen, männlicher Tatkraft, Kameradschaft, existenziellen Extremsituationen und ähnlichem unwillentlich zur Heroisierung des Kriegs. Nicht so in Jaques Tardis Comics über den ersten Weltkrieg: Der 1946 geborene Jacques Tardi ist der lebende Klassiker des französischen Comics. Seine größte Obsession ist der erste Weltkrieg, mit dem er sich in seiner knapp 50jährigen Laufbahn immer wieder auseinandergesetzt hat. Grabenkrieg und Elender Krieg sind seine Versuche, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts beizukommen. Es gelingt ihm - weil er sehr konsequent die herkömmlichen erzählerischen und gestalterischen Strategien des Comics unterläuft. Der blutrote Torpedo Jacques Tardis Großvater hatte Verdun und die deutsche Kriegsgefangenschaft überlebt; im zweiten Weltkrieg war Tardis Vater, ein Berufsoffizier, in deutsche Gefangenschaft geraten. Beide, Großvater und Vater, redeten nie oder nur höchst ungern über ihre Kriegserfahrungen, was natürlich das Interesse des kleinen Jacques am Krieg verstärkte. Sein Militärdienst tat das Übrige, um aus ihm einen glühenden Antimilitaristen zu machen - und gleichzeitig seine Auseinandersetzung mit dem Krieg anzuregen. Tardis Obsession für den ersten Weltkrieg bildet das Rückgrat seines Werks, in welchem er sich mit der Geschichte Frankreichs der letzten 150 Jahre, von der Pariser Kommune bis in die Gegenwart, beschäftigt. Die erste Comic-Kurzgeschichte nach einem eigenen Szenario, La torpedo rouge-sang (1970), zeichnete die Lebensgeschichte des Autos nach, in welchem Erzherzog Franz-Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajewo ermordet wurde. 1993 veröffentlichte Tardi sein Meisterwerk Grabenkrieg, 2008 und 2009 folgte das ursprünglich zweibändige Elender Krieg. <?page no="45"?> 44 Christian Gasser Die Routine des Schreckens Es gäbe keine »Helden«, keine »Hauptfiguren« im erbärmlichen kollektiven »Abenteuer« Krieg, verheißt Jacques Tardi im Vorwort zu Grabenkrieg, lediglich einen gigantischen und anonymen Aufschrei der Agonie. Und genau das bringt Tardi zum Ausdruck: In ruhigen, breiten Bildern schildert Tardi kleine Alltagsgeschichten aus den Schützengräben des ersten Weltkriegs: Alles trieft nur so vor Dreck und Schlamm, die Soldaten werden zynisch irgendwelchen surreal anmutenden strategischen Zielen geopfert, da gibt es keine Helden, sondern nur Schiss und Feigheit, den Schnaps vor dem Bajonettangriff, Grabenkoller, Versuche der Selbstverstümmelung, um den Gräben zu entfliehen, zensierte Briefe von und nach zuhause, Durchfall und Hoffnungslosigkeit. Tardi ist kein Historiker, aber er hat »la grande guerre« gründlich recherchiert. In Grabenkrieg wollte er den ersten Weltkrieg nicht erklären, und ebenso wenig lag ihm an der Chronologie der kriegerischen Ereignisse und den Statistiken der Materialschlacht. Er interessiert sich nicht für die Offiziere, für die politische Räson, für militärische Strategien und nur ganz am Rand für wirtschaftlich-industrielle Zusammenhänge - ihn interessieren die Schicksale der einfachen Soldaten, die ihren Höfen, Fabriken und Familien entrissen und als Kanonenfutter an die Front geschickt wurden. Kein Heroismus, nur Schmerz und Leiden. Es gibt mehrere Gründe für die Eindringlichkeit und den künstlerischen Erfolg von Grabenkrieg. Alle haben damit zu tun, dass Tardi mit seltener Konsequenz das klassische Comic-Erzählen unterläuft: Tardi verzichtet auf eine Hauptfigur, er erzählt bewusst undramatisch, und das Buch ist nicht Teil einer Serie, sondern steht für sich. Weder Identifikation noch Immersion Tardi verzichtet in Grabenkrieg auf eine Hauptfigur und hält die Anekdoten um verschiedene Soldaten, die nichts miteinander zu tun haben, so nüchtern und so kurz, dass der Leser unmöglich eine Beziehung zu den Protagonisten aufbauen kann. Man fühlt zwar mit den meist namenlosen, anonymen Soldaten mit, doch verhindert Tardi die Identifikation, die den Schrecken relativieren könnte. Grabenkrieg ist nicht einfach ein weiterer Band in einer endlosen Reihe von Büchern, die immer wieder ähnliche Geschichten um dieselben Hauptfiguren erzählen, sondern ein in sich geschlossenes und abgeschlossenes Werk. <?page no="46"?> 45 Im Schatten der Geschichte Das verleiht ihm eine höhere Glaubwürdigkeit, einen schon fast dokumentarischen Charakter, während Serien immer etwas Unglaubwürdiges anhaftet. Tardi verzichtet auf einen eigentlichen Plot, auf eine abenteuerliche Geschichte, die auf einen dramatischen Höhepunkt zusteuert und am Schluss aufgelöst wird - und uns aus der Spannung erlöst und aus der Geschichte entlässt. Ganz im Gegenteil: Tardi schildert den Krieg als Abfolge gleichförmiger Tage bei ständiger Bedrohung. Er verzichtet weitgehend auf kunstvoll inszenierte Explosionen und Schlachtenbilder - bei ihm bedeutet Geschützdonner Tod. Er vermeidet rührseligen Frontkitsch, er vermeidet die Beschwörung von Heldentum und männlicher Kameradschaft - »la grande guerre« ist nur erbärmlich, zynisch, grausam und sinnlos. Formal bringt er dies zum Ausdruck, indem er immer gleich breite Bilder einsetzt. Der Verzicht auf eine dynamische Seitengestaltung vermeidet die Dramatisierung des Geschehens. Bewusst baut Tardi keine Spannung auf, sondern hält den Leser lieber auf Distanz - mitfiebern ist unmöglich. Gleichzeitig schafft das gezeichnete Bild durch seine Interpretation der Realität, durch Reduktion und Abstraktion Distanz zwischen dem Gezeigten und dem Betrachter: Es überwältigt diesen weniger als ein fotografisches oder bewegtes Bild. Das Grauen ist zwar nicht weniger deutlich - aber Tardi lässt dem Betrachter mehr Spielraum bei der Wahrnehmung und Verarbeitung. Dank seiner strengen und stringenten Erzählweise umgeht Tardi in Grabenkrieg alle Klischees und Fallen, die aus so vielen Filmen, Büchern und Comics mit gut gemeinten pazifistischen Absichten unfreiwillig heroisierende Zelebrierungen kriegerischen Geschehens machen. Der Fluss der Farben Das gilt, wenn auch in minderem Masse, auch für Elender Krieg, das Tardi zusammen mit dem Historiker Jean-Pierre Verney geschrieben hat. In Elender Krieg führt uns ein einfacher Soldat als Erzähler durch den Krieg, chronologisch und konkret. Auch dieser Soldat bleibt namenlos und taucht raffinierterweise kaum je selber im Bild auf. So macht Tardi aus dem Erzähler einen den Durchschnittssoldaten verkörpernden Typen und verunmöglicht unsere Identifikation mit diesem unsichtbaren »Nicht-Helden«. Auch in Elender Krieg wird die distanzierende Wirkung durch die undynamische Bildsprache - drei breite Bilder pro Seite - verstärkt. Elender Krieg beginnt jedoch, und das ist für den <?page no="47"?> 46 Christian Gasser Abb. 3: Kriegsalltag ohne Helden <?page no="48"?> 47 Im Schatten der Geschichte Schwarzweiß-Stilisten Tardi eher unüblich, in Farbe. Von Jahr zu Jahr werden die Farben matter und morastiger, bis sie schließlich, 1918, zu einem Schwarzweiß mit schmutzigen Grautönen werden. Kein Zweifel, auch Elender Krieg ist eine überzeugende Auseinandersetzung mit dem ersten Weltkrieg. Der Vergleich der beiden Bücher macht aber deutlich, wie kühn der in Grabenkrieg gewählte Ansatz war. Elender Krieg erzählt den Krieg chronologisch nach, der zwanzig Seiten starke Anhang von Jean- Pierre Verney liefert weitere Daten, Fakten, Informationen und Zusammenhänge. Man kann bei der Lektüre von Elender Krieg also auch »etwas lernen«. Anders Grabenkrieg, das keinerlei vordergründige schulisch-didaktische Absichten verfolgt, sondern sich in erster Linie mit der Sinnlosigkeit und Monstrosität des Kriegs auseinandersetzt, egal wo und wann er stattgefunden hat oder stattfindet. Jacques Tardi macht es uns nicht einfach. Letztlich verdeutlicht er immer wieder, dass sich der Schrecken des ersten Weltkriegs nicht erfassen lässt - es gibt wie bei Art Spiegelman keine Auf- oder Erlösung, wir werden immer wieder auf uns zurückgeworfen. Und das ist nicht das geringste Verdienst von Tardis Comics über den ersten Weltkrieg: Sie zwingen uns zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Krieg - oder dem Krieg überhaupt. Der lange Weg zur Erleuchtung Osamu Tezukas Buddha Gegen Ende seines Lebens besucht Buddha den machtgierigen König Ajatasattu, der, beraten von Buddhas abtrünnigem Jünger Devadatta, nicht nur seinen Vater stürzte und einkerkern ließ, sondern auch Buddha mit einem Pfeil beinahe getötet hat. Ajatasattu ist krank - das Gift, das der falsche Mönch Devadatta ihm einflößte, um ihn besser zu beherrschen, führt zu einer schmerzhaften Schwellung auf seiner Stirn. Buddha heilt den König, indem er einen Finger auf die Geschwulst drückt, drei Jahre lang. Nach drei Jahren wird er endlich mit einem Lächeln belohnt - und dieses Lächeln löst die letzte große Erkenntnis Buddhas aus. Er habe geglaubt, sinniert Buddha euphorisch auf dem Gipfel eines Bergs, man könne nur durch strenge Übungen Erleuchtung erlangen - dabei wohne allen Menschen Göttlichkeit inne! Da ist Buddha zwar schon seit über vierzig Jahren »der Erleuchtete«, und seine Lehre erreicht immer mehr Menschen in den diversen Königreichen Indiens. Und doch bleiben Buddha und seine Lehre in Bewegung, und er nutzt <?page no="49"?> 48 Christian Gasser die ihm verbleibende Zeit, um seinen Schülern diesen letzten Mosaikstein seiner Philosophie weiterzugeben. Erst dann macht er sich auf ins Nirwana. Geschichte und Legenden Im Gegensatz zum Holocaust und zum ersten Weltkrieg liegt das Leben Buddhas viel weiter zurück. Und während der Holocaust und der erste Weltkrieg bestens dokumentiert sind und aus immer wieder neuen Blickwinkeln erforscht werden, besteht die Lebensgeschichte eines Religionsstifters traditionellerweise aus einigen überprüfbaren Fakten und vielen Legenden, die sich zum Teil erst postum um dieses Leben zu ranken beginnen und das Bild dieser Figur zum Teil stärker prägen als die historische Realität. Bei Buddha und Jesus, die beide nichts Schriftliches hinterlassen haben, ist das besonders offenkundig. Das bedeutet, dass die buddhistische Lehre - wie auch das Christentum - sich im Lauf der Jahrhunderte gewandelt und immer wieder neue Deutungen erfahren hat. Mehr als ein Chronist des ersten Weltkriegs wird ein Buddha- Biograf dessen Leben, Lehre und Wirken interpretieren und eigene Schwerpunkte setzen müssen. Der Leser einer Buddha-Biografie wiederum muss sich dessen bewusst sein - gerade ein Leser, der - wie der Schreibende - weder einen persönlichen Bezug zum Buddhismus noch ein großes Vorwissen mitbringt. Er muss sich immer wieder die Frage nach der Motivation, der Perspektive und dem historischen Kontext Tezukas stellen, zumal Tezukas andere Comics sich nicht durch einen besonders religiösen Charakter auszeichnen. Wenn der Leser nicht ständig alles überprüfen will, muss er sich dem Autor anvertrauen, im Wissen um die Relativität des Vermittelten. Der Gott der Manga Der 1928 geborene Osamu Tezuka gilt als der Begründer des modernen japanischen Comics, des Manga, und wird in Japan bis heute als »Gott des Manga« verehrt. Das liegt nicht nur an seinem immensen Ausstoß - bei seinem Tod 1989 hinterließ er 150.000 Comic-Seiten, 600 Geschichten und Serien und um die 60 Animationsfilme -, sondern vor allem an seinem nachhaltigen Einfluss auf den japanischen Comic. <?page no="50"?> 49 Im Schatten der Geschichte In den Jahren nach dem Krieg schuf Tezuka den Manga, wie wir ihn heute kennen. Im Gegensatz zu seinen Vorläufern setzte er, unter dem Einfluss des amerikanischen Kinos, filmische Erzähltechniken in seinen Bildgeschichten um. Mit unterschiedlichen Blickwinkeln und Bildausschnitten, mit Speedlines und Soundeffekten und einer bewegten Seitengestaltung definierte er die dynamische Bildsprache, die bis heute zu den Eigenheiten des Manga gehört. Wichtiger noch waren Tezukas inhaltliche Neuerungen: Nur ein Jahr nach seinen Anfängen als Gag-Comic-Strip-Zeichner, 1947, legte der damals 19jährige Medizinstudent mit dem 200 Seiten dicken Buch Die neue Schatzinsel den ersten epischen Manga vor, der sich sensationelle 400.000 Mal verkaufte - das war die Geburtsstunde des so genannten »Story Manga« und damit der heutigen, nicht selten mehrere tausend Seiten langen Manga-Zyklen und -Romanen. Zeit seines Lebens war Tezuka ein Neuerer, der mit großem Erfolg Comics für alle Altersgruppen und Gesellschaftsschichten schuf. Es gab kaum ein Genre oder einen Themenkomplex, die nicht er eingeführt oder zumindest entscheidend mitgestaltet hätte - das geht vom typisch japanischen Mädchencomic über dystopische Science-Fiction-Alpträume, muntere und zugleich fortschrittsskeptische Robotergeschichten um den atomgetriebenen Astro Boy, Abenteuergeschichten für Jugendliche, philosophische Erzählungen, einen Politthriller wie Adolf, einer fiesen Krankheits- und Ausgrenzungsgeschichte wie Kirihito bis hin zum 4.000 Seiten langen mystisch-psychedelischen Trip Hin O Tori. Durch die geradezu schwindelerregende Vielfalt dieses Werks schlängelt sich aber ein roter Faden: Der von Hiroshima gezeichnete Tezuka war ein Humanist und Pazifist, und diese Überzeugungen durchdringen auch Buddha. Erleuchtung unter der Pappelfeige In Tezukas Werk nimmt das zehnbändige Buddha, das zwischen 1972 und 1983 entstand und sich an alle Altersgruppen richtet, eine Sonderstellung ein: Buddha ist unbestreitbar eines von Tezukas Meisterwerken. Auf über 3.000 Seiten erzählt Tezuka, wie im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung aus dem kränklichen Königssohn Siddhartha Gautama der Begründer des Buddhismus wurde. Tezuka schildert Siddhartas Lehr- und Wanderjahre nicht in Form einer esoterisch verklärten Abhandlung, sondern als ein opulentes Abenteuer-Epos mit Dutzenden von Schauplätzen und zahlreichen Figuren und Handlungslinien. <?page no="51"?> 50 Christian Gasser Dabei nahm sich Tezuka etliche Freiheiten und verknüpfte bekannte Fakten und Legenden mit eigenen Zutaten. Die Handlung aber dient immer dazu, die zentralen Aussagen der buddhistischen Lehre zu vermitteln und sie in ihrem, allerdings vereinfacht dargestellten historischen Kontext zu zeigen, vor dem Hintergrund politischer Unruhen, von Kriegen zwischen den kleinen nordindischen Königreichen, von Aufständen, Hungersnöten und Seuchen. Als der wohlbehütete Königssohn Siddharta bei einem ersten Ausbruch aus dem Palast unvermittelt mit dem Alltag der mehrheitlich elenden Bevölkerung konfrontiert wird, beginnt seine Auseinandersetzung mit ihren Lebensbedingungen. Das führt zu seiner ersten Rebellion - und zur Ablehnung des Kastensystems. Schließlich, mit 29, zieht Siddharta die Konsequenzen aus seinem Unbehagen: Er verlässt den Königshof, seine Frau und seinen eben geborenen Sohn und wird zum Suchenden, der getrieben vom Durst nach Wahrheit und Weisheit von einem Meister zum anderen zieht und in der Askese seine Vervollkommnung anstrebt. Diese Odyssee durch den esoterischen Kosmos Indiens und seiner exzentrischen Gurus, Scharlatane und deren nahezu selbstmörderischen asketischen Exzesse schildert Tezuka vor allem im fünften Band mit köstlicher parodistischer Zuspitzung. Mit 35 hat der schmächtige Jüngling, unter einer Pappelfeige sitzend, seine - zeichnerisch prächtig ausgestaltete - Erleuchtung und nennt sich fortan nicht ganz unbescheiden Buddha, der Erleuchtete. Das ist der Anfang des zweiten, nicht weniger beschwerlichen und abenteuerlichen Teils: Buddha wandert weiterhin, begleitet von einer wachsenden Gemeinschaft sehr unterschiedlicher Jüngerinnen und Jünger, durch das Land und predigt zu Menschen aller Schichten und Kasten. Ungefährlich ist das nicht - zumal nicht nur weltliche Machthaber und andere religiöse Führer seine Lehre bekämpfen, sondern auch unter seinen Anhängern Machtkämpfe und Intrigen ausgefochten werden und Betrug und Verrat drohen. Anachronismen Buddha hatte für Osamu Tezuka eine große Bedeutung - nicht zuletzt diente ihm Buddhas Lebensgeschichte dazu, sein eigenes, humanistisches und pazifistisches Welt- und Menschenbild zum Ausdruck zu bringen. Die persönliche Bedeutung liest sich an der Sorgfalt ab, mit der Tezuka die Figuren zeichnete und die Handlungslinien dieses vielstimmigen Epos verknüpfte - und dabei <?page no="52"?> 51 Im Schatten der Geschichte die erzählerischen Brüche und gewisse psychologische Plattitüden, die in anderen seiner Comics bisweilen stören, vermeidet. Seiner Neigung zu albernem Klamauk und anachronistischem Slapstick, einem seiner Markenzeichen, kann er freilich auch hier nicht widerstehen: Immer wieder fallen die Figuren aus ihrer Zeit und ihren Rollen oder durchbrechen die vierte Wand, sie schwärmen von amerikanischen Filmstars oder reden von modernen Erfindungen wie dem Telefon und dem Auto. Ein Prinz wird von seiner Mutter gerügt, weil er Tezukas Kindercomics Kimba und Astro Boy verschlingt, und mehrmals beklagen sich Figuren bei ihrem Autor und Zeichner über ihre Behandlung oder rühmen seine erzählerischen Kniffe. Den Höhepunkt dieser Anachronismen leistet sich ein Höfling des Königs Ajatasattu: Den Trick mit dem Fingerauflegen kenne er aus einem Film - ob Buddha etwa »E.T.« sei? Dieser Gag kommt drei Seiten bevor Buddha zu seiner finalen Erkenntnis gelangt - der Stilbruch könnte brutaler kaum sein. Wollte Tezuka mit diesen Anachronismen auf die Unsicherheit der Faktenlage hinweisen? Wollte er deutlich machen, dass jede Lebensgeschichte Buddhas eine in ihrer jeweiligen Entstehungszeit verwurzelte Interpretation ist? Dass wir Buddhas Lebensgeschichte nur aus unserer Zeit heraus verstehen können (und vielleicht auch: sollen)? Wollte er uns damit auf Distanz halten? Sind diese anachronistischen Scherze Teil eines narratologischen Konzepts, das auf die Ungewissheit allen historischen Erzählens verweist? Man möchte es gerne bejahen, um Tezuka vor sich selbst zu schützen. Tatsache ist jedoch, dass er in so gut wie allen seinen Büchern damit spielt. Die Wahrheit ist wohl einfacher: Vermutlich hielt er es für notwendig, die Handlung auch von Buddha aufzulockern. Die japanischen Leser, die Tezuka mit der Muttermilch aufgesogen hatten, waren vermutlich so an Tezukas Eigenheiten gewöhnt, dass sie diese Stilbrüche als Teil seiner Erzählweise akzeptierten, ja erwarteten. Anders bei uns: Die Inkongruenz dieser Anachronismen gerade im Zusammenhang mit einer ansonsten ernsthaften und alles andere als karikaturistischen Auseinandersetzung mit einem Religionsstifter widerspricht den westlichen Leseerwartungen. Dass Tezuka sie in Buddha durchaus mit größerer Zurückhaltung einbaut als in anderen Büchern, ändert nichts daran, dass sie uns stören und verwirren. <?page no="53"?> 52 Christian Gasser Abb. 4: Spiel mit anachronistischen Anspielungen 253 Aber im Ernst… Ich kenne keinen zweiten Ort, der so abweisend und kalt ist wie dieser Thronsaal. Ihr solltet die Stufen entfernen, die den König von den Menschen trennen! Eine unerhörte Forderung! Seid nicht albern… Man könnte vielleicht sagen, dass ich ein Arzt bin. Ein Arzt, der die Herzen der Menschen heilt. So was hab ich mal im Kino gesehen. Seid Ihr E.T., Buddha? Richtig, der Film hieß »E.T.«… Fantastisch! Buddha hat ihn mit der Fingerspitze von seinen Leiden befreit! Entweder hat er Wunderkräfte oder Buddha ist der größte Arzt der Welt! Buddha… Wie steht es um Seine Majestät? <?page no="54"?> 53 Im Schatten der Geschichte Visionärer Bildersog Diesen Makel macht die Bildsprache allerdings mehr als wett. In Buddha zieht der Meister alle Register seines Könnens: Seine Zeichnungen sind klar, präzise und doch sehr lebendig, sie verbinden kindliche Rundlichkeit, abstrakte Stilisierung und abgeklärte Reife. Genau wie Siddhartha auf dem Weg zu sich selbst ruhen die Bilder manchmal meditativ in sich selbst, schwingen sich in kühne Visionen empor oder explodieren dynamisch mit der Handlung - und verschmelzen zu einem Bildersog, dem man sich kaum entziehen kann. Was Buddha-Fachleute von Tezukas Buddha halten, entzieht sich meiner Kenntnis. Es ist auch nicht so wichtig. Trotz des persönlichen Zugriffs auf das Leben Buddhas, trotz der Freiheiten beim Erzählen, trotz der Anachronismen bleibt nach dieser Lektüre zweifellos mehr Wesentliches von Buddhas Lehre hängen als nach der Lektüre eines historisch vielleicht korrekteren und spirituell genaueren Comics. Denn Tezuka ist - wie Art Spiegelman und Jacques Tardi - ein Meister des Comics, ein Virtuose des Erzählens in Bildern. Im Gegensatz jedoch zu den uns auf Distanz haltenden Tardi und Spiegelman lässt er uns tief eintauchen in die Gedankenwelten Buddhas und in dieser Immersion an ihnen teilhaben. Das ist, je nach Thema, auch eine Strategie beim Vermitteln von Geschichte - und in Buddha ist sie sehr erfolgreich. Bibliographie Gustave Doré: Histoire de la Sainte Russie, Neuauflage, Straßburg 2014. Art Spiegelman: Breakdowns: Portrait des Künstlers als %@*! , erweiterte Neuauflage, Frankfurt 2008. Art Spiegelman: Die vollständige Maus, Neuauflage in einem Band, Frankfurt 2008. Art Spiegelman: Metamaus, Frankfurt 2012. Art Spiegelman: Im Schatten keiner Türme, Hamburg 2011. Jacques Tardi: Grabenkrieg, Neuauflage, Zürich 2014. Jacques Tardi / Jean-Pierre Verney: Elender Krieg 1914 -1919, Gesamtausgabe, Zürich 2014. Jacques Tardi: La Torpedo rouge sang, in: ders, Mouh Mouh, Paris 1979, 11-16. Osamu Tezuka: Buddha, 10 Bde., Hamburg 2012-2015. Bildnachweis Abb. 1: Art Spiegelman: The complete Maus, London u.a. 2003, S. 176 Abb. 2: Art Spiegelman: The complete Maus, London u.a. 2003, S. 209 Abb. 3: Osamu Tezuka: Buddha, Bd. 10: Nirwana, Hamburg 2014, S. 253. Abb. 4: Jacques Tardi/ Jean-Pierre Verney: Elender Krieg 1914 -1919, Gesamtausgabe, Zürich 2014, S. 22. <?page no="56"?> 55 Breaking News: Die Völkerschlacht bei Leipzig Ein Interview mit Katja Wildermuth Francisca Loetz / Marcus Sandl: Frau Wildermuth, Sie sind promovierte Althistorikerin und Leiterin der Redaktion »Geschichte und Gesellschaft« beim MDR FERNSEHEN. Großen Erfolg hatten Sie mit dem Format der »Breaking News« zur Völkerschlacht bei Leipzig, das am 14. und dem 17. Oktober 2013 ausgestrahlt wurde. Geschichte ist im Programm der Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ein fester Bestandteil. Das entspricht einerseits dem Bildungsauftrag, dem die ARD und das ZDF per Gesetz verpflichtet sind. Andererseits werden Geschichtsformate immer wieder zur Primetime ausgestrahlt und erzielen dabei erstaunlich gute Quoten. Sie beeinflussen damit das öffentliche Geschichtsbewusstsein viel mehr als es die Geschichtswissenschaft kann. Diskutieren Sie intern über diese »Definitionsmacht« über das kollektive Gedächtnis Ihres breiten Publikums? Wie setzen Sie bei Ihren Programmplanungen Bildungsauftrag und Quote in Bezug zueinander? Katja Wildermuth: In unserer Programmplanung versuchen wir, sowohl Themen einzubringen, von denen wir wissen, dass die Zuschauer sich dafür bereits interessieren, als auch andere, unbekanntere Themen zu beleuchten. Nehmen wir beispielsweise die Erinnerungskultur zur DDR-Geschichte. Bei unseren Zuschauern in Mitteldeutschland besteht immer noch großes Interesse an der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, und zwar quer durch die Altersstufen. Deshalb erreichen Programme mit diesem zeitlichen Fokus in der Regel hohe Zuschauerakzeptanz, wovon die von Ihnen angesprochene Quote ein Teil ist. Andererseits möchten wir als Rundfunkanstalt mit öffentlichem Bildungsauftrag natürlich auch auf andere Themen aufmerksam machen, die jenseits der kollektiven Erinnerungskultur liegen. Bei diesen Themen, sei es die Völkerschlacht 1813, aber auch das Leben von Mystikerinnen im Mittelalter oder die Befreiung der Konzentrationslager 1945, haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, den Zuschauern durch besondere Formen des Erzählens einen Zugang zum Thema zu ermöglichen. Generell sind wir uns des Einflusses, den TV-Dokumentationen mit einer halben Million Zuschauer und mehr auf das öffentliche Geschichtsverständnis haben, sehr bewusst. Deshalb ist der Spagat zwischen einer wissenschaftlich <?page no="57"?> 56 Francisca Loetz / Marcus Sandl - Katja Wildermuth adäquaten Darstellung komplexer historischer Zusammenhänge und deren Übersetzung in fernsehgerechte Erzählformen eine ständige Herausforderung. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Das Verhältnis zwischen FachhistorikerInnen und FernsehmacherInnen ist bisweilen kompliziert. Aus der Geschichtswissenschaft kommt häufig der Vorwurf, die Verfilmungen vereinfachten zu sehr, während Filmproduzierende zum Vorwurf neigen, die Geschichtswissenschaft schließe sich zu sehr in ihrem Elfenbeinturm ein. Sie kennen aufgrund ihrer Biographie beide Seiten. Wie beurteilen Sie das Verhältnis von Geschichte im Film und Geschichte als Wissenschaft? Katja Wildermuth: Das Verhältnis zwischen Geschichte im Film und Geschichte als Wissenschaft ist symbiotisch (oder sollte es sein): Historische Fernseh-Formate profitieren von den Erkenntnissen der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Gleichzeitig kann die Geschichtswissenschaft von der Reichweite des Fernsehens profitieren; so werden Forschungsresultate einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt und verlassen den berüchtigten Elfenbeinturm der Wissenschaft. Dennoch sind die angesprochenen gewissen Spannungen zwischen Geschichte im Film und Geschichte als Wissenschaft nicht zu leugnen. Denn: Die Arbeit der Geschichtswissenschaft lässt sich nicht eins zu eins auf Film und Fernsehen übertragen. Die Arbeit der Historiker besteht aus der Analyse von Quellen, die von allen Seiten beleuchtet, hinterfragt und auf ihre Glaubwürdigkeit hin geprüft werden. Bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einer Quelle weisen Historiker in ihren Analysen auch immer auf Schwachstellen und Grenzen ihrer Arbeit und vermeintlich eindeutiger Erkenntnisse hin. Abb. 1: Homepage zur Völkerschlacht als »Breaking News« <?page no="58"?