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Schwaben und Franken

Regionalgeschichte im Vergleich

1125
2019
978-3-7398-0204-6
978-3-8676-4909-4
UVK Verlag 
Dietmar Schiersner
Georg Seiderer

Was haben die historischen Landschaften Schwaben und Franken gemeinsam, was unterscheidet sie? Die 13 Autorinnen und Autoren dieses Tagungsbandes gehen dieser Frage jeweils im direkten Vergleich nach. Sie zeichnen ein vielschichtiges, uneinheitliches Bild: Strukturell weisen beide Regionen, von der Ausbildung unscharfer Grenzen und Grenzzonen im frühen Mittelalter bis hin zu der die Territorien übergreifenden Institution der Reichskreise in der Frühen Neuzeit sowohl Gemeinsamkeiten als auch Spezifisches auf. Die gleichen historischen Makroprozesse wie die Konfessionalisierung, die Industrialisierung oder die Integration in die neuen Staaten des 19. Jahrhunderts, in Bayern, Württemberg und Baden, waren in Schwaben wie in Franken wirksam, wenn auch mit unterschiedlichen Voraussetzungen, Verläufen und Ergebnissen. Auch der Suche nach einer regionalen Identität, nicht zuletzt in den historischen Vereinen und Museen des 19. und 20. Jahrhunderts, lagen vergleichbare Bedürfnisse zugrunde, wobei immer wieder historische Räume und Traditionen auf die Gegenwart projiziert wurden: Schwaben und Franken entstanden und entstehen so in der ordnenden Vorstellung des Betrachters gleichsam immer wieder neu.

<?page no="0"?> Schwaben und Franken Dietmar Schiersner, Georg Seiderer (Hg.) Regionalgeschichte im Vergleich 13 Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen FORUM SUEVICUM <?page no="1"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Herausgegeben von Dietmar Schiersner im Auftrag des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e.V. Band 13 <?page no="2"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Band 13 Schwaben und Franken Regionalgeschichte im Vergleich Herausgegeben von Dietmar Schiersner und Georg Seiderer UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz <?page no="3"?> Dieser Band wurde veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Stadt Memmingen und der Sparkasse Memmingen-Lindau-Mindelheim. Abbildung auf der Einbandvorderseite: Tirion, Isaak: Nieuwe Kaart van de Frankische en Zwabische Kreits, Amsterdam 17 37. © Bayerische Staatsbibliothek München / Kartensammlung Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. ISSN 1431-9993 ISBN 978-3-86764-909-4 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2020 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Lektorat und Layout: Angela Schlenkrich, Augsburg Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D- 78462 Konstanz Tel. 07531- 9053- 0 www.uvk.de <?page no="4"?> 5 Vorwort Was haben Schwaben und Franken, was haben die Schwaben und die Franken gemeinsam - außer dass sie beide auf mehrere Bundesländer - Baden-Württemberg und Bayern - verteilt sind, dass sie zum Beispiel Bayern sind, und es gleichzeitig nicht sind? Denkt man etwa an die zahlreichen Reichsstädte, an die Vielzahl kleiner reichsritterschaftlicher Herrschaften oder die Berührungspunkte bei der Aufnahme oder aber Abwehr der Reformation, entwickelten Franken und Schwaben offenbar viele Gemeinsamkeiten. Gemeinsam ist Franken und Schwaben nicht zuletzt auch die Integration in die neuformierten süddeutschen Staaten seit 1802. Jetzt erhielten beide historischen Landschaften und ihre zahlreichen vormals reichsunmittelbaren bzw. reichsständischen Herrschaften ein neues, gemeinsames Zentrum mit einer gemeinsamen Herrscherdynastie. Unter den neuen politischen Rahmenbedingungen erfolgte auch die Industrialisierung der Regionen und kam es - in Anknüpfung an ältere Strukturen - zu ökonomischen Entwicklungen, die ebenfalls bis heute prägend wirken. Die 16. Tagung des ›Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte‹ vom 17. bis 19. November 2017 im Memminger Rathaus spürte solchen Gemeinsamkeiten, aber auch den Unterschieden in der historischen Entwicklung der beiden Nachbarregionen nach. Durchgängig folgten die 13 Referentinnen und Referenten - für die Drucklegung entfielen zwei Beiträge - der Bitte der Herausgeber, den regionalgeschichtlichen Vergleich substantiell in ihre jeweiligen Vorträge und Aufsätze zu integrieren. Wenn das Ergebnis nun ein Sammelband ist, der nicht erschöpfend, aber an instruktiven und exemplarischen Aspekten den vielfach erhobenen Anspruch nach landeshistorischer Komparatistik einlösen kann, dann ist das in erster Linie den Autorinnen und Autoren zu danken. Dank möchten die Herausgeber auch dem Memminger Forum für schwäbische Regionalgeschichte e. V. abstatten, insbesondere dessen Geschäftsführer Dr. Hans- Wolfgang Bayer, Leiter des Memminger Kulturamts, und seinen Mitarbeiterinnen, für die routinierte Organisation und Durchführung der Tagung. Dem Oberbürgermeister der Stadt Memmingen Manfred Schilder und dem Memminger Stadtrat gebührt Dank für Gastfreundschaft und großzügige finanzielle Förderung, ebenso der Sparkasse Memmingen-Mindelheim-Lindau mit ihrem Vorstandsvorsitzenden Dipl.-Volkswirt Thomas Munding, die durch ihre Förderung einen wichtigen Beitrag zur Drucklegung des vorliegenden Buches leisteten. Schließlich sind die Herausgeber in besonderem Maße dankbar für die versierte und stets freundliche Hilfe von Lektorin Angela Schlenkrich M. A. und Uta C. Preimesser vom UVK-Verlag. Ihres verlässlichen Engagements wegen kann auch dieser <?page no="5"?> 6 13. Band der Reihe ›Forum Suevicum‹ rechtzeitig erscheinen und - so hoffen und wünschen wir - den Leserinnen und Lesern, in Schwaben, Franken und dem Rest der Welt, Freude und Anregung bei der Lektüre bescheren. Weingarten und Erlangen, im September 2019 Dietmar Schiersner und Georg Seiderer <?page no="6"?> 7 Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 9 D IETMAR S CHIERSNER / G EORG S EIDERER Einführung 11 I. Verwandte Strukturen? H ELMUT F LACHENECKER Entstehung und Ausformung von Regionen. Klöster und Stifte als Grenzmarkierungen und Zentren frühmittelalterlicher Kulturlandschaften 25 F ABIAN S CHULZE Der Fränkische und der Schwäbische Reichskreis in der Frühen Neuzeit. Zwei supraterritoriale Organisationen mit großen Ähnlichkeiten 41 A NDREAS F LURSCHÜTZ DA C RU z Reichsritterschaft(en). Der immediate niedere Adel Frankens und Schwabens 69 II. Gemeinsame Geschichte(n)? K LAUS W OLF Die Meistersinger von Memmingen 95 S TEFAN X ENAKIS Kriegführung in Schwaben und Franken um 1500. Verbindungen und Unterschiede 107 V ERONIKA H EILMANNSEDER Die kirchliche Verwaltung als Träger der Konfessionalisierung. Die Bistümer Augsburg und Würzburg im Vergleich 121 A NDREAS L INK † Herzgucker und Herzguckerinnen. Zu den Erweckungsbewegungen im Allgäu und in Franken. Bedingungen, Protagonisten, Einflüsse 151 <?page no="7"?> 8 E STEBAN M AUERER Franken und Schwaben im Königreich Bayern im frühen 19. Jahrhundert 169 K ATRIN H OLLY Spezifische Kennzeichen der Industrialisierung in Bayerisch-Schwaben und Oberfranken im 19. Jahrhundert 205 III. Komplexe Identitäten? G ERHARD L UBICH Typen der Regiogenese. Schwaben, Franken und das ›Land am Kocher‹ 247 K URT A NDERMANN Hohenlohe - zwischen Franken und Schwaben? 265 D IETER J. W EISS Zwischen Historiographie und moderner Landesgeschichte. Historische Vereine als regionale Identitätsträger 279 E VA B ENDL Geschichtsbegeisterung und Heimatliebe. Zur Entwicklung der historischen Museen in Schwaben und Franken 299 Autorenverzeichnis 317 Nachweis der Abbildungen 319 <?page no="8"?> 9 Abkürzungsverzeichnis ABA Archiv des Bistums Augsburg AO Archiv für Geschichte von Oberfranken BayHStA Bayerisches Hauptstaatsarchiv München BHVB Bericht des Historischen Vereins Bamberg BSB Bayerische Staatsbibliothek München DAW Diözesanarchiv Würzburg EKG Evangelisches Kirchengesangbuch FS Festschrift HBG Handbuch der Bayerischen Geschichte HStADr Hauptstaatsarchiv Dresden HStASt Hauptstaatsarchiv Stuttgart LKAN Landeskirchliches Archiv Nürnberg LMA Lexikon des Mittelalters MGH DO Monumenta Germaniae historica, Ottonis Diplomata MGH SS Monumenta Germaniae historica, Scriptores ND Nachdruck, Neudruck NDB Neue Deutsche Biographie NF Neue Folge QuRRh Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten RGA Reallexikon der germanischen Altertumskunde RGG 3 Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. RI Regesta Imperii StA Staatsarchiv StadtA Stadtarchiv StAL Staatsarchiv Ludwigsburg SuStBA Staats- und Stadtbibliothek Augsburg Tfl. Tafel(n) Veröff. Veröffentlichung(en) Veröff. SFG Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft e. V. VGffG Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte ZBKG Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte ZBLG Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte ZHF Zeitschrift für Historische Forschung ZHVS Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben (und Neuburg) <?page no="10"?> 11 D IETMAR S CHIERSNER / G EORG S EIDERER Einführung Während der Planungen zu einer Schwaben und Franken vergleichenden regionalgeschichtlichen Tagung in Memmingen 2017, aus der vorliegender Sammelband hervorging, erschien in der ›Ipf- und Jagst-Zeitung‹, der Ellwanger Lokalausgabe der ›Schwäbischen Zeitung‹, eine für unsere Thematik aufschlussreiche Glosse: In der täglichen Rubrik »Unterm Strich« zeigte sich ein Journalist unter der Überschrift »Schdeile Dhese« schockiert von der Vorstellung, auch Teile Baden-Württembergs - dessen »Nordosten«, wie der Journalist einigermaßen vergröbernd meinte - könnten eigentlich fränkisch sein. Veranlasst hatte den Kommentar offenbar eine Forderung des ›Fränkischen Bundes e. V.‹ nach der »Wiedervereinigung« aller Teile Frankens. 1 Die unterhaltsame Glosse macht bei aller Ironie Verschiedenes deutlich. Zunächst, dass die fehlende Deckungsgleichheit von modernen politischen, die Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg umschreibenden Grenzen einerseits und kulturellen bzw. historischen Abgrenzungen andererseits Irritationen hervorruft - dass es fränkisches Gebiet innerhalb Baden-Württembergs gäbe, bezeichnet der sich als selbstbewusster ›Mittelfranke‹ zu erkennen gebende Autor tatsächlich als »steile These« und an anderer Stelle als »bläide[s] Gschmarri«. Zugleich wird deutlich, dass kleinräumige Binnenidentitäten - Ober-, Mittel-, Unterfranken - und großräumige Identitäten - Franken vs. Bayern bzw. Schwaben vs. Württemberg - nebeneinander bestehen und dabei auch interferieren, also sich in ihren jeweiligen identifikatorischen Wirkungen stören oder behindern können. Bemerkenswert erscheint insbesondere, dass die relative junge, erst 1838 zu politisch-administrativen Zwecken geschaffene Wortschöpfung ›Mittelfranken‹ offenkundig längst als prägnante (Selbst-)Beschreibung fungiert. Und schließlich wird ein mentaler Gegensatz, ein wenn auch ironisch gebrochenes Ressentiment zwischen Franken und Schwaben spürbar, dessen Genese bzw. Motive und dessen Inhalte sich nicht leicht explizit machen lassen, für das aber an dieser Stelle möglicherweise Leserinnen und Leser Beispiele aus eigener Erfahrung beisteuern könnten. Derartiges berührt das weite sozialpsychologische Feld der Bedürfnisse nach Abgrenzung einerseits und Gruppenbildung andererseits, und seinen Unterhaltungswert scheint man - nicht nur in den lokalen Zeitungen - zu schätzen. 1 Ipf- und Jagst-Zeitung, Nr. 148, 29. Juni 2016, S. 1. <?page no="11"?> D IE TMA R S C HIE R S NER / G E OR G S EIDER ER 12 Die 13 Beiträge dieses Bandes beschäftigen sich zwar nicht mit der Frage, wie und warum solche Klischees in der wechselseitigen Wahrnehmung von Schwaben und Franken zustande kamen und kommen. Die Frage nach den historischen Grundlagen von ›Identität‹ bildet aber den Hintergrund für den Versuch, ein vertieftes Verständnis für Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Struktur, Geschichte und historischem Selbstbild der beiden benachbarten Regionen zu gewinnen. Im gegenseitigen Vergleich kann sich das historische Profil von Landschaften, von ›Geschichtslandschaften‹, 2 schärfen, aber auch das Gegenteil ist denkbar, die Relativierung etablierter Grenzziehungen und die Entdeckung von Gemeinsamkeiten. In der Landesgeschichte gehört der komparatistische Ansatz zu den regelmäßig behaupteten methodischen Spezifika der Disziplin und wird immer wieder gefordert, in den letzten Jahren zunehmend auch im Sinne einer programmatischen Erweiterung in europäische oder gar globale Dimensionen, etwa unter dem Stichwort einer ›Europäischen Regionalgeschichte‹. Nicht immer handelt es sich dabei um ein methodisch zwingendes oder plausibles Bemühen, dessen Ertrag klar vor Augen stünde; (wissenschafts-)politische Motive spielen die mitunter entscheidendere Rolle, und der Erkenntnisgewinn sowohl für die jeweils zu vergleichende Region als auch jener im Hinblick auf Ergebnisse von übergreifender, allgemeinhistorischer Bedeutung bleibt unklar. In mehrfacher Hinsicht naheliegend ist der landeshistorische Vergleich jedoch insbesondere dann, wenn einander benachbarte Regionen gegenübergestellt werden, die sich im Austausch miteinander befanden und gemeinsame Grenzbzw. Überschneidungsräume besaßen. Franken und Schwaben scheinen daher für den landeshistorischen Vergleich besonders geeignet zu sein. Verwiesen sei nur auf den Ertrag mehrerer fränkisch-schwäbischer Tagungen in Weißenburg, die 2005, 2008 und 2010 publiziert wurden und sich strukturgeschichtlichen Aspekten von langer Dauer widmeten: der Wirtschafts- und der Bildungsgeschichte bzw. deren Institutionen sowie dem Beitrag kirchlicher Institutionen zur Stadtentwicklung. In den Vergleich einbezogen wurde hier auch Altbayern. 3 2 Das an sich bereits ältere Konzept der ›Geschichtslandschaften‹ scheint immer noch Erkenntnisgewinn zu versprechen. Als Beispiel sei ein neuerer interdisziplinärer Zugriff von P ETER K URMANN / T HOMAS Z OTZ (Hg.), Historische Landschaft - Kunstlandschaft? Der Oberrhein im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 68), Ostfildern 2008, genannt und eine im Winter 2018/ 19 an der Universität Vechta veranstaltete Ringvorlesung »Geschichtslandschaften«, deren Beiträge aktuell für einen Sammelband vorbereitet werden. 3 H ELMUT F LACHENECKER / R OLF K IESSLING (Hg.), Schullandschaften in Altbayern, Franken und Schwaben. Untersuchungen zur Ausbreitung und Typologie des Bildungswesens in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (ZBLG, Beiheft 26), München 2005; D IES . (Hg.), Urbanisierung und Urbanität. Der Beitrag der kirchlichen Institutionen zur Stadtentwicklung in Bayern (ZBLG, Beiheft 36), München 2008; D IES . (Hg.), Wirtschaftslandschaften <?page no="12"?> E INFÜHR UNG 13 Stärker noch als in diesen Beispielen wurde jedoch mit dem vorliegenden Band ein Ansatz verfolgt, bei dem das Vergleichen bereits auf der Ebene der einzelnen Beiträge geschehen und nicht erst einer Zusammenfassung der Herausgeber oder gar der Zusammenschau des Lesers vorbehalten sein sollte. Alle Autorinnen und Autoren beziehen deswegen neben ihrem fränkischen oder schwäbischen Forschungsschwerpunkt auch die jeweils andere Region intensiv in ihre Überlegungen ein. Dies geschieht in drei Anläufen bzw. Kapiteln: Unter der Überschrift »Verwandte Strukturen? « werden die mittelalterliche Genese der jeweiligen Kloster- und Stiftslandschaften und ihre Bedeutung für die Grenzbildungsprozesse im frühen und hohen Mittelalter, die Organisation und Funktion der frühneuzeitlichen Reichskreise sowie - mit einem besonderen Fokus auf der Reformationszeit - der niedere Reichsadel in den Blick genommen. Mit der Vielherrigkeit und Kleinkammerung von Herrschaft auf dem Boden der territoria non clausa, der Bikonfessionalität und der Bedeutung der Reichskreise als im großen und ganzen aktive und funktionierende Verfassungsorgane wiesen Schwaben und Franken in der Frühen Neuzeit mancherlei Strukturähnlichkeiten auf, die zwar nicht allein für diese beiden Nachbarregionen charakteristisch waren, aber für ihre Identitäts- und Raumkonstruktionen nachhaltig prägend wirkten: Dies sollte auf den Prüfstand gestellt und differenziert werden. Im zweiten, ereignisgeschichtlichen Kapitel geht es um »Gemeinsame Geschichte(n)? « Dabei ist die Auswahl der Themen zwangsläufig nur fragmentarisch bzw. exemplarisch und kombiniert prägende, prinzipiell überregionale gemeinsame Erfahrungen wie die Geschichten von Konfessionalisierung bzw. Säkularisation und Mediatisierung einerseits mit ungewöhnlichen Perspektiven andererseits: Detailstudien zur Kriegsführung um 1500, zu den Erweckungsbewegungen in beiden Regionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie zur Geschichte der (Hoch-) Industrialisierung in Schwaben und Oberfranken, wobei gerade letzteres freilich den Vergleich wirtschaftsgeschichtlich relevanter Strukturen einschließt. Der Einsicht in den grundsätzlichen Konstruktcharakter historischer Räume verdankt sich das letzte Kapitel: Exemplarisch ausgewählte Grenzräume können Geschichte wie Problematik der Abgrenzung gleichermaßen vor Augen führen. Denn »Komplexe Identitäten« ergaben sich für Schwaben und Franken, für das Land wie für die Menschen, nicht erst nach deren Aufteilung unter die neu begründeten süddeutschen Staaten des 19. Jahrhunderts. Vielmehr sind bereits ›Alamannia‹ bzw. ›Francia orientalis‹ Ausdruck des politisch-administrativen Willens und Geschehens im frühen Mittelalter. In denselben Problemzusammenhang gehört die Regiogenese auf der Metabene des Bewusstseins. So besitzen Historische Vereine und Vereinigungen für Identitätsfragen entscheidende Bedeutung, handelt es in Bayern. Studien zur Entstehung und Entwicklung ökonomischer Raumstrukturen vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert (ZBLG, Beiheft 39), München 2010. <?page no="13"?> D IE TMA R S C HIE R S NER / G E OR G S EIDER ER 14 sich doch um Institutionen, die stets neu zur Profilierung ihres eigenen Gegenstandes beitragen, dabei aber immer wieder der politisch-gesellschaftlichen Legitimation bedürfen und Teil einer allgemeinen Geschichtskultur sind. In ähnlicher Weise um ›Identitätsmaschinen‹ handelt es sich bei den historischen Museen, die im 19. Jahrhundert in Schwaben und Franken entstanden. Ergebnis dieses dreifachen komparativen Zugriffs ist freilich kein systematischer, geschweige denn abgeschlossener epochenübergreifender Vergleich zweier Regionen - auch deshalb nicht, weil der Band deutliche Schwerpunkte in der zeitlichen Verteilung der Themen aufweist und die Frühe Neuzeit und das 19. Jahrhundert häufiger bedacht sind als das Mittelalter. Dabei gilt es - nochmals erheblich grundlegender - sich eines methodischen Problems bewusst zu werden. Denn das regionale Vergleichen setzt zunächst einmal voraus, Räume als ›Regionen‹ zu identifizieren, deren Grenzen oder ›Definitionen‹ aber nicht a priori festzulegen sind, sondern jeweils von der zugrundegelegten Fragestellung abhängen und sich dabei historisch fluide zeigen. 4 Die keine 200 Jahre alte Bezeichnung bayerischer Regierungsbezirke jedenfalls suggeriert eine Klarheit, die sich beim zweiten Blick sogleich auflöst. Auch unstrittige Zentren, gleichsam Metropolen, kannten und kennen die beiden historischen Landschaften nicht. H ELMUT F LACHENECKER entwickelt seinen Aufsatz zum Beitrag der Kloster- und Stiftsgründungen für die Entstehung und Ausformungen von Regionen ausgehend von dieser entscheidenden Erkenntnis, weshalb er mit den im frühen Mittelalter bestehenden Bistümern als Untersuchungsräumen - es sind deren jeweils zwei in Franken und Schwaben, Würzburg und Eichstätt bzw. Konstanz und 4 Vgl. zur grundlegenden Problematik W OLFGANG E. J. W EBER , Kulturhistorische Perspektiven der Landesgeschichte, in: J OHANNES B URKHARDT u. a. (Hg.), Geschichte in Räumen. FS Rolf Kießling, Konstanz 2006, S. 323-344; sowie insbesondere die Beiträge von A NDREAS R UTZ , Doing Territory. Politische Räume als Herausforderung für die Landesgeschichte nach dem ›spatial turn‹ (S. 95-110), M ARTIN O TT , Raumkonzepte in der Landesgeschichte nach dem Spatial Turn (S. 111-125), D IETMAR S CHIERSNER , Räume der Kulturgeschichte - Räume der Landesgeschichte. Affinitäten, Divergenzen, Perspektiven (S. 149-164) und M ICHAEL H ECHT , Landesgeschichte und die Kulturgeschichte des Politischen (S. 165-190), in: S IGRID H IRBODIAN / C HRISTIAN J ÖRG / S ABINE K LAPP (Hg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte (Landesgeschichte 1), Ostfildern 2015. - Beispielhaft eingelöst für Franken in der Anlage des Sammelbandes von W ERNER K. B LES - SING / D IETER J. W EISS (Hg.), Franken - Vorstellung und Wirklichkeit in der Geschichte (Franconia 1), Neustadt a. d. Aisch 2003. Vgl. auch E RICH S CHNEIDER (Hg.), Nachdenken über fränkische Geschichte. Vorträge aus Anlass des 100. Gründungsjubiläums der Gesellschaft für fränkische Geschichte vom 16.-19. September 2004 (VGffG IX/ 50), Neustadt a. d. Aisch 2005; zur Raumbildung Frankens im Mittelalter grundlegend J ÜRGEN P ETER - SOHN , Franken im Mittelalter. Identität und Profil im Spiegel von Bewußtsein und Vorstellung (Vorträge und Forschungen 51), Ostfildern 2008. <?page no="14"?> E INFÜHR UNG 15 Augsburg - operiert und nicht von bestehenden Raumeinheiten ›Schwaben‹ oder ›Franken‹ ausgeht. Im Ergebnis werden allenthalben Gemeinsamkeiten der frühmittelalterlichen Raumbzw. Grenzentwicklung deutlich, denn, so die Hauptthese, in allen Bistümern waren es vor allem Klöster und Stifte, durch die Grenzen bzw. Grenzräume bewusst definiert wurden. Gleichwohl zeigt trotz dieser sehr vergleichbaren Ausgangsbasis die weitere Entwicklung der Kloster- und Stiftslandschaft im Hoch- und Spätmittelalter sowie in der Frühen Neuzeit signifikante Unterschiede, weil sich in Schwaben Reichsklöster und -stifte herausbildeten, die in Franken völlig fehlten. Blickt man auf spätere Formen der Grenzmarkierung in den Bistümern, so gibt es, soweit es die katholischen Regionen betrifft, wiederum übergreifend übereinstimmende Modelle der Abgrenzung gegen protestantische Nachbarn mittels Sakralisierung der Landschaft durch Klein- und Kleinstarchitektur. An etablierte politisch-geographische Raumvorstellungen knüpften an der Schwelle zur Frühen Neuzeit - anders als etwa der Kurrheinische oder der Obersächsische - sowohl der Fränkische als auch der Schwäbische Reichskreis an. Von allen Reichskreisen dürften diese beiden sich nicht nur darin am ähnlichsten gewesen sein, wie F ABIAN S CHULZE herausarbeitet: ›Circulus Franconicus‹ und ›Suevicus‹ umschrieben jeweils relativ geschlossene Räume und schlossen als supraterritoriale Einheiten jeweils besonders viele Kreisstände zusammen - wobei freilich der Schwäbische mit weitem Abstand an der Spitze der ›vielherrischen‹ Kreise stand. Kennzeichnend für beide war auch deren bikonfessionelle Zusammensetzung sowie die konfessionell paritätische Besetzung der einflussreichen Kreisausschreibeämter, die in beiden Kreisen besonders häufig abgehalten wurden. Einem weltlichen protestantischen Fürsten, hier dem Herzog von Württemberg, dort den Markgrafen von Brandenburg-Ansbach oder von Brandenburg-Kulmbach/ -Bayreuth, stand ein Fürstbischof zur Seite, wobei sich hier der Konstanzer gegenüber dem Augsburger, dort der Bamberger gegenüber dem Würzburger durchsetzen konnte. Schließlich verfügten beide Kreise als einzige seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert über stehende Heere. Zu solchen institutionellen bzw. personellen Konvergenzen kommt eine vergleichbar intensive und politisch gewichtige Aktivität beider Reichskreise - selbst in Krisenzeiten - hinzu, wie Schulze am Beispiel der Heeresfinanzierung und der Geldpolitik im Dreißigjährigen Krieg ausführt. Er vermag damit dem verbreiteten - und durchaus zutreffenden - Urteil über Ähnlichkeit und Effizienz dieser beiden Vorderen Reichskreise neue Substanz zu geben. Nicht reichsständisch, mithin also auf den Kreistagen nicht immatrikuliert, waren die reichsunmittelbaren Ritter in ihren sechs fränkischen bzw. fünf schwäbischen Kantonen. Der Blick auf ihre Organisationsformen ergänzt deshalb die Untersuchung der Reichskreise. Auch im Hinblick auf die Zahl der zugehörigen Reichsritter und den Grad ihrer Institutionalisierung standen Franken und Schwaben im Reich gemeinsam an der Spitze. Aber bei aller Vergleichbarkeit, z. B. hinsichtlich <?page no="15"?> D IE TMA R S C HIE R S NER / G E OR G S EIDER ER 16 der Genese der reichsritterschaftlichen Organisation, sieht A NDREAS F LURSCHÜTZ DA C RUZ den signifikantesten Unterschied bei der konfessionellen Orientierung, wobei er die nordschwäbischen Kantone den fränkischen zuordnet. Sie waren nach 1555 vollständig zum Luthertum übergegangen - wohl, um sich auch auf diese Weise gegenüber den territorialen Ambitionen des Würzburger Bischofs abzusichern. Die südschwäbischen Ritter dagegen drückten ihre Kaiser- und Habsburgnähe fast geschlossen mit ihrer konfessionellen Entscheidung zugunsten der alten bzw. katholischen Kirche aus. Neben allen Vorteilen, denkt man etwa an die Möglichkeit, an reichskirchliche Pfründen zu gelangen, spielte dabei scheinbar paradoxerweise eine Rolle, dass die habsburgische Herrschaft in den Vorlanden eher defensiv ausgerichtet war und die Autonomiebedürfnisse der Reichsritter keiner zusätzlichen konfessionellen Markierung bedurften. 5 Der Blick auf die schwäbische bzw. fränkische Reichsritterschaft während der Reformationszeit verweist also auf einen grundlegenderen strukturellen Unterschied der Regionen, letztlich auf die stärkere Präsenz Habsburgs im Süden des Reiches. Am Beginn des zweiten Kapitels steht ein Beitrag von K LAUS W OLF , der auf der Memminger Tagung den öffentlichen Abendvortrag gehalten hatte. Deutlich wird anhand der reichhaltigen Memminger Überlieferung, dass der ›Meistersang‹ kein Nürnberger oder fränkisches Spezifikum darstellte, sondern in zahlreichen schwäbischen Städten, in Memmingen sogar bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, blühte. Der Vergleich mit der altbayerischen ›Fehlanzeige‹ in puncto Meistersang legt denn auch nahe, dass hier nicht regionale Unterschiede wirksam waren, sondern dass die Pflege dieser literarisch-musikalischen Form einer urbanen Kultur bedurfte, die vom reichsstädtischen Selbstbewusstsein ihrer Bürger geprägt war. Auch die Untersuchung von S TEFAN X ENAKIS zur Kriegsführung am Anfang des 16. Jahrhunderts relativiert die regionalen Unterschiede zwischen Schwaben und Franken hinsichtlich der Werbung und Rekrutierung, der Taktik und Beutepraxis; einzelne Quellenzeugnisse dürften dabei nicht überbewertet werden: Noch im 15. Jahrhundert regional spezifische Kriegstaktiken verloren aufgrund der technischen Entwicklung und des Anwachsens der Heere an Bedeutung. Gleichwohl 5 Vgl. zu Schwaben D IETMAR S CHIERSNER , Katholische Konfessionsbildung in den habsburgischen Vorlanden. Bedingungen, Entwicklungen, Akteure, in: D ERS . u. a. (Hg.), Augsburg, Schwaben und der Rest der Welt. Neue Beiträge zur Landes- und Regionalgeschichte. FS für Rolf Kießling zum 70. Geburtstag, Augsburg 2011, S. 193-219. Differenzierend bzw. mit Berücksichtigung der konfessionellen Ausnahmen D IETMAR S CHIERSNER , Semper fidelis? Konfessionelle Spielräume und Selbstkonzepte im südwestdeutschen Adel der Frühen Neuzeit, in: R ONALD G. A SCH u. a. (Hg.), Adel in Südwestdeutschland und Böhmen 1450-1850 (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 191), Stuttgart 2013, S. 95-126; S TEFAN B IRKLE , Reichsritterschaft, Reformation und Konfessionalisierung in Oberschwaben (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 19), Epfendorf 2015. <?page no="16"?> E INFÜHR UNG 17 lassen sich für die Zeit um 1500 für Schwaben, dessen Adel innerhalb des Schwäbischen Bundes und dank habsburgischer Lehensbindungen eng vernetzt gewesen sei, von einer ›Söldnerlandschaft‹ sprechen, nicht jedoch für Franken, dessen Adelige Xenakis als »politisch isoliert« einschätzt. Als gemeinsame, jedoch verschieden akzentuierte Geschichte zeichnet V ERO - NIKA H EILMANNSEDER den Verlauf der Konfessionalisierung in den Bistümern Augsburg und Würzburg. Sie blickt dabei auf die Rolle der bischöflichen Verwaltungen, auf Bildungseinrichtungen, insbesondere das Wirken der Jesuiten, auf den Kirchenbau und die konfessionsspezifischen Formen der Frömmigkeit. Insgesamt dominierten demnach die Gemeinsamkeiten - auch ablesbar an der bis in die Gegenwart sichtbaren Sakralisierung der jeweiligen Bistumsbzw. Hochstiftsgebiete. Allerdings bemerkt Heilmannseder gerade im Kirchenbau zeitlich unterschiedliche Konjunkturen, die in Franken vor, in Schwaben nach dem Dreißigjährigen Krieg lagen. Und während der Würzburger Bischof als Herzog zu Franken landesherrliche Ansprüche insgesamt machtvoller habe durchsetzen können, sei der Augsburger eher auf Unterstützung, allen voran der Wittelsbacher, aber auch beispielsweise der Fugger angewiesen gewesen. Zumal seine Stellung und Möglichkeiten in der schließlich bikonfessionellen Reichsstadt Augsburg waren ja nicht mit der des in Würzburg als Landesherr regierenden und residierenden fränkischen Amtsbruders vergleichbar. Frömmigkeitsgeschichte lässt sich nicht nur aus Sicht der kirchlichen Zentren, sondern auch aus der Perspektive der ›Devianz‹ erzählen. Erweckungsbewegungen, die um 1800 ein sowohl ökumenisches wie globales Phänomen darstellten - man denke nur an das für Nordamerika so prägende ›Great Awakening‹ -, erfassten sowohl Franken als auch Schwaben. Dass der regionale Vergleich bei dieser Thematik die Analyse voranzubringen vermag, zeigt A NDREAS L INK (†), der die Unterschiede, die sich registrieren lassen, auch auf spezifische konfessionelle, kirchen- und religionspolitische Rahmenbedingungen sowie personelle und institutionelle Konstellationen zurückführt - mithin auf regionale (Epi-)Phänomene. Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung, der Link mehr »Verschrobenheiten« attestiert, setzte früher ein und hatte ihren Höhepunkt zwischen 1795 bis 1815. In Franken dagegen begann sie - nach spätpietistischen Vorformen - erst in den 1820er Jahren, blieb dann aber nachhaltiger wirksam, nicht zuletzt weil sie unter Theologen an der Universität Erlangen Rückhalt fand. Insgesamt seien in Franken »spezifisch protestantische Traditionslinien« wirksam gewesen, unter anderem »ein starkes laikales Element« und »die eingeübte Streitkultur in Glaubensdingen«. Zur gemeinsamen Geschichte wurde für Schwaben und Franken schließlich die bis heute bestehende Eingliederung großer Teile des vormals Schwäbischen bzw. Fränkischen Reichskreises in einen neuen, gemeinsamen souveränen Staat. Für die letzten beiden Beiträge des zweiten Kapitels geht damit auch eine Veränderung des Vergleichshorizontes bzw. der Vergleichsperspektive einher. E STEBAN M AUERER <?page no="17"?> D IE TMA R S C HIE R S NER / G E OR G S EIDER ER 18 geht es darum zu klären, wie die neuen Territorien und deren Bewohner in das Kurfürstentum, dann Königreich Bayern integriert wurden und welche kollektiven Identitäten im Zuge dessen der auf Homogenisierung bedachte Staat seinen neuen Untertanen zuschrieb. 6 Integration und - wie man in Anlehnung an die für vergleichbare Vorgänge im frühen Mittelalter verwendete Begrifflichkeit sagen könnte - ›Ethnogenese‹ der (bayerischen) Franken und Schwaben verliefen aber nicht bruchlos und folgten nicht einem von Anfang an konsequent durchgehaltenen Masterplan. Denn einer ersten Phase des »bürokratischen Staatsabsolutismus« in der Regierungszeit Max I. Josephs, in der einerseits landesweit einheitliche politische, administrative und rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen, andererseits vorgängige Identitäten programmatisch verdrängt werden sollten, folgte unter Ludwig I. eine Re-, teilweise auch Neuvitalisierung regionaler Identitäten. Dass aber etwa in der Kreiseinteilung - im wesentlichen fortwirkend in den bis heute bestehenden bayerischen Regierungsbezirken - die historischen Raum- und Stammesnamen (erneut) sichtbar gemacht wurden, ja in vielfältigen von der Zentrale ausgehenden Initiativen zur Pflege der regionalen historischen Identitäten ermuntert wurde, 7 setzte paradoxerweise keineswegs zentrifugale Kräfte frei. Im Gegenteil: Die partikularen räumlichen Identitäten wurden zur konstruktiven Grundlage eines bewusst zu erschaffenden bayerischen Nationalgefühls. Dabei wurden Traditionen so gut erfunden, dass sie Teil des Selbstverständnisses der Menschen wurden und Binnenidentitäten hervorbrachten: Die Abgrenzung von Ober-, Unter- und Mittelfranken - Bezeichnungen, die ja nicht auf historische Territorien rekurrieren - wäre dafür ebenso ein Beispiel wie die geographische Verengung des ›Schwaben‹- Begriffes. Wie viel vor-bayerisches ›Schwaben‹- oder ›Franken‹-Bewustsein allerdings in den vom neuen Staat zugeschriebenen oder gar zugewiesenen und umgekehrt in Abgrenzung zu Altbayern gepflegten Identitäten steckte, bleibt nach wie vor eine spannende Frage. Auch in ökonomischer Hinsicht schuf der neue bayerische Staat einheitliche Rahmenbedingungen, durch Rechtsetzung, aber auch mit infrastrukturellen Maßnahmen wie dem Eisenbahnbau. Zugleich traten fränkische wie schwäbische Landesteile ihre wirtschaftliche Entwicklung im 19. Jahrhundert ausgehend von unterschiedlichen Voraussetzungen an, zu denen die Verschiedenheit der naturräumlichen Bedingungen ebenso zählte wie jeweils etablierte Produkte, Produktionsweisen oder Absatzmärkte und vieles mehr. Dabei waren die Vergleichsregionen jeweils Teil größerer Gewerbelandschaften, die sich für Oberfranken nach Osten und Norden, für Schwaben nach Westen und Süden erstreckten. K ATRIN H OLLY 6 Vgl. C ARL A. H OFFMANN / R OLF K IESSLING (Hg.), Die Integration in den modernen Staat. Ostschwaben, Oberschwaben und Vorarlberg im 19. Jahrhundert (Forum Suevicum 7), Konstanz 2007. 7 Vgl. auch den Beitrag von Dieter J. Weiß in diesem Band. <?page no="18"?> E INFÜHR UNG 19 leistet mit ihrem Beitrag einen datengesättigten systematischen Vergleich zwischen Schwaben und Oberfranken hinsichtlich der Faktoren, die jeweils zur Ansiedlung von Industrie führten - sie geht ein auf Energieversorgung, Verkehrsanbindung durch die Bahn, Nachfrage und Absatz, Arbeitskräfte und Rohstoffe, Herkunft des Kapitals, der Unternehmer, der Technik und des Wissens - und der regionalen Charakteristika für den Verlauf der Industrialisierung. Grundsätzlich war die Textilherstellung in beiden Fällen die Leitindustrie. Gleichwohl zeichnet sich eine Reihe signifikanter Unterschiede ab, beginnend mit dem Zeitpunkt der ökonomischen Take-off-Phase, die in Schwaben, namentlich in Augsburg, Mitte der 1830er Jahre, wegen der Nutzbarkeit von Wasserkraft als entscheidendem Energieträger an Iller und Lech 15 bis 20 Jahre eher einsetzte als in Oberfranken, das sich erst mit dem Eisenbahnbau und der dadurch gewährleisteten Kohleversorgung industrialisierte. Letzteres wiederum ermöglichte eine stärkere Ansiedlung von Betrieben in der Fläche. Viele mittlere und kleinere Standorte in Franken standen - auch deshalb - dem in Schwaben klar dominierenden Augsburg gegenüber. Hinsichtlich der Branchenstruktur entwickelte sich in Oberfranken ebenfalls eine breitere Ausfächerung. Im dritten und letzten Kapitel des Tagungsbandes wenden sich die Beiträge nochmals der mehrfach angesprochenen Identitätsproblematik zu. In den Beiträgen von Kurt Andermann und Gerhard Lubich geht es - in unterschiedlichem Zugriff und Ausgriff - jeweils um Grenzregionen, um das »Land am Kocher« und um Hohenlohe. Letzteres ordnet K URT A NDERMANN zwar unmissverständlich Franken zu, hebt aber auch das Sich-Arrangieren der »Hohenloher« mit Württemberg hervor, in dessen Staatsgebiet der Großteil der hohenlohischen Lande integriert wurde. Wenn dabei allerdings, wie feststellbar, im allgemeinen Sprachgebrauch immer wieder ›württembergisch‹ und ›schwäbisch‹ in eins gesetzt werden, kann man dies zwar als anachronistisch oder falsch bezeichnen. Andererseits aber lässt es sich auch als Ausdruck der Fluidität räumlicher Grenzen und Identitäten in einer - nicht abgeschlossenen - Geschichte begreifen, als semantische Konsequenz jener historischen Konstruktionen, Verschiebungen, Transformationen und Neudefinitionen, die G ERHARD L UBICH mit dem Begriff der ›Regiogenese‹ für Franken und Schwaben ausgehend von der Völkerwanderungszeit beschreibt, indem er zentrale Einsichten des spatial turns aufnimmt. Dass auch Größe und Bezugshorizont von Räumen nicht ein für alle Mal gesetzt sind, sondern Veränderungen unterliegen, wird analytisch mit der Begrifflichkeit von Makro-, Meso- und Mikroräumen fassbar: So sieht Lubich die Entwicklung der ›Francia orientalis‹ von der karolingischen Expansionsphase bis zum Hochmittelalter als »langgestreckten Prozess« vom Makrozum Mesoraum »mit vornehmlich regional determinierten politisch-sozialen Strukturen«. Schwaben wiederum repräsentiert für ihn keinen der Francia gleichwertigen alamannischen Makroraum, wohl aber einen von politisch abgrenzendem »Gemeinschaftsbewusstsein« geprägten Mesoraum - groß genug, dass er am Ende des 11. Jahrhunderts <?page no="19"?> D IE TMA R S C HIE R S NER / G E OR G S EIDER ER 20 zähringische, staufische und welfische Einflusssphären nebeneinander trug. Und schließlich führte die zwischen Franken und Schwaben entstehende Grenze zur Entstehung eines »Hybrid«- oder Mikroraumes, der für den fränkischen wie schwäbischen Mesoraum gleichermaßen peripher lag. Zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit entwickelte sich letztlich »durch die Selbstzuschreibung der Bewohner« das Land am Kocher mit (Schwäbisch) Hall als Zentrum. Die Rolle der Geschichtskultur für die mentale ›Regiogenese‹ wird abschließend in zwei Aufsätzen nachgezeichnet. Der Blick von D IETER J. W EISS auf die historischen Vereine und - ergänzend dazu - auf die landesgeschichtlichen Lehrstühle macht bei allen Initiativen und der Resonanz in der Bevölkerung zunächst einmal die zentrale - und erfolgreiche - Einflussnahme des bayerischen Staates deutlich. Was Ludwig I. mit der Devise »Vaterlandsliebe durch Vaterlandskunde« umschrieb, trifft im Prinzip auch auf die Zielsetzung der Geschichtspolitik im Nachkriegsbayern zu. Das von König Ludwig I. im Mai 1827 erlassene Dekret sah für alle Kreise die Gründung historischer Vereine mit Museen und Bibliotheken vor, was durch das Innenministerium kontrolliert werden sollte. Dennoch verlief die nachfolgende Gründungswelle nicht völlig parallel. Hier wie dort gingen gesellschaftliche Zusammenschlüsse zu historischen Zwecken voraus, doch scheint es, dass die fränkischen Gründungen frühzeitiger an den neuen Zentralorten erfolgten (1827 Bayreuth, 1830 Ansbach und Bamberg, 1831 Würzburg), während man in Schwaben zunächst kleinräumiger orientiert war und die teils kurzlebigen lokalen Geschichtsvereine (1828 Buchloe, 1831 Dillingen und Günzburg, 1832 Aichach, Roggenburg, Donauwörth) in dem erst 1833 begründeten zentralen Verein für den Oberdonaukreis aufgingen. Wie dieser Befund zu interpretieren wäre, bleibt indes offen. In beiden Regionen vermehrten sich die lokalen Gründungsinitiativen von unten in einer zweiten Welle dann teils im Vormärz, vor allem aber nach der Gründung des Kaiserreiches. Auch hier ließen sich Mutmaßungen über die Zusammenhänge anstellen: Passte möglicherweise zum Bemühen der Bürger, sich mit dem neuen deutschen Nationalstaat zu identifizieren, die lokale Selbstvergewisserung auf besondere Weise? Und mussten deswegen ältere Loyalitäten zum bisherigen Makro-Bezugsraum an Attraktivität verlieren? Möglicherweise verhielt es sich so bei der ersten Gründungswelle von städtischen Museen, die während des Kaiserreiches - aus privater, ›bürgerschaftlicher‹ Initiative, oft aus Initiative der historischen Vereine - erfolgte. In diesen Museen wurde - abgesehen von am Anfang eher unsystematischen Sammlungen wie beispielsweise in Ansbach - vor allem die Geschichte des räumlichen Nahbereichs präsentiert. Insgesamt entwickelten sich die historischen Museen in Franken und Schwaben »weitgehend parallel«. Zu den übergreifenden Tendenzen zählt für E VA B ENDL ein gleichsam dreifacher bürgerlicher Patriotismus, der sich im 19. Jahrhundert auf den Heimatort ebenso wie auf den regionalen und den - bayerischen oder deutschen - staatlichen bzw. nationalen - Bezugsrahmen richtete. Über alle <?page no="20"?> E INFÜHR UNG 21 Regime und Staatsformen hinweg wurde dann im 20. Jahrhundert »das fortschrittspessimistische und romantisierende Heimatkonzept der in Bayern sehr populären Heimatschutzbewegung« für die Gestaltung der Museen - jetzt zumeist als ›Heimatmuseen‹ bezeichnet - dominierend. 8 Bei allen gemeinsamen Grundverläufen arbeitet Bendl dennoch auch Unterschiede heraus: Fränkische Heimatmuseen wurden demnach in der Zeit des Königreiches einerseits deutlicher von »deutschnationale[m] Identitätsgefühl« getragen und beschäftigten sich andererseits stärker mit der vorbayerischen Geschichte ihres jeweiligen Raumes, um sich von der Dynastie der Wittelsbacher abzugrenzen. Auf eine gesamtfränkische Identität konnte oder wollte eine derartige Konzeption dadurch aber weniger abzielen. Anders in Schwaben: Die Präsentation der vorbayerischen Geschichte ging hier meist einher mit »öffentlichen Loyalitätsbekundungen zum Königreich Bayern« - schon im Namen programmatisch beispielsweise bei der Gründung des nach König Maximilian II. Joseph benannten, allerdings bereits 1854 gegründeten Augsburger ›Maximilianmuseums‹. Die regionale Ausrichtung fand ihren jeweiligen Höhepunkt in der Zwischenkriegszeit, wobei nach dem Ende der Bayern verklammernden Monarchie ein gesamt-fränkischer oder gesamt-schwäbischer Horizont besondere Attraktivität entfaltete - eine Beobachtung, die in anderen Bereichen bestätigt wird. 9 Schwaben und Franken sind, wie auch immer sie als Regionen bestimmt und die Grenzen zwischen ihnen gezogen werden, Nachbarn, sie sind als benachbarte Regionen vielfach ineinander verschränkt und miteinander verbunden. Die Struk- 8 Vgl. G ESA B ÜCHERT , Schauräume der Stadtgeschichte. Städtische Heimatmuseen in Franken von ihren Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (Bayerische Studien zur Museumsgeschichte 1), Berlin-München 2011. 9 Vgl. z. B. zur Gründung des Frankenbundes J OSEPH A UGUST E ICHELSBACHER , Dr. Peter Schneider und sein Werk. Zum 75. Geburtstage des Frankenbundsvorsitzenden, in: Frankenland. Zeitschrift für fränkische Landeskunde und Kulturpflege (1957), S. 125-136; für Schwaben z. B. K ONTSTANTIN B ERTELE , Reichsland Groß-Schwaben mit Stuttgart und Augsburg. Ein Beitrag zur Reichsreform und Reichsneugliederung unter besonderer Berücksichtigung bayerisch-Schwabens d. i. Ostschwabens, Kempten 1930. Dazu J ÜRGEN K LÖCKLER , Reichsreformdiskussion, Großschwabenpläne und Alemannentum im Spiegel der südwest-deutschen Publizistik der frühen Weimarer Republik: »Der Schwäbische Bund« 1919-1922, in: ZWLG 60 (2001), S. 271-315; M ARTINA S TEBER , Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime (Bürgertum 9), Göttingen 2010. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhren solche großschwäbischen Visionen nochmals einen Boom; vgl. J ÜRGEN K LÖCKLER , Vom Lech bis an der Rhein. Träume von einem schwäbisch-alemannischen Staat nach 1945, in: P AUL H OSER / R EINHARD B AUMANN (Hg.), Kriegsende und Neubeginn. Die Besatzungszeit im schwäbisch-alemannischen Raum (Forum Suevicum 5), Konstanz 2003, S. 81-95, bes. 89- 91; E LMAR L. K UHN u. a. (Hg.), Das große weite Tal der Möglichkeiten: Geist, Politik, Kultur 1945-1949. Das Projekt Gesellschaft Oberschwaben, Lindenberg 2002. <?page no="21"?> D IE TMA R S C HIE R S NER / G E OR G S EIDER ER 22 turähnlichkeiten zumal in der Frühen Neuzeit fordern einen Vergleich zwischen ihnen geradezu heraus, der Unterschiede und Gemeinsamkeiten gleichermaßen herausarbeitet wie er den Blick auf die jeweiligen Eigenheiten schärft. Ähnliches gilt für die Frage nach den Beziehungen zu den Staaten, deren Neuformierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur das territoriale Gefüge Süddeutschlands grundlegend veränderte, sondern auch Begrifflichkeit, Wahrnehmung und Identitätsbildung in Bezug auf »Schwaben« wie auf »Franken« in je unterschiedlicher Weise neu formte, ob es sich um einen historisierenden Rückgriff auf idealisierte vormoderne Raumbegriffe, 10 um eine Lokalisierung der historischen Erinnerung im Rahmen der neuentstandenen Staatlichkeit oder um die Neubildung politischer Landschaften innerhalb der Staaten handelte, in denen die territoriale Vielfalt des schwäbischen und des fränkischen Reichskreises nach 1800 aufgegangen war. 11 Die neuen Grenzziehungen - und damit nicht zuletzt diejenigen des Jahres 1810 - bestimmten und bestimmen regionale Wahrnehmungsstrukturen und Identitätsbildungsprozesse mit, bis hin zu den eingangs erwähnten Statements eines ›selbstbewussten Mittelfranken‹, der die Vorstellung, es könne ›Franken‹ auch jenseits der weißblauen Grenzpfähle geben, mit Unverständnis quittiert. Es mag an dem nunmehr vorrangigen jeweiligen Bezug auf die neuformierten Staaten des 19. Jahrhunderts liegen, dass Schwaben und Franken nur selten in den Blick einer vergleichenden, gemeinsamen wissenschaftlichen Betrachtung geraten, wozu der in wissenschaftlichen Institutionen und Organisationen verankerte Blick auf München oder Stuttgart beigetragen haben mag. Die Herausgeber hoffen, dass es mit den in diesem Band versammelten Aufsätzen gelungen ist, Aspekte der Beziehungen und Verbindungen, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Schwaben und Franken deutlicher werden zu lassen. Den Autorinnen und Autoren sei ganz besonders dafür gedankt, dass sie sich darauf eingelassen haben, in ihren Beiträgen jeweils beide Regionen zu berücksichtigen. 10 Vgl. dazu auch A NDREA M. K LUXEN / J ULIA H ECHT (Hg.), Tag der Franken. Geschichte - Anspruch - Wirklichkeit (Geschichte und Kultur in Mittelfranken 1), Würzburg 2010. 11 H EINZ G OLLWITZER , Die politische Landschaft in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhundert. Eine Skizze zum deutschen Regionalismus, in: ZBLG 27 (1964), S. 523- 552. <?page no="22"?> I. Verwandte Strukturen? <?page no="24"?> 25 H ELMUT F LACHENECKER Entstehung und Ausformung von Regionen. Klöster und Stifte als Grenzmarkierungen und Zentren frühmittelalterlicher Kulturlandschaften Eine im Mittelpunkt stehende ›Regionalgeschichte im Vergleich‹ ist reizvoll, weiterführend, erhellend, aber diese Herangehensweise stellt zugleich methodische Herausforderungen an den Betrachter. Das betrifft vor allem die konkrete Abgrenzung einer Region. Franken und Schwaben waren keine festen politischen Raumeinheiten, sie hatten keine starren Grenzen, keine allseits anerkannten Zentren. Allein die Frage, ob etwa Nürnberg das Zentrum Frankens ist, bringt einen Würzburger zum Schäumen, denn die metropolis Franconiae sei natürlich am Main anzutreffen. Und mit Stolz wird er auf die 350 Jahre längere Geschichte des frühmittelalterlichen Herzogssitzes gegenüber der salisch-staufischen Königspfalz verweisen. Ob ein Allgäuer ohne weiteres Augsburg als historisches Zentrum für sich anerkennt, dürfte bezweifelt werden. Eine Region, so wie wir sie verstehen, hat eigentlich nie feste Grenzen; ihr Umfang wird letztlich durch die jeweilige Fragestellung definiert. Und so verhält es sich auch mit der Definition des jeweiligen Mittelpunktes einer Region. Die Fragestellung unterliegt, oft unhinterfragt, aktuellen Interessen. Bereitwillig nehmen wir die bayerischen Regierungsbezirke als Größen, ja oft ohne weitere Diskussion als räumliche Grundlagen an. Dabei wird aber vergessen, dass diese politisch-administrativen Raumeinheiten nicht einmal 200 Jahre alt sind. Der Ort Memmingen lässt sich dagegen bis ins frühe 12. Jahrhundert, die Geschichte des benachbarten Ottobeuren bis in die Mitte des 8. Jahrhunderts zurückverfolgen. Der Versuch, eine Region in einer Zeit ohne Städte, ohne Flughäfen und Autobahnen, ohne feste Grenzen zu definieren, muss entsprechend ihrer Zeitstellung und ihrer damaligen Raumobjekte vorgehen. Dabei drängen sich die kirchlichen Verwaltungsstrukturen in den Vordergrund, denn sie sind die frühesten überhaupt. Wenn wir in das 8. Jahrhundert zurückgehen, so ist der Raum, den wir Franken nennen, von zwei Bischofssitzen, Würzburg und Eichstätt, mehreren Stiften und Klöstern, einigen militärischen Befestigungen und zahlreichen dörflichen Siedlungen bestimmt. Am Rande bilden auch Mainz und die Abtei Fulda eine weitere raumbildende Komponente. In Schwaben sind ebenfalls zwei Bistümer, Augsburg und Konstanz, raumbestimmend, sowie eine Reihe von Klöstern und Stiften, aber auch das Bistum Freising wirkte vom Osten her auf die Raumentwicklung ein. Die <?page no="25"?> H EL MU T F LAC HENECKER 26 Region als Bezugspunkt für eine historische Entwicklung wird bei vielen Betrachtungen, mehr oder weniger unbewusst, mit den heutigen Bezirken in eins gesetzt, obwohl ja klar ist, dass es diese Bezirke im Frühmittelalter noch nicht gegeben haben kann. Von daher ist der Sprung zu den Bistümern mehr als nur ein Notbehelf, auch wenn wiederum bedacht werden muss, dass die sich allmählich herausbildenden diözesanen Grenzen nicht unbedingt mit sprachlich und kulturell definierten Regionen übereinstimmen müssen bzw. diese nur partiell besetzen. Die Grenzverschiebungen bei den Bistümern bzw. deren nur ungefähre Einheit mit den bayerischen Bezirken zeigt eine aktuelle Karte aus der ›Germania Benedictina. Bayern‹. (Abb. 1) Überhaupt sind kirchliche Verwaltungseinheiten, also Diözesen und Pfarreien, die ersten ›administrativen‹ Raumstrukturen überhaupt, die schriftlich greifbar werden. Es war die christliche Religion, die neben der Kulturtechnik des Lesens und Schreibens auch räumliche Ordnungen, mit einer Kirche als Zentrum, in die Lande nördlich der Alpen implantierte. Damalige weltliche Herrschaften kannten noch keine linearen Grenzen, personale Herrschaftsstrukturen spielten eine entscheidendere Rolle. Überspitzt gesagt: Nicht das Land, sondern die Anzahl der Abhängigen prägte die Bedeutung politisch-militärischer Herrschaft. Letztere, egal ob kirchlich oder weltlich, benötigte aber stets einen geographischen Mittelpunkt. Dieser prägte mit seinen jeweiligen zentralen Funktionen den Raum. Neben Ort und Raum tritt dann noch die Peripherie, also jener Bereich, in dem sich zwei oder mehrere verschiedene Herrschaftsträger mit ihren Ansprüchen treffen. Genau dies trifft auch auf diözesane Grenzsäume zu. Erste Zentren in Franken waren, wie gesagt, die Bischofsstädte Würzburg und Eichstätt, aber auch einige Burgen, wobei hier archäologische Befunde in die Überlegungen zentral einbezogen werden müssten. Als weitere Herrschaftsorte müssen Klöster und Stifte betrachtet werden, die von den führenden Familien als Orte ihrer Herrschaftslegitimation wie auch der Memoria gefördert wurden. Klöster und Stifte werden hier deshalb gemeinsam behandelt, weil es hier mehr um ihre räumlichen Funktionen geht, weniger um die konkrete Art des gemeinsamen Lebens als Kanonisse/ Kanoniker bzw. Nonne/ Mönch. Überdies ist eine derartige Unterscheidung im frühen Mittelalter mit manchen Unsicherheiten behaftet. 1 1 H ELMUT F LACHENECKER , Damenstifte in der Germania Sacra. Überblick und Forschungsfragen, in: D IETMAR S CHIERSNER / V OLKER T RUGENBERGER / W OLFGANG Z IMMERMANN (Hg.), Adelige Damenstifte Oberschwabens in der Frühen Neuzeit. Selbstverständnis, Spielräume, Alltag (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden- Württemberg B 187), Stuttgart 2011, S. 17-44. <?page no="26"?> K LÖS TER U ND S TIF TE AL S G R ENZMARKIER U NGEN U ND Z ENTR EN 27 Abb. 1: Die Männer- und Frauenklöster der Benediktiner in Bayern mit Grenzen und Markierung der Klöster, die vor 1000 gegründet worden sind; Karte beigelegt der Germania Benedictina 2: Bayern. <?page no="27"?> H EL MU T F LAC HENECKER 28 Bei der Beschreibung bzw. Definition von Regionen dürfen die topographischen Gegebenheiten des Raumes nicht außer acht gelassen werden. Die markante Iller- Grenze zwischen den Bistümern Augsburg und Konstanz mag hierfür als Beispiel gelten. Der Lech, um ein Gegenbeispiel zu nennen, spielte bei den kirchlichen Raumerfassungen nicht annähernd eine solche Rolle. Das Bistum Eichstätt hat im Westen kaum die Wörnitz, im Süden nur einmal die Donau, bei Ingolstadt, überschritten. Der Raum des Bistums Würzburg schließlich wird zwar durch den Verlauf des Mains dominiert, hier lagen viele der wichtigen Besitzungen und Lokalzentren, der Fluss selbst aber spielte lediglich am Oberlauf und erst mit der Gründung Bambergs 1007 eine ›Grenzrolle‹. Insgesamt lagen, schon seit spätrömischen 2 und dann auch frühmittelalterlichen Zeiten, Bischofssitze (überwiegend) an Flüssen, die heute vielleicht als sehr bescheidene Wasserläufe erscheinen, aber, wie beispielsweise die Altmühl und die Rednitz, im Frühmittelalter enorm wichtige Wasserstraßen zwischen dem Herzogtum Bayern und dem karolingischen Ostfranken waren, so dass Karl der Große bekanntermaßen einen Kanalbau initiierte. Grenzen bzw. Grenzräume - und das soll die Hauptthese dieser Untersuchung sein - wurden im Frühmittelalter, wenn auch nicht ausschließlich, so doch ganz wesentlich durch Klöster und Stifte definiert. Blickt man dabei nur auf die Reichsabteien um das Jahr 1000, so ergeben sich für weite Teile Frankens und Schwabens größere Lücken, lediglich in den Alpenvorlanden zeigt sich das bis heute die Landschaft prägende Bild. 3 Nun könnte man sagen, Schwaben habe mehr Klöster als Franken, aber stimmt das? Dem Bearbeiter der Karte aus dem Gatz’schen Kirchengeschichtsatlas fielen natürlich auch die freien Zonen auf: »Auch die bayerisch-fränkischen Gebiete nördlich der Donau, einschließlich Schwabens im Westen und des bayerischen Nordgaus im Norden, wiesen nur wenige Reichsklöster auf.« 4 Thomas Vogtherr zog daraus folgenden Schluss: Diese Gebiete - wie noch andere auch - »standen im Interesse des Reiches und des politischen Wirkens der ottonischen Herrscher im Abseits.« 5 Ist dieser Schluss gerechtfertigt? Der König behielt sich in der Francia Orientalis die Oberherrschaft vor und war dabei stark auf Würzburg als kirchlich-politisches Zentrum der Mainlande angewiesen. An der Südostflanke des Bistums richteten die Karolinger das Bistum Eichstätt ein, gleichsam als fränkisches Zentrum in Grenzlage zu den auf Unabhängigkeit drängenden bayerischen Herzögen. Im 2 E RWIN G ATZ (hg. in Zusammenarbeit mit R AINALD B ECKER / C LEMENS B RODKORB / H ELMUT F LACHENECKER ), Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart, Regensburg 2009, S. 41 (»Bistumsgründungen bis 700«). 3 E. G ATZ (Hg.), Atlas (Anm. 2), S. 45 (»Reichsabteien und Reichsstifte um 1000«). 4 E. G ATZ (Hg.), Atlas (Anm. 2), S. 44 (Thomas Vogtherr). 5 E. G ATZ (Hg.), Atlas (Anm. 2), S. 44 (Thomas Vogtherr). <?page no="28"?> K LÖS TER U ND S TIF TE AL S G R ENZMARKIER U NGEN U ND Z ENTR EN 29 Gebiet des heutigen Mittelfranken wuchsen so die Ansprüche der Bistümer Würzburg, Eichstätt und Augsburg zusammen. Ihre regionalen Interessen dokumentierten sie durch Klostergründungen, die Bischöfe und Adelige vornahmen (St. Gumpert/ Ansbach, Feuchtwangen, Herrieden, Heidenheim, Gunzenhausen, Spalt; zwischen Würzburg und Augsburg Ellwangen). Es sind also diese als Grenzräume apostrophierten Bereiche, die hier näher untersucht werden sollen. Als ein erstes Exemplum sei die Gründung Heidenheims in der südwestlichen Diözese Eichstätt angeführt. Dieses Hauskloster der Sippe Willibalds, das nie zu einem Reichskloster wurde, entwickelte sich zu einem entscheidenden Eckposten für das neue Bistum. Wunibald († 761) gründete das Kloster mit dem Patrozinium Salvator im Frühjahr 752 mit Zustimmung seines Bruders Willibald, des ersten Eichstätter Bischofs. 6 Das Beispiel zeigt, wie ein Kloster unterschiedlich große Regionen beeinflussen konnte. Dabei können mehrere Aspekte angeführt werden: 1. Das Kloster als Ort des Gebetes für die Stifterfamilie und für alle, die in die Gebetsverbrüderungen aufgenommen wurden, wie auch als Ort lokaler Prozessionen zum Heiligengrab, hier des hl. Wunibalds. Der Einflussbereich dieser Verehrung ist schwer zu umschreiben, unser Wissen konzentriert sich für diese Frühzeit allein auf das Faktum, dass es eine Verehrung gab. Wie wichtig das Vorhandensein eines Heiligengrabes war, zeigt sich, als der Eichstätter Bischof Otgar (847-880) die sterblichen Überreste Wunibalds nach Eichstätt überführen wollte. Drei Tage später, so will es die aus dem ausgehenden 9. Jahrhundert stammende Schrift Ex miraculis sanctae Waldburgis, 7 habe er veranlasst, wenigstens die Gebeine des hl. Wunibald wieder nach Heidenheim zurückzubringen. Der Konvent wollte zumindest den Klostergründer wieder in der Klosterkirche wissen, um einen für die Region attraktiven Heiligen zu besitzen, wenn schon die Verehrung von Walburga als erster Heidenheimer Äbtissin zuvor an das Kloster Monheim bzw. an den Bischofssitz Eichstätt verloren gegangen war. 8 6 Keine Patroziniumsangabe in der Vita Wunnibaldi; Willibald weiht die Klosterkirche 778 zu Ehren des Salvators; F RANZ H EIDINGSFELDER , Die Regesten der Bischöfe von Eichstätt, Innsbruck u. a. 1915-1938, Nr. 16. - S TEFAN P ETERSEN , Heidenheim, in: Germania Benedictina 2. Bayern, München 2014, S. 759-769, hier 759-761. 7 A NDREAS B AUCH , Quellen zur Geschichte der Diözese Eichstätt, Bd. 1: Biographien der Gründungszeit, Regensburg 2 1984, S. 260-265 [lateinisch - deutsch]. - Lateinischer Text in MGH SS XV, S. 540f. - Verfasser war Wolfhard von Herrieden, der die Miracula 893 bei der Übertragung von Walburga-Reliquien nach Monheim verfasst hat. 8 H ELMUT F LACHENECKER , Zentren der Kirche in der Geschichtslandschaft Franken, in: C ASPAR E HLERS (Hg.), Places of Power - Orte der Herrschaft - Lieux du Pouvoir (Deutsche Königspfalzen 8), Göttingen 2007, S. 247-261, hier 259f. <?page no="29"?> H EL MU T F LAC HENECKER 30 2. Das Kloster als zentraler Ort für die Binnenkolonisation (Rodung): Damit ist der Hahnenkamm mit seinen Umlanden gemeint. Der Umfang ist durch den klösterlichen Landbesitz zumindest angedeutet. 3. Das Kloster als Ort für einen landwirtschaftlichen Musterbetrieb, auf dem neue agrarische Anbaumethoden angewandt, neues Saatgut benutzt und die Verarbeitung von Getreide mit Hilfe von Mühlen durchgeführt werden konnte. Damit sind die Klostergüter umschrieben. Wie weit die Musterfunktion räumlich ausstrahlte, entzieht sich unserer heutigen Kenntnis. 4. Das Kloster als Fremdenhospiz und Ort für den Krankendienst: Da es sich um einzelne betroffene Menschen handelte, können hier keine exakten Raumbeschreibungen gegeben werden. 5. Das Kloster als Kulturträger: Bibliothek und Schreibstube. - Auch hier lässt sich kein exakter Raum des Einflusses definieren. Ist ein Kloster damit auch ein Ort der Herrschaft? Gewiss hatte ein Kloster für seine Umgebung zentrale Aufgaben, jedoch dürfte der Grad von Zentralität wesentlich lokaler ausgerichtet sein als derjenige eines Bischofssitzes. Der Faktor ›Königsnähe‹ spielte eine große Rolle, wie die herausragenden Beispiele Fulda oder St. Gallen demonstrieren, aber dieser Faktor allein sagt nur sehr bedingt etwas über die gesamte Rolle eines Klosters oder eines Stiftes in einer Region aus. Aber zu jeder Form von Herrschaft gehörte auch ein räumlicher Faktor; die »Verfügungsgewalt über Sachen und Rechte oder politische Befugnisse« 9 benötigte einen personalen und/ oder regionalen Rahmen: Heidenheim spielte eine wichtige Rolle bei der Fixierung der für lange Zeit nicht feststehenden Westgrenzen des Eichstätter Bistums. Aus dem Eigenbesitz der Familie des ersten Bischofs ging es in die Besitzmasse des Bistums über. Mit der Umwandlung vom Benediktinerkloster zum Kollegiatstift unter Bischof Gerhoh (787? -806? ) erhielt dieser die große Möglichkeit, ehemaligen Klosterbesitz an das Bistum zu überführen. 10 Um 790 wandelte er das Heidenheimer Doppelkloster in ein Säkularkanonikerstift um, Disziplinprobleme im Doppelkloster dienten als Vorwand für diesen bischöflichen Eingriff in die monastische Struktur. Mit der Aufhebung des Klosters und der Umwandlung in ein Kanonikerstift konnte er Heidenheim und seine Besitzungen enger an die Eichstätter Kirche binden und damit die Position des Bistums in diesem Raum stärken. 11 9 D IETMAR W ILLOWEIT , Herr, Herrschaft, in: LMA 4 (1989), Sp. 2176-2179, Zitat 2177. 10 F. H EIDINGSFELDER , Regesten (Anm. 6), Nr. 26. Ab 1155 bis zur Reformation wieder benediktinisch. Zu Heidenheim und dessen Stellung zu seinen Vorstehern Wunibald und Walburga vgl. S TEFAN P ETERSEN , Wann starb die Heilige Walburga, die letzte Äbtissin von Heidenheim? In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens 116 (2005), S. 7-18. 11 F. H EIDINGSFELDER , Regesten (Anm. 6), Nr. 26. <?page no="30"?> K LÖS TER U ND S TIF TE AL S G R ENZMARKIER U NGEN U ND Z ENTR EN 31 Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in dem weiter nordwestlich gelegenen, in königlichem Besitz sich befindlichen Herrieden (St. Vitus und Deokar) verfolgen, das durch einen fränkischen Adeligen (Cadold) nahezu zeitgleich mit der Umwandlung Heidenheims gegründet wurde. 12 Erst Bischof Erchanbald (882? - 912) habe es, so der Anonymus Haserensis im 11. Jahrhundert, »für den heiligen Willibald erworben, allerdings nicht im vollen Umfang. Arnulf, der damals König war, hat - durch Bitten und den Dienst des genannten Bischofs dazu veranlasst - diese Abtei, von der er zuvor die Königshöfe am Rhein, darunter auch Duisburg mit all seinem Zubehör, abgetrennt hatte, durch königliche Schenkung dem Eichstätter Bistum übertragen und durch eine mit goldenen Buchstaben geschriebene Urkunde fest gesichert. Nachdem dies so durchgeführt worden war, setzte der kluge Bischof nach der Entfernung der Mönche dort Kanoniker ein und errichtete aus einem geringen Teil der Erträge für sie eine Präbende, während er sich das übrige Klostergut zurückbehielt, um es der Bistumsvasallität zuzuteilen. Damals begann die Eichstätter Kirche erstmals damit, Vasallen um sich zu scharen, während sie vorher keine oder nur ganz wenige hatte.« 13 Somit wurden Heidenheim wie Herrieden für die räumliche Installation eines Bistums sowie für den Ausbau einer bischöflichen Vasallität von nicht zu unterschätzender Bedeutung und trugen zum Ausbau der bischöflichen Herrschaft erheblich bei. Beide geistlichen Institutionen haben einen zentralen Beitrag zur Sicherung der Diözesanwestgrenze geleistet. Dies ist ein Grund mehr, bei der vorliegenden Fragestellung den Blick nicht allein auf die Bischofsstädte zu werfen. Vergleichbares könnte auch für das frühmittelalterliche Bistum Würzburg in Anspruch genommen werden. Die Umschreibung der Diözese erfolgte unter dem karolingischen Herrscher Karlmann zunächst mit Hilfe von 25 Pfarrsprengeln, die vom Wormsgau im Westen bis zum Rangau im Osten, vom Grabfeldgau im Norden bis zum Neckargau im Süden reichten. Als Kloster gab es nur Karlburg. 14 Auffallend ist nun das Bemühen mehrerer Würzburger Bischöfe, die Westgrenze ihres Bistums (gegen Mainz) mit Klöstern abzusichern, während die Ostgrenze, vor der Gründung des Bistums Bamberg 1007, letztlich unbekannt bleibt. 15 Während im 12 F. H EIDINGSFELDER , Regesten (Anm. 6), Nr. 27. 13 S TEFAN W EINFURTER (Bearb.), Die Geschichte der Eichstätter Bischöfe des Anonymus Haserensis. Edition - Übersetzung - Kommentar (Eichstätter Studien NF 24), Regensburg 1987, S. 74f. 14 A LFRED W ENDEHORST (Bearb.), Das Bistum Würzburg 1. Die Bischofsreihe bis 1254 (Germania Sacra NF 1), Berlin 1962, S. 15. 15 Die Ostgrenze des Bistums Würzburg ist schwer zu bestimmen. Eventuell lag sie im Bereich des Fichtelgebirges und damit an der Grenze zu Böhmen (Diözese Prag, Grenze zu Regensburg? ). Dies muss aber Hypothese bleiben. Insgesamt spielte der östliche, wohl von einer slawischen Bevölkerung dominierte Diözesanraum eine geringe Rolle für die Ökonomie des Bistums und kannte auch lange Zeit keine Klöster und Stifte: H ELMUT <?page no="31"?> H EL MU T F LAC HENECKER 32 östlichen Bereich ein hoher Grad slawischer Bevölkerung zu vermuten ist und dort keine Nachrichten über geistliche Institutionen vorhanden sind, lagen im westlichen die wichtigsten Klöster. Dazu gehört zunächst die Gründung des Benediktinerklosters Neustadt am Main durch Bischof Megingoz (753-768? † 794? ). Neben den bisher in der Forschung favorisierten persönlichen Gründen könnte auch die durch den Spessart verlaufende Grenze zum Erzbistum Mainz eine nicht unerhebliche Rolle bei der Einrichtung gespielt haben. 16 Bischof Bernward (990-995) schließlich ließ sich von Otto III. ein Diplom ausstellen, das seiner Kirche die Herrschaft über mehrere Klöster sicherte. Von ihnen liegt die Mehrheit, nämlich Amorbach, Neustadt/ Main, Homburg/ Main, Schlüchtern und Murrhardt, an der Westgrenze. Wie bedeutsam dieses Privileg für den Bischof war, zeigt die Vorlage von Fälschungen, mit deren Hilfe die Rechtskonstruktion einer Rückgabe entfremdeter Güter vorgegaukelt wurde. 17 Somit genügte es im Frühmittelalter nicht, allein mit Pfarreien einen Diözesanbereich zu umschreiben, Klöster mit ihren häufig großen Besitzkomplexen konnten eine derartige Aufgabe effektiver übernehmen. Inwieweit lassen sich die für Franken gemachten Beobachtungen auch in Schwaben aufzeigen? (Abb. 2) Im Mittelpunkt sollen nun die Klöster Kempten, Ottobeuren und Füssen stehen. 18 Kempten und Ottobeuren, auf verschiedenen Seiten der Iller gelegen, gehörten zu zwei unterschiedlichen Diözesen. Kempten sollte die Konstanzer Ansprüche an seiner östlichen Grenze sichern. Dafür dürften schon die zwei letztlich missglückten Versuche der ebenfalls in der Diözese Konstanz liegenden Abtei St. Gallen sprechen, Mitte des 8. Jahrhunderts am Rande einer spätrömischen Siedlung eine kleine Niederlassung zu installieren. Die Behauptung, dies sei zur Christianisierung der dort wohnenden Bevölkerung geschehen, muss dem Anliegen der Bistümer nach Einfluss und Ausdehnung diözesaner Gewalt nicht entgegenstehen. Die 752 erfolgte Gründung geschah dann mit königlichkarolingischer Unterstützung. In den gleichen Zeitraum ist im übrigen St. Mang in Füssen zu datieren. Erneut ging eine Gründungsinitiative von St. Gallen aus, im Gegensatz zu Kempten allerdings wohl mit augsburgischer Unterstützung. F LACHENECKER , Der ›unbekannte‹ Osten des Bistums Würzburg um 1000. Anmerkungen zum slawischen Bevölkerungsanteil in Franken, in: ZBLG 80 (2017), S. 23-35. 16 A. W ENDEHORST , Würzburg 1 (Anm. 14), S. 28f. [mit Lit.]. 17 MGH DO III, Nr. 140, S. 550f.; A. W ENDEHORST , Würzburg 1 (Anm. 14), S. 72. 18 Statt einer Vielzahl von Literaturangaben sei generell auf die entsprechenden Artikel in der Germania Benedictina Bayern verwiesen, wo jeder Beitrag eine ausführliche Bibliographie enthält: W OLFGANG W ÜST , Füssen St. Mang, in: Germania Benedictina 2. Bayern, St. Ottilien 2014, S. 681-707; G ERHARD I MMLER , Kempten, in: Ebd., S. 961-985; U LRICH F AUST , Ottobeuren, in: Ebd., S. 1541-1609. <?page no="32"?> K LÖS TER U ND S TIF TE AL S G R ENZMARKIER U NGEN U ND Z ENTR EN 33 Abb. 2: Das Bistum Augsburg (Ausschnitt Karte Abb. 1). Die nahezu zeitgleiche Gründung Ottobeurens ist schwierig nachzuzeichnen, nicht nur aufgrund der Umschreibungen der Gründungsgeschichten im 12. und 13. Jahrhundert, gemeinhin - vielleicht allzu pejorativ - als ›Fälschungen‹ bezeichnet. Solche finden sich im übrigen auch in Kempten und Füssen. Die ersten Klosteranlagen sind in beiden Fällen vor dem 11. Jahrhundert nicht mehr genau zu beschreiben. Gemeinsam ist beiden neuen Klöstern das Bemühen, einen attraktiven Heiligenkult aufzubauen: Aufgrund des Fehlens lokaler Heiligenkulte warten beide mit römischen Märtyrern auf, Alexander und Felicitas in Ottobeuren, Gordian und Epimachus in Kempten. Der damit hergestellte Bezug zu Rom hatte wohl ein <?page no="33"?> H EL MU T F LAC HENECKER 34 höheres Ansehen als ein lokaler Heiliger wie im Heidenheimer Beispiel, dies kann aber nur vermutet werden. Damit entwickelten sich beide Klöster zu regionalen Mittelpunkten, aber es kann, wie im Falle Heidenheims, kein exakter Raum bestimmt werden. Etwas deutlicher werden die räumliche Umfänge bei der im späten 8. Jahrhundert einsetzenden Verehrung von St. Mang, die deutlich über die Augsburger Diözesangrenzen hinausging. Im Bistum Konstanz wurde in St. Gallen eine eigene Mangkirche als Verehrungszentrum aufgebaut. In diesem Fall konnte sich ein regional verwurzelter Heiliger durchsetzen, der ›Umweg‹ über Rom war also nicht in jedem Fall erforderlich. In Kempten wie in Ottobeuren und Füssen könnten damals abgelegene Gebiete mit Hilfe von Klöstern nicht nur missioniert, sondern auch kultiviert worden sein. Die marca Campidonensis bildete einen abgeschlossenen Gerichts- und Rodungsbezirk (Wildbann). Er wurde 853 aufgrund königlicher Intervention genau abgegrenzt. Die dortigen Pfarreien dürften dem Kloster inkorporiert worden sein; Kempten trat häufig als Eigenkirchenherr auf. Der Umfang der Mark blieb, und dies ist erstaunlich, bis zur Säkularisation weitgehend unverändert. Klöster als Immunitätsbereiche mit einer eigenständigen Abtswahl wurden in ottonischer Zeit bestätigt, auch wenn die Ottobeurer Urkunde unter starkem Fälschungsverdacht steht. 19 Die Ottobeurer Klostermark lässt sich in dieser Frühzeit nicht so genau erfassen, aber immerhin ist erschließbar, dass beide Marken an zumindest einem Punkt zusammenstießen: Zwischen 876 und 887 schlichtete der Augsburger Bischof einen Streit um ein Waldgebiet. Für Füssen werden die Besitzverhältnisse erst ab dem 12. Jahrhundert nachvollziehbar. Im Falle von Kempten lässt sich eine eigene schulische Einrichtung (Klosterschule, Schreibschule) feststellen; das entsprechende Kalendarium, zwischen 993 und 1000 entstanden, zeigt überdies liturgische Verbindungen zur Reichenau, zu St. Gallen und Fulda auf. Derartige geistige Verbindungen weisen auf Netzwerke, die über die einzelne Region hinweggingen, hin. Die Entwicklung Kemptens war durch einen starken königlichen Einfluss geprägt, der dazu führte, dass mehrmals benachbarte Bischöfe als Äbte agierten, unter ihnen interessanterweise auch der ›Nachbarbischof‹ Ulrich von Augsburg (923-972). Obwohl nicht in seiner Diözese liegend, übergab Ulrich an Kempten mehrere Besitzungen aus seinem familiären Eigengut. Nicht nur taktisch-herrschaftlich motivierte Überlegungen spielten bei diesem Bischof eine Rolle, sondern wohl auch religiöse. Interessanterweise lagen diese Schenkungen auf der östlichen Seite der Iller! 20 Bereits in karolingischer Zeit haben in der Region wohnende Adelssippen, dem Beispiel Karls des Großen und seiner Gemahlin Hildegard wie auch seines Sohnes Ludwigs des Frommen folgend, 19 H ERMANN H OFFMANN (Bearb.), Die Urkunden des Reichsstiftes Ottobeuren 764-1460 (Veröff. SFG 2a: Urkunden und Regesten 13), Augsburg 1991, Nr. 1-4, S. 1-4. 20 Leiterberg, Gde. Betzigau - Heimertingen - Thingau. <?page no="34"?> K LÖS TER U ND S TIF TE AL S G R ENZMARKIER U NGEN U ND Z ENTR EN 35 an Kempten Grundbesitz übertragen. Sie halfen damit, den Einfluss des Klosters in der unmittelbaren Umgebung zu stärken. Der schwierige Grenzverlauf zwischen den Bistümern Freising und Augsburg im Alpenvorland ist ebenfalls durch eine Reihe von Klöstern und Stiften markiert: die nur im Frühmittelalter fassbaren geistlichen Institutionen Polling, Staffelsee und Kochel standen auf Augsburger, Schlehdorf auf Freisinger Seite. Wessobrunn und Benediktbeuern markierten die augsburgische Diözesangewalt südlich von Ammer- und Starnberger See. Damit wird der heutige Regierungsbezirk Oberbayern berührt, monastisch-kirchlich war der Raum jedoch ursprünglich auf das Schwabenbistum Augsburg ausgerichtet. Die Umschreibung von Regionen differiert, wie sich hieran erneut zeigt, nach Fragestellung und Zeitrahmen. Allerdings gilt es diesen scheinbar eindeutigen Kartenbefund zu hinterfragen, denn gerade in Benediktbeuern ist der augsburgische Einfluss nicht von Beginn an nachzuweisen. Die Gründung durch eine der Huosi-Sippe nahestehende Adelsgruppe, die auch von Herzog Tassilo unterstützt wurde, hat eine kaum zu erhellende Frühgeschichte, die erst in der Mitte des 11. Jahrhunderts aufgezeichnet wurde. Der Augsburger Bischof sei zwar im Jahre 740 bei der Kirchenweihe dabei gewesen, jedoch verbindet der Gründungsbericht viele Personen, die chronologisch gar nicht zu vereinen sind. Erst circa zweihundert Jahre später, unter Bischof Ulrich, lässt sich ein stärkerer Augsburger Zugriff auf das Kloster belegen, nachdem das Kloster während des Ungarneinfalles schwer zerstört worden war. Allerdings dürfte Augsburg nicht beständig auf dieses ursprünglich auf den König ausgerichtete Reichskloster (bis 1330) im Herzogtum Bayern großen Einfluss gehabt haben, auch wenn es in seiner Diözese lag. Benediktbeuern erfüllte als kulturelles Zentrum - Verehrung einer Armreliquie des hl. Benedikt sowie ein bis in das 8. Jahrhundert zurückdatierbares Skriptorium - als auch als Ort für Rodung und Urbarmachung der Umgebung die zentralen Funktionen eines Klosters. Darüber hinaus war es das Haupt eines kleinen Klosterverbandes, dem in der Frühzeit Schlehdorf, Staffelsee, Sandau, Polling und Kochel unterstanden. 21 Das hier nur kurz zu streifende Wessobrunn wurde ebenfalls von Benediktbeuern aus besiedelt. Seine Hauptaufgabe lag, wie bei vielen der erwähnten Klöster, in der Rodung und Urbarmachung. Zugleich hatte es eine besondere strategische Lage an der bayerischen Lechgrenze. Der Augsburger Bischof spielte erst ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, als es um den Wiederaufbau Wessobrunns nach kriegerischen Zerstörungen ging, eine wesentlichere Rolle. 22 21 L EO W EBER , Benediktbeuern, in: Germania Benedictina 2, S. 293-322, hier 293-297, 305, 312. 22 I RMTRAUD F REIFRAU VON A NDRIAN -W ERBURG (Bearb.), Das Bistum Augsburg 2. Die Benediktinerabtei Wessobrunn (Germania Sacra NF 39), Berlin/ New York 2001, S. 80-87. <?page no="35"?> H EL MU T F LAC HENECKER 36 Die These, dass Klöster als Grenzmarkierungen für frühmittelalterliche Diözesangrenzen dienen konnten, lässt sich auch an der Nordgrenze Augsburgs nachzeichnen. (Abb. 3) Damit sicherten die Augsburger Bischöfe ihre Einflusssphäre gegenüber den Bistümern Würzburg und Eichstätt. Feuchtwangen, erstmals erwähnt 817 und 824, gewann, wie Kempten oder Benediktbeuern, in Königsnähe an Bedeutung. 23 Diese zeigte sich darin, dass es, wie Kempten, in der berühmten Klosterliste Kaiser Ludwigs des Frommen von 817 24 in der zweiten Kategorie auftauchte, also als ein Kloster, das dem König Abgaben, aber keinen Kriegsdienst leisten musste. Die bereits erwähnten Klostergründungslegenden aus dem 13. Jahrhundert machten dann Karl den Großen selbst zum Gründer. Wichtiger für die Weiterentwicklung Feuchtwangens war jedoch erneut Bischof Ulrich von Augsburg, der, laut seiner Vita (verfasst 983-993), das Kloster unter seinen Schutz nahm. 25 Den gleichen Schritt machte Ulrich auch mit Füssen und Staffelsee, die allesamt an den Grenzen des Augsburger Bistums lagen. Und auch die beiden ansonsten kaum belegten Klöster Wisentesteiga und Hewibahc lagen vermutlich an den Diözesangrenzen, falls die vorgeschlagenen Identifizierungen mit Wiesensteig an der Fils im Norden und Habach südlich des Starnberger Sees stimmen. In beiden Fällen wurden ehemalige Benediktinerklöster im 11. und frühen 12. Jahrhundert zu Chorherrenstiften umgewandelt. Ob hier wirklich jeweils eine Kontinuität zu den monastischen Frühformen vorliegt, kann nicht abschließend beantwortet werden. 26 23 M ARKUS N ASER , Feuchtwangen, in: Germania Benedictina 2, S. 617-622. 24 Constitutio de servitio monasteriorum, siehe RI I n. 651, in: Regesta Imperii Online, URI: http: / / www.regesta-imperii.de/ id/ 0817-07-10_1_0_1_1_0_1550_651 (aufgerufen am 15.4.2019). 25 MGH SS 4, S. 377-428, hier 393: […] ut ad alia loca vel ad monasteria pertinentia ad episcopatum legitime pergere debuisset, quae sunt nominata Vuhtinwanc, Staphense, Fauces, Wisentesteiga, Hewibahc, quae numquam in beneficium laicorum concessit, […]. 26 Schwierig ist die Identifizierung von Wisentesteiga, laut MGH liegt es zwischen Neckar und Donau, bzw. von Hewibahc, das am Alpenrand liegen soll. C HRISTOPH F RIEDRICH S TÄLIN , Wirtembergische Geschichte, Bd. 1, Stuttgart-Tübingen 1841, S. 590, identifiziert Wisentesteiga mit Wiesensteig, ein Ort, der allerdings immer zum Bistum Konstanz gehört habe. »In späterer Zeit« habe der Augsburger Bischof allerdings immer das Recht, dort einen Propst in der Kirche einzusetzen, gehabt. In Habach soll im 11. Jahrhundert ein Adeliger und Augsburger Domherr, Graf Norbert von Hohenwart, ein Chorherrenstift gegründet haben, das dem hl. Ulrich geweiht war. Stimmt die Gleichsetzung mit der Erwähnung in der Vita, dann hätte es irgendwelche Verbindungen zwischen dem Kloster und dem Stift gegeben haben können. N ORBERT B ACKMUND , Die Kollegiat- und Kanonissenstifte in Bayern, Windberg 1973, S.64-66. - Beide Orte finden sich auch in der Karte »Bistum und Hochstift Augsburg um 1500« (Rainald Becker), in: E. G ATZ (Hg.), Atlas (Anm. 2), S. 68. - Auch in Wiesensteig soll aus einem Kloster 1103 ein Chorherrenstift entstanden sein: K ARLFRIEDRICH G RUBER , Wiesensteig, Kollegiatstift, in: W OLFGANG Z IMMERMANN / N ICOLE P RIESCHING (Hg.), Württembergisches Klosterbuch, Ostfildern 2003, S. 512-514. Ohne Belege kann man ferner lesen, dass es ein Pfalzgraf Rudolf und dessen Sohn Erich <?page no="36"?