> 57 Breaking News: Die Völkerschlacht bei Leipzig - Ein Interview Im Fernsehen ist das anders. Das liegt einerseits am linearen Erzählen - man kann eben weder zurückblättern noch anhalten noch Fußnoten lesen noch parallele Stränge nebeneinander legen. Und es liegt natürlich auch daran, dass dem Fernsehen neben der Aufgaben der Wissensvermittlung und Glaubwürdigkeit auch ein unterhaltsamer Charakter innewohnt. Und: Beide »Welten«, die der Wissenschaft und die des Massenmediums, bedienen ganz unterschiedliche (auch unterschiedlich große) Zielgruppen. Wenn wir ein historisches Ereignis für das Fernsehen aufarbeiten, dann recherchieren wir zuerst gründlich, sprechen mit Experten und hinterfragen - genau wie in der Wissenschaft - die Glaubwürdigkeit unserer Quellen. Wenn dann aber die Produktion startet, stellen wir nicht den Prozess der Erarbeitung, sondern das Ergebnis unserer Recherchen selbst dar. Für den Zuschauer ist es, da haben Sie Recht, meist nicht ersichtlich, dass Geschichte lediglich ein Thesenkonstrukt der Historiker und keinesfalls ein »So war es wirklich« ist. Auch wenn meiner Beobachtung nach die Rolle des vermeintlich allwissenden Erzählers - meist dunkle männliche Stimme aus dem »Off« - in neueren Produktionen abgelöst wird durch verstärktes Fragen und fragmentarischere Darstellungen. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Gibt es einen definierten Kriterienkatalog, mit dem Sie bei der Entwicklung historischer Stoffe arbeiten? Beziehen Sie sich beispielsweise auf die sogenannten »Nachrichtenwerte«, wie sie die Kommunikationstheorie definiert hat, also »Personalisierung«, »Emotionalisierung«, »Prominenz«, »Eindeutigkeit«, »Konsonanz« mit Zuschauererwartungen u.a.? Katja Wildermuth: Nein, einen definierten, fixen Kriterienkatalog, anhand dessen wir Geschichtsformate entwickeln, haben wir nicht. Wir unterscheiden sehr zwischen den verschiedenen Themen und Erzählformen. Übrigens auch zwischen Sendezeiten und damit zwischen Zielgruppen, denn ein Stoff, der am Sonntagabend zur Primetime gegen den Tatort programmiert wird, muss in Sachen Prominenz und Konsonanz in der Regel stärker bestehen als eine Sendung kurz vor Mitternacht. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Mit Ihrer Dokumentation zur Völkerschlacht bei Leipzig haben Sie selbst ein neues Format kreiert, das viel Aufmerksamkeit erfahren hat. Aus Anlass des 200. Jahrestages berichteten Sie über die Völkerschlacht an vier aufeinanderfol- <?page no="59"?> 58 Francisca Loetz / Marcus Sandl - Katja Wildermuth genden Tagen zur Primetime vor der Tagesschau über das Geschehen im Stile eines ARD-Brennpunkts bzw. einer »Breaking News«. In der Sendung wurde berichtet, als ob die Schlacht im Moment stattfände. Es gab Live-Schaltungen von den Schlachtfeldern, fernsehbekannte Korrespondenten meldeten sich aus Moskau und Paris mit Einschätzungen der gesamteuropäischen Lage, ttt-Moderator Max Moor besuchte den Komponisten Ludwig van Beethoven und die ARD-Börsenexpertin Anja Kohl analysierte die ökonomischen Auswirkungen des Geschehens. Moderiert wurden die vier Sendungen von dem damaligen Tagesthemen-Anchorman Ingo Zamperoni. Was hat Sie bewogen, mit diesen bekannten Gesichtern und Fernsehfenstern zu experimentieren, statt auf bewährte Dokuformate zurückzugreifen? Katja Wildermuth: Da es von der Völkerschlacht ja bekanntlich weder lebende Zeitzeugen noch authentisches Bildmaterial gibt, wäre die naheliegendste gängige Form die des Docudramas gewesen, also mit »reenactments« zu arbeiten. Solche »nachgestellten« Szenen werden typischerweise ergänzt durch Experteninterviews, neu gedrehte Bilder an den Originalschauplätzen und Computeranimationen, die Lokalisierung und Veranschaulichung des Geschehens (mittels Karten und 3D-Modellen von Stadtansichten, Schlachtfeldern etc.) unterstützen sol- Abb. 2: Börsenexpertin Anja Kohl schätzt wirtschaftliche Folgen der Schlacht ein <?page no="60"?> 59 Breaking News: Die Völkerschlacht bei Leipzig - Ein Interview len. Den Docudramen wohnt der Trend zur Personalisierung und Emotionalisierung inne. Da werden zwei, drei historische Figuren, oft Gegenspieler, in den Mittelpunkt der Darstellung gestellt und deren Interaktion (durchaus durch Quellen belegt) bildet den roten Faden des Films. Solche Filme gibt es viele, auch zur Völkerschlacht, zu Napoleon etc. Wir aber wollten etwas Neues machen. Warum? Weil das von uns gewählte Format sowohl verschiedene Perspektiven (quer durch die gesellschaftlichen Schichten und europäischen Akteure) als auch verschiedene historische Komplexe (Politik, Wirtschaft, Kultur, Militärstrategien etc.) beleuchten kann. Und weil es überraschend war, frisch und kurzweilig - und im Übrigen sehr gut adaptierbar für ein entsprechendes Online-Format. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Damit zusammenhängend stellt sich natürlich auch die umgekehrte Frage, wie themenspezifisch das Brennpunkt-Format ist. Lässt es sich im Prinzip für jedes historische Thema verwenden oder ist es selektiv? Wie oft ist es einsetzbar? Abb. 3: Interaktive Seite zur Völkerschlacht <?page no="61"?> 60 Francisca Loetz / Marcus Sandl - Katja Wildermuth Katja Wildermuth: Im Prinzip ist das Brennpunkt-Format für alle historischen Ereignisse geeignet. Wie bei einem aktuellen Ereignis, vertieft auch unser historischer »Brennpunkt« Hintergrundinformationen und versucht ein Thema von vielen Seiten zu beleuchten. Daher ist das Format insbesondere für komplexe Themen interessant, die man in kurzen oder in der Erzählhaltung eindimensionalen Formaten nicht ausreichend erklären kann. Gleichzeitig wird das Format beim Zuschauer aber - ungeachtet aller historischen Präzision und Komplexität - auch als »Spiel« wahrgenommen. Und diese Wahrnehmung führt m.E. zum Ausschluss bestimmter historischer Stoffe. Einen Brennpunkt zur Befreiung von Auschwitz etwa könnte ich mir momentan nicht vorstellen. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Die Frage nach der Vermittlung von Wahrheit wird in unserer gegenwärtigen medialen Welt zunehmend zum Problem. Im Netz hochgeladene Handyfilme ebenso wie Posts in den sozialen Medien etwa besitzen einen stark subjektiven und letztlich nicht überprüfbaren Charakter. Verfolgen Sie mit bestimmten Szenen in Ihrer Dokumentation, die z.B. mit vermeintlichen verwackelten Handyaufnahmen vom Schlachtgeschehen arbeiten, das Konzept einer solch »unsicheren Geschichte«? Katja Wildermuth: Ich halte Handyaufnahmen nicht unbedingt für subjektiver als die Aufzeichnungen eines Chronisten früherer Jahrhunderte, der Geschehnisse beobachtet und dann - in der Regel auch mit einer bestimmten Agenda im Hintergrund - darüber berichtet. Aber nein, es ging uns vordergründig nicht um die Thematisierung »unsicherer Geschichte«. Und im Unterschied zu nachrichtenaktuellen Redaktionen, die binnen Minuten entscheiden müssen, welches Material sie zeigen und in welchen Kontext sie es stellen, hatten wir im Falle der Völkerschlacht ja 200 Jahre Zeit, um die Quellen zu prüfen und uns ausschließlich auf gesicherte Erkenntnisse zu stützen. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Das gewählte Format der »Breaking News« vermittelt einerseits Authentizität, ist aber andererseits mit Blick auf die Völkerschlacht in hohem Grade fiktiv und anachronistisch. Ist die Grenze zwischen realitätsbeanspruchender Fiktion und <?page no="62"?> 61 Breaking News: Die Völkerschlacht bei Leipzig - Ein Interview gefälschter Authentizität im Sinne einer korrekten Vermittlung historischer Zusammenhänge immer klar zu ziehen? Katja Wildermuth: Die Tatsache, dass es einen modernen TV-Brennpunkt 1813 nicht gegeben haben kann, ist natürlich unstrittig - und es ist von vorneherein eine Verabredung, die der Zuschauer ebenfalls kennt und die wir mit ihm gemeinsam getroffen haben. Dass dieser Brennpunkt, mit modernen Mitteln des TV-Erzählens, dennoch korrekt historische Zusammenhänge widergeben kann, ist meines Erachtens kein Widerspruch. Insofern hat sich Ihre Frage der Grenzziehung für uns nicht gestellt. Was wir uns in diesem Zusammenhang fragten war, inwieweit wir markieren sollten, dass alle so leichtfüßig dargestellten Ereignisse, historischen Personen etc. auf überlieferten Quellen (Tagebüchern etc.) beruhen, der Brennpunkt also alles andere als eine Märchenstunde ist. Unsere Antwort: Wir haben über die Details der Quellenbasis informiert, allerdings online, nicht onair. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Wie würden Sie vor diesem Hintergrund das Verhältnis von Format und Inhalt bestimmen? Bestimmt das Format des »Brennpunktes« nicht die Thematik, determiniert es nicht sogar die Möglichkeiten des Sag- und Darstellbaren? Anders formuliert: Entstand bei der Produktion nicht ein Widerspruch zwischen dem neuen, originellen Format der »Breaking News« und den klassisch ereignisgeschichtlichen Inhalten? Katja Wildermuth: Klar ist: Jedes Format, und besonders im Fernsehen, determiniert die Möglichkeiten des Sag- und Darstellbaren. Aber, und das wurde uns ehrlich gesagt auch erst im Laufe des Recherche- und Drehbuchprozesses immer deutlicher, das Brennpunkt-Format ermöglicht vergleichsweise viele Freiheiten und Blickwechsel. Ereignisgeschichtliche Informationen (Schlachtverlauf etc.), historische Kontextualisierung durch Rückblicke, Multiperspektiven, Analysen, der Blick auf exemplarische Einzelschicksale (in Einspielfilmen), machtpolitische Interessenslagen in Europa (durch Schalt- und Expertengespräche), der Blick auf Soldatenleben ebenso wie auf die Zivilbevölkerung - all das war sehr viel möglicher als es in einer linearen TV-Erzählform gewesen wäre. Einzig die spätere Rezeptionsgeschichte der Völkerschlacht musste natürlich per definitionem außerhalb des Brennpunkts bleiben. <?page no="63"?> 62 Francisca Loetz / Marcus Sandl - Katja Wildermuth Francisca Loetz / Marcus Sandl: Auffallend ist, dass die Völkerschlachts-Sendungen an einer Stelle nicht der Brennpunkt-Vorlage folgten: Die Reporter sprachen nicht mit historischen Personen. Warum haben Sie darauf verzichtet? Katja Wildermuth: Wir haben diese Frage in der Redaktion viel diskutiert - und schließlich, wenn Sie so wollen aus dem Bauch heraus, entschieden. Wir hätten damit, so war unser Gefühl, eine Grenze überschritten, die das Format möglicherweise ins allzu Spielerische geführt hätte. Und wir hätten unseren Reportern keinen Gefallen getan, die ja allesamt gestandene Journalisten waren und keine Schauspieler. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Zum gesamtmedialen Zusammenhang des Formats gehörte auch eine interaktive Komponente, nämlich die Möglichkeit, nach den Sendungen jeweils mit Redakteuren zu chatten. Hatten die Zuschauer-Reaktionen auf die Sendung ihre Erwartungen insgesamt erfüllt? Katja Wildermuth: Die Zuschauer sollten nicht nur mit Gefühlen, sondern natürlich auch mit Erkenntnissen aus der Sendung gehen. Und, idealiter, mit einer neuen Neugier auf die angesprochenen historischen Zusammenhänge. Aus diesem Grund machen wir ja auch solche Chats, oft mit Redakteuren, die auskunftsfähig sind zur Produktion, und mit Wissenschaftlern, die historische Fakten und wissenschaftliche Debatten schildern können. Und etwas anderes kommt hinzu. Heutzutage gehören interaktive Kommunikationsformen, nehmen Sie die Kommentarfunktion unter YouTube Videos, zum selbstverständlichen Repertoire. Diesen Kommentaren müssen wir uns m.E. alle stellen - auch wenn die Fragen dort nicht immer aus dem Repertoire eines Hauptseminaristen stammen. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Eine wesentliche Folge des Formats ist, dass der souveräne Sprecher bzw. die souveräne Sprecherin fehlen. Es gibt keine Stimme aus dem Off, die aus zeitlicher und intellektueller Distanz das Geschehen erklärt und zu einem einheitlichen Geschehen zusammenfasst. Man könnte vielleicht auch sagen, die Geschichte der Völkerschlacht wird in impressionistische Geschichten aufgelöst. Im Nachhinein ist das von geschichtswissenschaftlicher Seite auch als Verzicht auf historische <?page no="64"?> 63 Breaking News: Die Völkerschlacht bei Leipzig - Ein Interview Einordnung und Analyse kritisiert worden. Ist die Frage, ob oder inwiefern das Format der »Breaking News« mit dem Verzicht auf synthetisierende Erklärungen einhergeht, in der Redaktion diskutiert worden? Haben Sie überhaupt Zeit für solche eher geschichtstheoretischen Diskussionen? Katja Wildermuth: Es ist schon interessant, dass bislang in der großen Mehrheit historische TV- Formate von Seiten der Wissenschaft vor allem für ihr vermeintlich geschlossenes und damit unwissenschaftliches Geschichtsbild kritisiert werden, während hier, bei dieser offenen Form, ein Verzicht auf homogene Interpretation konstatiert wird. Ganz ehrlich, ich kann diesen Vorwurf wenig nachvollziehen. Denn Einordnung, zueinander In-Beziehung-Setzen der verschiedenen Ebenen und Aspekte und Perspektiven ist m.E. während der vier Sendungen immer wieder gewährleistet worden. Nur haben wir eben bewusst keine in sich geschlossene Erzählform gewählt, sondern den Zuschauern Raum gelassen, die Informationen und Eindrücke selbst zu er- und verarbeiten. Um dadurch auch zu verstehen, dass historische Ereignisse im Nachhinein interpretiert werden und Geschichte eben nicht nur eine Wahrheit kennt. Die Relevanz solcher Fragen steht auch für uns außer Zweifel - allerdings gebe ich zu, dass sie im oft hektischen Redaktionsalltag nicht in der Breite und Tiefe diskutiert werden, wie wir das hier gerade tun. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Gab es aus ihrer persönlichen Sicht überraschende Ergebnisse, die mit dem Format zu tun hatten? Was ist von der Sendung übrig geblieben und was würden Sie heute anders machen? Katja Wildermuth: Überrascht hat mich, das habe ich bereits geschildert, welche Komplexität und Freiheit dieses Format beinhaltet. Das wurde uns im Laufe der Feinkonzeption erst richtig deutlich. Und erfreut hat uns die große und die positive Resonanz, von der Generation YouTube bis hin zur Fachwissenschaft. Es gibt Details, die ich für wenig gelungen halte, einzelne Beiträge innerhalb der Sendungen, aber im Großen und Ganzen hätte bei einem solchen Experiment deutlich mehr schief gehen können als es dann schlussendlich tat. Was geblieben ist? Der Impuls für Geschichtsredaktionen (die ja anders als Unterhaltungsredaktionen zunächst nicht im Verdacht besonderer Kreativität und Innovation stehen), auch künftig experimentierfreudig zu sein und auf einen guten Stoff und kluge Zuschauer zu vertrauen. <?page no="65"?> 64 Francisca Loetz / Marcus Sandl - Katja Wildermuth Francisca Loetz / Marcus Sandl: Wenn Sie nicht nur an die Sendung über die Leipziger Völkerschlacht, sondern an Ihr gesamtes Programm »Geschichte und Gesellschaft« denken, würden Sie sagen, dass die Geschichtswissenschaft mit Blick auf historische Fernseh- und Filmproduktionen etwas lernen kann? Und was wäre das über die Popularisierung beliebter historischer Stoffe hinaus? Katja Wildermuth: Dass wir die Breaking News als Format ausprobiert haben, ist kein Zufall. Die gängigen Formen historischen TV-Erzählens sind seit Jahren etabliert und haben sich nur geringfügig gewandelt. Meiner Überzeugung nach sind hier Sinneswandel und Kreativität gefragt, wenn wir historische Themen auch künftig an bestehende, aber auch neue Rezipienten vermitteln wollen (und wenn Sie das Popularisierung nennen, gerne! ). So hat meine Redaktion beispielsweise in 2014, zum 25sten Jahrestag der Friedlichen Revolution, eine eigene App entwickelt (mdr.de/ zeitreise), mit der User auf empfohlenen Routen durch mitteldeutsche Städte gehen können und anhand von Kurzfilmen sehen und erfahren, wie diese Orte vor 25 Jahren ausgesehen haben und was dort geschah. In den mitteldeutschen Städten, in denen der Wandel in den letzten Jahren so radikal passierte wie nirgends sonst, ein attraktives Angebot für Einheimische wie für Gäste. Und dieses Angebot im App-Format lässt sich überdies jederzeit thematisch erweitern, etwa um historische Ereignisse wie den Aufbau nach 1945 oder z.B. die Stätten der Reformation. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Angenommen, Sie könnten sich aus Sicht der Fernsehmacherin eine Geschichtswissenschaft wünschen. Wie würde diese aussehen und was könnte sie Ihnen liefern? Welche Fragen sollte diese ideale Geschichtswissenschaft für Ihre Zwecke aufwerfen oder beantworten? Katja Wildermuth: Es gibt keine konkreten Fragen, die mir die Geschichtswissenschaft als Programmleiterin beantworten soll. Vielmehr geht es mir um einen offenen Zugang zu Forschungsergebnissen und ein beiderseitiges Interesse am Kontakt. Bisher schreiben wir für unsere Recherchen Historiker an. Ich würde mich freuen, wenn sich Historiker auch bei uns melden und uns darauf aufmerksam machen, welche Erkenntnisse sie in ihrer aktuellen Forschung gewonnen haben. <?page no="66"?> 65 Breaking News: Die Völkerschlacht bei Leipzig - Ein Interview Francisca Loetz / Marcus Sandl: Sehen sie, um nun die Perspektive umzudrehen, grundsätzliche Fragen, die aus Ihrer Sicht als Programmmacherin das Medium Fernsehfilm an die Adresse der Geschichtswissenschaft richtet, wenn es nicht um die Vermittlung, sondern die Erarbeitung historischer Themen geht? Katja Wildermuth: Ich kann mich nur wiederholen: Das gegenseitige Interesse an Austausch und Zusammenarbeit sowie die Akzeptanz unterschiedlicher Fragestellungen, Herangehensweisen und Zielgruppen wäre ein schöner Schritt in die richtige Richtung. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Wie würde der ideale, nicht von Quotendruck und Markt-Kalkül beeinflusste Geschichtsfilm aussehen? Wäre er experimenteller? Gäbe es beispielsweise Kontroversen über die Interpretation des Geschehens? Würden die Quellen explizit in den Mittelpunkt der filmischen Handlung gerückt werden, was z.B. in den »Breaking News« gerade nicht der Fall ist? Katja Wildermuth: Grundsätzlich sollten Sie den »Quotendruck« nicht überschätzen. Ich spreche von, und das nicht aus Euphemismus, Zuschauerakzeptanz. Und die kann, muss sich aber nicht nur in Marktanteilen ausdrücken. Und ist in jedem Fall ein erstrebenswertes Gut für mich als Programmmacherin. Experimentelle Geschichtsfilme, die keiner linearen Handlung folgen und Fragen offen lassen, würde ich sehr spannend finden. Auch die Integration von Kontroversen in der Interpretation. Lassen Sie uns doch gemeinsam an einer solchen Formatidee basteln! Und dabei übrigens immer mitdenken, dass das lineare Fernsehen ohnehin bald nicht mehr die herausragende Rolle spielen wird, die es jetzt noch hat. Sondern ein Ausspielweg unter vielen in einer digitalen Medienwelt sein wird - was im Übrigen viele neue Möglichkeiten, gerade auch in dem von Ihnen angesprochenen Sinn, eröffnen mag. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Eine weitere Frage ist, ob man im Medium des Films Paradoxien und »Ungereimtheiten« eher offen lassen kann als im Medium der wissenschaftlichen Publikation. Können Sie sich z.B. vorstellen, dem Filmpublikum eine Filmvariante zuzumuten, die mehr Fragen aufwirft als beantwortet? <?page no="67"?> 66 Francisca Loetz / Marcus Sandl - Katja Wildermuth Katja Wildermuth: Es gibt ja auch im Bereich der Fiktion inzwischen den Versuch, mit offenen Fragen, offenen Enden, einer veritablen Restunsicherheit beim Zuschauer zu arbeiten. »Lola rennt« war einer der ersten Versuche in diese Richtung, manche Tatorte und Fernsehfilme gehen heute einen ähnlichen Weg. Die Zuschauer, auch zum prime time, sind sehr viel klüger als man denkt! Insofern bin ich optimistisch, dass es - anders als bislang zumeist praktiziert - auch für die Vermittlung historischer Stoffe Erzählformen geben wird, die mit offenen Fragen, gegenläufigen Thesen, verbleibenden Unsicherheiten arbeiten und zu kritischem Denken einladen. Erste Schritte sind auch hier vor allem im Online-Bereich zu beobachten, bei komplexen sog. Web-Dokus mit historischen Themen. Francisca Loetz / Marcus Sandl: Angenommen, Sie könnten für eine befristete Zeit mit einer Professorin in Geschichte Ihre Arbeitsstelle tauschen, was würden Sie sich in Ihrer Rolle als Professorin vornehmen, was würden Sie der Dozentin in der Rolle als Chefredakteurin empfehlen, damit sie beide von diesem »sabbatical« der etwas anderen Art für die Rückkehr in den eigenen Beruf profitierten? Katja Wildermuth: Als Professorin in Geschichte würde ich mich vor allem darüber freuen, mich über einen langen Zeitraum intensiv mit einem Thema auseinandersetzen zu können. Gleichzeitig würde ich mit den Studenten daran arbeiten, sich aktiv mit allen Formen von Wissens- und Wissenschaftsvermittlung auseinanderzusetzen - auch jenseits der Universität und ohne Tabus. Der neuen Redaktionsleiterin würde ich empfehlen, ihre wissenschaftlichen Kontakte in das neue Arbeitsumfeld einzubringen, zu vernetzen, auszutauschen. Und ich würde ihr eine wild card ausstellen - auf dass sie selber ein Programm erfinden und umsetzen darf, das ihren Ansprüchen als Historikerin gerecht bleibt und zugleich die Zuschauer mitzureißen versteht. Ich bin sehr gespannt, was dabei rauskäme! <?page no="68"?> 67 Vormoderne Geschichte im Dokumentarfilm Statements aus Sicht einer Dokumentarfilmproduzentin, Historikerin und Archäologin Silvana Bezzola Rigolini 1. Geschichte filmisch umzusetzen bedeutet, ein spezifisches Argument in einem gegebenen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zu entwickeln. Dabei ist es notwendig, zwei normalerweise nicht miteinander verbundene Bereiche miteinander in Beziehung zu setzen. Zum einen müssen einige grundlegende Aspekte der audiovisuellen Kommunikation beachtet werden. Zum anderen gilt es, die Forschungsansätze, -ergebnisse und Vermittlungsweisen der akademischen Disziplin Geschichte zu analysieren und angemessen zu kommunizieren. 2. Historische Stoffe sicht- und hörbar zu machen, setzt die Kenntnis der technischen und narratologischen Modalitäten voraus, die den audiovisuellen Medien eigen sind. Im Vergleich zur Geschichtswissenschaft, deren Erkenntnis- und Repräsentationsformen im Wesentlichen mit dem Medium der Schrift korrelieren, folgen audiovisuelle Medien einer anderen Logik. Sie sind »in Bewegung«. Eine Herausforderung für den Dokumentarfilm ist deshalb, das historische Material in eine bewegte Erzählung zu übersetzen, mithin die Spezifika des Mediums aufzunehmen und für die Darstellung einzusetzen, ohne dabei die methodisch-theoretische Stringenz, die die historische Forschung auszeichnet, aufzugeben. Ziel ist es, beide Welten nicht nur in einem einzigen kommunikativen Ausdruck zusammentreffen zu lassen, sondern im Ergebnis einen Mehrwert zu schaffen. 3. Der Mehrwert einer Dokumentarverfilmung historischer Stoffe besteht darin, Laien wie auch Fachleuten aus angrenzenden Disziplinen Expertenwissen in besonders ansprechender Form zu vermitteln. Vermitteln heißt hierbei, historische Erkenntnisse zu vereinfachen, ohne sie zu banalisieren sowie Forschungsergebnisse zusammenzufassen, ohne sie erschöpfend behandeln zu können. Dabei ist stets zu beachten, dass es verschiedene Zielgruppen gibt. Von der gewählten Zielgruppe hängen die zu wählenden Vermittlungsweisen ab. <?page no="69"?> 68 Silvana Bezzola Rigolini 4. Vormoderne historische Themen in einem Dokumentarfilm zu behandeln, birgt angesichts der Quellen offensichtliche spezifische Probleme. Im Gegensatz zur Epoche der Moderne, aus der Ton- und Filmaufnahmen überliefert sind, kennt die Zeit vor 1850 nur schriftliche, bildliche und materielle Quellen. Eine Filmdokumentation zur Frühen Neuzeit und Sattelzeit muss also Quellen, die von sich aus bewegungslos und stumm sind, optisch zum Laufen und akustisch zum Erklingen bringen. Die Verarbeitung statischer, tonloser historischer Dokumente zu dramaturgisch bewegten, akustisch untermalten Bildern bedeutet daher paradoxerweise etwas Unsichtbares sichtbar und etwas Unhörbares hörbar zu machen. Da die vorhandenen historischen Quellen für die Darstellung der Handlung eines historischen Dokumentarfilms im Bezug auf die vormoderne Geschichte meistens unzureichend sind, bedarf es technischer und kreativer Hilfsmittel wie Animationen oder computergenerierter Bilder, um die Lücken im optisch verwertbaren Quellenmaterial zu schließen. 5. Historische Dokumentarfilme sind insofern ein bestimmter Typ von Dokumentarfilm, als es sich bei ihnen um eine Darstellung handelt, die aus der kreativen Perspektive der Regisseurin oder des Regisseurs historische Erkenntnisse vermittelt. Je nach Thema können unterschiedliche Vermittlungsformen gewählt werden, ohne dass diese allerdings den Inhalt tangieren dürfen. Hier gilt das Primat der Forschung. Gleichzeitig bedarf es aber auch des Einsatzes kreativer Mittel. Gerade in Dokumentarfilmen über die Vormoderne werden aus Mangel an audiovisuellen Quellen sowie Augenzeuginnen und -zeugen häufig re-enactment-Szenen verwendet. So ist der historische Dokumentarfilm ein ausgezeichnetes Medium, um Wissen zu vermitteln, doch gleichzeitig ist er auch ein vollwertiges filmisches Kunstwerk, weil er sich einer Handschrift und einer Ästhetik bedient, die der Filmkunst eigen ist. 6. Das Prinzip der Vereinfachung und Zusammenfassung gilt auch für die im Film verwendete verbale Sprache: Ein Film wendet sich nicht an ein einziges Publikum, sondern an verschiedene Zielgruppen, an denen sich die Textsprache des Films in ihrer Komplexität bzw. Einfachheit orientieren muss. Ferner sind die Seh- und Erwartungsgewohnheiten der diversen Zielgruppen in den jeweiligen Ländern, etwa im romanischen, deutsch- oder englischsprachigen Raum, unter kulturellen und formal-ästhetischen Gesichtspunkten verschieden. Dies müssen die Produktionen berücksichtigen und hierbei die marktübliche Länge von 26, 90 oder insbesondere 52 Minuten einhalten. <?page no="70"?> 69 Vormoderne Geschichte im Dokumentarfilm 7. Gelungen ist ein Dokumentarfilm dann, wenn er die interpretative Arbeit der historisch Forschenden an den Quellen zeigt, indem er unterschiedliche interpretative Ansätze wie auch offene Fragen und Forschungskontroversen thematisiert. Statt nur fertige Antworten zu liefern, sollte also ein Fernsehdokumentarfilm mit geschichtswissenschaftlichem Anspruch Fragen aufwerfen. Ein idealer historischer Dokumentarfilm sollte also auf dem Stand der Geschichtsforschung sein, in einer spannenden Erzählung Forschungskontroversen verdeutlichen und inhaltlich klar zwischen Hypothesenbildungen, Thesen und offenen Fragen unterscheiden, so dass die Zuschauerinnen und Zuschauer in die Lage versetzt werden, die historische Recherche und die inhaltlichen, optischen wie akustischen Aussagen des Films nachzuvollziehen und zu beurteilen. Ein gelungener historischer Dokumentarfilm beruht somit auf einem Pakt zwischen Filmproduzierenden, Regieführenden und Publikum. 8. Zu den unentbehrlichen Merkmalen jedes Dokumentarfilms gehören Emotionalisierung und Zeitraffung. Zusammen mit den dramaturgischen Elementen, die beispielsweise durch die re-enactment-Szenen hergestellt werden, sowie die Verortung und Verdichtung von Forschungsprozessen, beispielsweise durch die exemplarische Darstellung von Quellengattungen, organisieren sie das filmische Narrativ. 9. Die Vermittlung historischer Forschungsergebnisse mutiert zu einer fragwürdigen Popularisierung, wenn historische Fakten (u.a. durch die Verwendung pompöser Musik) pathetisch in Szene gesetzt werden und dabei der analytische Charakter historischer Forschung zugunsten der reinen Unterhaltung aufgegeben wird. Tendenzen hierzu sind heute gelegentlich zu bemerken. 10. Fernsehanstalten kommt bei der Realisierung von Dokumentarfilmen eine doppelte Verantwortung zu. Die Fernsehanstalten ermöglichen es zum einen, dank ihres finanziellen Beitrags, den Dokumentarfilm zu drehen; ohne ihre Geldmittel gäbe es weit weniger Dokumentarfilme. Zum anderen bestimmen sie dadurch, dass sie die materiellen Rahmenbedingungen definieren, auch darüber, welches historische Wissen in welcher Form zur Präsentation gelangt. Ein guter Dokumentarfilm kann zur Sensibilisierung des Publikums beitragen und zugleich den Forscherinnen und Forschern die Möglichkeit bieten, die Ergebnisse ihrer Arbeit publik zu machen. Er steigert damit das Bewusstsein für die Aktualität und Bedeutung der Geschichte in der Gegenwart. <?page no="71"?> 70 Silvana Bezzola Rigolini 11. Die Rolle, die historische Dokumentarfilme im Rahmen des Bildungsauftrags des öffentlich-rechtlichen Fernsehens spielen können, ist wesentlich. Sie ermöglichen es einem breiten Publikum, die Welt in ihrer historischen Tiefenstruktur zu reflektieren, indem sie eine Verbindung von Gesellschaft und historischer Forschung herstellen. <?page no="72"?> 71 Eine Historikerin produziert einen Film Über den Versuch, es besser zu machen 1 Francisca Loetz Fernsehfilme 2 , die Geschichte populärwissenschaftlich vermitteln, wollen unterhalten und informieren. Um die Ergebnisse historischer Forschung zu präsentieren, versuchen sie daher Vergangenheit möglichst spannend zu erzählen. Mithilfe von Animationen, Computersimulationen und rhetorischen Fragen erklären sie, wie die Geschichte rekonstruiert worden ist. Solche Filme dokumentarischen Charakters stellen Forschungsergebnisse dar. 3 Sie zielen nicht darauf, den Erkenntnisprozess als solchen zu behandeln. 4 Sie zeigen nicht, wie Wissen verfertigt wird. Geschichtswissenschaft setzt andere Akzente. Es geht um die Frage, wie ich etwas Relevantes über die Vergangenheit herausbekomme, indem ich den Erkenntnisregeln der Disziplin folge. In der Geschichtswissenschaft stehen Erkenntnisprozess und Argumentationsentwicklung im Zentrum der Aufmerksamkeit. 5 Der Stoff, aus dem Historikerinnen und Historiker geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen, sind Quellen, weiterhin vielfach Textquellen. Wer zur Geschichte des europäischen Mittelalters, der Frühen Neuzeit und Sattelzeit arbeitet, ist daher auf Archive angewiesen, in denen insbesondere Textquellen überliefert sind. Der Gang ins Archiv ist für Interessierte jedoch mit einer hohen Hemmschwelle versehen. Forschungsarbeit im Archiv zu leisten, bedeutet, sich mit einer neuen Institution anzufreunden, ungewohnte Wege der Recherche zu entwickeln, Handschriften entziffern zu lernen und 1 Der Film ist zu sehen unter: http: / / www.hist.uzh.ch/ de/ fachbereiche/ neuzeit/ lehrstuehle/ loetz/ film.html [19.07.2016]. 2 Dieser Essay erhebt keinen filmwissenschaftlichen Anspruch. Die bibliographischen Angaben sind daher als exemplarische Hinweise aus Sicht einer Historikerin zu verstehen. Sie beziehen sich auf Titel, die - soweit ich sehen kann, als Ausnahmen in der Filmwissenschaft - vormoderne historische Stoffe berücksichtigen. 3 Zur Frage des Wirklichkeitsanspruchs vgl. Hoffmann, Fälschung; ders., Inszenierung . Einschlägig, aber auf die Zeitgeschichte fokussiert: Rosenstone, History. Zur Problematik der Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse in Film anhand ebenfalls zeitgeschichtlicher Beispiele vgl. Guynn, Writing History. 4 Zur Abwägung der Chancen und Grenzen von »television history« vgl. Hunt, Television. 5 Zur Auseinandersetzung der Geschichtswissenschaft mit der Verfilmung historischer Stoffe vgl. Treacey, Reframing. <?page no="73"?> 72 Francisca Loetz immer wieder strategische Entscheidungen zu fällen, um gezielt Quellenbestände zu bestellen und eine thematische Idee, mit der man gestartet ist, zu einer Fragestellung zu präzisieren. Diesen Prozess, wie Wissenschaft »geht«, was im Archiv im Kopf wie auch »im Bauch« oder »Herzen« einer Forscherin passiert, wie Erkenntnisse entwickelt werden, welche erkenntnistheoretischen Probleme zu lösen sind, vermitteln die üblichen Filmformate gar nicht oder kaum. Die aufwändig produzierten dokumentarischen Reihen der öffentlichen Sender lieben es, meist männliche Präsentatoren in Szene zu setzen, die mit pathetisch aufgeladenen Texten auf den Lippen in effektvoller Beleuchtung durch historische Räume und Landschaften schreiten, sich ehrfurchtsvoll über Dokumente neigen oder bewundernd vor Kunstschätzen stehen. 6 Ihre Aufgabe besteht darin, Forschungsergebnisse, nicht Erkenntnisprozesse, zu vermitteln und mit rhetorischen Fragen teaserähnlich den Spannungsbogen zu halten. Eigenproduzierte Kurzfilme von Universitäten oder Forschungseinrichtungen heben den Forschungsaspekt stärker hervor, denn die Filme sollen schließlich zur Selbstdarstellung dienen. Dennoch deuten diese Filme in der Regel den Forschungsprozess lediglich an. Meist läuft eine Forscherin bzw. ein Forscher durch lange Gänge einer ehrwürdigen Bibliothek oder eines Archivmagazins und sitzt als Fachautorität an einem Arbeitstisch in einem Lesesaal. Eine unleserliche Handschrift oder ein imposanter Druck liegt vor ihr bzw. ihm. Von den talking heads ist zu erfahren, dass Forschung schwierig, anspruchsvoll und mit vielen Mühen verbunden ist. 7 Ich widerspreche nicht. Doch Forschung macht auch Freude, weil sie intellektuell reizvoll ist, emotional bereichert und zu wertvollen Erkenntnissen führt. Diese Botschaft vermisse ich sowohl in professionellen filmischen Angeboten wie auch in den filmischen Selbstdarstellungen von Forschungsprojekten. Aus dieser Unzufriedenheit entsprang die Idee, den Versuch zu unternehmen, es »besser zu machen«. Am Anfang standen viele Zweifel. Wie sollte ich als Universitätsprofessorin, die noch nie mit einer Filmproduktion zu tun gehabt hatte, einen Film entwickeln? Wie sollte die Lust am Archiv zum Thema gemacht werden können, ohne dass eine spannende, anekdotische Geschichte die Oberhand gewann? Wie sollte ich die Gelder auftreiben, mit denen ich die schwer einzuschätzenden Kosten abdecken können musste? 6 Eindrückliche Beispiele hierfür sind die britischen Dokumentarserien von Simon Shama (http: / / www.bbc.co.uk/ programmes/ b008qpzn/ episodes/ guide [30.6.2016]) und von David Starkey (http: / / www.channel4.com/ programmes/ monarchy [30.6.2016]) oder auch die französische Reihe »secrets d’histoire« mit Stéphane Bern als Präsentator. 7 Als beliebig herausgegriffenes Beispiel: https: / / www.youtube.com/ watch? v=-oezeb9V0TM [30.6.2016]. <?page no="74"?> 73 Eine Historikerin produziert einen Film Am Anfang stand auch relative Bescheidenheit: Bescheidenheit in den finanziellen Mitteln, die von vorneherein jeglichen Gedanken an re-enactments, Computersimulationen und Inszenierungen ausschloss. Da war kein längerer Film angedacht, der das breite Publikum dank eindrücklicher Effekte über alle Rätsel des Forschens aufklären und sich bekannter Schauspieler dramaturgisch geschickt als Präsentatoren bedienen würde. 8 Ein ca. fünfminütiger, von talking heads freier Youtubestreifen sollte es werden, der im Youtubemeer das Potential hatte, von Neugierigen aufgefischt zu werden. Was schließlich herausgekommen ist, ist ein 15minütiger Film, der das Doppelte des ursprünglich veranschlagten Budgets gekostet und mich neben meinen beruflichen Verpflichtungen über zwei Jahre in Anspruch genommen hat. Von den ursprünglichen Planungen blieb die Zielsetzung übrig, Studierende und historisch Interessierte die Hemmung vor dem Archiv zu nehmen, Lust auf Forschung im Archiv zu machen und zu demonstrieren, welche reizvollen Herausforderungen Archivbestände bereithalten. Alle anderen Überlegungen erwiesen sich im Verlauf der Entwicklung des Films als anpassungsbedürftig. Die Suche nach einer Filmexpertin oder einem Filmexperten, die oder der sich auf das Projekt einlassen wollte, stellte mich vor einige Probleme. Die universitäre Medienstelle konnte technische, aber keine inhaltlichen Dienstleistungen erbringen. An Einrichtungen des öffentlichen Fernsehens war selbstverständlich nicht zu denken. Frei niedergelassene Agenturen konnte ich mangels Expertise nur schwer einschätzen. Ich versuchte über Bekanntschaften aus dem Fernsehen und über Youtube zu recherchieren, mit welcher kompetenten Person ich mit meinen begrenzten Mitteln würde zusammenarbeiten können. Bei den schließlich Angefragten stieß ich zwar auf irritierte, freundliche Neugier, erhielt aber keine Zusagen. Was diese Professorin wohl will, so mögen sich einige gefragt haben. Was für ein Projekt soll das denn sein? Lohnt sich das Projekt? Möglicherweise haben die Angefragten in diese Richtung gedacht und deswegen negativ geantwortet. Nach verschiedenen Anläufen fand ich aber mit Rolf Frey bei art TV einen experimentierfreudigen Filmexperten, der zusammen mit einem Graphiker, Sergio Constantini, bereit war, sich auf das Abenteuer einzulassen. In meiner Naivität war ich davon ausgegangen, dass ich die Drehbuchproduktion einer professionellen Person würde übertragen können. Ich würde ihr erklären, worin die Arbeitsschritte einer Geschichtsforscherin bestehen. Um 8 So etwa die Texte und Einblendungen mit dem als Münchner Tatortkommissar bekannten Schauspieler Udo Wachtveitl in der TV Serie »Das bayerische Jahrtausend« (http: / / www.br.de/ br-fernsehen/ sendungen/ das-bayerische-jahrtausend/ das-bayerische-jahrtausend100.html [30.6.2016]). <?page no="75"?> 74 Francisca Loetz den Forschungsprozess zu illustrieren, hatte ich mich zuvor mit Hans Rudolf Werdmüller für eine schillernde und zudem lokal eingebettete Zürcher Figur entschieden: Der hochgebildete General und Ratsherr, der einer vermögenden und angesehenen Zürcher Familie entstammte, wurde im 17. Jahrhundert der Bestechung, des Landesverrats und der Gotteslästerung angeklagt. Er erwarb die Halbinsel Au am Zürichsee, und führte dort in einem herrschaftlichen Anwesen einen Aufsehen erregenden, exzentrischen Haushalt, so dass sich bis in das 20. Jahrhundert hinein Gerüchte hielten, der Geist Werdmüllers spuke dort. Für attraktiven Stoff und Anknüpfungsmöglichkeiten an aktuelle Problematiken wie der Frage, wie weit Meinungsfreiheit gehen darf, war gesorgt. Wenn ich für das Schreiben des Drehbuchs die Fachperson in die Archive mitnehmen, ihr die Akten zeigen und ihr diese erläutern würde, sollte diese dann alles Notwendige beisammen haben, um ans Werk zu gehen - so dachte ich mir. Diese Annahme stellte sich als Illusion heraus. Mein Gegenüber aus der Welt des Films und ich als Historikerin aus der Welt des wissenschaftlichen »Elfenbeinturms« redeten und überlegten trotz beiderseitiger Neugier und Offenheit in zwei unterschiedlichen »Sprachen«. Die »Sprachprobleme«, die entstanden, sind aufschlussreich. Ich gebe nur einige Beispiele. Die vielseitige Figur Werdmüllers, sollte lediglich als »Aufhänger« dienen, um an seinem Beispiel Archivforschung zu demonstrieren. Doch kam uns immer wieder die Biographie dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit dazwischen. Obwohl wir uns darin einig waren, dass die historischen Quellen und deren Erforschungen die Heldinnen des Films sein sollten, war es schwer, der Versuchung einer packenden Werdmüllerstory zu widerstehen. Während der Filmexperte überlegte, wie sich mit den von mir recherchierten Bildquellen die Person Werdmüllers filmisch nachzeichnen ließe, fragte ich mich, wie die Arbeit mit Handschriften bildlich als reizvolle Herausforderung dargestellt werden könne. Film braucht eine treibende Kraft, einen McGuffin, wie Claudius Sieber in diesem Band in Anknüpfung an Alfred Hitchcock herausstreicht. Eine schillernde Persönlichkeit, die viele und vielfältige Quellen hinterlassen hat, eignet sich dafür deutlich besser als eine abstrakte Problemstellung. Auf der Halbinsel Au steht heute ein schlossartiger Bau, der als Tagungsstätte dient. Um das herrschaftliche Anwesen als historische Kulisse einzubringen, dachten der Filmexperte und ich uns eine Szene vor dem Kamin der Tagungsstätte aus. Schattenfiguren sollten sich vor dem Kamin über die Gerüchte, die über Werdmüller im Umlauf waren, unterhalten. Im Film jedoch taucht kein Kamin mehr auf, nur noch die Schattenumrisse in Überblendung mit einer Textquelle. Der Kamin, der für mich eine imposante materielle <?page no="76"?> 75 Eine Historikerin produziert einen Film Quelle aus Werdmüllers Leben war und als Authentizitätssignal im Film wirken sollte, hatte den Filmexperten nicht weiter interessiert. Er hatte die weiße Wand im Auge behalten, die den Kamin umgibt, um auf sie Schattenfiguren zu werfen, die er für eine spätere Überblendung mit der Textquelle brauchte. Während ich selbstverständlich davon ausging, dass er den Kamin im Objektiv hatte, hatte er ebenso selbstverständlich die Kamera auf die Schatten an der Wand gerichtet. Im Zusammenhang mit den Schattenfiguren entdeckten wir weitere Unstimmigkeiten. Ich hatte von Anfang an davon abgesehen, die Schatten historisch markieren zu wollen. Sie sollten möglichst neutral erscheinen. Für ihren Dialog die rund 350 Jahre alte Alltagssprache von Werdmüllers Zeitgenossen nachahmen zu wollen, wäre selbst mit sprachhistorischer Kenntnis ein wissenschaftlich zweifelhaftes Unterfangen gewesen, das aufgrund der zwischenzeitlichen sprachlichen Entwicklung die Verständlichkeit der gesprochenen Texte zudem erschwert hätte. Um die Figuren in historisch korrekten Kostümen erscheinen zu lassen, verfügten wir nicht über die erforderliche Expertise in Kostümkunde. Auch versteht es sich von selbst, dass eine kleine Agentur eines Freischaffenden nicht über eine Fülle historischer Kostüme verfügen kann. Doch mein Filmexperte hatte in seinem Engagement für die Sache auf Historizität gezielt. Er bastelte etwas zusammen, dass die Schatten als Umrisse zeitgenössischer Figuren ersichtlich machen sollte. Für mich lief dies auf einen gut gemeinten Versuch hinaus und zeigte mir, wie diffus für historisch nicht Bewanderte Vorstellungen von einem »früher« sein können. Als ich ihm eine Abb.1: Animation Schattenfiguren <?page no="77"?> 76 Francisca Loetz Abbildung einer zeitgenössischen Kleiderordnung zeigte, stellte der Filmexperte erstaunt fest, dass die damals doch ganz anders gekleidet gewesen seien, als er sich das ausgemalt habe. Paradoxerweise hatte ich als Historikerin im Wissen um die Schwierigkeiten der Kostümkunde und historischen Sprachwissenschaft bewusst auf Historizität verzichtet, wohingegen der Nichthistoriker in verständlicher Unkenntnis der Probleme sich um Historizität bemüht hatte. Der Filmexperte stellte mir etliche Fragen zur Werdmüllergeschichte. Wo denn dieser Werdmüller aufgewachsen sei, warum Werdmüller denunziert worden sei, wie das venezianische Boot, mit dem Werdmüller für Aufsehen gesorgt habe, ausgesehen habe, was das für ein Typ gewesen sei dieser Werdmüller, wie man sich eine Ratsversammlung vorstellen müsse, was man sich heute für die gegen ihn verhängte exorbitante Strafe von 1200 Pfund kaufen könne, ob Werdmüller tatsächlich Landesverrat begangen habe, woher der Vorwurf der durch Bestechung erkauften Wahl zum Ratsherrn stamme, warum dieser überzeugte Reformierte schließlich zum Katholizismus konvertiert sei, was es mit dem Krieg gegen das Osmanische Reich auf sich gehabt habe, warum Ludwig XIV. über diplomatischen Kanäle sich für ihn beim Zürcher Rat eingesetzt habe. Erfreut über dieses Interesse gab ich reichlich Auskunft und ging davon aus, dass der Filmexperte alle diese bunten, unsortierten Eindrücke hinsichtlich des Skripts systematisch auswerten und verarbeiten würde. Der Werkvertrag umfasste ja die Positionen »Drehbuch« getrennt von »Kamera«, »Licht«, »Animationen« und »Postproduktion«. Auch mit juristischer Unterstützung einvernehmlich geschlossene Verträge schließen Missverständnisse nicht aus. Während ich die Nachfragen meines Experten als Teil seiner »Recherche« für die Entwicklung eines Drehbuchs verstand, zielte er - wie ich zu einem viel späteren Zeitpunkt erkannte - darauf, sich einen atmosphärischen Eindruck von der Werdmüllerzeit zu verschaffen. Die Expertin zu Werdmüller und historischer Forschung sei ja schließlich ich und nicht er. Kurzum, er ging davon aus, dass ich das Drehbuch schreiben und er es ins Bild setzen würde. Als ich dies realisierte, machte ich mich mit einigen Selbstzweifeln an die Aufgabe. Ich wusste, dass kurze, einfache, möglichst von Fachterminologie freie Sätze gefragt waren. Ein roter erzählerischer Faden musste gesponnen werden, an dem sich die potentiellen Zuschauer auch bei einiger Komplexität der Information würden festhalten können. Penetrant didaktisch sollte der Film nicht werden, aber dennoch Aspekte behandeln, die für die Forschung zentral sind: Was ist eine Fragestellung und wie entwickle ich sie, wie komme ich zu aussagekräftige Quellen, wo liegen die Erkenntnisgrenzen historischer Arbeit, warum überhaupt historisch <?page no="78"?> 77 Eine Historikerin produziert einen Film forschen und was ist Geschichte als wissenschaftliche Disziplin und was ist sie nicht. Mein erster Drehbuchentwurf, bei dem ich mich doch so sehr um Kürze und einfache Erklärungen bemüht hatte, ergab einen 30minütigen Text. Ich hatte die neugierigen Fragen des Filmexperten dahin gehend verstanden, dass ich sie alle auf ihre geschichtswissenschaftlichen Grundsatzprobleme hin in das Drehbuchmanuskript integrieren solle. Im nächsten Arbeitsschritt musste daher radikal gekürzt werden. Ich nahm mir vor, streng mit mir ins Gericht zu gehen und großzügig zu streichen. Mir gelang es, gerade fünf Minuten Text zu kürzen. Ich hielt so vieles für so wichtig. Ein professioneller Drehbuchautor sollte Abhilfe schaffen und wurde hinzugezogen. Dies bedeutete jedoch mit einer weiteren »Sprachform« in Kontakt zu treten. So schlug der Drehbuchautor etwa vor, eine Szene einzuführen, in der Akten in Flammen aufgehen sollten, um Spannung zu erzeugen und einen Teil der Werdmüllergeschichte streichen zu können. Dass in der frühneuzeitlichen Werdmülleraffäre keinerlei historische Hinweise auf Aktenverbrennung zu finden sind, störte den professionellen Drehbuchautor nicht. Er ließ sich eher von der - in Filmen häufig anzutreffenden und optisch dramatisierenden - Vorstellung leiten, Gotteslästerer seien wie Hexen im »dunklen Mittelalter« verbrannt worden. 9 Aus meiner Sicht arbeitete er mit Klischees. Sie mochten zwar üblichen filmischen Dramaturgien und Filmsprachen entsprechen, sie widersprechen aber historischer Kenntnis. Der professionelle Drehbuchautor und die professionelle Historikerin, sie fanden nicht zu einer gemeinsamen »Sprache«. Die Aufgabe die Komplexität zu reduzieren, ohne Klischees zu bedienen, fiel damit auf mich zurück. Hier halfen die Vorschläge des Filmexperten und meiner Assistentin Eva Seemann und meines Assistenten Siegfried Bodenmann weiter. Die Ideen eines trailerartigen Filmfangs und von Animationen kamen ins Spiel. So beginnt der Film mit einer Sequenz, die Werdmüller als mysteriöse Figur präsentiert. Durch diese Sequenz konnte die Figur Werdmüller in der gebotenen Kürze vorgestellt werden, um somit die Zuschauerinnen und Zuschauer für den Film zu gewinnen. Erst nach diesem »appetizer« wird der Forschungsprozess mit der Figur der Forscherin eingeführt und mit Hilfe von Animationen weiter thematisiert. Ich selbst hatte weder an die Filmsprache des trailers noch an Animationen gedacht. Sie gehören nicht zu meiner universitären Berufswelt. 10 Ich hatte lediglich überlegt, welche Archiv- und Bildquellen sowie heutige Räumlichkeiten sich mit welchen Textpassagen 9 Zur Problematik des Wirklichkeitsspiels vgl. etwa Barg,Wirklichkeitsspiel. 10 Man könnte zwar durchaus übliche szenische Einstiege für wissenschaftliche Publikationen als »trailer in Textform« betrachten, doch ist es wohl kennzeichnend, dass es mir nicht eingefallen war, das textliche Stilmittel des szenischen Einstiegs auf das Medium Film zu übertragen. <?page no="79"?> 78 Francisca Loetz kombinieren lassen könnten. Außerdem war ich auf die Halbinsel Au gefahren. Die an diesem Tag nur von außen zugängliche, sich in imposanten Baustil darbietende Tagungsstätte machte den Eindruck, dass sie sich als authentische Kulisse eignen könnte. Als ich später zusammen mit meiner Assistentin und meinem Assistenten die Tagungsstätte von innen erkunden konnte, machte uns die Tagungsleiterin auf etwas aufmerksam, das sich zu einer kleinen Pointe des Films entwickeln sollte. Der glückliche Zufall war hier auf unserer Seite. Die Filmerlaubnis war unproblematisch, der Betrieb als Tagungsstätte allerdings würde den Aufwand, den wir vor Ort würden treiben können, begrenzen. Die Dreharbeiten mussten sich nach den zeitlichen Lücken im Tagungsbetrieb richten und die Aufnahmen die vorhandene moderne Innenausstattung ausblenden. »Schnöde« materielle Faktoren spielten somit in die Drehbuchentwicklung mit hinein. Die aus der Vormoderne erhaltenen Quellen bewegen sich nicht. Es stellte sich somit die Frage, wie die unbelebte Flachware Archivakte zu einer attraktiven Protagonistin gemacht und dabei eine teleologische Darstellung vermieden werden konnte. Wir, der Filmexperte, meine beiden Assistenten und ich, erinnerten uns alle an unsere Kindheit. Wir schwärmten von der Sendung mit der Maus, so dass wir überlegten, ob wir einen Streifen entwickeln könnten, der im Prinzip einer Sendung mit einer »Maus für Erwachsene« glich. Wir versuchten eine Animationsfigur zu entwerfen, die möglichst geschlechtsneutral, für Erwachsene ansprechend und zeitlos wirken sollte. Eine dritte »Fremdsprache« kam somit ins Spiel, diejenige eines Grafikers. Auch hier kam es zu »Sprachproblemen«, wie die Entwürfe des Graphikers zeigten. Für den Filmexperten und den Graphiker erfüllte die entworfene Figur in ihren Varianten unsere genannten Kriterien. Meiner Assistentin, meinem Assistenten und mir hingegen erschien die Figur als jungenhafte Gestalt für Kinder. Von weiteren Entwürfen, die uns am ehesten ansprachen, riet der Filmexperte ab. Sie seien stilistisch konventionell und überholt und nur als Gegenmodelle für die Entwicklung einer überzeugenden Animationsfigur skizziert worden. An der optischen Entwicklung einer animierten Erzählfigur waren wir auf der historischen Seite gescheitert. Wir hatten eine Vorstellung, wie die Figur sein und welche Funktionen sie erfüllen sollte, wir konnten sie aber optisch nicht genau genug beschreiben, um sie zeichnen lassen zu können. Unsere Kreativität war nicht ausgereift genug. Ob wir diese zur Reife hätten bringen können, bleibt eine offene Frage. Angesichts des Budgets brach ich die graphischen Experimente mit der »Maus für Erwachsene«, die wir alle so gerne gehabt hätten, ab. Neben den »Sprachproblemen« setzten auch hier materielle Faktoren klare Grenzen. <?page no="80"?