> K LÖS TER U ND S TIF TE AL S G R ENZMARKIER U NGEN U ND Z ENTR EN 37 Abb. 3: Das Bistum Eichstätt (Ausschnitt Karte Abb. 1). gewesen seien, die im Jahre 861 ein Benediktinerkloster in Wiesensteig gegründet hätten: Heimatbuch des Landkreises Göppingen, Göppingen 1956, S. 140 (Karl Kirschmer), 170 (Erwin Kohler). <?page no="37"?> H EL MU T F LAC HENECKER 38 Interessant ist der sich allmählich herausformende Grenzbereich zwischen den drei Diözesen Würzburg, Eichstätt und Augsburg. Neben den bereits besprochenen Klöstern Heidenheim und Feuchtwangen käme vor allem Ellwangen in Betracht. Folgt man der Vita Hariolfi, so geschah die Gründung des Klosters in confinio Frantiae et Reciae, 27 genauer in einem Grenzwald, der im Besitz einer Adelssippe lag und nun, im Jahre 764, eine neue Funktion erhalten sollte: Statt eines reinen Jagdreviers sollte nun ein Kloster entstehen, das kultisch-kulturelle, aber auch politischadministrative und wirtschaftliche Funktionen - wie etwa Heidenheim - übernehmen sollte. Rodung und Missionierung dürften auch hier die wichtigsten Aufgaben für die unmittelbare Umgebung des Klosters gewesen sein. Die Lage am Übergang von Franken zu Rätien, das wohl hier den schwäbischen Raum umschreiben soll, wurde zum entscheidenden Kriterium für einen neuen klösterlichen Zentralort. Interessanterweise nennt die Vita des Gründers keinen Diözesanbischof, so dass davon ausgegangen werden könnte, dass es Mitte des 8. Jahrhunderts überhaupt unklar war, in welche Diözese dieser Raum eingegliedert werden sollte. Erst um 803 hat dann das Bistum Augsburg definitiv Gebiete nördlich der Donau seinem Sprengel zugesprochen bekommen. 28 Ellwangen wäre dann ein zunächst eigener kirchlicher Organisationsmittelpunkt gewesen, der, ein halbes Jahrhundert später, zu einer Grenzmarkierung des Augsburger Bistums wurde. Die genaueren Umstände für diesen Transfer sind kaum bekannt, einige kleinere Hinweise auf Franken - und damit auf Würzburg und Eichstätt - geben die raren schriftlichen Quellen dennoch: Zum einen war besagte Vita dem Würzburger Bischof Gozbald (842- 855) gewidmet, der vom Verfasser Ermenrich als dessen didasculus, als dessen Lehrer, bezeichnet wurde. 29 Ferner erwähnt die Vita einen Adeligen Cadolohus, mit dem Hariolf († um 815) vor seiner Konversion gemeinsam auf der Jagd war - und dabei den späteren Ort für sein Familienkloster fand. Jener Cadolohus stammte, was in der Abschrift der Vita aus dem 12. Jahrhundert getilgt worden ist, aus Franken (radiert: nationis France) und dürfte ein Verwandter des Gründers des Herriedener Klosters, Cadoldus, gewesen sein. 30 Zum 27 Verfasst von Ermenrich von Ellwangen († 874), der auch die Vita des hl. Sola geschrieben hat: Editionen der ältesten Handschrift aus dem 12. Jh.: MGH SS 10, S. 11-15; und V IKTOR B URR , Vita Hariolfi, in: Ellwangen 764-1964, Ellwangen, 1964, S. 9-49, hier 14- 31 (Edition), 24 (Zitat). - Zu seiner Person siehe auch V IKTOR B URR , Ermenrich von Ellwangen, in: Ellwangener Jahrbuch 16 (1956), S. 19-31. Ferner H ANS P FEIFER , Die Schutzverleihung Kaiser Ludwigs des Frommen - 8. April 814, in: Archiv Nachrichten 5, Dezember 1992, S. 1-8. 28 V. B URR , Vita Harolfi (Anm. 27), S. 41. 29 V. B URR , Vita Harolfi (Anm. 27), S. 14. 30 V. B URR , Vita Harolfi (Anm. 27), S. 48. - Im Jahre 887 tauschte König Arnolf das Kloster Ellwangen ein und erhielt dafür vom Mainzer Erzbischof Herrieden: S TEFAN P ETER - SEN , Herrieden, in: Germania Benedictina 2, S. 795-798. <?page no="38"?> K LÖS TER U ND S TIF TE AL S G R ENZMARKIER U NGEN U ND Z ENTR EN 39 anderen schenkte Kaiser Ludwig der Fromme im August 823 Ellwangen das nur hier erwähnte Kloster Gunzenhausen. 31 Auch nach 803 war die Bistumsgrenze zwischen Augsburg und Eichstätt also offenbar noch nicht fest. In beiden Fällen dürfte ein zumindest versuchtes Ausgreifen Ellwangens in den südwestlichen fränkischen Raum zu fassen sein. Zur Steigerung der Attraktivität Ellwangens griff man, wie im Falle Ottobeurens und Kemptens, auf römische Märtyrer zurück, auf die Heiligen Sulpitius und Servilianus, die auf Vermittlung eines fränkischen Bischofs und Verwandten des Gründers, Erlolf von Langres, nach Ellwangen kamen. Diese Verehrung konnte sich auf längere Dauer allerdings nicht durchsetzen, ab dem Ende des 10. Jahrhunderts lief ihnen die Vitusverehrung den Rang ab. 32 Damit würde sich ein ähnlicher Befund für Augsburg einstellen, wie er auch für die Westgrenzen Würzburgs und Eichstätts wahrscheinlich gemacht werden konnte. Damit nicht genug: Caspar Ehlers konnte in seiner Arbeit zu Sachsen vergleichbare Ergebnisse aufzeigen, wie also mit Hilfe der kirchlichen Raumerfassung - mit Diözesen und Pfarreien, Klöstern und Stiften - eine Region gegliedert und somit geordnet wurde. 33 Eine der plausiblen zentralen Thesen ist ein zeitlicher Vorlauf der kirchlichen Raumerfassung vor der weltlichen mit Hilfe von Grafschaften, deren Grad der Flächendeckung bis heute nicht befriedigend beantwortet werden kann. Leitlinie der vorgestellten Raumkonzeption für Sachsen ist dabei der Nordrand der Mittelgebirge mit dem alten Hellweg als ›Leitstraße‹. Je weiter nördlich man sich begibt, desto dünner sind die geistlichen Institutionen gesät. Im Süden ist die Mehrzahl der Diözesansitze zu finden, ebenso die meisten Klöster und Stifte. Signifikant für Sachsen ist der einmalig hohe Anteil von geistlichen Frauengemeinschaften, die es sonst nirgends - auch nicht in Bayern - gegeben hat. Im Vergleich mit den Bistums- und Hochstiftsgrenzen der sächsischen Bistümer um 1500 zeigt sich, dass es wiederum die geistlichen Institutionen waren, die eben nicht nur in direkter Nachbarschaft zum Bischofssitz angesiedelt waren, sondern auch weiter davon entfernt an den sich entwickelnden kirchlichen Grenzen. Die Beispiele der sächsischen Diözesen sind hierfür eine wichtige Vergleichsmöglichkeit zu den Entwicklungen in Franken und Schwaben. Sie markieren die zeitlich gestreckte Entwicklung von Grenzräumen zu festen Grenzlinien. Somit zeigen sich auch im Süden des karolingischen wie ottonischen Reiches ähnliche Entwicklungslinien der frühmittelalterlichen Raumerfassung. 31 Die Urkunde wurde ausgestellt am 21. August 823: 1200 Jahre Ellwangen. Ausstellung des Württembergischen Landesmuseums Stuttgart, Ellwangen 1964, S. 62. - S TEFAN P ETER - SEN , Gunzenhausen, in: Germania Benedictina 2, S. 751f. 32 1200 Jahre Ellwangen (Anm. 31), S. 68: Zentralort der Veitsverehrung in deutschen Landen war Corvey. 33 C ASPAR E HLERS , Die Integration Sachsens in das fränkische Reich (Veröff. des Max- Planck-Instituts für Geschichte 231), Göttingen 2007. <?page no="39"?> H EL MU T F LAC HENECKER 40 Zum Abschluss sollen noch die Entwicklungen im Hoch- und Spätmittelalter bzw. in die Frühe Neuzeit angesprochen werden, denn in diesen Zeitstufen zeigen sich markante Unterschiede zwischen der schwäbischen Kloster- und Stiftslandschaft und der fränkischen: Es ist die höchst unterschiedliche Präsenz von Reichsklöstern. Während diese im Schwäbischen vorhanden waren, fehlten sie in Franken völlig. Eine im Detail andere Territorialentwicklung dürfte dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben, die aber hier nicht mehr näher analysiert werden kann. Kempten wie Ottobeuren behielten ihren Charakter als Reichsklöster. Kitzingen und Seligenstadt mussten die Oberhoheit der Bischöfe von Würzburg und Mainz anerkennen, wiederum anders sah dies bei Ellwangen im Norden bzw. Kempten und Ottobeuren im Süden aus. Weitere monastische Beispiele ließen sich hinzufügen. Im ›Historischen Atlas von Bayerisch-Schwaben‹ befindet sich eine Karte der ›Territorien Schwabens 1802‹: Darin sind die Territorien der Reichsstifte Irsee, Ottobeuren, Kempten und einer Reihe anderer Benediktinerklöster eingezeichnet, aber auch zahlreiche reichsunmittelbare Zisterzienserklöster, Prämonstratenserstifte, die Augustinerchorherren von Wettenhausen sowie die Buxheimer Kartäuser bzw. das gefürstete Damenstift U. L. Frau zu Lindau. 34 Eine gewisse Konzentration dieser Reichsklöster bzw. -stifte im Raum zwischen Donau und Alpen ist leicht erkennbar. Daraus kann allerdings nicht auf die numerische Klöster- und Stiftsdichte in Franken bzw. Schwaben insgesamt geschlossen werden, denn diese ist annährend vergleichbar hoch. Schwaben wie Franken - wie auch immer man die Grenzen ziehen mag - beeindrucken durch eine vielfältige Stifts- und Klostervielfalt. Die Anzahl frühneuzeitlicher Wallfahrtswege, in der Landschaft auch visualisiert mit Steinkreuzen, Wegmarterln, Kalvarienbergen und Kreuzwegen, ist groß. Damit werden katholische Territorien auch sichtbar von protestantischen abgegrenzt. 35 Aber dies würde zu einem weiteren, hier nicht mehr weiter thematisierbaren Zugang zu christlichen Kulturlandschaften führen. 34 Historischer Atlas von Bayerisch-Schwaben VI,1: Die Territorien Schwabens 1802, Augsburg 1982. 35 H ELMUT F LACHENECKER , The Christian Landscape in Southern Germany in the Aftermath of the Reformation. Religious Separation as a Source of Regional Identity, in: K EN - NETH J. B INDAS / F ABRIZIO R ICCIARDELLI (Eds.), Regional History as Cultural Identity (Kent State University European Studies 3), Roma 2017, S. 151-165. <?page no="40"?> 41 F ABIAN S CHULZE Der Fränkische und der Schwäbische Reichskreis in der Frühen Neuzeit. Zwei supraterritoriale Organisationen mit großen Ähnlichkeiten Wenn in diesem Beitrag von Schwaben und Franken in der Frühen Neuzeit die Rede ist, so sind damit nicht in erster Linie zwei geographische Regionen gemeint, sondern zwei supraterritoriale politische Gebilde, nämlich der Schwäbische und der Fränkische Reichskreis. Wie der Begriff ›supraterritorial‹ bereits andeutet, stehen somit keine einzelnen frühneuzeitlichen Territorien oder Stände Frankens und Schwabens im Mittelpunkt, sondern zwei Reichskreisorganisationen, die Teil einer institutionellen Ebene des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation waren und zwischen 1500 und 1806 die politischen Verhältnisse gerade im süddeutschen Raum wesentlich mitgestalteten. Zu Beginn werden einige kurze Ausführungen zum Ursprung, zur verfassungsrechtlichen Einordnung und zum Aufgabenspektrum der Reichskreise gegeben, gefolgt von einem Überblick über deren Einrichtungen und Ämter und deren Ausprägung in Franken und Schwaben. Im Anschluss gilt es, die Aktivitäten der beiden Reichskreise am Beispiel der Heeresfinanzierung und der Geldpolitik im Dreißigjährigen Krieg näher zu erläutern und zugleich aufzuzeigen, welche erhebliche politische Relevanz beide Reichskreisorganisationen regional wie auch bisweilen reichsweit selbst in schweren Krisenzeiten noch besaßen. Von besonderem Interesse wird dabei sein, wie sehr sich beide Reichskreise ähnelten und wo sie sich gegebenenfalls unterschieden. 1. Ursprünge und verfassungsrechtliche Einordnung des Schwäbischen und Fränkischen Reichskreises Obgleich die Kreiseinteilung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation für über 300 Jahre Bestand hatte, spielten die Reichskreise in der deutschen Erinnerungskultur wie auch der historischen Forschung erstaunlich lange kaum eine Rolle. Selbst noch vor kaum zwanzig Jahren konstatierte der Augsburger Historiker Johannes Burkhardt der universitären Geschichtsforschung eine gewisse »Kreisvergessenheit«. 1 Auch wenn zumindest der heutigen fränkischen und schwäbischen 1 Vgl. die einleitenden Bemerkungen Burkhardts in: W OLFGANG W ÜST (Hg.), Reichskreis und Territorium. Die Herrschaft über die Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, <?page no="41"?> F A BIAN S C HULZE 42 Landesgeschichte ein solcher Vorwurf nicht mehr gemacht werden kann, so stellt sich doch die Frage, warum die frühneuzeitlichen Reichskreise erst so spät das Interesse der modernen Geschichtswissenschaft und der geschichtsinteressierten Öffentlichkeit erlangen konnten. 2 Einer der Gründe dafür ist zweifellos in der verfassungsrechtlichen Sonderstellung der Reichskreise zu suchen, die sich nicht ohne weiteres mit modernen Staatsvorstellungen in Einklang bringen lassen. Schon im 18. Jahrhundert fiel es selbst dem historisch wie juristisch äußerst bewanderten Johann Jacob Moser schwer, eine adäquate Definition zu finden, was ein [Reichs]Crays seye? Er begnügte sich schließlich mit einer äußerst allgemein gehaltenen Aussage: Ein Crays oder Reichs = Crays heisset in Teutschland eine gewisse Anzahl unter einer eigenen Verfassung besonders miteinander verbundener, und meistens neben einander ligender, Stände des Reichs, oder auch der aus diser Stände Landen und Gebieten bestehende Bezirck. 3 Aus Sicht des 18. Jahrhunderts ist Mosers Definition durchaus nachvollziehbar und trifft auf die beiden im Fokus dieses Beitrags stehenden Reichskreise, Franken und Schwaben, in besonderer Weise zu: Erstens vereinten sie jeweils Territorien, die großteils unmittelbar aneinander grenzten oder zumindest durch keine größeren Entfernungen oder naturräumlichen Hindernisse voneinander getrennt waren. 4 Dies war nicht selbstverständlich: So umfasste beispielsweise der Kurrheinische Kreis fast ausschließlich die Gebiete der Kurfürsten von Mainz, Köln, Trier und der Pfalz, die sich ohne territorialen Zusammenhang von der Kurpfalz über das kurmainzische Eichsfeld bis an den kurkölnischen Niederrhein verteilten. Der Obersächsische Reichskreis wiederum erstreckte sich von thüringischen Territorien im Süden über Kursachsen und Kurbrandenburg bis nach Hinterpommern im Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft: Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 7), Stuttgart 2000, S. 1-23, hier insb. 3-7. 2 In jüngster Zeit hat sich vor allem Wolfgang Wüst mit zahlreichen Artikeln in lokalen Zeitungen Frankens um die öffentliche Wahrnehmung der fränkischen Reichskreisforschung verdient gemacht. In einer auf das Alte Reich insgesamt ausgeweiteten Perspektive vgl. auch H ORST C ARL , »Schwerfälligen Andenkens« oder »das Recht, interessant zu sein«? Das Alte Reich in der neueren Forschungsliteratur, in: ZHF 37 (2010), S. 73-97. 3 Vgl. für beide Zitate J OHANN J. M OSER , Von der Teutschen Crays-Verfassung. Nach denen Reichs-Gesezen und dem Reichs-Herkommen, wie auch aus den Teutschen Staats- Rechts-Lehrern, und eigener Erfahrung (Neues Teutsches Staatsrecht, Teil 10), Frankfurt- Leipzig 1773, S. 3. 4 Der Fränkische und der Schwäbische Reichskreis sind auf zahlreichen zeitgenössischen kartographischen Darstellungen vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert dargestellt. Vgl. hierzu W OLFGANG E. J. W EBER , »Discribere sine lacrumis vix liceat«. Die Reichskreise in der Reichspublizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, in: W. W ÜST (Hg.), Reichskreis und Territorium (Anm. 1), S. 39-70. <?page no="42"?> D ER F R ÄNKIS C HE U ND DER S C H WÄBIS C HE R EIC HS KR EIS IN DER F RÜHEN N EU ZEIT 43 Norden und umschloss somit ein in geographischer Hinsicht schwerlich noch als einzelne ›Region‹ zu beschreibendes riesiges Gebiet. 5 Franken und Schwaben umschrieben hingegen relativ geschlossene Räume, die auch schon lange vor der Einteilung des Reiches in Reichskreise als geographische, zeitweise auch politische Gebilde existiert hatten. Sowohl Schwaben als auch Franken bildeten schon zur Zeit der Ottonen Stammesherzogtümer, und nach der Auflösung dieser Herzogtümer im Laufe des Hochbzw. Spätmittelalters fanden die Begriffe ›Franken‹ und ›Schwaben‹ in Herrschaftstiteln und als geographische Bezeichnungen fortdauernde Verwendung. 6 In Schwaben trug nicht zuletzt der von Ulm angeführte Schwäbische Städtebund, später der von Kaiser Friedrich III. initiierte und bis 1534 bestehende ›Schwäbische Bund‹ zu einer Kontinuität der politisch-geographischen Begrifflichkeit ›Schwaben‹ bei. 7 An diese Traditionslinien knüpften dann jene Reichstage zu Beginn des 16. Jahrhunderts an, auf denen die Kreiseinteilung des Reiches festgelegt wurde. In diesen Beschlüssen war wie selbstverständlich etwa von einem Landt zu Schwaben die Rede als es festzulegen galt, welche Stände des Reiches künftig Kreisstände im Schwäbischen Reichskreis sein sollten. 8 5 Vgl. W INFRIED D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (1383-1806). Geschichte und Aktenedition, Stuttgart 1998, S. 534, 557; zum Obersächsischen Reichsreis vgl. allgemein T HOMAS N ICKLAS , Macht oder Recht. Frühneuzeitliche Politik im Obersächsischen Reichskreis, Stuttgart 2002. 6 Vgl. J OHANNES M ERZ , Das Herzogtum Franken. Wunschvorstellungen und Konkretionen, in: D ERS ./ R OBERT S CHUH (Hg.), Franken im Mittelalter. Francia Orientalis, Fraconia, Land zu Franken: Raum und Geschichte (Hefte zur Bayerischen Landesgeschichte 3), München 2004, S. 43-58; W. D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 81, 142. Vgl. grundsätzlich auch W ERNER K. B LESSING / D IETER J. W EISS (Hg.), Franken. Vorstellung und Wirklichkeit in der Geschichte (Franconia 1), Neustadt a. d. Aisch 2003; J ÜRGEN P ETERSOHN , Franken im Mittelalter. Identität und Profil im Spiegel von Bewußtsein und Vorstellung, Ostfildern 2008. 7 H ORST C ARL , Der Schwäbische Bund 1488-1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation, Leinfelden-Echterdingen 2000; A DOLF L AUFS , Der Schwäbische Kreis. Studien über Einungswesen und Reichsverfassung im deutschen Südwesten zu Beginn der Neuzeit (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 16), Aalen 1971. 8 Der dritte Kreys begreift die Bißthumb, Fürstenthum, Landt und Gebiet der Bischoffen von Chur, Costentz, Augspurg, des Hertzogen von Wirtenberg, des Marggrafen von Baden, die Geselschaft von St. Georgenschild, die Ritterschaft in Hegaw, auch alle und jede Prelaten Grafen, Herren und Reichsstätt im Landt zu Schwaben. Zitat gemäß der Regimentsordnung Maximilians I. von 1500, ediert bei K ARL Z EUMER (Hg.), Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, Tübingen 1913, S. 297-307, hier 299. Entgegen diesem Beschluss konnte die Reichsritterschaft allerdings nicht dauerhaft in die Reichskreisstrukturen integriert werden. Stattdessen gründeten die Reichsritter in Schwaben und Franken <?page no="43"?> F A BIAN S C HULZE 44 Auch das zweite von Moser beschriebene Merkmal eines Reichskreises, die besondere Verbindung der Kreisstände untereinander bzw. gar die Existenz einer eigenen Verfassung, 9 ist in Franken und Schwaben nachweisbar. Hier erreichten die Kreisorganisationen jeweils einen sehr hohen Grad institutioneller Verfestigung, der sie zumindest zu Mosers Zeiten von anderen Reichskreisen deutlich abhob. Es muss allerdings betont werden, dass sich weder die fränkischen noch die schwäbischen Stände ihre Reichskreise alleine durch bündische oder genossenschaftliche Selbstorganisation geschaffen hatten - in diesem Punkt ist Mosers Definition missverständlich. Vielmehr gründeten beide Reichskreisorganisationen auf einem für das gesamte Reich bzw. alle Reichskreise gleichermaßen gültigen verfassungsrechtlichen Fundament, das im wesentlichen im Laufe des 16. Jahrhunderts gelegt wurde und das Produkt eines langen, keineswegs zielgerichteten politischen Aushandlungsprozesses zwischen Kaiser und Reichsständen sowie reichskreisinternen Verhandlungen war. Die Kreisverfassung des Reiches hatte ihren Ursprung in jenen reichspolitischen Reformbemühungen um 1500, die in der historischen Forschung oftmals als »Reichsreform« bezeichnet werden. 10 Die Initiative ging dabei in erster Linie vom Römischen König und späteren Kaiser Maximilian I. aus, der sich mittels einer Einteilung des Reiches in mehrere Kreise bzw. Provinzen eine bessere militärische und finanzielle Instrumentalisierbarkeit des Reiches zu seinen Zwecken erhoffte. 11 (Abb. 1) eine eigene auf Kantonen bzw. Ritterkreisen basierende Organisation auf; vgl. A. L AUFS , Der Schwäbische Kreis (Anm. 7), S. 432; zur fränkischen Reichsritterschaft vgl. ferner den Beitrag von Andreas Flurschütz da Cruz in diesem Band. 9 ›Verfassung‹ ist hier nicht im modernen Sinne zu verstehen. Wohl aber gemeint ist die Existenz grundlegender, mittels Kreisabschieden kodifizierter kreisrechtlicher Regelungen sowie die Fähigkeit, sich militärisch ›in Verfassung zu stellen‹, d. h. eigene Truppen zu unterhalten. 10 Vgl. allgemein H EINZ A NGERMEIER , Die Reichsreform 1410-1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984; W. D OTZ - AUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 51f.; H EINZ M OHNHAUPT , Die verfassungsrechtliche Einordnung der Reichskreise in die Reichsorganisation, in: K ARL O TMAR VON A RETIN (Hg.), Der Kurfürst von Mainz und die Kreisassoziationen 1648-1746. Zur verfassungsmäßigen Stellung der Reichskreise nach dem Westfälischen Frieden (Veröff. des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 2), Wiesbaden 1975, S. 1-30. 11 Vgl. P ETER C LAUS H ARTMANN , Rolle, Funktion und Bedeutung der Reichskreise im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, in: W. W ÜST (Hg.), Reichskreis und Territorium (Anm. 1), S. 27-38, hier 30; W. D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 30f., 33. <?page no="44"?> D ER F R ÄNKIS C HE U ND DER S C H WÄBIS C HE R EIC HS KR EIS IN DER F RÜHEN N EU ZEIT 45 Abb. 1: Kaiser Maximilian I. bei der Einteilung der Reichskreise; Titelbild zu J OHANN S AMUEL T ROMSDORFF , Accurate neue und alte Geographie von ganz Teutschland, Frankfurt am Main-Leipzig 1711. <?page no="45"?> F A BIAN S C HULZE 46 Auf sein Drängen beschloss ein Augsburger Reichstag im Jahr 1500 die Einteilung des Reiches in zunächst sechs Reichskreise, von denen allerdings die kurfürstlichen und die habsburgischen Territorien vorerst ausgeschlossen wurden. Letztere wurden erst 1512 durch die Gründung von vier weiteren Kreisen ebenfalls in die Kreisstruktur einbezogen. 12 Dabei kam dem Fränkischen Reichskreis unter den sechs schon im Jahr 1500 gegründeten Kreisen die Ehre zu, auch unter dem Namen Erster Kreis zu firmieren, während Schwaben auf dem dritten Rang folgte. 13 Nicht in die Kreisorganisation integriert wurden jene Gebiete, die zu diesem Zeitpunkt nur in einer sehr losen Verbindung zum Reich standen, wie etwa Böhmen, die Eidgenossenschaft und Reichsitalien. Daran änderte sich auch in späteren Jahrhunderten nichts mehr, obwohl immer wieder Pläne aufkamen, nach dem Anfall Böhmens an das Haus Habsburg auch dieses Königreich über einen eigenen Reichskreis enger ans Reich zu binden. 14 Allerdings dienten sämtliche Reichskreise aufgrund anhaltender Befürchtungen der Reichsstände vor einer Steigerung des kaiserlichen Einflusses im Reich zu Beginn des 16. Jahrhunderts lediglich als Wahlbezirke für reichsständische Vertreter am Reichsregiment und zur Nominierung von Reichskammergerichtsassessoren. 15 Dies blieb aber nicht lange der Fall, da man sowohl auf kaiserlicher wie auch auf kurfürstlicher und reichsständischer Seite bald erkannte, dass eine gewisse institutionelle Binnengliederung des Reiches zur Bewältigung diverser für Kaiser und Reichsstände gleichermaßen relevanter Herausforderungen nützlich war. So bekamen die Reichskreise über verschiedene Reichstagsabschiede im Laufe des 16. Jahrhunderts eine ganze Reihe Aufgaben im primär exekutiven Bereich übertragen. Dazu gehörte schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt die Aufstellung von Reichsheeren gegen die Osmanen. Den Beschluss zur Aufstellung der Truppen fällte zwar vorerst stets ein Reichstag, den einzelnen Reichskreisen wurde dann aber die Aufgabe übertragen, auf Kreistagen, die in den einzelnen Reichskreisen 12 Vgl. W. D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 51f; P ETER C LAUS H ART - MANN , Die Reichskreise im Rahmen der Verfassung des Alten Reiches - Entstehung, Funktionen und Leistungen, in: W OLFGANG W ÜST / M ICHAEL M ÜLLER (Hg.), Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa. Horizonte und Grenzen im »spatial turn« (Mainzer Studien zur neueren Geschichte 29), Frankfurt am Main-New York 2011, S. 61-72, hier 65. 13 Der erste Kreiß begreift die hernach beschriebene Fürsten, Fürstenthumb, Land und Gebiet, nemlichen den Bischoffen von Bamberg, Wirtzburg, Eystett, den Marggrafen von Brandenburg als Burggrafen zu Nürnberg, auch die Grafen, Frey- und Reichstätt, umb oder bey ihnen gesessen und gelegen. Zitat nach K. Z EUMER (Hg.), Quellensammlung (Anm. 8), S. 299. Vgl. hierzu auch R UDOLF E NDRES , Vom Augsburger Religionsfrieden bis zum Dreißigjährigen Krieg, in: A NDREAS K RAUS (Hg.), HBG III/ 1: Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, 3. Aufl. München 1997, S. 473-495, hier 475. 14 Vgl. W. D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 36. 15 Vgl. P. C. H ARTMANN , Die Reichskreise im Rahmen der Verfassung (Anm. 12), hier S. 65. <?page no="46"?> D ER F R ÄNKIS C HE U ND DER S C H WÄBIS C HE R EIC HS KR EIS IN DER F RÜHEN N EU ZEIT 47 einberufen wurden, die organisatorischen Details zwischen den in jedem Reichskreis angesiedelten Ständen auszuverhandeln und die für den Türkenkrieg bestimmten Steuerleistungen einzusammeln. 16 Weitere wichtige Kompetenzen erhielten die Reichskreise schließlich noch dadurch, dass ihnen die Publikation und Vollstreckung neuer Reichsgesetze sowie die Exekution von Reichskammergerichtsurteilen aufgetragen wurden. Den wohl wichtigsten Entwicklungsschritt vollzogen sie aber ab 1555, als ihnen mit der Reichsexekutionsordnung auch die Wahrung des Landfriedens endgültig übertragen wurde. 17 Ab 1559 kam dann noch die Aufsicht über das Münzwesen innerhalb der einzelnen Reichskreise hinzu. Letztlich vollzog sich die Ausdifferenzierung der Kreiskompetenzen über rund 70 Jahre von 1500 bis 1571, als die exekutiven Befugnisse der Kreise eine vorerst letzte reichsrechtliche Novellierung erfuhren. 18 Im 17. und 18. Jahrhundert gab es zumindest von Seiten des Reiches keine grundlegenden Veränderungen der Kreisverfassung. 19 Inwieweit die einzelnen Reichskreise kreisinterne Regelwerke schufen, die über diese grundlegenden reichsrechtlichen Vorgaben hinausgingen, blieb letztlich den Kreisständen der einzelnen Kreise selbst überlassen. Manche Reichskreise gingen dabei weiter als andere. Als besonders aktiv in der Ausarbeitung eigener, nur innerhalb eines Reichskreises gültiger Kreisgesetze und Institutionen galten schon im 16. Jahrhundert die Reichskreise Franken und Schwaben. Letzterer arbeitete sogar eine eigene ›Kreisverfassung‹ aus, die 1563 von einem schwäbischen Kreistag verabschiedet wurde und alle bis dahin auf Reichs- und Kreistagen erlassenen Regelungen bezüglich der Rechte und Pflichten des Reichskreises und seiner Amtsträger 16 F ABIAN S CHULZE , Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg. Kriegsfinanzierung und Bündnispolitik im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation (bibliothek altes Reich 23), Berlin-Boston 2018, S. 49-54; ferner D ERS ., Reziprokes Agenda Setting? Kooperationsformen zwischen Kreistagen und Immerwährendem Reichstag auf den Gebieten des Münzwesens und der »securitas publica«, in: H ARRIET R UDOLPH / A STRID VON S CHLACHTA / C HRISTIAN K ÖNIG (Hg.), Reichsstadt - Reich - Europa. Neue Perspektiven auf den Immerwährenden Reichstag zu Regensburg (1663-1806), Regensburg 2015, S. 153-177. 17 Vgl. F. S CHULZE , Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg (Anm. 16), S. 26f.; vgl. ferner J OHANNES M ÜLLER , Die Entstehung der Reichsexekutionsordnung vom Jahre 1555, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 40 (1925), S. 234-271. 18 Vgl. M AXIMILIAN L ANZINNER , Friedenssicherung und politische Einheit des Reiches unter Kaiser Maximilian II. (1564-1576) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 45), Göttingen 1993, hier insb. S. 233-237, 343-350, 426-429; D ERS ., Friedenssicherung und Zentralisierung der Reichsgewalt. Ein Reformversuch auf dem Reichstag von Speyer 1570, in: ZHF 12 (1985), S. 287-310. 19 Vgl. F. S CHULZE , Reziprokes Agenda Setting? (Anm. 16), S. 156. <?page no="47"?> F A BIAN S C HULZE 48 gegenüber dem Reich und den einzelnen schwäbischen Kreisständen festhielt. 20 Der Fränkische Reichskreis demonstrierte seine Funktionstüchtigkeit und institutionelle Fortentwicklung unter anderem durch den Erlass einer ›Kreispoliceyordnung‹ und etablierte mit den beiden Nachbarkreisen Bayern und Schwaben eine enge und kontinuierliche Kooperation im Münzwesen mit gemeinsamen Münzprobationstagen. 21 Damit entwickelten sich die Reichskreise, obwohl von Reichs wegen mit den grundsätzlich gleichen verfassungsrechtlichen Kompetenzen ausgestattet, doch auf sehr unterschiedliche Weise fort. In der Forschung wurde dieser Prozess bisweilen als eine Entwicklung von rudimentären ›Reichsprovinzen‹ hin zu ›Selbstverwaltungskörperschaften‹ umschrieben. 22 (Abb. 2) 2. Institutionen und Ämter im Fränkischen und Schwäbischen Reichskreis Zur Wahrnehmung dieser diversen reichs- und kreisverfassungsrechtlichen Vorgaben bzw. Aufgaben mussten auf Ebene der einzelnen Reichskreise zahlreiche Institutionalisierungsschritte vorgenommen werden, wozu auch die dauerhafte Besetzung administrativer und militärischer Ämter gehörte. 20 Die schwäbische Kreisverfassung von 1563 ist ediert bei F RIEDRICH C ARL VON M OSER , Sammlung des Heil. Römischen Reichs sämtlicher Crays-Abschiede und anderer Schlüsse. Nebst vilen darzu gehörigen Beylagen, auch mit Summarien, Marginalien und Anmerckungen versehen und grossen Theils erstmals an das Licht gestellt, 3 Bde., Leipzig 1747-1748, hier Bd. 1, S. 173-299. Zu ihrem Entstehungsprozess und ihrem Inhalt vgl. A. L AUFS , Der Schwäbische Kreis (Anm. 7), S. 325-348. 21 Die fränkische Kreispoliceyordnung von 1572 ist ediert bei W OLFGANG W ÜST (Hg.), Die »gute« Policey im Reichskreis, Bd. II: Der Fränkische Reichskreis, Berlin 2003, S. 827- 838. Ein Beispiel für Policeygesetzgebung des Schwäbischen Kreises im 18. Jahrhundert im Rahmen der Bettler- und Vagantenverfolgung ist ediert bei D ERS . (Hg.), Die »gute« Policey im Reichskreis, Bd. I: Der Schwäbische Reichskreis, Berlin 2001, S. 563-569. Zu den Münzprobationstagen vgl. die weiteren Ausführungen in diesem Beitrag unter dem Abschnitt ›Institutionen und Ämter‹. 22 Vgl. M AX P LASSMANN , Zwischen Reichsprovinz und Ständebund. Der Schwäbische Reichskreis als Handlungsrahmen mindermächtiger Stände, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 151 (2003), S. 199-235; P ETER -C HRISTOPH S TORM , Der Schwäbische Kreis als Feldherr. Untersuchungen zur Wehrverfassung des Schwäbischen Reichskreises in der Zeit von 1648-1732 (Schriften zur Verfassungsgeschichte 21), Berlin 1974, S. 64-70; J OHANNES B URKHARDT , Wer hat Angst vor den Reichskreisen? Problemaufriss und Lösungsvorschlag, in: W. W ÜST / M. M ÜLLER (Hg.), Reichskreise und Regionen (Anm. 12), S. 39-60, hier 59; zuletzt F. S CHULZE , Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg (Anm. 16), S. 17f. <?page no="48"?> D ER F R ÄNKIS C HE U ND DER S C H WÄBIS C HE R EIC HS KR EIS IN DER F RÜHEN N EU ZEIT 49 Abb. 2: Der Schwäbische, Bayerische und Fränkische Reichskreis (Ausschnitt), kolorierter Kupferstich von Johann Baptist Homann, ca. 1720. 2.1 Administrative Kreisämter Eine zentrale Bedeutung kam dabei dem Amt des Kreisausschreibers zu, das stets von Reichsfürsten ausgeübt wurde. 23 Die vornehmste Aufgabe dieser ›Kreisausschreibenden Fürsten‹ bestand in der Einberufung der Kreistage (auch ›Ausschreibung‹ genannt), der Festlegung der vorläufigen Tagesordnung (Proposition) und der Abwicklung sämtlichen Schriftverkehrs in Kreisangelegenheiten abseits von Kreistagen. Es oblag ihnen auch, diverse kreispolitisch relevante Anliegen der anderen Kreisstände zu sammeln und gegebenenfalls auf die Tagesordnung des 23 Vgl. J. J. M OSER , Von der Teutschen Crays-Verfassung (Anm. 3), S. 171-244; W. D OTZ - AUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 46-48. <?page no="49"?> F A BIAN S C HULZE 50 nächsten Kreistags zu setzen. Zudem repräsentierten die Kreisausschreiber ihren Reichskreis gegenüber dem Reichsoberhaupt, anderen Reichskreisen und deren Ständen sowie von Zeit zu Zeit auch ausländischen Potentaten. 24 Außerdem fiel die Publikation von kaiserlichen Mandaten, von Reichsabschieden sowie diverser Schreiben der Reichsgerichte unter die Amtspflichten der Kreisausschreiber. In den sechs bereits im Jahr 1500 gegründeten Reichskreisen übten diese Ämter stets zwei Reichsfürsten gemeinsam aus, der jeweils ranghöchste weltliche und geistliche Fürst. Daher entfiel das weltliche Ausschreibeamt im Schwäbischen Reichskreis auf den Herzog von Württemberg, der deshalb eine eigene Kreiskanzlei und ein Kreisarchiv an seinem Stuttgarter Hof aufbauen ließ. 25 Das geistliche Ausschreibeamt war zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch zwischen den Bischöfen von Augsburg und Konstanz umstritten, bis sich noch vor der Mitte des Jahrhunderts Konstanz endgültig durchsetzen konnte. 26 Dies ist durchaus erstaunlich, schließlich besaß der Augsburger Bischof als größter Territorialherr Ostschwabens reichspolitisch weitaus stärkeres Gewicht als sein nur über ein sehr kleines Territorium rund um Meersburg verfügende Konstanzer Amtskollege. Allerdings ergeben sich hier Parallelen zum Fränkischen Reichskreis: Auch hier konnte sich nicht der unter weltlichen Gesichtspunkten mächtigste geistliche Landesherr, der Bischof von Würzburg, ein Kreisausschreibeamt sichern, sondern der Bamberger Bischof. Der Vorrang Bambergs beruhte darauf, dass das Bistum exemt, also unmittelbar dem Papst unterstellt und damit vornehmer war, während Würzburg Suffraganbistum von Mainz war. Die hohenzollerschen Markgrafen hatten wiederum keinen echten Konkurrenten, der ihnen das weltliche Kreisausschreibeamt Frankens hätte streitig machen können. Wohl aber gab es zeitweise Unstimmigkeiten innerhalb des Hauses Brandenburg bezüglich der Frage, ob das Amt von der Ansbacher oder der Kulmbach-Bayreuther Linie ausgeübt werden sollte. 27 24 Vgl. F. S CHULZE , Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg (Anm. 16), S. 30. 25 Vgl. E RNST L ANGWERTH VON S IMMERN , Die Kreisverfassung Maximilians I. und der schwäbische Reichskreis in ihrer rechtsgeschichtlichen Entwicklung bis zum Jahre 1648, Heidelberg 1896, S. 104-108; W. D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 146; T HOMAS H ÖLZ , Krummstab und Schwert. Die Liga und die geistlichen Reichsstände Schwabens 1609-1635. Zugleich ein Beitrag zur strukturgeschichtlichen Erforschung des deutschen Südwestens in der Frühen Neuzeit (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 31), Leinfeld-Echterdingen 2001, S. 18f. 26 Vgl. W. D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 146; T H . H ÖLZ , Krummstab und Schwert (Anm. 25), S. 18. 27 Vgl. grundlegend B ERNHARD S ICKEN , Der fränkische Reichskreis. Seine Ämter und Einrichtungen im 18. Jahrhundert (Veröff. der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Fotodruckreihe 1), Würzburg 1970; A LOIS S CHMID , Der Fränkische Reichskreis. Grundzüge seiner Geschichte - Struktur - Aspekte seiner Tätigkeit, in: W. W ÜST (Hg.), Reichskreis und Territorium (Anm. 1), S. 235-250. <?page no="50"?> D ER F R ÄNKIS C HE U ND DER S C H WÄBIS C HE R EIC HS KR EIS IN DER F RÜHEN N EU ZEIT 51 Das Amt eines Kreisdirektors mussten die Markgrafen allerdings dem Bischof von Bamberg überlassen. Dieses Amt war nicht mit dem Kreisausschreibeamt identisch, wurde aber stets von einem Kreisausschreibenden Fürsten bekleidet. Dem Inhaber des Kreisdirektoriums kam der Vorsitz und die organisatorische Leitung der Kreistage zu, wozu die Verlesung der Tagesordnung, die Moderation der Abstimmungen und die Erstellung der Beschlussvorlagen gehörte. 28 Im Fränkischen Kreis gab das Bamberger Direktorium und die damit verbundene gewisse Vorrangstellung des Fürstbischofs innerhalb der fränkischen Reichskreisorganisation vor allem von markgräflicher Seite immer wieder Anlass zur Missgunst, doch konnte Bamberg sich als ›vornehmster‹ Stand Frankens gegen Ansbach und Kulmbach-Bayreuth letztlich behaupten. 29 In Schwaben war das Kreisdirektorium weniger umstritten. Hier wagte es auf die Dauer kein anderer Stand, dem Herzog von Württemberg das Direktorium streitig zu machen. 30 Dafür übernahmen der Württemberger für Schwaben und der Bamberger für Franken auch u. a. den Aufbau eines Kreisarchivs, in dem die Kreisabschiede und sämtlicher Schriftverkehr im Namen des Kreises gesammelt wurden. 31 Zudem stellten beide im 16. und 17. Jahrhundert teils eigenes Personal ihrer Höfe ab, um den Schriftverkehr ihrer Reichskreise abwickeln und archivieren zu können, ehe beide Kreisorganisationen dafür eigenes hauptamtlich beschäftigtes Personal in Dienst nahmen. 32 2.2 Militärische Ämter Daneben etablierten sich auch militärische Kreisämter. Schon seit 1521 gab es je Reichskreis einen sogenannten Kreishauptmann, später Kreisobrist genannt, der von den Kreisständen auf Lebenszeit gewählt wurde. 33 Dem Inhaber dieses Amtes 28 Vgl. J. J. M OSER , Von der Teutschen Crays-Verfassung (Anm. 3), S. 187f.; W. D OTZ - AUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 43f. 29 Vgl. B ERNHARD S ICKEN , Leitungsfunktionen des Fränkischen Kreises im Aufklärungszeitalter. Zwischen Standesvorzug und Sachkompetenz, in: W. W ÜST (Hg.), Reichskreis und Territorium (Anm. 1), S. 251-278, hier 254-261. 30 Zur Ämterverteilung im Schwäbischen Kreis vgl. P. S TORM , Der Schwäbische Kreis als Feldherr (Anm. 22), S. 154-164, 177-182. 31 Vgl. B. S ICKEN , Der fränkische Reichskreis (Anm. 27), S. 179-225. 32 Vgl. J. J. M OSER , Von der Teutschen Crays-Verfassung (Anm. 3), S. 244-253; F. S CHULZE , Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg (Anm. 16), S. 33. 33 Vgl. für Folgendes J. J. M OSER , Von der Teutschen Crays-Verfassung (Anm. 3), S. 452- 454; W. D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 48-50; P ETER C LAUS H ART - MANN , Der Bayerische Reichskreis (1500 bis 1803). Strukturen, Geschichte und Bedeutung im Rahmen der Kreisverfassung und der allgemeinen institutionellen Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches (Schriften zur Verfassungsgeschichte 52), Berlin 1997, S. 88- 90; P. S TORM , Der Schwäbische Kreis als Feldherr (Anm. 22), S. 154-158. <?page no="51"?> F A BIAN S C HULZE 52 stand der Oberbefehl über alle Truppen zu, die von einem Reichskreis in Dienst gestellt wurden, sei es zum Zwecke der Landfriedenssicherung oder zur Verteidigung des Kreises nach außen. Zu seinen Dienstpflichten gehörten außerdem die Exekution von Reichsgesetzen und die Vollstreckung von Urteilen des Reichskammergerichts und Reichshofrats, wofür ein gewisses militärisches Drohpotential oftmals sehr nützlich war. Gemäß der Reichsexekutionsordnung von 1555, die die militärischen Kompetenzen der Kreishauptmänner bzw. Kreisobristen erheblich erweiterte, hatten diese fortan auch unabhängig vom Kaiser für die Landfriedenswahrung innerhalb ihres Reichskreises zu sorgen und Söldnerwerbungen und Heeresdurchzüge zu überwachen. 34 Als Kontroll- und Beratungsinstanz wurden den Kreisobristen Nachgeordnete als Stellvertreter und in den meisten Reichskreisen bis zu vier Zugeordnete oder Kriegsräte zur Seite gestellt. 35 Bei größeren militärischen Bedrohungen trafen diese sich zu gemeinsamen Tagungen mit dem Kreisobristen, den sogenannten Kreiskriegsräten oder Zugeordnetentagen. 36 In der Praxis trafen Kreisobristen allerdings oftmals ihre Entscheidungen ohne die vorherige Konsultation von Nach- und Zugeordneten. 37 Im Schwäbischen Reichskreis bekleideten in der Regel der Herzog von Württemberg und im Fränkischen Reichskreis die Markgrafen von Kulmbach-Bayreuth oder Ansbach das Kreisobristenamt. 38 In beiden Reichskreisen handelte es sich somit jeweils um den militärisch bedeutendsten Kreisstand. 34 Zu den diversen Rechten und Amtspflichten der Kreisobristen vgl. §§ 56-79 der Reichsexekutionsordnung von 1555. Die Regelungen finden sich in Auszügen ediert bei H ANNS H UBERT H OFMANN (Hg.), Quellen zum Verfassungsorganismus des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation 1495-1815 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit 13), Darmstadt 1976, S. 113-116. Vgl. zur Thematik zuletzt S ASCHA W EBER , Landfriedenspolitik im Schwäbischen Kreis. Vom Ende des Schwäbischen Bundes bis zum Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, in: H ENDRIK B AUMBACH / H ORST C ARL (Hg.), Landfrieden - epochenübergreifend. Neue Perspektiven der Landfriedensforschung auf Verfassung, Recht, Konflikt (ZHF Beihefte 54), Berlin 2018, S. 185-208. 35 Vgl. J. J. M OSER , Von der Teutschen Crays-Verfassung (Anm. 3), S. 453; vgl. ferner W. D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 59. 36 Vgl. B. S ICKEN , Der fränkische Reichskreis (Anm. 27), S. 237-240. 37 Vgl. P. C. H ARTMANN , Der Bayerische Reichskreis (Anm. 33), S. 89. 38 Zum Auf- und Ausbau der militärischen Ämter im Schwäbischen Reichskreis unter Württemberger Führung vgl. A. L AUFS , Der Schwäbische Kreis (Anm. 7), S. 349-419. Einen Überblick über die wichtigsten militärischen Engagements des Schwäbischen Reichskreises während seiner 300-jährigen Existenz bietet W. D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 147-155. Vgl. hierzu auch grundlegend die Arbeit von B. S TORM , Der Schwäbische Kreis als Feldherr (Anm. 22). Zum Militärwesen des Fränkischen Reichskreises vgl. grundlegend B ERNHARD S ICKEN , Das Wehrwesen des fränkischen Reichskrei- <?page no="52"?> D ER F R ÄNKIS C HE U ND DER S C H WÄBIS C HE R EIC HS KR EIS IN DER F RÜHEN N EU ZEIT 53 Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts erlangte dieses Amt im Schwäbischen und Fränkischen Kreis noch eine besondere Bedeutung: Denn in beiden Reichskreisen etablierten sich seit dem Pfälzischen Erbfolgekrieg ständig bestehende Kreistruppen, auch bekannt als Miles Perpetuus Circuli. 39 Diese dienten vor allem dem Schutz beider Reichskreise vor Frankreich und waren im 18. Jahrhundert zu großen Teilen in den zwei bedeutendsten Reichsfestungen am Rhein stationiert: In Kehl überwogen schwäbische Truppen, in Philippsburg fränkische. 40 2.3 Kreistage Von herausragender Bedeutung für die Funktionsfähigkeit eines Reichskreises waren die Kreistage. 41 Sie waren in ihrer Organisation dem Reichstag in vielerlei Hinsicht nachgebaut. Es handelte sich um Gesandtenkongresse, persönlich anwesende Fürsten und Stände waren schon im 17. Jahrhundert die Ausnahme. 42 Die Anzahl der Kreisstände variierte zwischen den Reichskreisen sehr stark, angefangen vom Burgundischen Kreis mit nur einem einzigen Stand, über den Bayerischen und Fränkischen Kreis mit 18 und 24 Kreisständen bis hin zum »vielherrigen« Schwäbischen Kreis mit etwa 100 Mitgliedern im 17. Jahrhundert. 43 Infolge von Erbgängen oder kriegsbedingten Gebietsabtretungen veränderte sich die Mitglieses. Aufbau und Struktur (1681-1714), Würzburg 1966; W. D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 88-94. 39 Zur Etablierung des ›miles perpetuus circuli‹ gegen Ende des 17. Jahrhunderts P. S TORM , Der Schwäbische Kreis als Feldherr (Anm. 22), S. 84-86, 91-111. 40 Vgl. grundlegend M AX P LASSMANN , Krieg und Defension am Oberrhein. Die vorderen Reichskreise und Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden (1693-1706) (Historische Forschungen 66), Berlin 2000. 41 Erläuterungen zur Zusammensetzung und zum Aufgabenprofil von Kreistagen finden sich mittlerweile in fast allen jüngeren Werken zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. Besonders ausführlich sind W. D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 41-45, und P. C. H ARTMANN , Der Bayerische Reichskreis (Anm. 33), S. 90-92. An Detailgenauigkeit unübertroffen bleibt jedoch J. J. M OSER , Von der Teutschen Crays-Verfassung (Anm. 3), S. 303-427. 42 Aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges lassen sich allerdings etliche Fälle nachweisen, in denen kreisständische Fürsten und Stände bei Kreistagen oder Probationstagen persönlich anwesend waren, ihre Stimmen im Kreistag aber von Gesandten führen ließen. Beispiele für den Niedersächsischen Kreis bietet U DO G ITTEL , Die Aktivitäten des Niedersächsischen Reichskreises in den Sektoren »Friedenssicherung« und »Policey« (1555-1682) (Quellen und Untersuchungen zur allgemeinen Geschichte Niedersachsens in der Neuzeit XXXV/ 14), Hannover 1996, S. 148. 43 Die Zahlenangaben gemäß K ARL O TMAR VON A RETIN , Das Alte Reich 1648-1806, 3 Bde., Stuttgart 1993-1997, hier Bd. 1: Föderalistische oder hierarchische Ordnung 1648- 1684, S. 152f. Ausführlich zur Mitgliederstruktur eines jeden Reichskreises ist auch J. J. M OSER , Von der Teutschen Crays-Verfassung (Anm. 3), S. 57-167. <?page no="53"?> F A BIAN S C HULZE 54 derstruktur einzelner Reichskreise zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert zwar zum Teil erheblich, in Franken und Schwaben überwog allerdings die territoriale Kontinuität. Eine prominente Ausnahme bildete freilich die Besetzung der schwäbischen Reichsstadt Donauwörth durch Bayern im Jahr 1607, was langfristig zu einer Angliederung der schwäbischen Stadt an den Bayerischen Reichskreis führte. 44 An den meisten Kreistagen existierte eine Bänkeunterteilung, die aber nur bedingt mit jenen drei Kurien verglichen werden kann, die der Reichstag kannte. Während sich im Fränkischen Kreis vier Bänke etablierten (weltliche und geistliche Fürsten, Grafen und Herren, Reichsstädte), gab es im Schwäbischen fünf (weltliche und geistliche Fürsten, Prälaten, Grafen und Herren, Reichsstädte). 45 Die Abstimmungsmodi unterschieden sich ebenfalls vom Reichstag: In den meisten Reichskreisen spielte die Bankzugehörigkeit eines Kreisstandes bei der Stimmabgabe nur eine untergeordnete Rolle; es gab keine Kuriatsstimmen, sondern nur vollwertige Virilstimmen, d. h. die Stimme eines jeden Kreisstandes zählte gleich viel, unabhängig von seiner Größe und seinem Rang. Allerdings gaben die reichsfürstlichen Kreismitglieder in Abstimmungen ihr Votum in der Regel zuerst ab, kleinere Kreisstände schlossen sich dann oftmals einem der reichsfürstlichen Voten nur an. 46 Im 16. Jahrhundert etablierten sich weitgehend feste Tagungsorte: Der Schwäbische Reichskreis versammelte sich fast ausschließlich im Rathaus von Ulm, andere bedeutende Städte, selbst das deutlich größere Augsburg, spielten als Tagungsorte nur eine Nebenrolle. 47 Allerdings traten im Schwäbischen Reichskreis von Zeit zu Zeit auch sogenannte Partikularkreistage zusammen, bei denen sich nur die Kreisstände eines der vier Viertel des Reichskreises versammelten. Besonders aktiv war in dieser Hinsicht das sogenannte Augsburger Viertel, das sich weitgehend mit dem heutigen bayerischen Regierungsbezirk Bayerisch-Schwaben deckte 44 F. S CHULZE , Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg (Anm. 16), S. 53. 45 Eine Übersicht der Bänkeeinteilung sämtlicher Reichskreise bietet W. D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 42. 46 Den Abstimmungsmodus und das Abstimmungsverhalten am fränkischen Kreistag schildert ausführlich N ICOLA H UMPHREYS , Der Fränkische Kreistag 1650-1740 in kommunikationsgeschichtlicher Perspektive (Forschungen zur Geschichte des fränkischen Reichskreises 3), Würzburg 2011, S. 188-202. Eine Ausnahme bildete allerdings das Votum des Kreisdirektors - im Falle Frankens Bamberg, im Falle Schwabens Württemberg, der sein Votum erst nach allen anderen Kreisständen abgab und damit zugleich das Conclusum, also die abschließende Beschlussfassung, formulierte. 47 Vgl. H ANS E UGEN S PECKER , Die Reichsstadt Ulm als Tagungsort des Schwäbischen Reichskreises, in: W. W ÜST (Hg.), Reichskreis und Territorium (Anm. 1), S. 179-196; zu den Tagungen des Fränkischen Reichskreis in Nürnberg vgl. R UDOLF E NDRES , Der Fränkische Reichskreis (Hefte zur bayerischen Geschichte und Kultur 29), Augsburg 2003, S. 6. <?page no="54"?> D ER F R ÄNKIS C HE U ND DER S C H WÄBIS C HE R EIC HS KR EIS IN DER F RÜHEN N EU ZEIT 55 und unter Führung des Augsburger Bischofs mehrfach in Augsburg oder Memmingen versammelte. 48 Im Fränkischen Reichskreis dominierte der Tagungsort Nürnberg: So hielt der Reichskreis beispielsweise von seinen zwischen 1650 und 1740 insgesamt 140 Kreiskonventen alleine in Nürnberg 105 ab, gefolgt von Bamberg mit 17 Tagungen und Würzburg mit sieben. 49 (Abb. 3) 2.4 Münzprobationstage und Münzpersonal Eine besondere Form von Kreistagen stellten die Münzprobationstage dar, die im Gegensatz zu allgemeinen Kreistagen in den meisten Reichskreisen in einem festen Turnus abgehalten wurden. Dies ging auf die Bestimmungen der Reichsmünzordnung von 1559 zurück, die den Reichskreisen die Aufsicht über das Münzwesen ihrer Kreisstände aufgetragen hatte. Die Reichsmünzordnung enthielt eine Reihe von Regelungen zur Normierung sämtlicher im Reich geprägter Münzsorten und sah vor, dass in allen Reichskreisen nach Möglichkeit halbjährlich, mindestens aber einmal im Jahr sogenannte Münzprobationstage (zeitgenössisch oft auch verkürzt nur Probationstage genannt) abgehalten wurden, um die Einhaltung der Reichsmünzordnung zu überwachen und Verstöße zu ahnden. 50 Zu diesem Zweck hatte jeder Reichskreis einen eigenen Generalwardein in Dienst zu nehmen, dessen Aufgabe darin bestand, sämtliche Münzprägestätten in seinem Reichskreis durch regelmäßige Visitationsreisen zu überwachen und Münzproben zu sammeln. Die Gewichts- und Feingehaltsbestimmung dieser Münzen wurde dann nach einer fest vorgeschriebenen Prozedur auf den Münzprobationstagen vorgenommen und Untersuchungsberichte des Generalwardeins bekanntgemacht. 51 Den Probationstagen stand es zu, für minderwertig oder manipuliert 48 Vgl. W. D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (Anm. 5), S. 45. Die vier Viertel des Schwäbischen Reichskreises wurden nach ihrem jeweils wichtigsten Kreisstand benannt (Württemberg, Baden, Augsburg, Konstanz), dem zugleich das Direktorium des jeweiligen Viertels zustand. Die Kreisvierteldirektoren beraumten Partikularkreistage meist dann an, wenn bestimmte wirtschaftliche oder sicherheitspolitische Probleme nur die jeweilige (Teil-) Region Schwabens betrafen oder anderweitige regionale Absprachen zu treffen waren. 49 Eine genaue Auflistung der Tagungsorte des Fränkischen Kreises zwischen 1650 und 1740 bietet N. H UMPHREYS , Der Fränkische Kreistag (Anm. 46), S. 30. 50 Vgl. T HOMAS C HRISTMANN , Die Reichsmünzordnungen und deren Umsetzung durch die Reichskreise, in: R EINER C UNZ (Hg.), Währungsunionen. Beiträge zur Geschichte überregionaler Münz- und Geldpolitik (Numismatische Studien 15), Regenstauf 2002, S. 197- 219, hier 206, 208f. 51 Zur Tätigkeit eines Generalwardeins (Kreiswardeins) vgl. K ONRAD S CHNEIDER , »Aus des Kauffmanns Säckel« - Der oberrheinische Kreiswardein Wolf Krämer und seine Kommentare zum Geldwesen der Jahre 1605-1620, in: Der Wormsgau 19 (2000), S. 38-61. Zudem hatte jeder in Diensten der einzelnen Kreisstände stehende Münzmeister und <?page no="55"?> F A BIAN S C HULZE 56 befundene Münzsorten in Form von im ganzen Reichskreis öffentlich auszuhängenden Münzedikten zu verrufen und damit für ungültig zu erklären. Daneben konnten sie Wechselkurstabellen ausarbeiten, die mit ihrer Veröffentlichung Gültigkeit im gesamten Kreisgebiet erhielten. 52 Ein Probationstag diente somit sowohl der münzpolitischen Koordination als auch der wechselseitigen Kontrolle der Kreisstände. Im Fränkischen und im Schwäbischen Reichskreis mit ihrer sehr hohen Anzahl an münzprägenden Ständen hatte diese Form der ständeübergreifenden Münzpolitik vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht ausgesprochen hohe Bedeutung, garantierte sie doch ein Mindestmaß an Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit der in beiden Regionen gängigen Zahlungsmittel. Zudem begnügten sich die fränkischen und schwäbischen Kreisstände nicht damit, ihr Münzwesen nur innerhalb der Grenzen ihres jeweiligen Kreises zu koordinieren. Seit den 1560er Jahren standen Franken und Schwaben in einer fest institutionalisierten ›Korrespondenz‹ in Münzangelegenheiten. Dazu gehörte auch die regelmäßige Abhaltung von gemeinsamen schwäbisch-fränkischen Probationstagen, zu denen noch Delegationen des benachbarten Bayerischen Reichskreises stießen. 53 Eine erste solche gemeinsame Beratung dieser drei süddeutschen Kreise fand 1564 in Nördlingen statt, danach etablierten sich die Tagungsorte Nürnberg, Regensburg und Augsburg, die turnusgemäß wechselten. 54 Ausschreiber und Direktor solcher kreisübergreifenden Münzkonferenzen wurde der Bamberger Bischof, der auch dafür Sorge trug, dass der Kaiser und andere Reichskreise stets über die münzpolitischen Beschlüsse der Franken, Schwaben und Bayern informiert wurden. 55 Wardeine (ein Münzkontrolleur) eine Eidesleistung auf den jeweiligen Reichskreis und die Reichsmünzordnung abzulegen (§§ 14 und 16 der Probationsordnung von 1559). Die dem Augsburger Reichsabschied inkorporierte Probationsordnung ist ediert bei J OHANN C. H IRSCH , Des Teutschen Reichs Münz-Archiv, 8 Bde., Nürnberg 1756-1768, hier Bd. 1, S. 405f. 52 Vgl. K ONRAD S CHNEIDER , Reichskreise und europäisierter Geldumlauf, in: W. W ÜST / M. M ÜLLER (Hg.), Reichskreise und Regionen (Anm. 12), S. 283-301, hier 288. 53 Vgl. F ABIAN S CHULZE , Die Rolle der oberdeutschen Reichskreise und der Reichsgerichte bei der Bekämpfung der Kipper- und Wipperkrise 1618-1626, in: A LEXANDER D ENZLER / E LLEN F RANKE / B RITTA S CHNEIDER (Hg.), Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen. Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis 19. Jahrhundert (bibliothek altes Reich 17), Berlin 2015, S. 97-116, hier 104f. 54 Der erste gemeinsame Probationstagsabschied der drei Kreise ist ediert bei J OHANN G EORG VON L ORI , Der Sammlung des baierischen Münzrechts zweyter Band, von 1564 bis 1664, München 1768, S. 1-5. Vgl. zudem J. C. H IRSCH , Des Teutschen Reichs Münz- Archiv (Anm. 51), Bd. 1, Vorrede § 33. 55 Vgl. J OHANN J ACOB M OSER , Compendium iuris publici Regni moderni germanici, Tübingen 1731, S. 294. Zum praktischen Ablauf der gemeinsamen Probationstage der drei Kreise mit ihrer Sitzordnung und den Solennitäten siehe E RNST J OACHIM VON B EUST , <?page no="56"?> D ER F R ÄNKIS C HE U ND DER S C H WÄBIS C HE R EIC HS KR EIS IN DER F RÜHEN N EU ZEIT 57 Abb. 3: Sitzordnung des Schwäbischen Kreises im Ulmer Rathaus im Jahr 1669. Sciagraphia Juris Monetandi in Sacro Imperio Romano-Germanico oder Entwurf von der Müntz-Gerechtigkeit im Heil. Römisch-Teutschen Reich, Leipzig 1745, S. 258f., 265, und J. C. H IRSCH , Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (Anm. 51), Bd. 1, Vorrede § 32. <?page no="57"?> F A BIAN S C HULZE 58 Innerhalb der drei Kreise wurde es schon bald üblich, dass nur zwei bzw. drei Stände stellvertretend für den ganzen Kreis teilnahmen: Für den Fränkischen Reichskreis waren dies der Bischof von Bamberg und die Reichsstadt Nürnberg, für Schwaben der Herzog von Württemberg und die Reichsstadt Augsburg, für den Bayerischen Reichskreis der Herzog bzw. Kurfürst von Bayern, der Erzbischof von Salzburg und die Reichsstadt Regensburg. 56 Damit war jeder Kreis lediglich von einem oder zweien seiner Kreisausschreiber und seiner jeweils bedeutendsten Reichsstadt vertreten. Dies erleichterte und beschleunigte die Beschlussfindung deutlich. Die Probationstage der drei korrespondierenden Kreise waren somit letztlich eher Kreisdeputationstage und keine Vollversammlungen sämtlicher Kreisstände. 57 Eine völlige Monopolisierung der Münzpolitik auf diese Deputationsmitglieder fand allerdings nicht statt. So war es dem Ansbacher Publizisten und Numismatiker Johann Christoph Hirsch noch 1756 wichtig zu betonen, dass das Münzwesen bey dem Fränkischen Cr[eis] […] ein gemein Werck aller Mit = Stände desselben sei. Bamberg und Nürnberg seien einstmals lediglich zu Erspahrung der Kosten als alleinige Vertreter des Fränkischen Reichskreises in Münzangelegenheiten mit Schwaben und Bayern ernannt worden. 58 3. Beispiele für die Bedeutung und Wirksamkeit des Fränkischen und Schwäbischen Reichskreises im 17. Jahrhundert Schon seit längerem ist bekannt, dass die Reichskreisverfassung selbst in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, einer für das Reich insgesamt verheerenden Epoche, von erheblicher Bedeutung blieb. 59 Sie bildete ein wesentliches Fundament der reichsständischen Kooperation in weiten Teilen des Reiches, insbesondere in Franken und Schwaben. Dies hatte vor allem auch militär-, finanz- und geldpolitische Gründe. Deshalb sollen im folgenden exemplarisch für die zahlreichen Tätigkeitsgebiete des Fränkischen und des Schwäbischen Reichskreises die Aktivitäten beider Reichskreise im Bereich der Heeresfinanzierung sowie der Geldpolitik im Rahmen der ›Kipper- und Wipperkrise‹ in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts überblicksartig dargestellt werden. 56 Vgl. J. C. H IRSCH , Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (Anm. 51), Bd. 1, Vorrede § 34f.; J. J. M OSER , Compendium iuris (Anm. 55), S. 294. 57 Vgl. F. S CHULZE , Die Rolle der oberdeutschen Reichskreise (Anm. 53), S. 104f. 58 Vgl. J. C. H IRSCH , Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (Anm. 51), Bd. 1, Vorrede § 34 f. 59 Vgl. F ERDINAND M AGEN , Die Reichskreise in der Epoche des Dreißigjährigen Krieges. Ein Überblick, in: ZHF 9 (1982), S. 409-460; umfassend erweitert durch F. S CHULZE , Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg (Anm. 16). <?page no="58"?> D ER F R ÄNKIS C HE U ND DER S C H WÄBIS C HE R EIC HS KR EIS IN DER F RÜHEN N EU ZEIT 59 3.1 Heeresfinanzierung als Tätigkeitsgebiet der Reichskreise Gegen Ende des 16. Jahrhunderts war die Entwicklung der Reichskreise soweit gediehen, dass manche Berater im Umfeld des Kaisers in den Reichskreisen eine Möglichkeit erblickten, das Reich politisch auch dann noch steuerbar zu halten, als der Reichstag infolge der langsam wieder zunehmenden konfessionellen Spannungen seine Arbeits- und Beschlussfähigkeit langsam verlor. 60 Wie wir seit den Forschungen Winfried Schulzes wissen, war es wohl der langjährige Reichspfennigmeister Zacharias Geizkofler, der Kaiser Rudolf II. auf die Idee brachte, zur Finanzierung des ›Langen Türkenkriegs‹ von 1593 bis 1606 nicht nur auf Türkensteuerbewilligungen von Reichstagen zu setzen, sondern seine Geld- und Truppenforderungen direkt auf Kreistagen verhandeln zu lassen. 61 Schließlich waren Kreistage viel schneller zu organisieren als Reichstage. Außerdem kamen die den Reichstag zuletzt lähmenden Religionsstreitigkeiten auf Kreistagen im Normalfall nicht auf die Tagesordnung, da ihre Regelung schlicht nicht in deren Kompetenzbereich fiel. Dies ermöglichte es selbst den gemischtkonfessionellen Kreisen Franken und Schwaben lange, ihr institutionelles Eigenleben fortzuführen. Tatsächlich setzte der Reichspfennigmeister Geizkofler deshalb sogar besonders große Hoffnungen in den Fränkischen und Schwäbischen Kreis. Diese gehörten seines Erachtens infolge ihrer geographischen Nähe zu habsburgischen Gebieten, wegen der vielen Reichsstädte und ihrer traditionell eher kaisernahen katholischen Kirchenfürsten zu den willigsten Craissen und waren leichter als andere Reichskreise für ein Engagement im Dienste von Kaiser und Reich zu gewinnen. 62 Er sah dabei auch eine besondere Verbindung zwischen einzelnen Mitgliedern dieser beiden Kreise, allen voran den schwäbischen und fränkischen Reichsstädten: denn die Stött thuen one einander nichts, vnd wan Nürnberg [in die kaiserliche Steuerforderung, F. S.] 60 Vgl. J OHANNES B URKHARDT / F ABIAN S CHULZE , Reichskreise als Reichstagssubstitut. Ein Gutachten von Zacharias Geizkofler und seine Folgen, in: S ABINE W ÜST (Hg.), Schätze der Welt aus landeshistorischer Perspektive. FS zum 65. Geburtstag von Wolfgang Wüst, St. Ottilien, S. 423-434. 61 Vgl. W INFRIED S CHULZE , Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München 1978, S. 196; ferner P ETER R AUSCHER , Zwischen Krieg und Frieden. Kaiserliche Finanzkrise und Friedenspolitik im Vorfeld des Dreißigjährigen Kriegs (1612-1615), in: G UIDO B RAUN / M AXIMILIAN L ANZINNER (Hg.), Frieden und Friedenssicherung in der Frühen Neuzeit. Das Heilige Römische Reich und Europa, FS für Maximilian Lanzinner (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte 36), Münster 2013, S. 349-386. 62 Das Zitat ist entnommen aus: StAL, B 90 Bü. 65, undat. (1615), unfol. Vgl. zuletzt ausführlich J. B URKHARDT / F. S CHULZE , Reichskreise als Reichstagssubstitut (Anm. 60). <?page no="59"?> F A BIAN S C HULZE 60 einwilliget, so zweiuel ich an Ulm nicht, denen alsdann die […] andere unierte oder correspondierende Stött, umbsouiel ehender volgen mechten. 63 Obwohl eine derartige Indienstnahme der Reichskreise zugunsten des Kaisers reichsrechtlich umstritten blieb, konnten die Habsburger die Kreise immer wieder für sich mobilisieren. Etwa die Hälfte der rund 14 Mio. Gulden an Reichshilfen während des Langen Türkenkriegs wurde von Kreistagen bewilligt, nicht von Reichstagen. 64 Diese Hilfszusagen erfüllten die Reichskreise dann entweder in Form von Geldzahlungen oder aber indem sie selbst Truppen aufstellten und den kaiserlichen Heeren mit eigenen Kreisarmeen zu Hilfe kamen. Beides ist sowohl vom Fränkischen als auch vom Schwäbischen Reichskreis um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert immer wieder praktiziert worden. 65 Es überrascht daher nicht, dass man auf kaiserlicher Seite auch nach dem Ende des Langen Türkenkriegs wieder auf die Idee kam, Steuerforderungen an das Reich direkt an die Reichskreise heranzutragen, vornehmlich an Franken und Schwaben. Dies galt erst recht für das Jahrzehnt unmittelbar vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, als nach zwei gescheiterten Reichstagen in den Jahren 1608 und 1613 vorerst gar kein Reichstag mehr zustande kam. Allerdings agierten beide Reichskreise in jenen Jahren durchaus selbstbewusst und zeigten sich in der Lage, allzu unverblühmte Geldforderungen des Kaisers auch stände- und konfessionsübergreifend abzuwehren: Dies geschah beispielsweise auf einem fränkischen Kreistag in Nürnberg im Jahr 1616. Dabei nutzten die Kreisstände die Anwesenheit der kaiserlichen Verhandlungsführer am Kreistag, um den Kaiser dazu aufzufordern, endlich etwas gegen die zunehmenden Spannungen zwischen den Konfessionsparteien im Reich zu unternehmen, erst dann könne man wieder über neue Geldzahlungen an das Kaiserhaus reden. 66 Bekanntlich erwiesen sich die Habsburger in den folgenden Jahren dazu tragischerweise nicht in der Lage. Doch auch wenn im Reich nach dem Prager Fenstersturz von 1618 ein großer, lange von konfessionellen Frontstellungen geprägter 63 So der Wortlaut Geizkoflers im letztgenannten Gutachten für Kaiser Matthias von 1615; StAL, B90 Bü. 65, undat. (1615), unfol. 64 Vgl. F. S CHULZE , Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg (Anm. 16), S.71. 65 Vgl. M AX P LASSMANN , Indirekt kaiserlich? Die Kriegführung und -finanzierung von Reichskreisen und Assoziationen (1648-1740), in: P ETER R AUSCHER (Hg.), Kriegführung und Staatsfinanzen. Die Habsburgermonarchie und das Heilige Römische Reich vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende des habsburgischen Kaisertums 1740 (Geschichte in der Epoche Karls V. 10), Münster 2010, S. 515-542; J OHANNES M ÜLLER , Der Anteil der schwäbischen Kreistruppen in dem Türkenkrieg Kaiser Rudolfs II. von 1595 bis 1597, in: ZHVS 28 (1903), S. 155-262; W. S CHULZE , Reich und Türkengefahr (Anm. 61), S. 195f. 66 Der Abschied dieses Kreistags datiert auf den 15./ 25. März 1616. Er ist ediert bei F RIED - RICH C ARL VON M OSER , Des hochloblichen Franckischen Crayses Abschide und Schlusse vom Jahr 1600 bis 1748, Nürnberg 1752, S. 130-135. <?page no="60"?> D ER F R ÄNKIS C HE U ND DER S C H WÄBIS C HE R EIC HS KR EIS IN DER F RÜHEN N EU ZEIT 61 Krieg ausbrach, so zeigten sich sowohl der Fränkische als auch der Schwäbische Reichskreis länger als andere Reichskreisorganisationen im Reich imstande, institutionell handlungsfähig zu bleiben und den Frieden zumindest innerhalb ihrer Kreisgrenzen zu wahren. So zeigten sich beide Reichskreise etwa noch 1624 in der Lage, zu gut besuchten Kreistagen zusammenzutreten und in konfessionsübergreifenden Beschlüssen Kaiser Ferdinand II. Geldzahlungen in Höhe von 10 bzw. 20 Römermonaten mit einem Gesamtwert von mehreren hunderttausend Gulden zu bewilligen. 67 Die beiden Reichskreise nutzten dabei die diesbezüglichen Verhandlungen mit kaiserlichen Kommissaren dafür, dem Reichsoberhaupt verschiedenste Beschwerden der schwäbischen und fränkischen Kreisstände vorzubringen und um Schonung im laufenden Kriegsgeschehen zu bitten. 68 Zudem informierten sich die fränkischen und schwäbischen Kreisausschreiber gegenseitig über ihre Verhandlungsergebnisse mit dem Kaiser. 69 In dieser Phase des Dreißigjährigen Krieges tauschten sich die Höfe von Bamberg, Kulmbach, Stuttgart und Meersburg sogar in etwa wöchentlich auf dem Postweg über verschiedenste Reichs- und Kreisangelegenheiten aus. 70 So waren sie auch stets bestens informiert, welche Übereinkommen der jeweils andere Reichskreis mit dem Reichsoberhaupt getroffen hatte, und versuchten sich dies in den eigenen Verhandlungen mit kaiserlichen Kommissaren zunutze zu machen. So forderten etwa die schwäbischen Kreisstände 1624 vom Kaiser, dieser müsse den Schwäbischen Reichskreis und dessen Stände nach ihrer Bewilligung von 20 Römermonaten über die gesamte vereinbarte Zahlungsfrist mit Durchzügen, Einquartierungen und Musterplätzen verschonen, so wie dem Fränckhischen Creiß, bei kaum halber hülff verspruch geschehen sei. 71 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der niedrigeren Bewilligungshöhe des Fränkischen Kreises von nur 10 Römer- 67 Der Fränkische Kreis bewilligte 10, der Schwäbische 20 Römermonate; vgl. F ABIAN S CHULZE , Silent leges inter arma? Zur Rolle reichsrechtlicher Normen und Verfahrensweisen bei Türkensteuerforderungen im Dreißigjährigen Krieg, in: B RITTA S CHNEIDER / A LEXANDER D ENZLER / E LLEN F RANKE (Hg.), Was das Reich zusammenhielt. Deutungsansätze und integrative Elemente, Köln u. a. 2017, S. 125-147, hier 131-133; vgl. hierzu auch ausführlich D ERS ., Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg (Anm. 16), S. 101-136. 68 Vgl. F. S CHULZE , Silent leges inter arma (Anm. 67), S. 136-146. 69 Vgl. HStASt, C 9 Bü. 218, Nr. 30: Kommunikationsschreiben Markgraf Christians an Württemberg mitsamt dem fränkischen Kreisabschied vom 5./ 15. März 1624, o. O., undat., unfol. 70 Vgl. hierzu etwa HStASt, C 9 Bü. 218, Beilagen A, B, C: Markgraf Christian von Kulmbach an Herzog Johann Friedrich von Württemberg, Plassenburg, 10. Mai 1623 (alter Stil), unfol; HStASt, C 9 Bü. 223, Nr. 6: Markgraf Christian von Kulmbach an Herzog Julius Friedrich von Württemberg, Bayreuth, 22. April (alter Stil). 71 Vgl. HStASt, C 9 Bü. 218, Nr. 27, Beilage F: Duplik der Kreisstände an die kaiserlichen Kommissare (Kopie), unfol. <?page no="61"?> F A BIAN S C HULZE 62 monaten erinnerten die schwäbischen Kreisstände Kaiser Ferdinand II. auch noch ausdrücklich daran, dass er alls ein gerechter lobwürdigster Ka ser, kein[en] standt vor dem andern vnhgleich beschweren dürfe. 72 Letztlich mussten allerdings sowohl die schwäbischen als auch die fränkischen Stände schon wenige Jahre später erkennen, dass die großen Kriegsparteien, darunter der Kaiser, wenig gewillt waren, auf die Anliegen einzelner Reichskreise Rücksicht zu nehmen. Spätestens mit dem schwedischen Vormarsch nach Süddeutschland 1631 wurden auch Franken und Schwaben vollends in den Krieg hineingezogen. Reguläre Kreistage waren dann für mehrere Jahre nicht mehr möglich. 73 Dies änderte sich allerdings schon ab 1635 wieder, als der Prager Frieden die bürgerkriegsähnlichen Kämpfe innerhalb des Schwäbischen und Fränkischen Reichskreises weitgehend beenden konnte. Der Fränkische Reichskreis zeigte sich dabei als erster aller Kreise schon im Jahr des Prager Friedensschlusses wieder zu regulären, gut besuchten Kreistagen fähig, die nun bis zum Kriegsende teils mehrfach im Jahr in dichter Folge stattfanden. Der Schwäbische Kreis benötigte aufgrund der bis 1638 andauernden Besetzung Württembergs durch kaiserliche Truppen drei Jahre länger, bis er zu seiner alten Aktivität zurückfinden konnte, behielt dann aber eine seinem fränkischen Pendant ähnlich hohe Tagungsdichte bis zum Kriegsende bei. 74 Auf diesen Kreistagen waren kaiserliche Steuerforderungen oftmals das bestimmende Thema, allerdings nicht in den Jahren 1644 und 1645: Hier beschlossen zuerst die fränkischen, bald darauf und in enger Abstimmung mit fränkischen Kreistagen auch die schwäbischen Kreisstände, jeweils eine eigene Reichskreisdelegation zu den Westfälischen Friedensverhandlungen zu entsenden. 75 Nun diente die Kreisorganisation des Reiches den schwäbischen und fränkischen Ständen nicht mehr dazu, über immer neue kaiserliche Geldforderungen zu beraten, sondern dazu, sich geeint bei den kriegführenden Mächten besser Gehör verschaffen zu können und die Herbeiführung eines Friedensschlusses zu beschleunigen. 72 Vgl. HStASt, C 9 Bü. 218, Nr. 27, Beilage F: Duplik der Kreisstände an die kaiserlichen Kommissare (Kopie), unfol. 73 Vgl. F. S CHULZE , Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg (Anm. 16), S. 179-187, 403-423. 74 Vgl. F. S CHULZE , Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg (Anm. 16), S. 218-225, 265f., 270-275. 75 Vgl. F. S CHULZE , Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg (Anm. 16), S. 514-525. <?page no="62"?> D ER F R ÄNKIS C HE U ND DER S C H WÄBIS C HE R EIC HS KR EIS IN DER F RÜHEN N EU ZEIT 63 3.2 Die Geldpolitik des Fränkischen und Schwäbischen Reichskreises in der ›Kipper- und Wipperzeit‹ Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf eine bisher nur in Ansätzen erforschte Tätigkeit der beiden Reichskreise geworfen, die Münzaufsicht. Dies soll exemplarisch am Fall der Kipper- und Wipperzeit in der Anfangsphase des Dreißigjährigen Krieges geschehen. Der bereits in der Frühen Neuzeit gängige Begriff der Kippermünze bezeichnete ein minderwertiges Geldstück, dessen Nennwert den realen Materialwert massiv überstieg. In der Regel handelte es sich dabei um Münzen, die dem Schein nach einen hohen Edelmetallgehalt enthielten, in Wirklichkeit aber vornehmlich aus Kupfer oder diversen preisgünstigen Legierungen bestanden. Erfahrene Geldwechsler konnten die in der Regel leichteren Kippermünzen von schwereren, höherwertigen Geldstücken mittels Schnellwaagen ›ausgewippen‹ - oder eben ›kippen‹. 76 Schon im Böhmisch-Pfälzischen Krieg, der ersten Kriegsphase des Dreißigjährigen Krieges, nahmen Münzmanipulationen derart massiv zu, dass das Heilige Römische Reich eine bis dahin nie gekannte rapide Geldentwertung erlebte, die als »die große Kipper- und Wipperzeit« in die deutsche Geschichte einging. 77 Schon mit Beginn der Kriegshandlungen in Böhmen 1618 waren einzelne Reichsstände der Verlockung erlegen, ihre Kriegskasse durch Münzmanipulationen zu füllen. 78 Doch eine krisenhafte Zuspitzung war ausgerechnet dem Reichsoberhaupt selbst geschuldet, denn das habsburgische Kaiserhaus versuchte seine eigenen horrenden Kriegskosten unter anderem dadurch zu decken, dass es Münzprivilegien ganzer Landesteile an private Investoren oder vielmehr skrupellose Spekulanten verpachtete. 79 Diese schmolzen höherwertige Münzen im großen Stil ein und ließen minderwertiges Geld in Umlauf bringen. Diese Form der Münzmanipulationen versprach zwar raschen Gewinn, war aber gemäß der Reichsmünzordnung von 1559 im ganzen Heiligen Römischen Reich verboten. 80 76 Vgl. K ONRAD S CHNEIDER , Art. Kipper- und Wipperzeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Darmstadt 2007, Sp. 579-582, hier v. a. 579f. 77 Vgl. K. S CHNEIDER , Art. Kipper- und Wipperzeit (Anm. 76), insbes. Sp. 582. Vgl. ferner zur Thematik U LRICH R OSSEAUX , Die Kipper und Wipper als publizistisches Ereignis. Eine Studie zu den Strukturen öffentlicher Kommunikation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 67), Berlin 2001. 78 Offenbar nahm die Münzverschlechterung im Reich 1617 ihren Anfang. Braunschweig- Wolfenbüttel ließ als eines der ersten größeren Reichsterritorien Kippermünzen prägen und sabotierte Gegenmaßnahmen des Niedersächsischen Kreises längere Zeit; vgl. U. G ITTEL , Die Aktivitäten (Anm. 42), S. 306. 79 Vgl. S TEFFEN L EINS , Das Prager Münzkonsortium 1622/ 23. Ein Kapitalgeschäft im Dreißigjährigen Krieg am Rand der Katastrophe, Münster (Westf.) 2012. 80 Vgl. E. J. VON B EUST , Sciagraphia Juris Monetandi (Anm. 55), S. 326. <?page no="63"?> F A BIAN S C HULZE 64 Als Kontrollinstanzen sah die Reichverfassung in erster Linie die Reichskreise vor, die dafür auch eigenes Personal beschäftigten und Münzprobationstage abzuhalten hatten. Tatsächlich kamen diese den Fälschern auch schon sehr bald auf die Schliche. So rief ein Nürnberger Probationstag Kaiser Matthias im Mai 1618 dazu auf, die Missstände in diversen Münzstätten im Reich untersuchen zu lassen und die Verantwortlichen für betrügerische Manipulationen vor dem Reichskammergericht zu verklagen. 81 Der Kaiser blieb jedoch untätig, weshalb die »Kipper- und Wipperkrise« nun im ganzen Reich und damit auch in Schwaben und Franken eskalieren konnte. 82 Erst vier Jahre später, als die Kampfhandlungen um Böhmen langsam abklangen und diverse Absprachen zwischen einzelnen Münzherren keine Lösung der Währungskrise herbeigeführt hatten, ergriffen einzelne Reichskreise umfassende Gegenmaßnahmen. 83 Zuerst wurde der Niedersächsische Kreis aktiv, dessen Stände sich schon Anfang 1622 auf einem Kreistag in Lüneburg auf eine tiefgreifende Münzreform innerhalb ihrer Kreisgrenzen einigen konnten. 84 Ermutigt durch dieses positive Exempel traten nun auch die schwäbischen Stände in Ulm und die fränkischen in Nürnberg zu eigenen Konventen zusammen, die sich umfassend der Münzproblematik widmeten. Auf beiden Kreisversammlungen konnten letztlich erfolgreiche Reformen angestoßen werden, die der Kipper- und Wipperzeit in Franken und Schwaben ein Ende bereiteten. So verkündeten die fränkischen Kreisstände in Nürnberg, eine umfassende Münzreform notfalls auch im Alleingang und ohne das Zustandekommen reichseinheitlicher Lösungen durchzusetzen, so wie es der Niedersächsische Kreis dem Reich bereits vorgemacht habe. Zu den Maßnahmen gehörte eine erneute Bestätigung der Reichsmünzordnung von 1559, die Schließung illegaler Münzprägestätten, die Einführung einer Quote für die Prägung kleinerer Münzen, das Verbot besonders fälschungsanfälliger Münzsorten und die Auswechslung, Abwertung und Umprägung des bisher in Franken im Umlauf befindlichen Geldes. 85 Außerdem 81 Der gemeinsame Probationstagsabschied der drei Reichskreise Bayern, Franken und Schwaben vom 15. Mai 1618 ist ediert bei J. G. VON L ORI , Sammlung des baierischen Münzrechts (Anm. 54), S. 294-296. 82 Vgl. hierzu G USTAV S CHÖTTLE , Die große deutsche Geldkrise von 1620-1623 und ihr Verlauf in Oberschwaben, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte NF 30 (1921), S. 36-57; F RIEDRICH F RHR . VON S CHRÖTTER , Das Kippergeld in den Fürstentümern Brandenburg-Bayreuth und -Ansbach 1620-1622, in: ZBLG 7 (1934), S. 1-34. 83 Vgl. F. S CHULZE , Die Rolle der oberdeutschen Reichskreise (Anm. 53), S. 109. 84 Vgl. U. G ITTEL , Die Aktivitäten (Anm. 42), S. 307. 85 Vgl. zum Niedersächsischen Kreisabschied von Lüneburg vom 12. Juni 1622 U. G ITTEL , Die Aktivitäten (Anm. 42), S. 307f. (Anm. 42); zum Fränkischen Kreisabschied von Nürn- <?page no="64"?> D ER F R ÄNKIS C HE U ND DER S C H WÄBIS C HE R EIC HS KR EIS IN DER F RÜHEN N EU ZEIT 65 mussten diverse Kreisstände ihre mutmaßlich an Fälschungen beteiligten Münzmeister entlassen. 86 Im Schwäbischen Reichskreis konnte man sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu so umfassenden Schritten durchringen, aber immerhin wurden Richtlinien für die juristische Regelung von Kreditaufnahmen und Schuldentilgungen in Kippergeld ausgearbeitet, die eine wichtige Vorbedingung für den späteren Erfolg einer Münzreform waren. 87 Noch 1622 schlossen sich dann einzelne schwäbische Territorien, aber auch der Herzog von Bayern, den fränkischen Reformbeschlüssen an und begannen mit der Prägung neuer, wieder hochwertiger Münzen. 