> 79 Eine Historikerin produziert einen Film Die Arbeit an der »Maus« war dennoch nicht vergeblich. Andere Animationsformen kamen ins Gespräch. Bei der Besichtigung des Zürcher Staatsarchivs, das auf einem Campus im Grünen liegt, waren dem Filmexperten die verschiedenen Gehwege ins Auge gefallen, die zum Archiv führen. Sein Vorschlag mit einer Drohne eine Luftaufnahme von dem Areal zu machen, um den Blick auf die verschiedenen Wege als Grundlage für die eine Animation der Recherchewege im Arbeitsprozess zu verwenden, überzeugte sofort. In dieser Metapher kamen filmische und universitäre Sprache zusammen. Genauso einfach war die Verständigung über die Tatsache, dass Geschichtswissenschaft aus erkenntnistheoretischen wie auch aus quellenbedingten Gründen nie herausfinden kann, wie die Vergangenheit tatsächlich war. Die im Gespräch flapsig formulierte Aussage des Filmexperten »Film ist fake« lässt sich ohne weiteres mit einem »Geschichtswissenschaft ist Konstruktion nach bestimmten Regeln im Rahmen des Vetorechts der Quellen« vereinbaren. Deswegen machte es für alle umgehend Sinn, eines der von Werdmüller überlieferten Porträts als unvollständiges Puzzle zu animieren. Eine schnelle Übereinkunft fanden wir auch bezüglich der Frage, wie das Denken im Archiv ins Bild gesetzt werden könne. Dank gemeinsamer Comicerfahrungen dachten wir gleich daran, aus Sprechblasen »Denkblasen« zu machen. In unseren verschiedenen »Sprachen« entdeckten wir einige hilfreiche Gemeinsamkeiten. Bei der weiteren Entwicklung der Animationen jedoch, kamen wieder Unterschiedlichkeiten zwischen den zwei Welten zum Vorschein. Die Idee mit der Drohne war eine technisch und optisch reizvolle Überlegung, deren Umsetzung das Budget jedoch gesprengt hätte. Sie mutierte damit für mich zu einer gedanklichen Spielerei eines Technikliebhabers. Ein käufliches Luftbild des Areals musste reichen. Wieder also ein »schnöder« materieller Faktor, der aber diesmal keine Auswirkungen auf das Konzept hatte. Der Grafiker vermochte die Metapher von den diversen Zugangswegen als Wege der Recherche dank der Luftaufnahme problemlos ins Bild umzusetzen, wobei ich die fachlichen Inhalte lieferte. Während Filmexperte und Grafiker in Absprache mit meinen für sie nicht immer überzeugenden »altmodischen« ästhetischen Vorstellungen an der Schrift und Form der »Blasen« tüftelten, mit denen die Recherchewege und Denkvorgänge markiert wurden, insistierte ich etwa auf die Unterscheidung von Ausrufe- und Fragezeichen sowie auf korrekte Begrifflichkeiten in den Denkblasen. Diese textliche »Pingeligkeit«, die zu Korrekturen bis zu allerletzt führte, akzeptierten die Filmexperten widerspruchslos. Ob sie für sie nachvollziehbar war, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls war ich als Auftraggeberin diejenige, die zu Inhalten und optischer Umsetzung das letzte Wort hatte. Diesmal saß die Historikerin nicht vergeblich am set, wie es zum <?page no="81"?> 80 Francisca Loetz Beispiel Natalie Zemon Davis für die Verfilmung der eigenen wissenschaftlichen Publikation über Martin Guerre oder Jacques le Goff für die Verfilmung des historischen Romans Der Name der Rose beschreiben. 11 Diesmal befand sich die Historikerin nicht in der Rolle der Expertin, denen Filmproduzenten folgen oder auch nicht. Diesmal war die Historikerin die Auftraggeberin, an der der Filmemacher und Grafiker sich zu orientieren hatten. 11 Zu den vergeblichen Versuchen von Historikerinnen und Historikern, die als Experten bei Filmproduktionen hinzugezogen wurden, den plot mitzugestalten vgl. Zemon Davis, Resemblance; Zimmermann, Historiker. Zur Einschränkung historischer Expertise auf den Kulissenbau, die Requisiten und die Körpersprache vgl. Crivellari, Unbehagen, 193; Pastoureau, Collaboration. Abb. 2 und 3: Verwendung von Animationen für die Darstellung der Recherchewege bzw. des Nachdenkens der Forscherin <?page no="82"?> 81 Eine Historikerin produziert einen Film Neben den Animationen, die intellektuelle Vorgänge - den Prozess wissenschaftlicher Recherche, Gedankengänge in Auseinandersetzung mit den Akten und den Konstruktionscharakter wissenschaftlicher Erkenntnis - vor Augen führen sollten, lag es nahe, eine weitere Animation zu wählen, um historische Informationen zu vermitteln. Werdmüller wurde vom Zürcher Ratsgericht verurteilt und so musste im Film erklärt werden, wie das Gerichtswesen in Zürich aussah. Das im Zuge meiner wissenschaftlichen Arbeit aus den Quellen erstellte, vereinfachte Organigramm war als reines und statisches Organigramm optisch völlig uninteressant. 12 Nicht umsonst hinterlegte der Grafiker es mit einer im Netz verfügbaren Darstellung des Ratsgebäudes aus dem 18. Jahrhundert. Filmisch hatte er weitergedacht, aber als Nichthistoriker verständlicherweise mit seinem Fund im Netz kein aus meiner Sicht geeignetes historisches Material verwendet. Ich recherchierte nach. Es mag trivial klingen, doch die Koordinationsnotwendigkeit zwischen filmischen Ansprüchen und historisch passenden Inhalten ist nicht zu unterschätzen. Nicht alles, was man so im Netz finden kann und was einleuchtend erscheint, hält seriöser fachlicher Recherche stand. Nachdem die Struktur der Animationen geklärt war, galt es sie dynamisch zu beleben, um den Verlauf von Prozessen optisch zu kennzeichnen. Hier verfügt die Bildsprache über Mittel, die den Drehbuchtext deutlich entlasten. Das Werdmüllerporträt im Film, in dem sich nach und nach schnitzelförmige Ausschnitte des zeitgenössischen Stichs gegenseitig ergänzen, ohne dass das Porträt jemals vollständig zusammengesetzt noch mit sprachlichen Kommentaren ausgefüllt wird, verdeutlicht, wie die im Laufe eines Arbeitsprozesses zusammengetragenen Erkenntnisse ein Bild mit Lücken ergeben, das dennoch einen Gesamteindruck erlaubt. Eine Tabelle, die allmählich ausgefüllt wird, eine Handschrift, aus der die vorgelesenen Buchstaben allmählich zu verständlichen Wörtern heraustreten, setzen den zeitlichen Verlauf der Erkenntnis ins Bild. Genau solche Perspektiven sind in wissenschaftlichen Darstellungen kaum umzusetzen. Ich kann als Historikerin beschreiben, wie ich eine Handschrift entziffere, doch keine paläographische Einführung demonstriert, wie entziffern geht. Ich kann die Biographie einer historischen Figur kapitelweise zu einem Gesamteindruck von dieser Figur zusammenschreiben, doch das Puzzle einer Animation sagt hier tatsächlich mehr aus als die vielen tausend Worte einer historischen Abhandlung. Mit den Animationen fanden wir einen Weg, Gedankliches ins Optische zu übertragen. Die weitere Herausforderung bestand darin, das Drehbuchmanuskript akustisch zu gestalten. Forschung bedeutet, von einem Erstaunen 12 Vgl. Loetz, Gott, 143; Loetz, Gewalt, 46. <?page no="83"?> 82 Francisca Loetz Abb. 4: Allmähliche Darstellung des Werdmüllerporträts als unvollständige Konstruktion <?page no="84"?> 83 Eine Historikerin produziert einen Film über etwas zu starten und der Frage nachzugehen, die dieses Erstaunen ausgelöst hat. Wohin der Erkenntnisweg schließlich führen wird, ist offen. Um dies zu verdeutlichen, wollte ich auf den üblichen auktorialen Erzähler mit der männlichen, vertrauensvoll klingenden, warmen Stimme verzichten. Ich wollte stattdessen eine weibliche Sprecherin einsetzen, die eine recherchierende, nachdenkende, manchmal Fehler machende Historikerin, die seriöse Forschung demonstriert, zu Wort brachte. Forschung erfolgt nicht linear-teleologisch und verkündet keine unumstößlichen Wahrheiten, das sollte stimmlich »rüberkommen«. Bereits die wichtige Idee vom trailerartigen Anfang, der die Neugier auf die Person Werdmüllers lenkt, erforderte eine klare Abgrenzung zum Hauptteil, in dem der Forschungsprozess im Mittelpunkt steht. Konnten mehrere weibliche Stimmen dies bewerkstelligen? Lange habe ich an der Idee einer kommentierenden und einer forschenden weiblichen Stimme festgehalten. Zu viele Filme mit historiographischen Anspruch setzen auf die männliche Stimme, die für Charisma und Expertise steht. Erste Versuche, belehrten mich eines Besseren. Zwar vermögen professionelle Sprecherinnen unterschiedlichen Charakteren eine jeweils eigene Stimme zu verleihen, doch in den Aufnahmeproben mit den zwei deutlich voneinander verschiedenen weiblichen Stimmen hoben sich die erklärende und forschende Perspektive nicht so stark voneinander ab, wie ich mir das vorgestellt hatte. Meine beide Filmperspektiven hatten einen gemeinsamen Grundcharakter: wissenschaftliche Seriosität. Es ging also eher um Stimmungsunterschiede als um Charakterunterschiede, um Erklären nach außen und Nachdenken nach innen. Am leichtesten hörbar wurden diese beiden Perspektiven in der Kombination einer eher nüchtern-erklärenden männlichen Stimme und einer stimmungsvoll-differenzierenden weiblichen Stimme im Off. Der übliche vertrauenswürdige männliche Kommentator, der mit Erklärungen, den Film zusammenhält, ließ sich also nicht ganz verbannen. Doch wurde mit der atmosphärisch differenzierteren Forscherin dem Typus des männlichen Kommentators eine stimmliche Alternative für fachliche Expertise zur Seite gestellt werden. 13 Über solche Möglichkeiten, verschiedene Betrachtungsperspektiven ästhetisch zu gestalten und über Kontraste zu profilieren, verfüge ich in einem geschichtswissenschaftlichen Text kaum. In einer wissenschaftlichen Abhandlung kann ich zwar argumentativ, aber nicht ästhetisch verschiedene Perspektiven einnehmen. Die »Stimmung« oder Grundhaltung eines wissenschaftlichen Textes ist immer der erklärende, interpretierende, sachlich nachvollziehbare, fragende Modus der Argumentation. Solange Historikerinnen 13 »Atmosphärisch« sollte hierbei nicht klischeehaft mit »emotional« verwechselt werden. <?page no="85"?> 84 Francisca Loetz oder Historiker nicht ihre Höhen und Tiefen im Archiv zum Thema machen, interessieren alle stimmungsprägenden Irrungen und Wirrungen, die im Verlauf eines Forschungsprojekts aufgetaucht sein mögen, nicht. Eine nächste Herausforderung war die Suche nach einer Sprecherin und einem Sprecher mit geeigneten Stimmen. Zu meiner eigenen Überraschung stellte ich fest, dass ich zwar eine klare Vorstellung von den Stimmen hatte, sie aber niemals hätte beschreiben können. Ich machte einen Selbstversuch und probierte einige Hörbücher durch, um mir über »meine« Stimmen klar zu werden. Ich fand, dass die Lesungen der literarischen Texte der Hörbücher nicht zu einem sachlich orientierten Drehbuchtext passten. Über einen zweiten Versuch kam ich meinen Wunschvorstellungen näher. Im Netz hörte ich mir Sendungen dokumentarischen Charakters an. Irgendwie präzisierten sich meine stimmlichen Wünsche, aber eben nur irgendwie. Derart unklare-klare Voraussetzungen sind nicht gerade hilfreich, um systematisch einen Sprecher oder eine Sprecherin zu recherchieren. Auf Zufallsfunde über Namenslisten aus dem Netz wollte ich mich nicht verlassen. Die Sprecherin und der Sprecher ließen sich schließlich dennoch finden. Das Glück war erneut auf meiner Seite. Der Filmexperte empfahl jemanden für den männlichen Sprecher, mit dem er in einem anderen Projekte zusammengearbeitet hatte. Er passte genau in meine Hörerwartungen und, ich gestehe es, Hörgewohnheiten. Die warmen männlichen Stimmen vieler Dokumentarsendungen haben sich in mein (weibliches) Ohr eingeschmeichelt. Da der Filmexperte zufällig jemanden kannte, brauchte ich nicht mehr systematisch nach einem Sprecher zu suchen. Doch ich wollte aus professioneller Deformation genauer wissen, wer dieser Sprecher war, der mir vorgeschlagen wurde. Ich recherchierte. Ja, ich hatte es mit einem Experten und nicht mit einem mehr oder weniger geeigneten Zufallsfund zu tun. Statt wie in den MDR breaking news von der Völkerschlacht einen Professor für nordamerikanische Geschichte und Körpergeschichte - soweit ich weiß, ohne schauspielerische Erfahrung - den Fachmann für europäische Kriegsgeschichte mimen zu lassen, würde mit Marco Caduff ein Profi die Rolle des Sprechers übernehmen. Für die Sprecherin hatte ich aus einem ganz anderen Zusammenhang heraus jemand Bestimmtes im Sinn. Ich kannte Maja Hermann als professionelle Mezzosopranistin mit Schauspielerfahrung und hatte erlebt, wie differenziert sie Stimmungen zum Schwingen bringen kann. Würde sie sich auf die Rolle einer Sprecherin für ein Filmexperiment einer Laiin einlassen? Hier lernte ich dazu: Während wir in der Wissenschaft stets nach innovativen Ansätzen und neuen Erkenntnissen suchen, aber vor innovativen Formen des Wissensaus- <?page no="86"?> 85 Eine Historikerin produziert einen Film tauschs eher zurückscheuen, 14 ließ meine Bekannte sich auf das Experiment ein, ohne lange zu zögern. Der Sprecher hatte sich ebenfalls sofort interessiert gezeigt. In den Fächern der Künste sind inhaltliche Unvoreingenommenheit und förmliche Experimentierfreude offenbar häufiger vertreten als in den Wissenschaften des Geistes. Was die Texte selbst betraf, so meinte ich mich an klare, einfache Syntax und Ausdrucksweise gehalten zu haben. Dass dies für einen klingenden Text nicht reicht, erkannte ich, als Wolfram Schneider-Lastin, der damalige Leiter für digitale Lehre der Universität und nebenberufliche Schauspieler, den Text auf »Ungereimtheiten« durchging. Die »Dissonanzen« einiger Sätze störte ihn. Auch die Sprecherin machte mich auf rhythmisch und melodisch problematische Stellen aufmerksam. Das Ohr beim Schreiben mithören zu lassen, das ist eine Herausforderung, die Theater- und Hörbuchleuten viel vertrauter ist, als mir als Wissenschaftlerin. Wir versuchen in der Geschichtswissenschaft zwar immer lesbarer zu werden, ohne aber - und das unterstreicht der Beitrag Hildegard Kellers in diesem Band - daran zu denken, dass Lesen auch mit innerlichem Mit- und Zuhören zu tun haben könnte. Bei den Aufnahmen im Tonstudio hatte ich die Gelegenheit nochmals dazuzulernen. So wie wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Formulierungen herumfeilen, so erlebte ich, wie hier durch feinste stimmliche Variationen Textpassagen in einem ganz anderen akustischen »Licht« erschienen. Kleinste Regieanweisungen sorgten für atmosphärisch deutlich unterscheidbare stimmliche Interpretationen des Textes. Solche atmosphärischen Differenzierungen fehlen in wissenschaftlichen Texten. Die Rezeptionsgeschichte von Texten zeigt, wie unterschiedlich wir als Fachkolleginnen und Fachkollegen Texte lesen. Aber reflektieren wir als Autorinnen und Autoren wissenschaftlicher Werke über die Stilistik der Leselenkung hinaus, wie wir - ob gewollt oder ungewollt - unsere Leserschaft informative Stimmungen vermitteln? Kann oder muss wissenschaftlicher Diskurs auf »Atmosphäre« verzichten? Mit dem Phänomen Ton war ich noch nicht am Ende. Dass man in einem Film Schritte einer Figur nicht nur sieht, sondern auch hört, ist selbstverständlich. Dass Filmmusik Dramaturgie mitgestaltet, wissen alle, die etwa bei einem Krimi den Ton ausgeschaltet haben. Hier machte mich eine Bemerkung meines Filmexperten nachdenklich. In den Szenen, in denen das Porträt Werdmüllers nach und nach aus papierschnipseln-ähnlichen Teilen 14 Vgl. hierzu die altbekannte Kritik an wissenschaftlichen Tagungsformaten etwa unter: http: / / www.faz.net/ aktuell/ beruf-chance/ arbeitswelt/ langweilige-tagungen-vielen-dank-fuer-ihre-aufmerksamkeit-14266689.html [8.6.2016]. <?page no="87"?> 86 Francisca Loetz zusammengesetzt wurde, fehle noch der Ton. Ein solches akustisches Loch funktioniere im Film nicht, bekam ich zu hören. Ich wollte es nicht so recht glauben. Umso größer war der Überraschungseffekt, als der Filmexperte die gezeigten Porträtschnipsel mit dem dezenten Geräusch des Verfertigens von Papierschnipseln unterlegte. Die Szene wurde viel überzeugender. Heute frage ich mich, was in einer wissenschaftlichen Darstellung dieser hilfreiche »Unterton« sein könnte. Auch eine umgekehrte Erfahrung brachte mich zum Nachdenken über mein Fach. Der Film läuft gegen Ende auf die Frage zu, warum Geschichtswissenschaft sinnvoll, warum sie eine Gegenwartswissenschaft ist. Die Antworten sind für mich eine Kernbotschaft des Films, doch mir waren keine bildlichen Vorschläge zu den entsprechenden Textpassagen eingefallen, da sie über das mir vertraute Quellenmaterial hinausgingen. Die Lösung war für mich verblüffend. Vom Filmexperten erfuhr ich, dass man das Auge möglichst nicht ablenken solle, wenn man die Aufmerksamkeit auf den gesprochenen Text lenken wolle. Dabei brauche man dennoch eine Bewegung im Bild, um den Film nicht tot erscheinen zu lassen. Was bildlich herauskam, ist eine Szene mit Menschen, die als verschwommene Figuren eine Bahnhofshalle durchqueren. Für die Passage, in welcher der Sprecher am Beispiel der frühneuzeitlichen Gotteslästerung erläutert, dass Geschichtswissenschaft aktuelle Grundfragen behandelt, wählte der Filmexperte die Figur einer Justitia, hinter der sich im diffusen Hintergrund ein Vogel von einer Kirchenkuppel in den Himmel schwingt. Nach dieser Erfahrung bin ich zur Überzeugung gelangt: Akustische Information (gesprochener Text) vor Bild ist als filmische Pointe selbst in unserer bildreichen oder gar bildüberfluteten Welt möglich und verlangt bewegte, neutrale Bilder. Und weiter: Die Frage, ob oder wie wissenschaftliche Argumentation mit einer Kombination von »Informations«- und »Entspannungsebene« arbeiten kann oder sollte, bleibt zu stellen bzw. zu beantworten. Eine Pointe hatte ich noch auf Lager. Der Schluss sollte an den trailerartigen Anfang des Films anknüpfen, um einen optischen Rahmen zu bilden. Die Geschichte des Anwesens Werdmüllers bot dazu eine gute Gelegenheit. Ein drittes Mal war das Glück auf unserer Seite. Bis zum Schluss suggeriert der Film, die Bilder der Tagungsstätte zeigten das authentische Anwesen Werdmüllers. Bei dem Besuch auf der Halbinsel Au hatten wir allerdings im Gespräch mit der Leiterin der Tagungsstätte realisiert, dass das ursprüngliche Schloss Au Werdmüllers gar nicht mehr existiert. Allein der oben erwähnte Kamin und etwas Mobiliar gehören zum ursprünglichen Anwesen. Die Tagungsstätte ist ein neobarocker Neubau des beginnenden 20. Jahrhunderts und fiel daher als historische Kulisse für den Film aus. In der Tagungsstätte hat sich jedoch auf <?page no="88"?> 87 Eine Historikerin produziert einen Film zwei Flügeltüren eine Abbildung des ursprünglichen Anwesens erhalten, die einer nahezu zeitgenössischen Vorlage folgt. Hier drängte es sich geradezu auf, Geschichtswissenschaft als eine historiographische Darstellung und nicht als eine realitätsidentische Abbildung von Vergangenheit zu thematisieren. Die Flügeltüren, die am Anfang des Films aufgehen, und den Blick auf die Unterschrift Werdmüllers aus einer Archivakte eröffnen, konnten sich nun gleich einem fallendem Theatervorhang mit dem teilweise zusammengesetzten Werdmüllerporträt im Hintergrund wieder schließen. Die Spiegel im Saal mit den Flügeltüren erlaubten es, diese Flügeltüren in den verschieden gebrochenen Spiegelbildern aufzunehmen und somit Geschichtswissenschaft als Konstruktion aus verschiedenen Perspektiven in bewegten Bildern vorzuführen. Mit einer solchen ästhetischen Vielfalt können wissenschaftliche Texte kaum aufwarten. Geht hier Bild vor Information, Information vor Bild oder wirken beide gleich intensiv? Bild und Text müssen jedenfalls nicht immer in einem (eher konkurrierenden) hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Wie ein historiographischer Text, der sich der leichteren Verständlichkeit wegen in Kapitel und Absätze gliedert, braucht Film Einteilungen. Diese erfolgen u.a. über den Schnitt. Von den technischen Dingen abgesehen, die mir unbekannt waren, fielen mir am set Gesichtspunkte auf, an die ich als Historikerin bislang nicht gedacht hatte. Die erste Rohfassung des Films war knapp 19 Minuten lang. Nach unserer gemeinsamen Einschätzung war dies zu lang, um Interessierte im Netz bei der Stange zu halten. Ein weiteres Mal musste gekürzt werden. Ich wollte ästhetisch zwar schöne, aber textfreie Einblendungen aus dem Park der Tagungsstätte herausnehmen und argumentierte, sie transportierten keine relevanten Informationen. Ich erntete Widerspruch des Filmexperten. Auge und Ohr bräuchten kurze Pausen, um wieder aufnahmebereit zu sein. Ich ließ mich überzeugen, die Einblendungen blieben erhalten. Nunmehr überlege ich eher, welche Erholungspausen wissenschaftliche Texte bieten können. Sind pointierte Wiederholungen und die Formulierung der Zwischenergebnisse solche Pausen oder sind wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darauf angewiesen, dass die Lesenden von sich aus den Text zur Seite legen, wenn sie eine Pause brauchen? Welche Möglichkeiten haben wir, die in der Regel keine Sprechausbildung erfahren haben, in einem Vortrag unserer Zuhörerschaft Pausen für das Ohr - und im Falle bildlicher Präsentationen - auch für das Auge zu gönnen, so frage ich mich. Anfänglich hatte ich darauf bestanden, aus subjektiver Kameraperspektive zu zeigen, wie die Forscherin - gleich einer Studienanfängerin oder einem Studienanfänger - zuerst auf Wikipedia und anderen proseminarbekannten Netzangeboten surft, um ihre Fragestellung zu entwickeln. Erst als ich sah, <?page no="89"?> 88 Francisca Loetz dass die shots auf die Netzangebote lediglich eine Bleiwüste in Bildern ergaben, verabschiedete ich mich von der für mich inhaltlich wichtigen Passage. Auch der Filmexperte musste sich von einem liebgewordenen darling teilweise trennen. Er hatte eine vom Copyright befreite alte Schwarzweiß-Verfilmung, in der Werdmüller die zentrale Figur ist, aufgetrieben und sie für den trailerartigen Abschnitt eingesetzt. Mir war die Einspielung zu lang, so dass ich fand, dass sie von der eigentlichen Thematik ablenke. Nach einigem freundlichen Ringen entschieden wir uns für eine Kürzung der Passage. Dies Abb. 5 und 6: Anfang und Abschluss des Films mit sich öffnenden bzw. schließenden Flügeltüren <?page no="90"?> 89 Eine Historikerin produziert einen Film wiederum bewirkte, dass der zuvor aufgenommene Text bei genauem Hören nicht mehr vollständig zum Gezeigten passte. Erst jetzt merkte ich, dass man die Tonaufnahme mit einigem Mehraufwand hätte wiederholen müssen, um die entstandene Text-Bild-Schere durch eine nachträgliche Korrektur aufzulösen. Wie viel leichter haben wir schreibenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler es, die wir in unseren Manuskripten Wörter einfach löschen oder Textpassagen überarbeiten können. Die Tonaufnahme eines Drehbuchmanuskripts verlangt mehr Vor-Denken als ein geschichtswissenschaftlicher Text, über den ich noch nach-denken kann. Doch es gilt auch umgekehrt: Eine schriftliche Vorlage erlaubt es zurückzublättern, um nachzulesen. Im Film hingegen ist es nicht möglich zurückzuhören, um nachzuhören. Dies machte ich mir zunutze, um der Figur der Sprecherin eine zusätzliche Note zu geben. Wer die Handschriften lesen kann, welche die Forscherin im Film vorliest, merkt, dass sie Lesefehler macht. Forscherinnen und Forscher machen Fehler und gelangen trotzdem und mit ihnen zu valablen Ergebnissen. Welcher Fernsehfilm mit historiographischem Anspruch und welche geschichtswissenschaftliche Darstellung macht dies zum Thema? Vielleicht regen die filmischen Herausforderungen die Geschichtswissenschaft dazu an, die Fehlertoleranzen in unserem Fach zu reflektieren. Irgendwann war es geschafft. Der Film, der die Geduld und die Nerven der historischen wie der filmischen Seite strapaziert hatte, ohne dass es jemals zu ernsthaften Konflikten kam, war fertig. Wir beide hätten an manchem, das uns noch nicht vollständig zufrieden stellte, gerne noch weiter gearbeitet, doch wir fanden, dass wir unser Ziel im Rahmen unserer Möglichkeiten erreicht hatten. Nun, da der Film auf meiner Homepage aufgeschaltet war, galt es ihn einer »Öffentlichkeit« zu präsentieren. Ich zeigte ihn anlässlich einer Besprechung, an der die Dozierenden, die Vertreterinnen des administrativen Personals und der Studierendenschaft unseres Historischen Seminars vertreten waren. Nach auffällig stillen (konzentrierten? ) 15 Minuten folgte erst einmal erstauntes (? ) Schweigen. Genau dieses Schweigen erntete ich auch, als ich anlässlich einer Tagung mit einem Flyer auf den Film hinwies. »Ein Film? Da bin ich aber mal gespannt! «, so oder so ähnlich fielen die Reaktionen aus. Der Filmtitel Tatort Archiv sprach offenbar sofort an und ließ an die Verwendbarkeit des Films für die eigene Lehre denken. Der Untertitel Auf den Spuren eines Gotteslästerers hingegen irritierte ein wenig. Wie sollte eine Geschichtsprofessorin der Frühen Neuzeit eine solche Thematik filmisch darstellen können? Man werde sich den Film bei Gelegenheit anschauen, hieß es höflich. Tatsächlich war dann aber die Neugier doch so groß, dass ich sehr schnell positive Rückmeldungen erhielt. Die Reaktion auf studentischer Seite war viel direkter. Kaum hatte ich <?page no="91"?> 90 Francisca Loetz den Film gezeigt, fragte mich die Vertreterin der Studierendenschaft, ob ich den Film auf Facebook zur Verfügung stellen könne. Sie würde die Studierenden dann über Facebook auf ihn hinweisen. Filme sprechen offenbar an, wir sollten das Medium für die Geschichtswissenschaft besser zu nutzen lernen, so mein Fazit. 15 Die Nachfrage der Studentin ließ mich spielerisch noch weiter überlegen: Warum nicht gleich meine nächste wissenschaftliche Publikation auf Facebook posten? Vielleicht bin ich als jemand, die sich nicht in sozialen Netzwerken bewegt, zu altmodisch. Bei der Vorstellung von Wissenschaftsvermittlung in Form gelikter und nicht gelikter Facebook-Einträge ist mir mulmig zumute. Gelassen bleibe ich hingegen bei der Vorstellung, dass moderne Medien für die Darstellung vormoderner Thematiken genutzt werden. Die Geschichtswissenschaft sollte sich allerdings dabei nicht von modernen Medien zu deren Zwecken funktionalisieren lassen, sondern sich selbst der Medien bedienen, um sich auf neue Erkenntnis- und Vermittlungsexperimente einzulassen. Am ehesten möglich dürfte dies sein, wenn die Aufträge von der historischen Seite kämen. Mit dem Film Tatort Archiv wollte ich es »besser machen«. Ob und was besser im Vergleich wozu gelungen ist, das mögen andere entscheiden. Eines habe ich jedoch gelernt: Fachgerechte Recherche, diverse »Sprachkompetenzen«, Geld und glückliche Zufälle gehören dazu. Und: Das nächste Mal, sollte es ein solches überhaupt geben, würde ich es wieder versuchen besser zu machen. Vielleicht versuchen es andere auch. Bibliographie Werner C. Barg: Wirklichkeitsspiel. Zur Erzähldramaturgie doku-fiktionaler Fernsehformate, in: Kay Hoffmann / Richard Kilborn / Werner C. Barg (Hg.), Spiel mit der Wirklichkeit. Zur Entwicklung doku-fiktionaler Formate in Film und Fernsehen, Konstanz 2012, 319-37. Fabio Crivellari: Das Unbehagen der Geschichtswissenschaft vor der Popularisierung, in: Thomas Fischer / Rainer Wirtz (Hg.), Alles authentisch? , Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz, 2008, 161-185. William Guynn: Writing History in Film. New York / London 2006. Kay Hoffmann: Die Fälschung der Wirklichkeit. Vom Vergnügen, mit dokumentarischen Erwartungen zu spielen, in: Kay Hoffmann / Richard Kilborn 15 Zu solchen Versuchen vgl. http: / / www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/ wissenschaftler_als_filmemacher? nav_id=3604 [11.7.2016]. <?page no="92"?> 91 Eine Historikerin produziert einen Film / Werner C. Barg (Hg.), Spiel mit der Wirklichkeit. Zur Entwicklung dokufiktionaler Formate in Film und Fernsehen, Konstanz 2012, 41-50. Kay Hoffmann: Die Wirklichkeit schmilzt dahin wie Schnee unter der Sonne. Von der Inszenierung im Dokumentarfilm, in: Kay Hoffmann / Richard Kilborn / W er ner C. B ar g (H g. ), S pi el mi t der W ir kl ic hk ei t. Z ur En tw ic kl un g do ku fiktionaler Formate in Film und Fernsehen, Konstanz 2012, 21- 40. Tristram Hunt: How Does Television Enhance History? in: David Cannadine (Hg.), History and the Media, Basingstoke/ New York 2004, 88 -102. Priska Morrissey: Historiens et cinéastes. Rencontre de deux écritures, Paris 2004. Francisca Loetz: Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern zu einer Kulturgeschichte des Religiösen, Göttingen 2002. Francisca Loetz: Sexualisierte Gewalt 1500 -1850. Plädoyer für eine historische Gewaltforschung, Frankfurt 2012. Michel Pastoureau: La collaboration historique au cinéma. Entretien avec Michel Pastoureau, Revue de l’Association historique des élèves du lycée Henri-IV 21 (2000), 6-23. Robert A. Rosenstone: History on Film. Film on History, 2. Auflage, Harlow2012. Mia E.M. Treacey: Reframing the Past. History, Film and Television, London / New York, 2016. Natalie Zemon Davis: Movie or Monograph? A Historian/ Filmmaker’s Perspective, The Public Historian, (25/ 3) 2003, 45- 48. Natalie Zemon Davis: »Any Resemblance to Persons Living or Dead«. Film and the Challenge of Authenticity, in: Marnie Hughes-Warrington (Hg.), The History on Film Reader, Abingdon / New York 2009, 17-29. Martin Zimmermann: Der Historiker am Set, in: Thomas Fischer / Rainer Wirtz (Hg.), Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz 2008, 137-160. Internet http: / / www.hist.uzh.ch/ de/ fachbereiche/ neuzeit/ lehrstuehle/ loetz/ film.html [19.07.2016]. http: / / www.bbc.co.uk/ programmes/ b008qpzn/ episodes/ guide [30.6.2016]. http: / / www.channel4.com/ programmes/ monarchy [30.6.2016] . https: / / www.youtube.com/ watch? v=-oezeb9V0TM [30.6.2016]. http: / / www.br.de/ br-fernsehen/ sendungen/ das-bayerische-jahrtausend/ das-bayerischejahrtausend100.html [30.6.2016]. http: / / www.faz.net/ aktuell/ beruf-chance/ arbeitswelt/ langweilige-tagungen-vielen-dankfuer-ihre-aufmerksamkeit-14266689.html [8.6.2016]. http: / / www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/ wissenschaftler_als_filmemacher? nav_id=3604 [11.7.2016]. <?page no="94"?> 93 Zeitlose Geschichten Von fiktiven Begegnungen mit historischen Figuren Hildegard Elisabeth Keller The past is never dead. It’s not even past. (William Faulkner, Requiem for a Nun, 1. Akt, 3. Szene) Es gibt keine von der Zeit losgelösten Geschichten. Alles Geschehene ist in Raum und Ort verankert, anders wäre es nicht wirksam. Und doch gibt es Geschichten, die über die eigene Zeit hinaus wirken, sowie solche, die von einem nicht-zeitlichen Sein künden. Als Forscherin (ich bin Literaturwissenschaftlerin und Mediävistin) gehe ich der Frage nach, welche Geschichten in einer bestimmten Zeit Resonanz finden, wie sie medial präsentiert wurden, wer sie für wen und warum in eine neue Form bringen wollte. Als Autorin von Hörspielen, Theaterstücken und Filmen aber wirke ich an ihrer Transformation mit. Die Zeit ist einer meiner wichtigsten Werkstoffe. Sie macht fiktive Geschichten und auch historische Fakten geschmeidig und wandlungsfähig, denn sie ist dehnbar und unzuverlässig. Genau dies macht sie kostbar. Ohne Zeit gibt es weder Raum noch Schöpfung. Dies gilt für alle Abb. 1: Still aus dem Film Der Ozean im Fingerhut (2012) <?page no="95"?> 94 Hildegard Elisabeth Keller menschlichen Lebensbereiche: die Fiktion, die physikalische Wirklichkeit und deren Integration ins kollektive und individuelle Bewusstsein der Menschen. Zeit und Zeitlichkeit Es brauchte Zeit, bis Christoph Kolumbus und seine Nachfolger die »newe Welt« ins Bewusstsein der Europäer und die deutschen Kartografen das neue »America« auf Papier brachten. Eines der ersten Bücher mit einer rudimentären Amerika-Karte stammte von Johannes Honter, Rudimenta cosmographica. Es erschien 1546 beim Zürcher Drucker Froschauer mit Illustrationen von Heinrich Vogtherr. Ein handschriftlicher Eintrag eines Zürchers bezeugt, dass Konrad Gessner dieses Buch im Geografieunterricht verwendete. Amerika ist auf der Weltkugel erkennbar, aber es dauerte Jahrhunderte, bis der amerikanische Doppelkontinent seiner kartografischen Verzerrung entwuchs. Es brauchte auch Zeit, bis die Mythen der Einfüßler, Hundekopf-Wesen und Langohr-Menschen, welche man an den Rändern der bekannten Welt vermutete, den Berichten von Augenzeugen, welche den Lebewesen in anderen Erdteilen tatsächlich begegnet waren, Platz machten. Der Weg war lang. Stellvertretend für die mythischen »Monsterrassen« sind die hundeköpfigen Kannibalen auf Lorenz Fries’ Titelblatt. Die Tupinambá gehörten zu den neu entdeckten Ethnien in Lateinamerika. Die Deutschsprachigen nannten sie »Völker« und »Nationen«, in Anlehnung an den Sprachgebrauch der spanischen Konquistadoren, »pueblos« und »naciones«. Diese brasilianischen Ureinwohner kamen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit den Franzosen, Portugiesen, Spaniern und Deutschen in Kontakt. Der Landsknecht und Büchsenschütze Hans Staden (um 1525-1576) aus Hessen fiel in ihre Hände, war fast ein Jahr lang in ihrer Gefangenschaft und beobachtete ihre kannibalistischen Riten. Staden gelang es, sich als Heiler und Schamane nützlich zu machen, wurde zu einem respektierten Mitglied des Stammes und konnte schließlich fliehen, nach Europa zurückkehren und seinen Erfahrungsbericht unter dem Titel »Warhafftige Historia« veröffentlichen. Das ist sensationell für einen, der eigentlich zum rituellen Verzehr bestimmt war. Die Tupinambá suchten sich die Kraft ihrer Feinde durch das Verzehren derselben anzueignen. Stadens Buch führt die Welt der »wilden Menschfresser leuthen«, aber auch der Tiere im brasilianischen Urwald in Text und zahlreichen Holzschnitten vor Augen. Es erschien 1557 in Marburg und war auf dem Buchmarkt sehr erfolgreich. Die Geschichte dieses Buches zeigt sehr anschaulich die Kräfte, <?page no="96"?> 95 Zeitlose Geschichten die sich in einer ganz bestimmten Zeit (hier den mittleren Jahrhunderten des 16. Jahrhunderts) Bahn brechen konnten, indem sich Gelehrte mit großem Buchwissen und Menschen mit großem Erfahrungswissen zusammentaten. Erstmals waren die medialen Voraussetzungen gegeben, dass ein Mensch aus Stadens Schicht zum Autor werden konnte. Nicht als digitaler Selfpublisher, wie dies heute möglich ist, sondern als »gemeiner Mann«, den ein Gelehrter (der Arzt Johannes Dryander) als Vorwortschreiber und Mentor in den frühneuzeitlichen Buchmarkt einführte. Konnten sich Stadens Leser vorstellen, was der Autor in Brasilien gesehen, gerochen und gehört hatte und was die Heimkehr für ihn bedeutet haben muss? Im damaligen Zürich war das einzige Lebewesen aus Südamerika, mit dem man in Kontakt kommen konnte, ein Meerschweinchen-Paar. Und konnten sich die Tupinambá vorstellen, wer dieser weiße Mann war, den sie gefangen genommen und ausgezogen hatten, der sich aber heftig zu sträuben begann, als man seinen Körper enthaaren wollte? Fiktive Begegnungen Dieser historische Hans Staden aus dem 16. Jahrhundert wurde mehr als hundert Jahre nach seinem Tod zu einem »Gespräch im Reich der Todten« geholt. Die fiktive Begegnung fand mit keinem Geringeren als Christoph Kolumbus statt. In Wirklichkeit entpuppte sich das »Gespräch« als biografisches Résumé von Kolumbus und Staden, nicht aber als echter Dialog. Sein Verfasser, der sich als Herausgeber stilisierte, hieß David Fassmann und kam bei den zeitgenössischen Lesern recht gut an, das Potenzial der fiktiven Begegnung schöpfte er nicht aus. Jedenfalls blieben Fassmanns Gespräche weit hinter meinen eigenen Erfahrungen als Autorin von Hörspielen zurück, in denen historische Persönlichkeiten verschiedener Zeiten einander begegneten und - in einem zeitenthobenen Raum - ein fiktives Gespräch führten. Ich stieß auf Fassmann »Gespräch« zwischen Staden und Kolumbus erst Jahre nach meinen eigenen literarischen Experimenten mit fiktiven Begegnungen zwischen historischen Persönlichkeiten. Damals recherchierte ich über die deutschen Südamerikafahrer und ihre Reiseberichte. Fassmanns Gespräche im Reich derer Todten riefen die Literaturwissenschaftlerin in mir auf den Plan; Fassmann stand, wie ich bald erkannte, in der Tradition von Lukians Totengesprächen. Noch im 19. und 20. Jahrhundert knüpften Autoren an diese Tradition an. Erst als mich Leser und Hörer der Trilogie des Zeitlosen darauf aufmerksam <?page no="97"?> 96 Hildegard Elisabeth Keller machten, begann sich die Literaturwissenschaftlerin in mir mit der zeitgenössischen Tradition von Toten- oder Geistergesprächen zu befassen, in der sie als Hörspielautorin stand. Diese Auseinandersetzung half mir auch, meine literarischen Experimente zu positionieren. Ich erwähne einige Beispiele: Maurice Joly war in seinem Buch Gespräche in der Unterwelt (1864) der literarischen Tradition als einer Form der Zeitkritik verpflichtet. Er ließ Machiavelli auf Montesquieu prallen und brachte in dieser historischen Verkleidung eine Anklage gegen Napoléon III. vor, die den Autor ins Gefängnis brachte. Eine unterhaltsame, mediengerechte Variante pflegte das italienische Radio in den 1970er Jahren. Unter dem Titel Die unmöglichen Interviews (Le interviste impossibili) führten Personen aus dem kulturellen Leben Italiens ein Interview mit einer historischen Persönlichkeit aus der Weltgeschichte oder der Literatur. Unter den Interviewern waren prominente Autoren und Produzenten wie Andrea Camilleri, Italo Calvino und - am kontinuierlichsten von allen - Giorgio Manganelli. Auch der junge Umberto Eco schrieb einige Interviews, noch vor seiner Professur für Semiotik an der Universität Bologna und auch vor seinem eigenen literarischen Durchbruch mit Der Name der Rose (Roman 1980; Film 1986). Eco unterhielt sich in seinen »unmöglichen Interviews« unter anderen mit Denis Diderot, Beatrice und Pythagoras. Seit dem 20. Jahrhundert halten Romane das Geschichtsbewusstsein wach, indem sie Biografien realer und fiktiver Protagonisten mit zeitgeschichtlichen Strömungen verknüpfen. Eines der bislang wirkungsvollsten Beispiele war E.L. Doctorows Roman Ragtime (1975); dieses Gesellschaftsbild der USA im frühen 20. Jahrhundert sprach Leser (nach der Verfilmung auch Kinobesucher) mit einer Breitenwirkung und Intensität an, wie es einem historischen Sachbuch kaum möglich wäre (vgl. Bloom, Ragtime). Erfolgreich im selben Genre war jüngst Michael Köhlers Roman Zwei Herren am Strand (2014) über die Freundschaft zwischen Winston Churchill und Charlie Chaplin. Dieser kurze Überblick veranschaulicht etwas Generelles. Literatur erklärt und erweitert das Leben. Fiktion ist komplementär zur Geschichte, wenn wir Letztere als ein konstruiertes Gerüst aus Fakten verstehen, die durch historische Dokumente und Interpretationen der Historiker konsolidiert, insofern aber auch Fluktuationen ausgesetzt sind. Geschichte ist, wenn nicht in Stein gemeißelt, so doch objektiviert. Entscheidend ist das Wissen der andern, denn sie tragen eine Geschichte weiter - oder eben auch nicht. Dies lässt sich an den zahlreichen literarischen Bearbeitungen des Wilhelm Tell-Stoffs ebenso zeigen wie an Faulkners Theaterfigur Temple aus dem Requiem für eine Nonne. Der Satz »The past is never dead. It’s not even past« deutet auf ihre Vergangenheit als Prostituierte, in der sie das Mitwissen der anderen verhängnisvoll fixiert. <?page no="98"?> 97 Zeitlose Geschichten Dieser kurze Überblick macht aber auch deutlich, worum es mir in meinen eigenen literarischen Experimenten ging: Im Gegensatz zu den »unmöglichen Interviews« und zu Fassmanns Gesprächen brachte ich in meiner Trilogie des Zeitlosen historische Autoren aus der Geschichte der Mystik zu fiktiven Gesprächen zusammen. Ihre Biografien hatten sie geografisch und zeitlich voneinander entfernt. Aber für mich war fraglos, dass zwischen historischen Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Zeiten Spannungsfelder bestehen, die sich mit den Mitteln der Fiktion und der Poesie darstellen lassen. Haben die Figuren einander gekannt? Hätten sie einander in der Wirklichkeit je begegnen können? Ist das denn wichtig? Die Fiktion schafft Begegnungsräume, die unabhängig sind von historischen Fakten, materiellen Gegebenheiten, biologischen Lebensgesetzen. Fiktive Begegnungen von Menschen unterschiedlicher Zeit machen Andersartigkeit sichtbar. Solche Begegnungen herbeizuführen und sprachlich zu gestalten, ist eine Methode der Sichtbarmachung, die keiner Rechtfertigung bedarf. Vielleicht ist es eine Forschungsmethode mit künstlerischer Freiheit. Die Trilogie des Zeitlosen Die Trilogie des Zeitlosen besteht aus drei Bänden mit je einem Hörspiel. In den drei Hörspielen treten insgesamt acht Hauptfiguren auf, drei Männer und fünf Frauen, große Persönlichkeiten aus der Weltliteratur, insbesondere aus Abb. 2: Still aus dem Film Der Ozean im Fingerhut (2012) <?page no="99"?> 98 Hildegard Elisabeth Keller der Philosophie- und Mystikgeschichte. Nur zwei der drei Männer kannten einander im historischen Leben. Ich brachte sie in den drei Bänden erstmals zusammen. Sie entstanden anlässlich der Ausstellung »Mystik - Sehnsucht nach dem Absoluten« (Museum Rietberg Zürich, September 2011 bis Januar 2012), an der ich konzeptuell und als Katalogautorin mitarbeitete. Ich war zur Mitarbeit als Literaturwissenschaftlerin eingeladen worden, doch bald schon kam die Inspiration zu einem eigenen literarischen Projekt, das schnell Gestalt annahm. Die drei bibliophil gestalteten Sach- und Bilderbücher (mehr dazu unten) haben im Innern illustrierte Taschen mit CD- ROMS. Sie enthalten die drei Hörspiele, von denen nachher die Rede sein wird. Ich war Ko-Autorin, Herausgeberin und Produzentin der Bücher sowie der Hörspiele. Die Drehbücher wurden mit Schauspielerinnen und Schauspielern inszeniert und aufgenommen, die Musik dazu gesucht und - im Fall des ersten und dritten Bandes - für das Hörspiel eigens hergestellt. Schließlich arbeitete ich am Schnitt- und Mischpult mit. Ausschnitte der Hörspiele waren als Hörstationen und Installationen in die Ausstellung integriert. Die drei Bände sind Hybride. Während ich mir beim Schreiben der Hörspiele die Freiheit der Fiktion nahm, schrieb ich die Bücher aus meiner Erfahrung als Germanistin und Mystikspezialistin heraus. Fachpublikationen richten sich naturgemäß an Spezialisten, in meiner Disziplin einen (sehr eingeschränkten) Kreis von Mediävisten. So bleiben die Resultate jahrelanger Arbeit reserviert für wenige Eingeweihte. Die Wissenschaft ist eine ökologische Nische, in der es sich wohl sein lässt, in der mir aber oft genug der umfassend engagierte Austausch gefehlt hat. Ich sehnte mich nach einer nicht nur analytischen oder konservatorischen Auseinandersetzung und erkannte wohl auch deshalb in der Ausstellung eine große Chance: Sie sollte ein breites Publikum ansprechen, den Blick für mystische Strömungen in den großen Weltreligionen öffnen und lud zu Synthesen ein. Es war eine Chance zur Befreiung. Ich beschloss sie für mich selbst zu nutzen, als Wissenschaftlerin, Hörspielautorin und Gestalterin, aber auch die historischen Persönlichkeiten, so fand ich, sollten freier, also freier zugänglich werden. Ich suchte das Gespräch mit denen, die normalerweise stumm auf dem Seziertisch von uns Philologen liegen, das Gespräch mit den Forschungsobjekten. Dass die literaturwissenschaftlichen Methoden sie nicht zum Leben erwecken, wunderte mich nicht. Ich suchte einen Ausweg. Ich suchte den lebendigen Austausch mit ihnen. So wurden sie zu Protagonisten meiner Hörspiele und führten ein Gespräch, wie wir es uns alle zuvor nicht erträumen konnten. <?page no="100"?> 99 Zeitlose Geschichten Im Zentrum der Trilogie stehen drei Männer und fünf Frauen, die zwischen dem vierten Jahrhundert vor Christus und dem Jahr 1943 lebten. Ihre Existenz gilt als gesichert nach aktuellem Wissensstand. Dass und wie sie interagieren, ist - abgesehen von der Figurenkonstellation in Die Stunde des Hundes - frei erfunden. Der Respekt für ihre Werke bleibt gewahrt. Eine knappe Vorstellung der drei Hörspiele gibt eine Orientierung über Zeit und Raum. Die Stunde des Hundes Der erste Band Die Stunde des Hundes hat eine Vorgeschichte, die schließlich zur Trilogie führte: Der Hund erschien 2007. Bald war die erste Auflage vergriffen, aber ich dachte weder nach der Nomination für den Deutschen Hörbuchpreis 2008 noch nach der Auszeichnung mit dem Mystikpreis der Theophrastusstiftung an eine Neuauflage. Erst die Vorbereitungen für die Mystikausstellung 2011 lockten den gescheckten Hund wieder hervor, und mit ihm den Gedanken an eine zweite Auflage sowie an zwei neue Bände mit fiktiven Begegnungen, die sehr viel stärker von der Zeit losgelöst sein sollten. Die Stunde des Hundes bildet den Austausch zwischen Heinrich Seuse im Inselkloster Konstanz und Elsbeth Stagel im Winterthurer Kloster Töss ab. Die Grundlage war Seuses Exemplar, in dem diese Beziehung präsent und in mehrfacher Weise stilisiert ist. Die Hauptfigur von Seuses Vita ist der sogenannte Diener der ewigen Weisheit, eine versteckt autobiografische Erzählerfigur für den Dominikanermönch Seuse. In der geistlichen Literatur des Spätmittelalters ist er einer der am intensivsten rezipierten Autoren, ganz besonders in Frauenklöstern. Dazu trug auch seine (ebenfalls stilisierte) Modellschülerin Elsbeth bei, eine historische Zürcherin, die im Dominikanerinnenkloster Töss lebte. Als ich das Hörspiel schrieb, gab ich dem kleinen, gescheckten Hund, der in Seuses Vita kurz vorkommt, sehr viel mehr Raum. Das Hündchen, das der Dominikaner im Konstanzer Klosterhof mit einem Stofftuch spielen sah, ist ein reales und gleichzeitig symbolisches Tier. Der Dominikaner schaute zu, wie das Stofftuch zerfetzt und begeifert wurde, ohne dass es sich wehrte - und damit war der rote Faden des Hörspiels gefunden. Der schwarzweiße Hund erinnerte nicht zufällig an die Kleidung des Dominikanerordens, die Dominikaner nannten sich tatsächlich domini canes, »Hunde des Herrn«) und wurden mit der Inquisition beauftragt. Das machte sie zu einer Art Polizeihunden des Papsts. <?page no="101"?> 100 Hildegard Elisabeth Keller Das Knurren und Winseln des Hundes und die Zwiesprache des Mönchs mit ihm führten gleichzeitig ins Spätmittelalter und in die Gegenwart hinein. Das Hörspiel machte wesentliche Fragen für Menschen in Bedrängnis sichtbar und gab Raum für mögliche Antwortentwürfe, historische und zeitenthobene. Der schwarzweiße Hund war nicht allein mit der Geschichte der Inquisition verknüpft, sondern mit der mutwilligen Lektüre und Redaktion durch unachtsame oder sogar böswillige Zeitgenossen, auch solche unter den eigenen Ordensbrüdern und -schwestern. Seuse fürchtete sie - zu Recht, wie das Schicksal seines Lehrers Meister Eckhart zeigt. Der Hund zog also auch den nächsten Protagonisten aus der Geschichte ans Licht. Meister Eckhart, eines der prominentesten Opfer der Inquisition, wurde eine der beiden Hauptfiguren im zweiten Band Das Kamel und das Nadelöhr. Umgekehrt spiegelt die Modellschülerin Elsbeth und ihre Beziehung zum Seelsorger, Beichtvater und spirituellen Mentor eine Wirklichkeit, mit der sich die vier Frauen auseinandersetzen mussten, die schließlich im dritten Band Der Ozean im Fingerhut ins Gespräch miteinander gebracht werden. Die Protagonisten der drei Hörspiele sind durch Gemeinsamkeit und Differenz verbunden. Ihre Wahl half Beziehungsnetze und Erfahrungsmuster plausibel zu konstellieren. Die historischen Frauen und Männer bleiben als in den fiktiven Begegnungen klar erkennbar. Deshalb tragen sie auch deren Namen. Abb. 3: Still aus dem Film Der Ozean im Fingerhut (2012) <?page no="102"?> 101 Zeitlose Geschichten Das Kamel und das Nadelöhr In den beiden anderen Bänden habe ich geografische und zeitliche Räume überbrückt. In Das Kamel und das Nadelöhr führen der deutsche Dominikaner Meister Eckhart (1260 - 1328) und der daoistische Wanderphilosoph Zhuangzi aus der Epoche der Streitenden Reiche in China (um 365 v. Chr. - 290 v. Chr.) ein fiktives Gespräch über das große und das kleine Denken und wie sie es ihren Zeitgenossen näherbrachten. Meister Zhuang und Meister Eckhart hatten keine Kenntnis voneinander. Der Erste lebte mehr als fünfzehnhundert Jahre vor dem Letzteren und hinterließ ein Buch, das seit seinem Bekanntwerden im Westen Begeisterung ausgelöst hat. Der Letztere starb vor knapp siebenhundert Jahren und hinterließ ein Werk, das seit seiner Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert immer weitere Kreise von Lesenden anzieht. Der fiktive Dialog der beiden Meister geht über die traditionelle Frage in der Kultur- und Literaturgeschichte hinaus, wer wen direkt oder indirekt beeinflusst hat. Was geschieht, wenn die in den Editionen verfestigten Wörter in der Wärme einer fiktiven Begegnung geschmeidig werden und die Auseinandersetzung der Leser mit den beiden Meistern die Lebendigkeit einer Auseinandersetzung zwischen ihnen annimmt? Was ist zu hören, wenn die beiden Meister im zeitlosen Raum sich mit dem Denken des andern kritisch auseinandersetzen, mit den Umständen, in denen sie lebten, ebenso wie mit dem Gang der Dinge nach ihrem Tod? Meister Zhuang und Meister Eckhart überraschen einander bis zum Ende des Hörspiels. Der homo ludens aus der chinesischen Antike, der mit der gewitzten Frau Torheit des Erasmus von Rotterdam verglichen wurde, stößt auf einen der tiefsinnigsten Denker der mittelalterlichen Mystik und Philosophie. Die beiden könnten nicht gegensätzlicher sein, aber weder im Werk des einen noch des andern kann Kitt für ein Weltgebäude irgendwelcher Art geholt werden. Für das Selbst- und Fremdverständnis der beiden Denker war wichtig, welche Auffassungen in ihrer Kultur das »Meister«-Sein bestanden. Das Zhuangzi enthält Anekdoten über die perfekte Handwerkskunst, etwa über den Holzbildhauer Qing, der schon im Stamm des noch nicht gefällten Baumes das zukünftige Kunstwerk erspüren kann und sich damit als Freund des dao (Weg) erweist. Umgekehrt gehörte Meister Eckhart als gelehrter Mönch und Universitätslehrer zu den sogenannten lesmeistern, die höchste Wertschätzung erfuhren. Die lange Rezeption von Zhuangzis und Meister Eckharts Werken führt auch vor Augen, dass ihre Texte immer wieder Trost gespendet haben. Beide Meister rangen als Denker und Erzähler um innere Freiheit, die Meister <?page no="103"?> 102 Hildegard Elisabeth Keller Eckhart als »Gelassenheit« bezeichnete. Ein Zuhause sei nur zu finden, wenn nichts mehr den Geist verstellt. Deshalb konfrontieren die beiden Meister einander im Hörspiel Das Kamel und das Nadelöhr mit ihrer Sicht der Dinge, denken an jenem Punkt kritisch weiter, wo der jeweils andere stehen geblieben ist, und versuchen mit Lust am kritischen Disput das Werk des Partners gegen den Strich zu bürsten. Keiner bleibt dem andern etwas schuldig. Die wichtigste Grundlage für meine Stoffentwicklung bildeten die Werke der beiden Meister. Beim Schreiben des Hörspiels trieb mich die Frage an: Was interessiert den einen Meister am Leben und Werk des andern? Produktives Fortschreiben und Transformieren ist im Zhuangzi selbst angelegt. Wandlungsfähigkeit geht mit Autorität einher. Umgekehrt stammt Meister Eckhart aus einer Kultur, die dem Wortlaut (der Schrift, der Kirchenväter, anderer Autoritäten) höchsten Respekt zollt. Eckhart sah die menschliche Vorstellungskraft als eine Möglichkeit, die physikalische Realität zu erweitern. Er sagte, der menschliche Geist bringe Rosen hervor, obwohl Schnee und Eis die Erde bedecken - und zielte auf eine Kreativität, die weit mehr kann als mitten im Winter Rosen zum Blühen zu bringen. Was für den Menschen die Rose, ist für Gott die Welt: »Gott hat die Welt in der Weise geschaffen, dass er sie immer ohne Unterlass erschafft. Alles, was vergangen und was zukünftig ist, das ist Gott fremd und fern« (Buch der göttlichen Tröstung, 285). Gott erschaffe die Welt fortlaufend neu, und der »gelassene« Mensch wirke daran mit. Der Ozean im Fingerhut Der dritte und letzte Band Der Ozean im Fingerhut bringt vier Autorinnen, die zwischen dem 11. und dem 20. Jahrhundert gelebt haben, in eine fiktive Begegnung jenseits von Zeit und Raum. Dieses Hörspiel war nach seiner Veröffentlichung 2011 weiterhin produktiv und führte zu einem gleichnamigen Filmexperiment, von dem weiter unten die Rede sein soll. Die benediktinische Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179) war die erste visionäre Schriftstellerin des Hochmittelalters. Ihr ebenso vielfältiges wie umfangreiches Werk besteht unter anderem aus Visionen, Briefen, Kompositionen und naturwissenschaftlichen Texten. Mechthild von Magdeburg (um 1207-1282) und Hadewijch (um 1250), ebenfalls charismatische Autorinnen, lebten als Begine und später Nonne im Zisterzienserinnenkloster Helfta bzw. als Begine in Brabant, vermutlich als <?page no="104"?