88 Freilich hätten diese ersten Schritte auf dem Weg zurück zu einer geregelten Geldwirtschaft im Reich noch nicht gereicht, denn keiner der Reichskreise konnte sich auf Dauer von der Münzzirkulation im gesamten Reich unabhängig machen. Deshalb war es von größter Bedeutung, dass sich den vornehmlich niedersächsisch-fränkischen Reformen des Jahres 1622 möglichst bald das gesamte Reich anschloss. Ein wichtiger Schritt dahin stellte ein maßgeblich auf Initiative des Fränkischen Reichskreises einberufener gemeinsamer Münzprobationstag der Reichskreise Bayern, Franken und Schwaben dar, den der Bamberger Bischof für Anfang April 1623 nach Augsburg ausschrieb. Der Bamberger betonte dabei, dass es von größter Bedeutung sei, dass nun möglichst viele Stände des Niedersächsischen und Fränkischen Kraises Exempel folgen sollten, da man noch lange nicht darauf hoffen könne, dass die noch andauernde Währungskrise durch des Reichs gemeinen Schluß, d. h. einen Reichstag, überwunden werde, denn ein solcher sei derzeit nicht in Sicht. Wohl aber könne man mittels der Absprachen auf Kreistagen dem Verfall des Münzwesens begegnen. 89 Tatsächlich konnten sich die Vertreter der drei Kreise in ihrem Probationstagsabschied auf eine deutliche Abwertung des Reichstalers auf einen vorinflationären Wert einigen. 90 Von großer Bedeutung war letztlich auch, dass das unter den katholischen Ständen des Reiches als Führungsmacht fest etablierte bayerische Herzogtum, das schon sehr bald zum Kurfürstentum aufsteigen berg vom 8./ 18. November 1622 vgl. J. C. H IRSCH , Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (Anm. 51), Bd. 4, S. 171-173. 86 Ein Beispiel für die Ersetzung eines alten Münzmeisters durch einen neuen durch den Ansbacher Markgraf Joachim Ernst vom 23.12.1622 ist ediert bei J. C. H IRSCH , Des Teutschen Reichs Münz-Archiv (Anm. 51), Bd. 4, S. 175f. 87 Der Kreisabschied ist in Auszügen ediert bei J. C. H IRSCH , Des Teutschen Reichs Münz- Archiv (Anm. 51), Bd. 4, S. 149-151. 88 Vgl. G. S CHÖTTLE , Die große deutsche Geldkrise (Anm. 82), hier S. 53f. 89 Der Probationstagsabschied der drei Kreise von Augsburg vom 10. April 1623 ist ediert bei J. G. VON L ORI , Sammlung des baierischen Münzrechts (Anm. 54), S. 343-348, Zitate 344. 90 Vgl. J. G. VON L ORI , Sammlung des baierischen Münzrechts (Anm. 54), S. 343f. <?page no="65"?> F A BIAN S C HULZE 66 sollte, als einer der Repräsentanten des Bayerischen Reichskreises zu den Unterzeichnern dieses bayerisch-fränkisch-schwäbischen Kreisabschieds gehörte und den Beschlüssen damit im Reich zusätzliche Beachtung verschaffen konnte. 91 Zudem wurden konkrete Maßnahmen bezüglich des gesamten in den drei Kreisen tätigen Münzpersonals beschlossen. Alle bei bayerischen, fränkischen oder schwäbischen Ständen in Diensten stehenden Münzmeister und Wardeine mussten auf einem schon im Juli 1623 wieder nach Augsburg berufenen weiteren Probationstag erscheinen und vor einem eigens dafür eingerichteten Prüfungskomitee aus den Generalwardeinen der drei Kreise die Kenntnis der Reichsmünzordnung und die meisterhafte Beherrschung ihres Handwerks beweisen. 92 Einige bestanden diese Examinierung nicht und wurden mit Berufsverboten belegt, andere mussten ihre Buchführung einer Überprüfung unterziehen lassen. Dies betraf auch bedeutende Stände, so etwa das Markgraftum Brandenburg-Ansbach, das sich daraufhin neues Münzpersonal suchen musste. 93 Zum Abschluss dieses »Münzmeistertribunals« wurden alle für qualifiziert und rechtschaffen befundenen Münzmeister von neuem auf die Reichsmünzordnung und die drei Reichskreise vereidigt. 94 Zur Vermeidung eines Wiederauflebens der Falschmünzerei im großen Stil beschlossen die drei Reichskreise noch eine Reihe weiterer Maßnahmen, die hier aber nicht im Detail erläutert werden müssen. 95 Tatsächliche konnte mit diesen Maßnahmen der Kipper- und Wipperzeit im süddeutschen Raum ein Ende bereitet werden. Gegen neue Versuche der Münzmanipulation, wie sie unter anderem sowohl Fürststift als auch Reichsstadt Kempten 1626 noch unternahmen, schritten die Reichskreise nun energisch ein und ließen die entsprechenden Münzen für ungültig erklären, Prägestätten schließen 91 Vgl. H ANS C HRISTIAN A LTMANN , Die Kipper- und Wipperinflation in Bayern (1620- 1623). Ein Beitrag zur Strukturanalyse des frühabsolutistischen Staates (Miscellanea Bavarica Monacensia 63), München 1976, S. 143f. 92 Zum Münzprobationstag der drei Kreise zu Augsburg vom 28.7.1623 vgl. J. G. VON L ORI , Sammlung des baierischen Münzrechts (Anm. 54), S. 352f. 93 Vgl. J. G. VON L ORI , Sammlung des baierischen Münzrechts (Anm. 54), S. 354, 356-359. 94 Vgl. J. G. VON L ORI , Sammlung des baierischen Münzrechts (Anm. 54), S. 353. 95 Auf dem Augsburger Probationstag vom April wurde unter anderem beschlossen, dass jeder Kreisstand, der künftig der Prägung von Kippermünzen überführt werden könne, umgehend vor dem Reichskammergericht auf Entzug seines Münzprivilegs verklagt werden sollte. Jeglicher Verdachtsfall müsse ohne Ansehen des Standes oder der Person den Probationstagen bzw. den Generalwardeinen der drei Kreise gemeldet werden, die dann eine entsprechende Untersuchung einzuleiten hatten; vgl. J. G. VON L ORI , Sammlung des baierischen Münzrechts (Anm. 54), S. 346. Vgl. ferner Vgl. F. S CHULZE , Die Rolle der oberdeutschen Reichskreise (Anm. 53), S. 111f. <?page no="66"?> D ER F R ÄNKIS C HE U ND DER S C H WÄBIS C HE R EIC HS KR EIS IN DER F RÜHEN N EU ZEIT 67 und initiierten die Verhaftung eines Münzmeisters. 96 Dem Schwäbischen Reichskreis gelang sogar eine gewisse Zentralisierung der schwäbischen Münzproduktion, indem er den Kemptener Fürstabt und kleinere schwäbische Stände dazu animierte, ihre Münzproduktion an eine offizielle Kreismünzstätte in Augsburg auszulagern. 97 Im Fränkischen Reichskreis fand man 1624 noch eine andere Lösung, um einer möglichen erneuten ›Kipperzeit‹ vorzubeugen: Dort einigten sich die vier größten Kreisstände Bamberg, Würzburg, Ansbach und Kulmbach-Bayreuth nach Verhandlungen auf die Gründung einer gemeinschaftlich betriebenen Münzprägestätte. Jedem der beteiligten Fürsten stand es zu, dort unter Aufsicht des Reichskreises die exakt gleiche Menge ausprägen zu lassen. 98 Der Beschluss wurde dann nicht nur umgehend anderen Reichskreisen und dem Kaiser übermittelt, 99 sondern auch auf symbolträchtigen neuen Münzen den Untertanen selbst bekannt gemacht. So zeigt ein Taler von 1625 die Antlitze der vier Fürsten mitsamt ihrer Wappen harmonisch vereint sowie eine römische Friedensgöttin mit der Umschrift: SIC PUBLICA COMMODA STABUNT: »So wird das Gemeinwohl bestehen bleiben«. 100 Zu diesem Zeitpunkt wusste freilich keiner der beteiligten fränkischen Stände, was noch alles auf Franken und Schwaben zukommen sollte, ehe der Friedensschluss von 1648 beiden Reichskreisen wieder eine längere Phase der Stabilität bescherte. 96 Vgl. den Münzprobationstagsabschied der drei Kreise zu Nürnberg vom 14. Oktober 1626, ediert bei J. G. von L ORI , Sammlung des baierischen Münzrechts (Anm. 54), S. 410- 412, hier 411. Zum Fall Kempten vgl. ferner H ARALD D ERSCHKA , Fundmünzen aus Kempten. Katalog und Auswertung der in Kempten (Allgäu) gefundenen Münzen und münzähnlichen Objekte aus dem Mittelalter und der Neuzeit (Allgäuer Forschungen zur Archäologie und Geschichte 2), Friedberg 2007, S. 79f. 97 Vgl. A DOLF H ORCHLER , Münzstätten der Kemptner Fürstäbte, in: Allgäuer Geschichtsfreund 4 (1891), S. 71-73. 98 Der gedruckte Rezess der entsprechenden Verhandlungen, die im fränkischen Beiersdorf stattfanden, findet sich unter anderem in einer Abschrift im HStADr, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9803/ 4: 10./ 20. Juli 1624, fol. 275r-276v. Dieser ›Fränkische Münzverein‹ von 1624 mit seiner Neuauflage von 1637 findet Erwähnung bei G ERHARD S CHÖN , Münz- und Geldgeschichte der Fürstentümer Ansbach und Bayreuth im 17. und 18. Jahrhundert, Diss., München 2008, S. 127-130. 99 Der Bischof von Bamberg teilte ihn in seiner Funktion als Direktor und Ausschreiber des Fränkischen Kreises unter anderem dem Obersächsischen Reichskreise mit; vgl. HStADr, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9803/ 4: Kommunikationsschreiben Bambergs an Kursachsen, fol. 272-274. 100 Ein Bild der Münze findet sich bei F RANZ D RESCHER , Die Münzen von Bamberg 1500-1802 (Dreschers Münzkataloge des Deutschen Reiches ab der Neuzeit von 1500- 1800 12), Bad Reichenhall 1979/ 80, S. 25. <?page no="67"?> F A BIAN S C HULZE 68 4. Fazit Wie zu erkennen ist, ähnelten sich der Fränkische und der Schwäbische Reichskreis in der Frühen Neuzeit in vielfacher Weise. Nicht nur gründeten beide Organisationen auf demselben verfassungsrechtlichen Fundament, das ihnen diverse Reichstagsbeschlüsse des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation vornehmlich im 16. Jahrhundert bereitet hatten. Auch institutionell und personell waren beide Reichskreise sehr vergleichbar, angefangen bei ihren konfessionell paritätisch besetzten Kreisausschreibeämtern, ihren ebenfalls von Ständen beiderlei Konfessionen beschickten Kreistagen bis hin zu einer im Vergleich zu anderen Reichskreisen auffallend häufigen Tagungsdichte. Ebenso hatten beide Kreise relativ viele Mitglieder - der Schwäbische mit seinen rund einhundert Kreisständen freilich noch einmal deutlich mehr als der Fränkische, der nur auf ein Viertel dieser Anzahl kam. Zudem wurden beide Reichskreise nicht von einem einzelnen, besonders mächtigen Kreisstand dominiert, ebenso nicht von einer Konfession. Vielmehr herrschte ein gewisses ›Gleichgewicht der Kräfte‹ in konfessioneller und politischmilitärischer Hinsicht. Auch bildeten beide Kreise - als einzige im ganzen Reich - zum Ende des 17. Jahrhunderts hin stehende Heere aus. Allerdings verstanden sich beide Reichskreise keineswegs als reine Militärbündnisse. Wie die dargelegten Beispiele aus dem Dreißigjährigen Krieg zeigen, dienten die beiden Kreisorganisationen den schwäbischen und fränkischen Ständen auch dazu, gemeinsame Verhandlungen etwa mit dem Kaiser führen zu können oder sich gemeinsam bei Friedensverhandlungen besser Gehör verschaffen zu können. Beide Reichskreise zeigten sich auch in der ›Kipper- und Wipperkrise‹ in der Anfangsphase des Dreißigjährigen Krieges handlungsfähig und konnten letztlich Herausforderungen begegnen, für die der Kaiser oder der Reichsverband als Ganzes keine Lösungen fanden. Beide Kreise erfüllten damit wesentliche Aufgaben, zu denen ihre Kreisstände alleine für sich nicht in der Lage waren. Somit übernahmen die Reichskreise gerade in Franken und Schwaben einen gewissen Teil jener Gesamtstaatlichkeit bzw. staatlichen Aufgaben, die auf territorialer und auf Reichsebene in der Frühen Neuzeit noch fehlte. Offenbar waren sich auch die Stände selbst durchaus bewusst, welchen Nutzen ihnen die Reichskreisverfassung bot. Denn anders ist schwer erklärbar, wie gut und lange manche Reichskreise sogar bei aller konfessionellen und machtpolitischen Konfrontation in der tiefsten Krisenzeit des Reiches, dem Dreißigjährigen Krieg, funktionierende Verfassungsorgane des Reiches blieben und wie eng ihre Kreisstände oftmals kooperierten. So verwundert es auch nicht, dass sowohl der Fränkische als auch der Schwäbische Reichskreis noch bis zum Ende des Reiches 1806 als funktionsfähige und aktive Institutionen überdauern konnten. <?page no="68"?> 69 A NDREAS F LURSCHÜTZ DA C RUZ Reichsritterschaft(en). Der immediate niedere Adel Frankens und Schwabens 1. Einleitung: Reichsritter in Franken und Schwaben Volker Press beschrieb vor fast vierzig Jahren »die scheinbar unendliche regionale Vielfalt« des Adels in Deutschland. 1 Die Situation der Niederadligen am Beginn der Neuzeit auf einen Nenner zu bringen, kann angesichts des breiten Spektrums ihrer Voraussetzungen tatsächlich kaum gelingen, zu unterschiedlich war die Lage der einzelnen Familien: Umfangreicher Besitz und prestigeträchtige fürstliche Dienstbeziehungen auf der einen Seite standen einer beschränkten Existenz der weniger wohlhabenden Ritter auf der anderen Seite gegenüber, auch innerhalb derselben Regionen. 2 Mit den beiden Regionen Schwaben und Franken, die in diesem Band im Mittelpunkt stehen, soll die Aufmerksamkeit in diesem Beitrag auf den reichsfreien Adel dieser Gebiete gelenkt werden, zählt er doch hier wie dort »[z]u den unbestreitbar prägenden Elementen der historischen Landschaft«. 3 Der niedere reichsfreie Adel, die Reichsritterschaft, ist ein seltsames Gebilde: In Schwaben, Franken, am Rhein und im unteren Elsass als den vormaligen Kerngebieten des Reiches gelang dem niederen Adel der Aufstieg zur Reichsunmittelbarkeit und er konnte sich dem Zugriff der Territorialfürsten bis zum Ende des Alten Reiches überwiegend erfolgreich entziehen, während er in den anderen Gebieten 1 V OLKER P RESS , Adel, Reich und Reformation, in: W OLFGANG J. M OMMSEN (Hg.), Stadtbürgertum und Adel in der Reformation. Studien zur Sozialgeschichte der Reformation in England und Deutschland (Veröff. des Deutschen Historischen Instituts London 5), Stuttgart 1979, S. 330-383, hier 330. 2 Vgl. C HRISTOPH B AUER , Reichsritterschaft in Franken, in: A NTON S CHINDLING (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650, Bd. 4: Mittleres Deutschland (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 52), Münster 1992, S. 182-213, hier 187; V OLKER P RESS , Reichsritterschaft, in: M EINRAD S CHAAB / H ANSMARTIN S CHWARZMAIER (Hg.), Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte, Bd. 2: Die Territorien im Alten Reich, Stuttgart 1995, S. 771-813, hier 789. 3 R OLF K IESSLING , Reichsritterschaft und Reformation in Schwaben - Auf dem Weg zu einer evangelischen Diaspora, in: K ONRAD A CKERMANN / A LOIS S CHMID (Hg.), Staat und Verwaltung in Bayern. FS für Wilhelm Volkert zum 75. Geburtstag (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 139), München 2003, S. 147-167, hier 147. <?page no="69"?> A NDR EA S F LUR S CHÜTZ DA C R UZ 70 wie in Kursachsen oder in Bayern in die Landsässigkeit gedrängt wurde. 4 Die Stellung der späteren Reichsritter war allerdings hinsichtlich der Frage von Landsässigkeit oder Reichsunmittelbarkeit noch bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts ambivalent bzw. immer wieder umstritten. 5 Stefan Birkle spricht daher für diese Zeit von einer »Zwischenform zwischen den beiden Möglichkeiten der Reichsstandschaft und der Landsässigkeit«. 6 Die Bedeutung der Reichsritter für Kaiser und Reich lag schon in ihrer bloßen Existenz. Sie waren ein wesentliches Hindernis zu einer modernen staatlichen Entwicklung der Territorien, die die Ritterherrschaften umgaben bzw. die von diesen durchsetzt wurden. Ohne die kaiserliche Klientel der mindermächtigen Stände (Reichsritter, -städte, etliche geistliche Herrschaften und eine Reihe kleinerer hochadliger Herrschaften) hätte sich das Reich leicht zu einem Staatenbund entwickeln können. 7 Die Reichsritterschaft entstand in Opposition zum fürstlichen Landesstaat, als der niedere Adel sich im Gefolge der Steuerforderungen König Ferdinands und Kaiser Karls V. von 1532 und vor allem 1542 zusammenschloss und eine ›Zwangseinung‹ bildete, die alle reichsunmittelbaren Niederadligen der Region verband: »Wer nicht zur Ritterschaft steuerte, war zweifellos landsässig.« 8 Der Schwäbische Bund und seine Untergliederungen in Rittergesellschaften hatten die Verhältnisse in Schwaben vorgeprägt. 9 Ähnliches lässt sich für die frän- 4 Vgl. V OLKER P RESS , »Korporative« oder individuelle Landesherrschaft der Reichsritter? , in: E RWIN R IEDENAUER (Hg.), Landeshoheit. Beiträge zur Entstehung, Ausformung und Typologie eines Verfassungselements des Römisch-Deutschen Reiches (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 16), München 1994, S. 93-112, hier 93f. 5 C. B AUER , Reichsritterschaft in Franken (Anm. 2), S. 188. 6 S TEFAN B IRKLE , Reichsritterschaft, Reformation und Konfessionalisierung in Oberschwaben (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 19), Epfendorf 2015, S. 16. 7 D IETER H ELLSTERN , Der Ritterkanton Neckar-Schwarzwald 1560-1805. Untersuchungen über die Korporationsverfassung, die Funktionen des Ritterkantons und die Mitgliedsfamilien (Veröff. des Stadtarchivs Tübingen 5), Tübingen 1971, S. 64. Zur Rolle der Reichsritter als Puffer zwischen Kaiser und Fürsten siehe auch A NDREAS F LURSCHÜTZ DA C RUZ , Die Bedeutung der Reichsritterschaft für Reformation und Gegenreformation in Franken im 16. und 17. Jahrhundert, in: O LGA W ECKENBROCK (Hg.), Ritterschaft und Reformation. Der niedere Adel im Mitteleuropa des 16. und 17. Jahrhunderts (Refo500 Academic Studies 48), Göttingen 2018, S. 217-244. 8 C. B AUER , Reichsritterschaft in Franken (Anm. 2), S. 185. Vgl. C ORD U LRICHS , Die Entstehung der fränkischen Reichsritterschaft: Entwicklungslinien von 1370 bis 1590, Köln u. a. 2016. 9 Die Diskontinuitäten zwischen spätmittelalterlichen Adelsbünden und Schwäbischem Bund betont H ORST C ARL , Der Schwäbische Bund 1488-1534: Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 24), Leinfelden-Echterdingen 2000. Ein kurzer Überblick zu den spätmittelalterlichen Adelsbünden in Schwaben findet sich bei D IETMAR S CHIERSNER , Schwäbische <?page no="70"?> R EIC HS R ITTER S C HA F T ( EN ) . D ER IMMEDIATE NIEDERE A DE L F R ANKENS U ND S C HW A BENS 71 kischen Ritterbünde beobachten. Am Rhein als dem dritten großen Gebiet nach Schwaben und Franken bildete sich die reichsritterschaftliche Korporation nach dem Vorbild der beiden hier betrachteten Regionen Schwaben und Franken heraus, nämlich durch die Fixierung von drei sogenannten Orten bzw. Kantonen. 10 Man kann somit für diese geographischen Räume, in denen sich die Adelsherrschaften der Reichsritter konzentrierten, zurecht den etwas sperrigen Begriff der ›Reichsritterschaftslandschaften‹ verwenden. 11 Sylvia Schraut hat in dem groß angelegten und auf Oberschwaben bezogenen Sammelband ›Adel im Wandel‹ von 2006 den Versuch, die schwäbischen Reichsritter sowie die Gesamtheit ihrer sozialen Verhältnisse und Handlungsspielräume zu beschreiben, angesichts des derzeitigen Forschungsstands als zum Scheitern verurteilt beschrieben. Schon die einigermaßen gesicherte Erfassung des betroffenen Personenkreises falle schwer. 12 In den Mittelpunkt ihrer Analyse stellt Schraut, in konzeptueller Anlehnung an ihre Dissertation, den zweifellos wichtigen Zugang der Reichsritter zu den Stiften, ihre Stellung auf dem Heiratsmarkt und ihr Verhältnis zum Kaiserhaus als zentrale reichsritterliche Kriterien. 13 Ein Jahrzehnt später liegt sowohl für Franken als auch für Schwaben eine ganze Reihe neuer Studien vor. An einem befriedigenden ›Ziel‹, wenn man von einem solchen sprechen möchte, ist die Forschung indes lange noch nicht angekommen. In diesem Beitrag soll dennoch der Versuch unternommen werden, die beiden Landschaften Schwaben und Franken, die unter anderem eben auch ›Reichsritterschaftslandschaften‹ waren, im Hinblick auf den reichsfreien Adel, der sie auf vielfältige Weise prägte, zu vergleichen und die Gelegenheit genutzt werden, andere, nämlich grundlegende Kriterien bzw. Vergleichsparameter anzulegen. Städte- und Adelsbünde im 15. Jahrhundert, in: Jahrbuch des historischen Vereins Dillingen a. d. Donau 113 (2012), S. 53-70, hier 64-70. 10 V. P RESS , Landesherrschaft (Anm. 4), S. 98. 11 Vgl. H ELMUT N EUMAIER , »Daß wir kein anderes Haupt oder von Gott eingesetzte zeitliche Obrigkeit haben«. Ort Odenwald der fränkischen Reichsritterschaft von den Anfängen bis zum Dreißigjährigen Krieg (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 161), Stuttgart 2005, S. 3. 12 Vgl. S YLVIA S CHRAUT , Die feinen Unterschiede. Die soziale Stellung der schwäbischen Reichsritter im Gefüge des Reichsadels, in: M ARK H ENGERER / E LMAR L. K UHN (Hg.), Adel im Wandel. Oberschwaben von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Bd. 2, Ostfildern 2006, S. 545-560, hier 548f. 13 S YLVIA S CHRAUT , Das Haus Schönborn. Eine Familienbiographie. Katholischer Reichsadel 1640-1840, Paderborn u. a. 2005. <?page no="71"?> A NDR EA S F LUR S CHÜTZ DA C R UZ 72 2. Die fränkische und die schwäbische Reichsritterschaft im Vergleich 2.1 Entstehung und Verfassung Die frühesten schwäbischen Rittergesellschaften waren die sogenannte Gesellschaft mit Wölfen (1366) und die Gesellschaft mit dem Spieß (1367). 14 In Form von Turniergesellschaften versuchte sich der alte Adel nach dem Vorbild geistlicher Ritterorden von sozialen Aufsteigern abzugrenzen: Nur wer von Geburt her und durch genealogischen Nachweis turnierfähig war, wurde zum Turnier zugelassen. 15 1406 wurde die Gesellschaft mit St. Jörgenschild gegründet, durch die der schwäbische Adel beachtliche Stabilität erlangte. Die Vereinigung setzte sich gegen die Ansprüche der Fürsten zur Wehr und verlieh den Adligen in den vier Orten Donau, Hegau-Allgäu-Bodensee, Neckar-Schwarzwald und Kocher eine neue Organisationsstruktur, die der späteren Gliederung der Reichsritterschaft den Weg ebnete. Dies tat auch der Schwäbische Bund: Er bereitete die quasi-territoriale Organisation des niederen Adels vor und verlieh damit der schwäbischen Ritterschaft einen Vorbildcharakter für den Adel in anderen Teilen des Reiches. Die Ritterkantone gehen also im Prinzip auf eine geographische Aufteilung der schwäbischen Adligen zurück, wie sie schon in der Gesellschaft mit St. Jörgenschild und ihren Teilgesellschaften bestanden hatte. 16 1560 wurde durch die Ausschüsse der fünf schwäbischen Ritterviertel eine gemeinsame Ritterordnung angenommen. 17 Es wurde ein Ritterkreisdirektorium eingerichtet, das das Exekutivorgan des schwäbischen Ritterkreises war. Hier zeigt sich die Prädominanz des Kantons Donau, dessen Ritter dem Haus Österreich am nächsten standen, 18 gegenüber den anderen schwäbischen Kantonen: Von den Anfängen der reichsritterschaftlichen Organisation bis zum Ende des Alten Reiches wurde das Ritterkreisdirektorium vom Kanton Donau versehen, was besonders aus organisatorischer Sicht sehr effektiv war. 19 Das permanente Direktorium dieses schwäbischen Kantons und seine Nähe zum Kaiser sorgten letztlich für »eine kräftige Stabilisierung« des schwäbischen Ritterkreises, der als der gefestigtste 14 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 776. 15 Vgl. K ARL J. S VOBODA , Aus der Verfassung des Kantons Kraichgau der unmittelbaren freien Reichsritterschaft in Schwaben unter besonderer Berücksichtigung des territorialen Elements, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 116 (1968), S. 253-289, hier 255. 16 Vgl. T HOMAS S CHULZ , Der Kanton Kocher der Schwäbischen Reichsritterschaft 1542- 1805. Entstehung, Geschichte, Verfassung und Mitgliederstruktur eines korporativen Adelsverbandes im System des alten Reiches (Esslinger Studien 7), Sigmaringen 1986, S. 56. 17 K. S VOBODA , Verfassung (Anm. 15), S. 266; T. S CHULZ , Kanton Kocher (Anm. 16), S. 35. 18 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 791. 19 T. S CHULZ , Kanton Kocher (Anm. 16), S. 61. <?page no="72"?> R EIC HS R ITTER S C HA F T ( EN ) . D ER IMMEDIATE NIEDERE A DE L F R ANKENS U ND S C HW A BENS 73 der gesamten Reichsritterschaft gelten kann. 20 Press interpretierte das enge Verhältnis des Ritteradels zum Kaiser als »eine Spezialität der Schwäbischen Reichsritterschaft«, woraus eine Vermittlerrolle der Schwaben für den gesamten reichsritterschaftlichen Verband erwachsen sei. 21 Schon in der Ritterordnung von 1560 zeigt sich die Vorreiterrolle bzw. der Modell-, ja »Vorbildcharakter« Schwabens. Die fränkische Reichsritterschaft erhielt erst 1590, die rheinische sogar erst 1651 eine Ritterordnung. 22 »[I]n Franken gingen wie stets die Uhren offensichtlich langsamer.« 23 Auch in Franken legten Rittereinungen wie die ›Gesellschaft mit dem Greifen‹ das Fundament für die nachmalige Reichsritterschaft. Ihnen fehlte allerdings die Stabilität des schwäbischen St.-Georgen-Schilds ebenso wie später der Rückhalt des Schwäbischen Bundes. 24 Press konstatiert für Franken »relativ archaische Zustände« mit adligen Fehden und Raubunternehmungen, die stärker als in Schwaben mit seiner Landfriedensordnung ausgeprägt waren. 25 Auch für die fränkische Ritterschaft erwiesen sich aber die Reichssteuern von 1532 und vor allem von 1542 schließlich als ausschlaggebender Schub zu einer quasi-territorialen Organisation. Dass die Verhältnisse nicht so klar waren wie in Schwaben, wirkte sich indes retardierend aus. 26 Mit der Gründung von Ritterkreisen schuf die Reichsritterschaft eine gemeinsame Interessenvertretung. Es handelte sich dabei um Parallelstrukturen zu den Reichskreisen, mit denen die adligen Organisationseinheiten keinesfalls identisch waren. Der fränkische Ritterkreis bestand aus (1) dem Ritterkanton Altmühl für das Gebiet entlang der Altmühl mit Sitz in Wilhermsdorf, (2) dem Ritterkanton Baunach für das Gebiet um Baunach mit dortigem Sitz, (3) dem Ritterkanton Gebürg für das Fichtelgebirge und die Fränkische Schweiz mit Sitz in Bamberg, (4) dem Ritterkanton Odenwald mit Sitz in Kochendorf (Bad Friedrichshall), (5) dem Ritterkanton Rhön-Werra mit Sitz in Schweinfurt sowie (6) dem Ritterkanton Steigerwald mit Sitz in Erlangen. Der schwäbische Ritterkreis 27 bestand aus (1) dem Kanton Donau mit Sitz in Ehingen (Direktionalkanton), (2) dem Kanton Hegau- Allgäu-Bodensee mit Sitz in Radolfzell und in Wangen im Allgäu, (3) dem Kanton Neckar-Schwarzwald-Ortenau mit Sitz in Tübingen, (4) dem Kanton Kocher mit 20 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 798. 21 Vgl. V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 803. 22 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 794. 23 V. P RESS , Landesherrschaft (Anm. 4), S. 107. 24 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 812. 25 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 812. 26 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 812. 27 W ILFRIED B EUTTER , Schwäbischer Ritterkreis, in: G ERHARD T ADDEY (Hg.), Lexikon der Deutschen Geschichte. Personen - Ereignisse - Institutionen. Von der Zeitwende bis zum Ausgang des 2. Weltkrieges, Stuttgart 1983, S. 1128. <?page no="73"?> A NDR EA S F LUR S CHÜTZ DA C R UZ 74 Sitz in Esslingen und (5) dem Kanton Kraichgau mit Sitz in Heilbronn: 1545 wurde der schwäbische Ritterkreis um die Kraichgauritter erweitert, die zahlreiche Berührungspunkte mit den fränkischen Odenwaldrittern aufzuweisen hatten, aber auch mit der rheinischen Ritterschaft, so dass sie als das eigentliche Herz des gesamten reichsadligen Verbandes bezeichnet werden können. 28 Im Jahr 1577 folgte der Zusammenschluss der Schwaben mit dem fränkischen und dem rheinischen Ritterkreis zur freien Reichsritterschaft. Im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts wurde ein Generaldirektorium für alle drei Ritterkreise eingerichtet, das aber nur selten zusammentrat. Die ritterschaftliche Organisation wurde von unten nach oben sozusagen immer lockerer. 29 Überhaupt »handelte es sich um eine relativ kleine, auf dem Engagement nur relativ weniger Mitglieder beruhende Struktur.« 30 »Die Korporationen krankten von 1542 bis 1806 stets am Individualismus ihrer Mitglieder, die traditionalistisch dachten und sich mehr in den eigenen Familienverband eingebunden fühlten als in den Ritterort.« 31 Die fränkischen und schwäbischen Reichsritter des 16. und 17. Jahrhunderts waren eben in erster Linie Grundherren, die von den Problemen der Landwirtschaft und Viehzucht weit mehr betroffen waren als von der Verfasstheit des Reiches und seiner Glieder. 32 Der Begriff der Reichsritterschaft vermittelt den Eindruck eines statischen Gebildes, dem eine beständige Gruppe an Mitgliedern bzw. Familien angehörte. Bechtolsheim hat indes für den fränkischen Kanton Steigerwald bereits vor Jahrzehnten angedeutet, was in der Forschung der letzten Jahre an ausgewählten Beispielen noch präzisiert wurde: Stellt man den Beginn des 17. Jahrhunderts den letzten Jahren des Heiligen Römischen Reiches und der Reichsritterschaft gegenüber, so zeigt die familiäre Zusammensetzung des Kantons im Vergleich eine stark veränderte Zusammensetzung und man erkennt »den tiefgreifenden Verlust alteingesessener steigerwaldischer Familien«. 33 Halten konnten sich seit Beginn des 17. Jahrhunderts nur wenige Familien wie die Bibra, Crailsheim, Egloffstein, Erthal, Fuchs von Bimbach (und Dornheim), Künsberg, Münster, Pölnitz und Seckendorff. Der »Aderlaß an alteingesessenen Familien« bot zahlreichen neuen, aus der benachbarten Ritterschaft und über deren Bereich hinaus zuziehenden ›ausländi- 28 Vgl. V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 793. 29 V. P RESS , Landesherrschaft (Anm. 4), S. 105. 30 V. P RESS , Landesherrschaft (Anm. 4), S. 107. 31 V. P RESS , Landesherrschaft (Anm. 4), S. 106. 32 Vgl. V. P RESS , Landesherrschaft (Anm. 4), S. 106. 33 H ARTMANN F RHR . VON M AUCHENHEIM GEN . B ECHTOLSHEIM , Des Heiligen Römischen Reichs unmittelbar-freie Ritterschaft zu Franken Ort Steigerwald im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte des reichsunmittelbaren Adels (Veröff. der Gesellschaft für Fränkische Geschichte IX 31), Würzburg 1972, S. 12. <?page no="74"?> R EIC HS R ITTER S C HA F T ( EN ) . D ER IMMEDIATE NIEDERE A DE L F R ANKENS U ND S C HW A BENS 75 schen‹ Familien einen Anreiz, sich im entstandenen Vakuum ansässig zu machen. 34 Diese Verschiebung lässt sich auch für einige schwäbische Kantone nachvollziehen. Was den Kanton Steigerwald angeht, so mag die geschilderte Entwicklung auch daran gelegen haben, dass er als »geographisches Herzstück der fränkischen Ritterschaft« bei gemeinsamen ›Grenzen‹ mit allen anderen fünf Kantonen für viele ritterschaftliche Familien einen starken Anreiz zur Begüterung in diesem Gebiet darstellte. 35 2.2 Besitz- und Lehensverhältnisse Zunächst einmal waren die Reichsritter, schon ihrem Namen nach, mit dem Kaiser, dem Reichsoberhaupt, verquickt. Volker Press spricht von einer »merkwürdige[n] Symbiose zwischen dem Reichsoberhaupt und den Reichsrittern«, 36 gingen doch die Interessen des Wiener Hofes dahin, »mit den Rittern ein Gegengewicht und einen Hebel gegen die Landesfürsten in die Hand zu bekommen«. 37 Hiermit sind diejenigen Akteure identifiziert, die für die schwäbischen und fränkischen Reichsritter meist unmittelbar benachbart, daher auch ökonomisch gesehen wichtiger waren und sich zeitweise weitaus bedrohlicher gebärdeten als der Kaiser, nämlich die Landesfürsten. Sie waren oft gleichzeitig Dienst- und Lehensherren der Ritter, die weit mehr von ihren fürstlichen als von ihren Reichslehen abhängig waren, und dies sowohl in Schwaben als auch in Franken. Im Falle des vorderösterreichisch geprägten Teiles Schwabens gestaltete sich die Lage freilich besonders komplex bis geradezu paradox, ist dort doch prinzipiell zwischen dem Verhältnis der Ritter zum Kaiser als Reichsoberhaupt einerseits und dem Verhältnis der Ritter zum Haus Habsburg als Landesherrn andererseits zu unterscheiden: »Vorderösterreich präsentierte sich in einer merkwürdigen Doppelrolle: Während der Kaiser als Protektor der Reichsritterschaft auftrat, vertraten seine vorderösterreichischen Beamten aufgrund der oberschwäbischen Landvogtei seine territorialherrschaftlichen Ansprüche, was immer wieder in Mediatisierungsversuche mündete«. 38 So blieb »der katholische Kaiser […] für die meisten Adels- 34 H. B ECHTOLSHEIM , Steigerwald (Anm. 33), S. 14. Vgl. A NDREAS F LURSCHÜTZ DA C RUZ , Zwischen Füchsen und Wölfen. Konfession, Klientel und Konflikte in der fränkischen Reichsritterschaft nach dem Westfälischen Frieden (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven 29), Konstanz-München 2014. 35 H. B ECHTOLSHEIM , Steigerwald (Anm. 33), S. 17. 36 V. P RESS , Landesherrschaft (Anm. 4), S. 102. 37 V. P RESS , Landesherrschaft (Anm. 4), S. 103. 38 Vgl. V. P RESS , Landesherrschaft (Anm. 4), S. 100f.; R UDOLF E NDRES , Oberschwäbischer Adel vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Der Kampf ums »Oben bleiben«, in: M. H ENGE - RER / E. K UHN (Hg.), Adel im Wandel (Anm. 12), S. 31-44, hier 31. <?page no="75"?> A NDR EA S F LUR S CHÜTZ DA C R UZ 76 geschlechter der maßgebliche Bezugspunkt, der zugleich Unabhängigkeit von mediaten Gewalten - auch von österreichischer Landesherrschaft! - garantierte«. 39 Doch auch von anderer Seite drohte dem schwäbischen Adel eine Beschneidung seiner Privilegien: Württemberg etwa vertrat zeitweilig die Ansicht, dass der mit dem Herzogtum vor 1519 verbundene Teil der schwäbischen Ritterschaft herzogliche Landsassen gewesen seien, welche die Vertreibung Ulrichs von Württemberg von 1519 bis 1534 dazu benutzt hätten, sich von der landesfürstlichen Obrigkeit zu eximieren und sich 1560 der schwäbischen Reichsritterschaft anzuschließen. 40 Thomas Schulz hat in seiner Arbeit zum Kanton Kocher für unterschiedliche Jahrzehnte und Jahrhunderte, sowohl für Schwaben als auch für Franken, eine ganze Reihe förmlicher reichsständischer Bündnisse wider die Reichsritterschaft nachgewiesen: In den frühen 1560er Jahren förderte Herzog Christoph von Württemberg eine adelsfeindliche Koalition der süddeutschen Fürsten gegen die Annahme einer Ritterordnung durch die schwäbischen Ritter (Maulbronner Konferenz 1564). 1630 erneuerten die Fürstentümer Bamberg, Würzburg, Brandenburg-Ansbach, Brandenburg-Kulmbach, Württemberg und der Deutsche Orden eine bereits 1616 geschlossene Vereinbarung, die sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt hatte, sich gegen ritterschaftliche Ansprüche zur Wehr zu setzen, und 1713 schlossen sich der Pfälzer Kurfürst Johann Wilhelm, Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg, Landgraf Ernst Ludwig von Hessen, die Markgrafen Georg Wilhelm von Brandenburg-Kulmbach und Wilhelm Friedrich von Brandenburg- Ansbach sowie der Würzburger Bischof Johann Philipp von Greiffenklau in ausdrücklicher Erinnerung an den Maulbronner Konvent von 1564 sowie an die Bündnisse von 1616 und 1630 in einer konfessionsübergreifenden fürstlichen Allianz gegen die Reichsritterschaft zusammen. 41 Als einender Faktor für schwäbische und fränkische Ritter kann somit auch gesehen werden, dass man sich mit den Reichsfürsten gemeinsamen Widersachern gegenübersah. Doch auch die Allianz der Reichsritter in Schwaben und Franken, gestärkt durch gemeinsame Feinde, war eine fragile Verbindung, die längst nicht immer bestanden hatte, waren doch bereits 1523, als der Schwäbische Bund gegen die Franken zog, ein guter Teil der Angreifer Angehörige der schwäbischen Ritterschaft gewesen. 42 Die skizzierten Oppositionen stellen zudem nur eine Seite des Verhältnisses zwischen Fürsten und Rittern dar: Der bedeutendste und mächtigste 39 D IETMAR S CHIERSNER , Katholische Konfessionalisierung in den habsburgischen Vorlanden: Bedingungen, Entwicklungen, Akteure, in: D ERS ./ A NDREAS L INK / B ARBARA R AJ - KAY / W OLFGANG S CHEFFKNECHT (Hg.), Augsburg, Schwaben und der Rest der Welt. Neue Beiträge zur Landes- und Regionalgeschichte. FS für Rolf Kießling zum 70. Geburtstag, Augsburg 2011, S. 193-219, hier 208. 40 Vgl. D. H ELLSTERN , Neckar-Schwarzwald (Anm. 7), S. 21. 41 Vgl. T. S CHULZ , Kanton Kocher (Anm. 16), S. 121f. 42 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 787. <?page no="76"?> R EIC HS R ITTER S C HA F T ( EN ) . D ER IMMEDIATE NIEDERE A DE L F R ANKENS U ND S C HW A BENS 77 Reichsstand in der unmittelbaren Nachbarschaft des Kantons Kocher, um noch einmal auf das von Thomas Schulz untersuchte Gebiet zurückzukommen, war der Herzog von Württemberg. Die Herrschaften der meisten kocherischen Ritter lagen inmitten seines Territoriums, und viele Kantonsmitglieder waren Lehensleute des Herzogs oder dem Stuttgarter Hof durch Dienstverhältnisse verbunden. Die Höfe stellten den eigentlichen Mittelpunkt des Lehensverbandes sowie eine zentrale Kommunikationsplattform dar. 43 Viele Adlige, ja die meisten von ihnen sahen sich genötigt, ihre Einkünfte durch ihre Dienste am Fürstenhof aufzubessern. 44 Die Zugehörigkeit zur Klientel eines Fürsten gründete auf drei verschiedenen Faktoren: auf Nachbarschaft, Lehensbindungen und Dienstverhältnissen. 45 Die Vasallität der Adligen bestimmte in hohem Maße ihre politischen Bindungen. 46 Aber auch diese Beziehung war auf Gegenseitigkeit angelegt, denn »ohne den Adel vermochte das Instrument des Hofes nicht zu funktionieren«. 47 Zudem bestanden oft verschiedene Bindungen parallel. Neben der Pluralität ihrer rechtlichen Bezogenheiten und wirtschaftlichen Abhängigkeiten durch Mehrfachvasallitäten und Dienstverhältnisse hatte in Franken die Rivalität der geistlichen und weltlichen Landesherren den Ritteradligen die Durchsetzung einer unabhängigen und starken Stellung ermöglicht. Laut Press entstand hier, wo unterschiedliche Lehensbeziehungen gegeneinander ausgespielt wurden, eine »Zone des schlimmsten Gegensatzes zwischen Rittern und Fürsten«. 48 Der Einfluss der bayerischen Herzöge und Kurfürsten auf den südwestdeutschen Adel, teils durch Lehensbeziehungen, teils durch die Attraktivität des Münchner Hofes, harrt noch seiner ausführlichen Erforschung. 49 Neben dem Kaiser und Württemberg spielten aber gerade für Schwaben, durch Lehensverbindungen und Ämtervergabe an die Mitglieder der Ritterschaft, neben den bayerischen auch die pfälzischen Wittelsbacher zeitweise eine wichtige Rolle. Kurt Andermann stellt, zumindest für das späte 15. Jahrhundert, »die offenbar unwiderstehliche Attraktivität 43 Vgl. V. P RESS , Landesherrschaft (Anm. 4), S. 103f. 44 Vgl. C. B AUER , Reichsritterschaft in Franken (Anm. 2), S. 188. 45 C. B AUER , Reichsritterschaft in Franken (Anm. 2), S. 193. 46 V. P RESS , Adel (Anm. 1), S. 331. 47 V. P RESS , Adel (Anm. 1), S. 335. 48 C. B AUER , Reichsritterschaft in Franken (Anm. 2), S. 184. 49 V. P RESS , Adel (Anm. 1), S. 355, Anm. 84. Siehe A NDREAS F LURSCHÜTZ DA C RUZ , Der Verkauf der reichsritterlichen Ganerbenburg Rothenberg an Bayern 1661. Johann II. Wolf von Wolfsthal als Doppelagent zwischen Kurfürsten und Standesgenossen, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 100 (2013), S. 271-296; D ERS ., Der Wolf im Schafspelz. Möglichkeiten fürstlicher Einflussnahme auf die Korporationen des fränkischen Adels in der Frühen Neuzeit, in: W OLFGANG W ÜST (Hg.), Adelslandschaften. Korporationen, Kommunikation und Konsens in Mittelalter, Früher Neuzeit und Moderne, Berlin 2018, S. 127-143. <?page no="77"?> A NDR EA S F LUR S CHÜTZ DA C R UZ 78 des Heidelberger Hofs« fest, die sich sogar in einer über bereits bestehende Lehens- und Dienstverhältnisse bestimmter schwäbischer Ritterfamilien wie die Kraichgauer Adligen von Gemmingen, von Helmstatt, von Neipperg hinausgehenden, höchst riskanten Intensivierung ihrer Bindungen an die Pfalz äußerte. 50 Die Niederlage im Landshuter Krieg 1504/ 05 hatte die pfälzische Seite fürs erste in ihre Schranken gewiesen, nach der Reformation spielten zunehmend auch konfessionelle Belange eine Rolle: So distanzierten sich die lutherischen Kraichgauer Ritter seit 1559 vom Heidelberger Hof, an dem der Calvinismus Einzug gehalten hatte. 51 Die Integration in fürstliche Klientelsysteme hatte auf das konfessionelle Verhalten der Ritter einen ganz verschiedenen Effekt: Die Kantone Donau und Hegau blieben, unter habsburgischem Einfluss, fast geschlossen bei der katholischen Kirche, die Ritter im Umfeld der fränkischen geistlichen Fürstentümer schlossen sich indes, in Opposition zu ihren geistlichen Lehens- und Dienstherren, mehrheitlich der Reformation an. 52 Die als ungerecht empfundene Verteilung der Domkapitelspfründen im Würzburger Stiftsadel provozierte eine breite Opposition der Mehrheit seiner Angehörigen, die ihrem Anschluss an die Reformation zweifelsohne förderlich war. 53 2.3 Konfessionelle Entscheidungen und ihre Folgen Die Mitglieder der Reichsritterschaft leisteten zum Erfolg der Reformation einen wesentlichen Beitrag. Sie unterstützten nicht nur Luther, sondern gewährten auch seinen Anhängern Zuflucht und errichteten evangelische Kirchenwesen, die sie gegenüber den Rekatholisierungsversuchen der katholischen Fürsten meist erfolgreich verteidigten. Evangelische Untertanen liefen aus katholischen Gebieten zum Gottesdienst in ritterschaftliche Orte aus und fanden dort als Glaubensflüchtlinge Aufnahme, wenn sie ihre angestammte Heimat aufgrund der Konfession verlassen mussten. 54 Mit ihrem öffentlichen Engagement taten sich einzelne Ritter wie Ulrich von Hutten (1488-1523) und Sylvester von Schaumberg († 1534) besonders hervor. 55 Nach der Motivation der Ritter für diese Parteinahme - ob Gewissens- 50 K URT A NDERMANN , Unterwerfungsstrategien der Kurpfalz gegenüber dem Ritteradel um die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: J ENS K LINGNER / B ENJAMIN M ÜSEGADES (Hg.), (Un)Gleiche Kurfürsten? Die Pfalzgrafen bei Rhein und die Herzöge von Sachsen im späten Mittelalter (1356-1547) (Heidelberger Veröff. zur Landesgeschichte und Landeskunde 19), S. 195-205, hier 200-202. 51 K. A NDERMANN , Unterwerfungsstrategien (Anm. 50), S. 203f. 52 Vgl. C. B AUER , Reichsritterschaft in Franken (Anm. 2), S. 193. 53 V. P RESS , Adel (Anm. 1), S. 357. 54 Vgl. C. B AUER , Reichsritterschaft in Franken (Anm. 2), S. 200. 55 Vgl. C. B AUER , Reichsritterschaft in Franken (Anm. 2), S. 195f.; vgl. V. P RESS , Adel (Anm. 1), S. 345. <?page no="78"?> R EIC HS R ITTER S C HA F T ( EN ) . D ER IMMEDIATE NIEDERE A DE L F R ANKENS U ND S C HW A BENS 79 entscheidungen oder »Vehikel zur Entscheidung seit langem ungelöster Machtfragen« - soll an dieser Stelle nicht gefragt werden. 56 Das reichsritterliche Engagement für die evangelische Sache ist aber, auch ohne die Frage nach den damit verbundenen Ambitionen zu stellen, nur die eine Seite der Medaille: Die Forschungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass sich die Reichsritterschaft nach dem Augsburger Religionsfrieden besonders in Franken, dem nördlichen Schwaben und dem Oberrhein in großen Teilen der neuen Lehre zuwandte, während sie in den oberschwäbischen und niederrheinischen Gebieten der neuen Lehre ablehnend gegenüberstand und bei der Alten Kirche verharrte. 57 Wie kam es dazu? Volker Press spricht im Reich von verschiedenen »Zonen adliger Haltung zur Reformation«: Zu ihnen zählen Territorien, in denen sich der Adel und die Fürsten für die Reformation entschieden (Nord- und Mitteldeutschland), dann aber auch Hoch- und Erzstifte, in denen es häufig zu Spannungen zwischen Adel und Bischof kam, und schließlich die Reichsritterschaft, in der die Höfe der Lehensherren den Ton angaben. So optierte der oberschwäbische Adel unter dem Einfluss der entscheidenden katholischen, nämlich habsburgischen und bayerischwittelsbachischen Bezugsgrößen in Prag, Wien, Innsbruck sowie München für die Alte Kirche. Daneben übten vor allem die Höfe in Heidelberg, Stuttgart und Ansbach relativ starken proreformatorischen Einfluss aus, während von den fränkischen Hochstiften Bamberg und besonders von Würzburg, aber auch von den für Schwaben tonangebenden Stiften Augsburg, Konstanz oder Basel sowie vom Fürststift Kempten und der Fürstpropstei Ellwangen altkirchliche Impulse ausgingen. 58 In Schwaben fand die Reformation v. a. im Kraichgau ihre Anhänger, was sich in der engagierten Rolle einzelner kraichgauischer Ritter wie Franz von Sickingen, Dietrich von Gemmingen, Wilhelm von Massenbach oder Peter von Mentzingen zeigt. Der Übertritt schwäbischer Reichsritter zur Reformation ist allerdings bei 56 Siehe dazu exemplarisch K URT A NDERMANN , Ritterschaft und Konfession - Beobachtungen zu einem alten Thema, in: D ERS ./ S ÖNKE L ORENZ (Hg.), Zwischen Stagnation und Innovation. Landsässiger Adel und Reichsritterschaft im 17. und 18. Jahrhundert (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 56), Ostfildern 2005, S. 93-104, Zitat 98. Speziell für die schwäbischen Niederadligen D IETMAR S CHIERSNER , Semper fidelis? Konfessionelle Spielräume und Selbstkonzepte im südwestdeutschen Adel der Frühen Neuzeit, in: R ONALD G. A SCH / V ÁCLAV B ŽEK / V OLKER T RUGENBERGER (Hg.), Adel in Südwestdeutschland und Böhmen 1450-1850 (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 191), Stuttgart 2013, S. 95-126. 57 Vgl. D IETER W UNDER , Konfessionelle Profile adliger Geschlechter? Die mittelrheinische Reichsritterschaft in den Reformationen des 16. Jahrhunderts, in: Nassauische Annalen 128 (2017), S. 97-146, hier 97. 58 Vgl. V. P RESS , Adel (Anm. 1), S. 381f.; D. S CHIERSNER , Spielräume (Anm. 56), S. 98. <?page no="79"?> A NDR EA S F LUR S CHÜTZ DA C R UZ 80 weitem nicht so häufig zu beobachten wie in Franken, wo die Ritter schon früh ihre Affinität zur Reformation demonstriert hatten. 59 Die Masse des schwäbischen Adels verhielt sich eher distanziert - die nahe an Österreich gelegenen Orte Donau und Hegau-Allgäu-Bodensee blieben entschlossen katholisch. Der südwestdeutsche Adel gilt in der Forschung daher auch als Hochburg des alten Glaubens. 60 Unentschieden zeigten sich Neckar-Schwarzwald sowie Kocher; 61 der Einfluss des seit 1534 evangelischen Württemberg wirkte sich hier deutlich aus und bildete ein »Gegengewicht« zu Habsburg; allein der Kraichgau wurde »im Windschatten« von Kurpfalz und Württemberg fast vollständig evangelisch. 62 Rolf Kießling hat in einem Aufsatz von 2003 gezeigt (und Stefan Birkle hat diesen Aspekt in seiner Dissertation von 2015 noch weiter herausgearbeitet 63 ), dass die »expansiven Tendenzen der Reformation in Oberschwaben […] im wesentlichen von den Reichsstädten getragen wurden«. 64 Durch Patrizier etwa aus Augsburg, wie die Rehlinger, Vöhlin, Stetten, Geizkofler, die in die Ritterschaft aufstiegen, aber auch durch Reichsritter qua Geburt wie den als Stadthauptmann in reichsstädtisch Augsburger Diensten stehenden Sebastian Schertlin von Burtenbach, dessen gleichnamige Herrschaft eine prominente und langlebige evangelische Enklave im katholischen Hochstiftsgebiet darstellte, 65 erfolgte der Export der Reformation aus den reichsstädtischen Zentren der Reformation auf die adligen Besitzungen. Für die ›neuen‹ Ritter spielte die Reichskirche und die in ihr möglichen Karrieren (noch) nicht die Rolle wie für den alteingesessenen und darin bereits jahrhundertelang verwurzelten Adel. Durch ihre Initiativen entstanden »konfessionelle Inseln einer oberschwäbischen Diaspora«. 66 Die schwäbische Ritterschaft hatte sich niemals gescheut, prominente gesellschaftliche Aufsteiger in ihre Reihen aufzunehmen, die ihren Einfluss zu Gunsten der Korporation geltend machen konnten. 67 Aus Patriziern wurden so reformatorisch tätige Landadlige. Als 59 R. K IESSLING , Reichsritterschaft und Reformation (Anm. 3), S. 148. 60 V. P RESS , Adel (Anm. 1), S. 376; konträr dazu D. S CHIERSNER , Spielräume (Anm. 56). 61 T. S CHULZ , Kanton Kocher (Anm. 16), S. 184. 62 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 799. 63 S. B IRKLE , Reichsritterschaft (Anm. 6). 64 R. K IESSLING , Reichsritterschaft und Reformation (Anm. 3), S. 152. 65 Zu ihm zuletzt C HRISTOF P AULUS , Sebastian Schertlin im Schmalkaldischen Krieg, in: ZBLG 67 (2004) S. 47-84. 66 R. K IESSLING , Reichsritterschaft und Reformation (Anm. 3), S. 165. Zu den Reichsstädten als »intellektuelle Zentren der Reformation mit entsprechenden personellen Ressourcen und politischer Potenz von erheblicher Bedeutung« siehe auch D. S CHIERSNER , Spielräume (Anm. 56), S. 97; V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 776. 67 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 802. <?page no="80"?> R EIC HS R ITTER S C HA F T ( EN ) . D ER IMMEDIATE NIEDERE A DE L F R ANKENS U ND S C HW A BENS 81 markantes Beispiel dafür kann etwa der Reichspfennigmeister Zacharias Geizkofler gelten. 68 Vergleicht man diesen Befund mit Franken, ergibt sich ein gegensätzliches Bild: Neuaufnahmen in den Ritteradel wie die der Schrottenberg oder Wolfsthal wurden durch den Kaiser und die katholischen Landesherren in Würzburg und Bamberg gefördert, die in der Reichsritterschaft oft persönlich immatrikuliert waren oder über Mittelsmänner den Ton in den niederadligen Korporationen angaben. Die ›Neuzugänge‹ waren in dieser Region in der Regel Katholiken und verstärkten somit vor allem die altgläubige Seite innerhalb der Ritterschaft. 69 Nach 1555 begann die Reichsritterschaft sich zu konsolidieren. Die Anbindung an die Höfe über Lehen, Amts- und Ratsstellen blieb jedoch nach wie vor eine stark bestimmende Komponente ihrer Politik, auch in konfessioneller Hinsicht, was freilich auch ins Gegenteil umschlagen konnte. An sich hatte der einzelne Reichsritter in der Bekenntnisfrage die freie Entscheidung, was auch 1648 noch einmal bestätigt wurde. Die konfessionelle Orientierung an den durch Lehen und Ämter verbundenen Fürstenhöfen - eine gesellschaftliche und nicht zuletzt wirtschaftliche Notwendigkeit - ist dennoch nicht zu übersehen. Die Literatur spricht hier, und dies ist eben nicht nur konfessionell gemeint, von Bezugshöfen. Infolgedessen blieben die südlichen Teile des schwäbischen Adels nach bayerischem und kaiserlichem Vorbild katholisch, während sich die nördlichen stärker an der evangelischen Seite orientierten, ebenso die fränkischen Ritter. 70 Interessant ist hier v. a. der Kanton Steigerwald, den Bechtolsheim »unter einem starken protestantischen Übergewicht« sieht, eine Konstellation, die sich aber im Laufe der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts grundsätzlich veränderte, und zwar durch die Aufnahme zahlreicher neuer, katholischer Familien, wie beschrieben nicht zuletzt infolge des Einflusses der benachbarten Bischöfe. 71 Die konfessionelle Festlegung der einzelnen Ritter war oft nicht klar. Die Ritter verhielten sich nicht eindeutig, sondern passten sich ihrer Umgebung an, so dass die konfessionelle Ausrichtung bzw. das konfessionspolitische Handeln nicht nur zwischen unterschiedlichen Familien oder Individuen, sondern sogar die Haltung ein und derselben Person in verschiedenen Teilen ihrer Herrschaft und zu ver- 68 Zu ihm siehe v. a. A LEXANDER S IGELEN , Dem ganzen Geschlecht nützlich und rühmlich. Reichspfennigmeister Zacharias Geizkofler zwischen Fürstendienst und Familienpolitik (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 171), Stuttgart 2009. 69 Vgl. A. F LURSCHÜTZ DA C RUZ , Der Wolf im Schafspelz (Anm. 49); H. B ECHTOLSHEIM , Steigerwald (Anm. 33), S. 22. 70 V. P RESS , Adel (Anm. 1), S. 364f.; D ERS ., Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 785, 799; R. K IESSLING , Reichsritterschaft und Reformation (Anm. 3), S. 148f. 71 Vgl. H. B ECHTOLSHEIM , Steigerwald (Anm. 33), S. 3, 19, 196. Siehe auch A. F LUR - SCHÜTZ DA C RUZ , Zwischen Füchsen und Wölfen (Anm. 34). <?page no="81"?> A NDR EA S F LUR S CHÜTZ DA C R UZ 82 schiedenen Zeiten variieren konnte, wie etwa das Beispiel des berühmten Götz von Berlichingen zeigt: In seinen Herrschaften am Neckar, unter den Fittichen Württembergs, führte er die Reformation ein, wagte dies aber nicht in seiner Herrschaft Jagsthausen im würzburgisch-mainzischen Einflussbereich. 72 Hinzu kommt die Beobachtung, dass die Reformation die Ritterschaft »nur allmählich und ungleichmäßig erfaßt« zu haben scheint. 73 Eine zusammenfassende Darstellung des Themenkomplexes ›Adel und Reformation‹ beziehungsweise, allgemeiner formuliert, ›Adel und Konfession‹ wird daher, das wusste schon Volker Press, stets große Schwierigkeiten bereiten, nicht zuletzt wegen der undifferenzierten, ja oft sogar bewusst zweideutigen oder zurückhaltenden Positionen der Ritter. 74 Die Reichsritterschaft überließ konfessionelle Belange aber nicht, wie man daraus kurzerhand schlussfolgern könnte, ausschließlich den einzelnen Reichsrittern selbst. Das religiöse Bekenntnis beschäftigte auch die Kantons- und Ritterkreisdirektorien, wie bereits ein Blick in die schwäbische Ritterordnung von 1560 zeigt, aber nicht in der Form, dass der reichsritterschaftliche Verband eine konfessionelle Entscheidung vorweggenommen hätte. Dadurch hätte er sich auch zwischen den Fürsten entscheiden müssen und womöglich sein gutes Verhältnis zum Kaiser aufs Spiel gesetzt. 75 Die in der schwäbischen Ritterordnung 1560 getroffene Regelung in der Konfessionsfrage zeigt deutlich, dass religiös motivierte Konflikte in der Korporation keinen Platz haben sollten. Artikel 25 der Ritterordnung legte fest, dass von wegen der ungleichheit und spaltung in der Religion, keiner den andern mit eynichen widerwillen, worten oder werkcne anziehn, raytzen, beschweren noch derhalben ichtwas, so dieser unser Ordnung und Gesellschaft zuwider, fürnemmen, und sich ein jeder in dem erzeigen und halten [soll], wie er gedenckt das gegen Gott zuverantwurten. 76 Der Artikel garantierte den Rittern also Freiheit in ihrer Religionsausübung und ermahnte die Mitglieder gleichzeitig zu »Ordnung, gegenseitiger Achtung und Toleranz in Konfessionsfragen«, um die Gemeinschaft von konfessionellen Differenzen freizuhalten und die Geschlossenheit des Corpus nach außen zu gewährleisten. 77 Zur Entscheidung, 72 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 799. 73 C. B AUER , Reichsritterschaft in Franken (Anm. 2), S. 195. 74 V. P RESS , Adel (Anm. 1), S. 330. 75 V. P RESS , Adel (Anm. 1), S. 368. 76 StA Ludwigsburg, B 577 Bü 715: Art. 25 der Ritterordnung von 1560; dazu siehe auch D. H ELLSTERN , Neckar-Schwarzwald (Anm. 7), S. 94. 77 G ERT K OLLMER - VON O HEIMB -L OUP , Die schwäbische Reichsritterschaft zwischen Westfälischem Frieden und Reichsdeputationshauptschluß. Untersuchung zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Reichsritterschaft in den Ritterkantonen Neckar-Schwarzwald und Kocher (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 17), Stuttgart 1979, S. 95; vgl. E RWIN R IEDENAUER , Reichsritterschaft und Konfession. Ein Diskussionsbeitrag zum Thema ›Adel und Konfession‹, in: H ELLMUTH R ÖSSLER (Hg.), Deutscher Adel 1555-1740 <?page no="82"?> R EIC HS R ITTER S C HA F T ( EN ) . D ER IMMEDIATE NIEDERE A DE L F R ANKENS U ND S C HW A BENS 83 dass bei der Wahl des Kantonsdirektors bzw. -hauptmanns die Alternation der Religionen beachtet werden solle, war es freilich noch ein weiter Weg. Dieser Schritt erfolgte erst nach dem großen, dreißig Jahre andauernden Krieg (1650). 78 2.4 Krieg Der große Krieg hatte erhebliche Auswirkungen auf den reichsritterschaftlichen Verband in Schwaben und in Franken, und dies nicht erst in den 1630er Jahren, als der Krieg nach Süddeutschland kam, sondern von Anfang an. Bereits 1619 griff die Krise im Reich auch auf die Reichsritterschaft über. Ihre evangelischen Mitglieder begannen, Kaiser Ferdinand II. zu misstrauen. Vier der fränkischen Ritterkantone schlossen sich der evangelischen Union an, weite Teile des schwäbischen Adels blieben indes kaisertreu, nur Einzelne traten in die Dienste von evangelischen Fürsten. Die Zurückhaltung der schwäbischen Ritter nützte zunächst allen Rittern. 79 Der endgültige Bruch mit dem Kaiser erfolgte erst, als sich die evangelischen Teile des schwäbischen Adels in ihrer Enttäuschung dem von Schweden beeinflussten antikaiserlichen Heilbronner Bund von 1632 anschlossen. 80 Evangelische Reichsritter profitierten in der Folge von den schwedischen Konfiskationen. Später sollten ihre Güter freilich selbst konfisziert und gezielt Katholiken überlassen werden, woraus sich eine markante Parallele zu den Entwicklungen in Franken ergibt. 81 Hellstern beobachtet im Kanton Neckar-Schwarzwald nach der Niederlage der Schweden gegen das kaiserliche Heer bei Nördlingen am 5. und 6. September 1634 »innerliche Spaltungen«: »Die Mitglieder begannen sich wegen der Religion zu trennen und sich in zwei Corpora zu teilen, die besondere Tagsatzungen abhielten«, 82 ein Bruch, der erst nach 1648 wieder geheilt werden konnte. Noch auf dem Westfälischen Friedenskongress lehnten sich die katholisch geprägten schwäbischen Kantone Donau, Hegau-Allgäu-Bodensee und Kocher an die intransigente Haltung der entschiedenen Katholiken an und unterhielten einen anderen Bevollmächtigten auf dem Kongress als die Protestanten unter ihnen, die sich gemeinsam mit den fränkischen und rheinischen Rittern vertreten ließen. (Schriften zur Problematik der deutschen Führungsschichten in der Neuzeit, 2), Darmstadt 1965, S. 1-63, hier 30. 78 D. H ELLSTERN , Neckar-Schwarzwald (Anm. 7), S. 95; G. K OLLMER - VON O HEIMB - L OUP , Die schwäbische Reichsritterschaft (Anm. 77), S. 95f. 79 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 803f. 80 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 804. 81 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 804; A. F LURSCHÜTZ DA C RUZ , Zwischen Füchsen und Wölfen (Anm. 34). 82 D. H ELLSTERN , Neckar-Schwarzwald (Anm. 7), S. 94. <?page no="83"?> A NDR EA S F LUR S CHÜTZ DA C R UZ 84 In Franken nahmen die Kriegsereignisse einen noch extremeren Verlauf. Im Herbst 1631 wurden die fränkischen Hochstifte Würzburg und Bamberg von schwedischen Truppen besetzt. Die ansässige evangelische Reichsritterschaft bzw. die kompletten Ritterorte Gebürg, Baunach, Steigerwald und Rhön-Werra, durch die Restitutionspolitik der Würzburger und Bamberger Bischöfe in ihrer verfassungs- und kirchenrechtlichen Stellung zutiefst erschüttert, schlossen sich umgehend dem Heilbronner Bund unter dem schwedischen König an. Die fränkischen Ritter konnten so ihre vom Restitutionsedikt bedrohten Pfarreien zunächst zurückgewinnen und bildeten in der Folgezeit die Stütze der schwedischen Verwaltung des Hochstifts, was freilich nur kurz währte. 83 Unter Fürstbischof Franz von Hatzfeld (1633-1642) wurde die Hochstiftsunion zwischen Bamberg und Würzburg erneuert. Seine Pläne für eine militante Gegenreformation, die auf eine Domestizierung der Reichsritterschaft abzielten, die sich durch die Kooperation mit den Schweden hervorgetan hatte, scheiterten. Hätten sie Unterstützung durch den Kaiser erfahren, hätte dies den Abstieg der fränkischen Reichsritter in die Landsässigkeit bedeutet. Bischof Franz wollte sich mit der Rückgabe der durch die Schweden ausgegebenen Besitzungen nämlich keinesfalls begnügen, sondern versuchte, den Kaiser davon zu überzeugen, diejenigen fränkischen Reichsritter, die sich in den Vorjahren auf gegnerischer Seite exponiert hatten, samt ihrem Besitz seiner Hoheit zu unterstellen. Dieser Plan zielte auf Mediatisierung, den Ausbau eines geschlossenen Territorialstaats und nicht zuletzt die endgültige Rekatholisierung dieser Gebiete, fand am Kaiserhof aber keine Unterstützung und wurde durch den Prager Frieden von 1635 und die Amnestie des Kaisers, die das Verhältnis zwischen Reichsoberhaupt und Reichsritterschaft wieder verbesserte, vereitelt. 84 2.5 Domkapitel Nicht erst der Krieg mit seinen verheerenden Ereignissen hatte die Reichsritter sämtlicher Kantone, auch in konfessioneller Hinsicht, in große Not gebracht. Bisher hatten zahlreiche Abkömmlinge reichsritterlicher Familien lukrative und einflussreiche Posten in der Reichskirche besetzt. Die 114 Domherrenstellen, die allein in Würzburg, Bamberg und Eichstätt zur Verfügung standen, wurden fast ausschließlich mit Angehörigen des Reichsadels besetzt. 85 Peter Hersche geht von 670 bis 680 adligen Familien aus, deren Mitglieder in der Reichskirche Kanonikate hielten. 86 Der schwäbische Adel spielte dabei eine 83 A. F LURSCHÜTZ DA C RUZ , Zwischen Füchsen und Wölfen (Anm. 34), S. 69f. 84 A. F LURSCHÜTZ DA C RUZ , Zwischen Füchsen und Wölfen (Anm. 34), S. 72. 85 Vgl. C. B AUER , Reichsritterschaft in Franken (Anm. 2), S. 191. 86 P ETER H ERSCHE , Die deutschen Domkapitel im 17. und 18. Jahrhundert, Bd. II: Vergleichende sozialgeschichtliche Untersuchungen, Bern 1984. <?page no="84"?> R EIC HS R ITTER S C HA F T ( EN ) . D ER IMMEDIATE NIEDERE A DE L F R ANKENS U ND S C HW A BENS 85 zentrale Rolle: Angehörige der schwäbischen Reichsritterschaft besetzten 12 Prozent aller Domherrenstellen im Reich. Von in Schwaben ansässigen reichsritterschaftlichen Familien stellten die Freyberg, die Rodt, die Schenken von Castell, die Schenken von Stauffenberg, 87 die Stadion und die Welden Bischöfe. Allein in Augsburg besetzten schwäbische Reichsritter 20 Prozent der Kanonikate, in Eichstätt und Konstanz jeweils rund 15. Während am Rhein der fürstliche Einfluss eine wichtige Rolle spielte, wurden die Stifte in Franken (Würzburg, Bamberg) und in Schwaben (Augsburg, Konstanz) von Angehörigen der Reichsritterschaft dominiert, und zwar regionenübergreifend. So setzte sich das Würzburger Kapitel etwa zu rund 46 Prozent aus Mitgliedern der fränkischen, 30 Prozent der rheinischen und 20 Prozent der schwäbischen Reichsritterschaft zusammen. Ganz ähnlich waren die Verhältnisse in Bamberg. 88 Während zuvor die Aufnahmeregelung in Bezug auf die Konfession weitgehend ungeklärt war, wurde gegen Ende des 16. Jahrhunderts für die Zulassung zu Dom- und Stiftskapiteln das Bekenntnis zur katholischen Kirche vorausgesetzt. 89 Durch diese Bedingung verloren die evangelischen Familien der Ritterschaft noch vor dem Dreißigjährigen Krieg definitiv diese bequeme Möglichkeit, ihre nachgeborenen Söhne, aber auch ihre Töchter (in Damenstiften und Frauenklöstern) standesgemäß zu versorgen oder sogar mit der Aussicht auf weiterführende Karrieren bis hin zum persönlichen Reichsfürstenstand und dem Aufstieg in den exklusiven Zirkel der Königswähler zu platzieren. 90 Bamberg, Würzburg und Konstanz, um drei der relevanten Bistümer zu nennen, die in den zu vergleichenden Untersuchungsgebieten liegen, besetzte der niedere Reichsadel sogar exklusiv. Die schwäbischen Stiftspfründen waren freilich nicht so lukrativ und somit auch nicht so attraktiv wie die fränkischen oder gar die rheinischen. Dennoch entfiel mit ihnen spätestens nach 1600 für die evangelisch gewordenen Ritter eine wichtige Versorgungsmöglichkeit sowie ein zentrales Kommunikationsforum. 87 Vgl. G ERD W UNDER , Die Schenken von Stauffenberg. Eine Familiengeschichte, Stuttgart 1972, S. 212f., 226f.; siehe auch T. S CHULZ , Kanton Kocher (Anm. 16), S. 163f. 88 Vgl. P. H ERSCHE , Die deutschen Domkapitel (Anm. 86), S. 72-75; K URT D IEMER , Reichsritterschaft und Reichskirche im 17. und 18. Jahrhundert. Die Freiherren von Hornstein-Göffingen, in: M. H ENGERER / E. K UHN (Hg.), Adel im Wandel (Anm. 12), S. 515- 528, hier 515. 89 Vgl. V. P RESS , Adel (Anm. 1), S. 364. 90 Vgl. K. A NDERMANN , Ritterschaft und Konfession (Anm. 56), S. 100; vgl. C. B AUER , Reichsritterschaft in Franken (Anm. 2), S. 191; S. S CHRAUT , Die feinen Unterschiede (Anm. 12), S. 550. 1718 wurde im Kraichgau ›ersatzweise‹ ein Damenstift für bedürftige adlige evangelische Frauen gegründet: K URT A NDERMANN , Kraichgauer Adeliges Damenstift, in: Der Landkreis Heilbronn, Bd. 2 (Kreisbeschreibungen des Landes Baden-Württemberg), hg. v. der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg, Ostfildern 2010, S. 59. <?page no="85"?> A NDR EA S F LUR S CHÜTZ DA C R UZ 86 Erwin Riedenauer beteuerte vor über einem halben Jahrhundert, es seien ihm »keine Anhaltspunkte bekannt, daß nur mit Rücksicht darauf ritterschaftliche Familien dem alten Glauben treu blieben oder wieder konvertierten.« 91 Hier ist die neueste Forschung nahezu einhellig zu einem anderen Ergebnis gekommen: Um sich die skizzierten Optionen offenzuhalten, ist um die Jahrhundertwende in der Reichsritterschaft ein Trend zur Rückkehr zum alten Glauben zu verzeichnen. Kurt Andermann spricht von der Konversion in diesen Kreisen treffend gar als »Tauschobjekt, um politische oder wirtschaftliche Ziele zu erreichen«. 92 Das heißt aber nicht, dass unbedingt alle Mitglieder einer Familie katholisch werden mussten. Vielmehr setzte man, um es mit Dietmar Schiersner zu sagen, aus dynastiepolitischer Perspektive lange Zeit auf konfessionelle Offenheit und unternahm den »Versuch […], in unterschiedlichen Zweigen als konfessionell polyvalente Adelsfamilie zu agieren und so die Vorteile, die ein Wechsel der Konfessionssysteme mit sich bringen konnte, voll auszuschöpfen«. 93 Als Beispiel dafür dient gern und oft die von Klaus Rupprecht untersuchte oberfränkische Familie derer von Guttenberg, 94 die zunächst beinahe ganz evangelisch war und um 1600 wieder nahezu vollständig zur römischen Kirche zurückkehrte. Schließlich erlangten die Guttenberg bis zum Ende des Alten Reiches nicht weniger als 44 hochkarätige Pfründen und brachten mit Johann Gottfried II. von Würzburg (reg. 1684-1698) sogar einen Bischof hervor. 95 Als rheinisch-schwäbisch-fränkisches Beispiel können ferner die Sickingen genannt werden. Die Nachkommen des berühmten Vorkämpfers der Reformation Franz von Sickingen kehrten vollständig zurück zur katholischen Kirche, 45 Domherrenpfründen und ein Bischofsstuhl waren ihr Lohn. 96 So wurden »aus ›konfessioneller Unentschiedenheit‹ 97 und dem ›Offenhalten von Optionen‹ 98 als 91 E. R IEDENAUER , Reichsritterschaft und Konfession (Anm. 77), S. 10f. 92 Vgl. K. A NDERMANN , Ritterschaft und Konfession (Anm. 56), S. 101; D. S CHIERSNER , Spielräume (Anm. 56), S. 99; B ASTIAN G ILLNER , Unkatholischer Stiftsadel. Konfession und Politik des Adels im Fürstbistum Paderborn (1555-1618) (Forum Regionalgeschichte 13), Münster 2006. 93 D. S CHIERSNER , Spielräume (Anm. 56), S. 107. 94 K LAUS R UPPRECHT , Ritterschaftliche Herrschaftswahrung in Franken. Die Geschichte der von Guttenberg im Spätmittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit (Veröff. der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX 42), Neustadt an der Aisch 1994. 95 K. A NDERMANN , Ritterschaft und Konfession (Anm. 56), S. 102. 96 Vgl. K. D IEMER , Reichsritterschaft und Reichskirche (Anm. 88), S. 516f. 97 B ARBARA S TOLLBERG -R ILINGER , Einleitung, in: A NDREAS P IETSCH / D IES . (Hg.), Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2013 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 214), S. 9-26, hier 12. 98 A NTON S CHINDLING , Konfessionalisierung und Grenzen von Konfessionalisierbarkeit, in: D ERS ./ W ALTER Z IEGLER (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation <?page no="86"?> R EIC HS R ITTER S C HA F T ( EN ) . D ER IMMEDIATE NIEDERE A DE L F R ANKENS U ND S C HW A BENS 87 weitverbreiteten Strategien des Adels im 16. Jahrhundert« unter dem Druck, die Nachkommen standesgemäß versorgen zu müssen, »eindeutige Konfessionsentscheidungen«. 99 Die Bereitschaft, zum alten Glauben zurück- und sich von der Reformation abzukehren, nahm nach 1648 noch zu, nachdem die Bestimmungen des Westfälischen Friedens die Katholizität der südwestdeutschen Hochstifte definitiv gemacht hatten. 100 Die Lücken, die in den Stiften durch das Ausscheiden derjenigen fränkischen Ritterfamilien entstanden, die partout nicht zur römischen Kirche zurückzukehren gedachten, wurden durch andere, nicht selten rheinische (Schönborn), aber auch schwäbische, also ›ausländische‹ Familien gefüllt; auch Mitglieder der Familien Schenk von Stauffenberg und Wernau zählten dazu. 101 Würzburg, Bamberg und Eichstätt wurden so, nach Augsburg und Ellwangen, zum Hauptbetätigungsfeld etlicher schwäbisch-kocherischer Familien: Schulz ermittelte insgesamt 140 Dom- und Chorherrenstellen, die Angehörige der kocherischen Familien zwischen 1560 und 1803 besetzten. Die meisten dieser Pfründen lagen in Ellwangen (28), Augsburg (26), Würzburg (19), Eichstätt (13), Bamberg (12) und im Stift Komburg (11). 102 Vergleicht man nun die schwäbischen und die fränkischen Ritter noch einmal zusammenfassend in Bezug auf konfessionelle Belange, so sticht die in sich überhaupt nicht geschlossene Haltung der Corpora ins Auge. Manche schwäbischen Reichsritter orientierten sich auf dem Westfälischen Friedenskongress viel stärker an ihren fränkischen Standesgenossen als an ihren eigenen, schwäbischen Landsleuten. Die Bekenntnisfrage entzweite die Reichsritterschaft gleich mehrmals und vielfach. Beziehungen zum Kaiserhaus und zu fürstlichen Nachbarn, die letztlich in Patronage- und Karrierechancen mündeten, spielten hier, wie aufgezeigt, eine zentrale Rolle, schließlich zählte »die Bestimmung der Konfession zu den wichtigsten Faktoren der herrschaftlichen Positionierung«. 103 Während man in Franken und besonders in Würzburg zum Luthertum neigte, nicht zuletzt um eine Gegenposition zum bischöflichen Landesherrn, der den Katholizismus im Lande verkörperte, und seiner expansiven Politik einzunehmen, 104 orientierte man sich in und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650, Bd. 7: Bilanz - Forschungsperspektiven - Register, Münster 1997 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 57), S. 10-44, hier 24. 99 D. W UNDER , Konfessionelle Profile (Anm. 57), S. 114. 100 Vgl. C. B AUER , Reichsritterschaft in Franken (Anm. 2), S. 200. 101 K. A NDERMANN , Ritterschaft und Konfession (Anm. 56), S. 103. 102 T. S CHULZ , Kanton Kocher (Anm. 16), S. 163; vgl. F RIEDRICH W ACHTER , General-Personal-Schematismus der Erzdiözese Bamberg 1007-1907, Bamberg 1908, Nr. 8690-8697, 10947, 10948. 103 R. K IESSLING , Reichsritterschaft und Reformation (Anm. 3), S. 148. 104 K. A NDERMANN , Ritterschaft und Konfession (Anm. 56), S. 99; V. P RESS , Adel (Anm. 1), S. 365, 381; D. S CHIERSNER , Spielräume (Anm. 56), S. 98; Volker Press beurteilt die »ent- <?page no="87"?> A NDR EA S F LUR S CHÜTZ DA C R UZ 88 Schwaben meistenteils bewusst an der Konfession der Fürsten und Kaiser, statt diesen aggressiv entgegenzutreten. In Franken legten die Ritter offensichtlich mehr Wert darauf, sich vom benachbarten mächtigen Territorialherrn abzugrenzen, um die eigene Autonomie zu behaupten oder zumindest zu reklamieren. Schiersner erkennt hier zwei grundsätzlich unterschiedliche Typen und stellt dem der »konfessionell gleichgerichteten Orientierung an kirchlichen Institutionen und Höfen […] die bewusste konfessionelle Abgrenzung gegenüber mächtigeren oder doch konkurrierenden Nachbarn als Motiv und Typus« gegenüber. 105 Betrachtet man die Spielarten der Bekenntnisse noch näher, fällt zudem auf, dass man in Franken weitgehend mit der Unterscheidung von Katholiken und Protestanten (im Sinne von Lutheranern) auskommt, während in Schwaben, so z. B. in Grönenbach durch den benachbarten Zürcher Einfluss, auch das reformierte Bekenntnis in einigen reichsritterlichen Häusern und ihren Gebieten eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielte (in Franken weit weniger präsent), und daneben sogar das Täufertum und Anhänger der Schwenckfeldianer zu finden sind - spiritualistische Tendenzen, die im fränkischen Adel seltener auftreten. 106 In seiner Augsburger Dissertation entfaltet Stefan Birkle anhand von fünf Fallbeispielen, den Herrschaften Leeder, Justingen, Grönenbach-Rotenstein, Angelberg und Haunsheim, die verschiedenen Ausprägungsformen der Reformation in der ansonsten überwiegend katholischen schwäbischen Reichsritterschaft. Mit Justingen, das unter den der Reichsritterschaft bereits entwachsenen Freiherren von Freyberg zwischen 1545 und 1629 zum »Rückzugsgebiet und Zentrum des Schwenckfeldertums« 107 wurde, und mit der pappenheimischen (und somit in reichsgräflicher Hand befindlichen) Herrschaft Rotenstein als »der einzigen autochthonen reformierten Kirchenbildung in Ostschwaben« behandelt Birkle zudem zwei Ausprägungen der Reformation, die im Untersuchungszeitraum reichsrechtlich gar nicht anerkannt waren. Bereits Birkle entwickelte Ansätze, seine Ergebnisse mit den Forschungen zu anderen Gebieten des Reiches wie Franken zu vergleichen: Eine »derart ausgeprägt schieden protestantische Haltung« des mainfränkischen Ritteradels als eine Reaktion auf die Politik des Würzburger Fürstbischofs Julius Echter (1573-1617), der als einer der ersten auf seine ursprünglichen ritterlichen Standesgenossen wenig Rücksicht genommen, sondern ihnen gegenüber eine oberhoheitliche Stellung reklamiert, ihre adligen Privilegien negiert und zuweilen gewaltsam in ritterschaftliche Herrschaften eingegriffen habe; V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 112. Dass es solche Maßnahmen gab, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den fränkischen Kantonen auch katholische reichsritterliche Mitglieder immatrikuliert waren. Ihre Zahl nahm im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts sogar zu; A. F LURSCHÜTZ DA C RUZ , Zwischen Füchsen und Wölfen (Anm. 34), S. 55f. 105 D. S CHIERSNER , Spielräume (Anm. 56), S. 100. 106 Vgl. V. P RESS , Adel (Anm. 1), S. 367. 107 S. B IRKLE , Reichsritterschaft (Anm. 6), S. 78. <?page no="88"?> R EIC HS R ITTER S C HA F T ( EN ) . D ER IMMEDIATE NIEDERE A DE L F R ANKENS U ND S C HW A BENS 89 pragmatische bis opportunistische, Vor- und Nachteile im konkreten Fall abwägende Herangehensweise in konfessionellen Fragen« wie etwa in Franken könne er in Schwaben allerdings nicht konstatieren, was an den grundsätzlich verschiedenen Konstellationen liegen könne. Hochstifte wie Konstanz und Augsburg, die Versorgungsmöglichkeiten für schwäbische Ritter boten, befanden sich eher in Randlage und spielten für die Untersuchungsgebiete daher nicht die Rolle, wie es etwa die Hochstifte Bamberg und Würzburg für den fränkischen Adel taten. 108 3. Gemeinsamkeiten und Überschneidungen Die beiden in diesem Band in den Blick genommenen Regionen bildeten in der Frühen Neuzeit keine hermetisch voneinander getrennten Gebiete: Gerade die Reichsritterschaft ist dazu geeignet, dies zu zeigen, war sie doch eine Instanz bzw. Institution, die die beiden Regionen Franken und Schwaben wie keine andere verklammerte. Sylvia Schraut geht davon aus, dass in den reichsritterlich beherrschten Domstiftsgebieten am Rhein, in Franken und in Schwaben vergleichsweise geschlossene Heiratskreise existierten. 109 Die Ritter zeichneten sich jedoch nicht nur durch Ehezirkel, 110 sondern generell durch einen hohen Grad an Vernetztheit untereinander aus, und zwar auch durch Kooperationen wirtschaftlicher, politischer und militärischer Art. Der schwäbische Kanton Kraichgau und der fränkische Kanton Odenwald hatten Heilbronn als gemeinsamen Kantonssitz; die geographische und personelle Nähe zum Kraichgau hatte zudem zahlreiche Doppelmitgliedschaften zur Folge. 111 Auch in der disparaten Zusammensetzung ihrer Mitglieder ähnelten sich die schwäbischen und die fränkischen Kantone: Der mittelalterlichen Ministerialität entstammender Uradel fand sich dort ebenso wie Aufsteiger aus dem Patriziat der Städte wie die Rehlinger (Augsburg) oder die Wolf (Nürnberg). Außer durch Heiraten erfolgte eine Durchmischung des fränkischen und des schwäbischen Ritteradels auch über Domkanonikate und Bischofsstühle. 108 S. B IRKLE , Reichsritterschaft (Anm. 6), S. 467. 109 S. S CHRAUT , Die feinen Unterschiede (Anm. 12), S. 555. 110 Zumindest aus konfessioneller Sicht handelte es sich dabei um durchaus ›liberale‹ bzw. zumindest fortschrittliche Eheprojekte: So favorisierten katholische Reichsritter teils sogar altadlige Protestantinnen, um die Stiftsfähigkeit der Nachkommen zu sichern, die bei manch’ katholischer, aber ›ausländischer‹ oder aus neunobilitiertem Hause stammender Ehepartnerin möglicherweise nicht gegeben gewesen wäre; R OLF L UTTER , Entstehung und Inhalt frühneuzeitlicher Eheverträge. Adelige Eheanbahnung am Beispiel der Eheleute Carl Rudolf von Guttenberg und Sophia Augusta Fuchs von Bimbach 1686, in: Blätter für fränkische Familienkunde 36 (2013), S. 61-100; A. F LURSCHÜTZ DA C RUZ , Zwischen Füchsen und Wölfen (Anm. 34), Kap. V.1.3.2. 111 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 812. <?page no="89"?> A NDR EA S F LUR S CHÜTZ DA C R UZ 90 Diese fränkisch-schwäbische ›Überregionalität‹ ging so weit, dass Familien wie die Sickingen, die Stadion und die Schenken von Stauffenberg zwar als schwäbische Familien galten, aber mehr Domkapitelspräbenden in Franken besetzten als in ihrer angestammten schwäbischen Heimat, was mit Sicherheit auch mit der Tatsache zusammenhängt, dass der lokale (und weitgehend protestantische) Adel offenbar gar nicht in der Lage war, die Stifte vollständig zu besetzen. 112 4. Ergebnisse und Desiderata Entstehung und Verfassung der Reichsritterschaft(en) in Schwaben und in Franken verliefen in ähnlichen Bahnen, wenngleich die schwäbischen Ritter eine Vorreiterrolle für die gesamte Reichsritterschaft einnahmen. Volker Press bezeichnete es als typisch für die fränkische Reichsritterschaft, dass sie »weniger konsequent« und »retardierter als in Schwaben« war. Der Ort Odenwald sei dabei »der ›schwäbischste‹ der fränkischen Kantone« gewesen. 