> 103 Zeitlose Geschichten geistliche Führerin einer Beginengemeinschaft. Von Mechthild ist das Visionswerk Das fließende Licht der Gottheit überliefert, von Hadewijch ein umfangreiches Werk mit Gedichten, Liedern, Visionen und Lehrbriefen; sie zählt zu den wichtigsten Autorinnen in mittelniederländischer Sprache. Die junge Juristin Etty Hillesum (1914 -1943), eine Jüdin aus Amsterdam, dokumentierte ihre persönliche und spirituelle Entwicklung während der zwei letzten Lebensjahre in Tagebüchern; sie stand im Zeichen einer intensiven Beziehung zum deutschen Psychoanalytiker und Chirologen Julius Spier (1887- 1942). Hillesum wurde in Auschwitz ermordet, ihre Tagebücher wurden erst 1981 teilveröffentlicht, die vollständige Erstausgabe des niederländischen Originals erschien 1986, die der deutschen Übersetzung erst 2014. Hillesum war eine große Leserin von Weltliteratur, Philosophie, Psychoanalyse (als Leserin von Alfred Adler lernte sie das Zhuangzi kennen), aber auch von Büchern aus der christlichen Welt des Mittelalters; sie las die Bibel, Augustin und auch - bereits im Kamp Westerbork und mit ihrem Vater - Meister Eckhart. Das Hörspiel bringt die vier Frauen in ein fiktives Gespräch. Keine kannte die andere persönlich. Historisch verbürgt ist nur, dass Hadewijch in einer Vision Hildegard geschaut haben will, weshalb sie deren Namen in ihre geheimnisvolle »Liste der Vollkommenen« von Toten, Lebenden und noch nicht Geborenen aufnahm. Diese Frauen waren oft kühner als ihre männlichen Kollegen, weil sie nicht aus theologischem Schul- und Buchwissen heraus schrieben, sondern sich auf ihre Erfahrung beriefen. Im Leben und Werk dieser Frauen ist ein starker Sog wahrnehmbar, den ich im Hörspiel erfahrbar machen wollte. Die vier Autorinnen dringen zum Schreiben von innen heraus — eine Erfahrung, die sie gemäß den Konventionen ihrer Zeit unterschiedlich, aber alle als spirituell reflektieren. Was sie eint, ist die überwältigende Erfahrung einer kosmischen Einheit und Kreativität, die unter den gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen Umständen ihrer jeweiligen Lebenszeit nach Ausdruck sucht. Wie ein und derselbe Fluss, der durch vier historische Betten fließt. Diese Wassermetaphorik war titelgebend. Die vier Frauen interessieren sich im Hörspiel - mit all ihren Eigenarten und auch ihrer Eigenwilligkeit - für die inneren und äußeren Welten der andern. Sie ergründen gemeinsam die Schönheit der Sprache und die Funktion ihrer Texte. Sie befragen einander nach der Autorschaft, dem Wesen der Liebe und wie beides zusammenhängt. Sie erzählen von der unerschöpflichen, von Zeitumständen unberührten Innenwelt, die sie erleben, und ihrem Weg an die Öffentlichkeit. Auch hier standen die Werke der vier Frauen am Anfang meiner Dramaturgie. <?page no="105"?> 104 Hildegard Elisabeth Keller Das Hörspiel Der Ozean im Fingerhut diente später in gekürzter Fassung als Soundtrack des gleichnamigen Experimentalfilms. Für die visuelle Ebene wurden mittelalterliche Handschriften, vorrangig die Codices mit Hildegards Visionswerken, verwendet und überblendet mit Fotografien aus Etty Hillesums Lebenswelt und Zeit. Der Film Der Ozean im Fingerhut (90 Minuten, 2012) ist eine visuell vielschichtige, meditative Installation, die in verschiedenen Kinos in den USA, in Deutschland und der Schweiz gezeigt wurde. Im Februar 2016 wurde der Film im Indiana University Cinema gezeigt; ein Sound-Künstler begleitete die Vorführung live auf der Bühne. Zwischen Disziplinen und Medien Nach dieser Vorstellung der Hörspiele noch ein Wort zu den drei Büchern der Trilogie des Zeitlosen. Sie bieten interdisziplinäre Zugänge zu den Protagonisten der Hörspiele. Sechs Gastbeiträge aus anderen Disziplinen ergänzen die von mir verfassten Kapitel in den Büchern. Kunsthistorische Einführungen des amerikanischen Handschriftenspezialisten Jeffrey Hamburger fokussieren die Handschriften mit Seuses Werken (in Die Stunde des Hundes), Dekor-Elemente in Handschriften und Gebrauchsgegenständen in Ost und West (in Das Kamel und das Nadelöhr) sowie die kosmologische Bildlichkeit in den Schriften der Visionärinnen (in Der Ozean im Fingerhut). Der Psychiater Daniel Hell erörtert in einem psychohistorischen Abb. 4: Still aus dem Film Der Ozean im Fingerhut (2012) <?page no="106"?> 105 Zeitlose Geschichten Beitrag sein Anliegen in der zeitgenössischen Medizin (in Der Ozean im Fingerhut). Er findet in der christlichen Tradition und ihrer Seelen-Vorstellung, insbesondere dem Konzept der anima abscondita, ein wichtiges Korrektiv zu dem neurowissenschaftlich dominierten Transparenz-Glauben. Für Hell wurde das Wort »Seele« zu einer pièce de résistance im Widerstand gegen Reduktionismen. Der Gräzist Clemens Müller führt in seinem Beitrag in Das Kamel und das Nadelöhr vor Augen, wie sich in der vorsokratischen Philosophie die Formel panta rhei entwickelte und als westliches Konzept etablierte, und zwar in derselben Achsenzeit, in der Zhuangzi im Osten wirkte. Im selben Band führt der Sinologe Wolfgang Behr in das altchinesische Konzept des dao (›Weg‹) ein, das der von Zhuangzi mitbegründeten philosophischen Richtung den Namen Daoismus gab. Die Trilogie des Zeitlosen gehört also nicht einer bestimmten Disziplin an, sondern geht Fragen nach, die in die Literatur, Geschichte und Anthropologie hineinführen und bildet sich auch in den verwendeten Medien ab. Die Interdisziplinarität und die Multimedialität haben mein Selbstverständnis als Literaturwissenschaftlerin und als Hochschullehrerin transformiert und meinen Radius erweitert. Andere, fachfremde Menschen kommen nun mit den historischen Persönlichkeiten aus der Trilogie des Zeitlosen in Kontakt. Ich verwendete die Hörspiele, um angehende Psychotherapeuten in die historische Anthropologie (u.a. Seele, Geist, Gemüt, Selbst, Ich) einzuführen, denn die drei Visionärinnen aus dem Mittelalter (aus dem Ozean), Meister Eckhart und sein Schüler Seuse zählen ja zu den großen Psychonauten Europas. Sie sind Experten der Seele in deutscher Sprache, denn das lateinische Wort expertus (von lat. experiri ›durch Erfahrung kennenlernen, versuchen, erproben, prüfen, wagen‹) bezeichnet den durch Lebens- und Selbsterfahrung Erprobten. Warum Hörspiele? Die drei Hörspiele der Trilogie des Zeitlosen erschienen nie gedruckt, sondern wurden direkt als Hörprodukte realisiert und auf Audiomedien vertrieben. Sie existieren also nur als Performance. Dafür gab es triftige Gründe, sowohl für die Hörspielautorin als auch die Literaturwissenschaftlerin. Ich habe eine persönliche Sympathie für das Ohr. Mir ist besonders in Erinnerung geblieben, wie ich zum ersten Mal gesprochenes Mittelhochdeutsch hörte. Ich war Studentin und hörte eine Vorlesung über Meister Eckhart. Als <?page no="107"?> 106 Hildegard Elisabeth Keller ich den Predigtausschnitt aus dem Mund des Professors hörte, hörte ich etwas Unerhörtes und glaubte sogar schärfer zu sehen. Damals wie heute gab es für mich eine geheimnisvolle Verbindung zwischen Hören und Sehen. Alle meine Arbeiten für das Ohr haben deshalb etwas Traumwandlerisches. Das Ohr galt im Mittelalter als Sensorium der Innerlichkeit. Manche Mystiker gingen davon aus, dass es für die mystische Einheit, von der sie sprachen, besonders empfänglich war (Seuse bezeichnete das gesprochene Wort als »lebendig«, das geschriebene aber als »tot«). Die Wörter horchen und zuhören deuten auf Modi einer besonderen inneren Aufmerksamkeit. Die Ästhetik des Sprachklanges, ohne den Literatur nicht zu denken ist, braucht diesen inneren Wirkraum. Das erste Hörspiel war eine Gemeinschaftsproduktion und entstand in meiner ersten performativen Lehrveranstaltung. Neun Studentinnen und ich schrieben, redigierten und inszenierten die âventiure vür daz ôre (2005) eine Nacherzählung des Erec von Hartmann von Aue (1160 -1210) in modernem Deutsch mit zahlreichen Originalzitaten und Liedern sowie das Booklet für die CD. Der Titel erinnert an die zeitgenössische Rezeptionsweise: nicht stille Privatlektüre, sondern Mündlichkeit und soziale Performanz. Die theoretische Beschäftigung intensivierte die mediävistische Performativitätsforschung der letzten zwei Jahrzehnte. Eine von der Wissenschaft damals kaum beachtete Fügung war, dass auch der zeitgenössische Literatur- und Kulturbetrieb die Mündlichkeit und die Event-Funktion von Literatur neu entdeckte, von Poetry-Slams über Live-Events in Literaturhäusern und den Boom der Hörmedien bis zu den ersten Podcasts und dem Siegeszug von Youtube. Im Mittelalter haben wir es nicht allein mit Literatur vor dem Druckzeitalter zu tun, nicht allein mit Handschriften auf Pergament (und später Papier), sondern mit Literatur vor littera und auch deshalb vornehmlich mit gesprochener Sprache. Aus der Vogelperspektive der longue durée gehört das Mittelalter zu einer längeren Übergangsphase zwischen mündlichen und schriftzentrierten Kulturen, in der textliche Kulturen allein von Körpern in die Welt getragen werden. Heute ist kaum mehr zu ermessen, wie zentral die menschliche Stimme, damals einer der »senses of the mouth« (Woolgar, Senses, 84 ff.), war. Ich wurde in die Audio-Arbeit initiiert anlässlich der Doppelausstellung über mittelalterliche Kunst in Frauenklöstern, Krone und Schleier (Bonn und Essen, 2005). Audioguides sollten den Besuchern über die Schwelle der sperrigen Schriftlichkeit von Handschriften helfen. Beim Einsprechen der Texte (alle in historischen Varianten der deutschen Sprache) entdeckte ich, dass die jahrhundertealten Zeugnisse wie von innen heraus wieder lebendig wurden. Historische Distanzen nimmt das Ohr anders wahr als das Auge. <?page no="108"?> 107 Zeitlose Geschichten Die Aufnahmen brachten wir auf CD-ROM auf den Markt (Stimmen aus mittelalterlichen Frauenklöstern, 2005). Ein Rezensent, Gustav Seibt, verglich diese Audio-CD, für deren Produktion ich mitverantwortlich war, mit einer animierten Diachronie: »Ein Wunder geschieht hier [beim Anhören der alt- und mittelhochdeutschen Texte]: Wir erfahren Geschichte durch Sprache, also in jener Verbindung von Ähnlichkeit und Verschiedenheit, die das Geheimnis des Verstehens überhaupt bezeichnet.« Seibt verglich die historischen Sprachstufen mit einem »Wildbad« und erinnerte an die sprech- und schriftsprachliche Normierung und deren nationalkulturellen Hegemonieanspruch: »Als Rudolf Borchardt um 1905 das alte Deutsch, auch im Blick einer möglichen Dante-Übersetzung, suchte, fand er es lebendig in einem Dorf des Umlands von Basel. Dort habe er, so schrieb er später, seiner ›gesamten Sprachgewöhnung ein Wildbad zugemutet, aus dem sie mit verzaubertem Ohre herausstieg, wie die Menschen der Sage, die plötzlich die Sprache der Vögel verstehen‹. […] Man ahnt, warum Borchardt das koloniale Neuhochdeutsch als Bürokraten-Volapük aus Prager Kanzleiformularien verstand, als einen breiten Silbenquark, der das oberdeutsche Hiatverbot, die lautliche Gedrängtheit der mittelhochdeutschen Sprache sträflich preisgab.« Aus historischer Sicht gibt es also die eine Sprache Deutsch nicht, sondern eher ein Gebabbel von der Nordsee bis in die Täler der Südalpen. Wie die spätromantische Einheitskathedrale, die Architekten in der Moderne ›rekonstruierten‹, entpuppte sich die Idealvorstellung des sogenannt normalisierten Mittelhochdeutschen als eine nationalistisch aufgeladene Einheitsvorstellung der deutschen Philologen (Keller, Stimmen). Sprechende aus den deutschsprachigen Gebieten Südtirols, des Elsass, der Schweiz und Österreichs sind mit dieser Differenz ihrer Sprechsprache zum offiziellen Idiom, zur Standardsprache, tagtäglich konfrontiert. Die Mündlichkeit von zwei der drei Hörspiele in der Trilogie des Zeitlosen bildet auch historische Sprachstufen ab und gibt Einblick in die bunte Landschaft dialektaler Varianten, als die Sprache Deutsch noch nicht standardisiert war. In den Folgejahren entstand eine diachrone Reise durch die Sprachgeschichte auf der MS Wissenschaft (2007). Einige der Aufnahmen waren dann auch in der Ausstellung die Sprache Deutsch im Deutschen Historischen Museum in Berlin (2009) zu hören. Für die erste Ausstellung, die ich selbst kuratierte und an der zwei meiner Doktoranden mitarbeiteten, schrieb ich das erste Kurzhörspiel. Die Jakob-Ruf-Ausstellung im Museum Strauhof Zürich (2006) stellte Leben und Werk des Zürcher Stadtchirurgen und Theatermachers Jakob Ruf (1505 -1558) vor. Da es von Ruf kein Porträt gibt, entwickelte ich ein akus- <?page no="109"?> 108 Hildegard Elisabeth Keller tisches Personenbild. Die Hörstation basierte auf Selbstzeugnissen von Jakob Ruf und auf Briefen berühmter Zürcher, in denen sie sich über ihren Kollegen und Mitbürger äußerten. In einem anderen Raum konnten sich die Besucher auf einen ›heißen Stuhl‹ setzen und sich über das Ohr für eine andere Körper- und Schmerzerfahrung sensibilisieren. Wer auf dem Stuhl saß, blickte frontal auf großformatige Operationsdarstellungen aus Rufs Lebenszeit und hörte gleichzeitig Operationsanweisungen an einen chirurgischen Lehrling. Auch die Audiotracks dieser Ausstellung kamen auf einer CD-ROM (in der Ruf-Ausgabe von 2008) auf den Markt. Eisschollen der Zeit Ich kehre abschließend zur Frage der Zeit zurück. Die vormoderne Literatur macht uns mit Geschichten über die Zeit vertraut, die man typisch mittelalterlich nennen kann. Sie führen Vergänglichkeit vor Augen, wenn sie erzählen, wie weiße und schwarze Mäuse (die Tage, die Nächte) an unserer Lebenszeit nagen und die Hölle ihren Schlund aufreißt, lange bevor ein Mensch zu Grabe getragen wird. Aber es gab damals auch Schreibende, die von einem anderen, zeitenthobenen Sein berichten. Zu ihnen gehören die historischen Persönlichkeiten aus der Trilogie des Zeitlosen. Sie künden von einer Wirklichkeit jenseits von Zeit und Raum und warten mit kraftvollen Paradoxien auf. Sie bauen auf die Kraft, die Welten ohne Anfang und Ende erschafft. Auf je eigene Weise sprengen sie die historische Zeit auf, in der sie lebten und in der wir noch immer leben. Im Gegensatz zu den modernen »unmöglichen Interviews« mit historischen Persönlichkeiten bringe ich meine Figuren nicht mit Dialogpartnern aus dem 21. Jahrhundert zusammen. Ich mache sie zu Gesprächspartnern für Geistesverwandte, die sie zu Lebzeiten nicht kennenlernen konnten. Die Protagonisten von Das Kamel und das Nadelöhr und Der Ozean im Fingerhut sind in ihrer Biografie und dem historischen Kontext verankert, in dem sie gedacht, gefühlt, gelitten und gehandelt haben, und sie sind ihren Gesprächspartner durch eben diese chronologisch definierte Lebenserfahrung bekannt (hier sollte ich anmerken, dass mich Zhuangzi und Hadewijch vor die größten biografischen Rätsel gestellt haben). Gleichzeitig habe ich als Autorin und Regisseurin die Zeit aufgehoben, indem ich sie aus einer postumen Perspektive sprechen ließ. Diese nachtodliche Perspektive erlaubte ein freies Flottieren in Raum und Zeit. Wenn Meister Eckhart und Zhuangzi zu Beginn des Hörspiels aufeinander stoßen, sind sie <?page no="110"?> 109 Zeitlose Geschichten füreinander noch nicht identifizierbar (auch weil sie zu Lebzeiten tatsächlich weder voneinander hören noch eine Ahnung von der Lebenswelt des anderen bekommen konnten). Sie stehen sozusagen auf einer Eisscholle der Zeit, die in einem Ozean der Zeitlosigkeit treibt. Auf dieser frei treibenden Scholle winken sie andern und treten in einen Dialog mit ihnen - aus ihrer Zeit heraus, aber auch über ihre Zeit hinweg. So sind sie fähig, mit dem Gesprächspartner auf dessen Zeitscholle zu stehen. Diese Befähigung ist nötig für die Dramaturgie der Hörspiele und macht gleichzeitig sichtbar, aus welcher Existenz heraus die Figuren wirkten. Die vier Frauen in Der Ozean im Fingerhut bezeugen in ihren Werken, dass sie während ihrer körperlichen Existenz »weite Ebenen jenseits von Zeit und Raum« erfahren haben (in Etty Hillesums Formulierung). Und Meister Eckhart preist unablässig eine geheimnisvolle Kraft in der Seele, die ganz und gar unbestimmbar bleiben wolle. In ihr sei Zeitlosigkeit erfahrbar, behauptet er, und berührt einen uralten Traum der Menschen: In dieser Kraft gebe es kein Altern. Die fiktiven Begegnungen haben historische Prämissen, die ihre Autorität, den genderspezifischen Spielraum sowie die Sprech-, Denk- und Erzählweisen definieren und ihre Resistenz gegenüber den Konformitätsforderungen ihrer Zeit beleuchten. Doch diese bindende Qualität der Zeit erscheint zugleich als eine Illusion. Sie löst sich auf in der Dynamik des fiktiven Dialogs über das, was von der Zeit nicht berührt wird. <?page no="111"?> 110 Hildegard Elisabeth Keller Bibliographie Harold Bloom: E.L. Doctorow’s Ragtime, Philadelphia 2004. Italo Calvino: Unmögliche Interviews mit. Pythagoras, Antoni Gaudi, Sigmund Freud, Maria Sophie von Neapel, Plinius, Pellegrino Artusi, Ludwig II. von Bayern und dem Neanderthaler, Berlin 1987. Stephanie Dreyfürst: Stimmen aus dem Jenseits: David Fassmanns historischpolitisches Journal Gespräche in dem Reiche derer Todten (1718-1740), Berlin 2014. E.L. Doctorow: Ragtime, New York 1975. David Fassmann: Gespräche in dem Reiche derer Todten, Leipzig 1718. Hildegard Elisabeth Keller: Das Medium und die Sinne. Performanz für Aug und Ohr in mittelalterlicher Literatur. In: Jutta Eming / Annette Jael Lehmann/ Irmgard Maassen (Hg.), Mediale Performanzen. Historische Konzepte und Perspektiven, Freiburg im Breisgau 2002, 127-152. Hildegard Elisabeth Keller (Hg.): Jakob Ruf. Leben, Werk und Studien, 5 Bde.in Schuber mit 2 CD-ROM, Zürich 2008. Hildegard Elisabeth Keller: Stimmen: Von akustischen Zeitreisen in historische Sprachstufen des Deutschen, in: Heidemarie Anderlik / Katja Kaiser (Hg.), Die Sprache Deutsch, Dresden 2009, 60-67. Hildegard Elisabeth Keller: Zu Gast. Ein Gespräch mit Alfonsina Storni (1892 -1938), in: Service de Presse Suisse (Hg.), vice versa literatur. 6. Jahrbuch der Schweizer Literaturen, Zürich 2012, 166-185. Hildegard Elisabeth Keller: Chapter 9: Sensory Media. From Sound to Silence, from Sight to Insight, in: Constance Classen (Hg.), A Cultural History of the Senses. Band: Middle Ages, hg. v. Richard Newhauser, Oxford / London 2014, 195-216. Hildegard Elisabeth Keller: Von Mäusen und Minuten. Geschichten über die Endlichkeit, in: Achim Kuhn (Hg.), Deadline. Prominente über Leben und Sterben, Zürich 2015, 11-26. Hildegard Elisabeth Keller: Eine neue Zeit bricht sich Bahn. Was uns mit dem 16. Jahrhundert verbindet, in: Urs B. Leu / Mylène Ruoss (Hg.), Facetten eines Universums. Conrad Gessner 1516-2016, Zürich 2016, 11-26. Michael Köhler: Zwei Herren am Strand, Köln 2014. Urs B. Leu: Konrad Gessner und die Neue Welt, in: Gesnerus. Schweizerische Zeitschrift für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 49 (1992), 279-309. Luigi Malerba: Interviste impossibili, Lecce 1997. Giorgio Manganelli: Le interviste impossibili, Milano 1997. Giorgio Manganelli: A und B. Dialoge und unmögliche Interviews, Berlin 1991. Gustav Seibt: Wildbad der Sprache. Das Ferne so nah. Stimmen aus mittelalterlichen Frauenklöstern eröffnen eine wunderbare Erfahrung von Unmittelbarkeit, Süddeutsche Zeitung, Literaturbeilage, 18.10.2005. C. M. Woolgar: The Senses in Late Medieval England, New Haven 2006. <?page no="112"?> 111 Zeitlose Geschichten Audiovisuelle Medien âventiure vür daz ôre. Hartmanns von Aue «Erec». Herausgegeben von Hildegard Elisabeth Keller. CD-ROM mit Booklet. Zürich 2005. Stimmen aus mittelalterlichen Frauenklöstern. Ein Hörbuch mit geistlichen Texten auf Altsächsisch, Mittelhochdeutsch und Mittelniederdeutsch. Herausgegeben von Jeffrey F. Hamburger, Hildegard Elisabeth Keller, Susan Marti und Hedwig Röckelein. Berlin 2005. Hildegard Elisabeth Keller: Die Stunde des Hundes. Nach Heinrich Seuses »Exemplar«. Mit einem Beitrag von Jeffrey Hamburger. Zürich, 2. Auflage 2011 (Trilogie des Zeitlosen 1). Hildegard Elisabeth Keller: Das Kamel und das Nadelöhr. Eine Begegnung zwischen Zhuangzi und Meister Eckhart. Mit Beiträgen von Wolfgang Behr, Jeffrey Hamburger und Clemens Müller. Zürich 2011 (Trilogie des Zeitlosen 2). Hildegard Elisabeth Keller: Der Ozean im Fingerhut. Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Hadewijch und Etty Hillesum im Gespräch. Mit Beiträgen von Jeffrey Hamburger und Daniel Hell. Zürich 2011 (Trilogie des Zeitlosen 3). Der Ozean im Fingerhut / The Ocean in a Thimble. 2012. Film. 90 Minuten. Regie: Hildegard Elisabeth Keller. Deutsch mit englischen Untertiteln. Mit den Stimmen von Mona Petri, Nikola Weisse, Chantal Le Moign und Hildegard Elisabeth Keller. Musik: Mahmoud Turkmani. Bloomlight Productions. <?page no="114"?> 113 Das Theater mit der Geschichte Wie das Freilichtspiel und Landschaftstheater Morgarten - Der Streit geht weiter (2015) entstand Ein Ablauf-Konzept in 13 Szenen Paul Steinmann 1. Szene Ort: Küche Zeit: nach dem Abendessen Personen: der Autor, seine Frau Der Autor erzählt seiner Frau von der Anfrage, ein Theaterstück zu schreiben, in dem die Schlacht am Morgarten thematisiert werden soll, die vor 700 Jahren stattgefunden hat. Die Frau fragt, ob er im Sinn habe, eine solche Schlacht nachzuspielen. Der Autor weiß noch gar nichts, außer das, was er von der Primarschule noch im Kopf hat. Und das ist nicht viel. Zudem frage er sich, ob er nach einem Stück über den Bau der Gotthardbahn, über den zweiten Villmergerkrieg (1712) und über die 500-jährige Zugehörigkeit Appenzells zur Eidgenossenschaft schon wieder ein historisches Thema aufgreifen und gestalten will. Während sie das Geschirr abwaschen, versuchen sich die beiden zu erinnern, was sie von der Schlacht am Morgarten noch wissen. Eidgenossen haben doch da gegen Habsburger gekämpft und sie in die Flucht geschlagen, weil sie bei einem Engnis Felsen und Bäume auf die Ritter geworfen haben ... 2. Szene Ort: Sitzungszimmer der öffentlichen Verwaltung Zeit: morgens um 9 Uhr Personen: der Autor, die Regisseurin, Mitglieder des Organisations- Komitees der Jubiläumsfeierlichkeiten ›700 Jahre Morgarten‹ Die Auftraggeber (das OK der Jubiläumsfeierlichkeiten) formulieren ihre Wünsche. Sie möchten die Geschichte der Schlacht von Morgarten und die <?page no="115"?> 114 Paul Steinmann Bedeutung dieser Geschichte, ob die Schlacht nun so oder anders oder gar nicht stattgefunden hat, einem möglichst grossen Publikum zugänglich machen. Dabei werden auch der Gesamtrahmen der Feierlichkeiten erörtert und finanzielle Bedenken geäußert. 3. Szene Ort: Café Zeit: am selben Tag, morgens um 10 Uhr Personen: der Autor, die Regisseurin Der Autor und die Regisseurin gehen mit gemischten Gefühlen aus der Sitzung und besprechen bei einem Cappuccino ihre Vorstellungen vom Theater. Sie kennen dessen Vielgestaltigkeit. Es kann modern, absurd, grotesk, naturalistisch, neu, alt, frech, musikalisch etc. daher kommen. Jedenfalls ist es die Kunstform der totalen Gegenwart, des Moments, und es geschieht live. Dabei findet ein Austausch von Akteuren und Publikum statt. Inszenierung trifft auf Zuschauende und Mitfühlende, die zusammen staunen, lachen, erleben. Zwischen Regisseurin und Autor herrscht Einverständnis darüber, dass ein Stück nicht die Wirklichkeit abbilden muss und dass es sich hier um ein Spiel handelt. Um ein Spiel um Ideen, Gedanken, Fakten, Fiktionen, Emotionen und Geschichten. 4. Szene Ort: Arbeitszimmer Zeit: Nachmittag Personen: der Autor Der Autor macht sich eine Liste und überlegt, warum für ihn historischen Stoffe - auch als Aufträge - eine gute Basis für Theaterstücke sind. Er schreibt auf seinen Flipchart: - geschichtliche Ereignisse (und die Geschichte) geben oft eine gute Basis für gute Geschichten ab - sie ermöglichen den Spielenden in jene historische Epoche einzusteigen - als agierende (kostümierte) Figur und als SpielerIn, die sich mit dem Stoff beschäftigt <?page no="116"?> 115 Das Theater mit der Geschichte - eine Dorf / Region / Kantons / Staats-Geschichte bildet einen wesentlichen Identifikationsrahmen für die jeweilige Bevölkerung und somit für das angepeilte Publikum - man kann beim Publikum schon etwas voraussetzen - Überraschungen werden möglich und können der allgemein bekannten Geschichte durch eine Neuinterpretation oder durch einen anderen Blickwinkel einen frischen Dreh geben - das Publikum nimmt an, mit dem Besuch einer Aufführung etwas ›lernen‹ zu können oder es will sich sein Wissen bestätigen lassen, was beides nicht unwesentlich ist, wenn man daran denkt, dass ein Sitzplatz auch einiges kostet 5. Szene Ort: Sitzungszimmer Zeit: abends Personen: das künstlerische Team (Komponist, Bühnenbildnerin, Kostümbildnerin, Autor, Regisseurin) Im kleinen Kreis werden erste Ideen formuliert und diskutiert. Die Bühnenbildnerin kennt den Spielort (beim Morgartendenkmal) schon sehr gut. Sie hat Fotos mitgebracht und erste Zeichnungen eines möglichen Bühnenraumes. Der Autor berichtet von seinen schon gemachten Recherchen und der Idee, dass man den Streit zwischen den Habsburgern und den Eidgenossen vielleicht mit einem Streit zwischen zwei Chören verbinden könnte, die ein neues Morgartenlied entwickeln sollen. Da wird der Musiker hellhörig. Und die Regisseurin denkt schon weiter: da müssen viele Leute mitmachen. Solche die theaterspielen und singen können. Es wird ein Termin gesucht für ein SchauspielerInnen-Casting und ein Aufruf vorbereitet. 