113 Die Kantone Kraichgau und Odenwald, in denen die Familien Berlichingen, Gemmingen, Stetten, Adelsheim, Rüdt von Collenberg und Wolfskeel dominierten, stellten ein zentrales Scharnier der ganzen Reichsritterschaft dar. 114 Bezüglich ihrer Besitz- und Lehenverhältnisse unterscheiden sich die fränkischen wie die schwäbischen Ritter erheblich. Während man sich in Schwaben eher an die Lehensherren anzulehnen bzw. anzupassen versuchte, zeichneten sich die fränkischen Ritter (zumindest im Umfeld der katholischen Hochstifte) durch ein gegensätzliches Verhalten aus: Man bemühte sich, gerade im Hochstift Würzburg unter Julius Echter, um bewusste Abgrenzung. Willkommenes und nach außen gut sichtbares Mittel dazu war das religiöse Bekenntnis. Als zwei gegenüberzustellende Regionen ergeben sich in der Zusammenschau der Konfessionsverhältnisse nicht Franken und Schwaben, sondern eigentlich die fränkischen und nordschwäbischen Kantone der Reichsritterschaft auf der einen Seite, die spätestens nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 als Korporationen fast vollständig zum Luthertum übertraten, sowie die südschwäbische Reichsritterschaft auf der anderen Seite, die sich fast geschlossen zur katholischen Kirche bekannte. 115 Im 17. und 18. Jahrhundert, als dieser Aspekt langsam an Bedeutung verlor und andere, wirtschaftliche und gesellschaftliche Faktoren in den Vordergrund rückten, kehrten weite Kreise des fränkischen Adels zur Alten Kirche zurück, um Positionen innerhalb der Reichskirche besetzen zu können, während 112 P. H ERSCHE , Die deutschen Domkapitel (Anm. 86), S. 147, 156. 113 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 811. 114 V. P RESS , Reichsritterschaft (Anm. 2), S. 813. 115 Vgl. D. W UNDER , Konfessionelle Profile (Anm. 57), S. 144. <?page no="90"?> R EIC HS R ITTER S C HA F T ( EN ) . D ER IMMEDIATE NIEDERE A DE L F R ANKENS U ND S C HW A BENS 91 der oberschwäbische Adel ohnehin weitgehend katholisch geblieben war. Schwäbische Ritter füllen zeitweise sogar die Lücken in den fränkischen Kapiteln auf. Vergleicht man die reichsritterschaftlich geprägten Gebiete Schwaben und Franken, so bleiben zahlreiche Desiderate. Neben den Rittern selbst harrt die Rolle niederadliger Frauen in Franken und in Schwaben ihrer breiten Aufarbeitung. Welche Rolle spielten Neunobilitierte innerhalb der Reichsritterschaft? Wie gestaltete sich, im Vergleich zum hochstiftischen Judenschutz, die von Reichsrittern geförderte Ansiedlung von Juden, die in Franken einen prominenten reichsritterlichen Wirtschaftszweig darstellte, in den schwäbischen Kantonen? 116 Zu diesen Fragen gibt es bisher nur wenige neue Forschungen. 117 Zudem scheint eine detailliertere Unterscheidung der Akteure ratsam, wenn die Rede von Reichsrittern und Reichsritterschaft ist. Wann handeln Individuen oder kleinere Gruppen von Angehörigen der Kantone, wann die gesamte Korporation? Allzu oft werden die Ritter hier über einen Kamm geschoren. Die Hauptaufgaben künftiger Forschung werden vor allem dort liegen, wo dieser Beitrag und andere bereits den Hebel angesetzt haben. Einzelstudien zur Reichsritterschaft in Schwaben und in Franken, ihren Kantonen, Familien sowie einzelnen Mitgliedern liegen inzwischen in stattlicher Zahl vor. Das Wirken der reichsritterschaftlichen Korporationen, die auch in kantonsübergreifenden Gemeinschaftsprojekten wie den Biedermann’schen Genealogien der Mitte des 18. Jahrhunderts Ausdruck fand, ist hingegen bisher nur schemenhaft umrissen und erst ansatzweise greifbar geworden. 118 116 Sabine Ullmann hat vor zwei Jahrzehnten die Adelsherrschaft der Stein zu Ichenhausen auf diesen Aspekt hin untersucht: S ABINE U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750 (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 151), Göttingen 1999. Siehe auch J OHANNES M ORD - STEIN , Selbstbewusste Untertänigkeit: Obrigkeit und Judengemeinden im Spiegel der Judenschutzbriefe der Grafschaft Oettingen 1637-1806 (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens 2), Epfendorf 2005; D ERS ., Schwäbische Juden - jüdische Schwaben. Binswangen und Buttenwiesen: zwei Dörfer in Bayerisch-Schwaben mit jüdischer Geschichte, in: Schönere Heimat. Bewahren und gestalten 106 (2017), 2, S. 117-126. Zur fürstbischöflichen Judenpolitik im Hochstift Bamberg siehe M ICHAELA S CHMÖLZ - H ÄBERLEIN , Juden in Bamberg (1633-1802/ 03): Lebensverhältnisse und Handlungsspielräume einer städtischen Minderheit (Judentum - Christentum - Islam. Interreligiöse Studien 11/ Veröff. des Stadtarchivs Bamberg 18), Würzburg 2014. 117 Juden tauchen unter den Kreditnehmern und -gebern des Kantons Neckar-Schwarzwald nur mit sehr geringen Summen auf; G. K OLLMER - VON O HEIMB -L OUP , Die schwäbische Reichsritterschaft (Anm. 77), S. 326-333. 118 A NDREAS F LURSCHÜTZ DA C RUZ , Zucht und Ordnung. Vom Finden und Erfinden genealogischer Informationen im frühneuzeitlichen süddeutschen Adel, in: W OLFGANG J ÄGER / V OLKER R ÖSSNER (Hg.), Jubiläumsband des Historischen Vereins Landkreis Haßberge, in Vorbereitung (erscheint 2020). <?page no="92"?> II. Gemeinsame Geschichte(n)? <?page no="94"?> 95 K LAUS W OLF Die Meistersinger von Memmingen 1 Die Meistersinger von Memmingen klingt nicht von ungefähr an Richard Wagner an. Tatsächlich schildert die berühmte Oper spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Bräuche um die ›Meistersinger‹ genannten Dichterkomponisten durchaus sachgerecht. Bekannt ist ja die bei Wagner als gesungene Arie präsentierte Gebrauchsanweisung zum Aufbau einer Kanzone. 2 Dort erfahren wir, dass sogenannte Stollen für die Bar-Form essentiell sind. Bei ›Stollen‹ handelt es sich um einen terminus technicus der Meistersinger, der sogar Einzug in die metrischen Lehrbücher fand. Noch heute lernen die Germanistik-Studenten, dass eine Kanzone im Aufgesang zwei Stollen hat. Und die Kanzonenform ist die Grundlage der meisten deutschen Kirchenlieder. 3 Damit aber haben die Meistersinger Literaturgeschichte geschrieben. Was sind nun Meistersinger? Es handelt sich im Regelfall um eine Gruppe von Stadtbürgern, welche sich zum geselligen Singen nach festen Regeln zusammengeschlossen haben. Mitunter hielten die Meistersinger Prüfungen als Aufnahmerituale sowie Wettbewerbe ab. Der beste Meistersinger konnte einen Preis gewinnen. Schiedsrichter, aber auch das Publikum legten den Sieger durch ein Punktesystem oder durch Applaus fest. 4 Wen dies an Poetry-Slams erinnert, der liegt nicht falsch, denn die Meistersinger sind tatsächlich die Ahnen der heutigen Poetry- Slamer. 5 Wer hat den Meistersang erfunden? Dazu gibt es eine schöne Legende: Im Jahr 962 zur Zeit Kaiser Ottos I. und Papst Leos VIII. lebten zwölf Meister, die der Ketzerei bezichtigt wurden. Diese zwölf waren: Walther von der Vogelweide, Wolf- 1 Der vorliegende Beitrag war Teil eines gemeinsamen literarhistorisch-musikalischen Abendvortrages, den der Augsburger Musikwissenschaftler Prof. Dr. Johannes Hoyer im Anschluss mit Gesangsbeispielen des Memminger Meistersangs illustrierte. Der Vortragsstil wurde bewusst beibehalten. 2 Vgl. R ICHARD W AGNER , Die Meistersinger von Nürnberg. Oper in drei Aufzügen. Eingeleitet und hg. v. W ILHELM Z ENTNER , Stuttgart 1972, S. 31. 3 Vgl. E BERHARD S CHMIDT , Kirchenlied ab dem späten 16. Jahrhundert, https: / / www. mgg-online.com/ article? id=mgg15561&v=1.1&q=kirchenlied&rs=id-98207865-ff4b-d8bc- 8243-740394ce9b20 (aufgerufen am 27.9.2018). 4 Vgl. R EINHARD H AHN , Meistergesang, Leipzig 1985, passim. 5 Vgl. Schwäbischer Poetry-Slam, im Auftrag des Vereins Literaturschloss Edelstetten hg. v. K LAUS W OLF , Redaktion: T ANJA S ANDNER (Schwabenspiegel. Jahrbuch für Literatur, Sprache und Spiel 11), Augsburg 2017. <?page no="95"?> K LAU S W OL F 96 ram von Eschenbach, Stolle, Reinmar von Zweter (in anderen Überlieferungen auch Römer von Zwickau genannt), der Marner, Klingsor, Konrad von Würzburg, Meister Boppe, der Kanzler, Frauenlob (auch als Heinrich von Meißen bekannt), Regenbogen und Heinrich von Mügeln. Diese mussten vor die Hohe Schule in Pavia treten und vor großem Publikum vorsingen. Sie gaben an, dass ihnen die Lieder von Gott persönlich eingeflößt worden seien, konnten letztendlich mit ihrer Darbietung überzeugen und die Vermutung Papst Leos VIII., dass sie eine Sekte bildeten, widerlegen. Der Papst bezeichnete die Kunst sogar als löblich und gottdienlich. Daraufhin bekamen sie vom Kaiser eine Krone geschenkt, die immer dem besten Sänger verliehen werden sollte. Zweifelsohne kann es sich hier nur um eine Sage handeln, da Kaiser Otto I., genannt der Große und durch die Lechfeldschlacht (955) berühmt, von 936 bis 972 regierte und Walther von der Vogelweide im 13. Jahrhundert lebte. Auch die anderen Dichter lebten nicht alle zur gleichen Zeit. Die Sage diente einzig und allein dem Zweck, die Ausübung der Meistersingerkunst zu legitimieren und sie als Kunst, die von Gott beflügelt werde, darzustellen. 6 Zugleich beriefen sich die Meistersinger des 16. und 17. Jahrhunderts immer auf diese sogenannten Alten Meister, in deren Tradition sie standen. 7 Frauenlob oder Heinrich von Meißen starb in Mainz, und dort soll auch die Wiege des Meistersangs liegen. 8 Der Mainzer Barbier Hans Folz 9 zog nach Nürnberg und begründete dort maßgeblich den Meistersang. Auf diesen Traditionen bauten berühmte, von Richard Wagner verewigte Meistersinger wie Hans Sachs 10 und Sixt Beckmesser 11 auf. Der arme Beckmesser kommt dabei bei Richard Wagner relativ schlecht weg, was wohl kaum der historischen Person gerecht wird, sondern der Tatsache geschuldet ist, dass Wagner für seine deutsche 6 Vgl. R. H AHN , Meistergesang (Anm. 3), S. 9-24. 7 Vgl. H ORST B RUNNER , Die Alten Meister. Studien zu Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters), München 1975. 8 Frauenlob war ein Zeitgenosse Ludwigs des Bayern, den er unterstützte. Vgl. K LAUS W OLF , Vil stolzer Ludewic! Sangspruchdichtung im Kontext des literarischen Lebens um Ludwig den Bayern, in: H ORST B RUNNER / F REIMUT L ÖSER , Sangspruchdichtung zwischen Reinmar von Zweter, Oswald von Wolkenstein und Michel Beheim (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 21) Wiesbaden 2017, S. 415-425. 9 Vgl. P ETER C ZOIK , Hans Folz, https: / / www.literaturportal-bayern.de/ autorenlexikon? task=lpbauthor.default&pnd=118534211 (aufgerufen am 27.9.2018). 10 Vgl. P ETER C ZOIK , Hans Sachs, https: / / www.literaturportal-bayern.de/ component/ lpbauthors/ ? view=lpbauthor&pnd=118604597&highlight=WyJoYW5zIiwic2FjaHMiLCJz YWNocyciLCJoYW5zIHNhY2hzIl0= (aufgerufen am 27.9.2018). 11 Vgl. H ELLMUT R OSENFELD , Art. Beckmesser, Six in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 729f. [Online-Version], URL: https: / / www.deutsche-biographie.de/ pnd102558752. html#ndbcontent (aufgerufen am 27.9.2018). <?page no="96"?> D IE M EI S TER S INGER VON M EMMINGEN 97 Oper einen Bösewicht brauchte. Hans Sachs dagegen war nicht nur im Lutherjahr 2017 als Lobsänger der wittenbergischen Nachtigall 12 und als Autor vieler Fastnachtsspiele berühmt, sondern eben auch als der prototypische und hervorragend produktive Meistersinger. Die insgesamt und nicht nur bei Hans Sachs geradezu manische Produktion von Meisterliedern hat natürlich auch für Spott gesorgt. So karikierte man den für Sachs und andere typischen Knittelvers: Hans Sachs war ein Schuhmacher und Poet dazu. 13 Tatsächlich sind die Reim- und Dichtkünste der Meistersinger, wie wir später noch in einem Beispiel sehen werden, durchaus komplexer Natur. Die Kunst des Meistersangs blühte an vielen Orten im deutschsprachigen Raum. 14 Folgende Orte sind für die Meistersinger samt sogenannter Singschulen von Bedeutung: Mit Mainz fassen wir um 1300 die sagenhafte Geburtsstätte der meisterlichen Kunst. Darum gruppieren sich im Rhein-Main-Gebiet Speyer, Worms und Frankfurt am Main. Am Rhein liegen noch Straßburg und Kolmar. In Altbayern ist eigentlich nur München zu nennen. Dagegen gibt es besonders viele Meistersinger in Württembergisch-Schwaben und Bayerisch-Schwaben, nämlich in Memmingen, Ulm, Esslingen, Nördlingen, Donauwörth und Augsburg. Franken ist mit Rothenburg ob der Tauber und natürlich Nürnberg gut vertreten. Von daher stellt die Gattung des Meistersangs in literarhistorischer Hinsicht eine Franken und Schwaben verbindende Gemeinsamkeit dar. Woran liegt das? Wieso ist Altbayern im Gegensatz zu Schwaben und Franken für den Meistersang so schlecht ›aufgestellt‹? Dies dürfte mit dem politischen Status der eben genannten Städte zusammenhängen. Während München, das ohnehin nur wenig bekannte Meistersinger wie Albrecht Lesch aufwies, eine von den Wittelsbachern dominierte Residenzstadt 15 darstellte, handelte es sich bei Augsburg, Ulm oder Memmingen um Freie und Reichsstädte. Offenbar war Meistersang so etwas wie freies Singen für freie Bürger, weil eine sich selbst verwaltende Korporation ohne fürstliche oder sonstige obrigkeitliche Beauftragung geschweige denn Protektion selbständig die Regeln ihrer 12 H ANS S ACHS , Die Wittembergisch Nachtigall, Die man yetz höret uberall, [Bamberg] [1523] [VD16 S 647], http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ 0002/ bsb00025702/ images/ index.html? fip=193.174.98.30&id=00025702&seite=5 (aufgerufen am 27.9.2018). 13 Vgl. G ERHARD F. H ERING , https: / / www.zeit.de/ 1946/ 03/ schuhmacher-und-poet-dazu (aufgerufen am 27.9.2018). 14 Vgl. die Klappkarte in: B ERT N AGEL , Meistersang (Sammlung Metzler 1682), 2. mit einem Nachwort versehene Aufl. Stuttgart 1971, S. 24f. 15 Vgl. K LAUS W OLF , Literatur am Münchener Hof im 15. Jahrhundert, in: W OLFGANG W ÜST (Hg.), unter Mitarbeit von L ISA B AUEREISEN , Bayerns Adel - Mikro- und Makrokosmos aristokratischer Lebensformen, Frankfurt a. M. 2017, S. 227-239. <?page no="97"?> K LAU S W OL F 98 Kunst bestimmte, ebenso wie die Modalitäten der Aufführung und internen oder öffentlichen Performanz. Denn die Meistersingergesellschaften boten Freiräume für neue Ideen, die etwa das Zeitgeschehen im Sinne der ›Stürmer und Dränger‹ aufgriffen, und ermöglichten das nahezu ungehinderte Ausleben kreativer Potentiale als ›Hobby‹. Dies zeigt zum Beispiel die frühe Aufführung von Schillers revolutionärem Theaterstück ›Die Räuber‹ (1784) im Memminger Salzstadl, organisiert und inszeniert von der Memminger Meistersingergesellschaft. 16 Denn Schillers Räuber wiesen in ihrer Zeit nicht zuletzt durch die Figur des Selbsthelfers einen antiobrigkeitlichen Impetus auf. Dies zeigt schon Schillers Vorbild für den Räuber Karl Moor, welches im sogenannten ›Bayerischen Hiasl‹ bestand, der übrigens nicht unweit von Memmingen wilderte. 17 Dies widerspricht auch dem gängigen Klischee von der konservativen Kunst des Meistersangs. Auch sonst waren die Memminger Meistersinger von Anfang an durchaus nicht konservativ, was schon ihr Rekurrieren auf damals modische französische Lehnwörter im Sinne des à la mode-Wesens beweist. 18 Von daher stimmen die Vorurteile bezüglich des konservativen Meistersangs vielleicht für Nürnberg, keineswegs aber für Memmingen. Dennoch folgt die Literaturgeschichtsschreibung - und dies gilt leider bis heute - nur allzu bereitwillig den von Richard Wagner hervorgerufenen Vorstellungen. Das Bild vom Handwerkerpoeten oder vom rechtschaffenen Schuhmacherdichter verwandte Wagner ja nicht zuletzt polemisch bis antisemitisch, um sich von der Komponistenkonkurrenz, etwa in Gestalt von Giacomo Meyerbeer, abzuheben. Richard Wagner vereinfacht daher bewusst bereits die wesentlich komplexeren Verhältnisse in Nürnberg, und im Grunde war zu Wagners Zeiten nur der Nürnberger Meistersang erforscht. 19 Selbst in Nürnberg gab es nicht nur Handwerkerdichter unter den Meistersingern, sondern auch einige, wenn auch wenige, Gelehrte, also Akademiker. 20 Dies war um so mehr der Fall in der Reichsstadt Augsburg, wo es etwa gelehrte Juristen waren, die nicht nur mit Meistersang, sondern auch mit Homer-Übersetzungen 16 Vgl. R. H AHN , Meistergesang (Anm. 3), S. 88. 17 Vgl. K LAUS W OLF , Matthias Klostermayr - der ›Bayerische Hiasl‹ (1736-1771). Räuber, Wilderer und ein Phänomen der Literaturgeschichte, in: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 19 (Veröff. SFG 3/ 19), hg. v. G ÜNTHER G RÜNSTEUDEL / W ILFRIED S PONSEL , Weißenhorn 2017, S. 207-228. 18 Vgl. K LAUS W OLF , Der Dreißigjährige Krieg im Spiegel schwäbischer Literatur, in: Der Dreißigjährige Krieg in Schwaben und seinen historischen Nachbarregionen: 1617 - 1648 - 2018, hg. v. W OLFGANG W ÜST / L ISA B AUEREISEN (ZVHS 111), Augsburg 2018, S. 117- 124. 19 Vgl. R. W AGNER , Die Meistersinger von Nürnberg (Anm. 2), passim. 20 Vgl. H ARTMUT K UGLER , Handwerk und Meistergesang, Göttingen 1977, passim. <?page no="98"?> D IE M EI S TER S INGER VON M EMMINGEN 99 aufwarten konnten. 21 Sehr früh gab es in Augsburg auch Theaterstücke der Meistersinger. Bemerkenswert ist etwa, dass der Augsburger Meistersinger Sebastian Wild als Protestant ein Passionsspiel verfasste, welches zur Quelle des ältesten Oberammergauer-Passionsspiels wurde. 22 Schon vor vielen Jahren sammelte der Neuseeländer Constantin Kooznetzoff Spielzeugnisse und Spieltexte der Meistersinger. 23 Ansonsten sind die Dramen der Meistersinger aber weitgehend unerforscht. Und dies gilt namentlich für den Memminger Theaterbetrieb. Was nun die Quellen zum Memminger Meistersang anbelangt, so ist diese Stadt damit geradezu gesegnet. Dies möchte ich anhand von Beispielen demonstrieren: 21 Vgl. H ORST B RUNNER , Die Schulordnung und das Gemerkbuch der Augsburger Meistersinger (Studia Augustana 1), Tübingen 1991, passim. 22 Vgl. M ANFRED K NEDLIK , Sebastian Wild, https: / / www.literaturportal-bayern.de/ auto rinnen-autoren? task=lpbauthor.default&pnd=129217514 (aufgerufen am 27.9.2018). 23 Vgl. C ONSTANTIN K OOZNETZOFF , Das Theaterspielen der Meistersinger, in: B ERT N AGEL (Hg.), Der Deutsche Meistersang (Wege der Forschung 148), Darmstadt 1967, S. 442-497. Abb. 1: König David im ersten Stammbuch der Memminger Meistersinger. <?page no="99"?> K LAU S W OL F 100 Zu sehen ist hier eine Prunkseite des ersten Memminger Stammbuches, auf dem König David mit Krone und Harfe abgebildet ist. Die polychrome Buchmalerei zeigt den Schutzpatron der Meistersinger. Auf den Schriftbändern lesen wir: Singet auf den Wegen des Herren/ Daß die Ehre Deß Herren groß sey/ Psalm 138/ Alles was Athem hat Lobe den Herren/ Psalm 150. Mit einzelnen Einträgen in diesem Stammbuch haben sich die in Memmingen ansässigen Meistersinger mit Spruchband und Bild und gegebenenfalls auch mit dem selbst gedichteten Meisterlied verewigt. Manchmal sind Noten beigegeben. Abb. 2: Stammbucheintrag von Hanns Georg Veith Sattlers von Memmingen im ersten Stammbuch der Memminger Meistersinger. Die Überschrift links oben gibt genauere biographische, berufliche und künstlerische Angaben zu den Meistersingern wieder, denn nur die tatsächlichen Meister, also solche, die einen Text dichten und eine Melodie komponieren konnten, wurden der Aufnahme in das Stammbuch für würdig empfunden. Im einzelnen lesen wir: In der Rothen Sattelweiß Hanns Georg Veith Sattlers von Memmingen. <?page no="100"?> D IE M EI S TER S INGER VON M EMMINGEN 101 Somit wissen wir, dass die Melodie des Sattlermeisters nach ihm benannt wurde. Die Abbildung auf der rechten Blatthälfte zeigt kniend den Meistersinger und einen Verwandten, der ebenfalls Meistersinger war. Darüber ist ein breites Spruchband zu sehen, auf dem es heißt: So ermahne ich nun, das man für allen dingen zuerst Thue Bitt, Gebett fürbitt und danckssagung für alle mentschen für die könige und für alle obrigkeit auff dass wier ein gezüglich und Stilles leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit, 1. Brief an Timotheus, 2. Kapitel. Unterhalb des Bildes lesen wir: Das Gebett des Gerechten zur Frist Und last nitt nach biß solches acht. vermag sehr vihl wanns christlich ist. Der aller höchst gerechte Gott. Es dringt durch die wolchen mitt macht. So niemals glassen hatt in Nott. Die nächste Doppelseite zeigt den Memminger Sattlermeister als versierten Komponisten, der es nicht versäumt, Bestandteile der Kanzone mit den Begriffen Stollen oder Abgesang zu kennzeichnen. Abb. 3: Melodey der Rothen Sattelweiß im ersten Stammbuch der Memminger Meistersinger. <?page no="101"?> K LAU S W OL F 102 So gab es in der Memminger Meistersingerschule einen regelrechten Schulbetrieb, bei dem sowohl öffentliche als auch geschlossene Singschulen abgehalten wurden. Unter einer Singschule versteht man einen Wettbewerb, der zwischen den Mitgliedern der Schule stattfand, oder auch die Aufnahmeprüfung, um Teil der Meistersingerschule zu werden. Ähnlich wie in einer Zunft war auch hier eine Hierarchie vorhanden. Es gab Lehrlinge, Gesellen und Meister. Beurteilt wurde die Singschule durch die sogenannten Merker, die von der Meistergesellschaft aus den Meistern gewählt wurden. Sie mussten ›aufmerken‹, wo ein Fehler gemacht wurde. Meister konnte nur derjenige werden, der einen selbstkomponierten Ton fehlerfrei vortragen konnte. 24 Ein Beispiel für eine öffentliche Singschule sieht man auf folgender Abbildung: 24 Vgl. R. H AHN , Meistergesang (Anm. 3), S. 29f., 48f. Abb. 4: Eine öffentliche Singschule im ersten Stammbuch der Memminger Meistersinger. <?page no="102"?> D IE M EI S TER S INGER VON M EMMINGEN 103 Dargestellt ist ein in schwarz gekleideter Sänger, der auf der Kanzel steht und singt, während das Publikum kreisförmig um die Kanzel angeordnet ist. Besonders hervorstechend ist die teilweise bunte Kleidung der Zuhörerschaft, wobei die Mitglieder der Singschule deutlich erkennbar sind durch ihre schwarze Kleidung, wie sie der Sänger auf der Kanzel trägt. Verhältnismäßig ausgelassen und unbeschwert mutet die Szene an, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass sogar Frauen anwesend waren, und dies auch im Kontrast zu einer nichtöffentlichen Singschule, wie man sie auf der nächsten Abbildung sehen kann: Auf diesem Bild muss sich der Tuchscherer Hans Ludwig Holzwart mit seinem Meisterlied vor den Merkern behaupten. Holzwart steht auf der Kanzel und singt, während auf einem Podest die Merker sitzen und seinen Gesang beurteilen. Im Vordergrund der Miniatur sind weitere Mitglieder der Meistersingergesellschaft auf Bänken und Stühlen zu sehen. Alle abgebildeten Männer tragen ebenso wie im vorher gezeigten Bild schwarze Kleidung. Abb. 5: Eine nichtöffentliche Singschule im ersten Stammbuch der Memminger Meistersinger. <?page no="103"?> K LAU S W OL F 104 Die Prüfungen liefen nach festen Regeln ab, die in sogenannten Tabulaturen kodifiziert waren. Auch diese Quellengattung ist in Memmingen vertreten. Auf dem Titelblatt der Tabulatur, die 1660 entstanden ist, ist folgendes zu lesen: 25 Kurtze Entwerffung Deß Teutschen Meister-Gesangs/ Allen dessen Liebhabern zugutem/ wolmeinend hevor geben / und zum Truck verfertiget. Durch eine gesampte Gesellschafft der Meistersinger in MEMMINGEN. Getruckt zu Stuttgart/ Bey Johann Weyrich Rößlin. Anno M. DC. IX. 26 Angefertigt wurde diese Tabulatur durch den Meistersinger Michael Schuester. Dieser war der Sohn des Steuerschreibers und ebenfalls Meistersingers Michael Schuester, was zeitweise aufgrund des gleichen Namens zu einer Verwechslung des Autors geführt hat. 27 Hauptsächlich fasst die Tabulatur nicht nur die metrischen Richtlinien zusammen, sondern gibt auch Anweisungen bezüglich des Inhalts. Dieser hat sich an den Lehren Martin Luthers und insbesonders der Luther-Bibel zu orientieren. Nicht wenige Memminger Meisterlieder stellen deshalb Umdichtungen und Vertonungen des Lutherischen Psalters dar. 28 Alle bisher gezeigten Bilder sind dem ersten Stammbuch entnommen. Es existiert jedoch auch ein zweites Stammbuch, in dem ebenfalls Einträge der Meistersinger vorhanden sind. Während das erste Stammbuch den Zeitraum von 1626 bis 1788 umfasst, ist das zweite Stammbuch auf die Zeit von 1671 bis 1861 datiert. Die zeitliche Überlappung ist bis heute nicht befriedigend erklärt. 29 Denn vieles bedarf noch der gründlichen Erforschung, wie auch das Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder zeigt, das bislang schon die weitgehenden Forschungsdesiderate dokumentiert. 30 25 Vgl. C LAIR H AYDEN B ELL , The Meistersingerschule at Memmingen and its »Kurtze Entwerffung« (University of California Publications in Modern Philology 36), Berkeley-Los Angeles 1952, passim. 26 Vgl. das Faksimile bei C. H. B ELL , Meistersingerschule (Anm. 25), S. [29]. 27 Vgl. G ABRIELE D IETRICH -S EITZ , Memmingen als Literaturstadt. Eine Studie über das literarische Leben einer schwäbischen Reichsstadt vom Anbruch der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Magisterarbeit der LMU München, München 1993, S. 101. 28 Vgl. G. D IETRICH -S EITZ , Memmingen als Literaturstadt (Anm. 27), S. 94. 29 Meine zukünftige Doktorandin Stefanie Engel wird sich in einer Dissertation mit diesem Problem und dem Memminger Meistersang insgesamt beschäftigen. Dabei werden auch die bislang völlig unerforschten Buchmalereien untersucht. 30 Vgl. B URGHART W ACHINGER , Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. <?page no="104"?> D IE M EI S TER S INGER VON M EMMINGEN 105 Was den Fall Memmingen jedoch besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass der Meistersang hier am längsten lebte. Der letzte Memminger Meistersinger starb 1922. 31 Noch im 19. Jahrhundert konnte man die Meistersinger im Stadtbild anlässlich von Beerdigungen beobachten: Abb. 6: Stammbucheintrag von Daniel Karrer (Tuchmacher) im zweiten Stammbuch der Memminger Meistersinger. Dieses Bild ist übrigens dem zweiten Stammbuch entnommen und neben diesem steht geschrieben: Das ehrsame Teutsche Meistergesang Welches Jahrhundert thut schon blühn, Und Wir, wir thun noch immerdar Neue Sänger ans uns ziehen. bis 18. Jahrhunderts. Katalog der Texte, Jüngerer Teil, Bd. 7, 8, 12, 13, hg. v. H ORST B RUN - NER , Tübingen 1988-1990. 31 Vgl. R. H AHN , Meistergesang (Anm. 3), S. 96. <?page no="105"?> K LAU S W OL F 106 Das Teutsche Meistergesang mög noch so lang bestehen Bis dass die Sonne einst, und die Menschen untergehen. Den 25ten Jänner 1839 Hier wird deutlich, dass die Sehnsucht auf den fortwährenden Bestand der Meistersingergesellschaft durchaus vorhanden war, aber sich dies in der Umsetzung schwieriger gestaltete, als vermutet. So löste sich letztendlich 1875 die Gesellschaft der Meistersinger in Memmingen auf, und damit fand generell der Meistersang sein Ende. 32 Ich denke aber, dass er in Poetry Slams ebenso wie in Rap-Battles heute weiterlebt. 33 32 Vgl. R. H AHN , Meistergesang (Anm. 3), S. 96. 33 http: / / www.literaturschloss-edelstetten.de/ 2014/ 05/ 03/ 30-september-2018/ (aufgerufen am 27.9.2018). <?page no="106"?> 107 S TEFAN X ENAKIS Kriegführung in Schwaben und Franken um 1500. Verbindungen und Unterschiede Wir schreiben das Jahr 1504. Die Reichsstadt Nürnberg ist bei der Aufstellung ihres Heeres für den Landshuter Erbfolgekrieg in nicht geringem Zugzwang, als Komplikationen auftreten. Eine zeitgenössische, für den internen Gebrauch bestimmte Chronik des Kleineren Rats führt mitten ins Geschehen: Vor dem ersten ausziehen wurden alle bestelten fusknecht und nemlich yede rott im beysein ires haubtmans […] durch die kriegs hern gemustert, denen ire amptleut gesetzt […] und darauf inen ein verzaichender ayde […] vorgelesen, den sy alle schweren musten. Alls aber Ottmar Spengler mit seiner rott vonn see knechten gelaicher weis zur musterung gefordert, und inen der angezaigt ayde - dar innen undter anderm dyser artickell verleibt, das sy alle flecken und gefangen, so sy erobern, in eines rats handen anttwurten solten - vorgelesen wurde, waygereten sy, den selben artickel zu schweren - die weyl es undter den kriegsknechten nit herkomen, auch nit bey allen herschafften gepreuchlich was. 1 An dem Zitat fallen zwei Umstände auf, die für den Vergleich des Kriegswesens in Franken und Schwaben und für die Verbindung der beiden Regionen Bedeutung haben. Erstens wirbt Nürnberg am Bodensee, und zwar durch den eigens dafür beauftragten Werber Ottmar Spengler. Hierzu später mehr. Zweitens gibt es offenbar Unterschiede in den die Kriegsbeute betreffenden Vorstellungen. Das Erbeuten von Gütern war ein wesentlicher Bestandteil des Krieges und noch bis ins 19. Jahrhundert üblich. Für die Frühe Neuzeit sollte man es sich dabei nicht als wilden, ungeordneten Raubzug vorstellen, auch wenn es durchaus zu extremer Gewalt kommen konnte. Gleichzeitig griffen aber Konventionen, die, wie hier im Beispiel, zum Gegenstand von Diskussionen werden konnten. 2 Nürnberg beanspruchte demnach alle eroberten Orte und Gefangenen für sich. Die Bodenseeknechte hatten hingegen eigene Vorstellungen, die sich, zumindest was die Gefangenen anging, im Rahmen des seinerzeit unter Landsknechten Üblichen bewegten. In einem Krieg durfte praktisch jeder Söldner Gefangene nehmen 1 StA Nürnberg, Rst. Nürnberg: Amts- und Standbücher 142, fol. 50v-51r; S TEFAN X ENA - KIS , Gewalt und Gemeinschaft. Kriegsknechte um 1500 (Krieg in der Geschichte 90), Paderborn 2015, S. 136f. 2 S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 265-326; allgemein zum Problem des Beutemachens siehe H ORST C ARL / H ANS -J ÜRGEN B ÖMELBURG (Hg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit (Krieg in der Geschichte 72), Paderborn 2011. <?page no="107"?> S TEF AN X ENAKI S 108 und Lösegelder erpressen, was, wie der Text zur Kenntnis nimmt, auch viele Herrschaften so hielten. Dies aber im Unterschied zu Nürnberg, dessen Stadtobere sich selbst die wirtschaftliche Ausbeutung der Gefangenen vorbehalten wollten. Diese Unterschiede in der Rekrutierung von Kombattanten und hinsichtlich der üblichen Konditionen führen zur Frage, ob sich dahinter nicht eventuell regionale Signaturen verbergen. Gibt es hier typisch fränkische beziehungsweise typisch schwäbische Elemente oder Traditionen, bzw. übten angrenzende Regionen ihren Einfluss aus? 1. Werbung und Rekrutierung Werbung und Rekrutierung von ausreichend Kriegsvolk war im betrachteten Zeitraum kein kleines Problem. Die Obrigkeiten verfügten noch nicht über stehende Heere, vielmehr musste für jeden Kriegszug eine Streitmacht neu aufgebaut werden. In den Städten waren häufig die Zünfte verpflichtet, Kontingente zu stellen. Daneben gab es aber schon ein organisiertes Söldnerwesen; geradezu prototypisch sind hier böhmische Söldner, 3 Schweizer Reisläufer und Landsknechte zu erwähnen. 4 Alle diese Söldnertypen kamen auch außerhalb ihrer angestammten Gebiete zum Einsatz, Angebot und Nachfrage regelte der Markt, auf dem die Herrschaften als Auftraggeber und Söldnerführer als Auftragnehmer relativ frei agierten. Lässt sich hier nun ein Unterschied zwischen Schwaben und Franken feststellen? Ein Fußknechtsfähnlein in einer schwäbischen Reichsstadt bestand in der Zeit um 1500 aus Einheimischen und aus Bewohnern des Umlands, die meist von den Zünften in den Kriegsdienst berufen wurden. Anstelle ihrer eigenen Mitglieder konnten die Zünfte aber auch bezahlte Söldner schicken. Dazu gesellten sich dann in je nach Situation wechselnden Anteilen frei angeworbene Kriegsknechte. Die meisten stammten aus anderen oberschwäbischen Reichsstädten oder aus geistlichen Herrschaften. Es gab aber schon einen kleinen Anteil von Landsknechten aus weiter entfernten Gebieten des Reiches. In den Fähnlein kamen also erfahrene Kriegsknechte mit völlig unerfahrenen Stadtbürgern zusammen. Überlingen, zum Beispiel, behielt diese Praxis im wesentlichen von den Burgunderkriegen bis zum Bauernkrieg bei. Ähnliches lässt sich für Biberach und Augsburg feststellen. 5 3 Siehe dazu: U WE T RESP , Söldner aus Böhmen. Im Dienst deutscher Fürsten: Kriegsgeschäft und Heeresorganisation im 15. Jahrhundert (Krieg in der Geschichte 19), Paderborn u. a. 2004. 4 Siehe hierzu: R EINHARD B AUMANN , Landsknechte. Ihre Geschichte und Kultur vom späten Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg, München 1994. 5 Vgl. R EINHARD B AUMANN , Das Söldnerwesen im 16. Jahrhundert im bayerischen und süddeutschen Beispiel. Eine gesellschaftsgeschichtliche Untersuchung (Neue Schriftenreihe <?page no="108"?> K R IEGFÜHR U NG IN S CHWAB EN U ND F R ANKE N U M 1500 109 In den schwäbischen Heeren war der Anteil der lokalen Bevölkerung bis zum Bauernkrieg insgesamt sehr hoch. Im Rahmen des Projekts, das diesem Beitrag zugrunde liegt, wurden Muster- und Soldlisten aus Augsburg, Ulm und Esslingen ausgewertet. Bei etwa der Hälfte bis drei Vierteln der Knechte ließ sich der Herkunftsort feststellen. Im Durchschnitt stammten demnach knapp zwei Drittel der Kriegsteilnehmer, die in Schwaben gemustert wurden, auch aus Schwaben. Ab 1519 stieg der Anteil an Knechten von weiter entfernten Orten ein wenig, aber nicht sehr signifikant an. 6 Der Anteil an Kriegsknechten aus Franken ist auf diesen schwäbischen Listen klein. In einer aus dem Jahr 1504 sind es fünf Prozent, in einer weiteren - allerdings mit einer sehr kleinen Stichprobe von insgesamt nur rund 50 Personen - 16 Prozent. In vier Listen aus dem Krieg des Schwäbischen Bundes gegen Herzog Ulrich von Württemberg im Jahr 1519 sind es zwei bis fünf Prozent. Etwas höher fallen die Zahlen in drei Listen aus dem Bauernkrieg aus, nämlich zwischen zwei und 11 Prozent. 7 Etwas anders stellte sich die Musterung von Fußknechten für den eingangs angesprochenen Zug der Stadt Nürnberg in den Landshuter Erbfolgekrieg dar: Auch hier standen kriegstaugliche Handwerker neben frei geworbenen, erfahrenen Männern in denselben Fähnlein. Auf diese Weise brachte Nürnberg 1750 Mann in drei Fähnlein zusammen. Dazu kamen aber weitere, gesonderte Einheiten. Zum einen die 850 Mann unter Ottmar Spengler, die sich oben im Zitat über die Beuteregelungen beklagt hatten; zum anderen ein Fähnlein von 550 Böhmen und sogenannten Waldknechten, wahrscheinlich Söldner aus dem Grenzgebiet zwischen Böhmerwald und Bayerischem Wald. 8 Nürnberg war auf diesem Feld also ein überregional vernetzter Akteur, auch wenn der regionale Bezug eine Rolle spielte. Zwar stellte die Musterung von Böhmen für den Nürnberger Rat eine im Wortsinn näher liegende Option dar als z. B. für den Esslinger Rat. Andererseits aber unterhielt die Reichsstadt, wie erwähnt, Werber am Bodensee. Die Stadt versuchte sogar, wenn auch in diesem Fall erfolglos, Schweizer Reisläufer zu mustern und hatte dafür sogar einen eigenen Korrespondenten. 9 Die böhmischen Söldner nahm der Rat eher ungern in Dienst, was damit zusammenhing, dass deren Verträge - im Gegensatz zu denen der Landsdes Stadtarchivs München 99), München 1978, S. 50-58; vgl. S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 47f. 6 Vgl. S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 51f. 7 Vgl. S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 369, 372. 8 Vgl. S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 49. 9 Jobst Suttor aus Glarus; vgl. StA Nürnberg, Rst. Nürnberg: Amts- und Standbücher 142, fol. 12v-13r; S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 49. <?page no="109"?> S TEF AN X ENAKI S 110 knechte - noch die für das späte Mittelalter typischen Schadenersatzregelungen enthielten, 10 die den Kriegsherren teuer zu stehen kommen konnten. Dass die Böhmen 1504 dennoch zum Zuge kamen, war der konkreten Konstellation des Landshuter Erbfolgekrieges geschuldet. Hier spielte die Kombination von Region und Situation eine Rolle. Pfalzgraf Ruprecht, der Kriegsgegner, hatte im Nürnberger Umland geworben. Er war zudem, nachdem er die Burghausener Schatzkammer frühzeitig in seine Gewalt gebracht hatte, 11 finanziell gut ausgestattet. Der regionale Söldnermarkt war somit leergefegt, und für Nürnberg waren die böhmischen Fähnlein eher ein Notnagel. Der Chronist schreibt: Dann die weill nit gewis was, ob die sachen zum krieg gelanngken, wollt ein erber rate sich mit kriegsvolck nit belegen, sich auch mitt auswendigen dinstleuten nit an hencken, in hoffnung, so der krieg fürganng gwinne, das sy hie yder zeit dienstvolck umb ir gelt wollten bekomen. Aber pfaltzgraf Philips unnd hertzog Rupprecht […] die feyerten nit, ein mercklich volck zu inen zue bringen […] also das nachvolgendt ein erber rathe, wie wol sy nach geraysigen an ettwovil ort fertigten und schriben, daran zu irer notturfft mangell hett. Die auch umb gelt oder dinst nicht bekomen mochten, und musten aus not die Behaim annemen, bey denen sich […] allerley mangels und gebrechen erzeiget. 12 Hier zeigt sich, wie die Akteure mit der Musterung des Kriegsvolks schon entscheidende Weichenstellungen vornahmen bzw. ihr eigenes Handeln in dieser Weise bewerteten. Und offenbar spielten Marktsituationen hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Mit der Nennung des von den Nürnberger Oberen mit der Werbung der Bodenseeknechte beauftragten Ottmar Spengler ist schon ein wenig Licht auf eine für den Söldnermarkt ganz entscheidende Gruppe gefallen: die Söldnerführer. Sie waren private Militärunternehmer, 13 die gleichsam die Schnittstelle zwischen Knechten und Obrigkeiten bildeten. In Böhmen hatte der Adel das Soldgeschäft für sich entdeckt, 14 ebenso im deutschen Südwesten, wo sich die Anfänge dieses Unternehmertums im späten 15. Jahrhundert feststellen lassen. Ab ca. 1510 erschienen dann die großen, heute noch bekannten Akteure auf der Bildfläche: Georg von Frundsberg, Merk Sittich von Ems, Georg Truchsess von Waldburg, Konrad von Bemelberg, Sebastian Schertlin von Burtenbach. Die Finanzierung ihrer Unternehmungen sicherten sie durch Kredite von Augsburger und Memminger Kaufleuten ab; und sie schufen neuen Bedarf an Waffen, Ausrüstung und Versorgung der 10 Vgl. U. T RESP , Söldner (Anm. 3), S. 73. 11 Vgl. U. T RESP , Söldner (Anm. 3), S. 73. 12 StA Nürnberg, Rst. Nürnberg, Amts- und Standbücher 142, fol. 167v. 13 Vgl. F RITZ R EDLICH , The German Military Enterpriser and his Workforce. A Study in European Economic and Social History (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 47/ 48), 2 Bde., Wiesbaden 1964/ 65. 14 Vgl. U. T RESP , Söldner (Anm. 3), S. 120-123. <?page no="110"?> K R IEGFÜHR U NG IN S CHWAB EN U ND F R ANKE N U M 1500 111 Heere, mit einem entsprechenden Zuwachs in diesen Wirtschaftszweigen. Somit entstand ein komplexer Wirtschaftsraum rund um das Soldgeschäft. 15 Diesem Söldnermarkt waren die für Schwaben typischen Herrschaftsstrukturen durchaus förderlich. Söldnerwerbungen wurden - abgesehen von den jeweils eigenen - von den Obrigkeiten meist nicht gerne gesehen. Sie verhängten in der Regel sogenannte Reislaufverbote, die aber kaum durchgesetzt wurden; zumal es für fahrende Landsknechte leicht war, einer möglichen Durchsetzung dieser Verbote mit einem Ortswechsel in eine benachbarte Herrschaft auszuweichen. Die örtliche Bevölkerung, über die ein solches Verbot verhängt worden war, konnte sich ebenfalls in einer Nachbarherrschaft mustern lassen, d. h. diese Konstellation machte es auch den Werbern leicht, an Kriegsvolk zu gelangen. 16 Warum fehlen nun in Franken die großen Namen des Kriegsunternehmertums? Mit diesem Aufsatz soll ein Erklärungsansatz, womöglich ein Ausgangspunkt für weitere Forschungen, vorgeschlagen werden. Für den Erfolg eines Söldnerunternehmers war sein Ansehen bei den Territorialherren oder in den übergeordneten Institutionen entscheidend; bei jenen also, die im großen Stil Kriege führten und dafür entsprechende Gelder fließen lassen konnten. Für Schwaben war die enge Vernetzung der territorialen Herrschaften innerhalb der Georgenschildgesellschaft und später des Schwäbischen Bundes charakteristisch. Letzterer war konstitutiv auf die Kooperation von Adligen, Fürsten und Städten angelegt. 17 Zudem war der schwäbische Adel durch Lehnsbindungen eng mit dem Haus Habsburg und damit dem Kaiser verbunden. 18 In diesem vernetzten und von Kooperation geprägten Umfeld konnten adlige Söldnerunternehmer einiges an Reputation erwerben. Für den fränkischen Adel lässt sich das Gegenteil behaupten. Er stand in ausgeprägter Gegnerschaft zu den Städten und war nach dem Krieg des Schwäbischen Bundes gegen die fränkischen Fehderitter entscheidend geschwächt. Diesen Zug hatte, nebenbei bemerkt, mit Georg Truchsess von Waldburg einer der entscheidenden Organisatoren des schwäbischen Soldgeschäftes angeführt. 19 15 Vgl. R EINHARD B AUMANN , Süddeutschland als Söldnermarkt, in: P HILIPPE R OGGER / B ENJAMIN H ITZ (Hg.), Söldnerlandschaften. Frühneuzeitliche Gewaltmärkte im Vergleich (Zeitschrift für Historische Forschung Beiheft 49), Berlin 2014, S. 74-76. 16 Vgl. R. B AUMANN , Süddeutschland (Anm. 15), S. 78. 17 Umfassend dazu: H ORST C ARL , Der Schwäbische Bund 1488-1534. Landfrieden und Genossenschaft am Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 24), Leinfelden-Echterdingen 2000; vgl. zur Georgenschild-Gesellschaft bes. S. 99-111. 18 Vgl. R. B AUMANN , Süddeutschland (Anm. 15), S. 74. 19 Vgl. P ETER B LICKLE , Der Bauernjörg, Feldherr im Bauernkrieg. Georg Truchsess von Waldburg, 1488-1531, München 2015, S. 70f. <?page no="111"?> S TEF AN X ENAKI S 112 Die Situation im frühen 16. Jahrhundert stellt sich demnach so dar, dass kleinteilige Herrschaftsräume das Soldgeschäft förderten und, sofern es unerwünscht war, dessen Unterbindung erschwerten. Gleichzeitig waren diese Herrschaften in Schwaben standesübergreifend - Adel, Städte und Kaiser - politisch und wirtschaftlich eng verflochten. Mit dem Schwäbischen Bund war eine Körperschaft entstanden, in der sich nach und nach ganz Süddeutschland politisch organisierte, auch das für Franken entscheidende Nürnberg und sogar die bis dato mit der Stadt verfeindeten Markgrafen von Brandenburg. In diesem Umfeld konnten schwäbische Adlige sich auf das Soldgeschäft konzentrieren und einen Markt etablieren. Die fränkischen Adligen waren dagegen nicht Teil dieses Netzwerks, sondern standen politisch isoliert da. Somit fehlten ihnen, mangels Renommee im Schwäbischen Bund und beim Kaiserhaus, entscheidende Kriterien für den Marktzugang. 2. Regionale Unterschiede im Kriegsbrauch Nachdem nun die Unterschiede bei Rekrutierung und Söldnermarkt umrissen sind, soll ein Blick auf einige Details geworfen werden, die Franken und Schwaben möglicherweise als Räume mit zum Teil unterschiedlichen Traditionen in der Kriegführung erscheinen lassen. In Franken ist dabei einmal mehr eine stärkere Anbindung an Bayern und Böhmen auszumachen. 2.1 Taktik Dies gilt z. B. für eine technisch-taktische Besonderheit. Franken teilte sich im 16. Jahrhundert mit Böhmen offenbar die Vorliebe für die überkommene Kriegstaktik der Wagenburg. Diese bildete einen Rückzugsraum für die Kämpfer und bestand aus verstärkten Pferdefuhrwerken. Eine ›Burg‹ wurde daraus, indem man die Wagen dicht an dicht in einen Kreis stellte, dann mit Ketten verband und die Zwischenräume mit Brettern schloss - was auf den Schlachtfeldern des späten Mittelalters eine gute Deckung gegen Pfeile und Armbrustbolzen bot. 20 (Abb. 1) Diese Kriegstechnik hatte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ihre Blütezeit und kam ebenfalls in Bayern zum Einsatz. 21 Am Anfang des 16. Jahrhunderts war sie aber eigentlich schon überholt. 22 20 Zur Wagenburgtaktik siehe U. T RESP , Söldner (Anm. 3), S. 395-398. Ähnlichkeiten in der Kriegstaktik finden sich auch zwischen dem östlichen Bayern und Böhmen. Siehe hierzu R. B AUMANN , Söldnerwesen (Anm. 5), S. 42f. 21 Dies geht aus Muster- und Schadenslisten von Kriegszügen Herzog Ludwigs von Bayern Landshut aus dem Jahr 1468 hervor; vgl. U. T RESP , Söldner (Anm. 3), S. 395-398. 22 Vgl. U. T RESP , Söldner (Anm. 3), S. 75. <?page no="112"?> K R IEGFÜHR U NG IN S CHWAB EN U ND F R ANKE N U M 1500 113 Abb. 1: Feldlager im 16. Jahrhundert. Radierung von Jost Amman (1531-1591). Das zeigte sich im Landshuter Erbfolgekrieg in der bekannten Schlacht bei Wenzenbach. Hier stand am 12. September 1504 das zu großen Teilen mit böhmischen Söldnern besetzte Heer der pfälzischen Partei einem Heer Maximilians I. gegenüber. Zunächst konnte das pfälzische Heer zwar die Reiterei des Gegners zurückschlagen und einige Geschütze erobern. Als man aber begann, damit auf Maximilians Heer zu schießen, blieb die Gegenwehr nicht aus: Die Nürnberger Artillerie begann ihrerseits einen Angriff und zerstörte damit die Schlachtordnung der böhmischen Söldner im pfälzischen Dienst. Während der anschließenden langen und verlustreichen Kampfhandlungen trieben Maximilians Reiter und Fußsöldner die Böhmen in ihre Wagenburg zurück oder schlugen sie in die Flucht. In der Wagenburg ergaben sich am Ende diejenigen, die noch am Leben waren. 23 Aufgrund der Feldartillerie hatte die Wagenburg also nur noch einen begrenzten taktischen Wert. Wenn sie nicht in Verbindung mit einer funktionierenden Schlachtordnung 24 eingesetzt wurde, erwies sie sich letztlich als Falle. Trotzdem 23 Vgl. U. T RESP , Söldner (Anm. 3), S. 75; S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 235, 237. 24 Für die böhmische Kampfesweise war die Verbindung von Wagenburg mit einer speziellen Verwendung der Pavese, einer im 15. Jahrhundert weit verbreiteten Art eines etwa manns- <?page no="113"?> S TEF AN X ENAKI S 114 hielt sie sich offenbar noch einige Zeit. Noch über 20 Jahre später, im Bauernkrieg, kam in Franken eine Wagenburg zum Einsatz - im Unterschied zu Schwaben. 25 Ein Beispiel bildet die Schlacht bei Königshofen. Hier nutzte das Heer der Aufständischen sie als Rückzugsort und Deckung gegen einen im Rücken liegenden Wald. Ansonsten zeigte es sich aber auf der Höhe der Zeit und verwendete Feldartillerie, immerhin 40 Geschütze von mindestens mittlerer Größe. Unterhalb des Hügels stand der Haupthaufen des Schwäbischen Bundes. Er kam allerdings nicht zum Einsatz, weil es Berichte über geheime Absprachen zwischen Teilen des Fußvolks und dem Kriegsgegner gab. 26 Georg Truchsess von Waldburg zog also nur mit Reiterei und rund 2.000 zuverlässigen Fußsöldnern auf einen Hügel, wo sie die gegnerische Artillerie nicht erreichen konnte. Von dort zog er den Aufständischen entgegen, so dass diese versuchten, in einer Ordnung von drei Haufen mitsamt den Wagen in einen Wald auszuweichen. In diesem Moment griff die Reiterei des Bundes an und verursachte im Bauernheer eine Massenpanik. Ein Teil der fliehenden Aufständischen wurde vom Rest getrennt, die Reiter jagten sie auf einen Berg und töteten sie. Die anderen konnten sich im Wald verschanzen, wurden aber vom bündischen Fußvolk umstellt und in langen, blutigen Kämpfen getötet oder gefangen genommen. 27 Die Schlacht bei Königshofen bildet darin, dass hier Fußvolk in den Nahkampf, Mann gegen Mann, verwickelt wurde, eine Ausnahme, wohl bedingt durch die Verlagerung des Schlachtgeschehens in den Wald. Ähnliches findet sich normalerweise in Gebirgsregionen, vor allem ein Jahr später im Salzburger Bauernkrieg. Für die Kämpfe des Jahres 1525 ist eine Konstellation viel typischer, die man als Menschenjagd 28 bezeichnen muss. In der Regel brach die Schlachtordnung der Aufständischenheere schnell auseinander. Was dann folgte, war ein massenhaftes Abschlachten durch die Reiterei des Bundesheeres, die dem fliehenden Fußvolk nachsetzte - ähnlich, wie es im zuvor beschriebenen Szenario zu Beginn der Fall war. Insgesamt fällt ein regionaler Vergleich bei den Kriegstechniken, obwohl einige Unterschiede sichtbar werden, schwierig aus. Am ehesten lässt sich wohl sagen, dass beide Regionen in unterschiedlichem Tempo allgemeineren technischen und taktischen Entwicklungen unterworfen sind. Zum einen professionalisierte sich das hohen hölzernen Setzschildes, charakteristisch. Siehe dazu U. T RESP , Söldner (Anm. 3), S. 79-81. 25 Vgl. P. B LICKLE , Bauernjörg (Anm. 19), S. 237. 26 Vgl. S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 205. 27 Vgl. zur gesamten Darstellung P. B LICKLE , Bauernjörg (Anm. 19), S. 237f.; S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 244f. 28 Zu diesem Begriff und seiner Begründung in der neueren Gewaltforschung siehe S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 24-25, 238-249. <?page no="114"?> K R IEGFÜHR U NG IN S CHWAB EN U ND F R ANKE N U M 1500 115 Fußvolk fortlaufend. 29 Dies gilt sogar für die sogenannten ›Bauernheere‹ von 1525. Es wäre ein Fehler, sie sich als ungeordnete Haufen von Amateuren vorzustellen, die aus lauter Idealismus der Bewegung beitraten. Beides stimmt nicht: Die Heere waren nicht ungeordnet, und sie rekrutierten sich zu großen Teilen auch nicht aus Idealisten. Der Krieg des Jahres 1525 wurde vielmehr erst dadurch ermöglicht - das gilt für den Schwäbischen Bund wie für die Aufständischen - dass viele professionelle Söldner nach der Schlacht von Pavia aus den italienischen Kriegen heimkehrten und von beiden Seiten in Dienst gestellt wurden. Anderenfalls hätten weder die Aufständischen noch der Schwäbische Bund genügend Leute gefunden, die tatsächlich bereit gewesen wären zu kämpfen. Speziell für den Bodenseehaufen konnte Peter Blickle nachweisen, dass er eben nicht aus Bauern bestand, sondern aus professionellen Kriegsknechten. 30 Zum anderen war wohl entscheidend, ob ein Heer über Feldartillerie verfügte oder nicht; dies trifft schon für den Landshuter Erbfolgekrieg zu und zeigt sich bei der erwähnten Schlacht bei Wenzenbach ebenso wie bei der anderen großen Feldschlacht jenes Krieges bei Altdorf vor den Toren Landshuts. Auch hier liegen Berichte vor, dass vor allem die Feldartillerie des Schwäbischen Bundes die Schlacht entschieden habe, indem sie die Ordnung des pfälzischen Heeres zerstörte. Ein weiteres Beispiel ist die Entscheidungsschlacht im Krieg des Bundes gegen Herzog Ulrich von Württemberg 1519 bei Hedelfingen. Das Schlachtgeschehen drehte sich dort vier Tage lang fast ausschließlich um die Positionierung von Geschützen in einem taktisch schwierigen Gelände. Die Hauptmacht der Heere traf dabei überhaupt nicht aufeinander. Und die bekannten Schlachten des Bauernkriegs, namentlich auf der Wurzacher Heide, bei Böblingen, im Territorium der Reichsabtei Weingarten und an der Leubas, wurden, wie schon gezeigt, durch die Feldartillerie entschieden - und zwar gleich zu Beginn, indem sie Massenpaniken in den Aufständischenheeren auslöste, was regelmäßig zu den beschriebenen Menschenjagden führte. 31 Aber auch die andere Seite setzte Geschütze ein - die durchaus beachtliche Artillerie des Aufständischenheeres bei Königshofen wurde schon erwähnt -, konnte aber angesichts der immensen Kosten für Beschaffung und Unterhalt nicht mithalten. Die hergebrachten Techniken des für die Landsknechte typischen Gevierts und der Wagenburg waren damit schon am Ende des Mittelalters nur noch von begrenztem taktischem Wert, ihre Grenzen setze ihnen die beschriebene technische Entwicklung. Dass dabei in Franken die Wagenburg noch 1525 mehrfach zum Einsatz kam, lässt sich vielleicht gerade deswegen als eine regionale Besonderheit 29 Vgl. S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 129-134. 30 Vgl. S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 191-195; P. B LICKLE , Bauernjörg (Anm. 19), S. 133. 31 Vgl. zu allen erwähnten Schlachten: S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 233-235. <?page no="115"?> S TEF AN X ENAKI S 116 festhalten, allerdings, aufgrund der wenigen Beispiele, eher als ein Eindruck denn als gesicherte Erkenntnis. 2.2 Kriegsbeute Die Herkunftsregion von Kriegsknechten scheint auch bei den Regeln, nach denen geplündert und Beute verteilt wurde, eine Rolle gespielt zu haben. Hier fehlen ebenfalls regional differenzierende Untersuchungen, und die Forschung geht eher von einem einheitlichen Kriegsbrauch aus. 32 Aber es gibt Hinweise darauf, dass Region und Herkunft doch eine Rolle spielten. Deshalb lohnt es sich, die am Anfang dieses Beitrags angerissene Geschichte der Beinahe-Meuterei der Bodenseeknechte weiter zu erzählen. Zur Erinnerung: Die in Nürnberg übliche Regelung, dass alle Gefangenen und auch die Herrschaft über alle eroberten Dörfer der Stadt zu übergeben seien, stieß bei den Knechten auf Ablehnung. Die Nürnberger Oberen konnten sie nur dadurch zum Bleiben bewegen, dass sie einigen der einflussreichsten Mitglieder des Bodenseefähnleins besondere Zuwendung schenkten. Der Chronist schreibt: Also wurde Otmar Spengler samt seinen zugewantten von den fodersten [ = vordersten] durch die andern eines erbern rats habtleut so stattlich bespracht und berett, das sie zusagten, mit ihren leuten zu handelln, sy zu einem andern zubringen. Doch musst man den selben fodersten von den seeknechten zuvoran ein zusagen thun, sy darumb mit einer vererung in sonders zubedencken, das macht das redlein lauffen. 33 Mit ›vererung in sonders‹ ist hier nichts anderes als eine Sonderprämie, eine Geldzahlung, gemeint; und die Vordersten sind, das wird wenig später deutlich, unter anderem Mitglieder der Familien der Reischacher und der Landenberger. Ein adliger Kader war unter den Fußknechten in dieser Zeit nicht ungewöhnlich. 34 Zwischen den Seeknechten und ihrem Dienstherrn, der Stadt Nürnberg - sowie den anderen Knechten im Heer - gab es später einen erneuten Beutekonflikt. Er ereignete sich nach der ursprünglich friedlichen Einnahme von Lauf an der Pegnitz. Der pfälzische Pfleger, Christoph von Lentersheim, war zuvor schon mitsamt der Stadtbesatzung geflohen, und die Bürger hatten den Nürnberger Truppen symbolisch die Schlüssel der Stadt übergeben. So friedlich sollte es aber nicht bleiben. Die Chronik vermerkt hierzu: Aber zustund haben sich ettlich edelleut, so under den seeknechten zu fuss gewest, als Reyschacher und Lanndenberger, in das schlos gethan, alle kelter, truhen und casten geoffent, ettwo vill gutter klayder […] so des pflegers gewest, genomen und behalten. Auch die brief, so sy gefunden, zerschnitten, die sygel herab gerissen. Deshalben 32 Vgl. S ASCHA M ÖBIUS , Art. Kriegsbrauch, in: Enzyklopädie der Neuzeit 7, Stuttgart 2008, Sp. 173-175; S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 301-306. 33 StA Nürnberg, Rst. Nürnberg, Amts- und Standbücher 142, fol. 50v-51r; vgl. S. X ENA - KIS , Gewalt (Anm. 1), S. 137f. 34 Vgl. S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 138. <?page no="116"?> K R IEGFÜHR U NG IN S CHWAB EN U ND F R ANKE N U M 1500 117 untter den knechten allerley unordnung worden, dan die andern knechte haben dyser, der seknecht, handlung myßfallen […] gehabt, und sich understanden, in der stat auch zu plundern, das man mit beschwere dem furkomen. 35 Das Vorgehen einiger im Heer sicher recht prominenter Adliger aus dem Bodenseeraum - die ja schon in einem gewissen Konflikt mit dem Kriegsherrn standen - führte hier also zu einer Konkurrenz zwischen ihnen und den anderen Fähnlein sowie zu wilden Plünderungen in der Stadt. Dies zeigt, dass man regionalen Akteuren Aufmerksamkeit schenken sollte, allerdings ohne dass sich hier schon regionale Unterschiede feststellen ließen. Vielmehr scheint es darauf anzukommen, dass die Beteiligten sich selbst und gegenseitig regionale Verschiedenheit zuschrieben. 3. Regionale Akteure Ein weiteres Beispiel, diesmal sind Franken die Protagonisten, macht deutlich, dass regionale Netzwerke sogar - wenn auch unterschwelligen, inoffiziellen - Einfluss auf die Kriegführung hatten. Und zwar berichtet der Ulmer Rat Matthäus Neithardt entsprechende Begebenheiten aus der schon erwähnten Schlacht bei Altdorf - und macht auch seinem Ärger Luft: Aber lieben herren, ain unerhörtter krieg ist der, daß die veind uf bayd tail zu samen reitten, ain anderen griessen, die hend bietten, ›frid‹ ruffen, und so ettwar vom adel wund wirtt, kompt er gen Landshut in die statt, damit er gehailt werd. 36 Mit ›ettwar [ = jemand] vom adel‹ bezieht sich Neithardt auf den jungen und damals noch nicht sehr bekannten Götz von Berlichingen, dem in dieser Schlacht der rechte Arm zerschossen worden war. Götz war nur ungern und aufgrund familiärer Verpflichtungen an der Seite seines Onkels Neidhart von Thüngen auf bayerischer Seite in den Krieg gezogen, die pfälzische wäre ihm lieber gewesen. Der auf pfälzischer Seite kämpfende Christoph von Giech ließ ihm dann nach seiner Verwundung in Landshut ein Krankenlager einrichten, wo Götz viele Standesgenossen als Besucher empfing - sogar Pfalzgraf Ruprecht hatte seinen Besuch angekündigt. 37 Über diese adligen Beziehungen, die den Krieg fast zu ignorieren scheinen, beschwerten sich nun die Fußknechte im Heer, so dass gemeinsame Ausritte und andere freundschaftliche Handlungen zwischen gegnerischen Adligen schließlich verboten wurden. Über den Erfolg dieser Maßnahme wird freilich nichts berichtet. 38 35 StA Nürnberg, Rst. Nürnberg, Amts- und Standbücher 142, fol. 54r; vgl. S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 287f. 36 StadtA Ulm, A [1073], Nr. 169; vgl. S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 102. 37 Vgl. H ELGARD U LMSCHNEIDER , Götz von Berlichingen. Ein adeliges Leben in der deutschen Renaissance, Sigmaringen 1975, S. 44f. 38 Vgl. S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 102f. <?page no="117"?> S TEF AN X ENAKI S 118 Auch nicht übergehen sollte man, dass Matthäus Neithardt einen Einfluss des fränkischen Adels auf das Schlachtgeschehen andeutet, wenn er - gleich im Anschluss an das vorige Zitat - schreibt: Die füßknecht uf unserem tail hetten vor Landsh tt die büchssen garnech abgelouffen und gewunen. Man hette wol ain mercklichß schaffen und ain g tten hauffen niderwerffen mügen, warumb eß nit geschehen ist, wissen unser fil. 39 Leider geben die Quellen nicht her, worauf genau Neithardt sich mit seiner Anspielung bezieht; da sie aber in unmittelbarer Nähe zu seiner Klage über die adligen Verflechtungen steht, kann man davon ausgehen, dass er adlige Einflussnahme als entscheidend dafür ansieht, dass dieser geplante Versuch, das gegnerische Geschütz zu erobern, nicht stattfand. 4. Fazit In diesem Aufsatz ging es um Eindrücke zu den Unterschieden, die zwischen Franken und Schwaben im Kriegswesen bestanden. Eindrücke, die vielleicht den Ausgangspunkt von Untersuchungen bilden können, mit denen sich unterschiedliche Traditionen oder Strukturen klarer herausarbeiten ließen. Ein systematischer Vergleich war dagegen auf Basis der relativ wenigen gut belegten Ereignisse nicht möglich. Als Leitbegriff für eine solche Untersuchung kann der in der Militär- und Sozialgeschichte etablierte Begriff der Söldnerlandschaft dienen. 40 Eine solche Söldnerlandschaft zeichnet sich unter anderem durch einen funktionierenden Markt aus, dessen Akteure politisch gut vernetzt sind und Zugriff auf große Geldreserven haben. Für Schwaben trifft dies mit seinen innerhalb des Schwäbischen Bundes und durch habsburgische Lehnsbindungen eng vernetzten Adligen zu. Im untersuchten Zeitraum scheint es auch so zu sein, dass der schwäbische Raum seinen Bedarf an Söldnern im Wesentlichen vor Ort deckt. Der fränkische Adel erscheint dagegen politisch isoliert und bildete keine Söldnerlandschaft in diesem Sinne aus. Es hat sich ferner gezeigt, dass für den Verlauf von Kriegen regionale Konstellationen mit entscheidend waren, die aber immer wieder politischen Wechselfällen unterlagen. Nürnberg musterte böhmische Söldner, aber nur aus dem Grund, dass der Kriegsgegner den regionalen Markt leergefegt hatte. Es hatte ferner versucht, Schweizer Eidgenossen zu werben, aber ohne Erfolg; und die Indienststellung von 39 StadtA Ulm, A[1073], Nr. 169; vgl. S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 1), S. 103. 40 Siehe dazu P HILIPPE R OGGER / B ENJAMIN H ITZ , Räumliche Logiken und Gewaltmärkte in historisch-vergleichender Perspektive. Eine Einführung, in: D IES . (Hg.), Söldnerlandschaften (Anm. 15), S. 9-43; im selben Band speziell zum hier betrachteten Raum: R. B AU - MANN , Süddeutschland (Anm. 15). <?page no="118"?> K R IEGFÜHR U NG IN S CHWAB EN U ND F R ANKE N U M 1500 119 Kriegsknechten aus dem Bodenseeraum führte aufgrund unterschiedlicher hergebrachter Beuteregelungen zu Problemen. Allgemein kann man sagen, dass regionale Unterschiede in Form bestimmter überkommener Kriegstaktiken an Bedeutung verloren, weil sie von der technischen Entwicklung, vor allem der Artillerie, und vom immensen Anwachsen der Heere sowie dem damit verbundenen Finanzierungsbedarf überlagert wurden. Zunächst sieht es dabei aber so aus, dass sich überkommene Techniken eine Zeitlang als regionale Besonderheiten behaupteten. Im Bauerkrieg unterhielten die fränkischen Aufständischen Wagenburgen als Deckung und taktischen Rückzugsraum, die schwäbischen dagegen nicht. Doch bleibt es hier bei einem Eindruck. Es wäre zum Beispiel noch zu untersuchen, ob dies nur für die Bauernheere galt. Deutlicher wurde, dass es bei den Regelungen zum Beuteerwerb regionale Unterschiede gab und dass die Konkurrenz zwischen Söldnern unterschiedlicher Herkunft zu Beutekonflikten führen konnte. Ebenfalls gibt es Hinweise darauf, dass der Verlauf einzelner Gefechtssituationen von regional einflussreichen, teilautonomen Akteuren, d. h. Adelsnetzwerken, mitbestimmt werden konnte. Den Auftakt zum wilden Plündern in Lauf bildete der eigenmächtige Beutezug schwäbischer Adliger, und fränkische Adlige bremsten offenbar einen größeren Erfolg des Schwäbischen Bundes in der Schlacht bei Altdorf aus. Wie gesagt, ging es hier um Eindrücke; der Untersuchung sind für einen systematischen Vergleich zu wenige Beispiele zugänglich. Erfolgversprechend erscheint aber die weitere Erforschung der Art und Weise, wie sich die Akteure als Teil einer Region wahrnahmen, vernetzten und auf diese Weise die Region mit konstruierten. <?page no="120"?> 121 V ERONIKA H EILMANNSEDER Die kirchliche Verwaltung als Träger der Konfessionalisierung. Die Bistümer Augsburg und Würzburg im Vergleich 1. Konzeptionelle Überlegungen Am Beispiel der Bistümer Augsburg und Würzburg soll im Folgenden untersucht werden, welche Entwicklungen maßgeblich zur Ausbildung der konfessionell stabilen Kirche der Barockzeit geführt haben. Der Betrachtungszeitpunkt liegt um 1600, als bekanntlich mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 auf Reichsebene und jeweils innerkirchlich verpflichtend festgelegt worden war, wie sich alle Gläubigen konfessionell korrekt zu verhalten hatten. Katholischerseits waren es besonders die Regelungen des Konzils von Trient (1545-1563) gewesen, die als Richtschnur der täglichen Glaubenspraxis dienen sollte. Sie in den Diözesen landessprachlich verständlich zu machen und in der Flächenorgansation, also den Pfarreien, Landkapiteln, Klöstern und Stiften umzusetzen, war eine große Aufgabe dieser Epoche. Sie forderte eine erstarkende geistliche Verwaltung heraus, die zentral organisiert den Bischöfen zur Seite stand. Eine andere war, geeignetes Personal auszubilden, welches als Akteur die katholischen Glaubensspezifika und -formen in den Pfarreien, Klöstern, Stiften und Schulen umsetzen und Parochianen, Klosterbrüder und -schwestern wie die Schuljugend anleiten konnte. Und eine dritte entsprechend, geeignete Medien und institutionelle Einrichtungen bereitzustellen, die den Konfessionalisierungsprozess verbindlich verfestigten. Für die bischöflichen Oberhirten war das Heil der ihnen anvertrauten Diözesanen höchste und wichtigste Sorge. Jeder Mensch trug durch seine Frömmigkeit und möglichst weitgehende Sündenfreiheit zum allgemeinen Heil bei. Entsprechend stark war die obrigkeitliche Forderung nach einem frommen Leben jedes Einzelnen. Der Dokumentation der normgerechten Glaubenspraxis kam demnach ein wichtiger Part zu. Diese Aufgabe wurde - wie zu zeigen sein wird - durch die Diözesanadministrative angeleitet und kontrolliert. Teilweise seriell, teilweise mit sehr spezifischer und aufmerksamer Beobachtung ausgeführt, wurden die Ergebnisse dann in neu entstehenden Akten als verbindlich festgehalten: Ein typischer Wesenszug des aufziehenden Zeitalters der Akten, das mit deutlichem Bezug auf die schriftgestützte römische Rechtsverwaltung allein aufgrund der zu verarbeitenden Menge mit den Registraturen und Kanzleien eigenes Personal und eigene Einrich- <?page no="121"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 122 tungen benötigte. 1 Dieser äußeren Macht und Glaubwürdigkeit erzeugenden Dokumentation der Frömmigkeitskultur, wie sie sich in den Aktenstapeln und Verwaltungsbüchern zeigt, soll als einer kirchenadministrativen Neuerung im Folgenden auch Aufmerksamkeit geschenkt werden. In diesem großen Panorama zeichnen sich konkrete Merkmale ab, die sich als interdiözesane Vergleichskriterien eignen. Es sind dies zunächst die von den Bischöfen für ihre Diözesen gegründeten Seminarien, hohen Schulen und Universitäten und dabei auch die Zusammenarbeit mit dem Jesuitenorden als einer treibenden Kraft in der katholischen Bildung und Reform. Dann die Institutionen und Personen der geistlichen Zentralverwaltung, die dafür sorgen sollten, dass der konfessionelle Pflichtenkatalog unter den Diözesanen und dem kirchlichen Personal bekannt war und eingehalten wurde. Besonders sind dabei die Generalvikare, Fiskale, Weihbischöfe und Geistlicher-Rat-Gremien zu betrachten. Schließlich auch die dinglichen Ausprägungen der konfessionellen Verfestigung, etwa die liturgischen Bücher, Gebäude und Ausstattungsgegenstände in und um den Gottesdienst wie auch der administrative Niederschlag in der schriftlichen Überlieferung der geistlichen Kanzleien. Der vergleichende Blick gilt nur streifend den Bischöfen auf der Ebene der großen Kirchenpolitik des Papsttums, des Konzils und des Reiches mit der katholischen Liga (ab 1609) 2 . Vielmehr ist hier von Interesse wie die kirchlichen Bediensteten der zentral bei den Bischöfen angesiedelten Administrativebene für die Umsetzung der katholischen Reform sorgten. Zwei begriffliche Klärungen sind an dieser Stelle noch erforderlich: ›Verwaltung‹ soll erstens im Folgenden zweifach verstanden werden, personell und institutionell als die Entscheidungsträger im alltäglichen Rahmen von Recht und Ordnung - demnach diejenigen, die entscheiden, was zu tun ist - sowie strukturell als Vorgang der Entscheidungsfindung und -umsetzung. Die leitende Frage beinhaltet beide Bedeutungen: Welche Rolle spielte die Verwaltung (Personen, Institutionen, Entscheidungshandeln) im Konfessionalisierungsprozess? Zweitens setzt Katholizität, im Sinne eines in Abgrenzung zu anderen Konfessionen spezifischen Profils, stets Konfessionalisierung voraus. Damit ist die auf der Basis spätmittelalterlicher 1 A LEXANDRA K EMMERER , Akten, in: M ARCEL L EPPER / U LRICH R AULFF (Hg.), Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart 2016, S. 134-143; M ARTIAL S TAUB , Mittelalter und Frühe Neuzeit, in: Ebd., S. 40-44; C ORNELIA V ISMANN , Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a. M. 2000, bes. S. 67-126. 2 Beide Bistumsvorsteher, der Würzburger Julius Echter von Mespelbrunn wie der Augsburger Heinrich von Knöringen, gehörten zu den treibenden Kräften bei der Liga-Gründung, wenngleich Skepsis im finanziell stärker beanspruchten Würzburg vorherrschend blieb. Vgl. F RANZISKA N EUER -L ANDFRIED , Die Katholische Liga. Gründung, Neugründung und Struktur eines Sonderbundes 1608-1620 (Münchener Historische Studien: Abteilung Bayerische Geschichte 9), Kallmünz 1968, z. B. S. 32, 54-58. <?page no="122"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 123 Kirchenreform und Abgrenzung von reformatorischen Neuerungen im 16. Jahrhundert schriftliche normierte Bildung der Konfessionen gemeint. ›Konfessionalisierung‹ beinhaltet den Prozess der konfessionellen Verdichtung, der eben dieses Konfessionsprofil ausprägte. 3 2. Die Bischöfe von Augsburg und Würzburg im Reformzeitalter Die Vergleichsfälle Bistum Augsburg für Schwaben und Bistum Würzburg für Franken wiesen beide als Suffraganbistümer der Mainzer Metropolitankirche eine in kirchlicher Fläche und Rang - abgesehen vom von Würzburg beanspruchten Titel des Herzogs von Franken 4 - etwa ähnliche Gestalt auf. Auch unterzogen sich ihre Oberhirten, betrachtet ab dem ausgehenden 15. Jahrhundert, in der Regel der Bischofsweihe, was als ein Indikator dafür gesehen werden kann, dass sie eine ernst gemeinte Frömmigkeit lebten oder die Domkapitel als leitende kirchliche Korporationen in den Wahlkapitulationen dieses öffentliche Bekenntnis von ihnen forderten. 5 Dies war durchaus keine Selbstverständlichkeit in der frühneuzeitlichen Germania Sacra - man denke nur an die Wittelsbacher Episkopalkirchenpolitik, deren Protagonisten oft eben nicht unbedingt geistliche Vorzeigebischöfe waren. 6 3 Vgl. dazu Johannes Burkhardt: »[D]as Konfessionsbildungskonzept [betont] die parallele Herausbildung und Institutionalisierung aller Konfessionen seit dem 16. Jahrhundert. Alle hielten sich für die gute alte Religion, glaubten sie fortzusetzen oder wiederherzustellen, aber tatsächlich waren alle Konfessionsbildungen mit alten und neuen Elementen.« J OHANNES B URKHARDT , Deutsche Geschichte in der Frühen Neuzeit, München 2009, S. 32f. Im Überblick: H ELGA S CHNABEL -S CHÜLE , Vierzig Jahre Konfessionalisierungsforschung - eine Standortbestimmung, in: P EER F RIESS / R OLF K IESSLING (Hg.), Konfessionalisierung und Region (Forum Suevicum 3), Konstanz 1999, S. 23-40. 4 J OHANNES M ERZ , Art. Herzogswürde, fränkische, publiziert am 25.10.2010, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http: / / www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/ Herzogswürde,_fränkische (aufgerufen am 1.10.2018). 5 Für Würzburg: A LFRED W ENDEHORST , Das Bistum Würzburg 3. Die Bischofsreihe von 1455 bis 1617 (Germania Sacra NF 13), Göttingen 1978; zusammenfassend: V ERONIKA H EILMANNSEDER , Der Geistliche Rat des Bistums Würzburg unter Friedrich von Wirsberg und Julius Echter von Mespelbrunn (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 71), Würzburg 2015, S. 48-96; für Augsburg immer noch in der Gesamtübersicht: F RIEDRICH Z OEPFL , Geschichte des Bistums Augsburg und seiner Bischöfe, 2 Bde., Augsburg 1955-1969; in der Gesamtschau: D IETER J. W EISS , Katholische Reform und Gegenreformation. Ein Überblick, Darmstadt 2005. 6 K LAUS U NTERBURGER , Das Bayerische Konkordat von 1583. Die Neuorientierung der päpstlichen Deutschlandpolitik nach dem Konzil von Trient und deren Auswirkungen auf das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt (Münchener kirchenhistorische Studien 11), Stuttgart 2006. <?page no="123"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 124 So wird für den folgenden Vergleich angenommen, dass die beiden Diözesen als Stellvertreter für Franken und Schwaben gelten können und sich aufgrund ihrer grundsätzlich bejahenden Haltung zur römischen Kirche für eine vergleichende Frage, wie sie denn zu diesem Postulat gekommen sind, eignen. Wie eingangs skizziert, bedurfte es einer richtungsweisenden Verfasstheit des Reiches wie der katholischen Kirche, wie sie besonders mit den Regelungen des Augsburger Religionsfriedens und den tridentinischen Beschlüssen ihren Ausdruck fand, und ebenso tatkräftigen Bischöfen, die die konfessionelle Entwicklung ihrer Diözesen vorantrieben. Für die beiden betrachteten Bistümer werden besonders Otto Truchsess von Waldburg in Augsburg (reg. 1543-1573) und Julius Echter von Mespelbrunn (reg. 1573-1617) in Würzburg als Protagonisten der gegenreformatorischen und konfessionsbildenden Prozesse des 16. Jahrhunderts gekennzeichnet. 7 Man kann als sicher annehmen, dass etwa ihre direkten Vorgänger - Christoph von Stadion in Augsburg (reg. 1517-1543) oder Melchior Zobel von Giebelstadt (reg. 1544-1558) und Friedrich von Wirsberg in Würzburg (reg. 1558-1573) - gleichermaßen gewillt waren, ihre Bistümer im katholischen Sinne zu stärken und zu erneuern, doch standen sie in unruhigen kirchen- und reichspolitischen Entwicklungen, in denen der jeweilige konfessionelle Erwartungshorizont teils noch gar nicht recht zu greifen war. 8 Auch ihre Nachfolger, in Augsburg Marquard von Berg (reg. 1575-1591), Johann Otto von Gemmingen (reg. 1591-1598) oder besonders Heinrich von Knöringen (reg. 1598-1646), in Würzburg Johann Gottfried von Aschhauesen (reg. 1617-1622) oder später Johann Philipp von Schönborn (reg. 1642-1673), versuchten das katholisches Soll in ihren Bistümern weiter zu verfestigen und unter den Gläubigen auch durchzusetzen. 9 7 Zuletzt im Vergleich: W OLFGANG W ÜST , Julius Echter von Mespelbrunn (1545-1617) und Otto Truchsess von Waldburg (1514-1573) - Bischöfliche Reform-, Herrschafts- und Konfessionskonzepte im Vergleich, in: W OLFGANG W EISS (Hg.), Fürstbischof Julius Echter († 1617) - verehrt, verflucht, verkannt? Aspekte seines Lebens und Wirkens anlässlich des 400. Todestages (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 75), Würzburg 2017, S. 155-180. 8 V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), S. 58-79; F RIEDRICH Z OEPFL , Art. Christoph von Stadion, in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 242-243 (Online-Version), URL: https: / / www.deutsche-biographie.de/ pnd119371936.html#ndbcontent. 9 Die wesentlichen Einführungen bei: W INFRIED R OMBERG , Das Bistum Würzburg 7. Die Würzburger Bischöfe von 1617 bis 1684 (Germania Sacra Dritte Folge 4) Berlin-New York 2011; F. Z OEPFL , Geschichte (Anm. 5). Noch immer grundlegend zur Geschichte der Universität Dillingen: T HOMAS S PECHT , Geschichte der ehemaligen Universität Dillingen (1549-1804) und der mit ihr verbundenen Lehr- und Erziehungsanstalten, Freiburg i. Br. 1902. Siehe auch H ERBERT I MMENKÖTTER , Universität im ›schwäbischen Rom‹ - ein Zentrum katholischer Konfessionsbildung, in: Die Universität Dillingen und ihre Nach- <?page no="124"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 125 Was eint jedoch die beiden genannten prominenteren Fürstbischöfe, dass vorrangig sie als Handlungsträger der katholischen Sache wahrgenommen werden? Als wesentliche Punkte im genannten Katalog katholischer Reformmaßnahmen erarbeiteten Otto von Waldburg und Julius Echter die Gründungen der Universitäten Dillingen 1549 und Würzburg 1582 neben zugehörigen Seminarien für den klerikalen Nachwuchs, die Berufung der Jesuiten in die Diözesen sowie die Durchführung einer Diözesansynode zur Priesterreform. 10 Des weiteren setzten beide Bischöfe über Policey-Ordnungen auf eine Festigung der allgemeinen Sittlichkeit in ihren Hochstiften, die auch die Umsetzung kirchlicher Vorschriften im Alltag, wie sie sich beispielsweise bei Hochzeitsfeierlichkeiten zeigten, einschlossen. 11 Dies bedeutete eine weitere Verankerung und Stärkung der Konfessionsspezifika. Beide waren auch Bischöfe, die reichspolitischen Stellenwert entwickelten: Otto von Waldburg als Kardinal, päpstlicher Nuntius und kaiserlicher Mitstreiter im Schmalkaldischen Krieg, Julius Echter als kaiserlicher Reichsgesandter und tatkräftiger Herrscher, der sein Bistum gegen den vorrangig protestantisch geprägten Norden des Reiches als katholischen Posten sicherte. 12 Sie sorgten, zeitversetzt, für mehr Ansehen ihrer Ämter. Im Würzburger Fall übertrug die hauseigene und später auch die königlich-bayerische Geschichtsschreibung diese Auszeichungen auf das fürstbischöfliche Herzogtum und tradierte die herausragende Rolle Echters für Würzburg in das diözesan-landesgeschichtliche Gedächtnis. 13 Von den Errungenschaften ihrer Episkopate sollen nun die Bildungseinrichtungen und die Zusammenarbeit mit den Jesuiten in den Diözesen genauer untersucht, verglichen und mit den Personen und Tätigkeiten der Zentralverwaltung verbunden werden. folger. Stationen und Aspekte einer Hochschule in Schwaben. FS zum 450-jährigen Gründungsjubiläum, hg. von R OLF K IESSLING (Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau 100), Dillingen a. d. Donau 1999, S. 43-77. 10 Zusammenfassend D. W EISS , Katholische Reform (Anm. 5), S. 152-154. 11 Für Kardinal Otto vgl. beispielsweise: F. Z OEPFL , Geschichte (Anm. 5); Ebd., Bd. 2: Bistum Augsburg im Reformationsjahrhundert, S. 289f., 309f., 340f., 345. Für Bischof Julius etwa H ANS E UGEN S PECKER , Die Reformtätigkeit der Bischöfe Friedrich von Wirsberg und Julius Echter von Mespelbrunn, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 27 (1965), S. 29-125. 12 W. W ÜST , Julius Echter (Anm. 7). 13 Dazu K ARL B ORROMÄUS M URR , Einer der »weisesten und größten Fürsten, die je auf dem Herzogstuhle von Ostfranken saßen«? Julius Echter als öffentliche Erinnerungsfigur im Königreich Bayern, in: W. W EISS (Hg.), Fürstbischof Julius Echter (Anm. 7), S. 83-107; D ERS ., Nation, Emotion und Geschichte: Zur Konstruktion eines bayerischen Nationalgefühls unter König Ludwig I. (1825-1848), in: M ICHAEL Z ÖLLER (Hg.), Vom Betreuungsstaat zur Bürgergesellschaft, Köln 2000, S. 176-185. <?page no="125"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 126 3. Die Rolle der (fürstbischöflichen) Universitäten und die Zusammenarbeit mit den Jesuiten Kardinal Otto von Augsburg gründete im interkonfessionellen Konkurrenzdruck Ostschwabens 14 sein katholisch geprägtes Kollegium St. Hieronymi in Dillingen bereits 1549, 1551 wurde es zur Universität erhoben. 15 Sie sollte sich zu einer Einrichtung entwickeln, die den katholischen Teil des Heiligen Römischen Reiches, darunter auch Würzburg, mit Theologen versorgte. Die Diözese Augsburg hatte hierdurch bereits seit der Mitte des 16. Jahrhunderts und noch vor den entsprechenden Tridentinischen Beschlüssen den Vorteil, dass sie ihre Pfründen mit eigenen geeigneten Diözesanen besetzen konnte. Dies stellte einen erheblichen Vorteil in der katholischen Reform dar und war wichtig in der Ausführung der bischöflichen ›cura animarum‹, wenn für Pfarrstellen und geistliche Institutionen ausreichend gebildetes Personal zur Verfügung stand oder enge Mitarbeiter des Bischofs an der Universität in dessen Sinne lehrend tätig sein konnten. 