6. Szene Ort: Arbeitszimmer Zeit: Vormittag Personen: Autor, Kueni Recherchen-Arbeit. Der Autor liest in einem der zahlreichen Morgartenbücher. Er schaut sich Ausschnitte aus einen Morgarten-Film an (z.B. den Spiel- <?page no="117"?> 116 Paul Steinmann film ›Landamman Stauffacher‹ [1940] oder den Dok-Film ›Morgarten findet statt‹ [1978] oder einen Teil aus ›Wir Schweizer‹ von SRF [2013]). Dazu sichtet er Bild-, Ton- und Textmaterial von früheren Jubiläumsfeiern. Er telefoniert mit der Kuratorin des Schwyzer Bundesbriefmuseums und mit dem Sekretär der IG Morgarten. Er vereinbart einen Termin im Staatsarchiv Schwyz und Zug. Am Ende der Szene kristallisiert sich vor allem eine Figur immer stärker heraus: Kueni von Stockach, der Hofnarr des Habsburger Herzogs Leopold. Als der Autor seine Notizen studiert, die er an der Goldauer Historikertagung zum Thema ›Morgarten‹ gemacht hat, tritt Kueni aus dem Schatten des Arbeitszimmers und blickt dem Autor über die Schulter. 7. Szene Ort: Aula Zeit: Samstagmorgen Personen: Interessierte Frauen und Männer, die sich für das Casting angemeldet haben; das künstlerische Team; Produktionsleitung Die Casting-Teilnehmer werden über das Theater-Projekt informiert. Geschichtlicher Hintergrund, Stück-Idee, Aufführungsort, Zeitplan und die Crew werden vorgestellt. Dann wird mit den Interessenten gearbeitet. Es gibt Bewegungs-Spiele, Stimm-Übungen, Vorspielen und Vorsingen. Daneben füllen die Teilnehmenden ein Bewerbungsblatt aus und man diskutiert heftig und lustig über das Thema ‚Morgarten’. 8. Szene Ort: Sitzungszimmer Zeit: morgens Personen: das künstlerische Team (Komponist, Bühnenbildnerin, Kostümbildnerin, Autor, Regisseurin) Man lässt das Casting Revue passieren und bespricht das vorliegende Konzept des Autors, der die Stückidee in einen Szenenablauf gebracht hat - unter Berücksichtigung des Spielortes und der Anzahl Spielwilligen. Neue Ideen blitzen auf, optische, spielerische und musikalische Umsetzungsmöglichkeiten werden diskutiert. Die Sitzung dauert lange, die Stimmung bleibt aber immer kreativ. <?page no="118"?> 117 Das Theater mit der Geschichte 9. Szene Ort: Arbeitszimmer Zeit: Vormittag Personen: Autor, Theaterfiguren Der Autor schreibt an den Szenen und formuliert erste Dialoge. Dabei kommen ihm die Figuren, die er erfindet, gleich selbst zu Hilfe. Sie treten nicht nur untereinander, sondern auch mit dem Autor in Kontakt. So können einige historische Szenen ausprobiert, neu formuliert, umgedreht und auf ihre Theatralität abgeklopft werden. Zuweilen zieht der Autor seine Recherchen zu Rate. Eine große Hilfe ist ihm die mit der Regisseurin erstellte Besetzungsliste, sodass er beim Gestalten der Figuren immer auch die jeweiligen DarstellerInnen vor Augen hat. Der Autor hält sich beim Schreiben an einige Grundregeln: - er will gut spielbare Texte erfinden - er möchte (historische) Informationen so einpacken, dass sie nicht den Dialog dominieren oder hemmen - er weiß, Emotion geht meist vor historischer Wahrheit - Witz, Humor und Gegenwartsbezug sind wichtig - er befragt immer wieder seine eigene Haltung zur Thematik 10. Szene Ort: Küche Zeit: Abend Personen: Autor, seine Frau Der Autor erzählt von seiner Arbeit, wo er gerade (an)steht und wie es mit dem Morgartenstück läuft. Seine Frau stellt kluge Rückfragen und möchte vor allem wissen, welchen Platz die Frauen in diesem Männerstück einnehmen, weil sie weiß, dass historische Stoffe oft sehr männerlastig sind. Die Regisseurin ruft an und bedankt sich für die zugeschickten Szenen, mit denen sie anfangen kann zu proben. Der Autor beschließt, seine erste Stückfassung einem befreundeten Historiker zur Prüfung zuzusenden. <?page no="119"?> 118 Paul Steinmann 11. Szene Ort: Probenbühne Zeit: Samstagnachmittag Personen: SchauspielerInnen. Schauspielerinnen und Schauspieler des Morgarten-Stückes in der Proben- Pause. Einige tragen schon Teile ihrer Kostüme. Sie reden miteinander über ihre (historischen) Rollen. Dabei haben sie sich mit ihren geschichtlichen Vorbildern zum Teil recht ausführlich auseinander gesetzt und wissen interessante Details aus jener Zeit und aus den Biografien ihrer Figuren. Sie freuen sich über den Zusammenhalt in der ganzen Gruppe und darüber, dass sie die Geschichte von damals noch einmal lebendig werden lassen können. Dann ist die Pause zu Ende, die Regisseurin ruft die Spielenden auf die Bühne. 12. Szene Ort: Bühne, Zuschauerraum Zeit: Abend der Premiere Personen: Spielende, Crew, Publikum Die Premiere ist geschafft. In der Theaterbeiz nehmen die Beteiligten die Glückwünsche des begeisterten Publikums entgegen. Die Zuschauer erzählen, wie es ihnen ergangen ist beim Miterleben des Stückes und der Inszenierung. Man lobt die ausgewogene Mischung aus historischen Tatsachen, Vermutungen und Vorstellungen. Die Stimmung ist gut. Die Idee, verschiedene Zeitebenen durch die Figur des Hofnarren Kueni von Stockach und seinen Mit-Narren zu verbinden, ist verstanden worden. Die Geschichte vom Streit zwischen Habsburgern und Eidgenossen, die sich in einem Streit zweier Chöre widerspiegelt, geht auf. <?page no="120"?> 119 Das Theater mit der Geschichte 13. Szene Ort: Arbeitszimmer Zeit: einige Wochen nach der Derniere Personen: Autor, Kueni Der Autor muss einen Schlussbericht über seine Arbeit am Stück ›Morgarten - der Streit geht weiter‹ schreiben. Zum Glück steht ihm wieder der Hofnarr Kueni zur Seite. Zusammen bringen sie folgende Punkte zur Sprache: - Das musikalische Freilichttheaterstück war ein Stück über unsere Wurzeln, über die Kraft der Phantasie, über die Möglichkeiten der Kreativität, über Politik, über den Zusammenhang von Religion, Staat und Kunst und über die ambivalente Beziehung zu ›Heimat‹. - Es war bei allem Bezug in die Gegenwart auch ein historisches Stück, denn es wurden Umstände, Auslösung und möglicher Verlauf der Schlacht geschildert. Dann auch die Bedeutung der Schlachten-Erzählung für die Entstehungsgeschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft erwähnt sowie die ›Nutzung‹ der Schlacht als Bild für die Wehrhaftigkeit der Schweiz in Zeiten der Not. Ebenso wurden Nebengeschichten erzählt wie die Erstellung des Denkmals und die Infragestellung der Schlacht, resp. Legendenbildung im Nachgang zum Bundesbrief von Brunnen. - Der Autor hat wieder erfahren, dass ein historischer Stoff durchaus auch heute noch viele Menschen bewegt. Dabei sind die Spielenden und die Zuschauenden nicht primär an der historischen Wahrheit interessiert, sondern an guten Geschichten, tollen Figuren, schönen Überraschungen - kurz: an feiner Unterhaltung. Natürlich geht es nicht darum, bewusste Falsch-Aussagen zu streuen, aber mit den Mitteln der Satire, der Musik, der Parodie, der Gleichzeitigkeit verschiedener Ebenen usw. kann auch eine historische Tatsache spannend erzählt und für heutiges Publikum nutzbar gemacht werden. Für historische Hintergründe (Wissen) gibt es zusätzlich auch noch die Möglichkeit, <?page no="121"?> 120 Paul Steinmann sie im Programmheft, auf der Theater-Homepage oder in den begleitenden Medienzu platzieren. - Der Ort und der Anlass spielen eine wichtige Rolle beim Erarbeiten eines historischen Stückes. Genaue Recherche ist wesentlich, auch wenn meist nur wenig des Erfahrenen in das Stück konkret einfließt. Theater ist zuerst Unterhaltung - mit einer Haltung zur Thematik. Der (historische) Stoff, verbunden mit einem starken Gemeinschaftserlebnis, und das live dargebotene Spiel können geschichtliche Zusammenhänge erzählen, ohne dass dies zur trockenen Theoriestunde verkommt. Dem Autor und dem künstlerischen Team helfen dazu Materialien wie Zusammenfassungen, Überblicke und kompakte Darstellungen, die dem historischen Laien aufzeigen, wie sich ein Ereignis abgespielt hat oder abgespielt haben könnte. - Zudem hat der Autor einmal mehr fest gestellt, dass das Internet eine Fundgrube von Anregungen, Adressen und Hinweisen bereit hält, auf die man in Bibliotheken wohl auch stoßen würde - aber nie so schnell. Ende. Anhang Morgarten - Der Streit geht weiter. Ein musikalisches Freilicht-Spektakel Autor: Paul Steinmann Regie: Annette Windlin Aufgeführt im Rahmen von »1315 Morgarten 2015 - 700 Jahre Abenteuer Geschichte« Premiere: 7. August 2015 <?page no="122"?> 121 Das Theater mit der Geschichte Szene 7: KUENI, der Hofnarr von Herzog Leopold wendet sich zusammen mit MATHURINE, der französischen Hofnärrin, wieder ans Publikum. KUENI Wo bini gsii ... MATHURINE Am Blöffe: Heigsch diim Leopold g’seid, er sell ufpasse, die Schwyzer sigid bsunderi, die dänkid andersch und heigid ekei Angscht. KUENI Genau, do hed er, de Leopold g’seid, ich sell mich nid eso ufrege. MATHURINE stellt sich in Pose als ‚Herzog Leopold’. MATHURINE als LEOPOLD Was regsch di uf, Kueni von Stockach, ich gaa mich dänk nume go zeige. Dass wüssid, wer de Chef isch im Chessel. KUENI Herzog Leopold, die lönd dich nid eifach ine! MATHURINE als LEOPOLD Ich bi de Brüeder und Stellverträter vom König. KUENI Das sind Schwyzer! MATHURINE als LEOPOLD Ich nime es paar vo miine Ritter mit. Das macht sogar dene Hinterwäldler Iidruck. KUENI Und wenn s di ine lönd, hesch dier au überleid, wie d widder use chunnsch? <?page no="123"?> 122 Paul Steinmann MATHURINE als LEOPOLD Mach du di Job als Hofnarr, ich mache miine als Fäldherr - guet? KUENI Ja, ung’fähr so isch es gsi. Bisch zimmli guet im Improvisiere! MATHURINE Und du bisch zimmli guet im Lamentiere. Was verbii isch isch verbii. C’est tout! KUENI Äbe niid: Es gid immer öpper, wo nachhär chund und wott wüsse, wie das gsii isch früener. Und de gönds go luege, was uufg’schribe worden isch. Und am Schluss erinneret mer sich äbe nid a das, wie s wirklich gsi isch sondern a das, wo öpper uufg’schribe hed. Das isch e himmelwiite Underschied. Äbe wie bim Cäsar. MATHURINE Weisch was, du dänksch z’vil. Und drum hesch da sone Falte uf de Stirne und trüebi Auge und e schlächti Verdauig und (flüstert) g’hörsch nümm guet! KUENI Was seisch? MATHURINE Genau. Du bruuchsch Hilf! Sie werden von Sonja und Balz unterbrochen, bleiben nahe am Geschehen. <?page no="124"?> 123 Das Theater mit der Geschichte Szene 11: 1314 auf dem Hauptplatz in Schwyz. STAUFFACHER (ein kühler Politiker), AB YBERG (ein enttäuschter Bauer), von REDING (ein kräftiger Hitzkopf ) , GÜPFER (ein kalkulierender Kaufmann) und IMBACH (ein kerniger Zimmermann). STAUFFACHER Ich ha g’seid, das gid böses Bluet. Werum hend sich diini Buebe nid chönne beherrsche, Redig? REDING Sie hend sich zäme g’no. Suscht hätti’s Toti gäh, Werner. AB YBERG (heftig) Es Chloschter überfalle isch s’eint, aber de s’ganze no plündere und die Pfaffe uf Schwyz bringe, das ggad z’wiit. Das ghört sich niid, das isch Luusbuebezüüg. GÜPFER Der Eisidler Abt und de Bischof vo Konstanz verschtönd aanschniinend nume die Sprach. Und das seid au de Werner vo Homberg. STAUFFACHER So so! Mier müend de eifach uufpasse, dass sich üse Riichsvogt nid siis eigete Süppli chochet. IMBACH Jetz wüssid d’Habsburger wenigschtens, dass sie sich nid alles chönd erlaube. GÜPFER Und dass mier nid alles duldid. AB YBERG (immer noch in Rage) Und so gaad’s ewig wiiter. Einisch sind <?page no="125"?> 124 Paul Steinmann mier beleidiget, de schlömm mier drii, und de sind di andere nid z’fride, also schlönd die drii ... REDING Es gaad um d’Marchschtei. Um d’Wiese, wo üüs zue schtönd. IMBACH Au um diini Wiese, Conrad. AB YBERG ... und de sind widder mier di Beleidigete, de schlönd mier drii, de widder die, denn widder mier ... GÜPFER D’Eisidler hend doch ekei Soldate. Wenn scho, müend’s de Habsburger rüefe. REDING Hääch. D’Habsburger müend zerscht no die abverreckti Kaiserwahl verdaue. STAUFFACHER Villicht isch es doch nid so gschiid gsi, dass mier für de Ludwig Partii ergriffe hend und nid für ä Friedrich. AB YBERG Ich bi eister debii, wemmer de Habsburger eis cha a s’Bei püngge. REDING Genau! AB YBERG Aber es muess verhältnismässig sii. STAUFFACHER Richtig! Es bringt doch nüüd, de Chloschterschatz abz’transportiere und die Chutteträger da häre z’bringe. Jetz <?page no="126"?> 125 Das Theater mit der Geschichte hemmer s no müesse verchöschtige und dene ihres Klöön aalose. Da hesch eifach nüüd dänkt, Redig! REDING Es isch wie s isch. GÜPFER Mir settid gschiider überlegge, wie ächt d’Habsburger reagierid. IMBACH Für die sind mier doch nid intressant. Villicht chund e Strafbefähl und dee leggid mer zu den Akte und das wär’s de gsii. STAUFFACHER Gliich was passiert, mir müend parat sii. S’Gschiidschte wird sii, mir buuid üsi Letzine wiiter us. S’gid immer es guets G’fühl, wemmer öppis cha mache und nid eifach mues warte, bis öppis passiert. IMBACH Und wer zahlt’s? STAUFFACHER Früener hemmer de Landvögt ihri Burge au gratis buut. Jetz wärdid mier dänk wohl für üses Land ächli Gratis-Schweisströpfe chönne versprütze. BOTE Herr Landamme! Ein Bote bringt einen Brief. STAUFFACHER (nachdem er den Brief gelesen hat) De Bischof vo Konstanz ... REDING ... Lehmsüüder! <?page no="127"?> 126 Paul Steinmann IMBACH Rueh etz! STAUFFACHER De Bischof vo Konstanz hed üüs allzäme, wo im Land Schwyz wohnid, exkommuniziert. GÜPFER Das heisst? STAUFFACHER Es döfid bis uf wiiters kei Mässe meh g’läse wärde und d’ Pfaffe döfid nümme taufe, nümme d’Biicht hööre und nümme de Säge gää uf Hochsige und Beerdige. Betroffene Stille. REDING Sone Hornochs! IMBACH Du seisch etz eifach einisch nüüd. (zu STAUFFACHER) Isch das ärisch g’meint? STAUFFACHER G’siglet und g’schribe! Ärnschter gaad’s nümme! GÜPFER Aber wie sellid mer das üsne Landslüüt verchaufe? STAUFFACHER Hättid ihr äbe müesse überlegge, bevor ier s’Chloschter usg’plünderet hend, ihr Esle! <?page no="128"?> 127 Erzählt, erfahren, ersonnen Geschichtswissenschaft der Vormoderne und moderne mediale Geschichtskulturen Francisca Loetz / Marcus Sandl Die Geschichtswissenschaft ist nur eine Form, Vergangenheit zumeist im klassischen Medium der akademischen Publikation oder des universitären Vortrags zu interpretieren und zu vergegenwärtigen. Auch moderne Medien, allen voran das Internet wie auch nach wie vor Film und Fernsehen, Theater, Hörspiel oder Comic, vermitteln historische Stoffe. Als populäre Medien konkurrieren sie mit der Geschichtswissenschaft. Jedem der genannten Medien ist eine spezifische Zugriffsweise, eine bestimmte mediale Performanz und Logik eigen. Die hier versammelten Beiträge führen anhand ausgewählter Beispiele vor, wie sich diese mediale Logik auf die Darstellung von Themen aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit - einer Zeit, aus der weder Fotonoch Film- oder Tonquellen überliefert sind - auswirkt. Die Beiträge verdeutlichen damit zum einen die Vielfalt der heutigen Geschichtskultur; zum anderen zeigen sie, in welchem Verhältnis die Geschichtswissenschaft zu dieser Geschichtskultur steht. 1 Vertreterinnen und Vertreter der Geschichtswissenschaft trennen meist strikt zwischen ihrer eigenen Disziplin und populären Formen des Vergangenheitsbezugs. Sie betonen, dass der Geschichtswissenschaft aufgrund ihrer Wissenschaftlichkeit eine besondere Dignität zukomme. Dieser Anspruch sollte nicht dazu führen, einige grundlegende Gemeinsamkeiten zu übersehen. 2 So ist auch die Geschichtswissenschaft selbstverständlich eine mediale Praxis. 3 Wenn im Folgenden von modernen Geschichtsmedien im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft gesprochen wird, so ist dies dem heuristischen Bemühen um eine einfache begriffliche Unterscheidung geschuldet. Wissenschaft- 1 Zum Konzept und Begriff der Geschichtskultur grundlegend Rüsen, Geschichtskultur; Rüsen, Historik. Einen Überblick über jüngere Forschungen zur »Geschichtskultur« gibt der Sammelband Oswalt/ Pandel, Geschichtskultur. 2 Ein Versuch, die Geschichtswissenschaft in den größeren Kontext der Geschichtskultur einzuordnen und daraus für die Geschichtswissenschaft auch institutionell Funken zu schlagen, findet in jüngerer Zeit unter dem Begriff der »angewandten Geschichte« bzw. der »applied history« statt. Vgl. dazu Niesser / Tomann, Angewandte Geschichte. Zur Problematik vgl. auch Hardtwig / Schug, History Sells. 3 Dies ist in den letzten Jahren immer wieder betont worden. Vgl. dazu u.a. Crivellari / Sandl, Medialität der Geschichte; Crivellari et al., Medien der Geschichte. <?page no="129"?> 128 Francisca Loetz / Marcus Sandl liche Publikation und akademischer Vortrag sind derselben Dialektik von Medialität und Erkenntnisbildung, Reflexion und Repräsentation verpflichtet wie andere Vergangenheitsbezüge. 4 Dies bedeutet nicht, die bestehenden Unterschiede zu leugnen oder einzuebnen. 5 Die Gegenüberstellung von Geschichtswissenschaft und modernen, populären Geschichtsmedien erlaubt es vielmehr, erkenntnistheoretische Aspekte der Geschichtswissenschaft hervorzuheben, die bislang wenig Berücksichtigung fanden. Ein erster dieser Aspekte betrifft die Produktionsbedingungen historischer Erkenntnisse. Die Bedingungen, unter welchen die modernen Medien arbeiten, sind andere als diejenigen, die im wissenschaftlichen Betrieb herrschen. Bei Comic, Film, Theater oder Hörspiel sind meist Freischaffende am Werk, die in der Regel im Auftrag von Institutionen, Organisationen oder Einzelpersonen arbeiten. Damit entsteht eine Dreiecksbeziehung zwischen Geldgebenden, Produzierenden und Adressierten, in der die Einbindung des Zielpublikums entscheidend ist. Die Autorinnen und Autoren von Comic, Film, Theater oder Hörspiel sind darauf angewiesen, dass sie die Neugier ihrer Adressatinnen und Adressaten wecken und gegebenenfalls deren Ideen und Reaktionen bei der Erarbeitung des Endprodukts aufnehmen. So erklärt Claudius Sieber-Lehmann, dass im Basler Universitätscomic die Leserschaft als entscheidende Instanz fungiert, die darüber urteilt, was richtig und legitim ist. Ebenso ist für den historischen Dokumentarfilm, wie Silvana Bezzola betont, der Zuschauer und die Zuschauerin maßgebend. Es müsse einen Pakt zwischen den Produzierenden und den Adressierten geben, der durch den Begriff der Vermittlung zu denken sei. Nicht als Instanz oder Pakt, sondern als Praxis des brainstorming beschreibt Paul Steinmann die Einbeziehung des Publikums bei der Inszenierung der Schlacht von Morgarten. Wie auch immer der Weg aussieht, die Beantwortung historischer Fragen und die Vermittlung von Wissen muss in den modernen Medien mit den Publikumserwartungen in Einklang gebracht werden. Ein marktförmiges Produkt verlangt Anschlussfähigkeit und das bedeutet, den Abnehmer und die Abnehmerin im Blick zu behalten. Die Geschichtswissenschaft arbeitet unter anderen Voraussetzungen. Nicht der ökonomische Markt oder das breitere Publikum entscheiden über die Auswahl von Themen sowie den Zugriff auf den Stoff, sondern der »Wis- 4 Es gibt keine Historiographie, die nicht medial »imprägniert« wäre. Ein besonderes Verdienst, dies auf die Agenda der Kulturwissenschaften gesetzt zu haben, kommt dem mittlerweile abgeschlossenen Graduiertenkolleg »Mediale Historiographien« zu, das an den Universitäten Weimar, Jena und Erfurt angesiedelt war. Vgl.: http: / / www.uni-weimar.de/ medien/ grako-medhist/ [20.06.2016]. 5 Vgl. dazu u.a. Langewiesche, Geschichtsschreibung. <?page no="130"?> 129 Erzählt, erfahren, ersonnen senschaftsmarkt« mit seinen wissenschaftsspezifischen Kriterien etwa der Forschungslücke, Innovativität und methodisch-theoretisch reflektierten Erkenntnisgewinnung. So auf jeden Fall lautet die Selbstbeschreibung von Wissenschaft. Tatsächlich sind Erkenntnisinteressen aber immer auch von anderen, nicht-wissenschaftlichen Faktoren beeinflusst. Fragen der gesellschaftlichen Relevanz von Forschungsthemen etwa spielen eine Rolle. Hinzu kommen die von den großen Forschungsinstitutionen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder dem Schweizerischen Nationalfonds in regelmäßigen Abständen verkündeten Rahmenprogramme, in welchen sich Drittmittelanträge einfügen sollen. 6 Ein wesentlicher Teil der Forschung wird mittlerweile projektbezogen und zeitlich befristet finanziert. Historikerinnen und Historiker müssen strategische Karriereentscheidungen treffen, um sich aus prekären Arbeitsverhältnissen an Forschungseinrichtungen zu lösen. Diejenigen wiederum, die sich in festen Arbeitsverhältnissen befinden, stehen unter dem Druck, sich zu »positionieren«, um der eigenen Forschungseinrichtung bzw. Universität zu möglichst vielen Geldern und einem goldenen Platz an der Sonne der universitären rankings zu verhelfen. Hinzu kommt, dass sich die Geschichtswissenschaft, da sie auf öffentliche Gelder angewiesen ist, auch zunehmend auf gesellschaftliche Erwartungen einlassen muss. So wird innerhalb der scientific community wie auch in der Öffentlichkeit diskutiert, für welche historische Forschung es sich lohnt, Geld auszugeben. Auch in der Wissenschaft herrschen in einer unsichtbaren Triangulierung von Berufsaussichten, Rezeption in der Forschung und Legitimierungsdruck gegenüber der Öffentlichkeit also »Marktgesetzlichkeiten« und Konkurrenzverhältnisse. Welchen Einfluss diese Faktoren auf die Forschung haben, wie »marktorientiert« und »modenorientiert« sie sein muss oder nicht sein darf, darüber existieren relativ wenige systematische Reflexionen innerhalb der Geschichtswissenschaft. 7 Ein zweiter, unmittelbar ins Auge fallender Unterschied zwischen der Geschichtswissenschaft und den modernen Medien besteht in den jeweiligen Ästhetisierungsweisen. Silvana Bezzola deutet diesen Punkt an, wenn sie davon spricht, dass Filme Kunstwerke seien. Tatsächlich folgen nicht nur der Film, sondern alle Medien ästhetischen Imperativen. 8 Dass diese Imperative im Falle von Film, Comic oder Hörspiel andere als in der Wissenschaft sind, bestimmt ganz wesentlich ihr Potential und ihre Attraktivität für Wissenschaftler und 6 Was unter der Überschrift der »Forschungssteuerung« als Perspektive für die deutschen Hochschulen verhandelt wird, zeigt u.a. der Artikel von Baaken, Science Marketing. 7 Vgl. dazu u.a. Korte / Paletschek, History Goes Pop; Wolfgang Hardtwig, Verlust der Geschichte; Kühberger / Pudlat, Vergangenheitsbewirtschaftung. 8 Diese Einsicht entfaltet eine ganze medienwissenschaftliche Subdisziplin: die Medienästhetik. Vgl. Hörl/ Hansen, Medienästhetik. <?page no="131"?> 130 Francisca Loetz / Marcus Sandl Wissenschaftlerinnen, wie Claudius Sieber-Lehmann und Hildegard Keller betonen. Der Reiz des Comics liege, so Sieber-Lehmann, im Spielerischen. Das Spielerische impliziert kreative Freiheit und Experimentalität. Glaubt man der medienwissenschaftlichen Spielforschung, so erlaubt das Spiel darüber hinaus, anders als die Wissenschaft, intellektuelle Reflexion und ästhetische Erfahrung miteinander zu vermitteln und damit letztlich Sinnlichkeit und Sinn miteinander in Bezug zu setzen. 9 Diesen Zusammenhang verdeutlicht Christian Gasser am Beispiel Tardis. Tardi gelingt es mit den ästhetischen Mitteln des Comics, so Gasser, die Schicksale und Widerfahrnisse einzelner Menschen les-, sicht- und erfahrbar zu machen. Ebenso nutzt Hildegard Keller das Hörspiel, um Geschichte in ihrer Sinnlichkeit zu inszenieren und den Blick für neue Erfahrungen zu öffnen. Geschichte soll durch das Ohr erlebt und erlebbar gemacht werden. So unterschiedlich die ästhetischen Voraussetzungen von Comic und Hörspiel, oder auch Theater und Film sind, so lässt sich damit doch ein gemeinsamer Grundzug feststellen: Es geht weniger um die Erkenntnisergebnisse als um die Prozesse des Erkennens, die auf Erleben und Erfahren beruhen. Man könnte in diesem Sinne vielleicht von einer performativen Erkenntnisform sprechen, die mit ästhetischen Mitteln und (inter-)medialen Eigendynamiken operiert. Auch hier ist der Verweis auf das Spiel erhellend. »Die ästhetische Formproduktion des Spiels bietet«, so Natascha Adamowsky, »Techniken der Sichtbarmachung, Strategien der Expressivität, Methoden des In-Bewegung bzw. In-Beziehung-Setzens«. 10 Entsprechend lassen sich im Comic und den anderen Medien Strategien der Temporalisierung und Prozessualisierung entwickeln, die eine Geschichte-in-Bewegung zeigen. 11 Wie im Spiel geht es um eine epistemologische Form, die auf den Primat des Vollzugs abstellt, der Produktion und Rezeption umfasst. Der Geschichtswissenschaft ist dieser Primat des Vollzugs fremd. Sie zielt auf reflexive Sinnbildung und objektivierende Versprachlichung von Geschichte. Geschichte wird von der Gegenwart aus analysiert, interpretiert und damit konstruiert. Auch das lässt sich als Bewegung beschreiben, allerdings als eine, die von ihrem Ende her, also dem Ergebnis wissenschaftlichen Arbeitens, ihre Überzeugungskraft gewinnt. Ziel ist es, reflexive Distanz herzustellen, statt involviert zu sein. Geschichtsschreibung verzichtet daher bewusst darauf, Vergangenheit als etwas zu präsentieren, das quasi live nacherleb- und wahrnehmbar wäre. 9 Vgl. Adamowsky, Spiel. 10 Ebd., 16. 11 Vgl. dazu auch Gumbrecht, American Football. <?page no="132"?> 131 Erzählt, erfahren, ersonnen Die Weigerung, Geschichte zu »inszenieren«, hat der Geschichtswissenschaft den Vorwurf eingetragen, schwer verständlich, trocken zu lesen und langweilig anzuhören zu sein. 12 Tatsächlich hat dieser Vorwurf dort seine Berechtigung, wo die Forschung zwischen dem »Was« der Argumentation, also dem eigenen innovativen Potential für die Forschungsdiskussion, und dem »Wie« seiner Produktion und Vermittlung keine Brücken schlägt. Hier ist der Blick auf die modernen, populären Geschichtsmedien durchaus weiterführend. So wie man formulieren kann, dass die panels in einem Comic nicht lediglich gesehen, sondern gelesen werden sollen, so kann man auch sagen, dass die Leserbzw. Zuhörerschaft einer geschichtswissenschaftlichen Argumentation im Medium von Schrift oder Vortrag nicht lediglich lesen und zuhören, sondern auch sehen und wahrnehmen soll. Etwas allgemeiner formuliert wäre die Frage nach der Sinnlichkeit von Geschichte aufzuwerfen, eine Frage, auf die die Geschichtswissenschaft kaum Antworten gefunden, ja sie vermutlich noch gar nicht ernsthaft gestellt hat. 13 Anknüpfen ließe sich dabei an die Geschichte der Historiographie, die ja durchaus zeigt, dass sich »Aisthetik« und Wissenschaft keineswegs ausschließen. Dass sich »Geschichte aus Kunst« entwickelt, ist eine ebenso unbestreitbare wie in ihren Konsequenzen bislang wenig fruchtbar gemachte Einsicht. 