16 Augsburg prägte hiermit also einen Standard, den sich die Geistlichkeit in Würzburg, dessen Nachbaruniversitäten Marburg und Jena lutherisch ausgerichtet waren, zu diesem Zeitpunkt nur wünschen konnte. 17 Die protestantischen Einflüsse im Bistum Würzburg, die sich auch auf den Bildungsbereich auswirkten, blieben bestehen, bis Julius Echter das Hochstift gewaltsam rekatholisierte und auch kleinere nachbarschaftliche Territorien, die der Reformation gefolgt waren, schwächte. Hierunter ist etwa die Grafschaft Wertheim mit ihrer höheren Schule zu zählen. 18 Es gelang Fürstbischof Julius von Würzburg 14 R OLF K IESSLING , Gymnasien und Lateinschulen. Bemerkungen zur Bildungslandschaft Ostschwabens, in: Die Universität Dillingen (Anm. 9), S. 243-270. 15 W ALTER Z IEGLER , Die Entscheidung deutscher Länder für oder gegen Luther. Studien zu Reformation und Konfessionalisierung im 16. und 17. Jahrhundert. Gesammelte Aufsätze (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 151), Münster 2008, S. 138; H ANS - M ICHAEL K ÖRNER , § 59. Das höhere und niedere Schulwesen, in: HBG III/ 2, S. 686-717, hier 687f. 16 So pointiert: A DOLF L AYER / W OLFGANG W ÜST , Geistliche Herrschaftsbereiche. § 37. Augsburger Hochstift, Domkapitel und die bischöflichen Mediatklöster, in: HBG III/ 2, S. 287-346, hier 308. 17 Für Würzburg bestätigt dies A NJA A MEND -T RAUT , Geistlicher Auftrag und politischer Nutzen - (Neu-)Gründung und institutioneller Ausbau der Universität Würzburg durch Julius Echter, in: W. W EISS (Hg.), Fürstbischof Julius Echter (Anm. 7), S. 539-570, hier 543. 18 F RANK K LEINEHAGENBROCK , »Ansehnliche« und »geübte« Personen für die Seelsorge an der Grenze zum Papsttum - Lutherische Pfarrer in fränkischen Reichsgrafschaften um 1600, in: H ERMAN J. S ELDERHUIS / M ARKUS W RIEDT (Hg.), Bildung und Konfession. Theologenausbildung im Zeitalter der Konfessionalisierung (Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 27), Tübingen 2006, S. 131-158; T HOMAS W EHNER , Die Lateinschule in <?page no="126"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 127 nicht nur, die ursprünglich älteste Hochstiftsuniversität im Reich (gegründet 1402) 1582 zu beleben und für eine systematisch-konfessionelle Theologenausbildung in seiner Diözese zu sorgen, sondern er realisierte dauerhaft die vorangegangenen Bestrebungen und stützte mit einer rigiden persönlichen Durchsetzungskraft gegenüber dem Domkapitel mit der Universitätsgründung auch seine herrschaftlichen Ansprüche im Allgemeinen, so dass sie mit einer eng dem Juliusspital verbundenen medizinischen sowie einer juristischen Fakultät den Charakter einer Landesuniversität zeigte. 19 Worin sich beide Bistümer inhaltlich und zeitlich gleichen, ist die Zusammenarbeit mit dem Jesuitenorden bei der notwendigen Bildungs- und Laienreform. In Augsburg übertrug Otto von Waldburg nach rund einem Jahrzehnt (finanziell schwierigem) Betrieb 1563/ 64 formell die Leitung der Universität an die Societas Jesu. Auch das Rektorat wurde seitdem von einem Ordensmitglied bekleidet. Die Dillinger Bildungseinrichtungen waren trotz des Widerstands des Augsburger Domkapitels seither eng an das Wirken der Jesuiten geknüpft und blieben es in gesteigertem Maße auch nach dem formellen Vertragsschluss 1606, als Bischof Heinrich von Knöringen den von Kardinal Otto eingerichteten Betrieb des Kollegiums St. Hieronymus und der Universität dem Jesuitenorden unbegrenzt schriftlich zusicherte und durch ein bischöfliches Studienseminar ergänzte. 20 Etwa zeitgleich mit Otto von Waldburg holte sich auch Friedrich von Wirsberg in Würzburg für den Betrieb des 1561 von ihm gegründeten Pädagogiums Hilfe von den Jesuiten, indem er ihnen 1567 das zugehörige Kollegium übertrug. 21 So konnte die Gesellschaft Jesu Würzburg zwar in ihr Bildungsnetzwerk im Reich einfügen, doch auch dort war die Kostenfrage ein Faktor, der eine Breitenwirk- Wertheim von der Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg (Veröff. des Historischen Vereins Wertheim 5), Wertheim 1993. 19 A. A MEND -T RAUT , Geistlicher Auftrag (Anm. 17), S. 543; P ETER B AUMGART , Die Julius- Universität zu Würzburg, in: D ERS . (Hg.), Universitäten im konfessionellen Zeitalter. Gesammelte Beiträge (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 149), Münster 2006, S. 297-379. 20 A. L AYER / W. W ÜST , Geistliche Herrschaftsbereiche (Anm. 16), S. 309; T H . S PECHT , Geschichte Universität (Anm. 9), S. 55f.; M ANFRED W EITLAUFF , Augsburg, Bistum: Sprengel und Verwaltung (bis 1803), publiziert am 20.9.2012, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http: / / www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/ Augsburg,_Bistum: _Sprengel_ und_Verwaltung_(bis_1803) (aufgerufen am 3.10.2018). 21 A. A MEND -T RAUT , Geistlicher Auftrag (Anm. 17), S. 543; V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), bes. S. 69f.; P. B AUMGART , Julius-Universität Würzburg (Anm. 19), bes. S. 315f. <?page no="127"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 128 samkeit einschränkte. 22 Ebenso beklagte Wirsberg mangelnden Zuspruch seitens der Schülerfamilien seines Sprengels, und die bis heute als Gymnasium bestehende Schule begann mit einem zögerlichen Start. 23 Weiterhin auf die Jesuiten setzte auch sein Nachfolger Julius Echter bei seiner Wiederbelebung der Würzburger Universität 1582. Bei der Gründung der Alma Julia schnitt der Fürstbischof durch Personal und Statuten die Universität zwar deutlich auf seine Person zu, bezog aber ebenso den Jesuitenorden in ihre tatsächliche Ausgestaltung ein. Es verwundert aber nicht, dass über Jahre Spannungen zwischen den Jesuiten und dem Bischof bestanden, weil jeder eine größeren Einfluss auf die akademische Ausrichtung für sich beanspruchte. 24 Auch in Augsburg blieb das Vertrauen auf die Unterstützung der Jesuiten stark. Unter Marquard vom Berg (reg. 1576-1591) und Heinrich von Knöringen (reg. 1599-1646) wurden die Bildungseinrichtungen in der Stadt Augsburg durch das Jesuitenkolleg St. Salvator (1582) und das bischöfliche Seminar mit Freiplätzen für den diözesanen Nachwuchs 1610 bedeutend erweitert und die Leitung jeweils mit Jesuiten besetzt. 25 Seit Jahrzehnten über die Lateinschulen ihrer Herrschaftsgebiete auf die konfessionelle Bildung einwirkend, hatten besonders die Fugger hier finanzielle, ideelle und organisatorische Unterstützung geleistet und zeigten sich durch die Schenkungen in Augsburg für St. Salvator als treibende Kraft. 26 Diese besondere Unterstützungsleistung kann für den süddeutschen Raum in diesem Ausmaß noch bei den Wittelsbachern angesetzt werden, die eine enge Verbindung zu den Jesuiten unterhielten. 27 Für die Diözese Würzburg lässt sich eine solche außerkirchliche Stiftungsintensität nicht beobachten. Julius Echter wollte auch in der Austattung der vier zum Würzburger Schul- und Universitätsbetrieb gehörenden Seminarien (Collegium 22 Diesen Gedanken der jesuitischen Beförderung der Würzburger Bildungsreform gab auch Baumgart an. Siehe: P. B AUMGART , Julius-Universität Würzburg (Anm. 19), S. 297-379, bes. 339f. 23 V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), S. 62, 68; D. W EISS , Katholische Reform (Anm. 5), S. 152-154. 24 P. B AUMGART , Julius-Universität Würzburg (Anm. 19), bes. S. 323. 25 M. W EITLAUFF , Augsburg, Bistum (Anm. 20); W OLFRAM B AER / H ANS J OACHIM H ECKER (Hg.), Die Jesuiten und ihre Schule St. Salvator in Augsburg 1582. Ausstellungskatalog, München 1982; L AETITIA B OEHM , § 58. Hochschulinitiativen: Augsburg-Dillingen, in: HBG III/ 2, S. 671-685. 26 Zu den verschiedenen konfessionsstärkenden wie familienpolitischen Ansätzen der Fugger zuletzt: D IETMAR S CHIERSNER (Hg.), Familiensache Kirche? Die Fugger und die Konfessionalisierung (Materialien zur Geschichte der Fugger 8), Augsburg 2016. 27 Vgl. für den Bildungsbereich: H ANNELORE P UTZ , Die Domus Gregoriana zu München. Erziehung und Ausbildung im Umkreis des Jesuitenkollegs St. Michael bis 1773 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 141), München 2003. <?page no="128"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 129 Kilianeum, Collegium Marianum, Collegium pauperum, Collegium nobilium (Julianum)) lieber unabhängig bleiben und gab seiner Universität mit einer eigenen Stiftung, die vor allem auf einer geistlichen Beisteuer, Vermögenseinnahmen von aufgehobenen klösterlichen Einrichtungen und innerfamiliären Zuwendungen fußte, eine eigene Versorgungsanstalt, die einen langfristigen Betrieb ermöglichte. 28 Doch nicht allein für den Bereich der Bildung in ihrem Verhältnis zur Verwaltung sollte ein Augenmerk auf den jesuitischen Einfluss in den Diözesen gelegt werden. Gerade in der Person von Petrus Canisius (1521-1597) liegt ein weiterer Schlüssel zur Beantwortung der Frage »Gemeinsame Geschichte - ja oder nein? « Sigmund von Riezler, der Nestor der bayerischen Geschichtsschreibung, hat angenommen, dass es auch der Einfluss des selbst streng organisierten Jesuitenordens war, der der Strukturierung und Ausprägung einer dezidiert geistlichen Verwaltung in mehreren katholischen Territorien zum Durchbruch verhalf. 29 Sowohl in Augsburg als auch in Würzburg beriet Canisius Mitte des 16. Jahrhunderts die jeweiligen Oberhirten. In Augsburg ist seine Verankerung durch seine Predigerstelle am Dom (1559-1566) 30 und seine persönlich nahe Beziehung zu Bischof Otto freilich weitaus ausgeprägter. Kennengelernt hatten sich die beiden bereits im Frühjahr 1545 bei den Vorbereitungen zum Tridentiner Konzil, wo Petrus Canisius tatsächlich ab 1547 für Augsburg tätig wurde. 31 Dieser Aufgabe folgten, beispielhaft unter den zahlreichen Berührungspunkten, etwa die theologische Beratung Ottos durch Canisius in reichskirchenpolitischen Belagen rund um den Regensburger Reichstag und das Wormser Religionsgespräch 1556/ 57 und bei der Suche nach innerkirchlicher Reform auf Reichswie Bistumsebene, die bis zu einer Art Stellvertreterfunktion reichten, die Kardinal Otto dem Jesuiten Canisius zusprach, als er selbst 28 J OSEF A HLHAUS , Die Finanzierung der Universität Würzburg durch ihren Gründer Julius Echter von Mespelbrunn. Eine Skizze, in: M AX B UCHNER (Hg.), Aus der Vergangenheit der Universität Würzburg. FS zum 350jährigen Bestehen der Universität, Berlin 1932, S. 9- 41; G ÖTZ VON P ÖLNITZ , Julius Echter, in: Allgemeine Deutsche Biographie (Online-Version), URL: <https: / / www.deutsche-biographie.de/ sfz37980> (aufgerufen am 1.10.2018); E RNST S CHUBERT , Materielle und organisatorische Grundlagen der Würzburger Universitätsentwicklung 1582-1802. Ein rechts- und wirtschaftshistorischer Betrag zu einer Institutionengeschichte (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg 4), Neustadt a. d. Aisch 1973. 29 S IGMUND VON R IEZLER , Geschichte Baierns, Bd. IV: 1508-1597, ND Ausgabe Gotha 1899, Aalen 1964, S. 558-560. 30 F. Z OEPFL , Bistum Augsburg im Reformationsjahrhundert (Anm. 11), S. 220, zur Ausgestaltung der Predigerstelle: S. 314-320. 31 F. Z OEPFL , Bistum Augsburg im Reformationsjahrhundert (Anm. 11), S. 204, 217f., 280f., 328-330. <?page no="129"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 130 1559 zum Konklave in Rom weilte. 32 Canisius beeinflusste Kardinal Otto auch nachweislich in dem Sinne, das Bistum Augsburg nach den jesuitischen Vorstellungen zu erneuern. Gleichwohl fehlte es neben der mentalen Einwirkung noch an geeigneten Werkzeugen und Maßnahmen, um tatkräftig zu Ergebnissen zu kommen. Weder Canisius noch Kardinal Otto konnten geeignete Mitarbeiter finden, die in den späten 1550er und 1560er Jahren die geistlichen Impulse in die diözesane Breite umzusetzen vermochten. Wohl waren zwei Diözesansynoden (1543 und 1548) vorausgegangen, weitere und auch Visitationen bis zur tatsächlichen Durchführung einer Bistumssynode 1567 in Planung, ferner ergingen Mandate zur Hebung der kirchlichen Sitten. Doch das Bistum litt unter der häufigen Abwesenheit des Bischofs, der gar nicht dazu kam, sein geistliches Territorium zu regieren. 33 Petrus Canisius und Otto Truchsess von Waldburg verband auch in den Jahren, in denen mit und nach dem Konzil von Trient die innerkatholische Reformnotwendigkeit aufgezeigt worden war, eine enge persönliche Beziehung mit steter geistiger Auseinandersetzung. 34 Wenngleich Canisius als »Gewissensrat« 35 auf Kardinal Otto einwirkte, so ist für Augsburg nicht überliefert, dass er auch konkrete Vorschläge zur (administrativen) Durchführung machte. Für Würzburg lässt sich nachvollziehen, dass die persönliche Einflussnahme durch den Jesuiten Canisius einen ohnehin laufenden Prozess verstärkte. Canisius setzte sich für die kompetenzstärkende Systematisierung und Zentralisierung der geistlichen Verwaltung ein, wie sie sich eben im Aufbau des Jesuitenordens spiegelten. Insofern ist sein Wirken im Riezler’schen Sinne zwar nennenswert, jedoch nicht der Ausgangspunkt der Ausbildung einer geistlichen Verwaltung. Bischof Friedrich hatte um Canisius für das Amt des Weihbischofs geworben, schreckte aber vor dessen Gehaltsforderungen zurück und engagierte einen Dominikaner, Antonius Rescius, der zu diesem Zeitpunkt (1563) am Kölner Gymnasium Tricoronatum tätig und sicher mit Canisius bekannt gewesen war. 36 Petrus Canisius selbst besuchte den Hof Friedrichs von Wirsberg (1564, 1565 mit den als päpstlichem Breve bestätigten Trienter Konzilsbeschlüssen 37 , 1567), um mit diesem über die anstehende geistliche Reform im Bistum zu sprechen. Unter anderem riet er ihm dabei dringlich, ein geistliches Gremium von Räten einzusetzen, welches in geistlichen Dingen beraten und Entscheidungen treffen sollte. Wirsberg hatte sich 32 F. Z OEPFL , Bistum Augsburg im Reformationsjahrhundert (Anm. 11), S. 266-269, 273f.; O TTO B RAUNSBERGER , Beati Petri Canisii, Societas Jesu, Epistulae et Acta, Bd. 2: 1556- 1560, Freiburg i. Br. 1898, Nr. 377. 33 Siehe oben und F. Z OEPFL , Bistum Augsburg im Reformationsjahrhundert (Anm. 11), S. 282-290, 340f., 346f., 354f., 357-367, 390, 403-406, 462f. 34 F. Z OEPFL , Bistum Augsburg im Reformationsjahrhundert (Anm. 11), S. 333-336, 338f. 35 F. Z OEPFL , Bistum Augsburg im Reformationsjahrhundert (Anm. 11), S. 338. 36 V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), S. 69-72, 131, 371f. 37 F. Z OEPFL , Bistum Augsburg im Reformationsjahrhundert (Anm. 11), S. 344. <?page no="130"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 131 jedoch bereits in seiner Wahlkapitulation von 1558 darauf festlegen müssen, einen Geistlichen Rat zu installieren und dieses alle zwei Wochen bis einmal im Monat tagende Gremium auch selbst zu besuchen. Zur institutionellen Beratungs- und Entscheidungstätigkeit sollten die zentralen geistlichen Ämter vom Bischof angehalten werden, den Geistlichen Rat über aktuell anliegende Fälle zu unterrichten, damit dieser, so wurde es beschrieben, gegen die eindringende Irrlehre und Glaubensspaltung vorgehen könne. Der Geistliche Rat sollte, im Falle, dass der Bischof seiner Visitationspflicht nicht nachkäme, auch Klöster und Pfarreien im Bistum visitieren. 38 Die nachdrückliche Verschärfung lag nun also darin, dass geistliche Herren zu Mitgliedern dieses Rats bestellt wurden, Spezialkenntnisse in geistlichen Dingen die Voraussetzung für den Ratsdienst wurden und sie sich öfter treffen sollten. Es ist Canisius und dem Jesuitenorden also eine aktivierende Rolle zuzuschreiben, und zwar bezogen auf eine Entwicklung, die sich ab der Mitte des 16. Jahrhunderts Bahn zu brechen begann: nämlich die Ausprägung einer geistlichen Verwaltung, die Handlungskörper entwickelte, die sich nicht allein in den bischöflichen Stellvertreterfunktionen manifestierten, sondern unabhängig vom Vikariat für die innerkirchlichen und religionsbezogenen Reformen selbständig entscheidungsfähig wurden. Auch Wirsbergs Nachfolger, der Regisseur der diözesanen Reform Julius Echter, wuchs im Geiste der Jesuiten heran und verbreitete diesen - wie er sich in den Katechismen des Canisius zeigte - in seiner Regierungszeit flächendeckend. 39 Dass damit keine augsburg-würzburgischen Sonderwege vorlagen, zeigt der Blick ins Herzogtum Bayern: Canisius’ Einfluss wurde auch hier von der Forschung für die Gründung eines Geistlichen Rats (auch zunächst »Religions- und Geistliche Lehensrat« oder Kirchenrat) durch Herzog Albrecht V. 1557 herausgearbeitet. 40 38 V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), S. 59f. 39 W OLFGANG S CHNEIDER , II.9 Portrait des Jesuiten Petrus Canisius, in: R AINER L ENG / W OLFGANG S CHNEIDER / S TEFANIE W EIDMANN (Hg.), Julius Echter - Der umstrittene Fürstbischof. Eine Ausstellung nach 400 Jahren, Würzburg 2017, S. 68f. 40 G ERHARD H EYL , Der Geistliche Rat in Bayern unter Kurfürst Maximilian I. 1598-1651. Mit einem Ausblick auf die Zeit bis 1745, München 1956; J OHANNES S EIFERT , Weltlicher Staat und Kirchenreform. Die Seminarpolitik Bayerns im 16. Jahrhundert (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 115), Münster 1978; D IETMAR H EIL , Die Reichspolitik Bayerns unter der Regierung Herzog Albrechts V. (1550-1579) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 61), Göttingen 1998, bes. S. 225f. <?page no="131"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 132 4. Die Rolle der konfessionellen Universitäten bei der Beamtenausbildung Wichtig ist für die vorliegende Fragestellung nach den administrativen Trägern der Konfessionalisierung jedoch auch, dass personelle Überschneidungen zwischen der zentralen Diözesanverwaltung und den Universitäten bestanden. Wie eng für das Bistum Augsburg die Verbindung zur Dillinger Universität war, ist auf der Personenebene bereits feststellbar, wenn man allein die Generalvikare betrachtet. Sie nahmen als bischöfliche Vertreter in der Administration geistlicher Sachen eine wichtige Funktion in der Diözese ein, gerade als sie zu kontrollieren hatten, ob sämtliche Fundationsrechte und -pflichten aller Benefizien korrekt ausgeführt und behandelt wurden, worunter alle Amtshandlungen des Klerus eingeschlossen waren. 41 Schon seit Dr. Michael Dornvogel (1519-1589) 42 , der 1561/ 62 als Generalvikar Kardinals Ottos von Waldburg fungierte, ist die Verbindung der Augsburger Verwaltung mit der Dillinger Universität zu sehen. Dornvogel, der in Freiburg studiert hatte, war 1552 Mitglied im Lehrkörper der Universität Dillingen, seit 1553/ 54 Pfarr- und Domprediger in Augsburg, zeitweilig zusammen mit Petrus Canisius. 1554 erfolgte die Promotion zum Doktor der Theologie in Ingolstadt und danach die Weihe zum Augsburger Suffragan. 1555 bis 1563 war Dornvogel Kanzler der Dillinger Universität. 1561 bis 1562, 1573 bis 1577 und schließlich 1577 bis zu seinem Tode 1589 amtete er als Generalvikar, von 1554 bis 1589 als Weihbischof. 43 Mit Dr. Christoph Kellner von Zinzendorf (Generalvikar 1572) 44 begann dann die Reihe der Dillinger Alumnen, die in den höheren Verwaltungsdienst der Diözese Augsburg aufstiegen. Es folgten ihm unmittelbar Dr. Johannes Hieronymus Stor von Ostrach (Generalvikar 1590-1598), Dr. Zacharias Furtenbach (Generalvikar 1598-1617) und Peter Wall (Generalvikar 1617-1629). 45 Der Generalvikar des Übergangs zur Barockzeit, der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Dr. Caspar Zeiller (auch Kaspar Zeiler) mit einer Dienstzeit von 1630 bis 1674, studierte nach einem Besuch des Jesuitenkollegs in Ingolstadt ebendort bis zu seiner Promotion. Hier mag wohl die dort vorausgegangene Schulzeit ausschlaggebend für den Studienort gewesen sein, als dass sich Zeiller ohne finan- 41 ABA, Generalvikariatsprotokolle (GVPr) 1; HS 204. 42 Sr. M. M AFALDA B AUR , Dr. Michael Dornvogel, Weihbischof von Augsburg: sein Marienbild im Kloster Lichtenthal, in: Badische Heimat 45 (1965), S. 187-194. 43 M. W EITLAUFF , Augsburg, Bistum (Anm. 20). 44 Ggf. Matrikeleintrag Nr. 116 (1554): T HOMAS S PECHT (Bearb.), Die Matrikel der Universität Dillingen, I. Bd.: 1551-1645, Dillingen 1909-1911, S. 14. Er studierte gleichzeitig mit Georg Schweickard (Immatrikulation 30.09.1554); ebd. 45 Johannes Hieronymus Stor von Ostrach, immatrikuliert in Dillingen als Nr. 47, 30.9.1561; Zacharias Furtenbach, immatrikuliert in Dillingen im Januar 1577 (Nr. 3); Peter Wall, immatrikuliert in Dillingen 1592; T H . S PECHT , Matrikel (Anm. 44), S. 34, 111, 205. <?page no="132"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 133 ziellen Familienrückhalt größere Wechsel des Studienortes nicht vornehmen konnte. Bereits als Student leistete er bei den täglichen Jesuiten-Messen liturgischen Dienst am dortigen Marienaltar, 1621 wurde er selbst zum Priester geweiht und in den Geistlichen Rat aufgenommen. Als normierend auf die Stiftsherren und -schüler einwirkender Chorherr am Stift St. Moritz in Augsburg 46 entwickelte er sich mit profunden Kenntnissen zu einer diözesanen Führungsfigur. So leitete er, als Generalvikar, Weihbischof und Pönitentiar gleichzeitig bestallt, in der Schwedenzeit zwischen 1633 und 1635 die Diözese von Schongau aus. Später übernahm er dann als apostolischer Administrator (seit 1645) mit dem Lebensende Bischof Heinrichs von Knöringen († 1646) zwanzig Jahre lang die bischöflichen Amtsdienste für den nicht geweihten Sigismund Franz von Habsburg. 47 Das Beispiel Zeillers zeigt damit auch, wie wichtig und stabilisierend die Ebene der kirchlichen Spitzenbeamten für die Bistumsleitung war, wenn die Diözese ohne einen konsekrierten Oberhirten in eine Ausnahmesituation geriet. Ingolstadt war auch die Studienstätte des langjährigen Würzburger Generalvikars Georg Schweickard. Er hatte zunächst, zeitgleich mit dem Augsburger Johannes Hieronymus Stor von Ostrach, in seinem Heimatort Dillingen studiert. Als Stipendiat von Bischof Friedrich von Wirsberg konnte er seine Studien bis zum Licentiat 1567 in Ingolstadt betreiben. Er wurde also mit Würzburger Finanzkraft eine Ergänzung des Würzburger Administrationskaders. Sofort nach seiner Ankunft nahm ihn Bischof Wirsberg in den Geistlichen Rat auf, ein Kanonikat am Stift Haug sorgte für geistliche Gemeinschaft und Lebensunterhalt. Als Generalvikar war er mindestens seit 1584 bis 1617 tätig. 48 Sein Nachfolger, Jodokus Wagenhauer (Generalvikar 1617-1639), war bereits ein Würzburger Zögling, der sein Studium in Rom nur noch vervollständigte. Im Norden der Diözese in Fladungen geboren, studierte er zunächst in der Bischofsstadt, um dann ans Collegium Germanicum in Rom zu wechseln, wo er seine Studienzeit beendete. 49 Auch seine Amtsnachfolger, Johannes Ridner (Amtszeit vermutlich 1623-1629) und Dr. Johann Melchior Söllner (Generalvikar 1636-1666, Weihbischof ab 1646) 46 Vgl. die Vita Caspar Zeillers mit Abschriften von zeitgenössischen Dokumenten aus der Arbeit des Generalvikars (u. a. Ad-Limina-Bericht) und einer Leichenrede von Christoph Bechtlin 1681: ABA, HS 68. Dazu auch Visitationsakten des Stifts St. Moritz: ABA, BO 9377. 47 Lebensbilder bei P LACIDUS B RAUN , Die Domkirche in Augsburg und der hohe und niedere Klerus an derselben, Augsburg 1829, S. 158-164; W ALTER A NSBACHER , Das Bistum Augsburg im Dreißigjährigen Krieg, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 44 (2010), S. 415-483. 48 Vgl. V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), S. 384f. 49 J OHANN K ASPAR B UNDSCHUH , Geographisches, statistisch-topographisches Lexikon von Franken […], 2. Bd., Ulm 1800, Sp. 152; V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), S. 446-449. <?page no="133"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 134 stammten aus der Diözese Würzburg, studierten in Rom und hatten Kanonikate an den Würzburger Stiften Haug oder Neumünster inne. 50 Es zeigt sich also, dass beispielsweise für die Schlüsselposition des Generalvikars eigenes, hochgradig gebildetes Personal herangezogen wurde, welches durch eine Pfründe an einem Nebenstift, also unabhängig von den Pfründen des von Adeligen besetzten Domstifts und mit deutlich höheren Einflussmöglichkeiten des Bischofs, versorgt wurde. Es galt für den Amtsinhaber, fundiertes Wissen und gleichzeitig, durch einen Ausbildungsgang an dezidiert katholischen Universitäten im Reich und oft noch in Italien, einen entsprechenden Bildungshintergrund vorzuweisen. Parallele Studienorte und -zeiten bestätigen die gemeinsamen Wurzeln der beiden Diözesen hinsichtlich der Ausbildung ihrer hohen Amts- und Würdenträger. Auch für die Weihbischöfe, zum Teil für die Pönitentiare und Fiskale, war ein entsprechender Anspruch gesetzt. Auch nach der Gründung der Julius-Universität lassen sich in Würzburg enge personelle Verknüpfungen nachzeichnen. So finden wir unter den Universitätsrektoren, nachdem der Bischof selbst nach der Gründung das Rektorat bekleidet hatte, über Jahre immer wieder Generalvikare, Weihbischöfe und Geistliche Räte in diesem Amt. Auch im Lehrkörper sind Geistliche Räte zu finden und ferner auch als Regentes des Priesterseminars. 51 Durch diese Personalunionen aktivierte der Bischof seine Spitzenbeamten als Multiplikatoren für den klerikalen Nachwuchs, die Studenten, gleichzeitig aber auch gegenüber dem Ruralklerus, indem die beamteten Funktionäre selbst in universitärer Vorbildfunktion standen. So entwickelte sich eine Durchdringung des diözesanen Personalwesens, die sowohl programmatisch ausgerichtet wie zentralistisch organisiert war. Diese Personen sind es auch, die wesentliche Strukturen und Reformfortschritte kontinuierlich über die vermeintliche Zäsur 1648 52 trugen. Bereits ein kurzer Blick auf die beiden Generalvikare und Weihbischöfe Caspar Zeiller für Augsburg und Johann Melchior Söllner für Würzburg bestätigt dies. Von Söllner sind neben Predigten für Landpfarreien und Synoden, Visitationstätigkeit und Leitung des Geistlichen Rats über 32 Kirchenweihen, 60 Altarkonsekrationen und über 200 Personenordinationen bekannt - insgesamt eine immense Aufbauleistung nach den kriegerischen Unruhen des Dreißigjährigen Krieges, wie sie sich in den Ad- 50 V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), S. 106f.; L UDWIG K. W ALTER , Der Lehrkörper der katholischen Fakultät III/ 2: Die Graduierten der Theologischen Fakultät Würzburg von 1402 bis 2002 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 63), Würzburg 2010, S. 20. 51 Vgl. die Lebensbilder der Rektoren bei L. W ALTER , Lehrkörper der katholischen Fakultät (Anm. 50); V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5); W. R OMBERG , Bistum Würzburg (Anm. 9). 52 D. W EISS , Katholische Reform (Anm. 5), S. 17. <?page no="134"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 135 Limina-Berichten spiegeln. 53 Zeiller fungierte, wie gezeigt, in der Schwedenzeit als diözesaner Pastoralvertreter. Er übernahm teilweise mangels eines geweihten Oberhirten sämtliche Weihehandlungen und formte nach den kriegerischen Zerstörungen mit einem enormen Arbeitspensum die sakrale Infrastruktur an Kirchen, Altären, Friedhöfen und sonstigen benedizierten Sachen. Er führte zudem als Generalvikar und vorsitzender Geistlicher Rat die geistliche Administrative zuverlässig weiter, besuchte auf Visitationsreisen Pfarreien und Klöster und übernahm u. a. die Korrespondenz mit dem Heiligen Stuhl. 54 5. Reformtätigkeit, Medien und Maßnahmen der geistlichen Verwaltung Generell sind in beiden Diözesen seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts Reformprozesse greifbar, die die Ämter der geistlichen Zentralverwaltung und ihre Aufgaben standardisierten. Die weitgreifende Ordnungstätigkeit des fürstbischöflichwürzburgischen Rats, Sekretärs und Archivars Lorenz Fries (1489-1550) zeugt ebenso davon wie auch, gewissermaßen als Konzentrat der Entwicklung, ein im Kern frühes Formularbuch des Bistums Augsburg. Es wurde ursprünglich 1523 angelegt und enthielt die bischöflichen Vorgaben für alle Ämter des Generalvikariats und des Konsistoriums von den Eiden der Beamten über ihre Aufgaben in der Amtsausübung bis hin zu den vorgeschriebenen Siegeltaxen. 55 Die wichtige Funktion von Amtsbüchern zeigt sich auch bei den Priestern und Diakonen. Waren die Kleriker erst einmal förmlich in Amt und Würden installiert, mussten sie ihren Dienst korrekt versehen. Dazu bildeten die liturgischen Drucke Graduale, Missale, Rituale und Antiphonarium die verbindliche Basis. Sie sollten entsprechend in die Breite der Bistümer wirken, Sicherheit und Einheitlichkeit im seelsorgerischen Wirken erzeugen. Es waren die Reformbischöfe der Jahrhundert- 53 Dr. Johann Melchior Söllner (Generalvikar 1636-1666, Weihbischof, Rektor der Universität Würzburg, Dekan am Stift Neumünster); s. W. R OMBERG , Bistum Würzburg (Anm. 9), bes. S. 392. 54 Caspar Zeiller (Generalvikar 1630-1674 (Resignation nicht angenommen), 1645-1680 Weihbischof, Dekan von St.Moritz); W. A NSBACHER , Bistum Augsburg (Anm. 47), S. 415- 483, bes. 416-434, 450, 457. Inzwischen ist es dank zahlreicher online verfügbarer Urkundenverzeichnisse, Kirchen- und Pfarreigeschichten möglich, Spuren der immensen Weihetätigkeit des Caspar Zeiler/ Zeiller mit einer Internetrecherche zu finden. Aus Platzgründen sei dies hier dem interessierten Leser nur empfohlen. 55 F RANZ F UCHS / S TEFAN P ETERSEN / U LRICH W AGNER (Hg.), Lorenz Fries und sein Werk. Bilanz und Einordnung (Veröff. des Stadtarchivs Würzburg 19), Würzburg 2014; ABA, BO 256: Formularbuch Christophs von Stadion (1523, spätere Abschrift). <?page no="135"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 136 wende, Julius Echter von Mespelbrunn und Heinrich von Knöringen, die für Neuauflagen und eine verstärkte Verbreitung in den Landpfarreien sorgten. 1555 ließ Otto von Waldburg ein Missale in einer spezifischen Augsburger Fassung herausgeben. 56 Nach den Beschlüssen des Konzils von Trient veröffentlichte dann Bischof Heinrich von Knöringen 1612 u. a. das große Missale Augustense sowie ein Rituale neu, drängte die traditionellen Augsburger Spezifika zurück und glich die Liturgie und Sakramentenspendung mehr den römisch-zentralen Vorgaben an. 57 Bischof Julius beließ bewusst Würzburger Eigenteile in den Neuauflagen seiner fünf Liturgica-Ausgaben, unter denen das Missale Herbipolense von 1613 durch seine programmatische Gestaltung des Titelblatts hervorsticht. Es stellte den Bischof persönlich in die Würzburger Kilianstradition und unter das Patronat Mariens und unterstrich damit gleichzeitig die konfessionelle Wahrhaftigkeit wie die intendierte Herrschermemoria. 58 Zeitgleich druckte man in beiden Kathedralorten auch einen mit modellhafter Figurendarstellungen illustrierten und veranschaulichenden Canisius-Katechismus. 1613 erschien dieser in Augsburg, daneben 1614 ein kürzer und einfacher gehaltener sog. ›Kleiner Katechismus‹ (1614) auf deutsch. 59 Auch Würzburg hatte nach dem lateinischen Canisius-Katechismus (1590) seit 1614 den kleinen deutschen Katechismus für das Kirchenvolk vorliegen. 60 Vorgaben und Handreichungen waren wichtig, genügten jedoch für eine tatsächliche und effektive Umsetzung der gewünschten innerkirchlichen Reform nicht. Dafür mussten die Diözesanen alltäglich begleitet werden. Zieht man die in 56 Missale secundum ritum Augustensis ecclesie diligenter emendatum [e]t locupletatum ac in meliorem ordinem que antehac digestum […], Dillingen 1555 (BSB, Rar. 2101). 57 F[ RANZ ] A. H OEYNCK , Geschichte der kirchlichen Liturgie des Bistums Augsburg, Augsburg 1899, S. 295f. Liturgische Gebrauchstexte und Bücher aus dem 16. und 17. Jahrhundert (u. a. Rituale, Antiphonale, Fronleichnamsbuch, Processionale, Anweisung über Feierlichkeiten in Domkirche etc., 1582-1603) verwahrt das ABA. 58 Brevier 1575, Graduale Herbipolense 1583, Antiphonarium Wirceburgensis 1602, Davidicum Psalterium 1603, Missale Herbipolense 1613. Vgl. N IKOLA W ILLNER , VI.27 Missale Herbipolense/ VI.28 Pars Hyemalis Antiphonarii Wirceburgensis, in: R. L ENG / W. S CHNEI - DER / S. W EIDMANN (Hg.), Julius Echter (Anm. 39), S. 282-287; H ELMUT E NGELHART , Die liturgischen Drucke für Julius Echter (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, Sonderveröff.), Würzburg 2017. 59 Catechismus Petri Canisii S. J. Th. Durch Figuren fürgestellt, Augsburg 1613 (u. a. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, Th Pr 423); Kleiner Catechismus Petri Canisii der H. Schrifft Doctors für die gemeine Layen und junge Kinder beschriben, Augsburg 1614 (BSB, Polem. 2589m). 60 A. W ENDEHORST , Bistum Würzburg (Anm. 5), S. 208; zum intensiven Einsatz im Schulwesen auch P AUL W ILLIAM , Konfessionalisierung und niederes Schulwesen im Hochstift Würzburg zur Zeit des Bischofs Julius Echter von Mespelbrunn (1573-1617) (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 69), Würzburg 2014. <?page no="136"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 137 den Bistümern Augsburg und Würzburg nicht mehr als geschlossene Bestände vorliegenden Akten hierzu als Quellen zu Rate, so zeigt sich, dass in den 1560er und 1570er Jahren die administrativen Spitzenämter des Generalvikars, des Offizials und des Fiskals zwar in ihren speziellen Aufgabengebieten tätig waren, den Diözesen eine vereinheitlichte, zentrale Regierungskraft in enger Anbindung an die Bischöfe aber noch fehlte. 61 Gerade das für die katholische Reform so wichtige Instrument der regelmäßigen und flächendeckenden Visitation konnte sich Mitte des 16. Jahrhunderts noch nicht etablieren. In Augsburg setzten Kardinal Otto 1548 und noch einmal 1567 sowie 1610 auch Bischof Heinrich zunächst weiter auf die Wirkung von diözesanen Synoden. Mit deren Hilfe wurde der Klerus zwar zur Umsetzung von Reformbeschlüssen, wie etwa regelmäßige Matrikelführung, Beichtpflicht oder spezifische Kirchenausstattung, aufgefordert und zu sittlichmoralischer Hebung angehalten. Gleichzeitig waren mögliche synodale Effekte aber keiner systematischen Kontrolle unterzogen und blieben appellartig. 62 Dagegen ließ in Würzburg Fürstbischof Julius nichts unversucht, um die Ausübung seiner Rechte in der Fläche durchzusetzen. Zunächst ließ er in einer immensen Dichte sein Fürstbistum in der weltlichen wie geistlichen Ausprägung erfassen und sich dessen institutionellen wie geographischen Aufbau einschließlich seiner geistlichen wie weltlichen Rechte schriftlich vorlegen. 63 Ergänzend gelang eine umfassende Dokumentation der Einrichtungen und Rechte der Diözese in ihrem Umfang und ihrer Ausstattung in Form einer gebundenen Diözesanmatrikel bis 1618. Sie enthielt systematisch gegliedert z. B. Angaben zu den Landkapiteln mit ihren Pfarreien, zu den Pfarreien mit ihren Filialen, einzelnen Benefizien und Stiftungen wie dem benötigten klerikalen Personal, auch zu den weiteren kirchlichen Einrichtungen und Bediensteten. Mit dieser Matrikel lag somit eine Gesamtschau des Diözesankörpers in seiner räumlichen wie strukturellen Ausbildung vor. 64 61 Diese Einzelressortverwaltung ohne Leitung durch den Geistlichen Rat findet sich noch als »Idealtypische Darstellung einer katholischen Diözese« bei H EINRICH R ICHARD S CHMIDT , Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 12), München 1992, S. 29. 62 F. A. H OEYNCK , Geschichte der kirchlichen Liturgie (Anm. 57), bes. S. 127f., 148, 295f.; F REYA S TRECKER , Augsburger Altäre zwischen Reformation (1537) und 1635: Bildkritik, Repräsentation und Konfessionalisierung, Münster 1998, S. 61-63, 100-102. 63 J OHANNES M ERZ , Herrschaftsverständnis und Herrschaftspraxis in Franken. Der Fragenkatalog der Würzburger Salbücher an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Mit einem Anhang von I NGRID H EEG -E NGELHART : Liste der Echterschen Salbücher, in: ZBLG 60 (1997), S. 649-674; zuletzt: W OLFGANG W EISS / W INFRIED R OMBERG , Der Fürst und sein Land, in: R. L ENG / W. S CHNEIDER / S. W EIDMANN (Hg.), Julius Echter (Anm. 39), S. 31-38. 64 DAW, HS 5/ 3. <?page no="137"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 138 Passend zu diesen Systematisierungs- und Beschreibungsmaßnahmen entwickelte sich eine moderne Art der aktengestützten Verwaltungsführung. Die Fundationsurkunden einzelner Benefizien und Pfründen sowie (institutionell) die Gründungsurkunden und Statuten der geistlichen Einrichtungen ergaben dabei Nuklei der Ordnungseinheiten von neuen Aktenfonds. So legte der Geistliche Rat ergänzend zu den Fundations- und klerikalen Bestallungsurkunden systematisch Pfarreiakten an, mit welchen er zentral nachvollziehen konnte, welche Pflichten der Pfarrer und gegebenenfalls seine Hilfsgeistlichen in den einzelnen Pfarreien hatten, über wieviel Einkommen sie verfügten, was die Pfarrgemeinde zu leisten hatte und auch welche Baulasten vor Ort bestanden. 65 Ergänzend dazu führte der Geistliche Rat Akten über die gesamten Land- oder Ruralkapitel, später auch Dekanate genannt, in denen die Pfarreien wiederum organisatorisch zusammengefasst waren. Hier konnte über Rundreisen oder über Zusammenkünfte des Ruralklerus am Dekantssitz systematisch die Visitation der Pfarreien vorgenommen und dokumentiert werden. Dabei kam der liturgische, sittliche wie kirchenbauliche Zustand in den Pfarreien zur Sprache, das Betragen der Pfarrer selbst oder das ihrer Parochianen. Angefangen vom Sakramentenempfang in Beichte, Eucharistie, Taufe, Firmung, Trauung und Letzte Ölung, über den Gottesdienstbesuch und das sittliche Betragen der Pfarrkinder, ferner die Ausübung der klerikalen Pflichten, die moralische Integrität des Priesters, den Bücherbesitz in Kirche und Pfarrhaus bis hin zur Infrastruktur der Pfarreien - alles konnte hier erfasst werden. 66 Die enge Durchdringung von geistlichem Sprengel und weltlich-hochstiftischer Regierung zeigen die sogenannten ›Akten der geistlichen Regierung über die geistlichen Belange in den hochstiftischen Ämtern‹. Hier schlug sich die Korrespondenz der Geistlichen Räte mit den Amtskellern, also Dienstmännern in den Amtssitzen der Hochstiftsverwaltung, nieder, die vor Ort die pfarreiliche Entwicklung zu beobachten und zu begleiten hatten. Dies konnten vergleichsweise harmlose Belange sein, wie das Eintreiben von Einkünften oder die Betreuung von Baumaßnahmen, aber auch ganz handfeste Einsätze wie die Verhaftung von Konkubinen und widerständigen Pfarrern. 67 Einen anschaulichen wie exemplarischen Eindruck gibt ein Bericht aus dem Amt Mellrichstadt vom 8. Juni 1592. Der Pfarrer Georgius Jodocus und der Keller Valentin Eckert berichteten in freier, noch nicht an ein Druckformular gebundener, aber sichtbar schematisierender Form über ihre Visitationstätigkeit. Was wurde vor Ort in den Pfarreien abgefragt und geregelt? Beispielsweise nahm der Keller Eckert im Frühjahr 1592 folgende Tätigkeiten vor. Er visitierte die komplette 65 DAW, Pfarreiakten. 66 DAW, Landkapitelakten. 67 DAW, Akten der geistlichen Regierung über die geistlichen Belange in den hochstiftischen Ämtern (Ämterakten). <?page no="138"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 139 geistliche Infrastruktur: alle Kirchen vnd Geistliche gebeud, ornata, Meßgewandt vnd anderes, so zu dem Gottsdinst vonnötten, besichtigt, vnd wo nottwendig Zubauen oder Zubessern, einen vberschlag gemacht. […] wo kein Schulmeister, soll Pfarrer Katechismus lehren. 68 Gleichzeitig galt auch den Pfarrgemeinden sein strenges Augenmerk: Jnen ernstlich vfferlegt, […] vermanet, daß sie daß Ampt der heiligen Meß vnnd predigen […] vleißig zubesuchen vnd zuhoren, vnd Demselben biß zum end bey Zuwonen, bey vermeidung einer schweren Todsundt schuldig vnd verbunden seien. 69 Vom Verhalten der Pfarrkinder bezüglich Regelmäßigkeit und Intensität des Gottesdienstbesuchs wolle sich der Keller auch selbst überzeugen. Natürlich mussten dazu auch die Gottesdienste korrekt zelebriert und der Klerus einen löblichen Lebenswandel führen. Hierzu war die schriftliche Grundlage als Cultus divinus denjenigen Pfarrern zugestellt worden, die bisher nicht korrekt die Messen und kirchlichen Feiern abgehalten hatten. Schließlich behandelte der Bericht zwei der wichtigen Punkte - geistliches Konkubinat und konfessionelle Abtrünnigkeit der Untertanen -, wo geistlicher und weltlicher Arm zusammenarbeiten mussten: Was den ergerlichen Concubinat anlangt, haben wir den pfarhern mit ernst vfflerlegt vnnd vndersagt, Daß sie bei vermeidung E. F. G. straff vnd vngnad Dauon absehen. Sollte diese Warnung nicht befolgt werden und doch eine Frau bei einem Pfarrer gefunden werden, so werde er die Concubin […] gefenglich ein[zieh]en. So will ich Keller auch vleissig achtung geben […], daß an allen orten Niemandt so der widerwertigen Religion ist, an = vnd vffgenommen […]. 70 Dieser Bericht enthielt komprimiert die Themen, die insgesamt in den Einzelvorgängen der Aktenbestände auftauchen. Der beschriebene Umgang mit dem Konkubinat, das aus theologischer Sicht den in Unreinheit und Sünde lebenden Priester an der Seelsorge hinderte und Unheil heraufbeschwor, zeigt auch, wie sich nicht nur der Verwaltungszugriff differenzierte und verstärkte, sondern wie insgesamt die eingesetzten Mittel und Sanktionen körperlich härter wurden, was im Laufe der Echterzeit - vermutlich weil mündliche Abreden und Selbstverpflichtungen der Geistlichen wenig halfen - generell typisch wurde. 71 Wenig ausrichten konnten Ortsseelsorger wie Herrschaftsvertreter, wenn es um die Konfession von Ehehalten ging, die Untertanen anderer Herren waren und nur zur Verrichtung ihrer Dienste als Knechte oder Mägde im Bistum weilten. Hier wurden der Bischof wie die Verwaltung zwar genau mit Namen und Herkunftsort über den abgefragten Konfessionsstand und die erfolgte Aufforderung zur katholi- 68 DAW, Ämterakten 62: Bericht des Kellers Valentin Eckert an den Geistlichen Rat, 8.6.1592. 69 DAW, Ämterakten 62: Bericht des Kellers Valentin Eckert an den Geistlichen Rat, 8.6.1592. 70 DAW, Ämterakten 62: Bericht des Kellers Valentin Eckert an den Geistlichen Rat, 8.6.1592. 71 V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), S. 202f. <?page no="139"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 140 schen Bekenntnisleistung informiert, weitere Schritte wurden jedoch nicht vorgenommen. Wer konnte schon etwas dagegen sagen, wenn ledige Mägde in Aussicht stellten, ihre Konfession nach ihrem künftigen Ehemann richten zu wollen? 72 Dem Geistliche Rat war es lediglich möglich, den Status zu dokumentieren und weiterhin auf Änderungen hin zu beobachten. Zur allgemeinen diözesanen Verwaltung, hier auf der unteren Ebene der Pfarreien mit den zugehörigen Benefizien und Stiftungen, gehörte auch die Pflege eines Pfarrarchivs, unter dessen Bestandteile die Pfarrmatrikeln zu rechnen sind. Sie hatten von Anfang an Urkundencharakter, um die Sakramentenspendung des Klerus zuverlässig und für die Empfangenden verbindlich zu dokumentieren. Hier war Augsburg in Vorreiterposition, denn die Diözesansynode von 1548 verfügte bereits die Buchführung über Taufen, Beichten und Kommunionen, Trauungen sowie Sterbefälle. Das Konzil von Trient regelte mit dem Dekret ›Tametsi‹ erst 1563 die verpflichtende Matrikelführung, um körperliche wie geistliche Verwandtschaftsverhältnisse auszuschließen. 73 Diese pfarreilichen Amtsbücher waren zwar zur Aufbewahrung vor Ort bestimmt, ließen sich aber bei Lokalvisitationen konsultieren und gestattenen den ortsfremden Visitatoren, die Verhältnisse der Pfarrkinder wie auch die Sakramentenspendung der Geistlichkeit zu überprüfen. Insgesamt war es auf diese Weise möglich, dass der Bischof und sein Geistlicher Rat relativ lückenlos über die Zustände in den Pfarreien informiert waren. Konsequenterweise drängte der Geistliche Rat in Würzburg stark auf die Einhaltung der Matrikelführung, wie es sich dann auch in der offiziellen Handreichung für den Diözesanklerus, den 1584 erlassenen Statuta Ruralia von Bischof Julius Echter, ausdrückte. 74 Ähnliche, die Verwaltungsvorgänge dokumentierende Aktenbestände wurden zentral für die Klöster und Stifte angelegt, in denen die geistliche und wirtschaftliche Führung der Einrichtung, Personalfragen wie Visitationsergebnisse dokumentiert wurden. 75 Da dem Geistlichen Rat vor der Besetzung von Benefizien auch die Examination der Priesterkandidaten zustand und Geistliche Räte in den Betrieb der Würzburger Seminarien eingebunden waren, hatte das geistliche Gremium mindestens gute Kenntnisse über die eingesetzten Priester, wenn nicht auch die Möglichkeit der persönlichen Einflussnahme. Dies war etwa von Vorteil, wenn bestimmte Pfar- 72 Protokoll einer Befragung von akatholischen Personen in Retzbach 2.5.1588, abgedruckt bei: R AINER L ENG , Kapitel V.7 Verzeichnis derer Personen zu Retzbach, so der Catholischen Religion nitt zu gethan, in: R. L ENG / W. S CHNEIDER / S. W EIDMANN (Hg.), Julius Echter (Anm. 39), S. 194f. 73 E RWIN N AIMER , Pfarrbücher und Heimatforschung, in: Forum Heimatforschung. Ziele - Wege - Ergebnisse 1 (1996), S. 57-80. 74 V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 7), S. 266-272. 75 DAW, Klöster und Stifte. <?page no="140"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 141 reien mit passenden Kandidaten besetzt werden sollten. 76 Ein solches strategisches Vorgehen kann beispielsweise bei der Besetzung der Pfarrei Mellrichstadt (gleichzeitig Dekanatssitz) mit Melchior Sang, dem Bruder des Würzburger Weihbischofs Eucharius Sang, gesehen werden. Landkapitel und Pfarrei Mellrichtstadt lagen ganz im Norden des Bistums, bereits hart an der Grenze zum evangelischen Henneberg, und betreuten rekatholisierte Orte. Die Akten zeigen mit Sang einen gewissenhaften wie fleißigen Priester, der unermüdlich und erfolgreich für sein Bistum im Einsatz war. 77 Der administrative Umgang der geistlichen Zentralverwaltung mit den kirchlichen Entwicklungen in den Pfarreien, Klöstern und Landkapiteln schlug sich in beiden Bistümern auch schriftlich nieder. Jedoch ist ein archivalischer Vergleich kaum möglich, denn für Augsburg sind die betreffenden Bestände in der Überlieferungsgeschichte aufgebrochen und durch Kriegseinwirkungen weiter in Mitleidenschaft gezogen worden. 78 Deshalb ist es nicht ohne weiteres möglich, die ursprüngliche Fondsstruktur und damit gerade die Arbeitsweise der Administration gegenüber dem Ruralklerus und den Laien nachzuvollziehen. Doch lohnt auch ein Blick auf die behandelten Themenfelder bei Visitationen in der schwäbischen Diözese. Die als Entwürfe überlieferten Fragenkataloge für die Priester und Hilfsgeistlichen sowie für die Pfarreien und Benefizien weisen eine hohe Ähnlichkeit zu den beschriebenen Würzburger Visitationsschemata auf. Beim Klerus standen die persönlichen Lebensverhältnisse im Fokus, die Herkunft, Ausbildung und bisheriger geistlicher Werdegang, dann die Tätigkeit auf der aktuellen Stelle, die Anzahl der betreuten Parochianen, die zugehörigen Filialen, Kirchen, Altäre und Frühmessstiftungen, deren Ausstattung an Paramenten, heiligen Gefäßen und Ölen, das Einkommen der Kirchen- und Altarstiftungen, die Ausprägung der Seelsorge in Gottesdiensten und Sakramentenspendung, das Verhalten der Pfarrkinder bei Gottesdienst, Aufgebot, Sakramentenempfang und Sonntagsruhe. Auch sollte bei einer Visitation gefragt werden, ob der Pfarrer durch seine eigenhändige Unterschrift unter die Liste an Klagepunkten der vorhergegangenen Visitation gezeigt hatte, dass ihm Visitationsergebnisse bekannt waren, und ob er die Mängel ganz oder wenigstens teilweise beseitigt habe. 79 Der übergeordnete Bezugsrahmen dabei waren die Vorgaben des Konzils von Trient (besonders die Beschlüsse der 21., 22. 76 V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 7), bes. S. 126, 129f., 317f. 77 V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 7), S. 120, 419, 423f. 78 H EINZ F RIEDRICH D EININGER , Das Schicksal der Augsburger Archive während und nach dem Kriege, in: Archivalische Zeitschrift 46 (1959), S. 182-192; W ALTER J AROSCHKA , Die Stellung innerhalb der Organisation und im Beständeaufbau der staatlichen Archive Bayerns, in: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern 19 (1973), S. 21-34; S TEFAN M IEDANER , Das Archiv des Bistums Augsburg, in: Der Archivar 46 (1993), S. 406f. 79 ABA, BO 1670 [wohl aus einer frühneuzeitlichen Registraturlade XV, Faszikel 6]. <?page no="141"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 142 und 24. Sitzungsperiode). 80 Ergänzend verbanden päpstlich approbierte diözesane Missalien und Ritualien den römischen Ritus mit den örtlichen Gegebenheiten. Auch der Visitationsfragenkatalog glich sich den tridentinischen Forderungen an. Beispielhaft zeigt sich dies an der Kontrolle der in den Pfarreien vorhandenen liturgischen Bücher, die einem in Trient festgelegten Kanon entsprechen sollten. Jedoch setzte erst Heinrich von Knöringen durch konsequente Visitationstätigkeit eine Systematisierung des konfessionellen Erwartungshorizonts und eine Effektivitätskontrolle vor Ort durch. Gleichzeitig standen den Visitatoren Fragenkataloge unterschiedlicher Intensität (ausführlich/ kurz) zur Verfügung. Dem Augenschein nach wurden sie durch die geistliche Kanzlei erarbeitet und von dort aus auch eingesetzt. Sie ermöglichten dem visitierenden Personal, in den Pfarreien situationsadäquat und professionell zu reagieren. 81 Bei der Visitation von örtlich nahe gelegenen Stiften, wie in Augsburg St. Moritz, kam es vor, dass die eingesetzte Visitationskommission detailliert und stark personenbezogen beobachtete. Die beschreibenden Berichte nahmen auch die ökonomische Geschäftsführung sowie die bauliche und liturgische Ausstattung in den Blick. Gemäß der sakralen Funktion des Chorherrenstifts lag jedoch ein Schwerpunkt im Verhalten der Präbendare und der Anwärter. 1567 erhielt der Dekan eine mit der eben erfolgten Dillinger Diözesansynode abgestimmte Ermahnung in zehn Punkten. Darin wird ein frommes, keusches, den Abstinenzregeln folgendes Verhalten skizziert, bei dem der Stiftsklerus nur in passender Kleidung und mit gemäßigtem Benehmen öffentlich - ohne eigens genannte Wirtshausbesuche - erscheinen und so der Ehr Gottes vnd Aufferbauwung der christenlichen kirchen 82 dienen sollte. 1624 hatte sich der Zugriff verschärft: in einer dreitägigen Visitation nahm eine nach tridentinischer Vorgabe eingesetzte bischöfliche Kommission ganz genau unter die Lupe, wie es um den inneren und äußeren Zustand des Stifts bestellt war, und betrachtete dabei Jurisdiktion und Disziplin des Stifts, Gottesdienste, Chorgebete und Messen, zugehörige Benefizien und deren Ausstattung, Archivwesen und Verwaltung, bis hin zur Sittlichkeit der Kleriker. Hier reichte die Betrachtung bis auf die namentlich benannte persönliche Ebene, personenbezogene Missstände wurden genau dokumentiert. 83 Die Konsequenzen sind an sich nicht überliefert, es war dem Bischof aber auf Basis dieser Visitationsbeschreibung möglich, Reformen nicht zu allgemein anzusetzen, sondern darin die Verfehlungen Einzelner gezielt 80 J OSEF W OHLMUTH (Hg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 3: Konzilien der Neuzeit, Paderborn u. a. 2002. 81 D IETMAR S CHIERSNER , Visitation im Territorium non clausum. Die Visitationsprotokolle des Landkapitels Ichenhausen im Bistum Augsburg (Verein für Augsburger Bistumsgeschichte e.V. Sonderreihe 8), Neustadt a. d. Aisch 2009, bes. S. XIV-XVII, 33-56 [1593]. 82 ABA, BO 9377: Salubria et necessaria Decani S. Mauritij monita et mandata [1567 VII], fol. 2v. 83 ABA, BO 9377. <?page no="142"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 143 und konsequent zu ahnden und beispielsweise gegen einen Stiftsherrn Penthaim, der mit einer Schwester Bärbel allerlei Verdächtiges trieb, oder gegen den im Chor störenden Stiftsherrn Fischer vorzugehen. 84 Was darüber hinaus für Augsburg vorliegt, sind die Protokolle des sogenannten Geistlichen Rats seit Beginn seiner Tätigkeit 1618. In Würzburg sind die entsprechenden Protokollbände für das 16. und beginnende 17. Jahrhundert verloren gegangen. 85 So kann man im Falle Augsburg an den vorhandenen Protokollbüchern nachvollziehen, wie dieses Gremium seine Tätigkeit aufnahm. Die erste, konstituierende Sitzung 86 des Augsburger Geistlichen Rats fand in der Regierungszeit Bischof Heinrichs von Knöringen am 30. April 1618 statt. Überschrieben ist der Protokollband mit Prothocollum Pro Consilio Ecclesiastico Anno D[omi]ni Millesimo sexcentesimo decimo octauo Augustae instituto. Den Vorsitz führte der Suffragan Peter Wall, der gleichzeitig als Generalvikar eingesetzt war. Dass es weitere als ›Consiliarii‹ bezeichnete Räte gab, wird erwähnt, aber nicht weiter erläutert. 87 Später wird in den Protokollen und Akten der Behörde die personelle Zusammensetzung des Geistlichen Rats weiter explizit greifbar. Sie umfasste dann den Weihbischof, der Direktor des Gremiums war, und den Generalvikar, wobei diese beiden Ämter auch in Personalunion ausgeübt werden konnten. 88 An dritter (beziehungsweise bei Personalunion von Weihbischof und Generalvikar zweiter) Stelle folgte der Offizial, dann der Pönitentiar als bischöflicher Stellvertreter in Bußsachen, schließlich der Fiskal, der 1665 ›pro tempore‹ auch als Visitator fungierte. Außerdem war noch ein Siegler zugeordnet, der gleichzeitig als Protokollant eingesetzt war. Als beratender Beisitzer ohne Stimmrecht wurde noch ein Doktor des weltlichen Rechts, ein Laie, hinzugezogen. Dessen Aufgabe lag auch darin, die ausgehenden Schreiben zu konzipieren. 89 84 ABA, BO 9377: Visitatio Collegiata Ecclesiae S. Mauritij 1624, fol. 6r-v. 85 V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), S. 22f. 86 Dass es sich damit vermutlich auch um die allererste Sitzung des Gremiums handelte, drängt sich auf, wenn man neben den wörtlichen Hinweisen im ersten Protokolleintrag einen Vergleich mit dem Geistlichen Rat in Freising zieht. Dieser hatte zur Aufnahme seiner Tätigkeit mit dem Verfassen der Protokolle begonnen und im ersten Eintrag des Protokollbands nicht nur die Inhalte dokumentiert, sondern auch noch das zeremoniell anmutende Vorgehen, dass sich eben eine bestimmte Anzahl an Personen versammelte, um im Auftrag des abwesenden Bischofs Ernst von Bayern zusammen die Tätigkeit als Geistlicher Rat aufzunehmen. Ein Konstitution dieser Zentralgremien in der ersten Sitzung war demnach nicht unüblich. Vgl. Archiv des Erzbistums München und Freising, GR PR 1, S. 1. 87 ABA, S 50 (GR PR 1), S. 1. 88 Dies war eben 1665 nach der Wahl Johann Christoph von Freybergs bei der Bestätigung des Gremiums der Fall, als Caspar Zeiler (auch Dekan von St. Moritz) gleichzeitig Suffragan und Vicarius in spiritualibus war; ABA, S 50 (GR PR 1), S. 173. 89 ABA, BO 937: Produkt c 1630; ABA, S 50 (GR PR 1), S. 173. <?page no="143"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 144 Mit dieser Aufstellung - die sich in dieser Form bis auf Offizial und Pönitentiar auch in Würzburg findet 90 - dürfte die Standardform des Geistlichen Rats etabliert gewesen sein. Alle wichtigen Stellvertreterfunktionen des Bischofs in seinen Eigenschaften als oberster Richter und Hirte waren besetzt, ebenso waren die hohen Beamten der geistlichen Kanzlei vertreten. Als sinnvolle Ergänzung erscheint das Hinzuziehen des Rechtsgelehrten, der durch seine Expertise helfen konnte, Entscheidungsunsicherheiten zu vermeiden, und dessen Tätigkeit den Arbeitsgang der Behörde erheblich erleichterte. Denn jede kollegial getroffene Entscheidung zog nach sich, dass über sie außerhalb des Geistlichen Rats stehenden Institutionen, seien es der Bischof, geistliche Gerichte, die Dekane der Landkapitel, Stifte und Seminarien, klösterliches Personal oder Pfarrkleriker, informiert werden mussten. Dies galt auch für weltliche Institutionen oder Personen, die in die vorliegende Fälle eingebunden waren. Das im ersten Protokolleintrag als Consilium Ecclesiasticum, also eigentlich als kirchlicher Rat oder Rat in kirchlichen Dingen, bezeichnete Gremium nahm den Einträgen nach sofort mit der Gründung strukturiert die Arbeit auf. Die Sitzungen folgten dem typischen Schema der Kollegialbehörden mit Referat der Fälle und Begebenheiten, danach lösendem Vorschlag (Propositio) oder Folgerung (Conclusio) nach Beratung reihum durch alle Mitglieder in der Reihenfolge ihres Rangs. 91 Dieses Strukturprinzip wurde etwa 100 Jahre lang beibehalten. Danach schien es praktischer und effizienter, schwierige Fälle, die mehr Beratungs- und Einarbeitungsbedarf hatten, in einem Faszikel zu sammeln, diesen unter den Geistlichen Räten außerhalb der Sitzungen kursieren und schrifliche Stellungnahmen abgeben zu lassen. Der Geistliche Rat in Augsburg bekam von Bischof Heinrich von Knöringen rasch nach der Gremiengründung, nämlich bereits am 5. Mai 1618, ein eigenes Siegel zugewiesen, welches durch das Bischofswappen und die Initialien H[enricus] E[piscopus] A[ugustanus] deutlich auf die bischöfliche Stellvertreterposition rekurrierte. 92 Die Siegelführung stellte einen wichtigen Schritt in der Behördenausbildung dar, denn nun konnte der Geistliche Rat ausgehende Schreiben selbst ausfertigen oder Rechtsvorgänge beurkunden und war zu einer entscheidenden Stelle in der geistlichen Verwaltung geworden. Die Fallbearbeitung infolge von planmäßigen Visitationen spielte dabei keine überproportionale Rolle. Eher lag in der Arbeitsweise der Mitglieder, besonders der Generalvikare, denen Reformnotwendigkeiten und Missstände auch in ihrem individuellen Amt begegnen konnten, ein Zustrom an Entscheidungsbedarf. Die Protokolle spiegeln das wider, was an die Behörde von außen und in Einzelfällen an den Geistlichen Rat herangetragen 90 V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), bes. S. 106-132. 91 ABA, S 50 (GR PR 1). 92 ABA, BO 870: Erlass Heinrichs von Knöringen (Dillingen) an Geistlichen Rat (Augsburg), 5.5.1618. <?page no="144"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 145 wurde. Hatte der Geistliche Rat in Würzburg in der Echterzeit besonders die regelmäßigen und intensiven Halbjahresbis Jahresvisitationen als Quelle seiner Beschäftigung, so gerierte sich der Entscheidungsbedarf in Augsburg - soweit aus den Akten ableitbar - zwar auch aus Visitationen, genauso aber auch aus der regen Tätigkeit seiner Ratsmitglieder in ihren jeweiligen und damit eigentlich pro forma getrennten Ämtern, wenngleich sich durch die Personalunionen natürlich Überschneidungen ergaben. 93 Was zu diesem Befund an administrativer Intensivierung in der Regierungszeit Heinrichs von Knöringen passt, sind Amtsbücher und Amtsakten aus der geistlichen Kanzlei, anhand derer sich die Professionalisierung der kirchlichen Verwaltung weiter verdichtete. Einen unmittelbaren Einblick in die innerkirchlichen Rechtsvorgaben (Pflichtsoll) und die Vorgänge zur Umsetzung (Realsisierungen) gibt ein Faszikel mit Eidformularen, Protokollen von Aufschwörungen und Investituren sowie Tax-Bestätigungen der geistlichen Siegler. Es zeichnet ein Bild, wie die Amtseinführungen von geistlichen Personen zunächst vorgeschrieben, dann vollzogen und dokumentiert wurden. Durch die in der Umsetzung geforderte Schriftlichkeit wurden sie nachvollziehbar, gültig und auch von den Einnahmen her kontrollierbar. 94 Demnach bearbeiteten die Diözesen inhaltlich gesehen ähnliche Entscheidungsfälle, in der Ausformung des Geistlichen Rats zeigen sich Unterschiede: Würzburg setzte bereits seit den 1570er Jahren auf das Kollegialorgan des Geistlichen Rats und seine Verwaltungs- und Visitationstätigkeit, Augsburg blieb länger bei Diözesansynoden und der geistlichen Verwaltung durch die geistlichen Spitzenämter im einzelnen. Es folgte der fränkischen Diözese mit einem Geistlichen Rat 1618. Die mit dem im Geistlichen Rat möglichen Vorteile der schriftlichen Verwaltungsführung, die alle führenden Beamten gleichzeitig involvierte, lagen bei der räumlichen Trennung von Residenz und Diözesankapitel auf der Hand. Sie sind in Schwaben mit Dillingen und Augsburg sehr deutlich, aber auch in Franken mit der geistlichen Kanzlei in der Innenstadt Würzburg und den Residenzen Marienfestung und Schloss Aschach zu sehen. In beiden Fällen lässt sich in den Akten nachvollziehen, dass die jeweiligen Beamten systematisch durch eine gezielte Ablage der ein- und auslaufenden Memoriale und Befehle des abwesenden Bischofs (Augsburg) oder durch persönliches Referieren vor dem Bischof mithilfe von Journal oder Memoriale über anstehende Entscheidungen (Würzburg) die gegenseitige Information als Entscheidungsgrundlage regelten. So konnte der Bischof 93 Vgl. die Visitationsakten ABA, BO 1670 (Augsburg-Land), 1743 (Dillingen), 2847, 9377 (St. Moritz); HS 204: Protokollbuch des Generalvikariats (GVPr 1) ab 1609. Siehe auch D. S CHIERSNER , Visitation (Anm. 81), bes. S. XII-XVII, 32f. 94 ABA, BO 598 (1616, 1620, 1648-1796). <?page no="145"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 146 zur Sommerfrische ins Aschacher Waldschlösschen fahren, ohne Sorge zu haben, er wisse zu wenig über die aktuellen Vorgänge im Bistum. 95 Die gesamte Neuentwicklung der aktengestützten Verwaltung forderte einen höheren Grad der Verschriftlichung, der die notwendige Entscheidungsfindung auch stützen konnte, wenn der Oberhirte wechselte oder als Diözesanleitung ausfiel. Wie sehr sich die Bischöfe in die tatsächliche Verwaltungsarbeit einbrachten, etwa bei Julius Echter, Heinrich von Knöringen oder später Johann Christoph von Freyberg intensiv, fordernd und detailliert, lag auch an ihrem persönlichen Herrschaftsverständnis, zeigt in der Übersicht jedoch so deutliche Parallelen, dass aus Sicht der Administrative Echter und Knöringen als die zentralen Figuren der konfessionellen Reform gesehen werden können. 96 6. Frommes Franken und frommes Schwaben in der allgemeinen Konfessionsbildung Die allgemeine konfessionelle Intensivierung der Frühneuzeit lässt sich gut mithilfe von zwei Bereichen erfassen, die auf den ersten Blick nicht unbedingt mit der beschriebenen Verwaltungsarbeit zusammenhängen, aber die Skizze weiter veranschaulichen: Zum einen lässt sich beim Thema Bauen, als weithin sichtbares Erbe des 16. und 17. Jahrhunderts, feststellen, dass ihm für den kirchlichen Bereich der geistlichen Verwaltung eine tragende Rolle zukam. Für beide Diözesen ist nachgewiesen worden, dass ein dezidiertes, auf Maria und die Heiligen ausgerichtetes Bau- und Bildprogramm vorgegeben wurde, welches durch die Verwaltung anhand von Visitationen und auf die eucharistische Verehrung zugeschnittene Bauvorgaben realisiert und kontrolliert wurde. Darin eingeschlossen waren auch die Vasa Sacra, Paramente, Beichtstühle, zum Teil auch Fenster, Kirchenstühle, Monstranzen und Taufsteine, die Kriterien der spezifischen Einheitlichkeit, der konfessionell aufgeladene Herrschermemoria sowie sakramentaler Zweckmäßigkeit folgten. 97 Die 95 Zum Beispiel für Augsburg Sekretäre/ Expeditoren Stainer und Bötzel. Vgl. ABA, BO 870. U. a. Konzepte für Berichte und einlaufende Memoriale zwischen dem Bischof in Dillingen und dem Geistlichen Rat in Augsburg: ABA, BO 231 (1630-1654). Für Würzburg z. B.: Registrum expediendorum des Fiskals Urban Renninsfeldt (~ 1545-1591); siehe V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), S. 296-317. 96 V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), bes. S. 128-133, 296-299; D. S CHIERS - NER , Visitation (Anm. 81), S. XIV-XVII. 97 B ARBARA S CHOCK -W ERNER , Die Bauten im Fürstbistum Würzburg unter Julius Echter von Mespelbrunn 1573-1617. Struktur, Organisation, Finanzierung und künstlerische Bewertung, Regensburg 2005; W OLFGANG S CHNEIDER , Aspectus Populi. Kirchenräume der katholischen Reform und ihre Bildordnung im Bistum Würzburg, Regensburg 1999; <?page no="146"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 147 übergeordnete Zielrichtung war beiderseits klar: die äußeren Zeichen der Frömmigkeit hatten einer konfessionell-katholischen Prägung zu genügen. Insofern hatten sie auch zentral gesteuert und kontrolliert zu werden. Die zentral forcierte Marienverehrung im Wallfahrts- und Bruderschaftswesen war freilich kein fränkisches oder schwäbisches Spezifikum, sondern eine allgemeine Entwicklung in den katholischen Ländern des Heiligen Römischen Reiches. 98 Als augenfällige Zeichen zur Illustration dieses Motivs: Die ›Patrona Franconiae‹ erhielt mit der Wallfahrtskirche Maria im Sande zu Dettelbach 1613 nicht nur einen von der geistlichen Regierungszentrale planmäßig ausgestalteten Sakralort, sondern erfuhr gleichzeitig eine schriftliche Frömmigkeitspropaganda durch den Weihbischof Eucharius Sang. 99 Auch in der Diözese Augsburg lassen sich Spuren einer Verstärkung und Vereinheitlichung der Muttergottesverehrung nachzeichnen. Beispielsweise hat sich eine Singstimme für eine Namen Jesu-, Marien- und Heiligenlitanei erhalten, die der Komponist, ein Augsburger Domvikar, zur Aufführung durch eine Sodalität oder Bruderschaft am Augsburger Dom vorsah wie auch auf dem Heilige Berg Andechs. 100 Auch wenn das Benediktinerkloster Andechs aus der zentral-episkopalen Steuerung ausgenommen war, ist das Fundstück jedoch passend zur Annahme Zoepfls, dass Andechs als Glaubensort etwa zeitgleich eine Auffrischung der traditionellen Wallfahrt um eine mit Augsburg R. L ENG / W. S CHNEIDER / S. W EIDMANN (Hg.), Julius Echter (Anm. 39); F. S TRECKER , Augsburger Altäre (Anm. 62), bes. S. 61-63, 100-102. 98 Eine Einbettung der beiden Bistümer ergibt sich durch die obigen Befunde in die generalisierenden Übersichten von L UDWIG H ÜTTL , Marianische Wallfahrten im süddeutschösterreichischen Raum. Analysen von der Reformationsbis zur Aufklärungsepoche, Köln- Wien 1985 (Kölner Veröff. zur Religionsgeschichte 6); W OLFGANG B RÜCKNER , Konfessionsfrömmigkeit zwischen Trienter Konzil und kirchlicher Aufklärung, in: P ETER K OLB / E RNST -G ÜNTER K RENIG , Unterfränkische Geschichte 4/ 2. Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Eingliederung in das Königreich Bayern, Würzburg 1999, S. 161-225; D ERS ., Gibt es eine fränkische Barockfrömmigkeit? , in: D IETER J. W EISS (Hg.), Barock in Franken, Dettelbach 2004, S. 243-254; P ETER H ERSCHE , Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Freiburg 2006; W ALTER Z IEG - LER , Altgläubige Territorien, in: D ERS . (Hg.), Die Entscheidung deutscher Länder für oder gegen Luther: Studien zu Reformation und Konfessionalisierung im 16. und 17. Jahrhundert. Gesammelte Aufsätze (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 151), Münster 2008, S. 141-175; für den Spätbarock, bezogen auf die städtische Gesellschaft: P ETER F ASSL , Konfession, Wirtschaft und Politik. Von der Reichsstadt zur Industriestadt, Augsburg 1750-1850 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 32), Sigmaringen 1988. 99 E UCHARIUS S ANG , Der Allerseeligsten Jungfrawen Maria alte und newe zu Dettelbach geschehene Wunder, Würzburg 1608; V. H EILMANNSEDER , Geistlicher Rat (Anm. 5), S. 428f.; R. L ENG / W. S CHNEIDER / S. W EIDMANN (Hg.), Kapitel VI: Maria und die Heiligen, in: D IES ., Julius Echter (Anm. 39), S. 232-245. 100 J OHANN H AYM , LITANIAE Textus triplex. I Augsburg 1582 (BSB, 4 Mus. pr. 53). <?page no="147"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 148 verbundene und bereits von Canisius geförderte Muttergottesverehrung erfahren habe. 101 Maria als Patronin und zentrale Heiligenfigur wirkte demnach interregional konfessionell einend und bot gleichzeitig eine regiogenetisch wirkende Projektionsfläche. 7. Fazit Als Fazit kann festgehalten werden: Die Verwaltung wirkte durch ihre Aufgaben und den zunehmenden Professionalisierungsgrad konfessionsbildend. Ihre Beamten agierten dabei als Multiplikatoren, durch ihre Bildung als Qualitätsgaranten und durch ihre Amtszeiten als stabilisierende Kontinuitäten. Dies war in beiden Bistümern der Fall. Die Verschriftlichung kann als zeitgemäß im Ausbau des frühmodernen Staates gesehen werden. Beide Diözesen nahmen in ihren konfessionellen Festlegungen deutlich Bezug auf das Konzil von Trient und standen in enger Verbindung zu Petrus Canisius und den Jesuiten, die in die Bildungs- und Glaubensreform stark eingebunden waren. Seit den 1550er Jahren etablierten sich in Dillingen für Schwaben, in Würzburg für Franken seit den 1580er Jahren entsprechende hohe Schulen und Universitäten wie Priesterseminare. Durch die bezogen auf den Diözesansprengel relativ weite Ausdehnung des Hochstifts und den vornehmen fürstlichen Charakter des Herzogs von Franken in Personalunion mit dem Würzburger Bischof konnte jedoch das fränkische Bistum mit der Aufrechterhaltung und Ausprägung der Konfession stärker die fürstliche Unabhängigkeit des Landesherrn betonen, was sich auch in der parallelen Anlage der systematischen Erfassung der hochstiftischen Zenten wie der diözesanen Landkapitel oder der sofortigen Aufstellung der Julius-Universität als Volluniversität zeigte. Der schwäbische Süden fand in der kirchlich konfliktlastigen Kapitale und im Augsburger Hochstift eine relativ schmale Machtbasis, so dass die katholische Konfession und das Bistum Augsburg in der Fläche mehr Unterstützung von weltlichen Kräften (besonders Fugger und Wittelsbacher) erhielten. Ein grundlegender Ausbau der Administrative für alle kirchlichen Einrichtungen einschließlich Priester- und Laienbildung sowie die kirchliche Infrastruktur lässt sich in beiden Diözesen wiederfinden. Die kirchliche Verwaltung unterstützte und führte den Prozess der Konfessionsbildung und -implementierung. Als äußere Zeichen einer konfessionell geprägten Aufwertung und dinglichen Vergegenwärtigung können die zahlreichen Baumaßnahmen in den diözesanen Flächen gesehen 101 F. Z OEPFL , Bistum Augsburg im Reformationsjahrhundert (Anm. 11), S. 408; K ARL B OSL u. a. (Hg.), Andechs. Der Heilige Berg von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1993. <?page no="148"?> D IE KIR C HLIC HE V E R WALTUNG AL S T R ÄGER DER K ONFE S S IONALI S IE R U NG 149 werden, die durch die Verwaltung gesteuert und dann, im Falle von Kirchen, mit gut ausgebildetem Personal versorgt wurden. Das ländliche Kirchenbauwesen hatte scheinbar, wie oben skizziert, in der Diözese Würzburg seinen Höhepunkt vor dem Dreißigjährigen Krieg, während es im Bistum Augsburg in der Barockzeit einen Aufschwung erlebte. Begleitend steuerte und normierte die geistliche Zentralverwaltung eine pädagogische wie konfessionell vergewissernde Bildprogrammatik der Kirchenräume und der liturgischen Bücher. Diese Sachausstattungen bildeten einen soliden Grundstock für die weitere Ausgestaltung einer barocken (Volks-)Frömmigkeit. Es handelt sich, so könnte man festhalten, um eine gemeinsame Geschichte, die sich aus mehreren Geschichten zusammensetzt. Aufbauend auf dem bekanntermaßen seit dem Augsburger Religionsfrieden geltenden Prinzip, dass der Fürst die Konfession der Untertanen bestimmte, erforderte der nachfolgende Prozess der Konfessionsbildung auch von den geistlichen Fürsten dessen aktive Steuerung in ihren Sprengeln. Zwar entfaltete jede Diözese in der Umsetzung und Ausprägung des Konfessionsprofils individuelle Züge, seien sie inhaltlicher, organisatorischer Art oder unterschiedlich in der zeitlichen Abfolge. Die gewählten Werkzeuge im Prozess der Konfessionsbildung jedoch glichen sich. Dies zeigt sich in den Organisationsformen der Administrative und ihren hoch gebildeten beteiligten Personen, in der diözesanen Durchdringung durch flächenbezogene Verwaltungsvorgänge und professionalisierte Bildungseinrichtungen sowie durch die systematische Bereitstellung von konfessionell verstärkenden Sachgegenständen. Der große einende Gedanke, gewissermaßen das nachtridentinische Motiv der gemeinsamen Geschichte auch in Franken und Schwaben, war die Ausrichtung aller Maßnahmen ad pias causas, wenn auch unter Beibehaltung zentralistisch-feudaler Züge. Dies kann als typisch für den fränkisch-schwäbischen (Früh-)Barock angesehen werden. 102 Die behauptete »augenfällige barocke Katholizität« 103 in Franken und Schwaben kann damit als typisch für beide Regionen, zumindest die katholischen Teile davon, bestätigt werden. Katholizität als sichtbare Kategorie der Frömmigkeit, wie sie der Begriff impliziert, speist sich auch aus den öffentlichen Zeichen der katholischen Raumdurchdringung mit ihren Bauwerken, Heiligenfiguren, Feldkreuzen und den Wallfahrten, Bittgängen, Prozessionen und Jahreskreisbräuchen als den Formen der Frömmigkeitsteilhabe der Gläubigen. Wolfgang Brückner hat weiterführend darauf hingewiesen, dass dies im gesamten oberdeutschen Raum nicht nur im Barock, sondern auch im Wandel der Epochen zwischen Tridentinum und 102 P. H ERSCHE , Muße und Verschwendung (Anm. 98), S. 121f., 571f. 103 D IETMAR S CHIERSNER , Schwaben und Franken. Regionalgeschichte im Vergleich, 17.11.2017-19.11.2017 Memmingen [Tagungsankündigung], in: H-Soz-Kult, 12.9.2017, über: www.hsozkult.de/ event/ id/ termine-34972 (aufgerufen am 1.10.2018). <?page no="149"?> V ER ONIKA H EILMANNS EDER 150 1950 bestehen blieb. 104 Die gemeinsame Geschichte der katholischen Gebiete in Franken und Schwaben zeigt sich also als eine Erzählung, die ihren gemeinsamen Ursprung in der Zeit um 1600 hat und sich hinsichtlich ihrer Motivik und der Protagonisten insgesamt über Jahrhunderte glich. 104 W. B RÜCKNER , Barockfrömmigkeit? (Anm. 98), bes. S. 252f. <?page no="150"?> 151 A NDREAS L INK † Herzgucker und Herzguckerinnen. Zu den Erweckungsbewegungen im Allgäu und in Franken. Bedingungen, Protagonisten, Einflüsse 1. Fragestellung und Forschungsstand, Ziel und Aufbau Die Pluralform ›Erweckungsbewegungen‹ entspricht der Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Schriften von Johann Caspar Lavater in Zürich oder die des Karlsruher Mediziners Heinrich Jung-Stilling, beide durch ihren Verkehr mit Goethe bekannt, waren für die meisten Zeitgenossen wohl eher Einzelerscheinungen ohne Zusammenhang. Ebenso werden die wenigsten die Wirksamkeit des Pfarrers Johann Friedrich Oberlin im Elsässer Steintal - verewigt durch Georg Büchners Erzählung mit der genialen Einleitung: »Den 20. Jänner ging Lenz übers Gebirg« - mit einer geistigen Wende in Verbindung gebracht haben oder den ›Wandsbeker Bote[n]‹ des Matthias Claudius, in dessen viertem Teil, 1782, das Abendlied ›Der Mond ist aufgegangen‹ erschienen ist. Solche »Erweckte vor der Erweckungsbewegung« 1 waren bestenfalls etwas für »Liebhaber christlicher Wahrheit und Gottseligkeit«, wie es 1786 im Titel der neuen Monatsschrift der Basler Christentumsgesellschaft hieß, wo sie publizierten, 2 oder im gleichgesinnten Leserkreis des Raw’schen Verlags in Nürnberg. 3 In der allgemeinen Wahrnehmung allerdings war etwa Jung-Stilling der bedeutendsten deutschen Tageszeitung, der in Augsburg verlegten Cotta’schen ›Allgemeine[n] Zeitung‹, in seinem Todesjahr 1817 gerade noch gut genug für eine scharfe Satire, bald gefolgt von der knappen Todesnachricht. Im Jahr zuvor nahm das liberale Blatt von ihm keinerlei Notiz. 4 1 E RICH B EYREUTHER , Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert, in: RGG 3 , Bd. 2, Tübingen 1986, S. 621-628, hier 623. 2 ›Sammlungen für Liebhaber christlicher Wahrheit und Gottseligkeit‹, Basel 1786ff. 3 W ALTER H AHN , Der Verlag der »Raw’schen Buchhandlung« und die Deutsche Christentumsgesellschaft in Nürnberg 1789-1826, in: ZBKG 45 (1976), S. 83-171. »Raw ist […] vor allem durch die Schriften Stillings (der graue Mann, Theorie der Geisterkunde) als Verleger bekannt geworden und auch bekannt geblieben«; ebd., S. 126. 4 J OHANN F RIEDRICH C OTTA (Hg.), Allgemeine Zeitung, Augsburg 1817, Nr. 55 vom 24. Feb., S. 220 (Satire von 30 Zeilen); Nr. 98 vom 8. Apr., S. 390 (Todesmeldung von 3 Zeilen). <?page no="151"?> A NDR EA S L INK 152 Erst recht sind die als ›mystisch‹, ›aftermystisch‹ oder ›pseudomystizistisch‹ von der kirchlichen Obrigkeit wahrgenommenen Allgäuer Ereignisse um die katholischen Theologen Martin Boos 1788, 5 Johann Michael Feneberg 1796 und Johann Evangelist Goßner um 1797, 6 wohl ab 1813 auch um Ignaz Lindl in Baindlkirch, 7 von den Zeitgenossen kaum als Teil der Erweckungsbewegung, »als letzte große Frömmigkeitsbewegung der Neuzeit«, 8 verstanden worden. Sie drängte »wie der Pietismus auf Individualisierung und Verinnerlichung des religiösen Lebens« 9 im Gegenüber einerseits zu den Ausläufern der Spätorthodoxie, zum theologischen Rationalismus andererseits, die beide, wenn auch mit gegenläufigen Tendenzen, auf die Sicherung objektiver Lehre zielten. »In den Jahren nach 1817 wurde die Wendung zum schlichten Glauben und zur frommen Sitte der Väter immer allgemeiner und entschiedener; die allgemeinen Zeitverhältnisse (Franzosenzeit, Freiheitsbewegung und nationale Enttäuschung, Reformationsjubiläum, politische Reaktion und wirtschaftliche Notjahre), die romantische Stimmung, die Reste des Pietismus, der religiös vertiefte Supranaturalismus und einzelne hervorragende Führer wie Schleiermacher wirkten alle in dieselbe Richtung. In einigen Kreisen vollzog sich der religiöse Umschwung in Form einer ›Erweckung‹, plötzlicher Bekehrung zu einer pietistischen Herzensfrömmigkeit und streng biblisch-supranaturalistischer Gläubigkeit«, 10 so die Einschätzung der liberalen Kirchengeschichtsschreibung. Die verwandten, wenn auch schwer voneinander abgrenzbaren 11 Einzelerscheinungen sind Teil der Erweckungsbewegung, die die gesamtprotestantische Welt erfasste. 12 Sie ist eine weit über das Feld der Regionalgeschichte hinausreichende Bewegung, die zeitlich, in ihren Ablaufformen wie in ihren Folgen für Kirche und 5 H ILDEBRAND D USSLER , Johann Michael Feneberg und die Allgäuer Erweckungsbewegung. Ein kirchengeschichtlicher Beitrag aus den Quellen zur Heimatkunde des Allgäus (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 33), Nürnberg 1959, S. 86 Anm. 41. 6 H ORST W EIGELT , Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung und ihre Ausstrahlung in den süddeutschen Raum, in: Pietismus und Neuzeit 16 (1990), S. 173-195, hier 175. 7 A NDREAS L INK , Die ›chiliastischen Träumereien‹ des Ignaz Lindl. Radikalisierung am Rande der Allgäuer Erweckungsbewegung im Elendsjahr achtzehnhundertunderfroren, in: D IETMAR S CHIERSNER (Hg.), Zeiten und Räume - Rhythmus und Region (Forum Suevicum 11), Konstanz-München 2016, S. 333-366, hier 350-353. 8 E. B EYREUTHER , Erweckungsbewegung (Anm. 1), S. 621, immer noch eine vorzüglich knappe Darstellung im Überblick. 9 J OHANNES W ALLMANN , Der Pietismus, Göttingen 2005, S. 21. 10 K ARL H EUSSI , Kompendium der Kirchengeschichte, 14. Aufl. Tübingen 1976, S. 456. 11 K URT D IETRICH S CHMIDT , Grundriß der Kirchengeschichte, 5. Aufl. Göttingen 1967, S. 459-469. 12 E. B EYREUTHER , Erweckungsbewegung (Anm. 1); dort auch weitere einführende Informationen und Literatur zu diesem Absatz. <?page no="152"?> Z U DEN E R WE CKUNGS B EWE GUNGEN IM A LLGÄU UND IN F R ANKEN 153 Gesellschaft in den einzelnen Ländern unterschiedlich verlief. In England wurde ihre Vorform der religious societies, unter anderem der ›Society For Promoting Christian Knowledge‹, die schon 1712 den jungen Samuel Urlsperger zum Corresponding Member wählte, 13 vom Methodismus überflügelt, gefolgt von der sogenannten Low-Church-Bewegung. In Schottland entstand die Zeltarbeit der Brüder Haldane. Schweden, Norwegen, Finnland und Dänemark erlebten große Volkserweckungen, ebenso die Schweiz, Frankreich und die Niederlande. Nicht zuletzt wurde Nordamerika seit dem ›Great Awakening‹ (schon im 18. Jahrhundert) durch »periodisch wiederkehrende Erweckungsbewegungen […] zum klassischen Land der Massenevangelisationen unter Betonung persönlicher Erfahrungen in allen Denominationen«. 14 Mit der Fokussierung auf die Bewegungen in Schwaben und Franken soll versucht werden, Genaueres über einzelne Führungsfiguren und ihre Beziehungsnetze nachzuweisen und aufzuzeigen, inwiefern unterschiedliche Bedingungen jeweils den Verlauf dieser Bewegungen prägten. Dazu gehören die Zeiten und Orte des jeweiligen Auftretens der Erweckungsbewegungen und der damit gegebene konfessionelle, kirchen- und religionspolitische Rahmen, der geistesgeschichtliche und der aktuelle politische Kontext sowie personelle und institutionelle Konstellationen. Hatte die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung ihre Blütezeit in den zwei Jahrzehnten von 1795 bis 1815, so kam sie in Franken erst in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit den Kristallisationskernen des ›Homiletisch-Liturgischen Correspondenzblatts‹ und der Universität Erlangen zum Durchbruch, wenngleich im Wirken des Kaufmanns Johann Tobias Kießling (1742-1824) 15 und der Nürnberger Partikulargesellschaft der Christentumsgesellschaft 16 bereits spätpietistische Vorformen bestanden. Die vorliegende Studie skizziert zunächst die zeitlich vorangehenden Ereignisse im Allgäu und ihre Ausstrahlung nach Franken. Dabei konzentriert sie sich neben Martin Boos (1762-1825) und Ignaz Lindl (1774-1834) vornehmlich auf Johann Evangelist Goßner (1773-1858), der durch seine weitreichende Vernetzung in den Erweckungskreisen, seine Besuchsreisen und Korrespondenzen sowie durch seine literarische Produktivität die wohl nachhaltigste Wirkungsgeschichte erreichte. Sie fand ihre Fortsetzung in der Zeit, als die Führer der Bewegung das Königreich 13 G ORDON H UELIN , The Relationship to the ›Society For Promoting Christian Knowledge‹, in: R EINHARD S CHWARZ (Hg.), Samuel Urlsperger (1685-1772). Augsburger Pietismus zwischen Außenwirkungen und Binnenwelt (Colloquia Augustana 4), Berlin 1996, S. 151-160. 14 E. B EYREUTHER , Erweckungsbewegung (Anm. 1), S. 622. 15 Vgl. G RETE M ECENSEFFY , Art. Kießling, Johannes Tobias, in: NDB 11 (1977), S. 601. 16 Vgl. H ORST W EIGELT , Geschichte des Pietismus in Bayern. Anfänge, Entwicklung, Bedeutung (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 40), Göttingen 2001, S. 312-325; W. H AHN , Der »Verlag der Raw’schen Buchhandlung« (Anm. 3). <?page no="153"?> A NDR EA S L INK 154 Baiern 17 bereits verlassen hatten, in Goßners Tätigkeit ab 1826 als konvertierter Pfarrer und geschätzter Prediger in Berlin mit der Gründung der ersten ›Kinder- Warte-Anstalt‹ 1834, des Elisabethkrankenhauses 1836 samt Diakonissenhaus und seiner Missionsanstalt, ebenfalls 1836, zudem durch viele Publikationen, auch im Raw’schen Verlag in Nürnberg über seinen Tod hinaus. Beziehungen zwischen den Allgäuer Erweckten und Glaubensfreunden in Franken - bis in den Kreis um Löhe hinein 18 - sind schon verschiedentlich benannt worden. Sie werden hier anhand einiger meist unpublizierter Briefe und Selbstzeugnisse weiter nachgewiesen und im zweiten Teil der Studie durch eine bislang noch fehlende Untersuchung der Herzensfrömmigkeit der Erweckten als ihrem Wesenskern konkretisiert. 2. Die Allgäuer Erweckungsbewegung 2.1 Martin Boos Zentralfigur der Anfangszeit wurde der aus kinderreicher Bauernfamilie stammende Martin Boos. 19 Früh verwaist, wurde er von Johann Kögl, dem Bruder seiner Mutter und Pfarrer zu Göggingen, aufgenommen. Auf das Exjesuitengymnasium in Augsburg folgte 1784 das Studium im aufgeklärten Dillingen als Schüler Johann Michael Sailers. 1788 wurde Boos Landkaplan, 1790 Stiftskaplan in Kempten. In dieser Zeit lebte er in strenger Askese. Sehr eindrücklich wurde ihm ein Hausbesuch bei einer todkranken Frau. Als er sie trösten wollte, dass sie »doch recht ruhig und selig sterben« könne, da sie »so fromm und heilig gelebt habe«, entgegnete sie nämlich: »Im Vertrauen auf meine Frömmigkeit […] wüßte ich gewiß, daß ich verdammt würde. Aber auf Jesum, meinen Heiland, kann ich getrost sterben«. 20 Diese befreiende Erkenntnis des ›Christus für uns‹ wurde zum Thema der Verkündigung von Martin Boos, ja blieb bestimmend für sein weiteres Leben. In diesem Sinne wirkte er in Predigt und Seelsorge auf weiteren Stellen in Grönenbach 17 Die Schreibweise ›Baiern‹ bezeichnet politisch das Kurfürstentum und das Königreich, ›Bayern‹ das heutige Bundesland und das geographische Gebiet. Die Schreibweise in Quellen wird übernommen. 18 R UDOLF K ELLER , Von der Spätaufklärung und der Erweckungsbewegung zum Neuluthertum, in: G ERHARD M ÜLLER u. a. (Hg.), Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern, Bd. 2, St. Ottilien 2000, S. 31-68, hier 35 Anm. 31. 19 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 5), S. 85-94. 20 J OHANNES G OSSNER , Martin Boos, der Prediger der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, Berlin 1867, S. 28. <?page no="154"?> Z U DEN E R WE CKUNGS B EWE GUNGEN IM A LLGÄU UND IN F R ANKEN 155 und auch in Seeg bei dem wegen einer Beinamputation gehandikapten Johann Michael Feneberg, 21 schließlich ab 1795 in Wiggensbach. Dort widerfuhr ihm »hinter dem Choraltar« 22 ein erneutes Erweckungserlebnis, »eine jener lichtvollen Erscheinungen, welche für Boos und auch manch andere der Erweckten charakteristisch sind«. 23 Es gab nun mehrere Erweckungen, bei einigen Frauen mit »extravaganten« Verhaltensweisen. 24 Einige erweckte Mägde galten als geistliche » ›Gebärmütter‹, da sie den religiös Suchenden ›den Heiland geben‹ könnten.« 25 Sailer, der davon erfahren hatte, wollte sich ein eigenes Bild machen. So wurde ein Treffen mit Boos bei Feneberg in Seeg organisiert, an dem auch Fenebergs Kapläne sowie zwei der Mägde teilnahmen. Eine von ihnen nannte trotz eines Redeverbots von Seiten Boos’ den Theologieprofessor Sailer einen »Pharisäer und Schriftgelehrten«, dem die »Geistes- und Feuer-Taufe Jesu« noch fehle. 26 Während Sailer mit zwiespältigen Gefühlen abreiste, erlebten bald darauf an Neujahr 1797 Feneberg selbst und seine Kapläne ihre Erweckungen. Im Neujahrsgottesdienst von Martin Boos in Wiggensbach kam es zu ekstatischen Erscheinungen bei Dutzenden von Besuchern und darauf zu Tumulten zwischen seinen Anhängern und Gegnern. Ähnliche Unruhen erfassten das zur Diözese Konstanz gehörige Hellergerst (10 km südwestlich von Kempten), wo der bei seinem Freund Boos erweckte Pfarrer Anton Bach wirkte. 27 Jetzt untersuchten die kirchlichen Obrigkeiten in Konstanz und Augsburg die Angelegenheiten. Bach erlangte in Konstanz einen Freispruch. In Augsburg ging man hart vor. Anfang Februar 1797 konfiszierte der bischöfliche Kommissar Ludwig Rößle im Pfarrhaus zu Seeg bei Abwesenheit Fenebergs gewaltsam alle Papiere und Bücher, weil man hoffte, dadurch »die Mittel und Grundsätze dieses großen geheimen Bundes in Erfahrung zu bringen.« 28 Das Verfahren vor dem Geistlichen Gericht verlangte von den Angeklagten, einer Reihe ihnen jedoch zumeist fremder Lehrsätze abzuschwören. Während Feneberg und seine Kapläne Bayer und Siller bald nach Seeg zurückkehren durften, wurde Boos zu einem Jahr Priesterkorrektionshaus in Göggingen verurteilt. Nach acht Monaten wurde die Strafe in einen 21 P ETER R UMMEL , Johann Michael Feneberg - eine prägende Gestalt der Allgäuer Erweckungsbewegung, in: ZBKG 64 (1995), S. 70-84. 22 J. G OSSNER , Martin Boos (Anm. 20), S. 34. 23 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 5), S. 87; wobei die Erscheinungen auch nur charakteristisch für Erweckungsberichte sein mögen. 24 H ORST W EIGELT , Martin Boos. Initiator und wesentlicher Repräsentant der Allgäuer katholischen Erweckungsbewegung, in: ZBKG 64 (1995), S. 85-105, hier 89. 25 H. W EIGELT , Martin Boos (Anm. 24), S. 89. 26 H. W EIGELT , Martin Boos (Anm. 24), S. 90. 27 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 5), S. 109-114. 28 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 5), S. 87 Anm. 46. <?page no="155"?> A NDR EA S L INK 156 Stadtarrest umgewandelt, dann von einem Einsatz als Hilfsgeistlicher in Langenneufnach abgelöst. Was man den Erweckten zur Last legte, bleibt etwas unklar. Man befragte sie über »Geheimbündelei«, ihre Auffassung von der »Gemeinschaft der Heiligen«, vom »lebendigen Glauben« und der »Inwohnung Jesu in uns«, auch über die »Wahrnehmung der Stimme Gottes in uns und deren Unterscheidung von den eigenen menschlichen Gedanken«, über »Wiedergeburt« und »Privatgeist«. Feneberg betonte etwa, dass an der Schrift, der Kirche und den Riten ausgerichtet werden müsse. Gemeinschaft der Heiligen bildeten alle durch die Liebe Christi Verbundenen, welche durch ihn zum geistlichen Leben erweckt werden. 29 Und vermutlich hielt man auch das Schibolet [! ] des alten Erzaftermystikers Boos ›Christus für uns und Christus in uns‹ schon damals für eine des Luthertums verdächtige Häresie. 30 Es scheint, als sei man im Augsburger Ordinariat besorgt gewesen, das kirchliche Lehramt werde in seiner Verbindlichkeit durch eine unkontrolliert subjektive Frömmigkeit untergraben, deren Anhänger sich innerhalb der Gemeinden oder gar von der Kirche insgesamt mit frommem Hochmut separierten. Hinzu kamen die alten theologischen Frontstellungen gegen Sailer und Feneberg aus ihrer Dillinger Zeit und - wie die unterschiedlichen Vorgehensweisen in Konstanz und Augsburg nahelegen - die frische Erinnerung an Unruhen in den Hochstiftspflegen Oberdorf und Füssen 1796/ 97, die weit über einfache Wilderei bis zu örtlichen bewaffneten Revolten reichten, das Hochstift also als politische Herrschaft herausforderten, litten doch »die Regierung und vorab Clemens Wenzeslaus selbst an der Fallbeilpsychose.« 31 Einer weiteren Anzeige aus Kempten entzog sich Boos auf Rat von Freunden seit April 1798 durch Flucht. Im Dezember stellte er sich dem Augsburger Generalvikar, nachdem einflussreiche Freunde, u. a. der Präsident der Regierung von Oettingen-Spielberg, Johann Baptist von Ruösch (1745-1832), für ihn eine Art Schutzgarantie erwirkt hatten. Ruösch, befreundet mit Lavater, Matthias Claudius und Johann Michael Sailer, 32 hatte Feneberg als Religionslehrer für seine Kinder gewählt und sich auch mit Boos angefreundet. 33 In Augsburg beschloss man, gegen den Arretierten kein neues Verhör anzufangen. Auf Anraten des Generalvikars 29 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 5), S. 203f. 30 ABA, HS-Nr. 211: J OSEPH S EDLMAYER , »Pfarrer Ignaz Lindl« - Ein Baustein zur Geschichte des Pseudomystizismus der katholischen Kirche in Bayern im 19. Jahrhundert […] a. o 1918, p. 6a, 6c. Das Manuskript besteht aus mittig gefalteten Bogen. Diese (zu je vier Seiten) sind rot numeriert. Sie werden zitiert als z. B. 1a-1d, 2a-2d usw. Stets beschrieben sind die a- und d-Seiten. 31 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 5), S. 192-197, Zitat 197. 32 H ORST W EIGELT , Johann Baptist von Ruoesch und Lavater. Aspekte einer ökumenischen Freundschaft, in: ZBKG 52 (1983), S. 29-44, hier 29. 33 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 5), S. 129. <?page no="156"?> Z U DEN E R WE CKUNGS B EWE GUNGEN IM A LLGÄU UND IN F R ANKEN 157 Coelestin Nigg und durch Vermittlung von Sailer suchte Boos bei dem Linzer Bischof Joseph Anton Gall um Aufnahme in dessen Bistum nach. 1799 bis 1805 wirkte er auf Hilfspriesterstellen, dann ab 1806 als Pfarrer in der 4.000 Seelen starken Pfarrei Gallneukirchen. 34 Die Augsburger bischöfliche Gerichtsbarkeit ruhte jedoch nicht, Feneberg und seine Kapläne zu trennen bzw. den Pfarrer aus Seeg zu entfernen. 35 Auch einige junge Geistliche wurden 1799 als Anhänger der »boosischen Schwärmerey« angezeigt. Verdächtigt wurden etwa Ignaz Anton Demeter aus Ried im Kammeltal, später Erzbischof von Freiburg, der Thannhauser Benefiziat Christoph Schmid, der als Jugendschriftsteller und Dichter - ›Ihr Kinderlein, kommet‹ - hervortreten sollte, und eben Johann Evangelist Goßner, damals Fenebergs Kaplan. Die Erstgenannten wurden gerügt und ernsthaft ermahnt; Goßners Akte geriet auf den Verwaltungswegen vorerst irgendwie in Vergessenheit. 36 Zudem wurden durch das Vorrücken der Franzosen in Süddeutschland andere Prioritäten gesetzt: Bischof Clemens Wenzeslaus, der ja schon von Trier nach Augsburg geflohen war, brachte sich im Mai 1800 erneut für ein Jahr nach Dresden in Sicherheit. 37 Der zweite Koalitionskrieg bescherte Augsburg wechselnde Besatzungen. Das Hochstift stand vor seiner Auflösung. 2.2 Johann Evangelist Goßner Auch Goßner stammte aus einer kinderreichen Bauernfamilie im Kammeltal. Fast mittellos bezog er die Universität Dillingen, wechselte aber 1793 nach Ingolstadt und beendete mit vorzüglichen Zeugnissen 1796 das Studium. Auch ohne unmittelbare persönliche Verbindung mit Sailer erfuhr Goßner doch wesentliche Anregungen von ihm im Blick auf den »romantischen Pietismus« eines Lavater, Jung- Stilling oder Matthias Claudius und auf das Führen eines Tagebuches. 38 Zirkulierende Briefe von Martin Boos aus dessen Augsburger Arrestzeit gewannen den 34 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 5), S. 93. 35 H ORST W EIGELT , Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung, in: U LRICH G ÄBLER (Hg.), Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert (Geschichte des Pietismus 3), Göttingen 2000, S. 85-111, hier 91. 36 H. W EIGELT , Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung (Anm. 35), S. 95. 37 P ETER R UMMEL , Fürstbischöflicher Hof und katholisches kirchliches Leben, in: G UN - THER G OTTLIEB u. a. (Hg.), Geschichte der Stadt Augsburg, Stuttgart 1984, S. 530-541, hier 535. 38 M ATTHIAS S IMON , Johannes Goßner, in: G ÖTZ F RHR . VON P ÖLNITZ (Hg.), Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 3 (Veröff. SFG 3/ 3), München 1954, S. 389-405, hier 390. Der junge Goßner habe viele Auszüge aus Lavaters Schriften gemacht; s. J OHANN D ETTLOFF P ROCHNOW , Johannes Evangelist Goßner. Eine biographische Skizze nebst Uebersicht der Goßnerschen Missionsthätigkeit, Berlin 1859, S. 10. <?page no="157"?> A NDR EA S L INK 158 jungen Kaplan für eine christozentrische Orientierung seines Glaubens, die sich in der folgenden Tätigkeit bei Feneberg in Seeg kräftigte. Diese war durch Boos vermittelt worden, den Goßner im Oktober 1797 besucht hatte. 39 1801 erhielt er eine Pfründe als Domkaplan in Augsburg. Knapp ein Jahr später holte ihn die vergessene Akte aus der Ordinariatsverwaltung ein: Eine monatelange Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass er einigen Sätzen abschwören und sechs Wochen im Priesterkorrektionshaus verbringen musste. Nach seiner Entlassung im August 1802 erbat er einige Wochen Urlaub. Diesen nutzte er, »in der Begleitung Michael Sailers eine längere Reise nach Österreich zu machen, wo er vor allem mit Boos und anderen Freunden aus Bayern zusammentraf. Dabei trat er […] in enge Verbindung mit dem evangelischen Pfarrer Höchstetter in Eferding bei Linz.« 40 Der hatte Boos Schriften Luthers und Zinzendorfs verschafft. Bekanntlich erfuhren die österreichischen Toleranzgemeinden Unterstützung durch den Nürnberger Kaufmann Johann Tobias Kießling (1742-1824) als Mittelsmann der Christentumsgesellschaft, der mit seinem Gewürzhandel regelmäßig die Linzer Messen besuchte. »106-mal in 50 Jahren hat er Bücher und Traktate […] heimlich nach Österreich gebracht.« 41 Natürlich hatten auch Kießling und Boos Kontakte geknüpft und standen im Briefverkehr. 42 Beide führten übrigens fast denselben Ehrentitel unter ihren Anhängern: Goßner bezeichnete Boos in einem Brief vom 11. April 1816 an Pfarrer Christian Friedrich Buchrucker von Kleinweisach im Steigerwald als der auserwählte Zeuge der Wahrheit, während im Nürnberger Kreis Kießling als der Auserwählte tituliert wurde, wie ein Schreiben von Gottfried Schöner an Buchrucker vom 29. Juni 1812 belegt. 43 Die Denkpause von Goßners Urlaub fiel zusammen mit der politischen Neugestaltung des Jahres 1803. Es ist die Zeit der Formierung des neuen Königreichs Baiern zu einem modernen und zentralistischen Staat mit dem forcierten Ausbau einer staatlichen Kirchenhoheit. Während die evangelische Kirche zunächst noch bis 1817 eine gewisse Selbständigkeit behielt, 44 zielte die Kirchenpolitik Montgelas’ der katholischen Kirche gegenüber auf die Bildung einer abgeschlossenen Landeskirche und bekämpfte heftig die Pläne eines Reichsbzw. Rheinbundkonkordates von Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg. 45 Im Zuge der staatlichen Konfron- 39 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 5), S. 94. 40 M. S IMON , Goßner (Anm. 38), S. 393. 41 G ABRIELE S INGER / W ALTER M AUERHOFER , Christus für uns - Christus in uns. Die Allgäuer Erweckungsbewegung, Bielefeld 2016, S. 25. 42 H. W EIGELT , Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung (Anm. 35), S. 93. 43 LKAN, NL Buchrucker-Gossner, Personen II, Nr. 12, 19. 44 H ELMUT B AIER , Die evangelische Kirche zwischen Pietismus, Orthodoxie und Aufklärung, in: G. G OTTLIEB u. a. (Hg.), Geschichte (Anm. 37), S. 519-529, hier 528. 45 W INFRIED M ÜLLER , Zwischen Säkularisation und Konkordat. Die Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche 1803-1821, in: W ALTER B RANDMÜLLER (Hg.), Handbuch <?page no="158"?> Z U DEN E R WE CKUNGS B EWE GUNGEN IM A LLGÄU UND IN F R ANKEN 159 tationspolitik erfreute sich die Allgäuer Erweckungsbewegung anfangs einer gewissen Toleranz. Dass damit kein Verständnis für deren ›irrationale‹ Frömmigkeitsanliegen verbunden war, zeigt »die Mißachtung der religiösen Gefühle der Bevölkerung« durch die baierische Kirchenpolitik, die als »auslösender Faktor« des Tiroler Aufstandes von 1809 entscheidend ins Gewicht fiel. 46 Die Allgäuer Erweckungsbewegung war Montgelas nicht wegen ihrer Frömmigkeitsakzentuierung willkommen, sondern kam ihm gelegen, um die staatliche Kirchenhoheit gegenüber der kirchlichen Hierarchie zu demonstrieren. Mit der neuen Kirchenpolitik bekam »ein dem Booskreis wohlgesinnter Beamter, Graf von Lerchenfeld, maßgebenden Einfluß auf die Besetzung der Pfarrstellen«. 47 Goßner erhielt im August 1803 Dirlewang, eine gut dotierte Gemeinde südlich von Mindelheim. Neben der Arbeit in der Pfarrei widmete er sich damals den Schriften Zinzendorfs und redete an Sonntagen über die Tageslosung der Brüdergemeinde, die bekannteste Andachtsvorlage der Herrnhuter. 48 Goßner erprobte nicht nur diese Andachtsform, sondern korrespondierte auch mit Herrnhut. 49 Zu seinen Briefpartnern zählten Nürnberger Mitglieder der Christentumsgesellschaft mit Hauptsitz in Basel. Diese wurde 1780 von Dr. Johann August Urlsperger gegründet, dem Sohn des pietistischen Augsburger Seniors Samuel Urlsperger. Der Vater hatte in jungen Jahren die britischen religious societies kennengelernt und diese Institutionsform einer religiösen, aber nicht kirchlich veranstalteten und daher auch nicht kirchlich gebundenen Vereinigung zur Unterstützung der Salzburger der bayerischen Kirchengeschichte, Bd. 3, St. Ottilien 1991, S. 85-129, bes. 109-114. Nach Dalbergs Tod und Montgelas’ Sturz wurde der Weg frei für das Konkordat. Vgl. M ANFRED W EITLAUFF , Katholische Kirche nach 1803, in: P ETER F ASSL u. a. (Hg.), Bayern, Schwaben und das Reich. FS für Pankraz Fried zum 75. Geburtstag (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 11), Augsburg 2007, S. 314-334, bes. 322f.; D ERS ., Die Neuorganisation der katholischen Kirche in Deutschland im 19. Jahrhundert im Widerstreit von Staatskirchenrecht und römisch-katholischem Recht, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 47 (2013), S. 349-433, bes. 355f., 365-399. 46 W INFRIED M ÜLLER , Die Säkularisation von 1803, in: W. B RANDMÜLLER (Hg.), Handbuch (Anm. 45), S. 1-84, hier 81f. Übrigens wurde im April 1809 auch über Augsburg prophylaktisch der Belagerungszustand verhängt; s. V OLKER D OTTERWEICH , Die Bayerische Ära 1806-1870, in: G. G OTTLIEB u. a. (Hg.), Geschichte (Anm. 37), S. 551-568, hier 555. 47 M. S IMON , Goßner (Anm. 38), S. 393. 48 J. D. P ROCHNOW , Goßner (Anm. 38), S. 22, Reden über die Losungen ausdrücklich am 28.10.1804 und am 4.11.1804, S. 19, 23. Das jährliche Losungsbüchlein enthält für jeden Tag des Jahres zwei Bibelverse: die Losung aus dem Alten Testament und den Lehrtext aus dem Neuen Testament. Dazu ein Liedvers oder ein Gebet. Die alttestamentliche Losung wird ausgelost, die anderen Texte passend dazu ausgesucht. 49 H. W EIGELT , Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung (Anm. 35), S. 98. <?page no="159"?> A NDR EA S L INK 160 Exulanten 1731/ 32 erfolgreich nutzen können. Derartige Organisationsformen waren dem Katholizismus fremd. Schon im Herbst 1804 korrespondierte Goßner mit dem Kaufmann Karg vom Nürnberger Partikularverein. Der schrieb ihm: Der liebe Diaconus Schöner […] ist rastlos, Dein Verlangen mit dem Druck des katholischen Neuen Testaments zu erfüllen. […] Vielleicht weiß unser lieber Sailer einen Rath, das katholische Imprimatur zu erlangen; ich will an den Lieben schreiben; unser Herr und Heiland wird alles lenken. 50 Es ging wohl um die Übersetzung durch Feneberg, die 1807 vollendet wurde. Jedenfalls zeigt sich Goßners starkes Interesse an der Bibel und ihrer Lektüre in diesen Jahren, veröffentlichte er doch 1807 im Raw’schen Verlag seine Schrift ›Über das erbauliche Lesen und Betrachten der Heiligen Schrift‹. 51 Zuvor hatte dort Johann Michael Sailer 1804 ›Das Gebet unseres Herrn für Kinder‹ publiziert, von Martin Boos sollte 1818 ›Christus für uns und in uns, unsere Gerechtigkeit und Heiligung‹ erscheinen, seine von Goßner gesammelten Erweckungsgeschichten, 1819 Goßners ›Brosamen aus den Schriften eines Gesalbten‹, Texte von Zinzendorf, 52 in den dreißiger und vierziger Jahren weitere sechs Schriften. 53 Um Johann Gottfried Schöner, den Leiter der Nürnberger Gesellschaft und Hauptautor des Raw’schen Verlages, und andere persönlich kennenzulernen, reiste Goßner 1808 mit seiner Haushälterin Ida Bauberger und Xaver Bayr von Dirlewang nach Nürnberg. Der Nürnberger Kreis hatte bekanntlich die Frage von Goßner und Langenmeyer, ob sie nicht aus ihrer Kirche austreten sollten, »energisch verneint«. 54 Goßner schrieb darüber an Pfarrer Christian Buchrucker in Kleinweisach am 10. Juni 1806: Sie gönnten uns auch so gerne die evangelische Freÿheit -! das erbaut uns, und macht Sie uns liebenswürdig, weil Sie leiden und fühlen mit den Leidenden. Wir aber müssen harren und uns mit Geduld waffnen bis der Herr hilft […]. Wenn wir aber gleich das nicht mit Euch gemein haben […], wenn Er uns nur Seine Erkenntnis und Liebe, Seine Gnade und Frieden nicht entzieht wenn Er uns nur die Seinen nennt, und als die Seinen erhaltet bis ans Ende - So ists genug! 55 Zwei Jahre später schickt Goßner seine Dintentropfen schon an den lieben theuren Freund, jetzt Duzfreund, und Bruder in Christo, tauscht sich aus über 50 J. D. P ROCHNOW , Goßner (Anm. 38), S. 25. 51 W. H AHN , Der Verlag der »Raw’schen Buchhandlung« (Anm. 3), Nr. 135a. 52 W. H AHN , Der Verlag der »Raw’schen Buchhandlung« (Anm. 3), Nr. 114, 185, 193. 53 W ALTER H AHN , Verlag und Sortiment der Joh. Phil. Raw’schen Buchhandlung unter Johann Christoph Fleischmann 1827-1853, in: ZBKG 48 (1979), S. 71-175, hier die Jahre 1837, 1838, 1842, 1845, 1847 und ohne Jahr. Von Wilhelm Löhe erschienen in dieser Phase 28 Ausgaben von 18 Schriften, von Lavater noch eine, von Jung-Stilling noch zwei. Die dritte Verlagsphase bringt noch drei Publikationen von Goßner und sechs von Löhe; D ERS ., Die Joh. Phil. Raw’sche Verlagsbuchhandlung in Nürnberg unter Christian Adolf Braun (1853-1889) und Jean Braun (1889-1903), in ZBKG 53 (1984), S. 103-178. 54 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 5), S. 216. 55 LKAN, NL Buchrucker-Gossner, Personen II, Nr. 12: Brief Goßners vom 10.6.1806, p. 2r. <?page no="160"?> Z U DEN E R WE CKUNGS B EWE GUNGEN IM A LLGÄU UND IN F R ANKEN 161 Buchruckers Kritik an unserer, d. h. einen Kirche und die Nöte des Pfarrerberufs: wenn mich der Herr […] nicht gehalten hätte, um der Auserwählten willen, […] so wäre ich vileicht schon ausgerissen, und meine wie du. Oft wird’s mir aber wieder leichter, und der Herr schaft Geduld und Gnade. […] Izt seufze ich hier unter meinem Amte, da ich bald ein Babel in mir, bald auser mir erblicke. Wäre ich anderswo, würde es nicht auch zu seufzen geben? 56 Freimütig grüßt er seinen evangelischen Bruder und dessen Frau auch im Namen seiner Haushälterin Ida. Am 14. Februar 1811 schreibt er seinen Abschiedsbrief aus Dirlewang, nachdem er, lange kränklich, seine Pfarrstelle resigniert hatte, dankt Buchrucker für die Zusendung von Traktaten auch an Ida Bauberger und Xaver Bayr, seinen Nachfolger, und kündigt einen Besuch in Basel an. 57 Von dort antwortet er wenig später am 6. April auf ein verlorenes Schreiben Buchruckers, der Goßners Resignation wohl kommentiert hatte: Liebster Bruder! Du hast Recht, alles soll iezt der Geistliche in B[aiern] seyn, nur kein Geistlicher - kein Theologe, oder vielmehr kein Prediger des Evangeliums! Das ist sichtbar der Plan des Fürsten der Finsternis […], in dieser Hinsicht war es mir auch leichter meinen Posten zu verlassen, da ich wohl sahe, man wolle einen Beamten und Staatsdiener aus mir machen, und ich will lediglich nur dem Herrn dienen. […] Man will mich hier als Secretair oder Arbeiter bei der Gesellschaft behalten; wenn es der Herr geschehen läßt, so bin ich bereit. 58 Goßner deutet weiter an, eventuell nach England zu gehen, lässt das aber offen. Er sendet noch seine Abschiedspredigt mit, die hier, also in Basel, gedruckt wurde, sowie Grüße von Christian Friedrich Spitt[e]ler, dem Leiter der Christentumsgesellschaft. 59 Im August 1811 kehrte Goßner nach Bayern zurück auf eine Benefiziatenstelle an der Münchener Frauenkirche 60 mit Erlaubnis zur Seelsorge. Er predigte in der überfüllten Herzogspitalkirche und hielt stark besuchte Kinderlehren in der Bürgersaalkirche, 61 dazu Erbauungsstunden in Privaträumen. Aus dieser Arbeit erwuchs wohl das ›famose Herzbüchlein‹, das Bestseller-Traktätchen Goßners. Um Ostern 1812 - das war der 29. März - lag es jedenfalls beim Buchhändler Nikolaus 56 LKAN, NL Buchrucker-Gossner, Personen II, Nr. 12: Brief Goßners vom 14.2.1808, p. 2r, 2v. 57 LKAN, NL Buchrucker-Gossner, Personen II, Nr. 12: Brief Goßners vom 14.2.1811. 58 LKAN, NL Buchrucker-Gossner, Personen II, Nr. 12: Brief Goßners vom 6.4.1811 aus Basel, p. 1r. 59 LKAN, NL Buchrucker-Gossner, Personen II, Nr. 12: Brief Goßners vom 6.4.1811 aus Basel, p. 1v, 2v. 60 J. S EDLMAYER , Ignaz Lindl (Anm. 30), p. 4a: Purfingen-Neumayer’sches Beneficium, worauf d. Münchner Magistrat präsentierte. 61 StA München, Fasz. 522, Nr. 9615/ 1: Act der Regierung des Isarkreises, Kammer des Innern. Die Religions-Schwärmereien in verschiedenen Landgerichten de anno 1817-1819 (No 1-79), unpaginiert, Nr. 3, 30, 34. <?page no="161"?> A NDR EA S L INK 162 Doll in Augsburg vor, 62 unter dem Titel ›Das Herz des Menschen - ein Tempel Gottes oder eine Werkstätte des Satans, in zehn Figuren sinnbildlich dargestellt.‹ 3. Das ›famose Herzbüchlein‹ - Höhepunkt der Erweckungspublizistik für ›Herzgucker‹ Dieses Büchlein von 48 Seiten wird zwar gerne erwähnt, 63 jedoch kaum gewürdigt, vermutlich wegen des programmatischen Supranaturalismus schon im Titel, den Goßner sehr bewusst betonte: der Zeitgeist lacht des Teufels, als ob er nicht wäre […] Wir bleiben in Christo und Seiner Apostel Lehre. 64 Mit neutestamentlichen Belegstellen reichlich fundiert, bietet das Herzbüchlein eine in acht Bildbetrachtungen ansetzende Anleitung zur Andacht von der Buße bis zur Bereitung auf das Sterben mit zwei weiteren Bildern. Im Zentrum stehen die Darstellungen vom Zustand des Herzens auf dem Weg vom Sünder zum Bekehrten. Die Vorrede erklärt: Auf jeder Figur erscheint ein Herz mit einem Angesicht. […] Darum blicke bei jedem Bilde, mein lieber Leser! In dein eigenes Herz, betrachte dein Inwendiges, um zu erfahren, in welchem Zustande du dich befindest; ob Christus oder der Satan in dir herrsche […] Laß dir’s ernst sein! […] sei redlich, es dir und GOtt zu gestehen, und aufrichtig zu bekennen, wie du es in dir findest (S. Vf.). Es beginnt mit dem Weltmenschen, der sich der Sünde ergiebt und dessen Angesicht Leichtsinn ausdrückt (S. 7). Ausführlich wird das Bild erklärt. Sieben Tiere verkörpern die Sieben Todsünden: der hoffärtige Pfau, der Bock, ein geiles, stinkendes Thier, das Schwein, Bild aller Völlerei (S. 7), die Schildkröte für die Trägheit (S. 9) usw. Es folgen ein Gebet und eine verstärkende Liedstrophe. 65 Wenn der Sünder von Reue ergriffen wird - das Angesicht ist jetzt betrübt und ernst (S. 12) - weichen die Tiere aus dem Herzen, der Stern des Glaubens beginnt zu leuchten (S. 16). Auch hier folgen wieder ein Gebet: Schenk mir deine Gnade […] 62 StA München, Fasz. 522, Nr. 9615/ 1, Nr. 11, 20. Die Datierung in den Spätherbst 1812 ist falsch. 63 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 5), S. 97; H. W EIGELT , Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung (Anm. 35), S. 97; beide mit der unzutreffenden Spätdatierung. 64 J OHANN G OSSNER / F RIEDRICH P HILIPP P ÖSCHEL , Das Herz des Menschen - ein Tempel Gottes oder eine Werkstätte des Bösen [! ], in zehn Figuren sinnbildlich dargestellt, zitiert nach der Ausgabe Neu-Ruppin 1841, Digitalisat der BSB unter http: / / mdz-nbnresolving.de/ urn: nbn: de: bvb: 12-bsb10597875-7, Vorrede an den Leser, S. III. - Der evangelisch Pfarrer von Bubenheim, Friedrich Philipp Pöschel, fungierte als Herausgeber seit 1813. - Zum betonten Supranaturalismus Goßners vgl. StA München, Fasz. 522, Nr. 9615/ 1: ausführliche eigenhändige Erklärung Goßners vom 12.8.1817 (14 S. auf hellblauem Papier). 65 D AVID D ENICKE (1603-1680), O Vater der Barmherzigkeit, ich falle dir zu Fuße (EKG 446, 1), Bußlied des Konsistorialrats in Hannover. <?page no="162"?> Z U DEN E R WE CKUNGS B EWE GUNGEN IM A LLGÄU UND IN F R ANKEN 163 Sie durchdringe mein Herz, sie verwunde es mit heilsamen Schmerzen und mit Reue, damit Sünde, Tod und Teufel von mir weichen und Dir Platz machen (S. 13) und eine Liedstrophe Goßners. Das dritte Bild zeigt nun den Engel der Gnade mit dem Evangelium, das Herz als Sitz des Heiligen Geistes und des Glaubens mit dem hellen Stern. Goßners Text mahnt zur Wachsamkeit: Der Teufel und seine Tiere sind zwar geflohen, aber er ist noch nicht weit entfernt, und er und die Sünde lauert Tag und Nacht (S. 16). Deshalb folgt im Gebet die Bitte: Du hast mich frei gemacht, laß mich nie wieder Sclave werden! Dem vierten Bild mit den Arma Christi ist eine breitere neutestamentliche Betrachtung samt einem Gebet und einer bekräftigenden Liedstrophe beigegeben: In meines Herzens Grunde / Dein Nam’, o GOtt, allein / Funkelt all’zeit und Stunde, / D’rauf kann ich fröhlich sein. 66 Höhepunkt der Bildreihe ist Der innere Zustand des Gottseligen, sein Herz ein Tempel des lebendigen Gottes, eine Wohnung der heiligsten Dreieinigkeit. Als äußerer Schutzschild des Herzens erscheinen die sieben Kardinaltugenden. Das Angesicht des Erlösten ist in sich gekehrt und ruhig. Freilich bleibt diese Ruhe gefährdet. Das zeigt das nächste Bild mit dem Rückfall des bekehrten Sünders: Der Herzenszustand eines Menschen, dessen Eifer wieder erkaltet und der die Welt lieb gewinnt (S. 25). Immerhin ist damit das schon im Neuen Testament beschriebene Problem der zweiten Buße 67 als Gegenstand der Andacht selbst aufgegriffen. Das Herzbüchlein ist seelsorgerlich betrachtet jedenfalls alles andere als hartherzig. Macht man sich Goßners entschiedene Verteidigung gegen den Vorwurf des Aberglaubens zu eigen, 68 so wird man es als einen zu Recht breitenwirksamen Traktat bezeichnen. Es zeigt einen weiten Umgriff auf tradierte Andachtsformen vom Gewissensspiegel zur Ars moriendi und altbekannte Elemente wie die sieben Todsünden und entsprechende Tugendkataloge oder die Arma Christi. Ulrich Schöntube, 2007 bis 2014 Direktor der Goßner-Mission, hat sich 2014 in einem Artikel mit den Ursprüngen und der Rezeptionsgeschichte von Goßners »famosem Herzbüchlein« beschäftigt. 69 Er hält das Andachtsbuch irrigerweise für »a late form of this emblem 66 V ALERIUS H ERBERGER , evang. Pfarrer in Schlesien (1562-1627), Valet will ich dir geben, du arge, falsche Welt, V. 3 (EKG 318, 3). 67 Vgl. P ETER M EINHOLD , Bußwesen II In der christlichen Kirche, 1. Die Buße in der Verkündigung Jesu, in der Urchristenheit und der Alten Kirche, in: RGG 3 , Bd. 1, Sp. 1544f. 68 StA München, Fasz. 522, Nr. 9615/ 1: eigenhändige Erklärung: weil es doch, und zwar mit einem schlechten und abergläubischen Texte gedruckt worden wäre. 69 U LRICH S CHÖNTUBE , Gossner’s »Heart of Man« - origin - reception, in: http: / / gossnermission.de/ media/ heart of men.pdf (aufgerufen am 24.9.2017), S. 3-5. <?page no="163"?> A NDR EA S L INK 164 book« im Gefolge des ›Emblematum liber‹ von Andrea Alcatio. 70 Verdienstvoll ist jedoch Schöntubes Identifizierung der barocken Bildvorlagen, die dem Betrachter bereits die Bildkombination von Gesicht und Herz mit den Tieren der Todsünde vorgehalten hatten. 71 Wichtig ist dabei, dass Goßner zwei Bilder mit den höllischen Sündenstrafen aussonderte. Dies sei nicht nur dem Zeitgeist geschuldet, sondern für Goßner theologisch motiviert. Sein Thema ist die spirituelle Selbstreflektion im Herzen, »the spiritual selfreflection in the heart«. Dazu dienen auch die Gebete, nicht zuletzt die Liedstrophen im Herzbüchlein. Neben mindestens vier Strophen von Goßner selbst finden sich außer den schon genannten von Denicke und Herberger eine Strophe von Johann Rist, poeta laureatus und Begründer des Elbschwanenordens, 72 eine von Johann Rosenmüller, Thomaskantor in Leipzig, 73 und sechzehn Strophen von drei Autoren des Halleschen Pietismus. 74 Im multimedialen Ansatz von Goßner gehört zweifellos Musik zum Kernbestand der Frömmigkeit. 75 Dazu kommt das Bild als Medium, wobei mit dem zum jeweiligen Herzenszustand passenden Gesicht das zeitgenössische Interesse an Physiognomik im Gefolge von Lavater 76 aufgenommen wird. Vor allem greift Goßner mit dem Herzen das Zentralsymbol überhaupt auf. Und er gibt den Herzguckern und Herzguckerinnen einen Leitfaden zur eigenen Sündendiagnostik an die Hand, mit dem die Beichtpraxis aus der kirchlichen Institutionalisierung gelöst und den Frommen selbst in die Hand gegeben wird. 70 A NDREA A LCATIO , Emblematum liber, Augsburg 1531 (SuStBA Cim. 84); vgl. H ELMUT G IER / J OHANNES J ANOTA (Hg.), Von der Augsburger Bibelhandschrift zu Bertolt Brecht, Weißenhorn 1991, S. 281-318. 71 Le miroir du pécheur, [zwischen 1739-1754], Bibliothèque nationale de France, département Réserve des livres rares, RES P-Y-2510, http: / / catalogue.bnf.fr./ ark: / 12148/ cb 334885980 (aufgerufen am 24.9.2017). 72 J OHANN R IST (1607-1667), O Ewigkeit, du Donnerwort, Vers 13 : Wach auf, o Mensch, vom Sündenschlaf, / Ermuntre dich, verlornes Schaf, / und bessre bald dein Leben, in: K ARL O TTO C ONRADY (Hg.), Das große deutsche Gedichtbuch, Kronberg 1977, S. 104- 105, hier 105. 73 J OHANN R OSENMÜLLER (1620-1684), Alle Menschen müssen sterben (EKG 329, 4): Da wird sein das Freudenleben. 74 C HRISTIAN F RIEDRICH R ICHTER (1676-1711), Es kostet viel, ein Christ zu sein (S. 28); J OHANN F RIEDRICH W INCKLER (1670-1722 ), Ringe recht, wenn Gottes Gnade / dich nun ziehet und bekehrt (V. 8-11, S. 31, 38f.); J OHANN K ASPAR S CHADE (1666-1698), Laß dein Auge ja nicht gaffen / nach der schnöden Eitelkeit (S. 40-44). 75 U LRICH S CHÖNTUBE , Der alte Goßner ist ein Sänger gewesen - Musik - ein unbeachtetes geistliches Fundament, in: D ERS . (Hg.), Zwischen Wort und Tat. Beiträge zum 150. Todestag von Johannes Evangelista Goßner, Erlangen 2009, S. 123-129. 76 J OHANN C ASPAR L AVATER , Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, 4 Bde., Leipzig-Winterthur 1775-1778. <?page no="164"?> Z U DEN E R WE CKUNGS B EWE GUNGEN IM A LLGÄU UND IN F R ANKEN 165 4. Ausklang der Erweckung in Schwaben - Nachwirkungen in Franken und im Rest der Welt Goßner konnte sich nicht nur steter Neuauflagen des Herzbüchleins erfreuen, sondern auch des Drucks seiner Übersetzung des Neuen Testaments 1815, dessen zweite Auflage dem Kronprinzen Ludwig gewidmet war, der Goßner in einem Handschreiben mit einer goldenen Medaille dankte. 77 Im Sommer 1816 verbot jedoch Papst Pius VII. derartige Übersetzungen strikt. 78 Die kirchliche Restauration erfasste Österreich, so dass Martin Boos das Land verlassen musste. Am 1. Juni 1816 stand er vor Goßners Türe, wo er zehn Tage später von Baron Joseph Ruffin nach Schloss Weyhern abgeholt wurde, 79 um dort als Hauslehrer zu wirken. Im nahen Baindlkirch kam die Erweckung durch ihren erfolgreichsten Prediger Ignaz Lindl zu einer letzten Blüte. 80 Goßner berichtete begeistert an Buchrucker: Da ist eine grosse Erndte des HERRN! und beschrieb die Versammlungen und Lindls Beichtpraxis mit dem Herzbüchlein. 81 Über Johann Nepomuk von Ringseis wurden die Berliner Kreise um Clemens von Brentano, Adolf von Thadden und Moritz Bethmann-Hollweg zu Besuchern im Süden, auch die Schweizer Pietistin Anna Schlatter. Die schillernde Juliane von Krüdener war ebenfalls im Kontakt mit Baindlkirch. Doch die baierische Kirchenpolitik stand vor der Wende im Zuge der außenpolitischen Annäherung an Österreich und der Verhandlungen um ein Konkordat mit Rom. Die Erweckten wurden schon vor dem Fall Montgelas’ bespitzelt. Boos, Goßner und Lindl mussten schließlich Baiern verlassen. Der neue Innenminister Karl Graf von Thürheim, der ohnehin das Ziel verfolgte, »die Sekte auszurotten«, 82 vermutete einen staatsgefährdenden Geheimbund mit Verbindungen ins Ausland und veranlasste noch 1819 rund 100 Untersuchungen in den Landgerichten Dachau, Friedberg und Landsberg sowie 1820 im Landgericht Dillingen und gegen einige Herrnhuter in Augsburg. 83 Das »Gläuble« 84 verschwand in Schwaben. 77 StA München, Fasz. 522, Nr. 9615/ 1: eigenhändige Erklärung Goßners vom 20.8.1817. Dort findet sich die Belobigung des Kronprinzen im Wortlaut. Zur Druckvorbereitungsphase vgl. LKAN, NL Buchrucker-Gossner, Personen II, Nr. 12: Brief Goßners vom 20.6.1814. 78 M. S IMON , Goßner (Anm. 38), S. 394. 79 LKAN, NL Buchrucker-Gossner, Personen II, Nr. 12: Brief Goßners vom 11.6.1816 an Buchrucker. 80 Ausführlich A. L INK , Die ›chiliastischen Träumereien‹ des Ignaz Lindl (Anm. 7). 81 LKAN, NL Buchrucker-Gossner, Personen II, Nr. 12: Brief Goßners vom 20.6.1814. 82 H. W EIGELT , Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung (Anm. 35), hier S. 98, im Anschluss an M ATTHIAS S IMON , Evangelische Kirchengeschichte Bayerns, München 1942, S. 595. 83 StA Augsburg, 513/ 3 Präsidium 1817-37, Regierung des (3.) Oberdonaukreises: 68. Sekte des Ignaz Lindl; StA München, Act der Regierung des Isarkreises, Kammer des Innern. Die Religions-Schwärmereien in verschiedenen Landgerichten de anno 1817-1819 (No 1-79). <?page no="165"?> A NDR EA S L INK 166 Im evangelischen Franken freilich wirkte die Allgäuer Erweckungsbewegung nicht nur in Nürnberg nach. An der dortigen Realschule wirkten der Mediziner und Naturgeschichtler Gotthilf Heinrich von Schubert 85 und der Orientalist Johann Arnold Kanne, 86 die sich im Nürnberger Kreis der Erweckungsbewegung zuwandten und beide 1819 an die Universität Erlangen berufen wurden, wo sie nicht als Theologen, doch als engagierte erweckte Laien agierten. Schuberts Lehrstuhlnachfolger, Karl von Raumer, pflegte in seinem Hause ab 1827 Versammlungen erweckter Studenten und entfaltete beachtliche karitative Aktivitäten. 87 »Als 1815 der Kemptener Landgerichtsassessor Johann Martin Ried, einer der führenden Laien der Allgäuer Erweckungsbewegung, als Kreis- und Stadtgerichtsrat nach Erlangen versetzt wurde, griff diese direkt nach Franken über. Ried trug nämlich zu der 1821 erfolgten religiösen Erweckung des reformierten Pfarrers und Professors Christian Krafft bei; von diesem Theologen sollte dann die eigentlich evangelische Erweckungsbewegung in Franken ausgehen«. 88 Bekanntlich hat der junge Wilhelm Löhe als Erstsemester trotz Vorbehalten - »Das ist ja ein Mystiker« - Kraffts Vorlesung 1826 über den Hebräerbrief besucht, die ihm »zum bleibenden Segen« wurde. 89 Weniger bekannt ist, dass er in seinem Studienjahr 1828 in Berlin »sehr häufig drei bis vier Predigten des Sonntags hörte, nach damaliger […] Berliner Sitte. Schleiermacher, Theremin, Goßner, Conard, Strauß, Lisko - das waren die Prediger, deren Kirchen Löhe am häufigsten besuchte. Schleiermacher hat ihn als Prediger im Laufe der Zeit doch mehr angezogen, als der Eindruck der ersten Predigt, die Löhe von ihm hörte, erwarten ließ. […] Ebenso spricht er sich über die Predigten von Goßner und Strauß sehr befriedigt und erfreut aus«. 90 Löhe, der mit der Verklammerung von Erweckungsfrömmigkeit und lutherischer Bekenntnistreue zur prägenden Figur der evangelischen Kirche seiner Zeit werden sollte, hat aber noch weitere direkte Berührungspunkte mit der Allgäuer 84 J. S EDLMAYER , Ignaz Lindl (Anm. 30), p. 1a. 85 W ALDEMAR F ROMM / G OTTHILF H EINRICH VON S CHUBERT , in: NDB 23 (2007), S. 612f., http: / / www.deutsche-biographie.de/ ppn118610937.html (aufgerufen am 10.8.2017). 86 A DALBERT E LSCHENBROICH , Kanne, Johann Arnold, in: NDB 11 (1977), S. 105-107; H ORST W EIGELT , Johann Arnold Kanne und die fränkische Erweckungsbewegung im Spiegel seiner Korrespondenz mit Heinrich von Schubert, in: ZBKG 67 (1998), S. 60-66. 87 R. K ELLER , Spätaufklärung (Anm. 18), S. 38. 88 H. W EIGELT , Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung (Anm. 35), S. 102; vgl. W ALTER G ÖBELL , Krafft, Christian, in: NDB 12 (1979), S. 643. 89 J OHANNES D EINZER , Wilhelm Löhe’s Leben. Aus seinem schriftlichen Nachlass zusammengestellt, Nürnberg 1874, S. 61. 90 J. D EINZER , Wilhelm Löhe’s Leben (Anm. 89), S. 86, 88. Goßner hatte keine eigene Kirche. Nur Stobwasser (Brüdergemeine) und Schleiermacher (Dreifaltigkeitskirche) gaben ihm ihre Kanzeln frei. <?page no="166"?> Z U DEN E R WE CKUNGS B EWE GUNGEN IM A LLGÄU UND IN F R ANKEN 167 Erweckungsbewegung. 1834 wird Löhe durch ein »hohes königliches Consistorialrescript« aufgefordert, sich beim Dekanat Wunsiedel »protokollarisch vernehmen zu lassen«, da er im Rufe »eines ausschweifenden und schädlichen Mysticismus und eines übertriebenen Eifers« stehe. Punkt 10 der Befragung stellt fest: »Besonders legt man Ihnen zur Last, daß Sie jenes bekannte Büchlein: ›Das Herz des Menschen, ein Tempel Gottes oder eine Werkstätte des Satans, in 10 Figuren sinnbildlich dargestellt‹, verbreitet« haben. 91 Löhe erklärt, anfangs nichts von einem Verbot des Herzbüchleins gewusst, dann aber das Verbot befolgt zu haben. Mag man dies noch als Jugendtorheit einordnen, so ist jedoch klar, dass Löhe auch in reifen Jahren die Allgäuer Erweckten nicht verleugnet: In seiner Schrift ›Der evangelische Geistliche‹ von 1852 zitiert er mehrfach Goßners Biographie von Martin Boos, den er als vorbildlichen Beter herausstellt, »von dem wir Vieles lernen können, wenn er gleich nicht in allen Stücken zum Muster aufzustellen ist«. 92 Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung blieb, abhängig von der wechselnden Kirchenpolitik im Königreich Baiern, unter Montgelas tolerierte, unter Thürheim bekämpfte Episode. Die Distanzierung der Herzgucker und Herzguckerinnen von den »Weltmenschen« führte zur Selbstisolation als Konventikelgruppe. Insofern erscheint es konsequent, wenn »chiliastische Träumereien« Ignaz Lindl mit 146 württembergischen und 109 bairischen Untertanen 1819 zur Auswanderung nach Russland bewegten. Ihre Kolonie Sarata hielt sich bis zur Revolution 1918. Lindl selbst kehrte 1823 zurück, konvertierte und lebte im Wuppertal, anfangs noch als evangelischer Prediger, zuletzt als Mitglied einer Splittergruppe. 93 Die Erweckungsbewegung in Franken war zwar auch nicht vor kruden Gedankenwelten mancher ihrer Anhänger gefeit. So hatte sich der Orientalist Johann Arnold Kanne einer Erweckungsschriftstellerei gewidmet, die Bekehrungen von Boos, Feneberg (Sailer), Lindl und Goßner aufgriff, 94 aber auch eine Tendenz zum selbstquälerischen »Überchristentum« zeigte. Jean Paul schrieb im Dezember 1820 besorgt an seinen Sohn Max: »die theologische ›Kanne‹-Gießerei […] beängstigt mich für Deine Jugend […] Lies lieber Arrians Epiktet, des liebenden Antonins Betrachtungen und Plutarchs Biographien, als Kanne, der ein schlechter Exeget und Historiker ist. […] O könnt ich doch bald an mein Werk gegen das Überchristentum! « 95 91 J. D EINZER , Wilhelm Löhe’s Leben (Anm. 89), S. 186f., 195. 92 W ILHELM L ÖHE , Der evangelische Geistliche, Stuttgart 1852, S. 131f., 135 (Zitat 131). 93 A. L INK , Die ›chiliastischen Träumereien‹ des Ignaz Lindl (Anm. 7). 94 J OHANN A RNOLD K ANNE , Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten aus dem Reiche Christi und für dasselbe, 3. Aufl. Nürnberg 1842, 1. Teil, Nr. 10 (Lindl), 103 (Feneberg); 3. Teil, Nr. 21 (Goßner), 25-27 (Boos), 36 (Lindl). 95 E RNST H ARTUNG , Jean Paul. Ein Lebensroman in Briefen, München 1925, S. 432. Max Richter starb am 25. September 1821 in Bayreuth. <?page no="167"?> A NDR EA S L INK 168 Trotz einiger Verschrobenheiten waren die Stärken der fränkischen Erweckungsbewegung spezifisch protestantische Traditionslinien: ein starkes laikales Element, die eingeübte Streitkultur in Glaubensdingen, die im ›Homiletisch-Liturgischen Correspondenzblatt‹ ein Organ fand, und die Anschlussfähigkeit an die Universität Erlangen. Theologiegeschichtlich findet sie ihre Entfaltung in der Theologie der Erfahrung von Johann Konrad von Hofmann. »Er sah das Christentum gegründet in der persönlichen Heilserfahrung, die zur geschichtlichen Erfahrung in einem Korrelationsverhältnis steht«. 96 Subjektivität als Epochenindex der Neuzeit zeigt sich in seinem Ansatzpunkt: »Ich der Christ bin mir dem Theologen eigenster Stoff meiner Wissenschaft«. 97 Schon Schleiermacher hatte die religiöse Sprache und theologische Begriffsbildung auf das fromme Selbstbewusstsein zurückgeführt. 98 Im Zuge des aesthetic turn der Geisteswissenschaften sind nicht nur die theologischen Ansätze dieser Zeit, 99 sondern auch die Bedeutung von Alltagserfahrungen 100 und Lebenspraxis heute neu ins Bewusstsein theologischer Reflexion getreten. Ist derart die Erweckungsbewegung zum Erbgut der Universitätstheologie bis in die Gegenwart hinein geworden, so muss abschließend doch auch nochmals des ›famosen Herzbüchleins‹ gedacht werden. Es war ja nicht nur unter dem einfachen Volk in aller Welt verbreitet. »Immerhin trug Zar Alexander I. ständig ein russisches Handexemplar bei sich«. 101 Bis heute ist es ein Bestseller, als Book on demand im Internet auf Deutsch, Englisch oder Russisch rasch erhältlich. Für Ulrich Schöntube ist die Rezeptionsgeschichte des Herzbüchleins auf den Missionsfeldern Indiens oder Afrikas, wo etwa die Symboltiere landestypisch verändert werden (S. 7f.), Beleg für seine ungebrochene Popularität; es ist - millionenfach verbreitet (S. 8) - immer noch »one of the world’s most popular books of Christian literature« (S. 9). 102 96 R. K ELLER , Spätaufklärung (Anm. 18), S. 38; K ARLMANN B EYSCHLAG , Die Erlanger Theologie, Erlangen 1993, S. 58-82. 97 J OHANN K ONRAD ( VON ) H OFMANN , Der Schriftbeweis, Bd. 1, Nördlingen 1852, S. 10. 98 G UNTER W ENZ , Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, in: Peter N EUNER / D ERS . (Hg.), Theologen des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2002, S. 21-38, hier 37. 99 M ARKUS B UNTFUSS , Die Erscheinungsformen des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheorie bei Herder, Wackenroder und De Wette, Berlin-New York 2004. 100 K LAAS H UIZING u. a. (Hg.), Kleine Transzendenzen. FS für Hermann Timm zum 65. Geburtstag, Münster u. a. 2003. 101 H. W EIGELT , Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung (Anm. 35), S. 97. 102 U. S CHÖNTUBE , Gossner’s »Heart of Man« - origin - reception (Anm. 69). <?page no="168"?> 169 E STEBAN M AUERER Franken und Schwaben im Königreich Bayern im frühen 19. Jahrhundert 1. Einleitung Johann Andreas Schmeller (1785-1852) vermerkte am 30. November 1837 in seinem Tagebuch: Statt lauter Bayern wie seit 30 Jahren gibt es, wie wir heute nicht ohne Überraschung vernehmen, wieder Ober- und Niederbayern, Pfälzer, Oberpfälzer, Ober-, Mittel- und Unterfranken und Schwaben. 1 Der Mundartforscher, Philologe und Bibliothekar Schmeller 2 bezog sich in seinem Notat auf eine am Vortag publizierte Verordnung, die in entschiedener Abkehr von älteren Regelungen 3 neue Bezeichnungen für die Kreise, die mittleren Verwaltungsebenen des Königreichs Bayern, einführte. Sie wurden fortan nach historischen Stammesnamen benannt und verbanden, so die Absicht des Gesetzgebers, die bayerische Gegenwart mit der ehrwürdige[n] Grundlage der Geschichte. 4 Indem Schmeller die neue amtliche Nomenklatur zur Bezeichnung administrativer Raumbildungen als Rekonstruktion traditioneller regionaler Identitäten interpretierte, die den seit 30 Jahren dominierenden Kollektivbegriff der Bayern erweitern und ergänzen sollte, verwies er auf einen doppelten Transformationsprozess. An dessen Anfang stand die territoriale Expansion Bayerns, die sich in der Endphase des Alten Reiches unter den Rechtstiteln der Säkularisation und Mediatisierung vollzog und seit 1806 als Unterstellung heterogener Territorien unter die Souveränität des neuen Königreichs fortsetzte. Die Untertanen von Hochstiften, 1 J OHANN A NDREAS S CHMELLER , Tagebücher 1801-1852, hg. v. P AUL R UF , Bd. 2: 1826- 1852 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 48), München 1956, S. 254. 2 Zu Leben und Werk Schmellers vgl. R ICHARD J. B RUNNER , Johann Andreas Schmeller und die Bayerische Akademie der Wissenschaften. Dokumente und Erläuterungen. Unter Verwendung von Materialien v. J OSEF H AHN (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Abhandlungen NF 115), München 1997, S. 13-42; A N - THONY R OWLEY : Schmeller, Johann Andreas, in: NDB 23 (2007), S. 126-128. 3 Vgl. die Verordnung betr. die Territorial-Eintheilung des Königreichs Baiern vom 21. Juni 1808 und die Verordnung betr. die Eintheilung des Königreichs in acht Kreise vom 20. Februar 1817, in: M ICHAEL K OTULLA , Deutsches Verfassungsrecht 1806-1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen, Bd. 2: Bayern, Berlin-Heidelberg 2007, Nr. 288, S. 669-677; Nr. 366, S. 1309-1312. 4 Verordnung betr. die Eintheilung des Königreichs Bayern vom 29. November 1837, in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3). Nr. 366/ 1, S. 1312-1314, hier 1312 (Präambel). <?page no="169"?> E S TE B AN M AUE R ER 170 Reichsabteien, Fürstentümern, Grafschaften und Reichsstädten in Franken und Schwaben wurden zu Untertanen des bayerischen Kurfürsten, dann Königs Max IV./ I. Joseph (1756-1825, reg. 1799-1825). Als Untertanen waren sie Bayern. Andere kollektive Identitäten, insbesondere solche, die sich von den Herkunftsterritorien ableiteten, sollten gegenüber der zentralisierenden Einschmelzung regionaler Unterschiede im Königreich Bayern keinen Bestand haben. Das änderte sich erst in der Regierungszeit König Ludwigs I. (1787-1868, reg. 1825-1848). Zwar blieb der Prozess »der inneren Homogenisierung, der Integration der neubayerischen Lande« im Hinblick auf die territoriale Differenzierung Bayerns weiterhin auf der politischen Tagesordnung, 5 doch förderte der König gleichzeitig Formen der sozialen Vergemeinschaftung, 6 die sich anhand der Erinnerung an historische Raumbildungen und territoriale Strukturen der Frühen Neuzeit bildeten. Aus Bayern wurden Ober- und Niederbayern, Pfälzer, Oberpfälzer, Ober-, Mittel- und Unterfranken und Schwaben, die gleichwohl Bayern - Untertanen des Königs von Bayern - blieben. Die skizzierten Befunde sind mit Blick auf die politischen Landschaften 7 Schwaben und Franken näher zu entfalten. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Frage, wie die vor 1802 im Schwäbischen und Fränkischen Kreis organisierten Territorien - und damit auch ihre Bewohner - in das Kurfürstentum, dann Königreich Bayern integriert wurden. Der vielschichtige Begriff Integration soll die »zentralen Prozesse der dauerhaften Herstellung und Aufrechterhaltung politischer Einheit« bezeichnen. Diese Prozesse haben ein normatives Ziel, können dieses jedoch nie vollständig erreichen - politische Integration ist deswegen kontinuierlich im Verwaltungsvollzug, auf der Ebene symbolischer Politik, kultureller Sinnstiftung, ideologischer Praxis zu aktualisieren und zu verstetigen. 8 5 K ARL M ÖCKL , Ludwig I. und der »Staat«, in: ZBLG 58 (1995), S. 95-99, hier 95. 6 Ich folge der Typisierung Max Webers, der eine soziale Beziehung als Vergemeinschaftung (im Gegensatz zu Vergesellschaftung) bezeichnet, »wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns […] auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht«; M AX W EBER , Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919-1920, hg. v. K NUT B ORCHARDT / E DITH H ANKE / W OLFGANG S CHLUCHTER (Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe, Bd. I/ 23), Tübingen 2014, S. 29 (Hervorhebung im Original). 7 Vgl. H EINZ G OLLWITZER , Die politische Landschaft in der deutschen Geschichte des 19./ 20. Jahrhunderts. Eine Skizze zum deutschen Regionalismus, in: D ERS ., Kultur - Konfession - Regionalismus. Gesammelte Aufsätze, hg. v. H ANS -C HRISTOF K RAUS (Historische Forschungen 88), Berlin 2008, S. 299-324, hier 303-307. 8 M ARKUS L INDEN , Politische Integration im vereinten Deutschland, Baden-Baden 2006, S. 274 (Zitat); G ARY S. S CHAAL , Integration durch Verfassung und Verfassungsrechtsprechung? Theoretische Anmerkungen, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 30 (2001), S. 221-232, hier 221. Zur Vielschichtigkeit von Integrationsprozessen (u. a. poli- <?page no="170"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 171 Zugleich ist zu fragen, welche kollektiven Identitäten den neuen Untertanen vonseiten des Staates zugeschrieben wurden. Wie wurden die Bewohner der Entschädigungsländer zu Bayern, schließlich zu Bayern, Pfälzern, Franken und Schwaben? Die Beantwortung dieser Fragen erfolgt in mehreren Schritten. Zunächst ist die Krise in den Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten zu umreißen, die in der Epoche kontinuierlicher Herrschaftswechsel in den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts deutlich wurde (2). An die Stelle ständisch differenzierter Territorien trat der zentralisierend-homogenisierende bayerische Reformstaat, der nichtbzw. vorbayerische Loyalitäten und Zugehörigkeitsgefühle für irrelevant erklärte (3). Nach einem Blick auf die territoriale Entwicklung Bayerns in der Reformzeit (4) wird die Integrationspolitik in der Regierungszeit Max I. Josephs insbesondere mit Blick auf die Konstitution von 1808, die Neugliederung des Staatsgebiets und die Rechtsvereinheitlichung untersucht (5). Die öffentliche Feier des Regierungsjubiläums in München 1824 verdeutlichte das Regierungsprogramm Max Josephs (6). In der Regierungszeit König Ludwigs I. wurden zur Konstruktion eines bayerischen Nationalgefühls historische Raum- und Stammesnamen erneut sichtbar gemacht, etwa in der Königstitulatur, vor allem aber in der Kreiseinteilung (7). Eine Zusammenfassung beschließt den Beitrag (8). 2. Die Krise der Herrschaft in der Epoche der ›territorialen Revolution‹ An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert durchliefen die deutschen Staaten Phasen beschleunigter Übergänge und Umbrüche, die durch den Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 9 insbesondere in Süd- und Mitteldeutschland zu einer ›territorialen Revolution‹ 10 zusammenliefen. 11 Zwei Aspekte sind hervorzuheben. tisch, institutionell, rechtlich, wirtschaftlich, kulturell, mental) s. B IRGIT E MICH , Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat, Köln u. a. 2005, S. 4-7. 9 Gedruckt z. B. bei U LRICH H UFELD (Hg.), Der Reichsdeputationshauptschluß von 1803. Eine Dokumentation zum Ende des Alten Reiches, Köln u. a. 2003, Nr. 9, S. 69-119. 10 Der Begriff ›territoriale Revolution‹ wird - regelmäßig ohne Beleg - Ernst Rudolf Huber (1903-1990) zugeschrieben; vgl. z. B. H ANS -P ETER U LLMANN , Finanzkrise, Staatsbankrott und Haushaltskonsolidierung im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts, in: D ERS ., Staat und Schulden. Öffentliche Finanzen in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, hg. v. H ART - MUT B ERGHOFF / T ILL VAN R AHDEN , Göttingen 2009, S. 51-60, hier 53. 11 Vgl. die Darstellungen (mit unterschiedlichen Wertungen) von K ARL O TMAR VON A RETIN , Das Alte Reich 1648-1806, Bd. 3: Das Reich und der österreichisch-preußische Dualismus (1745-1806), Stuttgart 1997, S. 489-531; G EORG S CHMIDT , Wandel durch Vernunft. Deutschland 1715-1806 (Die Neue Deutsche Geschichte 7), München 2009, S. 236-251; <?page no="171"?> E S TE B AN M AUE R ER 172 Zum einen kamen insbesondere nach 1802/ 03 in zahlreichen Reichsterritorien »strukturverändernde und alteuropäische Grundlagen aufgebende Reformen« nach einer teilweise mindestens zehnjährigen Unterbrechung zum Durchbruch. 12 Schon die Zeitgenossen deuteten diese Umbrüche als »Revolution von oben«. 13 Die Reformbestrebungen des späten 18. Jahrhunderts, seien sie staatlich-obrigkeitlich bzw. ständisch-korporativ induziert gewesen, seien sie aus dem aufgeklärten Diskurs erwachsen oder nicht, 14 hatten regelmäßig ihre Grenze in den konservierenden Strukturen der Reichsverfassung gefunden, die insbesondere die Rechtssphären der ständischen Ordnungen schützte. 15 Als das Reich als politischer Verband zerfiel, gerieten die ständischen Verfassungsinstitutionen unter Druck; ihre Kompetenzen zur politischen Mitgestaltung wurden beschnitten. Den Reformpolitikern eröffneten sich dadurch neue Handlungsspielräume, die sich angesichts der weitreichenden Territorialveränderungen und damit einhergehenden Machtverschiebungen im Reich vergrößerten. Schließlich ermöglichte das Erlöschen der Reichsgewalt durch die Niederlegung der römisch-deutschen Kaiserkrone durch Franz II. (1768-1835, 1804 Franz I. als Kaiser von Österreich) am 6. August 1806 die endgültige Beseitigung ständischer Verfassungsinstitutionen. 16 Die Rechtsetzungsbefugnisse der nun- J OACHIM W HALEY , Das Heilige Römische Reich und seine Territorien, Bd. 2: Vom Westfälischen Frieden zur Auflösung des Reichs 1648-1806, aus dem Englischen v. M ICHAEL S AILER , Darmstadt 2018, S. 706-748. 12 Detailreicher Überblick zuletzt bei W ALTER D EMEL , Der Reformstaat um 1800, in: M ARTIN H OFBAUER / M ARTIN R INK (Hg.), Die Völkerschlacht bei Leipzig. Verläufe, Folgen, Bedeutung 1813 - 1913 - 2013 (Beiträge zur Militärgeschichte 77), Berlin-Boston 2017, S. 45-65. Zitat: W OLFGANG N EUGEBAUER , Aufgeklärter Absolutismus, Reformabsolutismus und struktureller Wandel im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in: W ERNER G REILING / A NDREAS K LINGER / C HRISTOPH K ÖHLER (Hg.), Ernst II. von Sachsen-Gotha- Altenburg. Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung (Veröff. der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 15), Köln u. a. 2005, S. 23-39, hier 39. 13 Beleg aus dem Jahr 1833 bei W. N EUGEBAUER , Aufgeklärter Absolutismus (Anm. 12), S. 39. 14 Vgl. W. N EUGEBAUER , Aufgeklärter Absolutismus (Anm. 12), S. 36-38, der im späten 18. Jahrhundert (1.) »staatlich«-obrigkeitliche, (2.) organisierte, aber nicht staatlich initiierte, (3.) nicht organisierte, aber doch hochwirksame Wandlungsprozesse unterscheidet, die jeweils hinsichtlich ihrer Verbindungen mit dem aufgeklärten Diskurs zu befragen sind. 15 Vgl. V OLKER P RESS , Der Untergang des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, in: E BERHARD M ÜLLER (Hg.), »… aus der anmuthigen Gelehrsamkeit«. Tübinger Studien zum 18. Jahrhundert, Tübingen 1988, S. 81-97, hier 82 (»das Reich wirkte […] als Ordnung sozialkonservativ«). 16 Erklärung des Kaisers Franz II. über die Niederlegung der deutschen Kaiserkrone vom 6. August 1806, in: U. H UFELD (Hg.), Reichsdeputationshauptschluß (Anm. 9), Nr. 16, S. 141-143. Zur Einordnung: H ELMUT N EUHAUS , Das Ende des Alten Reiches, in: H EL - <?page no="172"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 173 mehr souveränen deutschen Staaten waren prinzipiell nur noch durch die jeweiligen politischen Zwecksetzungen begrenzt, nicht mehr durch die Schranken autonomer ständischer Rechtsbezirke. Zum anderen veränderte die durch den Reichsdeputationshauptschluss ausgelöste territoriale Revolution die Verfassungsstruktur des Reiches, wurden doch 112 Reichsstände aufgehoben, darunter ein weltliches (Kurpfalz) und zwei geistliche Kurfürstentümer (Trier und Köln), 19 Reichsbistümer, 44 Reichsabteien und fast alle Reichsstädte. 17 3,2 Millionen Untertanen - bei einer Gesamtbevölkerung im Reich zwischen 25,1 und 31,0 Millionen Menschen (die Schätzungen schwanken) - wechselten ihren Landesherrn. 18 Geistliche und weltliche Herrschaftsträger waren gleichermaßen betroffen. Die landesherrliche Gewalt geistlicher Reichsfürsten wurde aufgehoben (Herrschaftssäkularisation); zugleich wurden die kirchlichen Vermögen säkularisiert, wodurch [a]lle Güter der fundirten Stifter, Abteyen und Klöster […] der freyen und vollen Disposition der respectiven Landesherrn, sowohl zum Behuf des Aufwandes für Gottesdienst, Unterrichts- und andere gemeinnützige Anstalten, als zur Erleichterung ihrer Finanzen überlassen wurden (Vermögenssäkularisation). 19 Zudem wurde im Zuge der territorialen Revolution die Reichsunmittelbarkeit zahlreicher weltlicher Reichsstände aufgehoben und durch eine »Beziehung zu einem nur regionalen Herrschaftsträger« ersetzt (Mediatisierung). 20 Dadurch traten an die Stelle der zahlreichen kleinen und großen Territorien vor allem im deutschen Süden und Westen nach dem Erlöschen des Reiches 1806 souveräne Mittelstaaten wie Bayern, Baden MUT A LTRICHTER / D ERS . (Hg.), Das Ende von Großreichen (Erlanger Studien zur Geschichte 1), Erlangen-Jena 1996, S. 185-209. 17 K LAUS -P ETER S CHROEDER , Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25.2.1803 - Letztes Grundgesetz des Alten Reiches, in: Juristische Schulung 29 (1989), S. 351-357; H ANS - J ÜRGEN B ECKER , Umbruch in Mitteleuropa. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803, in: P ETER S CHMID / K LEMENS U NGER (Hg.), 1803. Wende in Europas Mitte. Vom feudalen zum bürgerlichen Zeitalter, Regensburg 2003, S. 17-34; K ARL H ÄRTER , Der Hauptschluss der außerordentlichen Reichsdeputation vom 25. Februar 1803. Genese, Dynamik und Ambivalenz der legalen »Revolutionierung« des Alten Reiches, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 484-500; I NGO K NECHT , Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803. Rechtmäßigkeit, Rechtswirksamkeit und verfassungsgeschichtliche Bedeutung (Schriften zur Verfassungsgeschichte 77), Berlin 2007. 18 G. S CHMIDT , Wandel (Anm. 11), S. 243; W ALTER D EMEL , Reich, Reformen und sozialer Wandel 1763-1806 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 12), Stuttgart 2005, S. 80, 328. 19 Reichsdeputationshauptschluß, § 35, in: U. H UFELD (Hg.), Reichsdeputationshauptschluß (Anm. 9), S. 100. 20 D IETMAR W ILLOWEIT , Art. Mediatisierung, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2., völlig überarb. u. erw. Aufl., hg. v. A LBRECHT C ORDES u. a., Bd. 3, Berlin 2016, Sp. 1394-1398, Zitat 1394. <?page no="173"?> E S TE B AN M AUE R ER 174 oder Württemberg, die ein Kerngebiet mit neu erworbenen und oftmals viel umfangreicheren Gebieten verbanden. 21 Die begriffliche Rahmung dieser Vorgänge als territoriale Revolution rechtfertigt sich insbesondere, wenn man sie vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Herrschaftswechsel thematisiert. 22 Indem nach 1800 »Staaten, Herrschaften, historische Räume, alte Loyalitäten und überkommene Anschauungen« in den Sog der revolutionären Umwälzung gerieten, 23 verschoben sich die Bezugspunkte kollektiver Identitäten der Untertanen. 24 Wechselte in der Vormoderne die Oberherrschaft durch dynastischen Erbgang, so blieben die Zugehörigkeitsgefühle der Untertanen weithin unberührt: Ein neuer (legitimer) Herrscher trat an die Stelle des alten, die Landeshoheit blieb in den hergebrachten territorialen Grenzen. Herrschaft und Landschaft, ›Staat‹ und Region bildeten weiterhin eine Einheit. 25 Dem entsprach, dass Loyalitäten sich auf das einzelne, als Vaterland oder Heimat geltende Reichsterrito- 21 Zu den hier angesprochenen staatlichen Neukonstruktionen vgl. die um die Reformpolitiken zentrierten einschlägigen Bände 4, 7 (in zwei Teilbänden) und 8 der Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten (QuRRh), hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften durch K ARL O TMAR VON A RETIN / E BERHARD W EIS : Regierungsakten des Kurfürstentums und Königreichs Bayern 1799- 1815, bearb. v. M ARIA S CHIMKE (QuRRh 4), München 1996; Württemberg 1797-1816/ 19. Quellen und Studien zur Entstehung des modernen württembergischen Staates, bearb. v. I NA U LRIKE P AUL (QuRRh 7/ 1-2), München 2005; Regierungsakten des Kurfürstentums und Großherzogtums Baden 1803-1815, bearb. v. M ARIA S CHIMKE (QuRRh 8), München 2012. 22 Vgl. H ELGA S CHNABEL -S CHÜLE , Herrschaftswechsel - zum Potential einer Forschungskategorie, in: D IES ./ A NDREAS G ESTRICH (Hg.), Fremde Herrscher - fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa (Inklusion/ Exklusion 1), Frankfurt am Main 2006, S. 5-20. 23 W OLFRAM S IEMANN , Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806-1871 (Neue Deutsche Geschichte 7), München 1995, S. 22. 24 Vgl. H EIKE D ELITZ , Kollektive Identitäten, Bielefeld 2018, S. 24-26, die kollektive Identitäten durch mindestens drei Funktionen bestimmt sieht. Erstens durch die Vorstellung einer Identität in der Zeit: »Jedes Kollektiv erzeugt und erzählt eine Geschichte, eine Herkunft und Zukunft, imaginiert etwas Unveränderliches.« Zweitens durch die Vorstellung einer Gemeinsamkeit, »einer wie auch immer bestimmten Einheit der Mitglieder«, die sich gleichzeitig von anderen Kollektiven absetzt. Drittens durch die Vorstellung »von etwas, das das Kollektiv instituiert, stiftet, weil es gerade nicht selbst gesellschaftlichen Ursprungs ist«, wodurch die »Selbstgesetztheit einer jeden Norm, einer jeden Institution, einer jeden Gesellschaftsformation« verleugnet wird. 25 Vgl. auch zum folgenden: H ELMUT B ERDING , Staatliche Identität, nationale Integration und politischer Regionalismus, in: D ERS ., Aufklären durch Geschichte, Göttingen 1990, S. 284-309, 346-350; R EINHARD S TAUBER , Regionalismus, in: Enzyklopädie der Neuzeit, hg. v. F RIEDRICH J AEGER , Bd. 10, Stuttgart-Weimar 2009, Sp. 858-869. <?page no="174"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 175 rium bezogen. Der »durch Herrschaft umgrenzte[…] Herkunfts- und Lebensraum« 26 prägte die Erfahrungswelt der Untertanen, die auch in ihren Kommunikationsbeziehungen und ihrer Mobilität auf überschaubare Räume, auf den lokalen und regionalen Nahbereich rückgebunden waren. 27 Diese »alte Einheit von Lebens- und Herrschaftsräumen« wurde durch die territoriale Revolution getrennt. 28 Die Vergänglichkeit von Herrschaft, die Auflösung überkommener politischer Strukturen, die Depossedierung von Fürsten und die Säkularisation von geistlichen Staaten wurden zur tiefgreifenden Generationserfahrung in der Zeit der Revolutions- und napoleonischen Hegemonialkriege. 29 Die Wechselhaftigkeit der Herrschaftsverhältnisse in der »Umbruchkrise« 30 infolge des Reichsdeputationshauptschlusses lockerte die Bindungen der Untertanen an die (unter Umständen mehrfach wechselnde) Obrigkeit. Dazu kamen unerwünschte Anpassungszwänge und »Loyalitätszumutungen« 31 aufgrund der von den neuen Obrigkeiten eingeführten oder modifizierten Rechts- und Verfassungsordnungen, die von den Staatsdienern im alltäglichen Verwaltungsvollzug auch gegen Wider- 26 H. B ERDING , Identität (Anm. 25), S. 285. 27 Vgl. die von A XEL G OTTHARD , In der Ferne. Die Wahrnehmung des Raums in der Vormoderne, Frankfurt am Main-New York 2007, S. 72-86, zusammengetragenen Quellenbelege, die für einen »sehr kleinräumigen Heimatbezug« (81) der Menschen in der Frühen Neuzeit sprechen; gleiche Einschätzung bei R. S TAUBER , Regionalismus (Anm. 25), Sp. 862; W ERNER K. B LESSING , Franken in Staatsbayern: Integration und Identität, in: E RICH S CHNEIDER (Hg.), Nachdenken über fränkische Geschichte (VGffG IX/ 50), Neustadt a. d. Aisch 2005, S. 279-312, hier 281 (» ›Wir-Gefühl‹ der einfachen Leute in Dörfern und Ackerbürgerstädten vom kleinen Raum ihrer eigenen Lebenswelt bestimmt«); D ERS ., Regionalisierung in Franken: zu Horizonten und Identitäten zwischen 18. und 20. Jahrhundert, in: EFIK A LP B AHADIR (Hg.), Kultur und Region im Zeichen der Globalisierung. Wohin treiben die Regionalkulturen? (Schriften des Zentralinstituts für Regionalforschung der Universität Erlangen-Nürnberg 36), Neustadt a. d. Aisch 2000, S. 369-390, hier 372 (Grundherrschaft, Pfarrei und Dorfgemeinschaft bestimmen die Ausdehnung der Lebenswelt in der Vormoderne). 28 H. B ERDING , Identität (Anm. 25), S. 285. 29 Zu den mit dem Ende des Alten Reiches 1806 zusammenhängenden Umbruchserfahrungen auf Reichsebene s. W OLFGANG B URGDORF , Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806 (Bibliothek Altes Reich 2), 2. Aufl. München 2009, S. 1-3, 15f. 30 W ERNER K. B LESSING , Umbruchkrise und »Verstörung«. Die »Napoleonische« Erschütterung und ihre sozialpsychologische Bedeutung (Bayern als Beispiel), in: ZBLG 42 (1979), S. 75-106. 31 H. B ERDING , Identität (Anm. 25), S. 286. <?page no="175"?> E S TE B AN M AUE R ER 176 streben implementiert wurden. 32 Nicht wenige Untertanen der neu zusammengesetzten Staaten gerieten aufgrund der »grundstürzend[en]« Veränderungen »politische[r] Ordnungen und lebensweltliche[r] Verhältnisse« 33 in eine Orientierungskrise. An den Regierungen lag es zu verhindern, dass daraus politische Oppositionshaltungen und Abgrenzungsbedürfnisse gegenüber den neuen Obrigkeiten erwuchsen. 34 3. Staat und Reform im neuen Bayern Die Auflösung der Ständeverfassung und der ständischen Körperschaften, die Integration kleiner, mittlerer und großer Territorien und Herrschaften fränkischer und schwäbischer Provenienz, die ausgreifende Reformpolitik vollzogen sich in Bayern seit dem Regierungsantritt Max IV. Josephs 1799 unter der Leitung und Verantwortung des Außen-, Innen- und zeitweise auch Finanzministers Maximilian Joseph Freiherr (1809: Graf) von Montgelas (1759-1838). 35 Das Kurfürstentum, seit 1806 Königreich, wurde einem beschleunigten Umwandlungsprozess unterworfen, der bereits 1796 im sogenannten Ansbacher Mémoire konzeptionell entworfen worden war. 36 Der programmatische Fluchtpunkt war der bayerische Staat als Herrschaftsinstrument und Machtapparat. Daher forderte Montgelas in seinem innenpolitischen Reformprogramm, das drei Jahre vor dem Regierungsantritt Max Josephs formuliert worden war, zunächst einen grundlegenden Umbau von Regie- 32 Max Weber bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt: »Denn Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung«; M. W EBER , Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 6), S. 157 (Hervorhebung im Original). 33 H ARTWIG B RANDT / E WALD G ROTHE , Über die Anfänge des Verfassungsstaates in Deutschland. Eine Einleitung, in: D IES . (Hg.), Rheinbündischer Konstitutionalismus (Rechtshistorische Reihe 350), Frankfurt am Main u. a. 2007, S. 7-16, hier 8. 34 R. S TAUBER , Regionalismus (Anm. 25), Sp. 863. 35 E BERHARD W EIS , Montgelas, Bd. 1: Zwischen Revolution und Reform 1759-1799, 2., durchges. Aufl. München 1988; Bd. 2: Der Architekt des modernen bayerischen Staates 1799-1838, München 2005; auf dieser Grundlage zusammenfassend: M ARCUS J UNKEL - MANN , Montgelas. »Der fähigste Staatsmann, der jemals die Geschicke Bayerns geleitet hat«, Regensburg 2015. 36 E BERHARD W EIS , Montgelas’ innenpolitisches Reformprogramm. Das Ansbacher Mémoire für den Herzog vom 30.9.1796, in: ZBLG 33 (1970), S. 219-256, eine Edition des französischen Textes 243-256. Übersetzung von Oliver Zeidler: M ICHAEL H ENKER / M AR - GOT H AMM / E VAMARIA B ROCKHOFF (Hg.), Bayern entsteht. Montgelas und sein Ansbacher Mémoire von 1796 (Veröff. zur Bayerischen Geschichte und Kultur 32/ 96), Augsburg 1996, S. 23-36. <?page no="176"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 177 rung und Verwaltung. 37 Die Zentralregierung war auf der Grundlage des Ressortprinzips zu reorganisieren, die Verwaltungseinteilung des Landes neu zu gestalten. Besondere Aufmerksamkeit galt den Beamten, die fachlich auszubilden, aber auch auskömmlich zu besolden waren, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern und sie von Sporteln und Gnadengeschenken unabhängig zu machen. Gegen die hergebrachte ständische Ordnung richteten sich Pläne zur Gleichheit der Besteuerung aller Rechtsunterworfenen (bei Aufhebung der Steuerfreiheit der privilegierten Stände), zur Reform der Landschaftsverfassung und zur Abschaffung der bäuerlichen Fronarbeit. Dazu kamen weitere Forderungen wie die, auch Nichtadligen den Zugang zu öffentlichen Ämtern zu gewähren, oder die Ankündigung, die niedere Gerichtsbarkeit, das Zivil- und das Strafrecht zu erneuern. In ihrer Gesamtheit amalgamierten diese Vorhaben »bewährte Grundsätze der altbayerischen Verwaltungs- und Rechtstradition« mit Impulsen aufgeklärter (auch preußischer und österreichischer) Reformpolitik und französischer Revolutionsdynamik. 38 Ziel war eine sozial differenzierte Gesellschaft gleichermaßen rechtsunterworfener Untertanen bzw. Staatsbürger, die in ein unmittelbares Verhältnis zum neu geformten Staat treten sollten. Ältere Loyalitätsbindungen, kollektive Zugehörigkeitsgefühle, Selbstverständnisse und Identitäten sollten auf Staat und Dynastie übertragen werden, und das nicht nur im altbayerischen Kernland, sondern auch in den neu zu Bayern kommenden geistlichen und weltlichen Territorien sowie Reichsstädten in Schwaben und Franken. 4. Etappen der territorialen Entwicklung Bayerns In den fünfzehn Jahren, die zwischen dem Frieden von Lunéville vom 9. Februar 1801 und dem Münchner Vertrag vom 14. April 1816 lagen, arrondierte Bayern sein Territorium zu einem geographisch geschlossenen Flächenstaat, zu dem die linksrheinische Pfalz als westlicher Außenposten kam. 39 Hatte Kurpfalzbayern vor 1803 etwa 2,33 Millionen Einwohner, lebten 1816 etwa 3,57 Millionen Menschen im Königreich, dessen Staatsgebiet sich insbesondere nach Westen und Norden erheblich erweitert hatte. 