14 Insbesondere Vorstellungen von der Geschichte als »Schauplatz«, als »Bühne« und sinnlich wahrnehmbares, theatrales Geschehen, wie sie in der Frühen Neuzeit gang und gäbe waren, können hier in Betracht gezogen und möglicherweise für neue Konzepte fruchtbar gemacht werden. 15 Die in diesem Band vorgestellten Medialisierungen historischer Stoffe demonstrieren, wie und in welchen Grenzen neohistorizistisches Erzählen, ein geschickter Wechsel von Bild, Text und Ton sowie zeitenthobene fiktive Dialoge historische Themen zugänglich und attraktiv machen können. Sie zeigen jedoch auch, an welcher Stelle medienspezifische Konventionen, Normierungen und Produktionsbedingungen die Gestaltung des historischen Stoffes be- 12 Diese stereotype Einschätzung findet man auch im Feuilleton renommierter Zeitungen immer wieder. Vgl. z.B. die Berichterstattung des »Spiegel« zur Rede von Jürgen Osterhammel anlässlich des 60. Geburtstages von Angela Merkel 2014 »Geburtstagsfeier für Angela Merkel: »Humor ist, wenn man trotzdem kommt« (http: / / www.spiegel.de/ politik/ deutschland/ angela-merkel-feierzum-60-geburtstag-in-berlin-a-981664.html [28.6.2015]) oder zur Kritik wissenschaftlicher Tagungen in der FAZ: »Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! « ( http: / / www.faz.net/ aktuell/ beruf-chance/ arbeitswelt/ langweilige-tagungen-vielen-dank-fuer-ihre-aufmerksamkeit-14266689. html [30.6.2016]). 13 Einige Hinweise dazu finden sich in Adamowsky, Affektive Dinge, sowie Müller, Vom Archiv. 14 Einschlägig in diesem Zusammenhang natürlich White, Metahistory, sowie, zur Zeit vorher, Fulda, Wissenschaft aus Kunst. 15 Vgl. dazu Schock: Einführung. <?page no="133"?> 132 Francisca Loetz / Marcus Sandl stimmen. Wo in dieser Spannung zwischen dem Primat der Argumentation und dem Primat der ansprechenden Form die Schmerzgrenzen für die Geschichtswissenschaft liegen, bleibt zu diskutieren. Historiographisches Experimentieren stößt zweifellos dort an seine Grenzen, wo es um die Frage geht, wie »objektiv« seriöse Geschichtsschreibung sein kann oder muss. Damit sind wir bei einem dritten Aspekt, der sich im Vergleich von Geschichtswissenschaft und den modernen Geschichtsmedien ergibt. Es gehört zum wissenschaftlichen Selbstverständnis von Historikerinnen und Historikern, die eigene Standortgebundenheit zu betonen. 16 Dies führt nun nicht dazu, subjektivistische Verfahrens- und Erzählweisen zu verwenden. Im Gegenteil, es ist wissenschaftlicher Usus, die Subjektivität des Historikers und der Historikerin aufzuheben zu suchen und hinter objektivierenden Verfahrensweisen verschwinden zu lassen. Dass dies eine durchaus bemerkenswerte, ja tendenziell paradoxe Strategie ist, wird deutlich, wenn man sie mit jenen Konzepten von Subjektivität vergleicht, die in den populären Medien in Anschlag gebracht werden. Hier wird, wie beispielsweise in Spiegelmans Maus, gezielt mit einer subjektiven Perspektive gearbeitet oder, wie im Falle des Moorgarten-Stücks, ein fiktiver, handlungsleitender Protagonist eingesetzt, um für eine packende story zu sorgen. Auch ist es möglich, Perspektiven mittels der Mehrdimensionalität von Auge und Ohr zu pluralisieren. So kann im Kellerschen Hörspiel durch den Einsatz von der Zeit enthobenen Dialogen die Sensibilität für die zeitlose Aktualität von Menschheitsfragen in alten Texten geschärft werden. Auch in der Verräumlichung historischer Stoffe auf Bühnenschauplätzen, wie sie Paul Steinmann nutzt, oder mit Katja Wildermuths breaking news, die um interaktive Elemente ergänzt werden, gewinnt die historische Thematik an Lebendigkeit und Multiperspektivität. Es geht also um noch mehr als um die Möglichkeit, etwas durch »Zeigen« im Film anschaulich zu machen. Gezielte Subjektivität und Perspektivenvielfalt eröffnen mannigfaltige und durchaus spannungsreiche und mehrdeutige Erkenntnisräume, die möglicherweise der Vergangenheit näher kommen als die auktorialen Entwürfe der Geschichtswissenschaft. Obwohl sich die Geschichtswissenschaft mittlerweile in großen Teilen vom Ideal der Objektivität im Sinne eines naiven Wahrheitsanspruchs verabschiedet hat, setzen ihre Erkenntnis- und Darstellungsweisen letztlich ein ebenso souveränes wie unsichtbares Erkenntnissubjekt voraus. So wird den einzelnen Subjekten der scientific community ein grundsätzliches Vetorecht zugestan- 16 Als Klassiker zu dieser Thematik vgl. Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Die Standortgebundenheit wird mittlerweile in jeder geläufigen Einführung in das Geschichtsstudium betont. <?page no="134"?> 133 Erzählt, erfahren, ersonnen den. Sie haben jederzeit die Möglichkeit, anhand von Quellen bisherige Interpretationen zu revidieren oder neue zu präsentieren. Geht es jedoch um die einzelne Darstellung als solche, so verschwindet die Autorin oder der Autor in ihrer bzw. seiner Subjektivität regelmäßig hinter dem, was er oder sie zeigt und interpretiert. Dies scheint der Angst vor Unübersichtlichkeit, Beliebigkeit und unzulässiger Vereinfachung geschuldet zu sein. 17 Braucht, so die Frage, wissenschaftlich angemessene Komplexität notwendig ein souveränes Subjekt oder wäre es denkbar, Kontroversität, Multiperspektivik und Pluralität auch in geschichtswissenschaftlichen Darstellungen mehr Raum zu geben? Was, so wäre weiter zu fragen, tritt in der Geschichtswissenschaft eigentlich an die Stelle der handlungsleitenden Figur oder des subjektiven Protagonisten, um die Einheit des Dargestellten zu verbürgen? Könnte es sein, dass das Motiv »historischer Wandel« der implizite McGuffin des geschichtswissenschaftlichen plots ist? Und wo bleibt schließlich die Intuition? Hat sie in der Geschichtswissenschaft keine Bedeutung (mehr)? Die Praktiker der Medien fällen für ihre Gestaltung historischer Stoffe gemäß ihrer Selbstaussage immer wieder intuitive Entscheidungen. Sie handeln aus ihrem Bauchgefühl heraus und vertrauen immer wieder ihrer Kreativität. Explizit macht dies vor allem Claudius Sieber-Lehmann. Nichts anderes sei der Comic als eine Anleitung zur Imagination, ein Spielraum, der es ermögliche, im »Rahmen des Wahrscheinlichen zu fabulieren«. Dass Subjektivität, Imagination und Intuition auch in der Forschungsarbeit eine Rolle spielen, räumen Historikerinnen und Historiker, wenn überhaupt, am ehesten informell oder andeutungsweise in Danksagungen ein. Und dies, obwohl die meisten wohl von solchen Momenten berichten könnten, in denen sie das Gefühl oder die »Eingebung« hatten, dieses und jenes Thema aufnehmen zu sollen, diesen oder jenen Quellenbestand sichten zu wollen. Überlegungen, wie nicht kognitive Momente für die Forschungsarbeit genutzt werden könnten, wie mit dem »Bauchgefühl« bei der wissenschaftlichen Arbeit umgegangen werden soll, fehlen mit wenigen Ausnahmen. Arlette Farges Essay über den Geschmack des Archivs wäre eine solche. 18 Die Zeitlichkeit definiert einen vierten Aspekt, unter welchem sich das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Geschichtsmedien betrachten lässt. So wird, wie Christian Gasser in seinem Beitrag zeigt, in Spiegelmans Maus eine lineare Lektüre dadurch konterkariert, dass verschiedene Zeitebenen thematisiert und hybride Formen von Bild-Wort-Verbindungen genutzt wer- 17 Erhellend in diesem Zusammenhang die Überlegungen zur Funktion der Sprache in der Wissenschaft von Valentin Groebner (Groebner, Wissenschaftssprache, besonders: 102 ff.). 18 Farge, Geschmack. <?page no="135"?> 134 Francisca Loetz / Marcus Sandl den. Im Buddha kommt es zu einem bewussten Einsatz von Anachronismen, indem der Autor den Jargon des Computerzeitalters einführt. Die zeitliche Dimension, darauf verweist auch Steinmanns Begriff vom Theater als »Kunstform der totalen Gegenwart«, kann gestaltet werden und somit kreatives, überraschendes und unorthodoxes Erzählen ermöglichen. Schwarz-Weiß-Sequenzen, mit welchen im Film Rückblenden inszeniert werden, Fernrohre im Basler Universitätscomic als Medien der Vorausschau und Zeitdurchquerung, die Zeitenthobenheit und Zeitlosigkeit der Dialoge von Hildegard Kellers Protagonistinnen - Zeit erscheint hier nicht nur als physikalische, gleichsam natürliche Prämisse von Geschichte, sondern als eine Art Agentin, welche die Geschichte vorantreibt, konterkariert oder durchbricht. Dadurch werden paradoxerweise Chronologien vorausgesetzt und gleichzeitig durchkreuzt. Die Geschichtswissenschaft erscheint demgegenüber weit weniger »chronologisch« zu sein. Ihr Anspruch ist es nicht, »Zeit« oder »Zeitlichkeiten« darzustellen; sie möchte sinnvolle Erzählungen entwickeln, die den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart erklären. 19 Zeit taucht in der Geschichtswissenschaft dort auf, so hat es Michel de Certeau einmal ausgedrückt, wo es darum geht, einen »Diskurs der Trennung« zu initiieren. Zeit trennt Gegenwart und Vergangenheit und macht aus letzterer das Andere, Unwiederbringliche und nicht mehr Gegenwärtige. Weil Vergangenheit »tot« ist, kann sie dann, so de Certeau, als Wissen rekapituliert und mit Bedeutung versehen werden. 20 Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, dass Zeit als Gegenstand mit einer eigenen Agency in der Geschichtswissenschaft kaum auftaucht. Dass damit indes ein wichtiger Aspekt aus dem Blick gerät, haben schon Reinhart Kosellecks Überlegungen zu Zeitphänomenen wie dem der Beschleunigung gezeigt. 21 Die Auseinandersetzung mit modernen Geschichtsmedien und ihrem Umgang mit der zeitlichen Dimension könnte darüber hinaus Anlass sein, noch stärker den Zusammenhang von Zeitlichkeit und Medialität in der Geschichte zu reflektieren. 22 Dies führt, und das ist ein fünfter Aspekt, zur Frage der (Selbst-)Reflexivität von Geschichtsmedien. Paradigmatisch hierfür steht Spiegelmans Maus, in welchem Fragen von Darstellbarkeit und Vermittelbarkeit von Geschichte bei- 19 Vgl. zur geschichtswissenschaftlichen »Umwandlung« von Zeit in Sinn Rüsen, Zeit und Sinn, sowie ders., Zerbrechende Zeit. 20 Vgl. de Certeau, Schreiben, hier: 13. 21 Vgl. Koselleck, Beschleunigung. Vgl. dazu Rosa, Beschleunigung. 22 Walter Benjamins These vom Auraverlust des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit wäre vor diesem Hintergrund ebenso neu zu diskutieren wie jüngere medienhistorische Forschungen, die sich diesem Thema widmen. Als Beispiel für medienhistorische Studien, die sich mit Zeit beschäftigen, vgl. Schmidgen, Helmholtz-Kurven. <?page no="136"?> 135 Erzählt, erfahren, ersonnen spielsweise durch Feedback-Schleifen und dialogische Formen der Selbstreflexion stets mitlaufen. Ganz anders ist Reflexivität in Paul Steinmanns Theaterstück organisiert. Auf der einen Seite ist die Fragestellung ereignisgeschichtlich und im Primarschul- und Alltagswissen begründet. Die Zuschauererwartung definiert den Horizont der ersten konzeptionellen Überlegungen. Damit ist eine im Vergleich zur Geschichtswissenschaft dezidierte Reduzierung und Simplifizierung von Geschichte indiziert. Auf der anderen Seite sind im Laufe der weiteren Produktion des Theaterstücks immer wieder Reflexionsschleifen eingebaut. Als solche kann man schon das Casting der Schauspieler und die Auswahl der Kostüme begreifen. Beides sind, wenngleich völlig anders als in der Wissenschaft, Formen des Komplexitätsaufbaus, in dessen Verlauf Handlungscharaktere und plot in Bezug zueinander gesetzt und Möglichkeitsräume ausgelotet werden. Auch das fertige Theaterstück kennt schließlich eine reflexive Figur, nämlich die des Narren. Der Hofnarr scheint aus dem Nichts zu entstehen und ist dementsprechend im Prinzip unabhängig von der Handlung. Er dient allein dazu, den Autor in der Geschichte selbst gewissermaßen zu verdoppeln und als Alter ego zu spiegeln. In der Geschichtswissenschaft taucht eine Figur wie die des Steinmann’schen Narren nicht auf. Dies liegt wohl daran, dass der Narr mit dem Anspruch auf gesichertes Wissen in spezifischer Weise bricht, indem er Selbsterkenntnis mit Selbstironie verbindet. Jede neue Erkenntnis ist in der Figur des Narren mit einer Wendung verbunden, durch welche sie auf die Fragwürdigkeit ihrer Voraussetzungen transparent gemacht wird. Jeder Erkenntnisakt ist damit konstitutiv mit dem eigenen Scheitern konfrontiert. 23 Das wissenschaftliche Denken sieht diese Permanenz des Scheiterns nicht vor. Indem es seine Erkenntnisbildung an objektivierte Verfahrensweisen koppelt, um dadurch zu »gesichertem Wissen« zu gelangen, schließt es eine ganze Reihe von Erkenntnis- und Darstellungsmöglichkeiten im Prinzip aus. 24 Dazu gehören die Verbindung von Persönlichem und Geschichtlichem, der willkürliche Wechsel von Zeitebenen oder die Nutzung hybrider medialer Formen, die im Falle des Comics dazu dienen, Ganzheits- und Kontinuitätsvorstellungen zu unterlaufen. 25 Auch Subversivität, Ironisierungen und parodistische Zuspitzungen von Stilen und Gattungen bleiben weitestgehend verboten. Man hütet sich, ganz anders wiederum als im Comic, davor, Publikumserwartungen zu brechen. Die Konstruiertheit des Dargestellten kann zwar betont, auf der Ebene der Darstel- 23 Vgl. dazu Könneker, Wesen. 24 Inwiefern Geschichtswissenschaft auch andere Wege gehen kann, reflektiert etwa Nathalie Zemon Davis in einem fiktiven Dialog zwischen ihr als Autorin und den drei historischen Protagonistinnen unter: Zemon Davis, Women, 1-4. 25 Warum sollte es beispielsweise nicht denkbar sein, eine Dissertation als Comic zu verfassen? <?page no="137"?> 136 Francisca Loetz / Marcus Sandl lung jedoch nicht eingeholt werden, wie dies beispielsweise durch den Montagecharakter von Bildgeschichten möglich ist. All das sind Formen, Reflexivität herzustellen, die der Geschichtswissenschaft nicht zur Verfügung stehen. Diese Divergenzen korrespondieren, und das ist der sechste und letzte Aspekt, natürlich mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Die Geschichtswissenschaft produziert Erkenntnisse auf der Basis verbindlicher Regeln, um eine argumentative Verständigung innerhalb der scientific community herzustellen. Das gilt auch dort, wo sie sich an eine größere Öffentlichkeit richtet. Ihr Beitrag zur Geschichtskultur ist der Aufklärung verpflichtet, gegebenenfalls auch der kritischen Affirmation, nicht jedoch der Identitätsstiftung im Dienste einer außerwissenschaftlichen (z.B. politischen) Zielsetzung. Dies spiegelt sich in einem theoretisch-methodischen Konservativismus wider. Gedankenexperimente werden eher skeptisch gesehen, wissenschaftliche Standards nur behutsam verändert. Über allem steht die Einsicht, dass die Geschichtsals Kulturwissenschaft nur immer vorläufige Erkenntnisstände formulieren kann. Die populären Medien folgen auch dort, wo es um die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse geht, anderen Prämissen. Nicht kritische Distanz ist ihr vorrangiges Ziel, sondern die Vergegenwärtigung des Vergangenen, um es vertraut und erfahrbar zu machen. Geschichte muss in diesem Sinne Identifikationsmöglichkeiten bieten und möglichst unterhaltsam sein. Sie orientiert sich an der Lebenswelt des einzelnen Menschen. Dies kann so weit gehen, dass Erklärungsansprüche gänzlich wegfallen. In der Regel jedoch wird mit einer reflektierten Komplexitätsreduktion gearbeitet. Das Motto lautet nicht Simplifizierung, sondern Popularisierung mit Niveau. Hier gibt es freilich auch Ausnahmen. Spiegelman verweigert in Maus Identifizierungsangebote und durchbricht bewusst Leseerwartungen, ja Tabus. Auch dies liegt im Bereich dessen, was das Spiel als das grundlegende Paradigma der modernen Medien ermöglicht. Das Spiel muss nicht, kann jedoch dazu in Anspruch genommen werden, von Konventionen zu befreien und neue Erkenntnismöglichkeiten zu schaffen. Es beinhaltet damit ein ausgesprochen großes Innovationspotential. All die genannten Aspekte zeigen, dass die Auseinandersetzung mit den modernen Medien für die Geschichtswissenschaft einige Herausforderungen bereithält. Es bleibt zu überlegen, wie die Geschichtswissenschaft und ein breiteres historisch interessiertes Publikum besser zueinander finden können. Damit sind Fragestellungen verbunden, die über geschichtsdidaktische Problemlagen hinausgehen. Im Fokus stehen nicht Vermittlungsaspekte von Inhalten, die a priori festgelegt sind. Es geht vielmehr um die Frage nach der Medialität des eigenen Tuns sowie, daran anschließend, um die gesellschaftliche Verantwortung der Geschichtswissenschaft für die Entwicklung des kol- <?page no="138"?> 137 Erzählt, erfahren, ersonnen lektiven Gedächtnisses. 26 Wie kann, das wäre u.a. zu klären, komplexes Wissen popularisiert werden, ohne zu simplifizieren und zu emotionalisieren? Ist es möglich, eine wissenschaftliche Argumentation im Comic, Hörspiel oder den anderen in diesem Band angesprochenen Medien zu entfalten? Oder ist es vorstellbar, geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse mit neuen, experimentellen re-enactments oder performances zu verbinden? Die Auseinandersetzung mit anderen Geschichtsmedien heißt ferner kritische Fragen an die Geschichtswissenschaft zu stellen. So zeigt sich, dass die Geschichtswissenschaft keineswegs unter gänzlich anderen Voraussetzungen arbeitet. Auch sie operiert unter Konkurrenzbedingungen, die sich mit Blick auf die laufende Internationalisierung von Wissenschaftskulturen möglicherweise noch weiter verschärfen. Zudem können viele weitere Anregungen aufgenommen werden. Vermag auch die Geschichtswissenschaft beispielsweise ihre Adressaten nicht nur als kritisch Rezipierende, sondern als aktiv am Erkenntnisprozess Beteiligte anzusprechen? Sollte sich wissenschaftliche Argumentation mehr für spielerische Gedankengänge öffnen? Besteht Raum für Experimente oder alternative Geschichtsentwürfe, die u.a. am Kontrafaktischen und Ungeschehenen ansetzen? 27 Mit solchen Fragen werden grundsätzliche epistemologische Probleme angesprochen. Dazu gehören der Umgang mit der Zeit und das Verhältnis von historischer Zeit, Erzählzeit, Zeitenthobenheit von Gegenständen und Zeitlichkeiten der Vergangenheit. 28 Auch die Sinnlichkeit der Geschichte ist hier zu nennen. 29 Der Umstand, dass sich Geschichte im Register von Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten vollzieht, ist bislang, wie es scheint, noch zu wenig in Betracht gezogen worden. Ohne Zweifel bedürfte es gerade im letzten Fall hoher Kreativität und wohl nicht zuletzt auch der Befreiung von Konventionen, die im wissenschaftlichen Betrieb derzeit tabuisiert sind. 26 Vgl. zum Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« und seinem Zusammenhang mit Medien vgl. Assmann, Medien, sowie Erll, Medien. 27 Dies wird zumindest diskutiert. Vgl. u.a. Demandt, Ungeschehene Geschichte; Evans, Veränderte Vergangenheiten. 28 Dieses Thema hat in den letzten Jahren zu Recht viel Aufmerksamkeit bekommen, wie die Tagungsberichte, Tagungsankündigungen und viele Publikationen zeigen. Stichworte, die auf den einschlägigen historischen Internet-Plattformen vielfach zu finden sind, sind u.a. »Zeitzeichen«, »Zeitphänomene«, »Zeitwahrnehmung«, »Gleichzeitigkeit«. 29 Wir meinen nicht die historiographischen Entwicklungen der letzten Jahre, welche die Sinne zum Untersuchungsgegenstand nehmen, sondern die Sinnlichkeit, mit der historische Erkenntnisse vermittelt werden könnten. <?page no="139"?> 138 Francisca Loetz / Marcus Sandl Bibliographie Natascha Adamowsky: Spiel und Wissenschaftskultur. Eine Anleitung, in: dies. (Hg.), »Die Vernunft ist mir noch nicht begegnet«. Zum konstitutiven Verhältnis von Spiel und Erkenntnis, Bielefeld 2005, 11-30. Natascha Adamowsky (Hg.): Affektive Dinge. Objektberührungen in Wissenschaft und Kunst, Göttingen 2011. 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Marcus Sandl: Historiker. 2010 - 2015 Assistenzprofessor für »Medialität der Vormoderne« an der Universität Zürich, seit 2015 Lehrbeauftragter an der Universität Basel, 2016 Vertretung des Lehrstuhls für Frühe Neuzeit an der Universität Konstanz. Claudius Sieber-Lehmann: Altphilologe und Historiker. Lehrer für Deutsch, Latein, Griechisch und Geschichte am Gymnasium Liestal und Privatdozent an der Universität Basel mit den Forschungsschwerpunkten Geschichte des Hoch- und Spätmittelalters. Christian Gasser: Kulturwissenschaftler. Dozent für Theorie in den Studienrichtungen Animation und Illustration an der Hochschule Luzern - Design & Kunst. Freier Schriftsteller, Publizist und Mitherausgeber der Comic-Zeitschrift STRAPAZIN. Kurator und Moderator u.a. der Graphic Novel Tage im Literaturhaus Hamburg sowie Mitglied in diversen Juries in den Bereichen Comics, Animationsfilm und Radio. Katja Wildermuth: promovierte Althistorikerin und Leiterin der Redaktion Geschichte und Gesellschaft des MDR Fernsehen in Leipzig. Verantwortlich für Historische Dokumentarfilme, Dokudramas und zeitgeschichtliche Dokumentationen für MDR, ARD und ARTE sowie internationale Koproduktionen. Silvana Bezzola Rigolini: promovierte Historikerin und Archäologin. Dokumentarfilmproduzentin beim Schweizer Fernsehen RSI in Lugano u.a. verantwortlich für die Sendung Il filo della storia mit Dokumentarfilmen über Geschichte. Assoziierte Forscherin für Archäologie des Mittelmeerraumes an der Universität Bern. <?page no="143"?> Paul Steinmann: Ausgebildeter Theologe. Theaterautor und -regisseur. Regelmäßige Beiträge im Schweizer Radio SRF (Morgengeschichten). <?page no="144"?> : Weiterlesen Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Band 22 Jan Willem Huntebrinker »Fromme Knechte« und »Garteteufel« Söldner als soziale Gruppe im 16. und 17. Jahrhundert 2010, 452 Seiten, 54 s/ w Abb., Broschur ISBN 978-3-86764-274-3 Band 23 Ulrike Ludwig, Barbara Krug-Richter, Gerd Schwerhoff (Hg.) Das Duell Ehrenkämpfe vom Mittelalter bis zur Moderne 2012, 372 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-319-1 Band 24 Alexander Kästner Tödliche Geschichte(n) Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547-1815) 2011, 688 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-320-7 Band 25 Albrecht Bukardt, Gerd Schwerhoff (Hg.) Tribunal der Barbaren Deutschland und die Inquisition in der Frühen Neuzeit 2012, 452 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-371-9 Band 26 Matthias Bähr Die Sprache der Zeugen Argumentationsstrategien bäuerlicher Gemeinden vor dem Reichskammergericht (1693-1806) 2012, 316 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-397-9 Band 27 Christina Gerstenmayer Spitzbuben und Erzbösewichter Räuberbanden in Sachsen zwischen Strafverfolgung und medialer Repräsentation 2013, 386 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-403-7 Band 28 Alexander Kästner, Gerd Schwerhoff (Hg.) Göttlicher Zorn und menschliches Maß Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften 2013, 218 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-404-4 Band 29 Andreas Flurschütz da Cruz Zwischen Füchsen und Wölfen Konfession, Klientel und Konflikte in der fränkischen Reichsritterschaft nach dem Westfälischen Frieden 2014, 460 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-504-1 Band 30 Nina Mackert Jugenddelinquenz Die Produktivität eines Problems in den USA der späten 1940er bis 1960er Jahre 2014, 338 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-559-1 Band 31 Maurice Cottier Fatale Gewalt Ehre, Subjekt und Kriminalität am Übergang zur Moderne. Das Beispiel Bern 1868-1941 2017, 246 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-719-9 Konflikte und Kultur Herausgegeben von Martin Dinges, Joachim Eibach, Mark Häberlein, Gabriele Lingelbach, Ulinka Rublack, Dirk Schumann und Gerd Schwerhoff <?page no="145"?> : Weiterlesen Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Amelie Rösinger, Gabriela Signori (Hg.) Die Figur des Augenzeugen Geschichte und Wahrheit im fächer- und epochenübergreifenden Vergleich 2014, 180 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-515-7 Der Begriff »historia«, meinte Isidor von Sevilla in seinen Etymologien, leite sich von »sehen« bzw. »erkennen« ab. Schon in der Antike hätten nur diejenigen Geschichte geschrieben, die die Ereignisse auch mit eigenen Augen gesehen hätten. In diesem vermeintlich »neutralen« Terrain des Evidenten, im körperlichen Dabeigewesensein und im sinnlichen Wahrnehmen liegt über die Jahrhunderte hinweg auch der Wahrheitsanspruch des Augenzeugen begründet. Die disziplinäre Heimat des Augenzeugen ist demnach die Geschichtsschreibung. Paradoxerweise finden wir in der Geschichte der Geschichtsschreibung die lebhaftesten Beteuerungen, nur selbst Gesehenes zu referieren, jedoch häufig in fiktionalen Geschichtswerken. Um diese Vieldeutigkeit des vermeintlich Eindeutigen in seiner medialen Beschaffenheit und seinen medialen Brechungen kreist der Sammelband, an dem Vertreter aus den Geschichts-, Literatur- und Medienwissenschaften mitgewirkt haben. Die Zeitspanne der Beiträge reicht von der antiken Geschichtsschreibung bis zu den massenmedialen Aufbereitungen des Zeitzeugen an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Denn nur im Vergleich der Epochen und Disziplinen lässt sich erkennen, wie sich der Bezug zwischen Gesichte (Gesehenem) und Geschichte verändert.