40 Diese Entwicklungen hatten ihren Anfang genommen, 37 Vgl. E BERHARD W EIS , Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799-1825), in: HBG IV/ 1, S. 3-126, hier 7f., auch zum folgenden. 38 E. W EIS , Begründung (Anm. 37), S. 8. 39 Vgl. E. W EIS , Begründung (Anm. 37), S. 101 (»Bilanz der äußeren Entwicklung des Staates«). 40 W ALTER D EMEL , Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/ 08-1817. Staats- und gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära in der ersten Phase des Königreichs Bayern (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 76), München 1983, S. 60; etwas abweichende, aber der Tendenz nach gleiche Bevölkerungsgrößen bei W ER - NER K. B LESSING , Staatsintegration als soziale Integration. Zur Entstehung einer bayeri- <?page no="177"?> E S TE B AN M AUE R ER 178 nachdem in Lunéville zwischen der Französischen Republik und dem Kaiser festgelegt worden war, dass den weltlichen deutschen Fürsten für ihre linksrheinischen Verluste eine Entschädigung zu geben wäre, die in dem […] teutschen Reiche selbst genommen werden sollte. 41 Der Reichsdeputationshauptschluss bestimmte die Einzelheiten, die im Ergebnis die Expansion Bayerns in den schwäbischen und fränkischen Raum ermöglichte. 42 Das fügte sich in Konzeptionen Montgelas’, der es 1797 als im Interesse der Münchner Regierung liegend bezeichnet hatte, die verbliebenen rheinischen Gebiete im Tausch abzutreten, um die wittelsbachischen Besitzungen in Bayern und Schwaben zu konsolidieren - dies gebe allen unseren Untertanen ein gemeinsames Vaterland und ein einziges Interesse. In weiteren Schritten waren Enklaven zu beseitigen, Landbrücken zu verbreitern, angrenzende Territorien zu erwerben, um ein möglichst geschlossenes Staatsgebiet zu konstruieren. Montgelas dachte dabei an die Mediatisierung der Reichsritterschaft und den Erwerb der Hochstifte Würzburg und Bamberg sowie der Reichsstädte Nürnberg, Augsburg und Regensburg (nicht aber der damals noch preußischen Fürstentümer Ansbach und Bayreuth). 43 schen Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert, in: ZBLG 41 (1978), S. 633-700, hier 638 Anm. 19; P ETER C LAUS H ARTMANN , Bayerns Weg in die Gegenwart. Vom Stammesherzogtum zum Freistaat heute, 3., überarb. u. erg. Aufl. Regensburg 2012, S. 356. 41 Frieden von Lunéville vom 9. Februar 1801, Art. VII, in: U. H UFELD (Hg.), Reichsdeputationshauptschluß (Anm. 9), S. 60f. 42 Tabellarische Zusammenstellung der Gebietserwerbungen bei G[ EORG F ERDINAND ] D ÖLLINGER , Sammlung der im Gebiete der inneren Staats-Verwaltung des Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen, aus amtlichen Quellen geschöpft und systematisch geordnet, Bd. 1, München 1835, S. 306-308. Aus der Literatur vgl. R UDOLF E NDRES , Territoriale Veränderungen, Neugestaltung und Eingliederung Frankens in Bayern, in: HBG III/ 1, S. 517-533; A[ DOLF ] L AYER / P[ ANKRAZ ] F RIED , Die Eingliederung Ostschwabens in den bayerischen Staat (1802-1810), in: HBG III/ 2, S. 280-284; W. D EMEL , Staatsabsolutismus (Anm. 40), S. 55-60; P. C. H ARTMANN , Bayerns Weg (Anm. 40), S. 351-356; D IETER J. W EISS , 200 Jahre Franken in Bayern, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 74 (2014), S. 175-195, hier 177-182; M ICHAEL P UCHTA , Von den fränkischen »Reichslanden« zum Königreich Bayern - Franken in napoleonischer Zeit 1796/ 99-1814/ 15, in: AO 95 (2015), S. 143-169, hier 161-169. Kartographische Darstellungen: M AX S PINDLER (Hg.), Bayerischer Geschichtsatlas, München 1969, S. 34-36. Im folgenden verwende ich Formulierungen aus einem bereits publizierten Text: E STEBAN M AUERER , Die große Revolution. Bayerns Expansion nach Ostschwaben, 1802-1808, in: K ATHARINA B ECHLER / D IETMAR S CHIERSNER (Hg.), Aufklärung in Oberschwaben. Barocke Welt im Umbruch, Stuttgart 2016, S. 417-447, hier 423-426. 43 Vgl. zu den Entschädigungsplänen und -forderungen im Jahr 1797 detailliert E. W EIS , Montgelas, Bd. 1 (Anm. 35), S. 341-345, 349-359, Zitat 343 (Montgelas an den zweibrückischen Bevollmächtigten in München, 27.10.1797). <?page no="178"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 179 Die Arrondierungspläne passten zum politischen Interesse Frankreichs, Bayern durch Vergrößerungen als Bündnispartner aufzuwerten, um es als strategisches Vorfeld gegen Österreich zu stärken. Der Kaiser sollte letztlich in eine »Statistenrolle« auf der politischen Bühne abgedrängt werden. 44 Dieses Ziel ließ sich einerseits durch die Zerschlagung der kaiserlichen Klientel, andererseits durch den Aufbau von Mittelstaaten als Gegengewichten zu Österreich erreichen. Bayern war in diesem Kontext eine wichtige Barrierefunktion gegenüber der Großmacht Österreich zugedacht - die Säkularisationen und Mediatisierungen des Jahres 1803 sowie die späteren Erwerbungen schoben Bayern daher auch im französischen Interesse weit in den schwäbischen und fränkischen Raum vor. Die Formierung eines militärstrategisch wirksamen Puffers gegen Österreich war eine nicht intendierte Nebenfolge des Reichsdeputationshauptschlusses, das als »letztes Reichsgrundgesetz« 45 auch im Kontext einer - gescheiterten - Reichsreform gelesen werden kann. 46 Die bayerische Regierung bezweckte anderes. Sie wollte eine Vergrößerung des »Menschen- und Steuerpotentials« erreichen 47 und sicherte sich 1803 die Territorien der fränkischen Fürstbischöfe von Würzburg und Bamberg, einen kleinen Teil von Eichstätt sowie das Hochstift Augsburg. Gebiete der Reichsäbte und Reichspröpste im ostschwäbischen Raum kamen hinzu, außerdem zahlreiche Reichsstädte. 48 Ein geschlossenes Staatsgebiet war damit noch nicht hergestellt, vielmehr blieben Bamberg und Würzburg vom übrigen Bayern durch die preußischen Fürstentümer Ansbach und Bayreuth getrennt. Im Zusammenhang der im Zusatzvertrag von Schönbrunn vom 16. Dezember und im Frieden von Pressburg vom 26. Dezember 1805 sanktionierten Territorialveränderungen gelang es der bayerischen Regierung zunächst, das Fürstentum Ansbach im Tausch gegen das Herzogtum Berg, das an Frankreich ging, zu erwerben. 49 Dazu kam das 44 Vgl. V OLKER P RESS , Südwestdeutschland im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons, in: Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons. Ausstellung des Landes Baden-Württemberg […], Bd. 2: Aufsätze, Stuttgart 1987, S. 9-24; D ERS ., Oberschwaben in der frühen Neuzeit, in: P ETER E ITEL / E LMAR L. K UHN (Hg.), Oberschwaben. Beiträge zu Geschichte und Kultur, Konstanz 1995, S. 101-131, bes. 126-128, Zitat 127; W. D EMEL , Staatsabsolutismus (Anm. 40), S. 55. 45 P. C. H ARTMANN , Bayerns Weg (Anm. 40), S. 352; K.-P. S CHROEDER , Reichsdeputationshauptschluß (Anm. 17). 46 Dazu die Überlegungen von A NTON S CHINDLING , Lokaltermin Wien: Platz am Hof 6. August 1806. War das Alte Reich nach 1803 am Ende? , in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 55 (2011), S. 901-917. 47 W. D EMEL , Staatsabsolutismus (Anm. 40), S. 55. 48 Reichsdeputationshauptschluß, § 2, in: U. H UFELD (Hg.), Reichsdeputationshauptschluß (Anm. 9), S. 74f. 49 Zusatzvertrag von Schönbrunn vom 16. Dezember 1805, Art. 1, in: Die bayerische Politik im Jahre 1805. Urkunden gesammelt u. ausgewählt v. H ANS K ARL VON Z WEHL <?page no="179"?> E S TE B AN M AUE R ER 180 Fürstentum Eichstätt als unmittelbarer südöstlicher Nachbar Ansbachs. Die räumliche Distanz zum Fürstentum Bamberg wurde damit verkleinert. Allerdings musste Würzburg im Rahmen weiterer Tauschgeschäfte an den habsburgischen Großherzog Ferdinand von Salzburg-Toskana (1769-1824) abgetreten werden. Dauerhafte Erwerbungen gelangen hingegen im östlichen Schwaben, vor allem die Reichsstadt Augsburg. 50 Zur nächsten Erwerbungsrunde kam es durch die Gründung des Rheinbundes, dessen Mitglieder aus dem Reichsverband austraten und die in ihren Gebieten als Enklaven liegenden Reichsterritorien anschlossen. 51 Bayern, inzwischen zum Königreich erhoben, 52 gewann in Schwaben Gebiete kleinerer Fürsten- und Grafenhäuser, in Franken vor allem Nürnberg und weitere Herrschaften. 53 Die Landverbindung nach Bamberg wurde geschaffen, als 1810 im Pariser Vertrag Bayreuth erkauft wurde; zugleich wurde die letzte fremde Enklave im Königreich beseitigt, das Fürstentum Regensburg. 54 1814 kamen das habsburgische Großherzogtum Würzburg und das Fürstentum Aschaffenburg im Tausch gegen Tirol und Vorarlberg an Bayern, 1816 noch einige weitere Ämter. 55 Damit waren die bayerischen Erwerbungen in Franken und Schwaben abgeschlossen. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 64), München 1964, Nr. 46/ 1, S. 241f.; Verordnung betr. das Herzogthum Berg vom 15. März 1806, in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), Nr. 265, S. 477; Patent betr. die Besitznahme der Markgrafschaft Ansbach vom 20. Mai 1806, in: Ebd., Nr. 267, S. 481f. 50 Friede von Pressburg vom 26. Dezember 1805, Art. 8 (Eichstätt), Art. 11 (Würzburg), Art. 13 (Augsburg), in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), Nr. 263, S. 466f. 51 Austrittserklärung der Rheinbundstaaten vom 1. August 1806, in: E RNST R UDOLF H UBER (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803-1850, Stuttgart 1961, Nr. 3, S. 32f.; Rheinbund-Akte vom 12. Juli 1806, Art. 25, in: Ebd., Nr. 2, S. 29. 52 Proklamation der Annahme der Königswürde vom 1. Januar 1806, in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), Nr. 261, S. 462; dazu F ERDINAND K RAMER , Bayerns Erhebung zum Königreich. Das offizielle Protokoll zur Annahme der Königswürde am 1. Januar 1806 (mit Edition), in: ZBLG 68 (2005), S. 815-834. 53 Rheinbund-Akte vom 12. Juli 1806, Art. 17, 24, in: E. R. H UBER (Hg.), Dokumente (Anm. 51) Nr. 2, S. 28f. 54 Vertrag zwischen Bayern und Frankreich vom 28. Februar 1810 (›Pariser Vertrag‹), Art. 1, 2, 4, 5, in: G. D ÖLLINGER , Sammlung (Anm. 42), S. 232f. 55 Vertrag zwischen Bayern und Österreich vom 3. Juni 1814, Art. 2, in: G. D ÖLLINGER (Anm. 42), Sammlung, S. 254; Münchner Vertrag vom 14. April 1816, Art. 2 B, in: Ebd., S. 261. <?page no="180"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 181 5. Integration durch Homogenisierung: Die Regierungszeit Max Josephs Die durchaus heterogenen Bestandteile des aus Hochstiften, Adelsherrschaften, Reichsstädten und vielen geistlichen und weltlichen Herrschaften zusammengesetzten Kurfürstentums bzw. Königreichs Bayern wurden ab 1802/ 03 in neue Raum- und Verwaltungsstrukturen eingefügt, um »einen straff und einheitlich durchgeformten, zentralisierten modernen Gesamtstaat zu bilden« (administrative Integration). 56 Beschleunigter Wandel war die Signatur der Zeit, auch für die Bevölkerung der altbayerischen Gebiete. Gegenüber diesen Zumutungen rief die Regierung Rechtmäßigkeit und Kontinuität als Legitimationsressourcen auf, um den Übergang in neue Herrschaftsverhältnisse plausibel und akzeptabel zu machen. 57 In Verordnungen vom 26. November 1802 wurde der Herrschaftswechsel in den an Bayern als Entschädigung gekommenen Bestandteilen des Fränkischen und Schwäbischen Kreises als unspektakuläre Veränderung des Subjekts der Oberherrschaft 56 Dazu v. a. W. K. B LESSING , Staatsintegration (Anm. 40); vgl. W ALTER D EMEL , Politische und soziale Integration im »neuen Bayern« (1803-1818). Eine Zwischenbilanz der Forschung, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 58 (1998), S. 327-348; H ELMUT N EU - HAUS , Auf dem Wege von »Unsern gesamten Staaten« zu »Unserm Reiche«. Zur staatlichen Integration Bayerns zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: W ILHELM B RAUNEDER (Hg.), Staatliche Vereinigung: Fördernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte (Beihefte zu ›Der Staat‹ 12), Berlin 1998, S. 107-135; W OLFGANG W ÜST , Standardisierung und Integration. Probleme bayerischer Politik im 19. und 20. Jahrhundert, in: Oberbayerisches Archiv 126 (2002), S. 199-228. Zitat: V OLKER S ELLIN , Nationalbewusstsein und Partikularismus in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: D ERS ., Politik und Gesellschaft. Abhandlungen zur europäischen Geschichte, hg. v. F RANK -L OTHAR K ROLL , Berlin-Boston 2015, S. 286-304, hier 296. 57 Vgl. R UDOLF E NDRES , Die Eingliederung Frankens in den neuen bayerischen Staat, in: P ANKRAZ F RIED (Hg.), Probleme der Integration Ostschwabens in den bayerischen Staat. Bayern und Wittelsbach in Ostschwaben (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 2), Sigmaringen 1982, S. 93-113; W OLFGANG W ÜST , Franken unter Bayerns Krone. Integration im langen 19. Jahrhundert, in: A LOIS S CHMID (Hg.), 1806. Bayern wird Königreich. Vorgeschichte, Inszenierung, europäischer Rahmen, Regensburg 2006, S. 170-194; W OLFGANG Z ORN , Die Eingliederung Ostschwabens in den bayerischen Staat unter den ersten Königen Max I. und Ludwig I., in: P. F RIED (Hg.), Probleme, S. 79- 92; R UDOLF K IESSLING , Schwabens Weg in das Königreich Bayern. Zwischen Integrationsbereitschaft und Traditionsbewusstsein, in: A. S CHMID (Hg.), 1806, S. 147-169; C ARL A. H OFFMANN / R OLF K IESSLING , Einleitung, in: D IES . (Hg.), Die Integration in den modernen Staat. Ostschwaben, Oberschwaben und Vorarlberg im 19. Jahrhundert (Forum Suevicum 7), Konstanz 2007, S. 11-22; E. M AUERER , Revolution (Anm. 42), S. 428f. <?page no="181"?> E S TE B AN M AUE R ER 182 inszeniert. 58 Skeptischen Zeitgenossen wurde die »legale Revolution« 59 als Weg in einen neuen, aber rechtmäßigen Zustand verständlich gemacht. Nicht aus der Gewalt entsprang die neue Herrschaft, sondern aus gültigen Rechtsakten. Sie war durch Rückkopplungen an Legitimität, formalisierte Verfahren und Kontinuitätsbehauptungen abgesichert. Die im Regierungsblatt veröffentlichten Besitzergreifungspatente legitimierten mit Verweis auf die einschlägigen Verträge und den Reichsdeputationshauptschluss die in den Entschädigungslanden auszuübende landesherrliche Gewalt und forderten die Loyalität der neuen Untertanen ein. 60 Der Herrschaftswechsel gründete sich auf geltendes Recht, so dass der Landesherr von allen Beamten, Militärpersonen und Untertanen vollkommenen Gehorsam und unverbrüchliche Treue fordern konnte - ab sofort sollten sie Max Joseph für ihren rechtmäßigen und einzigen Landesfürsten erkennen und ansehen und sich als treue und gehorsame Unterthanen betragen. 61 Im Gegenzug versprach der Fürst, die Untertanen zu schützen und ihnen Wohlfahrt und Wohlstand zu verschaffen. 62 Hier wurden tradierte Legitimationstopoi aufgerufen. Die Regierung bestand aufgrund eigenen Rechts und erfüllte den Staatszweck. Der besonders feierlichen Landeshuldigung bedurfte es einstweilen nicht, es genügte die gewöhnliche Vereidigung und Verpflichtung der Landeskollegien auf den Landesherrn. 63 Indem sich die neue Herrschaft in das Kontinuum legitimer Herrschaft einfügte, trat keine Unterbrechung der Regierungs- und Verwaltungsgeschäfte ein. Insofern waren keine grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Einfügung der Entschädigungslande in den bayerischen Staat zu erwarten. Verzögerungen und Reibungen waren nicht zu vermeiden, verwiesen jedoch nicht auf unüberwindbare Hemmnisse, sondern ergaben sich aus der Komplexität des Integrationsprozesses. Der Landesdirektions-Direktor Johann Georg Freiherr von Aretin (1771-1845) beobachtete 1804 als Charakteristikum seiner Zeit, dass die Zusammenfügung der Staatsmaschine künstlicher und verwickelter, und die Summe der öffentlichen Geschäfte grösser wurde. Die Experten für die öffentlichen Ange- 58 Vgl. die gleichlautenden Verordnungen vom 26. November 1802, in: Churpfalzbaierisches Regierungs-Blatt 1802, Sp. 881-883 (Entschädigungslande im Fränkischen Kreis), 883-885 (Entschädigungslande im Schwäbischen Kreis), 885-887 (Bistum Eichstätt, Abtei Kaisheim, Reichsstadt Weißenburg), gleichlautendes Zitat: Sp. 882/ 884/ 887. 59 E RNST R UDOLF H UBER , Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830, Stuttgart u. a. 1990 (2. Nachdruck der 2., verb. Aufl. Stuttgart 1967), S. 40. 60 Churpfalzbaierisches Regierungs-Blatt 1802, Sp. 881/ 884/ 886. 61 Churpfalzbaierisches Regierungs-Blatt 1802, Sp. 882/ 884/ 886. Entsprechend forderte die Konstitution vom 1. Mai 1808, Titel I § VIII, von jedem Staatsbürger einen Eid, daß er der Konstitution und den Gesezen gehorchen - dem Könige treu seyn wolle; in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), Nr. 286, S. 655-663, hier 657. 62 Churpfalzbaierisches Regierungs-Blatt 1802, Sp. 882/ 884/ 886. 63 Churpfalzbaierisches Regierungs-Blatt 1802, Sp. 882/ 884/ 886f. <?page no="182"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 183 legenheiten, das heißt insbesondere die aufgeklärten Beamten, reagierten auf diese Beobachtung mit erhöhten Anstrengungen (die im Ergebnis ihre Unentbehrlichkeit erweisen sollte): Man beobachtete Ursachen und Wirkungen genauer, suchte statt der schwankenden Empirie feste Standpuncte, und bildete so allmählig Systeme über die wichtigsten Gegenstände der Staatsverwaltung. 64 Der Staat und seine Verwaltung expandierten, verfolgten ausgreifende Regelungsziele, ordneten soziale, ökonomische, rechtliche Zusammenhänge kontinuierlich neu. 65 Das waren die Bedingungen, denen sich auch die Untertanen in den schwäbischen und fränkischen Entschädigungslanden zu fügen hatten. Neben die optimistische Erwartung, die Veränderung des Subjekts der Oberherrschaft werde von den neuen bayerischen Untertanen ohne größeren Widerspruch akzeptiert werden, traten allerdings bisweilen skeptische Einschätzungen innerhalb der Regierung. 1809 äußerte Montgelas mit Blick auf die durch die territoriale Revolution oftmals veränderten Zugehörigkeitsverhältnisse seine Einschätzung, que ces changemens continuels de domination affaiblissaient les liens de la subordination & de la confiance. Viele Untertanen wähnten sich, so der Minister, unter militärischer Besatzung, nicht aber auf rechtmäßige Weise beherrscht. 66 Solche Wahrnehmungen gingen mit der Befürchtung einher, das soziale Band könne sich lockern und die Integration der neuen Länder gefährden. Die Konstitution von 1808 appellierte daher an die aus höherer Vernunft erwachsene Einsicht, ein planvoll gebauter Staat erfülle den Staatszweck am besten, weshalb er hergebrachten Ordnungen vorzuziehen sei. Zugleich sollte die Konstitution das 64 [J OHANN ] G[ EORG ] F R [ EIHERR ] V [ ON ] A RETIN , Vorerinnerung, in: D ERS . (Hg.), Der Genius von Bayern unter Maximilian IV., Bd. 1, St. 1, München-Amberg 1802, S. III-VIII, hier III. 65 Den Aufbau von Bürokratien und die Ausweitung der Staatstätigkeit beschreibt als »nahezu weltweit bemerkbar[en]« Prozess im 19. Jahrhundert J ÜRGEN O STERHAMMEL , Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 878-882, Zitat 879. Im Anschluss an die Herrschaftssoziologie Max Webers fasst S TEFAN B REUER , Der Staat. Entstehung, Typen, Organisationsstadien, Reinbek b. Hamburg 1998, S. 162, 184-189, diesen Vorgang im Deutschland der Reformzeit begrifflich als administrative (organisationsorientierte) bzw. formale Rationalisierung. Kennzeichnend ist eine Legitimitätsgeltung rationalen Charakters, was erstens den Gehorsam gegenüber einer rechtmäßig gesetzten unpersönlichen Ordnung und zweitens die Vorstellung impliziert, diese Ordnung sei prinzipiell änderbar. 66 BayHStA, MA 133: Denkschrift Montgelas’, eigenhändig, nicht datiert (Datierung von anderer Hand auf dem Aktendeckel: 23. Juli 1809); auch zit. bei W. D EMEL , Staatsabsolutismus (Anm. 40), S. 61. <?page no="183"?> E S TE B AN M AUE R ER 184 gegenwärtig aus mehreren neuen Provinzen zußammengesezet[e] Königreich 67 in einen homogenen Gesamtstaat 68 verwandeln. Im Mittelpunkt der Konstitution, die als Fundamentalgesetz die Reform- und Integrationspolitik in eine vorläufige Form brachte und gleichzeitig die Wege künftiger Entwicklung weisen sollte, stand der Staat. 69 Er sollte allein vom monarchischen Willen einheitlich gelenkt und organisiert werden. Autonome Herrschaftsbezirke sowie ständische Sonderrechtsgebiete wurden nicht mehr geduldet. Der durch erhebliche Territorialgewinne vergrößerte Staat sollte keineswegs ein bloßes Aggregat verschiedenartiger Bestandtheile bleiben, und das aus zwei Gründen: Zum einen könne er so nicht zu Erreichung der vollen Gesamtkraft, die in seinen Mitteln liegt, gelangen, also nicht die zur Verwirklichung seiner politischen Ziele erforderlichen Machtressourcen bilden. Zum anderen könne ein nur unzureichend ausgebildeter Staatsapparat den einzelnen Gliedern desselben nicht alle Vortheile der bürgerlichen Vereinigung, in dem Maaße, wie es diese bezwecket, gewähren. Hier klang zwar im Begriff der bürgerlichen Vereinigung die naturrechtliche Vertragslehre an, doch war damit nicht notwendig eine emanzipative Kategorie gemeint: In der zeitgenössischen Staatstheorie waren noch vorliberale Deutungshorizonte präsent, wonach die natürlichen Rechte durch den Staatsvertrag verloren gingen. 70 Vor diesem Hintergrund konnte man davon sprechen, der Staat gewähre den Bürgern die aus dem Zusammenschluss zu einem politischen Körper erwachsenen Vorteile. Im Vordergrund standen folglich, so die Konstitution, die gerechten, im allgemeinen Staatszwecke gegründeten Foderungen des Staates an seine einzelnen Glieder. Die Forderungen der einzelnen Glieder an den Staat traten dahinter zurück. Als Ziel formulierte die Präambel der Konstitution 67 Protokoll der Geheimen Staatskonferenz vom 8. Juni 1807, in: Die Protokolle des Bayerischen Staatsrats 1799 bis 1817, Bd. 2: 1802 bis 1807, bearb. v. E STEBAN M AUERER , München 2008, Nr. 132, S. 633-652, hier 651 (Vortrag Montgelas). 68 Protokoll der Geheimen Staatskonferenz vom 20. Januar 1808, in: Die Protokolle des Bayerischen Staatsrats 1799 bis 1817, Bd. 3: 1808 bis 1810, bearb. v. E STEBAN M AUERER , München 2015, Nr. 1, S. 55-64, hier 63 (Vortrag Montgelas). - Der integrative Zweck der Konstitution wurde fortan oft betont, z. B. von F RIEDRICH C HRISTOPH K ARL S CHUNCK , Staatsrecht des Königreichs Baiern, Bd. 1, Erlangen 1824, S. 119. 69 Vgl. E. W EIS , Montgelas, Bd. 2 (Anm. 35), S. 374-387; H ARTWIG B RANDT , Die Verfassung des Königreichs Bayern von 1808, in: H. B RANDT / E. G ROTHE (Hg.), Konstitutionalismus (Anm. 33), S. 53-63; E STEBAN M AUERER , Die »Konstitution für das Königreich Baiern« vom 1. Mai 1808, in: Bayerns Anfänge als Verfassungsstaat. Die Konstitution von 1808 (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 49), München 2008, S. 11-18; A LOIS S CHMID (Hg.), Die bayerische Konstitution von 1808. Entstehung - Zielsetzung - Europäisches Umfeld (ZBLG, Beiheft 35), München 2008. 70 Vgl. D IETHELM K LIPPEL , Das deutsche Naturrecht am Ende des Alten Reiches, in: G EORG S CHMIDT - VON R HEIN / A LBRECHT C ORDES (Hg.), Altes Reich und neues Recht. Von den Anfängen der bürgerlichen Freiheit, Wetzlar 2006, S. 27-41. <?page no="184"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 185 schließlich, dem Ganzen feste Haltung und Verbindung, und jedem Theile der Staatsgewalt die ihm angemessene Wirkungskraft nach den Bedürfnissen des Gesamt-Wohls zu verschaffen. Betont wurde hier erneut der Aspekt der staatlichen Integration: Sie solle das Gesamt- Wohl fördern, das wiederum im Rahmen des Staatszwecks zu definieren war. 71 Dieses Programm des bürokratischen Staatsabsolutismus bestimmte fortan die politische Agenda. 72 Auf der Grundlage der neuen Verfassung wurde die innere Staatsbildung vorangetrieben und die Souveränität 73 befestigt, wurden gesamtstaatliche Kompetenzen festgelegt und die Effektivität der Verwaltung gesteigert. Die auf Vernunftgründen aufbauende Programmatik war darauf angelegt, bereits vorhandene und künftig möglicherweise an Bayern fallende Gebiete zu integrieren, nicht aber, vorgefundene politisch-territoriale Strukturen oder spezielle Korporationen der einzelnen Provinzen zu bewahren. 74 Folgerichtig wandte sich der König in der Konstitution an die Völker seines Reichs, 75 an die Glieder des Staates, an die Staats-Bürger. Die politische Sprache kannte darüber hinaus treue Untertanen und anhängliche Bayern, die den bayerischen Staat zu seiner ursprünglichen Würde, nämlich der königlichen, emporgehoben hätten, 76 nicht aber historisch-territoriale Prägungen, die in die Zeit vor dem Eintritt in den bayerischen Staatsverband zurückwiesen. 71 Konstitution für das Königreich Bayern vom 1. Mai 1808, in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), Nr. 286, S. 655-663, Zitate 655 (Präambel). 72 Zum Begriff siehe W ALTER D EMEL , Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus (Enzyklopädie deutscher Geschichte 23), 2., erw. Aufl. München 2010. W. K. B LESSING , Franken (Anm. 27), S. 282, spricht von »bürokratische[r] Entwicklungsdiktatur«. 73 Zur Bedeutung der Staatssouveränität als »Prinzip des geschlossenen, zentral gelenkten souveränen Staates« in der Konstitution von 1808: W OLFGANG Q UINT , Souveränitätsbegriff und Souveränitätspolitik in Bayern. Von der Mitte des 17. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Schriften zur Verfassungsgeschichte 15), Berlin 1971, S. 252-263, Zitat 252. 74 In der Sprache der Staatsphilosophie wurde Integration folgendermaßen abgeleitet: Der Staat als höchste Regel der Einheit und Rotundität duldet keinen coordinirten Staat in sich selber, und schon sein Begriff selber, schließt jeden von ihm unabhängigen Verband der Glieder, jeden fremden Zweck, jede Unmittelbarkeit aus. Fragmente über die Idee des Staates, in: Der Rheinische Bund. Eine Zeitschrift historischpolitischstatistischgeographischen Inhalts, hg. v. P[ ETER ] A[ DOLPH ] W INKOPP , Bd. 12, Frankfurt am Main 1809, S. 155, § 19. 75 Konstitution vom 1. Mai 1808, in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), S. 663. 76 Proklamation der Annahme der Königswürde vom 1. Januar 1806, in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), Nr. 261, S. 462: Durch die unerschütterliche Treue Unserer Unterthanen, und die vorzüglich bewiesene Anhänglichkeit der Baiern an Fürst und Vaterland, hat der baierische Staat sich zu seiner ursprünglichen Würde emporgehoben. Zur Einordnung der Proklamation vgl. A LOIS S CHMID , Die bayerische Königspolitik im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: D ERS . (Hg.), 1806 (Anm. 57), S. 17-38. <?page no="185"?> E S TE B AN M AUE R ER 186 Dazu passte, dass ab 1802 die Gerichts- und Verwaltungsorganisation in den altbayerischen Provinzen sowie in den Erwerbungsgebieten in Franken, Schwaben, Vorarlberg und Tirol auf der Grundlage des altbayerischen Landgerichts eingerichtet wurde. 77 Die zuletzt über 200 Sprengel sollten möglichst gleich groß werden, einerseits, um Besoldung und Dienstaufgaben der jeweiligen Landrichter in ein vergleichbares Verhältnis zu setzen, andererseits, um den Weg der Untertanen zum Gericht nicht zu weitläufig werden zu lassen. 78 Das bestimmende Organisationsprinzip war das bayerische Landgerichtssystem, das auf die neu erworbenen Territorien ausgedehnt wurde, auch in Ansbach und Bayreuth, obwohl dort mit der funktionalen Trennung von Justiz- und Verwaltungsaufgaben - die Gerichtsbarkeit oblag den Justizämtern, die Verwaltung den Kammerämtern - eine durchaus brauchbare, funktional differenzierte Organisationsform bestand. 79 Die nivellierend-integrierenden Tendenzen setzten sich auf der mittleren Verwaltungsebene fort. Hier interessiert besonders die in der Konstitution von 1808 grundgelegte Kreiseinteilung, die das Ziel hatte, aus dem alten Kurbayern und den neu erworbenen Gebieten eine Einheit zu schaffen. 80 Montgelas hatte zu Beginn 77 Verordnung betr. die Einrichtung der Landgerichte vom 24. März 1802, in: Churpfalzbaierisches Regierungsblatt 1802, Sp. 236-239, 249-262; im Auszug gedruckt bei M. S CHIMKE , Regierungsakten Bayern (Anm. 21), Nr. 65, S. 345-354. Zur Entstehung der Verordnung vgl. die Vorträge in den Sitzungen des Staatsrats vom 23./ 24. Dezember 1801 und 26. März 1802, in: Die Protokolle des Bayerischen Staatsrats 1799 bis 1817, Bd. 1: 1799 bis 1801, bearb. v. R EINHARD S TAUBER unter Mitarbeit v. E STEBAN M AUERER , München 2006, Nr. 144, TOP 3, S. 496-503; Protokolle Bd. 2 (Anm. 67), Nr. 26, TOP 7, S. 170f. 78 Vgl. W ILHELM V OLKERT , Innere Verwaltung, in: D ERS . (Hg.), Handbuch der bayerischen Ämter, Gemeinden und Gerichte 1799-1980, München 1983, S. 30-108, hier 40; D ERS ., Bayerns Zentral- und Regionalverwaltung zwischen 1799 und 1817, in: E BERHARD W EIS (Hg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 4), München 1984, S. 169-180, hier 174-176; E. W EIS , Montgelas, Bd. 2 (Anm. 35), S. 562; N ICOLA S CHÜMANN , Die Konstitution von 1808 und die innere Verwaltung in Bayern, in: Bayerns Anfänge als Verfassungsstaat (Anm. 69), S. 149-156, hier 150f. 79 W. V OLKERT , Zentral- und Regionalverwaltung (Anm. 78), S. 176; R UDOLF E NDRES , Hardenbergs fränkisches Reformmodell, in: T HOMAS S TAMM -K UHLMANN (Hg.), »Freier Gebrauch der Kräfte«. Eine Bestandsaufnahme der Hardenberg-Forschung, München 2001, S. 31-49, hier 41. 80 W ILHELM V OLKERT , Die bayerischen Kreise. Namen und Einteilung zwischen 1808 und 1838, in: F ERDINAND S EIBT (Hg.), Gesellschaftsgeschichte. FS für Karl Bosl zum 80. Geburtstag, Bd. 2, München 1988, S. 308-323. Die neue Kreiseinteilung wurde den Zeitgenossen alsbald durch Karten zur Anschauung gebracht, die in Alois Senefelders (1771- 1834) Werkstatt lithographisch hergestellt wurden. Eine dem Regierungsblatt beigebundene Karte zeigt das Königreich Bayern und seine Kreise, die durch kolorierte Grenzen voneinander getrennt sind (Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1808, nach Sp. 1800). Deutli- <?page no="186"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 187 der Verfassungsberatungen den König darauf hingewiesen, dass die Zersplitterung des Königreichs in Provinzen unterschiedlicher politischer Herkünfte und Interessen die Handlungsmacht des Staates in erheblichem Maße einschränke. Der König habe daher befohlen, die Provinzen zu vereinigen und zu vereinheitlichen, um in einem zweiten Schritt eine nouvelle division politique et administrative de l’Ètat entier einzuführen und so alle Teile des Königreichs mit den gleichen Gesetzen zu versehen und auf gleiche Weise zu beherrschen. 81 Die Konstitution bestimmte folglich, das Staatsgebiet [o]hne Rücksicht auf die bis daher bestandene Eintheilung in Provinzen […] in möglichst gleiche Kreise zu teilen, die sich wiederum an den natürlichen Gränzen orientieren sollten. 82 Die Verordnung zur Territorial-Eintheilung des Königreichs Baiern vom 21. Juni 1808 schuf entsprechend durch Zuordnung von damals 196 Landgerichten und Ämtern 15 Kreise. 83 Die als administrative Neuschöpfungen auftretenden Regelungen der Konstitution wurden allerdings in der tatsächlichen Einteilung durch eine gewisse Orientierung am historisch Gewordenen abgeschwächt, waren doch diejenigen Bezirke, welche durch gleichere Sitten und die Gewohnheit langer Jahre, oder durch die von der Natur selbst bezeichnete Lage näher mit einander verbunden sind, in ihrer engeren Vereinigung zu belassen. Dadurch sollten die lieben und getreuen Untertanen aller Theile des Reiches mit dem wohlthätigen Bande eines gemeinschaftlichen Vaterlandes umfasst und ihnen die Vortheile näher gelegener unmittelbarer Administrations-Behörden verschafft werden. 84 Im Vordergrund stand gleichwohl der Wille der Regierungszentrale, »historisch gewachsene Identitäten aufzulösen«. 85 Johann Christoph Freiherr von Aretin (1772-1824) betonte gegen Ende der Regiecher werden die Kreise in einem nachkolorierten Exemplar dieser Karte abgebildet; BayHStA, Kartensammlung 732. Ebenfalls koloriert ist Senefelders Karte im Maßstab 1 : 880.000 (BSB, Mapp. XI,50 a). Digitalisat: https: / / www.bavarikon.de/ object/ bav: BSB- MAP-0000000MAPPXI50A (aufgerufen am 17.4.2019). 81 Votre Majesté s’est déjà convaincue par ses propres réfléxions et les lumières qu’a pu fournir l’expérience, combien la division du royaume en provinces, formant autant de grandes masses isolées entre elles, différentes de préjugés, de vues, d’intérêts, seroit nuisible à la force et à l’action du gouvernement. Elle m’a ordonné en conséquence le plan de leur réunion en une seule masse et d’une nouvelle division politique et administrative de l’État entier qui, en supprimant les privilèges et les constitutions particulières, assujettiroit toutes les parties d’un même royaume aux mêmes loix et au même régime. Denkschrift Montgelas’, nicht datiert (Januar 1808), gedruckt bei M[ ICHAEL ] D OEBERL , Rheinbundverfassung und bayerische Konstitution (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-philologische und historische Klasse 1924/ 5), München 1924, S. 65-73, hier 70. 82 Konstitution vom 1. Mai 1808, Tit. I § 4, in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), S. 656. 83 Gedruckt bei M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), Nr. 288, S. 669-677. 84 Verordnung vom 21. Juni 1808, Präambel, in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), S. 669. 85 W. D EMEL , Integration (Anm. 56), S. 330. <?page no="187"?> E S TE B AN M AUE R ER 188 rungszeit König Max Josephs, dass Gebietseinteilungen nach historischen Gesichtspunkten, die dem Zufall des allmähligen Erwerbs folgten, mit großen Nachteilen verbunden seien und Hindernisse des Nationalgeistes darstellten, weil die Einwohner eines Staates sich so immer fremd bleiben müssten. 86 Die Benennung der Kreise erfolgte französischem Vorbild entsprechend nach Flüssen, womit zumeist geographische Situationen abgebildet wurden. In unserem Zusammenhang waren das der Illerkreis (Kempten), Lechkreis (Augsburg), Altmühlkreis (Eichstätt), Mainkreis (Bamberg), Oberdonaukreis (Ulm), Rezatkreis (Ansbach) und Pegnitzkreis (Nürnberg). Insgesamt hatte die Benennung nach Flüssen »keine zwingende Logik«, was Eberhard Weis von den Kreisen als »ganz künstliche[n] Schöpfungen« sprechen lässt. 87 Allerdings darf nicht übersehen werden, dass sich die Künstlichkeit der Einteilung mit einer gewissen Notwendigkeit aus der territorialen Amalgamierung ergab, die von den Kreisen zu leisten war. So umfasste etwa der Altmühlkreis altbayerische Gerichte, Oberpfälzer bzw. pfalzneuburgische Gebiete, Ämter des Hochstifts Eichstätt, Ansbacher Bezirke, ein Deutschordensgebiet, die Reichsstadt Weißenburg sowie die Herrschaft Pappenheim. 88 Durch die administrative Überwölbung vormals diverser Territorialbestandteile wurden die Kreise zu einem wichtigen Instrument der »verwaltungstechnische[n] Egalisierung zwischen den alt- und den neubayerischen Gebieten«. 89 Eine gewichtige Integrationsleistung versprach sich die bayerische Regierung insbesondere von einer einheitlichen Rechtsordnung. Die Konstitution sah die Einführung eines Zivil- und eines Strafgesetzbuches für das ganze Reich vor. 90 Zu 86 J OH [ ANN ] C HRIST [ OPH ] F RHR . VON A RETIN , Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie. Ein Handbuch für Geschäftsmänner, studirende Jünglinge, und gebildete Bürger, Bd. 1, Altenburg 1824, S. 142f. Um die Vorteile einer Einteilung des Staatsgebiets zufolge einer leitenden politisch-statistischen Idee herauszustellen, hob Aretin insbesondere auf Erleichterung der administrativen Vereinheitlichung, gerechtere Umlegung der Steuern und Einrichtung der Konskription sowie einen zweckmäßigen Zuschnitt der Wahlbezirke ab. 87 E. W EIS , Montgelas Bd. 2 (Anm. 35), S. 518. 88 Vgl. W. V OLKERT , Kreise (Anm. 80), S. 312; E STEBAN M AUERER / R EINHARD S TAUBER , Verwaltung und Rechtswesen des Königreichs Bayern in der Konstitution von 1808, in: A. S CHMID (Hg.), Konstitution (Anm. 69), S. 257-315, hier 273; W. K. B LESSING , Franken (Anm. 27), S. 284, weist darauf hin, dass in Franken oftmals Gebiete zusammengefügt wurden, zwischen denen hergebrachte Spannungen herrschten, so dass »die Einwohner ihre Identitäten nicht zuletzt aus der gegenseitigen Befremdung zogen«, so etwa im Fall des Hochstifts Bamberg und des Markgraftums Bayreuth (Obermainkreis). Eine tabellarische Übersicht zu den historischen Bestandteilen der Kreise gibt J OSEPH M AX F RHR . VON L IECHTENSTERN , Historisch-statistische Uebersicht sämmtlicher Provinzen und Bestandtheile des Koenigreichs Baiern, München 1823. 89 W. D EMEL , Integration (Anm. 56), S. 329. 90 Konstitution vom 1. Mai 1808, Tit. V § 7, in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), S. 662. <?page no="188"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 189 diesem Zeitpunkt hatten die Arbeiten an einem bürgerlichen Gesetzbuch auf der Grundlage des Code Napoléon 91 bereits begonnen, ein Vorhaben, das sich allerdings auch aufgrund der Obstruktionshaltung des alten Adels nicht realisieren ließ. 92 Im Januar 1811 erging daher der Beschluss, auf der Grundlage des an die Konstitution und die Organischen Edikte angepassten Zivilkodex des Geheimratsvizekanzlers Kreittmayr (1705-1790) von 1756 ein neues bürgerliches Gesetzbuch zu publizieren. 93 In der Sitzung des Geheimen Rates vom 17. Januar ging der Berichterstatter Johann Paul Anselm von Feuerbach 94 von der Notwendigkeit aus, vor dem Hintergrund der in Bayern bestehenden bunte[n] Gesez Verschiedenheit eine übergreifende Rechtskodifikation zu erlassen, um Einheit und Festigkeit in den ganzen inneren Verband des Königreichs zu bringen und bei den Rechtsunterworfenen Nazional-Sinn und Nazional Patriotismus hervorzurufen. 95 Ganz im Sinn der Konstitution betonte der Geheime Rat Feuerbach die staatsbildende Wirkung eines einheitlichen Zivilrechts: Ein Staat ist so lange noch nicht ein Staat, so lange nicht seine einzelnen Bestandtheile durch gemeinschaftliche Geseze verbunden sind. Nur auf der Grundlage gleicher Gesetze für alle Untertanen könnten verschiedene, durch Nationalhaß oder Nationalvorurtheil ursprünglich getrennte Völkerschaften allmählig in eine Nation zusammenwachsen. Die unifizierende Wirkung durch die Beseitigung von Provinzialnamen und durch die Raumorganisation mittels modifizierter Kreiseinteilungen schätzte Feuerbach gering ein. Zusammenfassend urteilte er: So lange in den Grenzen des baierischen Staates noch andere Völker wohnen als Baiern, so lange nicht der Schwabe aufgehört hat, in dem ehemaligen Oestreicher und Preußen, der Alt-Baier in jedem, der über jenseits des Inns, des Lechs und der Donau 91 Zum Code civil des Français von 1804, seit 1807 offiziell Code Napoléon, der »die Ideen der Aufklärung und das politische Programm der Revolution durch Rechtsgleichheit, Freiheit der Person und des Eigentums sowie durch die Trennung der Kirche vom Staat verwirklicht[e]«, vgl. H ANS S CHLOSSER , Neuere Europäische Rechtsgeschichte. Privat- und Strafrecht vom Mittelalter bis zur Moderne, 3., überarb. u. erw. Aufl. München 2017, S. 232-234, Zitat 233; J EAN -L OUIS H ALPÉRIN , Code Civil, in: Handwörterbuch (Anm. 20), Bd. 1, Berlin 2008, Sp. 861-866. 92 Vgl. zu den Kodifikationsarbeiten E. M AUERER / R. S TAUBER , Verwaltung (Anm. 88), S. 304-310; B ERND M ERTENS , Gönner, Feuerbach, Savigny. Über Deutungshoheit und Legendenbildung in der Rechtsgeschichte, Tübingen 2018, S. 45-61. 93 H ANS -J OACHIM H ECKER , Kreittmayr, Franz Xaver Wiguläus Aloysius von (1705-1790), in: Handwörterbuch (Anm. 20), Bd. 3, Berlin 2016, Sp. 225-228; zum Zivilkodex H. S CHLOSSER , Rechtsgeschichte (Anm. 91), S. 211-214; B ARBARA D ÖLEMEYER , Bayerische Kodifikationen des Naturrechtszeitalters, in: Handwörterbuch (Anm. 20), Bd. 1, Berlin 2008, Sp. 478-480. 94 G ERHARD L INGELBACH , Feuerbach, Paul Johann Anselm von (1775-1833), in: Handwörterbuch (Anm. 20), Bd. 1, Berlin 2008, Sp. 1564-1567. 95 BayHStA, Staatsrat 207: Protokoll des Geheimen Rates vom 17. Januar 1811, TOP 2, Vortrag Feuerbach. <?page no="189"?> E S TE B AN M AUE R ER 190 wohnt, einen Fremden zu sehen, solange gibt es zwar ein baierisches Territorium und eine baierische Regierung, aber keine baierische Nation. 96 Montgelas teilte die Einschätzung Feuerbachs, die Diversität der Zivilrechtsordnungen stehe der Integration zur Nation entgegen. In seinem Votum führte er aus, die bestehende, vielfältig differenzierte Gesetzeslage 97 habe den bedeutenden Nachtheil, daß sie der Nazionalität des baierischen Volkes, aus so verschiedenen Stämmen zusammen gesezt, entgegen stehe, und statt die Völker unter sich zu verbinden, und in ein Ganzes, gleich gestimmt und von gleichem Geiste beseelt, zusammen zu bringen, dieselbe in ihren provinziellen Gewohnheiten und Verhältnißen erhalte, und sie dadurch dem Mutterlande gleichsam fremd mache. 98 Ganz auf dieser Linie erklärte der Justizminister Heinrich Aloys Graf von Reigersberg (1770-1865) es zum wichtigsten Staatszweck Baierns, die Unterthanen wechselseitig zu verbinden; bei dem Baireuther, dem Franken, Schwaben, dem Tyroler die Idee jedes zwischen ihm und dem Altbaier noch bestehenden Unterschids [! ] zu verbannen, denn nichts vereinige Unterthanen verschiedener Gebiets Theile mehr als gleiche Geseze. 99 Die Hoffnungen der Reformpartei, durch Einführung einer Zivilrechtskodifikation die Bewohner der verschiedenen Provinzen der Baierischen Monarchie in Eine Nazion [zu] verwandeln, und so die Monarchie [zu] befestigen, 100 erfüllte sich nicht. Die Kodifikationsarbeiten gelangten über das Entwurfsstadium nicht hinaus. Gleichwohl kam es in gewissen Grenzen zu einer Angleichung der Zivilrechtsordnungen durch höchstinstanzliche Spruchtätigkeit. Dies geschah im Geheimen Rat, dessen Einrichtung in der Konstitution von 1808 angeordnet worden war. Zu seinen Aufgaben gehörte unter anderem die Entscheidung der Kompetenzstreitigkeiten der Gerichts- und Verwaltungsstellen. Daher kamen Streitsachen, die zu (abweichenden oder gleichlautenden) Entscheidungen der unteren Instanzen (Landgericht und Generalkommissariat) geführt hatten, als sogenannte Rekurse vor den Geheimen 96 BayHStA, Staatsrat 207: Feuerbach, Vortrag im Geheimen Rat vom 14. Januar 1811, S. 3-5. 97 Laut BayHStA, Staatsrat 207: Feuerbach, Vortrag (Anm. 96), S. 3, galten für bayerische Untertanen neben dem gemeinen Recht je nach dem Distrikt, welchen sie bewohnen, österreichische Gesetze, das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1756, das Bambergische Landrecht von 1769 sowie Württembergisches Landrecht. 98 BayHStA, Staatsrat 207: Protokoll des Geheimen Rates vom 17. Januar 1811, TOP 2, Votum Montgelas. 99 BayHStA, Staatsrat 207: Protokoll des Geheimen Rates vom 17. Januar 1811, TOP 2, Votum Reigersberg. 100 W ALTER D EMEL / W ERNER S CHUBERT (Hg.), Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Bayern von 1811. Revidirter Codex Maximilianeus Bavaricus civilis (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 63), Ebelsbach 1986, S. 97 (Motivenbericht zu Teil 1 des revidierten CMBC). <?page no="190"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 191 Rat. 101 In der Mehrzahl waren das Probleme, die sich im Zuge der Auflösung der feudalrechtlich organisierten agrarischen Landeskultur stellten, etwa bei der Aufteilung von Gemeindegründen, bei Gutszertrümmerungen, bei der Ablösung grundherrlicher Rechte. Auch über Gewerberechte, die Regulierung von Kriegskosten, den Anteil an Gemeinderechten wurde gestritten. Fälle aus den neuen schwäbischen und fränkischen Landen kamen in großer Zahl vor den Geheimen Rat. 102 Die rechtskräftige Erledigung eines jeden Falles wurde im Regierungsblatt angezeigt. 103 Die zentrale Stelle in München bewies den Lesern des Regierungsblattes, dass sie in der Lage war, drückende, oft weit in das 18. Jahrhundert zurückreichende Probleme auf Gemeindeebene rechtlich zu lösen. Die neue Regierung präsentierte sich auch den schwäbischen und fränkischen Untertanen als legitime Herrschaftsinstanz, zu der wesentlich die richterliche und rechtsetzende Gewalt gehörte. Die neu erworbenen Lande sowie die altbayerischen Gebiete wurden in den Prozess des »Vorrücken[s] des Staates in die Fläche« einbezogen und nach einheitlichen Gesetzen verwaltet. Der »performing state« legitimierte sich durch die Bereitstellung normativer Güter (Frieden, Sicherheit, Juridifizierung) und öffentlicher Bildungs-, Wohlfahrts- und sonstiger Infrastruktureinrichtungen. 104 101 Normative Grundlagen: Konstitution für das Königreich Bayern vom 1. Mai 1808, Tit. III § 2, in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), Nr. 286, S. 659; Organisches Edikt betr. die Bildung des Geheimen Rates vom 4. Juni 1808, Tit. II Art. 6 u. Art. 7, in: M. K OTULLA , Nr. 287, S. 665; Verordnung betr. die Vervollständigung der Kompetenzregulierung des Geheimen Rates vom 8. August 1810, Tit. I Art. 1, in: Ebd., Nr. 287/ 1, S. 667f. 102 Eine quantifizierende Einordnung kann hier nicht geleistet werden. Der Eindruck ergibt sich aus der Arbeit des Verfassers an den Protokollen des Geheimen Rates, die, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in der Serie Protokolle des Bayerischen Staatsrats 1799 bis 1817 ediert werden. Hier einschlägig ist Bd. 3 (Anm. 68); voraussichtlich 2020 wird Bd. 4: 1811 bis 1812, erscheinen. Retrodigitalisate der schon erschienenen Bände sind online zugänglich: http: / / www. bayerischer-staatsrat.de/ . 103 Vgl. die Verweise z. B. in: Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1810, nicht paginiertes Register s. v. Rekurs-Beschwerde. 104 J ÖRG G ANZENMÜLLER / T ATJANA T ÖNSMEYER , Einleitung: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts, in: D IES . (Hg.), Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts, Köln u. a. 2016, S. 7-31, bes. 7-20. <?page no="191"?> E S TE B AN M AUE R ER 192 6. Das Regierungsjubiläum 1824 Integration durch Verwaltung, Integration durch Recht, Integration durch die alle Lebensbereiche überwölbende Verfassung: Das war das Regierungsprogramm bis zum Ende der Herrschaft Max Josephs, der am 13. Oktober 1825 starb. Das Programm wurde in der Öffentlichkeit visualisiert, als 1824 in München die Regierungszeit Max Josephs gefeiert wurde. Zu diesem Anlass wurde auf dem Maximilianplatz eine ephemere Illumination in Gestalt eines Zirkus oder Hippodroms errichtet, in der mit 25 beleuchteten Transparentbildern im antikisierenden Stil - für jedes Regierungsjahr eines - dem Publikum Max Joseph (der Vater des Vaterlandes) und die königliche Familie, vor allem aber dem jeweiligen Jahr korrespondierende Reformmaßnahmen und politische Weichenstellungen präsentiert wurden. 105 Der König wurde als weiser und gerechter Landesvater vorgeführt, der im Inneren Wohlfahrt und Glückseligkeit gefördert, das Land ausgebaut und sicher durch die Kriegswirren geführt habe. Liebe und Licht [waren] sein [sc. Max Josephs] erstes Gebot (1800), er beförderte die Landescultur (1802), schuf [d]en Künsten eine neue Heimat (1808), wies durch die Anlage von Katastern jedem das Seine zu (1809), garantierte die Sicherheit der Person und des Eigenthums (1811), wirkte als Vater der Leidenden (1812), er ebnet[e] die Strasse und daemmt[e] den Strom (1815), gründet[e] der Gemeinden Wohl (1816), leistete Vaterhülfe in der Noth (1817), schenkte Bayern eine Verfassung (1818), schloss das Konkordat (1821). 106 Naturschätze, Gewerbefleiß und Handel ließen für Bayern die glücklichsten Zeiten erwarten. Dem stehe jedoch die Heterogenität der neu erworbenen Gebietstheile entgegen. Das Mutterland Baiern und alle damit verbundenen Nebenlaender hatten daher, so die an das Publikum in München gerichtete Botschaft, ihren ehemaligen besonderen Namen und Würden entsagt und alle trennenden Gesetze und Partikularverfassungen aufgehoben. Das Reich sei mit Umgehung aller erloschenen Verhaeltnisse in acht Kreise eingeteilt worden, wodurch alle Gegenden des Reiches bzw. Bezirke mit den Banden eines gemeinschaftlichen Vaterlandes umschlungen wurden. Diese weiten, schoenen Gefilde wurden fortan einer einheitlichen Gesetzgebung unterworfen, durch die Liebe eines 105 K ATHARINA H EINEMANN , Illuminationen in München in der Regierungszeit König Max Josephs I., in: J OHANNES E RICHSEN / D IES . (Hg.), Bayerns Krone 1806. 200 Jahre Königreich Bayern, München 2006, S. 63-72, hier 69f. 106 Vgl. die 1824 erschienene Dokumentation der Jubiläumsfeierlichkeiten (Feier des fünf und zwanzigjährigen Regierungs Jubiläums Seiner Majestät Maximilian Joseph I. Königes Von Baiern in Allerhöchstdesselben Residenzstadt München), gedruckt bei J. E RICHSEN / K. H EINEMANN (Hg.), Bayerns Krone (Anm. 105), S. 73-144. <?page no="192"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 193 Vaterlandes zusammengehalten und bildeten unter dem gemeinsamen Namen Baiern ein grosses, glückliches Reich. 107 In dieser harmonisierenden Zusammenschau war von den konkreten Bestandteilen des Reiches nicht die Rede. Zu 1818 zeigte das Gemälde die Gewährung der Verfassung, die die ganze Nation an der Staatsverwaltung teilhaben lasse. Adressiert waren die Baier[n], die Untertanen, die Stände des Reiches, aber nicht in stammesmäßiger Sonderung, sondern als Angehörige einer Staatsnation. Die Nation ordnete sich einem König zu, der den Ruhm seines Thrones nur von dem Glück des Vaterlandes und von der Liebe seines Volkes empfangen wollte. Damit korrespondierte die Selbstverpflichtung der Untertanen durch Eid: Jeder Baier hatte die Beobachtung einer Staatsverfassung zu beschwören, die als Grundgesetz einer wohlgeordneten Staatsverwaltung Baierns Wohl auf alle Weise befoerdern und sichern wird. 108 In der Propaganda des Jahres 1824 wurden den zeitgenössischen Betrachtern Integrationsangebote unterbreitet, die auch in der Regierungszeit König Ludwigs I. ab 1825 bestimmend bleiben sollten. Treu dem Koenige, treu dem Vaterlande zu dienen sei nicht nur eine militärische Tugend, sondern nütze auch im Frieden. 109 Treue stärkte die Bindung an den König, der im monarchischen Prinzip und in der dynastischen Idee die Grundlage seiner Politik sah. 110 König und Vaterland wurden 107 Dokumentation der Jubiläumsfeierlichkeiten 1824, in: J. E RICHSEN / K. H EINEMANN (Hg.), Bayerns Krone (Anm. 105), S. 124/ 125 (Fest haelt, was Liebe vereint. 1814). 108 Ebd., S. 132/ 133 (Sein Geschenk. 1818). 109 Ebd., S. 122/ 123 (In Treue fest. 1813), im Kontext von Ausführungen zur Kriegsgeschichte Bayerns. Zur durch Eide verbürgten Treue als Ressource politischer und sozialer Integration s. K ARL B ORROMÄUS M URR , »Treue bis in den Tod«. Kriegsmythen in der bayerischen Geschichtspolitik im Vormärz, in: N IKOLAUS B USCHMANN / D IETER L ANGE - WIESCHE (Hg.), Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt am Main-New York 2003, S. 138-174, hier 160-162, der aufgrund der von sämtlichen Funktionseliten, weiten Kreisen des Bürgertums und allen zum Wehrdienst einberufenen Männern abgeleisteten Treueeide »das gesamte bayerische Königreich überzogen [sieht] von einem sozial engmaschigen Netz von Eidesverpflichtungen, die allesamt an erster Stelle ein Treuegelöbnis gegenüber dem König enthielten« (162). 110 Zum monarchischen Prinzip (im Anschluss an Tit. II § 1 der Verfassung von 1818, vgl. K ARL M ÖCKL , Der moderne bayerische Staat. Eine Verfassungsgeschichte vom aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Reformepoche [Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, Abt. III, 1], München 1979, S. 250-261) und zur dynastischen Idee H ANS -M ICHAEL K ÖRNER , Geschichte des Königreichs Bayern, München 2006, S. 70, 74. H EINZ G OLLWITZER , Ludwig I. von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie, 2. Aufl. München 1987, S. 346 (Zitat), 391-403, weist darauf hin, dass Ludwig trotz der Geltung des monarchischen Prinzips ohne den Beamtenapparat seinen Herrschaftsanspruch nicht durchsetzen konnte - »der Staat [hatte] das Königtum längst überrundet«. Gleichwohl hielt er daran fest, sein Königsamt als Selbstherrscher auszuüben. Ebenso D IRK G ÖTSCHMANN , Franken im Griff der bayerischen Verwaltung, in: H ELMUT <?page no="193"?> E S TE B AN M AUE R ER 194 Fluchtpunkte der Loyalität der Untertanen. Diese wurden einem Staatspatriotismus verpflichtet, der die Altbayern, Franken, Schwaben und Pfälzer zu Mitgliedern einer gemeinsamen Nation machen sollte, hatte Ludwig doch das Königreich Bayern in der Gesammtvereinigung aller seiner ältern und neuern Gebietstheile geerbt. 111 In diesem Kontext blieb die Verfassung von 1818 wichtig, zum einen durch die Garantie staatsbürgerlicher, das heißt allgemeiner Rechte und Pflichten, zum anderen durch die Repräsentation der Nation auf dem Landtag und damit verbundene Chancen politischer Partizipation. 112 Das monarchische Interesse an der »Verfassung als Instrument der Staatsintegration« floss mit den Verfassungsinteressen des liberalen Bürgertums zusammen. 113 Der Jurist Feuerbach äußerte daher, erst mit der Verfassung von 1818 habe der König Ansbach und Bayreuth, Würzburg, Bamberg u.s.w. erobert. 114 Die (gute) Verfassung, so war 1823 in einer politischen Zeitschrift zu lesen, verbürge insoweit Vaterlands-Liebe und verbände Staat und Gesellschaft, Regierung und Bürger. 115 F LACHENECKER / H ANS H EISS (Hg.), Franken und Südtirol. Zwei Kulturlandschaften im Vergleich (Veröff. des Südtiroler Landesarchivs 34/ Mainfränkische Studien 81), Innsbruck 2013, S. 111-120, hier 118: Ludwig war ein »autokratischer Herrscher und duldete keine Einschränkung seiner Herrschaftsgewalt«; er wollte »nicht nur herrschen, sondern auch regieren« und auf allen Ebenen in die Verwaltungsvorgänge eingreifen. 111 Patent zur Verkündung des Regierungsantritts König Ludwigs I. vom 23. Oktober 1825, in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), Nr. 391, S. 1687f., Zitat 1688. 112 Druck der Verfassungsurkunde des Königreichs Baiern vom 26. Mai 1818 und der ergänzenden Edikte z. B. bei M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), Nr. 376, S. 1387- 1530. Vgl. K. M ÖCKL , Staat (Anm. 110), S. 238-281; E. W EIS , Begründung (Anm. 37), S. 117-123; M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3), S. 138-238. 113 R EINHARD B LÄNKNER , Integration durch Verfassung? Die »Verfassung« in den institutionellen Symbolordnungen des 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: H ANS V ORLÄNDER (Hg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 213-236, hier 221; im Ergebnis gleiche Einschätzungen bei D. J. W EISS , 200 Jahre (Anm. 42), S. 182; W. K. B LESSING , Franken (Anm. 27), S. 289 (»integrative[r] Verfassungspatriotismus«). 114 A NSELM R ITTER VON F EUERBACH , Biographischer Nachlaß. Veröffentlicht von seinem Sohne L UDWIG F EUERBACH , 2., verm. Ausgabe Leipzig 1853, Bd. 2, S. 113 (Brief vom 27. März 1819). 115 Entwurf eines Verfassungs-Katechismus für Volk und Jugend in den deutschen konstitutionellen Staaten, in: [J OHANN C HRISTOPH VON A RETIN (Hg.)], Konstitutionelle Zeitschrift 1 (1823), S. 321-364, hier 364 (13. Hauptstück: Von der Vaterlands-Liebe). <?page no="194"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 195 7. Integration unter neuen Bedingungen: König Ludwig I. Die Konstruktion einer bayerischen Nation wurde unter dem Aspekt der Verzahnung der altmit den neubayerischen Gebieten in der Regierungszeit Ludwigs I. eines der vorrangigen Politikziele - jedoch mit einer neuen Akzentsetzung. 116 Der politische Begriff ›Nation‹ bezeichnete weiterhin den egalitären Untertanenverband, die »Gesamtheit der unter der bayerischen Krone vereinigten Menschen«, 117 doch wurden die Schwaben und Franken nicht gleichsam unter den Nationsbegriff subsumiert, sondern als distinkte Teile des bayerischen Volkes 118 zunehmend hervorgehoben. Denn Ludwig wollte aufgrund seiner Aufmerksamkeit für das »Landschaftlich-Besondere«, das »Geschichtlich-Eigentümliche«, die regionalen Unterschiede des jungen, erst zwei Jahrzehnte existierenden Königreichs nicht nivellieren, sondern unter der überwölbenden Einheit eines bayerischen Nationalgefühls sichtbar machen. 119 Nicht zufällig kamen der Geschichts-, der Bau- und Denkmalspolitik, auch der Kunstpolitik im Kontext ideologischer Integration besondere Bedeutung zu. Zu nennen sind etwa Bauten in München, mit denen Ludwig die neuen Territorien »gleichsam ins Erscheinungsbild der Haupt- und Residenzstadt« mit hineinnehmen wollte (z. B. im Giebelschmuck der Ruhmeshalle), die Denkmalstiftungen in den neubayerischen Gebieten (z. B. 1840 für Albrecht Dürer in Nürnberg, 1841 für Jean Paul in Bayreuth, 1843 für Markgraf Friedrich von Brandenburg-Bayreuth in Erlangen, 1857 für Hans Jakob Fugger in Augsburg), nicht 116 Vgl. A NDREAS K RAUS , Die Regierungszeit Ludwigs I. (1825-1848), in: HBG IV/ 1, S. 127-234, hier 129, der als Defizit der Regierung Max Josephs benennt, dass »Franken, Schwaben und die Pfalz mit dem alten Bayern [noch] nicht wirklich zusammengewachsen waren«, woraus sich die eine Hauptaufgabe von Ludwigs Politik ergab (die andere war der verfassungspolitische Ausgleich zwischen bürokratischem Staat und dem Verlangen der Bürger nach Selbstbestimmung). Zu den Handlungsfeldern und Leitideen Ludwigs prägnant H.-M. K ÖRNER , Geschichte (Anm. 110), S. 68-75. Zusammenfassende Würdigung der Regierung Ludwigs: L UDWIG H OLZFURTNER , Die Wittelsbacher. Staat und Dynastie in acht Jahrhunderten, Stuttgart 2005, S. 384-407. 117 D IETMAR W ILLOWEIT , Auf dem Weg zur bayerischen Nation. Chancen und Grenzen des bayerischen Königtums im 19. Jahrhundert, in: A. S CHMID (Hg.), 1806 (Anm. 57), S. 210-228, hier 219f., Zitat 220. 118 König Ludwig I. verwendete den Begriff Volk als Synonym von Nation; vgl. etwa eine Äußerung von 1832: Statt des Ausdruckes »Nation« bei Inschriften für Denkmale und wo immer sich desselben bedient werden will, soll das Wort »Volk« gebraucht, also nicht: »die bayerische Nation« sondern »das bayerische Volk« gesetzt werden. Signate König Ludwigs I., ausgew. u. eingel. v. M AX S PINDLER , hg. v. A NDREAS K RAUS , Bd. 1-6 u. Registerbd. (Materialien zur bayerischen Landesgeschichte 1-6, 12), München 1987-1997, hier Bd. 2, S. 146, Nr. 503. 119 H. G OLLWITZER , Ludwig I. (Anm. 110), S. 350; vgl. 351-361 zum innerbayerischen Regionalismus (Altbayern, Franken, Pfalz; schwach ausgeprägte »politische Physiognomie« der Schwaben und Oberpfälzer). <?page no="195"?> E S TE B AN M AUE R ER 196 zuletzt die Organisation eines lückenlosen Netzes von Geschichtsvereinen in den acht Kreisen des Königreichs. 120 Zur Sensibilisierung für historisch-geographische Besonderheiten und Eigenarten hatte beigetragen, dass Ludwig 1816 die Schlösser in Würzburg und Aschaffenburg als Residenzen zugewiesen worden waren, die fortan auch Bezugsorte für den fränkischen Adel wurden. Der Kronprinz lebte dort in den Jahren der Vorbereitung auf das Herrscheramt. 121 Politische Reisen durch den Oberdonaukreis 1829, durch den Obermainkreis 1830 hatten zusätzliche Eindrücke beim König (aber auch bei den Untertanen) hinterlassen. 122 Die wahrgenommenen Unterschiede 120 H.-M. K ÖRNER , Geschichte (Anm. 110), S. 75-83, Zitat 81; breitflächig ausgeführt in D ERS ., Staat und Geschichte in Bayern im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 96), München 1992; vgl. V. S ELLIN , Nationalbewusstsein (Anm. 56), S. 297-300 (auch zur ideologischen Integration als Konzept); K ARL B ORROMÄUS M URR , Nation, Emotion und Geschichte - Zur Konstruktion eines bayerischen Nationalgefühls unter König Ludwig I. (1825-1848), in: M ICHAEL Z ÖLLER (Hg.), Vom Betreuungsstaat zur Bürgergesellschaft - Kann die Gesellschaft sich selbst regeln und erneuern? (Veröff. der Hanns Martin Schleyer-Stiftung 55), Köln 2000, S. 176-183; D ERS ., Die Konstruktion von historischen Identitäten: König Ludwigs fränkische Denkmäler, in: W ERNER K. B LES - SING / D IETER J. W EISS (Hg.), Franken. Vorstellung und Wirklichkeit in der Geschichte (Franconia 1), Neustadt a. d. Aisch 2003, S. 289-337; I NA U LRIKE P AUL / U WE P USCHNER , Regieren aus der Geschichte - Ludwig I. von Bayern, in: P IERRE B ÉHAR / F RANÇOISE L AR - TILLOT / U WE P USCHNER (Hg.), Médiation et conviction. Mélanges offerts à Michel Grunewald, Paris 2007, S. 363-377; D IETMAR S CHIERSNER , Erinnerungskulturen in Augsburg und Nürnberg. Konrad Peutinger (1465-1547) und Willibald Pirckheimer (1470-1530), in: R OLF K IESSLING / G ERNOT M ICHAEL M ÜLLER (Hg.), Konrad Peutinger. Ein Universalgelehrter zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit: Bestandsaufnahme und Perspektiven (Colloquia Augustana 35), Berlin-Boston 2018, S. 169-199, hier 181. Zur Kunstpolitik v. a. H ANNELORE P UTZ , Für Königtum und Kunst. Die Kunstförderung König Ludwigs I. von Bayern (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 164), München 2013, S. 303-314 (»Kunst als Medium der Politik«); D IES ., Ludovicianische Personendenkmale - monarchische Repräsentation im Königreich Bayern, in: ZHVS 106 (2014), S. 81-93, 91 zur integrativen Funktion von Personendenkmalen, die die »Sichtbarkeit des Königtums in ganz Bayern« erhöhten. 121 D IETER J. W EISS , König Ludwig I. und Franken, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 60 (2000), S. 451-467, hier 454f.; H. G OLLWITZER , Ludwig I. (Anm. 110), S. 232. 122 Vgl. T HEODOR R OLLE , Die Reise König Ludwigs I. von Bayern durch den Oberdonaukreis und nach Augsburg im Jahre 1829, in: ZHVS 80 (1986/ 87), S. 9-65 (59: die Reise »trug bei zu der für den neubayerischen Staat fundamental wichtigen Identitätsfindung, bestätigte das spezifisch ludovizianische Konzept, daß nicht die Eliminierung der historisch und stammesmäßig gewachsenen Eigenarten zukunftsträchtig ist, sondern deren Integration in ein gesamtstaatliches Bewußtsein«); S TEFAN F ISCHER , Die Reise König Ludwigs I. durch den Oberdonaukreis 1829 und ihre staatsintegrierende Funktion, in: ZBLG 55 (1992), S. 179-189 (189: sieht die Hauptbedeutung der Reise darin, »daß Ludwig […] durch <?page no="196"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 197 sollten keineswegs in ein - womöglich separatistisches - Sonderbewusstsein münden, sondern vielmehr als regionale Besonderheiten der einzelnen Landesteile unter dem Dach der bayerischen Gesamtstaatstradition erhalten bleiben; insofern widersprachen sie der Staatseinheit keineswegs. 123 Um die staatliche Einheit augenfällig zu machen, dachte Ludwig bald nach dem Regierungsantritt an eine Änderung des Staatswappens. Dabei wollte er nicht etwa gleiche Flächen und Einwohnerzahl visuell im Wappenbild repräsentieren, sondern er wünschte die Änderung, damit das Verwandte, das was zusammengehört, zusammenkomme. Denn Einheit werde nicht bewirkt, indem man den Bestandteilen eines Staates die angestammten Stämme nimmt, […] sondern durch Liebe und Vertrauen. 124 Eingehende Überlegungen gingen insoweit der Neufassung des Wappens 125 und der Königstitulatur voraus, die dem Wunsch des Königs gemäß bezeichnen sollte, daß das Königreich aus vier Völkerstämmen von Bayern, Franken, Schwaben und vom Rhein bestehe. 126 Durch Verordnung vom 18. Oktober 1835 nannte Ludwig sich König von Bayern, Pfalzgraf bei Rhein, Herzog von Bayern, Franken und in Schwaben 127 und definierte die Staatlichkeit Bayerns damit von seinen Teilen her, nicht vom Zentrum ausgehend, auch wenn das Königtum an erster Stelle seine Betonung des Emotionellen ein langsam wachsendes Zusammengehörigkeitsgefühl in Schwaben und eine Zugehörigkeitsgefühl zum Staate Bayern bestärkt hat«); K ARL M ÜSSEL , Der Besuch des bayerischen Königs Ludwig I. im Obermainkreis 1830, in: AO 81 (2001), S. 53-80 (78: »[…] die integrative Wirkung der Reise in den neubayerischen Norden« darf nicht unterschätzt werden). H. G OLLWITZER , Ludwig I. (Anm. 110), S. 771, gibt zu bedenken: »Jubel hauptstädtischer Bevölkerung aus offiziellem Anlaß, Kundgebungen der Loyalität bei Besuchsfahrten des Herrschers in der Provinz darf man nicht überschätzen.« 123 M AX S PINDLER , Die Regierungszeit Ludwigs I. (1825-1848), in: HBG IV/ 1, S. 87-223, hier 133f. 124 Notiz vom 1. Januar 1826, Nachlass Ludwigs I., Archivdokument, zit. nach W. V OL - KERT , Kreise (Anm. 80), S. 315. 125 Dazu W ILHELM V OLKERT , Die Wappenabzeichen des Landes Bayern (»Insignia armorum terrae Bavariae«), in: ZBLG 44 (1981), S. 675-692, hier 690. Abbildung des Wappens von 1835: Regierungs-Blatt für das Königreich Bayern 1835, nach Sp. 892. Das Wappen von 1835 zeigte die sich auf die vier Landesteile ([…] die Lande, welche die göttliche Vorsehung in dem bayerischen Reiche zu einem innig verbundenen Ganzen vereiniget hat […]: Verordnung betr. das königliche Wappen und Siegel vom 18. Oktober 1835, in: Regierungs-Blatt für das Königreich Bayern 1835, Sp. 889-894, hier 889) beziehenden heraldischen Bilder. Die 1806/ 07 eingeführten Wappen waren einer anderen Staatsauffassung verpflichtet gewesen, so W. V OL - KERT , Wappenabzeichen, S. 689: »Die staatliche Gebietsintegration ordnete alle Landesteile einem einheitlichen Sinnbild unter; die historischen Bilder der einzelnen Landesteile wurden mit Vorbedacht beseitigt.« 126 Vgl. Signate König Ludwigs I. (Anm. 118), Bd. 2, S. 616, Nr. 360 (11. Juni 1835) (Zitat); S. 680, Nr. 578 (18. Oktober 1835); S. 729, Nr. 767 (1835). 127 Verordnung betr. das königliche Wappen und Siegel vom 18. Oktober 1835, in: Regierungs- Blatt für das Königreich Bayern 1835, Sp. 889-894, hier 892. <?page no="197"?> E S TE B AN M AUE R ER 198 stand. 128 Der König ließ sich von folgenden Überlegungen leiten: Immer seien seine Vorgänger Herzöge von Bayern gewesen. Er selbst besitze einen großen Teil der Pfalzgrafschaft, sei berechtigt, in der Rechtsnachfolge des Fürstbischofs von Würzburg den Titel Herzog von Franken und aufgrund der Mediatisierung des Bischofs von Augsburg den Titel Fürst in Schwaben (letztlich wählte er auch für Schwaben den Herzogstitel) zu führen. 129 Im Kontext der Sichtbarmachung historischer Raum- und Stammesnamen erließ Ludwig 1837 nach längeren Vorbereitungen eine neue Kreiseinteilung. 130 Eine 1834 vom Innenminister Ludwig Fürst zu Oettingen-Wallerstein (1791-1870) nach den Vorstellungen Ludwigs gezeichnete Karte des Königreichs zeigte die Intention der Reform, wurden doch die Altbayern, Pfälzer (mit Oberpfalz), Franken und Schwaben jeweils unterschiedlich farblich gekennzeichnet. Eine zweite Karte mit den Kreisen von 1817 verdeutlichte die Unmöglichkeit, die (imaginierten) historischen Raumbildungen mit den bestehenden mittleren Verwaltungsebenen in Übereinstimmung zu bringen (Abb. 1). 131 Eine Lösung des Problems war daher nur von einer neuen Kreiseinteilung zu erwarten. In der Verordnung vom 29. November 1837 ließ der König mitteilen, mehrere der edelsten teutschen Volksstämme […], deren Vergangenheit reich an den erhabensten Vorbildern jeder Tugend und jeglichen Ruhmes sei, seien unter seiner Herrschaft vereinigt. Es gelte, die Erinnerung an diese erhebende Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen, die alten, geschichtlich geheiligten Marken der dem König untergebenen Lande möglichst wiederherzustellen, die Einteilung und Benennung der Landesteile auf die ehrwürdige Grundlage der Geschichte zurückzuführen, und so die durch alle Zeiten bewährte treue Anhänglichkeit der Untertanen an Thron und Vaterland, die Volksthümlichkeit und das Nationalgefühl zu erhalten und immer mehr zu befestigen. 132 128 Vgl. H.-M. K ÖRNER , Geschichte (Anm. 110), S. 83. 129 W. V OLKERT , Kreise (Anm. 80), S. 315. 130 Gollwitzer verortet die Umbenennung der Kreise im Denkrahmen eines »romantischen« bzw. »politischen« Historismus, der Ludwig auch bei anderen Gelegenheiten geleitet habe. H EINZ G OLLWITZER , Ein Staatsmann des Vormärz: Karl von Abel 1788-1859. Beamtenaristokratie - Monarchisches Prinzip - Politischer Katholizismus (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 50), Göttingen 1993, S. 340; D ERS ., Ludwig I. (Anm. 110), S. 363. 131 Beschreibung der im Nachlass Ludwigs I. befindlichen Karten bei W. V OLKERT , Kreise (Anm. 80), S. 316f. 132 Verordnung betreffend die Eintheilung des Königreichs Bayern vom 29. November 1837, in: M. K OTULLA , Verfassungsrecht (Anm. 3). Nr. 366/ 1, S. 1312-1314, hier 1312 (Präambel); 1313f. eine Auflistung der einzelnen Bestandteile der neuen Kreise. <?page no="198"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 199 Die Karte des Königreichs Bayern - gezeigt wird im Ausschnitt das rechtsrheinische Bayern - stellt die ›alten Provinzen‹ in Flächenfärbung dar. Darübergelegt sind die Kreisgrenzen von 1817. <?page no="199"?> E S TE B AN M AUE R ER 200 Bayern blieb in acht, teilweise neu zusammengesetzte Kreise eingeteilt, die allerdings nicht mehr nach Flüssen benannt wurden, sondern Stammesnamen 133 und territorialgeschichtliche Sachverhalte berücksichtigten: Oberbayern, Niederbayern, Pfalz, Oberpfalz und Regensburg, Oberfranken, Mittelfranken, Unterfranken und Aschaffenburg, Schwaben und Neuburg. In unserem Zusammenhang sind die fränkischen und schwäbischen Kreise von Interesse. Schon der preußische Gesandte August Graf von Dönhoff (1797-1874) wunderte sich in seinem Bericht an König Friedrich Wilhelm III. vom 4. Dezember 1837, dass einerseits die Intention bestand de revenir à l’ancienne distribution historique qui existait du tems [! ] de St. Empire, andererseits aber die Neuschöpfung keine geschichtliche Grundlage habe, denn es habe niemals ein Ober-, Unter- oder Mittelfranken als Territorium oder Verwaltungsregion existiert. 134 Zu ergänzen ist, dass die Bezeichung Mittelfranken »künstlich« wirkt, da es eher in der Mitte von Bayern als zwischen Ober- und Unterfranken liegt. 135 Im Falle des Stammesnamens Schwaben reklamierte der König erfolgreich die übergreifende Bezeichnung des Alamannenstammes für den staatlichen Bereich des bayerischen Schwabens, eine Bezeichnung, die anderweitig nirgends für einen Administrationsbezirk verwendet wird. Erweitert wurde der Stammesname durch die Koppelung mit dem seit 1505 bestehenden wittelsbachischen Herzogtum Pfalz-Neuburg. Ludwig verwies damit auf einen dynastiegeschichtlichen Aspekt, verdankte das Herzogtum Pfalz-Neuburg doch allein den »Familienquerelen der Wittelsbacher« seine Existenz (das Herzogtum war aus altbayerischen, fränkischen und schwäbischen Landesteilen willkürlich zusammengesetzt). 136 Mit der Hervorhebung Aschaffenburgs sollte schließlich gezeigt werden, dass der westliche Teil des Kreises Unterfranken eine gegenüber dem Hochstift Würzburg selbständige Entwicklung durchlaufen habe; auch erinnerte die Benennung an den bevorzugten Aufenthaltsort des Königs in Unterfranken. 133 Unter Stamm stellte sich die Romantik eine gewachsene, organische Einheit vor, die über Abstammung, Sitten, Bräuche, Mundart, Kultur und Lebensweise verbunden war und gemeinsame Charaktereigenschaften teilte; so M ARTINA S TEBER , Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS- Regime (Bürgertum NF: Studien zur Zivilgesellschaft 9), Göttingen 2010, S. 44. 134 Gesandtschaftsberichte aus München 1814-1848, Abt. III: Die Berichte der preußischen Gesandten, bearb. v. A NTON C HROUST , Bd. 3 […] (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 41), München 1950, Nr. 597, S. 4f., hier 4. - K ARL M ÜSSEL , Oberfranken in den Jahren 1837/ 38. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Regierungsbezirks, in: AO 68 (1988), S. 171-291, hier 194-200, bestätigt, dass die Dreiteilung Frankens nie bestand, doch lassen sich frühneuzeitliche Belege des Namens Oberfranken finden. 135 Vgl. W. V OLKERT , Kreise (Anm. 80), S. 320f., Zitat 320; H. G OLLWITZER , Ludwig I. (Anm. 110), S. 363, jeweils auch zum folgenden. 136 W. V OLKERT , Kreise (Anm. 80), S. 321. <?page no="200"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 201 Wie der preußische, der österreichische und der französische Gesandte aus München berichteten, urteilte das Publikum über die administrative Neuschöpfung des Jahres 1837 mit einer Mischung aus Irritation und Ablehnung. 137 Das änderte nichts daran, dass die neuen Bezeichnungen, die »gleichsam die Identität der historischen Stämme« verbürgten, sich schon bald einbürgerten. Ludwigs Zielvorstellung, die neubayerischen Untertanen durch Förderung ihres historischen Gedächtnisses und damit ihrer historischen Identität an den bayerischen Staat zu binden, war erfolgreich. 138 Die erfundene Tradition hatte Bestand. Die neuen Raumbildungen prägten sich den Menschen schon nach kurzer Zeit im alltäglichen Verwaltungsvollzug ein. 139 Mehr noch: Die von König Ludwig I. initiierte Rückbesinnung auf Traditionen der fränkischen Territorien im Kontext des Stämmestaates Bayern belebte gleichsam von außen die Ausbildung eines fränkischen Regionalbewusstseins. Es konnte an ein in der Spätphase des Alten Reiches bzw. in der Spätaufklärung präsentes Gemeinschaftsbewusstsein anknüpfen, das sich einerseits als Elitendiskurs über den jenseits territorialer Grenzen bestehenden gemeinsamen Raum ›Franken‹ formte, andererseits lebensweltlich-konkret in der Alltagswirklichkeit des politisch aktiven Fränkischen Reichskreises verankert war. 140 137 Vgl. Gesandtschaftsberichte Abt. III/ 3 (Anm. 134), S. 4; Gesandtschaftsberichte aus München 1814-1848, Abt. I: Die Berichte der französischen Gesandten, bearb. v. A NTON C HROUST , Bd. 4 […] (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 22), München 1936, Nr. 771, S. 4f. (Baron Paul de Bourgoing an Graf Molé, 8. Dezember 1837); Gesandtschaftsberichte aus München 1814-1848, Abt. II: Die Berichte der österreichischen Gesandten, bearb. v. A NTON C HROUST , Bd. 3 […] (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 37), München 1942, Nr. 882, S. 3f. (Theodor Ritter v. Kast an den Fürsten Metternich, 17. Dezember 1837); dazu die oben zit. Äußerung von J. A. S CHMELLER , Tagebücher, Bd. 2 (Anm. 1), S. 254. 138 V. S ELLIN , Nationalbewusstsein (Anm. 56), S. 297-299, Zitat 299; im Ergebnis gleiche Einschätzung bei M. S TEBER , Ethnische Gewissheiten (Anm. 133), S. 44. 139 Hinweise bei K. M ÜSSEL , Oberfranken (Anm. 134), S. 218f. H. G OLLWITZER , Staatsmann (Anm. 130), S. 340, konzediert, die Kreiseinteilung habe »immerhin ein gewisses Kollektivbewußtsein« erzeugt. 140 Ich versuche hier in aller Kürze einen vermittelnden Standpunkt zwischen entgegengesetzten Positionen der Forschung einzunehmen. Vgl. einerseits H. G OLLWITZER , Ludwig I. (Anm. 110), S. 358; D. J. W EISS , König Ludwig I. (Anm. 121), S. 458-461, insbesondere die Beobachtung (454), dass es beim Übergang der fränkischen Territorien an Bayern kein gesamtfränkisches Bewusstsein gegeben habe, sondern Reichspatriotismus sowie antibayerische (teilweise preußenfreundliche) und partikulare Traditionen und Interessen. Ebenso D ERS ., 200 Jahre (Anm. 42), S. 177, 185. Der von Gollwitzer und Weiß thesenartig formulierte Befund wird mit Blick auf unterschiedliche soziale Schichten bzw. Milieus differenziert entfaltet von W. K. B LESSING , Franken (Anm. 27), S. 289-293; D ERS ., Franken im Bayern des 19. Jahrhunderts. Bemerkungen zu einem labilen Horizont, in: D ERS ./ D IETER J. W EISS (Hg.), Franken (Anm. 120), S. 339-363, hier 345-349; vgl. D ERS ., Regionalisierung <?page no="201"?> E S TE B AN M AUE R ER 202 Im Verbund mit starken Partizipationschancen der Franken gelang im 19. Jahrhundert die Integration auf der sozialen, politischen, rechtlichen und administrativen Ebene. 141 In Schwaben wurden insbesondere weiterwirkende lokale und regionale Identitäten aufgegriffen und in Bezug zur einheitsstiftenden Person des Königs bzw. zur Dynastie der Wittelsbacher gesetzt, um ein bayerisches Nationalgefühl auszubilden, das im Ergebnis politische Loyalität bewirkte. 142 Für alle Bayern galt, dass die auf den Nahbereich gründenden raumbezogenen Identitäten in letzter Konsequenz auf den König und die Dynastie zu beziehen waren, die auf der Grundlage des monarchischen Prinzips Einheit und Bestand des Staates garantierten. 143 Insofern war die Integration des Gesamtstaates immer wichtiger als die Pflege der regionalen Besonderheit. 144 (Anm. 27), S. 376: »Erst in Bayern entstand ein von politischen Grenzen befreites, von inneren Konflikten entlastetes, bis in die Unterschichten reichendes fränkisches Wir- Gefühl«. Andererseits G EORG S EIDERER , Der »Tag der Franken« - Identitätsstiftung zwischen Erinnerung und Politik, in: A NDREA M. K LUXEN / J ULIA H ECHT (Hg.), Tag der Franken. Geschichte - Anspruch - Wirklichkeit (Geschichte und Kultur in Mittelfranken 1), Würzburg 2010, S. 69-92. Er gibt zu bedenken, dass die Politik König Ludwigs »zweifellos in erheblichem Maße dazu bei[trug], dass in Franken ein fränkisches Regionalbewusstsein lebendig blieb, das zugleich in zunehmendem Maße auch in den drei Kreisen bzw. Regierungsbezirken einen Kristallisationspunkt fand« (84). Doch sei besagtes Regionalbewusstsein mitnichten erst mit König Ludwig I. entstanden, sondern etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als regionale, auf den Fränkischen Kreis bezogene Identität in den Quellen erkennbar (vgl. 86: »fränkisches Gemeinschaftsbewusstsein«). Ein fränkischer Regionalismus, »der sich als eine Art von Sonderbewusstsein innerhalb Bayerns verstand und zugleich mit politischen Zielsetzungen verband« (87), habe sich dagegen erst im neuen Bayern entwickelt bzw. überhaupt entwickeln können. Zum Fränkischen Kreis als Bezugsraum kollektiver Identitäten vgl. auch G ERHARD R ECHTER , Der fränkische Reichskreis, in: A. M. K LU - XEN / J. H ECHT (Hg.), Tag der Franken, S. 17-30, hier 28-30 (29: »Ansätze [zu] einer ›Gedenk- und Erlebnisgemeinschaft‹ […], zu einer ›fränkischen Gemeinschaft‹ als Gemeinschaft seiner Mitglieder«). 141 Für Franken betont von D. G ÖTSCHMANN , Franken (Anm. 110), S. 120; näher ausgeführt in D ERS ., 200 Jahre Königreich Bayern - für Franken ein Grund zu feiern? , in: Frankenland 58 (2006), S. 143-151, hier 149-151, mit Blick auf Funktionseliten, v. a. die höhere Beamtenschaft und die Abgeordneten zur Ständeversammlung. So auch W. K. B LESSING , Staatsintegration (Anm. 40), S. 667f. Vgl. zur Elitenintegration M ARKO K REUTZMANN , Die höheren Beamten des Deutschen Zollvereins. Eine bürokratische Funktionselite zwischen einzelstaatlichen Interessen und zwischenstaatlicher Integration (1834-1871) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 86), Göttingen 2012, S. 52f., der einen hohen Anteil von Mitgliedern der früheren fränkischen Reichsritterschaft unter den bayerischen Zollvereinsbevollmächtigten ermittelt. 142 R. K IESSLING , Schwabens Weg (Anm. 57), S. 160, 163-167. 143 Zur oft betonten integrativen Rolle der Dynastie vgl. die Beobachtungen von W OLF - GANG W ÜST , Krone und Integration. Zur staatstragenden Rolle des Hauses Wittelsbach in <?page no="202"?> F R ANKEN U ND S CHW A BEN IM K ÖNIGR EICH B AY E RN 203 8. Zusammenfassung Das Kurfürstentum, dann Königreich Bayern vergrößerte seit 1802/ 03 in mehreren Erwerbungsschüben sein Territorium in beträchtlichem Maße. Sieht man von der linksrheinischen Pfalz ab, so expandierte Bayern vor allem in den schwäbischen und fränkischen Raum. Territorien mit unterschiedlichen Verfassungen, Traditionen und Besonderheiten kamen unter bayerische Herrschaft und damit zugleich Menschen, deren kollektive Identitäten im Alten Reich, im Schwäbischen oder Fränkischen Kreis, vor allem aber im territorialen Nahbereich jeweils unterschiedlich geprägt worden waren. Diese Unterschiedlichkeit in eine staatsbayerische Identität zu überführen war ein vordringliches politisches Ziel im jungen Königreich. Die Altwie auch die Neubayern sollten in einen Reformstaat integriert werden, der nach Grundsätzen der Vernunft zu konstruieren war. Der Staat sollte Loyalitäten und Zugehörigkeitsgefühle auf sich ziehen, gerade weil er die unzweckmäßige Verschiedenheit der ständischen Ordnung hinter sich gelassen hatte. An deren Stelle trat der zentralisierte, rational geplante Leistungsstaat, der störende intermediäre Gewalten auflöste. Tradierte Identitäten und regionale Ableitungen aus der Zeit des Alten Reiches waren insofern überflüssig. Die sich als bürokratischer Staatsabsolutismus vollziehende administrative Integration der Ära Montgelas wurde in der Regierungszeit König Ludwigs I. in eine neue Weise der Vergemeinschaftung transformiert. Die innerterritoriale Homogenisierung blieb weiterhin eine wichtige politische Aufgabe, wurde gleichzeitig aber gekoppelt an ein vom König belebtes regionales, auf historische Stammesnamen verweisendes Herkunftsbewusstsein, das von einem auf König und Dynastie gründenden gesamtbayerischen Nationalbewusstsein überwölbt werden sollte. Auf der Grundlage der Erfindung einer Tradition bildeten sich langfristig neue Identitäten, die zur politischen und mentalen Integration des Königreichs Bayern nicht wenig beitrugen. Der preußische Ministerpräsident und Minister des Auswärtigen Otto von Bismarck lag insofern nicht falsch, als er 1865 feststellte: Bayern ist vielleicht das einzige deutsche Land, dem es durch seine materielle Bedeutung[,] durch die bestimmt ausgeprägte Stammeseigentümlichkeit und die Begabung seiner Herrscher gelungen ist, ein wirkliches und in sich selbst befriedigtes Nationalgefühl auszubilden. 145 Franken und Schwaben 1806-1918, in: A LOIS S CHMID / H ERMANN R UMSCHÖTTEL (Hg.), Wittelsbacher-Studien. Festgabe für Herzog Franz von Bayern zum 80. Geburtstag (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 166), München 2013, S. 679-695. 144 H. G OLLWITZER , Ludwig I. (Anm. 110), S. 364; D. J. W EISS , 200 Jahre (Anm. 42), S. 184. 145 Bismarck an Heinrich VII. Prinz Reuß, 5. März 1865, in: Bismarck. Die gesammelten Werke, Bd. 5: Politische Schriften 1864 bis 1866, bearb. v. F RIEDRICH T HIMME , Berlin 1928, Nr. 72, S. 115-117, hier 116. Zum Kontext der Äußerung s. O TTO P FLANZE , Bismarck. Der Reichsgründer. Aus dem Englischen v. P ETER H AHLBROCK , München 1997, S. 396. <?page no="204"?> 205 K ATRIN H OLLY Spezifische Kennzeichen der Industrialisierung in Bayerisch-Schwaben und Oberfranken im 19. Jahrhundert In diesem Beitrag werden Kennzeichen der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts in Bayerisch-Schwaben und Oberfranken 1 vorgestellt, welche ganz spezifisch für diese Untersuchungsregionen sind. Deshalb werden vor allem Merkmale thematisiert (1), die besonders signifikante Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten des Industrialisierungsvorgangs in den Vergleichsregionen bedingen. Dabei spielten u. a. ausgewählte Faktoren, welche die Ansiedlung von Industriebetrieben an einem bestimmten Standort beeinflussten, 2 eine besondere Rolle. 3 Hinzu kommt als integrales Begleitphänomen der Industrialisierung die Entwicklung einer Hausindustrie, die gesondert betrachtet wird (2). Im Anschluss werden die daraus folgenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Untersuchungsgebiete (3) vorgestellt. 1 Als Untersuchungsräume ›Schwaben‹ und ›Oberfranken‹ sind in diesem Beitrag folgendermaßen definiert: Kreis Schwaben und Neuburg im neuen Gebietsstand von 1862 ohne das Bezirksamt Neuburg an der Donau sowie der Kreis Oberfranken im neuen Gebietsstand von 1862; vgl. dazu W ILHELM V OLKERT (Hg.), Handbuch der bayerischen Ämter, Gemeinden und Gerichte 1799-1980, München 1983, S. 402, Pkt. b, 404, Pkt. b. 2 Die Wirtschaftswissenschaften und -geschichte sowie die Geographie haben verschiedene Instrumente für die Untersuchung von Standortfaktoren zur Verfügung gestellt, beispielhaft sei hier nur für die Wirtschaftsgeographie genannt: O LIVER F ARHAUER , Standorttheorien. Regional- und Stadtökonomik in Theorie und Praxis, Wiesbaden 2013. 3 So wird die staatliche Wirtschaftspolitik, die beide Untersuchungsregionen ohne Unterschied betraf, nur in Einzelfällen behandelt. Die Wirkung staatlicher Wirtschaftspolitik wird sehr zurückhaltend bewertet, auch der Einfluss der Kommunen war gering, da die Genehmigung der Industrieansiedlung Aufgabe der staatlichen Behörden war. Zu Oberfranken und Schwaben vgl. hierzu W OLFGANG Z ORN , Probleme der Industrialisierung Oberfrankens im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 29 (1969), S. 265- 310, hier 300; K ARL B ORROMÄUS M URR , Die Entwicklung der bayerisch-schwäbischen Textilindustrie im »langen« 19. Jahrhundert, in: D ERS . u. a. (Hg.), Die süddeutsche Textillandschaft. Geschichte und Erinnerung von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart (Franconia 3), Augsburg 2010, S. 39-65, hier 49-51, 62-65. <?page no="205"?> K ATRIN H OLLY 206 1. Spezifische Merkmale der Industrialisierung in Oberfranken und Schwaben 1.1 Die Rolle der Energieversorgung Wichtigstes Kennzeichen der Industrialisierung Schwabens ist die Energiegewinnung aus Wasserkraft. In Augsburg waren seit dem Mittelalter Lechanstiche angelegt und das Wasser in Kanälen in die Stadt geleitet worden, die wegen ihres starken Gefälles eine hohe Energieausbeute ermöglichten. Im 19. Jahrhundert kamen Kanalbauten hinzu, die Wasser aus der Wertach führten. Entlang dieser Kanäle siedelten sich in Augsburg und seinen unmittelbaren Vororten Industriefirmen an. 4 Die Augsburger Industrie betrieb 1851 in diesen Kanälen insgesamt 36, 1865 bereits 45, 1884 und 1892 sogar 48 Wasserkraftwerke, deren Effizienz zudem stetig gesteigert wurde. 5 Aber auch die seit 1846 erfolgten Fabrikgründungen an der oberen Iller, wie in Kempten, Kottern, Immenstadt, Seltmanns, Blaichach, Sonthofen oder Fischen, und ab 1857 entlang der unteren Iller bzw. angrenzender Wasserläufe, wie in Ay und Vöhringen, orientierten sich an den vorhandenen Wasserkräften. 6 In Kaufbeuren nutzten seit 1836 Firmen die Wasserkraft des Mühlbachs. 7 Trotz der oft hohen 4 Die Energienutzung verbesserte sich durch den Einsatz moderner Turbinen seit 1839 erheblich. Denselben Effekt hatte die Korrektur vieler Kanalverläufe, die sowohl Gefälle als auch Wassermengen erhöhten; A NTON W ERNER , Die Wasserkräfte der Stadt Augsburg im Dienste von Industrie und Gewerbe. Historisch-statistisch beschrieben, Augsburg 1905, zusammenfassend S. 17-36, für einzelne Kanäle und Unternehmen S. 39-130; J OSEF VON G RASSMANN , Die Entwicklung der Augsburger Industrie im 19. Jahrhundert. Eine gewerbe-geschichtliche Studie, Augsburg 1894, S. 232-241; auch P ETER F ASSL , Konfession, Wirtschaft und Politik. Von der Reichsstadt zur Industriestadt, Augsburg 1750- 1850 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 32), Sigmaringen 1988, S. 243; und K. B. M URR , Entwicklung (Anm. 3), S. 46f. Das Gefälle betrug um 1840 vom Hochablass bis zur Ausmündung des Stadtbachs in die Wertach ca. 14 m, bis 1905 erhöhte es sich auf ca. 26 m (von der Krone des Lechwehres bis zur Wolfszahnspitze, also der Wertacheinmündung); vgl. A. W ERNER , Wasserkräfte (Anm. 4), S. 27f. 5 J. VON G RASSMANN , Augsburger Industrie (Anm. 4), S. 238. 6 M AX M AYER , Die Textilindustrie im oberen Illergebiet (Beiträge zur Statistik Bayerns 102), München 1922, S. 10-13; K ARL F ILSER , Industrialisierung und Urbanisierung. Kempten 1850 bis 1918, in: V OLKER D OTTERWEICH u. a. (Hg.), Geschichte der Stadt Kempten, Kempten 1989, S. 372-406, hier 373; A LBERT H AUG , Kulturlandschaft Illerkanal. Hundert Jahre Illerkanal-Verband 1910-2010, Ulm 2010, S. 27-57; R UDOLF L ANG , Von Arbeit, Fleiß und Ehr’ - Die Industrialisierung des Unteren Illertales, München 1993, S. 61-69. 7 C ORINNA M ALEK , Kaufbeuren und die Industrialisierung, in: S TEFAN F ISCHER (Hg.), Kaufbeuren. Anfänge, Umbrüche, Traditionen. 900 Jahre Stadtgeschichte 1116-2016, Neustadt a. d. Aisch 2016, S. 231-256, hier 242, 249-251. <?page no="206"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 207 anfänglichen Investitionskosten für Wasserbau und Einrichtung der Wasserkraftwerke waren wegen der niedrigeren Betriebskosten auf längere Sicht die Energiekosten meistens günstiger als bei der mit Kohle betriebenen Dampfkraft. 8 Das galt sogar für Ansiedlungen, bei denen die Wasserkräfte von Anfang an für den Fabrikbetrieb nicht ausreichten, so für die zwei Textilfabriken an der Iller in Kempten, die 1847 bzw. 1853 entstanden waren. Diese mussten deshalb immer wieder ihren Betrieb einschränken. Um das zu verhindern, setzten sie notgedrungen zusätzlich die teurere Dampfkraft ein. Beide Unternehmen waren jedoch bestrebt, die günstigeren Wasserkraftkapazitäten auszubauen: »Die beiderseitigen Versuche, sich durch allerlei Baumaßnahmen in der Iller Energievorteile zu verschaffen, führten zu jahrzehntelangen Streitigkeiten […].« 9 Anders als in Schwaben eigneten sich in Oberfranken die Flüsse nicht zur effektiven Energienutzung. Die Industrialisierung erfolgte im wesentlichen unabhängig von der Wasserkraft. Eine Ausnahme war die Gründung der Mechanischen Baumwollspinnerei und Weberei AG Bamberg im Ort Gaustadt bei Bamberg. Dieses Werk, das 1858 in Betrieb ging, wurde bewusst an einem Kanalabzweig der Regnitz angesiedelt, der so ausgebaut war, dass er sich für die Energieerzeugung mittels Wasserkraft eignete, weil der Kohletransport für einen Dampfbetrieb wegen der mangelhaften Verkehrsinfrastruktur vor Ort viel zu teuer gewesen wäre. 10 Die Gründer der Mechanischen Baumwollspinnerei in Bayreuth setzten dagegen von vornherein auf Dampfkraft, weil die Kohle kostengünstig herantransportiert werden konnte. 11 Wie im folgenden gezeigt wird, setzte in Oberfranken die eigentliche Industrialisierung erst ein, als Eisenbahnlinien Verbindungen zu Kohlerevieren herstellten. 12 Denn die Energiekosten sanken dadurch so rapide, dass gerade die 8 Wobei eine Vergleichsrechnung nicht ganz einfach ist und immer der Einzelfall betrachtet werden muss. Zu den Schwierigkeiten der Berechnung der Energiekosten (Anlage- und Betriebskosten) von Wasser- und Dampfkraft vgl. J. VON G RASSMANN , Augsburger Industrie (Anm. 4), S. 241f. 9 K. F ILSER , Industrialisierung (Anm. 6), S. 379. Auch in Kaufbeuren zeigte sich, dass, obwohl immer wieder ergänzend Dampfkraft eingesetzt werden musste, die Verwendung von Wasserkraft Priorität hatte. Vgl. hierzu C. M ALEK , Kaufbeuren (Anm. 7), S. 242, 249- 251. 10 W ILFRIED K RINGS , Unternehmer, Verkehrswege, Wasserkräfte - Die Gründung der ersten Bamberger Industrie-Aktiengesellschaft in der Textilbranche. Ein Beitrag zur Historischen Wirtschaftsgeographie Frankens, in: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 147 (2011), S. 269-314, hier 285-293. Allerdings waren die Wasserturbinen erst 1860 einsatzbereit, so dass die Inbetriebnahme des Werkes mittels einer ausrangierten Eisenbahnlokomotive erfolgte; vgl. ebd., S. 293. 11 W. K RINGS , Unternehmer (Anm. 10), S. 287. 12 A RND K LUGE , Faktoren der Industrialisierung in Nordost-Oberfranken, in: W OLFGANG W ÜST / T OBIAS R IEDL (Hg.), Industrielle Revolution. Regionen im Umbruch: Franken, <?page no="207"?> K ATRIN H OLLY 208 Fabriken in Nordostoberfranken »zeitweise die niedrigsten Energiekosten in Deutschland« aufwiesen. 13 1.2 Verkehrsanbindung durch die Eisenbahn Der Eisenbahnbau ging in Deutschland im wesentlichen zeitlich parallel mit der Industrialisierung einher, so auch in den beiden Untersuchungsregionen. Allerdings musste die Eisenbahn nicht zwingend Auslöser der Industrialisierung sein, wie das Beispiel England zeigt, wo der Eisenbahnbau erst Jahrzehnte nach Beginn der Industrialisierung einsetzte. 14 In Augsburg hatte sich zwar schon vor dem Anschluss an die Eisenbahn Textilindustrie angesiedelt, aber die große Industrialisierungswelle ab 1836 begann zu einem Zeitpunkt, als die Eisenbahnstrecke München-Augsburg schon ein Jahr in Planung war. Sie wurde 1840 eröffnet. 15 In Schwaben standen vor allem die beiden Kemptener Fabrikgründungen in einem engeren Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau, war doch zum Zeitpunkt der Umwandlung der Sandholz’schen Handweberei 1847 in eine Fabrik bereits die Bahnlinie nach Kempten in Planung. Die Gründung der Mechanischen Baumwollspinnerei und Weberei 1853 fiel direkt in den Zeitraum, in dem die Bahnlinie Kempten erreichte. 16 Auch die Immenstädter Bindfadenfabrik wurde 1855, drei Jahre nach Bahnanschluss, aufgebaut, insbesondere weil der Rohstoff Flachs per Bahn importiert werden konnte. In Memmingen setzte mangels verwertbarer Wasserkräfte die erfolgreiche Ansiedlung von Industriefabriken erst nach dem Bahnanschluss 1862/ 63 ein. 17 Schwaben, Bayern. Referate der Tagung vom 12. bis 14. März 2010 im Bildungszentrum Kloster Banz (Franconia 6), Stegaurach 2013, S. 369-398, hier 379f., 395; R ICHARD L OIBL , »Kammgarn-, Woll- und Baumwollschals« - Textilherstellung in der Industrieregion Oberfrankens im 19. Jahrhundert, in: K. B. M URR u. a. (Hg.), Die süddeutsche Textillandschaft (Anm. 3), S. 67-83, hier 73-75. 13 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 380. 14 F RIEDRICH -W ILHELM H ENNING , Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Bd. 2: Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert, Paderborn u. a. 1996, S. 476, 521f., 528-535, 538-542. 15 P. F ASSL , Konfession, Wirtschaft und Politik (Anm. 4), S. 244-256; K. B. M URR , Entwicklung (Anm. 3), S. 49; W OLFGANG Z ORN , Handels- und Industriegeschichte Bayerisch- Schwabens 1648-1870. Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte des schwäbischen Unternehmertums (Studien zur Geschichte des Bayerischen Schwabens 6), Augsburg 1961, S. 139-142. 16 K. F ILSER , Industrialisierung (Anm. 6), S. 378f. 17 R UDOLF V OGEL , Handwerk, Handel, Leinwandschau und Industrie, in: D ERS . (Hg.), Immenstadt im Allgäu. Landschaft, Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, kulturelles und religiöses Leben im Lauf der Jahrhunderte, Immenstadt/ Allgäu 1996, S. 301-368, hier 343. Zu Memmingen vgl. W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 190f.; <?page no="208"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 209 Wesentlich signifikanter ist der Zusammenhang zwischen Eisenbahnbau und Industrialisierung in Oberfranken. Im Konzessionsgesuch für die Mechanische Baumwollspinnerei AG in Bayreuth, die 1855 in Betrieb ging, verwies man ausdrücklich auf die seit 1853 durch eine Eisenbahnlinie erschlossene Kohle aus dem Stockheimer Becken. 18 Der Anschluss Hofs 1848/ 51 an die Ludwig-Süd-Nord- Bahn, die im Endausbau eine durchgehende Verbindung Lindau-Augsburg-Nürnberg-Hof-Leipzig schuf und das Zwickauer Kohlerevier erschloss, führte dort zu einer Gründungswelle von Fabriken. 19 Dasselbe gilt für den 1878 erfolgten Eisenbahnanschluss von Marktredwitz in Richtung Hof. Mit der Inbetriebnahme der Linie Nürnberg-Eger über Marktredwitz hatte die Stadt nicht nur eine Süd-Nordsondern auch eine Ost-West-Verbindung. So ging der Hauptverkehr von Franken sowie der Oberpfalz Richtung Böhmen über Marktredwitz 20 und erschloss die böhmischen Kohleabbaugebiete sowie den Rohstoff Kaolin für die Porzellanindustrie. Dadurch nahm nicht nur die in Marktredwitz und näherer Umgebung bereits angesiedelte Industrie einen neuen Aufschwung, sondern es kam auch zu einer Welle von Ansiedlungen weiterer Firmen. 21 Forchheim profitierte von Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur gleich doppelt. Zum einen bekam die Stadt einen Handelshafen am zwischen 1835 und 1846 gebauten Ludwig-Donau-Main-Kanal und bereits 1844 den Anschluss an die Ludwig-Süd-Nord-Bahn. 22 Allerdings gerieten die Einwohner des von Landwirtschaft und für den regionalen Markt produzierendem Handwerk geprägten Städtchens zunächst in wirtschaftliche Schwierigkeiten, weil nun die durch Forchheim führende Handelsstraße von Nürnberg nach Bamberg kaum mehr frequentiert P AUL H OSER , Die Geschichte der Stadt Memmingen. Vom Neubeginn im Königreich Bayern bis 1934, Stuttgart 2001, S. 701-710, 744-755. 18 W. K RINGS , Unternehmer (Anm. 10), S. 287; vgl. auch R. L OIBL , Textilherstellung (Anm. 12), S. 75-77; M ARTINA W URZBACHER , Der Eisenbahnbau und seine Folgen für die oberfränkische Textilindustrie im 19. Jahrhundert; dargestellt am Beispiel ausgewählter Firmenmonographien des Raumes Hof, in: Miscellanea curiensa 2 (1999), S. 23-78, hier 41. 19 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 379f.; M. W URZBACHER , Eisenbahnbau (Anm. 18), S. 39-41, 44f. 20 W ILLY F ORSTER , Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Fichtelgebirges, Diss. Masch., Würzburg 1924, S. 20f. 21 C LEMENS S TEPHAN , Marktredwitz. Die wirtschaftliche und soziale Umgestaltung eines Marktfleckens im Zeitalter des Kapitalismus, Diss., Dresden 1933, S. 55-66; B ERNHARD L EUTHEUSSER , Marktredwitz im Industriezeitalter. Von der »Chemischen Fabrik« bis zum Beginn des Dritten Reiches 1788-1933, Marktredwitz 2005, S. 73f.; M. W URZBACHER , Eisenbahnbau (Anm. 18), S. 41f. 22 H ELMUT S CHWARZ , Forchheim im Industriezeitalter 1848-1914 (Schriftenreihe des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des Ehemaligen Fürstbistums Bamberg 31), Lichtenfels 1993, S. 42. <?page no="209"?> K ATRIN H OLLY 210 wurde. Gasthöfe, Landwirtschaft und Handwerk hatten bisher von dem Durchgangsverkehr gelebt. 23 Die ersten Impulse zur Industrialisierung Forchheims kamen von auswärtigen Unternehmern, welche Mitte des 19. Jahrhunderts die Standortvorteile des Ortes an Kanal und Bahnlinie erkannten und erste Fabriken gründeten. 24 Der große Industrialisierungsschub begann in Forchheim allerdings erst in den 1870er Jahren. 25 Ein direkter Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau besteht bei der Ausweitung der Brauereikapazitäten in Kulmbach. Zwar wurde von dort schon seit 1831 sowie besonders seit der Gründung des Zollvereins Bier in größeren Mengen nach Sachsen und Preußen exportiert, doch mit dem Eisenbahnanschluss nach Sachsen, der einen raschen Absatz des Bieres ermöglichte und die Beschaffung von Kohle verbilligte, steigerten sich die Exportmengen erheblich. Der Kapazitätsausbau bei bestehenden Brauereien bzw. durch Neugründungen war so gewaltig, dass seitdem von einer Brauindustrie gesprochen werden kann. 26 Zwar waren schon vor dem Eisenbahnbau Porzellanfabriken in Oberfranken ansässig, die von den örtlichen Holz- und Kaolinvorräten profitiert hatten, 27 aber die große Gründungswelle der oberfränkischen Porzellanindustrie in den 1870/ 80er Jahren profitierte bei ihrer Standortwahl von den bereits bestehenden Bahnlinien. Hier kam wie in Forchheim die Fabrik zur Bahn, nicht die Bahn zur Fabrik. Die Neugründungen dieser Zeit waren deshalb nicht abhängig von der unmittelbaren Verfügbarkeit der Rohstoffe vor Ort, sondern konnten sie nun importieren. 28 Aber 23 H. S CHWARZ , Forchheim (Anm. 22), S. 30, 42-45. 24 In diesem Zusammenhang steht die Gründung der Spiegelglas- und Folienfabrik 1854, aber auch der Kauf einer Glasschleife durch einen Erlanger Fabrikanten 1845 und die Gründung einer Papierfabrik, die allerdings wieder einging; vgl. H. S CHWARZ , Forchheim (Anm. 22), S. 52-54, 66f., 72, 75f. 25 H. S CHWARZ , Forchheim (Anm. 22), S. 86-123. 26 B ERND W INKLER , Die Kulmbacher Brauindustrie - Entstehung und Entwicklung bis 1914, in: W. W ÜST / T. R IEDL (Hg.), Industrielle Revolution (Anm. 12), S. 241-266, hier 245; O TTO S ANDLER , Die Kulmbacher Brauindustrie, Leipzig-Erlangen 1926, S. 47-49. 27 G ÜNTER D IPPOLD , Von der Stadt aufs Land? Wege der frühen Industrialisierung am Beispiel Frankens, in: W. W ÜST / T. R IEDL (Hg.), Industrielle Revolution (Anm. 12), S. 295- 305, hier 296-299; G ÜNTER D IPPOLD , Frühe bürgerliche Gründungen, in: A LBRECHT B ALD u. a., Porzellan für die Welt. 200 Jahre Porzellan der bayerischen Fabriken, Bd. I (Schriften und Kataloge des Porzellanikons 113), Hohenberg a. d. Eger-Selb 2014, S. 9-16; G EORG E IDELLOTH , Die Entwicklung der Porzellanindustrie Oberfrankens, Zirndorf 1914, S. 9-31. 28 Kaolin kam aus der Oberpfalz, dem Karlsbader Becken, aus Arzberg, Hohenberg, Sachsen und Thüringen, Feldspat aus dem Fichtelgebirge, der Nordoberpfalz, Sachsen und Thüringen. Quarz wurde aus dem Fichtelgebirge, der Nordoberpfalz, Sachsen, Frankenwald, Thüringen, Lausitz und Westfalen, der Gips aus Thüringen und dem Harz bezogen; A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 390. <?page no="210"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 211 es war nicht zwingend der Bahnanschluss direkt vor dem Werk notwendig. Die Entwicklung Selbs zur Porzellanstadt hatte schon eingesetzt bevor 1865 der 2 km von Selb entfernte Plössberger Bahnhof an der Linie Hof-Plössberg-Asch-Eger gebaut wurde. 29 Die Nebenstrecke von Hof nach Selb schloss die Porzellanfabriken erst 1894 direkt an das Bahnnetz an. Für die Entstehung einer leistungsfähigen oberfränkischen Granitindustrie war der Bau der Eisenbahnen »zum auslösenden Moment« 30 geworden. Zunächst wurden die Steine auf den Eisenbahnstrecken verbaut, danach wurden über sie Werksteine nach Sachsen, Thüringen und Westdeutschland transportiert. Ohne das Eisenbahnnetz wäre der in den 1850er Jahren einsetzende erfolgreiche weltweite Export der auf Hochglanz geschliffenen Granitsteine nicht denkbar gewesen. 31 Die schwäbischen Fabrikgründungen an der oberen Iller zeigen jedoch, dass die Faktoren Marktlage, Arbeitskraft, Energie und Kapital für die Standortwahl wichtiger sein konnten als die unmittelbare Nähe zur Eisenbahn: so lagen die Fabriken in Fischen, Blaichach, Seltmanns und Neudorf zum Gründungszeitpunkt abseits der Bahnlinien, hatten aber akzeptable Entfernungen zum Bahnhof Kempten (Seltmanns, Neudorf) oder Immenstadt (Blaichach, Fischen). 32 Die Fabriken in Berghofen und Sonthofen wurden 1865 vor dem Anschluss Sonthofens an die Bahn 1872/ 73 errichtet. 33 Wie die Industrialisierung eines Ortes oder einer Region auch ohne Bahnanschluss möglich war, so war andererseits auch nicht jedem Ort mit einem Bahnhof eine positive industrielle Entwicklung beschieden. Allerdings wurde mit Beginn des Eisenbahnzeitalters ein Bahnanschluss zu einem immer wichtigeren Standortfaktor, der einer Fabrik entscheidende Kosten- und Flexibilitätsvorteile bescheren konnte. Mit einem Eisenbahnanschluss war im großen und ganzen die positive wirtschaftliche Entwicklung einer Region wahrscheinlicher als ohne. 34 In Bayern 29 E LLEN M EY , Im Zeichen des Löwen. Porzellan aus Künstlerhand. Die Kunstabteilung Lorenz Hutschenreuther, Selb 1918-1945 (Schriften und Kataloge des Deutschen Porzellanmuseums 97), Hohenberg a. d. Eger 2009, S. 10. 30 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 377. So auch W. Z ORN , Probleme der Industrialisierung (Anm. 3), S. 300. 31 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 377f.; K ARL R EITINGER , Die industriellen Standortsfaktoren und ihre Beziehungen zu den Hauptindustrien des Regierungsbezirkes, Diss. Bamberg 1927, S. 51-59. 32 M. M AYER , Textilindustrie (Anm. 6), S. 13f. 33 R ICHARD H IPPER / A EGIDIUS K OLB , Sonthofen im Wandel der Geschichte, Kempten 1978, S. 385, 389. 34 Dass ein Eisenbahnanschluss eines Ortes nicht immer eine industrielle Entwicklung nach sich zog vgl. bei M. W URZBACHER , Eisenbahnbau (Anm. 18), S. 44. Wunsiedel ist ein Beispiel dafür, da die Stadt zunächst von wichtigen Eisenbahnlinien abgehängt war und erst spät den Anschluss fand; E LISABETH J ÄGER , Wunsiedel 1810-1932. III. Band einer <?page no="211"?> K ATRIN H OLLY 212 wurden zuerst die gewerbereichen neubayerischen Regionen in Schwaben und Franken von Eisenbahnen erschlossen. Der zunächst von privater Hand, dann ab 1843 staatlich finanzierte Eisenbahnbau wurde seit 1856 wieder durch private Investoren ergänzt. Seit den 1850er Jahren setzten sich viele Kommunen, aber auch die Industrie- und Handelskammern für einen Eisenbahnanschluss ein, weil sie befürchteten, ansonsten wirtschaftlich abgehängt zu werden. Der Eisenbahnbau hatte für Oberfranken im Vergleich zu Schwaben jedoch eine besonders herausragende Bedeutung, denn er führte langfristig zu einem strategischen Vorteil bei der Energieversorgung und löste die eigentliche Industrialisierung dieser Region aus. 35 1.3 Der Einfluss von Nachfrage und Absatz auf die Industriegründungen Um 1840 konnte Deutschland nur ein Drittel seines Garnbedarfs selbst decken, England verkaufte vor allem nach Asien, die Schweiz konnte die Lücke nicht schließen. So erklärt sich, dass in Augsburg zunächst vor allem Spinnereien gegründet wurden. Die Merz’sche Spinnerei, die anfangs an die Augsburger Kattundruckerei von Schöppler und Hartmann lieferte, weitete ihren Absatz früh in das Zollvereinsgebiet aus. Die Spinnerei am Stadtbach entwickelte sich wegen des hohen Bedarfs sehr rasch. Es wurden vor allem für den Massenbedarf grobe Garnnummern hergestellt. Die seit 1846 zusätzlich gegründeten Webereien - selbständig oder an Spinnereien angegliedert - sollten vor allem die Garnproduktion aufnehmen. Im späteren 19. Jahrhundert gingen die Webereien dazu über, mit dem Aufbau weiterer Spinnkapazitäten die schwierige Garnbeschaffung zu kompensieren. Die dargestellte Entwicklung lässt sich auch auf die übrigen Textilfabriken in Geschichte der Stadt Wunsiedel, Wunsiedel 1983, S. 148-155, 160-172. Zum Zusammenhang Landesentwicklung und Eisenbahn vgl. auch S TEPHAN D EUTINGER , Eisenbahn und Landesentwicklung im Königreich Bayern, in: G ERHARD H ETZER / O TTO -K ARL T RÖGER (Hg.), Weichenstellungen. Eisenbahnen in Bayern 1835-1920. Eine Ausstellung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs (Ausstellungskatalog der Staatlichen Archive Bayerns 43), München 2001, S. 249-273; dazu auch G EORG S EIDERER , Eisenbahnbau in Bayern 1840 bis 1873, in: W. W ÜST / T. R IEDL (Hg.), Industrielle Revolution (Anm. 12), S. 65-77, hier 77. 35 Zum bayerischen Eisenbahnbau vgl. u. a. G. H ETZER / O.-K. T RÖGER (Hg.), Weichenstellungen (Anm. 34); H ORST W EIGELT , Bayerische Eisenbahnen. Vom Saumpfad zum Intercity, Stuttgart 1982; G. S EIDERER , Eisenbahnbau (Anm. 34). Zur Bedeutung der Eisenbahnanschlusses für die Industrialisierung Oberfrankens vgl. auch F RITZ V OIGT , Die gestaltende Kraft der Verkehrsmittel in wirtschaftlichen Wachstumsprozessen. Untersuchung der langfristigen Auswirkungen von Eisenbahn und Kraftwagen in einem Wirtschaftsraum ohne besondere Standortvorteile, Bielefeld 1959; D ERS ., Die Einwirkung der Verkehrsmittel auf die wirtschaftliche Struktur eines Raumes - Dargestellt am Beispiel Nordbayerns, in: D ERS ./ E RICH S CHÄFER (Hg.), Die Nürnberger Hochschule im Fränkischen Raum, Nürnberg 1955, S. 107-148. <?page no="212"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 213 Schwaben übertragen. 1910 bestanden im schwäbischen Regierungsbezirk 15 Spinnereien, davon waren 14 mit Webereien kombiniert. 36 Die ab um 1850 erfolgten oberfränkischen Textilfabrikgründungen agierten in einem ähnlichen Marktumfeld. In Hof sollte die Spinnerei den Bedarf der kurz darauf gegründeten Weberei decken. Eine weitere Spinnerei baute ein Verleger auf, der sich von fremden Garnlieferungen unabhängig machen wollte. 37 Auch die im Vergleich zu Augsburg zeitlich später liegenden Gründungen der Spinnereien in Bayreuth und Bamberg durchliefen dieselben Anpassungen an die Markterfordernisse wie die in der schwäbischen Metropole. Die späten mittelständischen Gründungen ab den 1870er Jahren in Nordoberfranken kamen oft von Verlegern, die den Absprung vom niedergehenden Hausgewerbe wagten. 38 Sie konnten sich durchaus rasch entwickeln und auf dem Markt behaupten. 39 36 I LSE F ISCHER , Industrialisierung, sozialer Konflikt und politische Willensbildung in der Stadtgemeinde. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte Augsburgs 1840-1914 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 24), Augsburg 1977, S. 26; K. B. M URR , Entwicklung (Anm. 3), S. 44-46, 54-56; D ERS ., Ein »deutsches Manchester«? Augsburgs Textilindustrie im 19. Jahrhundert, in: W. W ÜST / T. R IEDL (Hg.), Industrielle Revolution (Anm. 12), S. 163-191, hier 167f., 178-180; W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), zu Augsburg S. 143-173, zum übrigen Schwaben S. 185-194, 202-204. 37 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 380f. Die Mechanische Spinnerei geriet allerdings während des Amerikanischen Bürgerkriegs nicht nur wegen des Baumwollmangels, sondern auch wegen ihrer unwirtschaftlichen Spinnmaschinen in Schwierigkeiten. Sie wurde 1869 von ihren Hauptgläubigern übernommen und unter neuem Namen fortgeführt. 38 R. L OIBL , Textilherstellung (Anm. 12), S. 80f.; W. Z ORN , Probleme der Industrialisierung (Anm. 3), S. 296-299. 39 So begann beispielsweise die Buntweberei Johann Benker in Dörflas die Produktion im Januar 1875 mit 30 Webstühlen aus England und 16 Beschäftigten, 1880 arbeiteten 136 Personen in der Buntweberei; vgl. StadtA Marktredwitz, Bestand Buntweberei Johann Benker, vorläufige Nr. 49: Lohnbuch 1875-1882; Bestand Dörflas 5/ 117: Register für die Gewerbeanmeldungen 1868-1882. Vgl. auch C. S TEPHAN , Marktredwitz (Anm. 21), S. 47, 89. Teilweise fehlerhaft und ungenau auch B. L EUTHEUSSER , Marktredwitz (Anm. 21), S. 78-84. Weitere Beispiele vgl. R. L OIBL , Textilherstellung (Anm. 12), S. 81 (Textilfirma der Familie Bayerlein in Bayreuth); M. W URZBACHER , Eisenbahnbau (Anm. 18), S. 55-60 (Firma E. Schoepf in Stammbach), 63-66 (Firma C. Seyffert in Naila), 67-71 (Firmen in Helmbrechts, darunter C. F. Weiß). In Münchberg: M ARTINA W URZBACHER , Münchberg - Stadt der Textilindustrie. Entwicklung und Bedeutung der Textilindustrie im 19. und 20. Jahrhundert (Arbeitskreis Stadtgeschichte 7), Münchberg 2002; sowie zur Baumwollspinnerei und Zwirnerei V. C. Bayerlein in Bayreuth: F RITZ B AYERLEIN , Die wirtschaftliche Lage des ehemaligen Fürstentums Bayreuth von 1806-1810 unter besonderer Berücksichtigung seiner Textil-Industrie, Innsbruck 1929, S. 129-144. <?page no="213"?> K ATRIN H OLLY 214 Die eigentliche Gründerzeit der oberfränkischen Porzellanindustrie begann um 1870, wobei der große Gründungsboom in den 1880er Jahren stattfand. Bis 1861 gab es zehn Fabriken mit 511 Beschäftigten, 1875 waren es bereits 21 mit 1.173 Arbeitern und 1913 insgesamt 47 mit rund 14.000 Arbeitskräften. 40 Die Gründungswelle beruhte vor allem auf dem Massenbedarf von Gebrauchsgeschirr, der nicht nur in Deutschland abgesetzt, sondern vor allem nach Nordamerika exportiert wurde. 41 Obwohl sich in Schwaben als auch in Oberfranken der Maschinenbau etablierte, waren beide Regionen keine besonders herausragenden Maschinenbaustandorte. Nur in Augsburg nahm diese Branche eine besondere Stellung ein. Die Maschinenbauindustrie beider Regionen bediente nicht die Textilfabriken mit Spinn- und Webmaschinen, sondern konzentrierte sich überwiegend auf die übrige maschinelle Ausstattung der Fabriken oder fertigte Landmaschinen. Die Sander’sche Maschinenfabrik in Augsburg bediente nicht nur den Augsburger, sondern auch einen großen überregionalen Markt mit Transmissionsriemen, Wasserturbinen, Dampfmaschinen sowie Schnelldruckpressen, wobei nur letztere zum Typus der Produktionsmaschine gehörten. 42 Typisch für Oberfranken ist z. B. die 1874 gegründete Maschinenfabrik von Heinrich Rockstroh in Marktredwitz, die zunächst allgemeine maschinelle Ausstattungen wie Transmissionsriemen oder Dampfkessel lieferte und sich schließlich ganz auf Dampfmaschinen verlegte. 43 Die 1857 gegründete Riedinger’sche Maschinen- und Broncewarenfabrik in Augsburg 40 E LLEN M EY , Die bayerische Porzellanindustrie 1871-1918 von der Reichsgründung zur Weimarer Republik, in: A. B ALD u. a., Porzellan für die Welt (Anm. 27), S. 35-120, hier 36, 38. 41 W OLFGANG S CHILLING , Der Export 1814-1914, in: A. B ALD u. a., Porzellan für die Welt (Anm. 27), S. 17-28. 42 W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 148f., 155f., 166f.; I. F ISCHER , Industrialisierung (Anm. 36), S. 28-30; J OHANNES B ÄHR / R ALF B ANKEN / T HOMAS F LEMMING , Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, München 2008, S. 133-158. Die Fabrik produzierte seit 1840, war zunächst an Carl Reichenbach verpachtet und ging 1857 an die Aktiengesellschaft Maschinenfabrik Augsburg (MAN) über. 43 Diese verkaufte Rockstroh überwiegend nach Oberfranken und in die Oberpfalz, aber auch ins übrige Bayern, nach Baden und Württemberg. Vgl. hierzu die Auflistung auf der Internetseite von Albert Gieseler über Dampfmaschinen, zu finden unter Maschinenfabrik Rockstroh bzw. dem ab 1927 geführten Firmennamen Flottmann: http: / / www.albertgieseler.de/ dampf_de/ tables/ liefer-marktr0.shtml (aufgerufen am 3.12.2018). Zu dieser und den anderen Maschinenfabriken vgl. C. S TEPHAN , Marktredwitz (Anm. 21), S. 107f. (Maschinenfabrik Rockstroh), 108-110 (Maschinen- und Schleifscheibenfabrik und Eisengießerei Emil Offenbacher, Maschinenfabrik Carl Meyer, Stella-Schleifscheibenfabrik, Firma Sigmund Scherdel). Trotz gewisser Mängel vgl. auch B. L EUTHEUSSER , Marktredwitz (Anm. 21), S. 89-92 (Rockstroh), 95 (Maschinenfabrik Carl Meyer), 97-101 (Emil Offenbacher), 102f. (Sigmund Scherdel). <?page no="214"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 215 konzentrierte sich auf die Herstellung von Gasapparaten und Gasleuchten und erschloss sich damit einen Markt in Deutschland, der bisher ausschließlich von englischen Firmen abgedeckt worden war. 44 Im oberfränkischen Granitgewerbe, das anfangs vom Eisenbahnbau profitiert hatte, sorgte seit den 1850er Jahren die in Oberfranken entwickelte Technik des Hochglanzschliffes für Absatz. Die hochglänzenden Granitsteine bedienten nicht nur den nationalen, sondern auch den internationalen Massengeschmack und wurden für Denkmäler oder Grabsteine verkauft. Dafür wurden sogar Rohsteine nach Oberfranken importiert. 1911 arbeiteten in den Schleifereien in und um das Fichtelgebirge fast 1.500 Personen. 45 1.4 Arbeitskräfte und Rohstoffe In Augsburg rekrutierten sich die Arbeitskräfte für die Textilindustrie vor allem aus dem Umland und der niedergehenden protoindustriellen Landweberei. Es wurden nicht nur Webermeister und Gesellen, sondern auch Frauen und Kinder aus der näheren und weiteren Umgebung beschäftigt. Die Fachkräfte, welche die einfachen Arbeiter, Arbeiterinnen und Kinder anlernten, kamen aus Württemberg, Vorarlberg, der Schweiz und dem Elsass. Auswärtige Fachkräfte prägten zunächst auch die Maschinenbauindustrie. 46 »Insbesondere die hochqualifizierten Former und Gießer, die bis dahin in Augsburg kaum vertreten waren, stammten zum größten Teil aus Württemberg und der Schweiz, während die im Taglohn beschäftigten ›ungelernten‹ Arbeiter sich in erster Linie aus dem schwäbischen Einzugsgebiet rekrutierten.« 47 Arbeiter aus dem traditionellen Handwerk, wie Schlosser oder Dreher, 44 Das Unternehmen produzierte später auch Bronzegusswaren, Brauereieinrichtungen, Kühlungsanlagen und Bühnenanlagen. Zur Geschichte dieser Fabrik vgl. F. H ASSLER , Geschichte der L. A. Riedinger Maschinen- und Bronzewarenfabrik AG Augsburg, Augsburg 1928; P ETER F ASSL , Ludwig August Riedinger (1809-1879) - Techniker, Industriegründer und sozialer Unternehmer, in: R AINER A. M ÜLLER (Hg.), Unternehmer - Arbeitnehmer. Lebensbilder aus der Frühzeit der Industrialisierung in Bayern (Veröff. zur Bayerischen Geschichte und Kultur 7/ 85), München 1985, S. 195-199; A NGELA S CHLENKRICH , Riedinger und seine Gaswerke: Das Beispiel Kaufbeuren (1863), in: Erdgas Schwaben (Hg.), 100 Jahre Gasversorgung. 100 Jahre Innovation. Die Geschichte der Gasversorgung in Bayerisch-Schwaben, Augsburg 2011, S. 50-67; W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 167-169; I. F ISCHER , Industrialisierung (Anm. 36), S. 29. Zur Entwicklung des Gasindustrie in Deutschland und der Rolle Riedingers vgl. auch B ETTINA G ÜNTER , Das Licht der Gründerzeit, in: U LRIKE L AUFER / H ANS O TTOMEYER , Gründerzeit 1848-1871. Industrie & Lebensträume zwischen Vormärz und Kaiserreich. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin, Dresden 2008, S. 85-94. 45 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), 377f. 46 I. F ISCHER , Industrialisierung (Anm. 36), S. 117-120. 47 I. F ISCHER , Industrialisierung (Anm. 36), S. 120. <?page no="215"?> K ATRIN H OLLY 216 kamen überwiegend aus Augsburg, Schwaben und Bayern, aber auch aus Württemberg und dem übrigen Deutschen Reich. Gerade in der Anfangszeit der Industrialisierung kämpfte die Maschinenbauindustrie mit einem eklatanten Fachkräftemangel, so dass sich die Unternehmer untereinander die Fachkräfte abzuwerben versuchten. 48 Der Niedergang der Protoindustrie in Schwaben setzte vor allem im Allgäu und in Ostschwaben ein großes Reservoir an billigen Arbeitskräften frei. Extrem niedrige Arbeitskosten konnten durchaus andere Nachteile wie eine mangelhafte Verkehrsanbindung und abgelegene Lage kompensieren, so etwa bei den Textilfabriken entlang der oberen Iller. 49 In Oberfranken war aufgrund der schlechten Böden und des ungünstigen Klimas im Osten (Fichtelgebirge, Frankenwald, bayerisches Vogtland) der landwirtschaftliche Kleinbetrieb zur Selbstversorgung in Verbindung mit einer hausindustriellen Tätigkeit weit verbreitet. Da die Fabrikarbeit einträglicher war, wanderten viele der Hausweber und ihre Familienmitglieder, aber auch überschüssige landwirtschaftliche Arbeitskräfte sowie Arbeiter aus den stillgelegten Eisenwerken dorthin ab. 50 In den stark von Handarbeit 51 geprägten Porzellanfabriken in Oberfranken waren die Löhne zwar auch nicht hoch, aber die Bezahlung doch besser als in der Textilindustrie. 52 Die Porzellanfirmen hatten als die später entstandene Industrie nur deshalb Chancen, Arbeitskräfte an sich zu binden. Für das Bezirksamt Rehau und die Stadt Selb mit einer hohen Konzentration an Porzellanfabriken stellte Albrecht 48 I. F ISCHER , Industrialisierung (Anm. 36), S. 120-122. Im späteren 19. Jahrhundert ging der Anteil der auswärtigen und ausländischen Arbeitnehmer zurück. 49 M. M AYER , Textilindustrie (Anm. 6), S. 5-10, 13f. 50 T HEODOR N EFF , Die Textilindustrie Oberfrankens mit besonderer Berücksichtigung der Heimarbeiterfrage. Eine sozialpolitische Untersuchung, Diss., Tübingen 1912, S. 15; W ERNER K. B LESSING , Industrielle Lebenswelten um 1900 - Unternehmer und Arbeiter in der oberfränkischen Textillandschaft, in: K. B. M URR u. a. (Hg.), Die süddeutsche Textillandschaft (Anm. 3), S. 283-318, hier 302-305. 51 Die Produktionsabläufe der Porzellanindustrie waren von einem extrem hohen Anteil an Handarbeit geprägt, auch als Anfang des 20. Jahrhunderts einige Abläufe automatisiert waren. Deshalb war der Anteil der Arbeitskosten an der Produktion sehr hoch und auch die Verfügbarkeit von Arbeitskräften ein wichtiger Standortfaktor; vgl. S ABINE Z EHENT - MEIER , Leben und Arbeiten der Porzelliner in Nordostbayern (1870-1933) (Beiträge zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte der Porzellanindustrie 4/ Schriften und Kataloge des Deutschen Porzellanmuseums 71) Hohenberg a. d. Eger 2001, S. 75-83. 52 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 391. Allerdings heißt das nicht, dass die Löhne hoch waren. Zehentmeier weist darauf hin, dass die Löhne oft nicht ausreichten und es in der Porzellanindustrie offenbar üblich war, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen Vorschüsse in Anspruch nahmen; vgl. S. Z EHENTMEIER , Leben (Anm. 51), S. 132-138. <?page no="216"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 217 Bald fest, dass in der Gründerphase die Porzellanfabriken vom Arbeitskräftereservoir der zusammenbrechenden Handweberei profitierten, hinzu kam der hohe Bevölkerungsüberschuss. 53 Aber auch aus der thüringischen, sächsischen und böhmischen Porzellanindustrie wechselten ungelernte und gelernte Arbeitskräfte nach Oberfranken. 54 Die Porzellanfabriken kompensierten ihren produktionsbedingt hohen Arbeitskostenanteil, indem sie viele Frauen (zwei Fünftel der Beschäftigten) und überdurchschnittlich viele Lehrlinge mit extrem langen Ausbildungszeiten beschäftigten. 55 Mit Risiko behaftet war für die Textilfabriken in Schwaben und Oberfranken die Abhängigkeit vom Rohstoff Baumwolle aus Übersee. Die hohen Preisschwankungen erschwerten Kostenkalkulationen, auch war der weite Transport teuer. Im Zollverein legte die Textilindustrie deshalb immer großen Wert auf niedrige Einfuhrzölle. 56 Die Gründer der Bindfadenfabrik in Immenstadt bezeichneten bei ihrem Konzessionsantrag den Eisenbahnanschluss als wichtigen Standortfaktor, denn sie bezogen ihre Rohstoffe Wolle, Flachs, Hanf und Werg von Lieferanten außerhalb Bayerns. 57 Die frühen oberfränkischen Porzellanmanufakturen hatten sich wegen der Kaolin- und Holzvorkommen in der Region angesiedelt. 58 Die in den 1870/ 80er Jahren gegründeten Porzellanfabriken suchten in der Regel die Nähe einer Eisenbahnlinie und konnten sich so von der Abhängigkeit von lokalen Rohstoffvorkommen lösen. 59 Die oberfränkische Granitindustrie beutete die vor Ort verfügbaren reichen Steinvorkommen im Mittelgebirge aus. 53 A LBRECHT B ALD , Porzellanarbeiterschaft und punktuelle Industrialisierung in Nordostoberfranken. Der Aufstieg der Arbeiterbewegung und die Ausbreitung des Nationalsozialismus im Bezirksamt Rehau und in der kreisfreien Stadt Selb 1895-1936 (Bayreuther Arbeiten zur Landesgeschichte und Heimatkunde 7), Bayreuth 1991, S. 12f.; S. Z EHENT - MEIER , Leben (Anm. 51), S. 22f. 54 E. M EY , Porzellanindustrie (Anm. 40), S. 38. 55 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 391f.; S. Z EHENTMEIER , Leben (Anm. 51), S. 100: Die Ausbildungszeit dauerte vier bis fünf Jahre, zusätzlich mussten sich die Lehrlinge verpflichten, weitere ein bis zwei Jahre in der Fabrik zu bleiben, bevor sie ein Zeugnis erhielten. Zehentmeier weist allerdings darauf hin, dass trotzdem erfahrene Lehrlinge häufig den Arbeitsplatz wechselten. 56 K. B. M URR , Manchester (Anm. 36), S. 171f. In den Jahresberichten der Industrie- und Handelskammern für Oberfranken und Schwaben sind die Beschaffungskosten für Baumwolle in der Regel ein breit erörtertes Thema. 57 R. V OGEL , Handwerk (Anm. 17), S. 343f. Hanf kam aus Italien, Flachs und Werg aus Württemberg. 58 G. D IPPOLD , Von der Stadt aufs Land (Anm. 27), S. 296-299; S. Z EHENTMEIER , Leben (Anm. 51), S. 20; K. R EITINGER , Standortsfaktoren (Anm. 31), S. 86. 59 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 387; S. Z EHENTMEIER , Leben (Anm. 51), S. 21f.; K. R EITINGER , Standortsfaktoren (Anm. 31), S. 88. <?page no="217"?> K ATRIN H OLLY 218 Die milchverarbeitende Industrie, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert im Allgäu ansiedelte, war für ihren verderblichen Rohstoff auf kurze Anlieferungswege von den örtlichen Milchviehhaltern angewiesen. Diese Branche ging auch noch im Eisenbahnzeitalter in die Nähe ihrer Rohstoffvorkommen. Hier profitierte das Allgäu von der erst seit den 1830er Jahren etablierten Käseproduktion in Hauskäsereien, für die die Allgäuer Landwirte von Fleischaufzucht auf Milchproduktion umstellten. 60 1.5 Herkunft des Kapitals, der Unternehmer, der Technik und des Wissens Entgegen dem allgemeinen deutschen Trend, dass Industriegründungen vor 1871 überwiegend aus Privatkapital der Unternehmerfamilien bzw. Erweiterungen aus den Gewinnen der Fabriken (re)finanziert wurden, 61 spielten in Augsburg neben Privatkapital die Banken traditionell eine starke Rolle. Dort war 1806 die Börse gegründet worden, die Augsburg als ersten Finanzplatz Bayerns etablierte. Von 1800 bis 1812 entstanden zudem sechs neue Bankhäuser. 62 Die Gründung der Mechanischen Baumwoll-Spinnerei und Weberei Augsburg (SWA) 1837 zeigte den Weg auf: Das Augsburger Bankhaus Schaezler brachte in weniger als drei Wochen das Aktienkapital von 1,2 Mio. Gulden auf, die Augsburger Bankiers hielten davon allein 60 %. 63 Dieses Muster der Finanzbeschaffung setzte sich in Augsburg fort und führte dazu, dass im Vergleich zu anderen Städten sehr viele Großbetriebe entstanden, gleichzeitig die Firmen auch häufig von den Banken kontrolliert wurden. 64 Dabei entwickelte sich das Bankhaus Schmid allmählich zur dominierenden Augsburger Industriebank. 65 60 C ARL W ACHTER , Die Allgäuer Milchwirtschaft im 19. Jahrhundert bis zur Gründung des Milchwirtschaftlichen Vereins (1806-1887), in: K ARL L INDNER (Hg.), Geschichte der Allgäuer Milchwirtschaft. 100 Jahre Allgäuer Milch im Dienste der Ernährung, Kempten 1955, S. 27-63. 61 F.-W. H ENNING , Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Anm. 14), S. 439-446, 603. 62 Johann Lorenz Schaezler (1800), Jakob Obermayer (1803), Erzberger & Schmidt (1804/ 10), Johann Gottlieb Süsskind (1806), Arnold Seligmann (1808) und Wohnlich & Fröhlich (1812). Zur Entwicklung der Banken und der Börse in Augsburg und ihrer Industriefinanzierung vgl. W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 119- 157; P. F ASSL , Konfession, Wirtschaft und Politik (Anm. 4), S. 213-233. 63 K. B. M URR , Manchester (Anm. 36), S. 170. 64 So auch I. F ISCHER , Industrialisierung (Anm. 36), S. 31-33. 65 So saßen die Schmids im Aufsichtsrat von drei der vier ganz großen Textilbetriebe der Stadt. Unter Paul und Ernst Schmid wurde das Bankhaus zur dominierenden Augsburger Industriebank. Sie »kontrollierten seit den 1870er Jahren die Augsburger Textilindustrie, betätigten sich als Industriegründer und -sanierer, […] bestellten Direktoren und setzten andere ab.« P ETER F ASSL , Die Bankiersfamilie Schmid - Finanziers der Augsburger Industrie im 19. Jahrhundert, in: R. A. M ÜLLER (Hg.), Unternehmer - Arbeitnehmer (Anm. <?page no="218"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 219 Beim Technik- und Wissenstransfer spielten in Augsburg und im übrigen Schwaben vor allem Frankreich und die Schweiz eine große Rolle. Diese Orientierung setzte eine Netzwerk- und Handelstradition aus der oberdeutschen frühneuzeitlichen Protoindustrialisierung fort. Maschinen, deren Aufstellungsplanung, Fachpersonal und auch Unternehmer kamen für die Augsburger Textilindustrie überwiegend von dort. 66 Die Beschaffung von Textilmaschinen aus England blieb untergeordnet. Der Maschinenbau vor Ort lieferte die übrige Fabrikausstattung. Deutlich ist auch entlang der oberen Iller die Dominanz von schweizerischen Kapital und Know-how. So war die Spinnerei, Weberei und Maschinenfabrik Kottern eine Gründung des Schweizer Fabrikanten Kaspar Honegger. Der Schwiegersohn wurde Direktor, ein Großteil der Facharbeiter kam aus der Schweiz. Die Maschinen bezog er aus seiner Schweizer Fabrik. 67 Aber in der Region waren auch einheimische Unternehmer aktiv, und das nicht nur in Augsburg. Die Kemptener Mechanische Baumwollspinnerei und -weberei wurde vom Augsburger Bankier Paul von Stetten zusammen mit Johann Karl Ebecke, der dort eine Weberei mit 44 Webstühlen und eine Säge- und Papiermühle betrieb, aus der Taufe gehoben. 68 Die mechanische Weberei der Familie Sandholz in Kempten entstand aus einer Umwandlung ihrer Baumwollwebereimanufaktur. 44), S. 123-129, hier 344f., Zitat 345. Mit Gründung der Münchner Börse 1830 und der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank 1834/ 35 begann München Augsburg die Rolle als erstem bayerischen Finanzplatz streitig zu machen. 66 Einige Beispiele: Planung und Ausführung der Maschinenaufstellung der Mechanischen Baumwollspinnerei- und Weberei führte André Koechlin & Cie. aus dem elsässischen Mulhouse aus. Die SWA holte Techniker aus dem Elsass und der Schweiz. Die Wasserturbine der SWA kam von einem französischen Pionier, auch Forster setzte bei Schöppler & Hartmann eine solche Turbine ein. Fabrikant Merz, der die Augsburger Kammgarnspinnerei errichtete, brachte von seiner Erkundungsreise nach Frankreich und in die Schweiz das Fachpersonal aus dem Elsass mit. Die Kammstühle bezog er aus Paris, die Mule-Spinnmaschinen aus Reims, weitere Maschinen aus Mulhouse. In der Augsburger Kammgarnspinnerei (AKS) war der Obermeister der Elsässer Eusebius Schiffmacher, der 1855 die Garnzwirnerei gründete, die spätere Zwirnerei- und Nähfadenfabrik Göggingen; K. B. M URR , Manchester (Anm. 36), S. 175f.; vgl. auch W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 125, 144, 146-148, 152f., 155f. 67 M. M AYER , Textilindustrie (Anm. 6), S. 75; W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 187. Schweizer Investoren gründeten auch die Baumwollspinnereien in Seltmanns, Blaichach und Waltenhofen. Sie brachten Kapital und technisches Wissen mit: Vgl. M. M AYER , Textilindustrie (Anm. 6), S. 75f.; W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 188f. 68 K. F ILSER , Industrialisierung (Anm. 6), S. 378f.; W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 188; M. M AYER , Textilindustrie (Anm. 6), S. 75. <?page no="219"?> K ATRIN H OLLY 220 Die Spindel- und Blätterfabrik Neudorf 1865 an der oberen Iller errichteten die Gebrüder Denzler. 69 Zahlreiche schwäbische Gründungsinitiativen, die mit eigenem Kapital erfolgten, holten sich allerdings gezielt Wissen und Technik aus dem Ausland. Beispielhaft ist dafür die Gründung der Bindfadenfabrik in Immenstadt durch miteinander verwandte Unternehmer aus Immenstadt, Schwabmünchen, Kaufbeuren und Bamberg. Die Produktionstechnik hatten zuvor zwei Beteiligte extra in England erkundet, die dann auch die Leitung übernahmen. Die Textilmaschinen kamen ebenfalls aus England. 70 In Kaufbeuren ging die Gründung der mechanischen Spinnerei von 1839 von dem dort ansässigen Textilgroßhandelshaus Heinzelmann aus. Heinzelmann der Ältere hatte auf Geschäftsreisen die Fabriken in der Schweiz und im Elsass kennengelernt und verfolgte den Firmenaufbau zusammen mit dem verschwägerten Großhandelshaus Wagenseil & Schrade und dem ebenfalls verwandten Bankhaus Johann Opitz sowie weiteren Verwandten. Aus der Schweiz wurden Techniker engagiert, die Maschinen kamen aus Zürich. 71 Die Entwicklung der Allgäuer Milchwirtschaft verschränkte Schweizer Initiativen, Wissenstransfer aus dem Ausland mit Innovation und Gründungsgeist vor Ort. Obwohl im Allgäu die Milchwirtschaft samt Käseproduktion in (genossenschaftlichen) Hauskäsereien etabliert war, kam die Initialzündung zur Ansiedlung industrieller Milchwirtschaft zunächst aus der Schweiz: die 1874 in Rickenbach gegründete Milchfabrik war eine Zweigniederlassung eines schweizerischen Kondensmilchproduzenten. 72 Die Kemptener ›Edelweiß-Camembert-Fabrik‹ dagegen, 69 Die Fabrik wurde 1868 um eine Baumwollzwirnerei ergänzt; vgl. M. M AYER , Textilindustrie (Anm. 6), S. 76. Weitere Beispiele: Weil die Kapitaldecke der Blaichacher Textilfabrik zu dünn war, übernahmen 1852 einheimische Hypothekargläubiger aus Kempten und Wilhams die Blaichacher Textilfabrik. Diese gründeten die Aktiengesellschaft ›Mechanische Baumwollspinnerei und Weberei Blaichach‹, dabei beteiligten sich weitere einheimische Großkaufleute und Unternehmer. 1871 wurde sie an einen Esslinger Textilunternehmer verkauft. In Berghofen gründete 1858 der Großhändler Samuel Bachmann aus Kriegshaber bei Augsburg eine Baumwollweberei, die er aber nach der Errichtung der mechanischen Weberei 1864 in Sonthofen wieder abgab: M. M AYER , Textilindustrie (Anm. 6), S. 75f.; W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 188. 70 M. M AYER , Textilindustrie (Anm. 6), S. 75f.; W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 189; R. V OGEL , Handwerk (Anm. 17), S. 343f. 71 W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 186. Die Fabrik produzierte ab 1840 und erarbeitete sich für ihre feinen Garne rasch einen guten Ruf. 72 Sie wurde 1917 mit der von Nestlé 1903 gegründeten Fabrik in Hegge bei Kempten, die Kindernahrung herstellte, unter dem Namen ›Linda-Gesellschaft für kondensierte Milch und Kindermehl mbh‹ vereinigt; W ILHELM M ESSENZEHL , Die Milchindustrie im bayerischen und württembergischen Allgäu, in: K. L INDNER (Hg.), Allgäuer Milchwirtschaft (Anm. 60), S. 461-471, hier 462. Ebenfalls eine Schweizer Gründung war 1905 die ›Berner <?page no="220"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 221 die sich zum größten milchverarbeitenden industriellen Unternehmen im Allgäu entwickelte, wurde von dem Einheimischen Karl Hoefelmayr aufgebaut. In diesem Fall transferierte der aus der Region stammende Unternehmer ausländisches Know-how ins Allgäu. Hoefelmayr schloss sein Studium an der Landwirtschaftlichen Universität in Paris ab und praktizierte danach bei südfranzösischen Camembertproduzenten. Er begann 1892 im Allgäu mit einer kleinen Käserei und produzierte als erster in Deutschland einen Camembert mithilfe selbst entwickelter Mikroorganismen. 1894 verlegte er die Produktion nach Eich bei Kempten. Weil er gleichmäßige Qualität in großen Mengen herstellen konnte, wurde er rasch erfolgreich. 73 Für eine sehr innovative Allgäuer Entwicklung steht beispielhaft auch die Firma J. M. Gabler-Saliter in Obergünzburg. Sie stammte aus einer seit 1713 betriebenen Handelsfirma für Butter und Schmalz und entwickelte erfolgreich Konservierungs- und Produktionsverfahren. 74 Im Gegensatz zu Schwaben war die oberfränkische Industrie beim Wissens-, Kapital- und Techniktransfer überwiegend von einer Orientierung nach Norden und Osten geprägt. Dort stand die Ansiedlung der frühen Porzellanfabriken zunächst ganz im Zeichen des Wissenstransfers aus Thüringen. Carolus Magnus Hutschenreuther, Sohn eines Porzellanmalers, kam Anfang des 19. Jahrhunderts aus Thüringen nach Hohenberg a. d. Eger, wo er 1822 mit der Porzellanproduktion begann. Nach sei- Alpen-Milchgesellschaft‹ in Biessenhofen bei Kaufbeuren, die Kondensmilch (Bärenmarke) produzierte; vgl. ebd., S. 465f. 73 1896 ersann er ein Verfahren, um den Camembert für den Versand nach Nordamerika einzudosen, 1907 begann er mit der Produktion von Milchzucker und 1918 gründete er eine Fabrik zur Herstellung von Milchpulver; vgl. W. M ESSENZEHL , Milchindustrie (Anm. 72), S. 463f.; K. F ILSER , Industrialisierung (Anm. 6), S. 381; A LFRED K UHLO , Geschichte der bayerischen Industrie, München 1926, S. 61; M ARITA K RAUSS (Hg.), Die bayerischen Kommerzienräte. Eine deutsche Wirtschaftselite von 1880 bis 1928, München 2016, S. 494; https: / / edelweiss-gmbh.com/ de/ Edelweiss/ Unternehmen/ Geschichte (aufgerufen am 1.11.2017, am 26.12.2018 nicht verfügbar). 74 W. M ESSENZEHL , Milchindustrie (Anm. 72), S. 463. Die Firma erfand ein Verfahren für die Haltbarmachung von Butter in Dosenpackung und vertrieb diese seit 1890. Das Unternehmen entwickelte außerdem in jahrelangen Versuchen seit 1904 das sogenannten Saliter- Milchtrocknungsverfahren, dann auch noch eine Technik zur Herstellung von Milchpulver, wobei sie die Patente international weitergab und zunächst nicht selbst produzierte. Weitere Milchindustrie aus heimischer Initiative waren die Molkerei Eisenharz bei Isny in Württemberg (gegr. 1882, Produktion von Nährkasein, später Milchpulver, -zucker, Sahnepulver u. a.), die Gebrüder Kast GmbH in Thalkirchdorf (gegr. 1898, Produktion von Käse, Butter, Trockenmilch) mit einem Zweigwerk in Tussenhausen und 1899 die M. Töpfer Gmbh in Dietmannsried (Lactanawerke) (Produktion von Butter, Käse, seit 1906 Kaseinfabrikation und daraus Produktion von Kaltleim, 1908 Milchzuckerfabrik und Camembert); vgl. ebd., S. 464f., 467. <?page no="221"?> K ATRIN H OLLY 222 nem Tod 1845 führte seine Frau den Betrieb weiter, der Sohn Lorenz machte sich 1857 in Selb selbständig. 75 Die große zweite Gründungswelle seit den 1870/ 80er Jahren wurde dann überwiegend von einheimischen Unternehmern und wohlhabenden Bürgern der Region getragen, 76 wie die Fabrik Kronester in Schwarzenbach/ Saale an der Grenze zu Martinlamitz, die Firma Retsch & Cie. in Holenbrunn bei Wunsiedel oder die Porzellanfabrik Schönwald. 77 Der Einsatz des privaten heimischen Kapitals war möglich, weil die Einrichtung einer Porzellanfabrik zunächst nicht besonders kapitalintensiv war. 78 Die mitunter völlig branchenfremden Unternehmer und Kapitalgeber holten sich ihr Fachpersonal aus Thüringen. 79 Manche Fabriken wurden von Porzellanmalern errichtet. 80 In der oberfränkischen Textilindustrie steckten einheimische und auswärtige Investoren ihr Kapital in den Ausbau der beiden Großbetriebe in Bayreuth und Gaustadt bei Bamberg. Das technische Know-how und die maschinelle Ausstattung wurden von außen beschafft. Bei beiden Projekten war der Augsburger Ludwig 75 E. M EY , Im Zeichen des Löwen (Anm. 29), S. 8f. 76 Das Folgende im wesentlichen aus A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 388f. 77 B EATRIX M ÜNZER -G LAS / H ERWARTH M ETZEL (Mitarb.), GründerFamilien - Familien- Gründungen. Ein Beitrag zur Geschichte der Porzellanindustrie Nordost-Bayerns (Beiträge zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte der Porzellanindustrie 5/ Schriften und Kataloge des Deutschen Porzellanmuseums 75), Hohenberg a. d. Eger 2002, S. 47f., 112- 120. Die Schönwalder Fabrik wurde bereits 1879 gegründet; vgl. A NDREA H ANOLD , Geschichte der Porzellanindustrie in Schönwald (Beiträge zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte der Porzellanindustrie 8/ Schriften und Kataloge des deutschen Porzellanmuseums 102), o. O., o. J., S. 18. Auswärtige Gründer waren die Ausnahme, wie der Porzellandreher Heinrich Schumann aus Thüringen, der zunächst bei Hutschenreuther in Selb gearbeitet und sich 1872 in Arzberg mit Baukeramik selbständig machte, ehe er 1881 auf Porzellan umstellte; vgl. B. M ÜNZER -G LAS / H. M ETZEL , GründerFamilien, S. 210-219. Auch die Porzellanfabrik Kühnert & Tischer in Moschendorf/ Hof wurde von Thüringer Initiatoren errichtet. Der Porzellanhändler Philipp Rosenthal kam aus Westfalen; vgl. E. M EY , Porzellanindustrie (Anm. 40), S. 39. 78 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 389f. Erst nach 1895 wurde der Kapitalbedarf höher, so dass Umwandlungen in Aktiengesellschaften mit Hilfe auswärtigen Kapitals erfolgten, wie bei der Porzellanfabrik Schirnding 1909 oder der Umwandlung der Rosenthal AG 1897. Auch die seit den 1880er Jahren einsetzende Konzentrationswelle wurde aus Sachsen und Thüringen nach Oberfranken hineingetragen. 79 So bei der Gründung der Porzellanfabrik Zeh, Scherzer & Cie. in Rehau; B. M ÜNZER - G LAS / H. M ETZEL , GründerFamilien (Anm. 77), S. 316-319. 80 Beispielsweise Krautheim & Adelberg in Selb, die Porzellanfabrik in Schirnding oder Greiner & Herda in Oberkotzau , so Krautheim & Adelberg in Selb, die Porzellanfabrik in Schirnding oder Greiner & Herda in Oberkotzau; vgl. M ÜNZER -G LAS / H. M ETZEL , GründerFamilien (Anm. 77), S. 16-21, 173f.; A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 388f. <?page no="222"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 223 August Riedinger 81 federführend tätig, der in Bayreuth bereits 1853 die Gasbeleuchtung aufgebaut hatte. Für die dortige Textilfabrik waren neben ihm selbst der Stadtgouverneur Herzog Alexander von Württemberg und das Bankhaus H. J. Merck & Co. aus Hamburg Aktionäre. 82 Das Bayreuther Modell diente in Gaustadt bei Bamberg als Vorbild. So gründeten Riedinger und der Unternehmer Friedrich Krackhardt aus Bamberg eine Aktiengesellschaft. 83 Andere Wege wurden 1863 mit der Errichtung der ›Mechanischen Baumwollen-Spinnerei Kulmbach‹ beschritten. Diese erste Kulmbacher Aktiengesellschaft war ein Zusammenschluss aus einheimischen Anlegern, v. a. Verlegern und Färbern. Weil die Gründung jedoch während des Amerikanischen Bürgerkriegs erfolgte, wurde das letzte Drittel des erforderlichen Kapitals nicht mehr gezeichnet. Die Fabrik begann 1895 ihre Produktion 81 In der besonders herausragenden Augsburger Unternehmerpersönlichkeit des Ingenieurs Ludwig August Riedinger verbanden sich technische Begabung mit unternehmerischem Geschick. Der aus Württemberg stammende Textiltechniker brachte von seinen Studienreisen im Elsass und England nicht nur Wissen aus dem Ausland nach Augsburg mit, sondern transferierte seinen Erfahrungsschatz später wieder in andere Regionen Deutschlands und Europas. Er arbeitete zunächst von 1838 bis 1852 in der SWA, löste drei Jahre nach seinem Dienstantritt die französischen technischen Leiter ab und rationalisierte erfolgreich die Produktionsabläufe. Danach baute er drei Textilfabriken in Augsburg sowie weitere in Kolbermoor, Bayreuth, Gaustadt bei Bamberg, Erlangen, Kulmbach, Esslingen, Worms und Köln auf. Er brachte dabei sein Wissen über Betriebsorganisation, Technik und Unternehmensfinanzierung ein. Vor allem aber betätigte er sich in der Errichtung von Gasanstalten, die er europaweit in 67 Städten und in zahlreichen Fabriken, Bahnhöfen usw. aufbaute. 1857 gründete er ergänzend eine Fabrik, die Gasapparate und weiteres Zubehör fertigte und als Maschinenfabrik ausgebaut wurde. Zu Riedinger vgl. P. F ASSL , Riedinger (Anm. 44); A. S CHLENKRICH , Riedinger (Anm. 44); W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 167-169; K. B. M URR , Manchester (Anm. 36), S. 176. 82 Riedinger besorgte die Spinnmaschinen aus England, die Dampfmaschinen kamen aus Nürnberg, aus Augsburg kamen von seiner eigenen Fabrik die Gasbeleuchtung sowie die Dampfheizungen von Johannes Haag und die Transmissionen von der Reichenbach’schen Maschinenfabrik. 1855 begann der Betrieb mit 630 Beschäftigten. 1886 wurde eine Weberei angegliedert; R. L OIBL , Textilherstellung (Anm. 12), S. 75-77; Mechanische Baumwoll- Spinnerei & Weberei Bayreuth (Hg.), Und dennoch drehen sich wieder die Spindeln. Hundert Jahre Mech. Baumwoll-Spinnerei & Weberei Bayreuth, Bayreuth 1953, v. a. S. 15-23. 83 1858 nahm die Fabrik den Betrieb auf, 1860 wurde die geplante Anzahl von 52.000 Spindeln und 750 Webstühlen erreicht, später wurden weitere 18.000 Spindeln und 1.000 Webstühle angeschafft. Die Maschinen kamen aus England. 1897 wurde auf das ertragreiche Mako-Spinnen umgestellt und dafür ein eigener Spinnereiflachbau erstellt. Dazu verdoppelte sich die Spindelzahl auf 125.000 Stück; A NDREAS D ORNHEIM / S VENJA G IERSE / S TEFANIE K IESSLING , Erba - verwobene Geschichte. Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung im Rahmen der Landesgartenschau Bamberg 2012 vom 26. April bis zum 7. Oktober, Bamberg 2012, S. 11, 15, 17. Zu dieser Gründung vgl. auch W. K RINGS , Unternehmer (Anm. 10). <?page no="223"?> K ATRIN H OLLY 224 mit einer viel zu dünnen Kapitaldecke und ging 1869 in den Konkurs. 1870 wurde mit Hilfe auswärtigen Kapitals die Kapitalisierung durch eine neue Aktiengesellschaft sozusagen nachgeholt und die Fabrik gerettet. 84 Anders liefen die Gründungen in Hof ab, denn dort »[…] blieben die Einheimischen unter sich.« 85 Hinzu kam, dass das Bankwesen in der Stadt kaum ausgebildet war. Die in Hof ansässigen Textilhändler und Verleger 86 investierten ihr erwirtschaftetes Kapital in den Aufbau von Fabriken. Sie hatten sich in England, Italien, Frankreich und in der Schweiz umgesehen. 87 Als der Eisenbahnanschluss 1851 kam, ging es schnell. Zunächst entstand eine Appretur, 1853 wurde als erster textiler Großbetrieb die Mechanische Spinnerei Hof AG gegründet. Die Anleger waren ausschließlich Textilkaufleute und andere Kaufleute aus Hof, die bis 1857 insgesamt 2,4 Mio. Gulden aufbrachten. Auswärtige wurden explizit ausgeschlossen. Technische Leiter holten sie aus Isny in Württemberg, später aus Köln. Vier Leute wurden zur Ausbildung zum Schweizer Hersteller der Spinnmaschinen geschickt. Ähnlich lief die Gründung der Mechanischen Weberei von 1856 ab, welche die Produkte der Spinnerei abnahm. 88 Ein weiteres Beispiel ist die Vogtländische Baumwollspinnerei, die der Hofer Textilhändler Wunnerlich 1884 unter Mitwirkung einer Bamberger Bank projektierte. Bald gehörten 2 / 3 der Firma der Familie Wunnerlich und 1 / 3 der Augsburger Bankiersfamilie Schmid, die auch den technischen Leiter des Unternehmens einstellte. 89 Ein besonderes Merkmal der Textilindustrie Oberfrankens waren die rund 50 mittelständischen Familienbetriebe. Sie waren vor allem in Forchheim, Hof a. d. Saale, Münchberg, Schwarzenbach und der Umgebung von Marktredwitz angesie- 84 R. L OIBL , Textilherstellung (Anm. 12), S. 79. 85 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 381. 86 Zur Handweberei und zum Verlagswesen in und um Hof vgl. auch K ARL S CHMID , Die Entwicklung der Hofer Baumwoll-Industrie 1432-1913 (Wirtschafts- und Verwaltungsstudien mit besonderer Berücksichtigung Bayerns 60), Leipzig-Erlangen 1923, S. 28-42. 87 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 379. 88 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 380f. Aber nicht alle Initiativen verliefen erfolgreich. Während der Textilkrise infolge des Amerikanischen Bürgerkriegs zeigte sich, dass in der Mechanischen Spinnerei die billigen Spinnmaschinen im Betrieb zu teuer und unrentabel waren, für neue Maschinen fehlten die Mittel. Die Fabrik wurde 1869 liquidiert und mehrheitlich von den Hauptgläubigern, den Banken, als ›Neue Baumwollspinnerei‹ übernommen. Die Spinnerei am Teufelsberg von 1861 wurde 1871 an einen Londoner Großkaufmann verkauft; vgl. ebd. 89 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 380f. Weitere Hofer Gründungen: Die Spinnerei Neuhof war 1896 von Hofer Webereifabrikanten errichtet worden, die sich von fremden Garnlieferanten emanzipieren wollten. Es gab auch noch kleinere Textilunternehmen in Hof, welche mit Hilfe einheimischen und fremden Kapitals entstanden. Die Textilmaschinen kamen aus England, dem Elsass, der Schweiz und Sachsen; vgl. ebd. <?page no="224"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 225 delt. 90 Einige dieser Fabrikanten kamen aus der Verlegerschicht; hier soll nur ein Beispiel näher vorgestellt werden. Der Verlag von Johann Benker in Dörflas vor den Toren Marktredwitz’ hatte sich auf Buntweberei spezialisiert. Der mittelgroße 91 Verlag produzierte v. a. für den deutschsprachigen Raum. Als der Eisenbahnanschluss nach Marktredwitz beschlossene Sache war und gleichzeitig ausgereifte mechanische Webstühle mit automatischem Schiffchenwechsel für Buntweberei zur Verfügung standen, baute die zweite Firmengeneration eine Buntwebereifabrik mit angeschlossener Garnfärberei auf. Im Januar 1875 begann der Betrieb mit 16 Beschäftigten, Ende des Jahres waren es bereits 61 und 1881 140 Personen. Die Firma stellte bunte Gewebe für den allgemeinen Hausbedarf her, wie Schürzen, Bettwäsche und Tischdecken. Als Buntweberei konnte sich die Fabrik trotz der durch den Anschluss Elsass-Lothringens an Deutschland ausgelösten Textilkrise rasch etablieren und wuchs in den Folgejahren unermüdlich. 1927 wurden 989 Mitarbeiter beschäftigt. Marktkenntnis und technisches Wissen waren in der Familie aufgrund jahrzehntelanger Verlegertätigkeit und gezielter Ausbildung vorhanden. Die Familie hatte sich nach Erkundungsfahrten in England auch dort die Textilmaschinen beschafft. 92 90 R. L OIBL , Textilherstellung (Anm. 12), S. 81. 91 Von 1843 bis 1848 arbeiteten für den Verlag zwischen 46 und 56 Hausweber auf 64 bis 116 Webstühlen, 1873/ 74 waren es 74 Weber. Nachweise vgl. Anm. 92. 92 Der früheste archivalische Nachweis für den Verlag liegt derzeit für 1821 vor: StadtA Marktredwitz, B 189: Protokoll über Eingemeindungsverhandlungen von Dörflas nach Marktredwitz vom 10.1.1821. In der Literatur wird für den Verlag von Johann Benker 1810 als Gründungsdatum ohne Nachweis genannt: C. S TEPHAN , Marktredwitz (Anm. 21), S. 47. Die Ausführungen zur Buntweberei Benker beruhen auf Forschungen im StadtA Marktredwitz (Bestand der Buntweberei Johann Benker; Bestand B von Marktredwitz; Bestand Dörflas) und StA Bamberg sowie in privaten Unterlagen der Familie Benker, ergänzt durch deren mündliche Überlieferung: K ATRIN H OLLY , Vom Verlag zur Fabrik. Die Buntweberei Johann Benker im 19. Jahrhundert, unveröff. Vortragsmanuskript 2016, ergänzt 2017. Auch StadtA Marktredwitz, Bestand Buntweberei Johann Benker, vorl. Nr. 49 (Lohnbuch), vorl. Nr. 60-61, 167, 172-173, 239 (Debitoren-Hauptbücher von 1837-1911), vorl. Nr. 90, 105-111 (Weberbücher 1850-1859, 1863-1878), vorl. Nr. 97, 100-102, 112-113, 115, 118 (Inventare 1841-1856); sowie Bestand Dörflas 5/ 117: Register für die Gewerbeanmeldungen 1868-1882. Ohne Nachweise, aber zuverlässig und als Überblick geeignet, vgl. auch C. S TEPHAN , Marktredwitz (Anm. 21), S. 47, 89; B. L EUT - HEUSSER , Marktredwitz (Anm. 21), S. 78-84 (wenig Nachweise, teilweise fehlerhaft). Zu den Kommerzienräten Karl und Heinrich Benker vgl. auch M. K RAUSS , Kommerzienräte (Anm. 73), S. 409f. (allerdings war Karl nicht, wie dort angegeben, Bürgermeister von Marktredwitz, sondern von Dörflas). Hinweise zu weiteren ähnlichen Firmen vgl. in Anm. 39. <?page no="225"?> K ATRIN H OLLY 226 Ein oberfränkisches Eigengewächs war die Entwicklung des Hochglanzschleifens von Granit, zunächst per Hand, dann mit Maschinen. Das Verfahren hatte Erhardt Ackermann aus Weißenstadt erfunden. Er bekam in den 1850er Jahren die ersten Aufträge. Die Granitschleiferei des Fichtelgebirges hielt bis 1914 praktisch ein Weltmonopol. Offenbar war die Qualität so hoch, dass schwerer schwarzer skandinavischer Granit, den der Kundengeschmack verlangte, extra zu den Schleifereien nach Oberfranken transportiert wurde. 93 2. Die Rolle der Hausindustrie Schwaben war in der Frühen Neuzeit für seine exportorientierte protoindustrielle Produktion von Barchent und Leinen bekannt. 94 Die im Verlag organisierte Produktion erfolgte nicht nur von städtischen, sondern auch von ländlichen Webern, häufig verbunden mit einer (Nebenerwerbs-)Landwirtschaft. Die städtischen Kaufleute sorgten für den weltweiten Absatz. Doch bereits Ende des 18. Jahrhunderts setzte der Niedergang ein, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts brach dieser Erwerbszweig völlig weg. Ursachen waren zunächst internationale Marktverschiebungen, zuletzt die aufkommende Textilindustrie, mit der die Weberei der bisher von den Handwebern hergestellten Qualitäten ab den 1830er Jahren rasch in die Fabriken verlegt wurde. 95 Der Anteil Schwabens an den Hausindustriebetrieben in Bayern betrug 1907 nur 7,5 %, in den Jahren 1882 und 1895 lag der Wert sogar nur 93 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), 378. 94 Zum Konzept der Protoindustrie vgl. P ETER K RIEDTE / H ANS M EDICK / J ÜRGEN S CHLUMBOHM , Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 53), Göttingen 1977, dort mit Forschungsüberblick S. 13-35. Zur Diskussion des Konzepts und relativierende sowie differenzierende Ergebnisse nachfolgender Forschung zusammenfassend vgl. A NKE S CZESNY , Zwischen Kontinuität und Wandel. Ländliches Gewerbe und ländliche Gesellschaft im Ostschwaben des 17. und 18. Jahrhunderts (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 7), Tübingen, 2002, S. 15-22. Zur Protoindustrie in Schwaben vgl. u. a. ebd. und D IES ., Eine europäische Textilregion im Wandel, in: R OLF K IESSLING (Hg.), Schwäbisch-Österreich. Zur Geschichte der Markgrafschaft Burgau (1301-1805), Augsburg 2007, S. 53-89. Dort ist auch die ältere einschlägige Literatur verzeichnet. Zur protoindustriellen Leinenweberei in Immenstadt und dem Oberallgäu vgl. R. V OGEL , Handwerk (Anm. 17), S. 333-343. Einen Überblick zur Protoindustrialisierung in Süddeutschland gibt W OLFGANG W ÜST , Protoindustrialisierung in Süddeutschland: frühe Themenzugänge, in: D ERS ./ T. R IEDL (Hg.), Industrielle Revolution (Anm. 12), S. 3-19. 95 W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 176, 179-181. <?page no="226"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 227 bei 6,2 und 4,4 %. 96 1907 bezifferte sich der Anteil der in der Hausindustrie Schwabens Beschäftigten auf 5,9 %. Davon waren allein 45,7 % in der Industrie der Holz- und Schnitzstoffe tätig, 97 und diese überwiegend in der Strohhutflechterei im Bezirksamt Lindau. 98 Seit dem 17. Jahrhundert war in der Region Florentiner Hutflechterei im Nebenerwerb zur Landwirtschaft angesiedelt, die sich seit 1843 im Niedergang befand. Erst der Eisenbahnbau 1853 von München nach Lindau verbesserte die Absatzmöglichkeiten, technische Innovationen seit Ende der 1860er Jahre beschleunigten und verbilligten die Produktion. Die erste Strohhutfabrik, die abgetrennt vom Wohnhaus produzierte, wurde 1870 durch die Firma Aurel Huber gebaut. Die Einführung des Zollschutzes auf deutsche Hüte 1878 löste den entscheidenden Aufschwung der Strohhutfabrikation aus. 99 1885 existierten in Lindenberg 23 Strohhuthersteller und 13 -händler, 1890 gab es in Lindenberg und Umgebung über 34 Strohhuthersteller. Die Produktion erfolgte in Fabriken und Heimarbeit, wobei die Heimarbeit dominierte: 1900 wurden im Westallgäu rund 4 Millionen Strohhüte von 280 Werkstättenarbeitern und 2.800 Heimarbeitern, überwiegend Frauen, produziert. Für den Zeitraum 1906/ 1908 führt Koelbl 26 Fabriken auf, die im Jahresdurchschnitt rund 6,3 Millionen Hüte fertigten und 4.822 Personen beschäftigten, davon mindestens 3.865 in Heimarbeit. 100 Die in der bayerischen Gewerbestatistik 1907 aufgeführten 630 Betriebe mit 798 Beschäftigten sind offenbar die rein heimindustriell arbeitenden Produzenten. 101 In Oberfranken entwickelte sich die hausindustrielle, exportorientierte Fertigung im Verlagswesen erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Ihren Höhepunkt erlebte sie im Zeitraum von 1855 bis um 1870. Weil findige Verleger auf exportorientierte Produktnischen setzten, welche die Industriebetriebe nicht abdeckten, konnte sich die oberfränkische Hausindustrie trotz des einsetzenden Niedergangs ab 1879 bis Anfang des 20. Jahrhunderts halten. Hier handelte es sich also nicht um eine frühneuzeitliche Protoindustrie, sondern um eine Begleiterscheinung der 96 Gewerbe und Handel in Bayern. Nach der Betriebszählung vom 12. Juni 1907, hg. v. Bayerisches Statistisches Landesamt (Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern 82), München 1911, S. 321*, 323*. Im Bekleidungsgewerbe waren in der schwäbischen Hausindustrie 33,4 % und in der Textilindustrie 16,1 % der Beschäftigten tätig; ebd., S. 323*. Insgesamt waren in Schwaben in der Hausindustrie nur 2.155 Personen tätig; ebd., S. 321*. 97 Gewerbe und Handel (Anm. 96), S. 321*, 323*. 98 Gewerbe und Handel (Anm. 96), S. 326*. 99 M ARTIN K OELBL , Hundert Jahre Allgäuer Strohhut-Industrie 1814-1913, Lindenberg im Allgäu 1923. 100 M. K OELBL , Allgäuer Strohhut-Industrie (Anm. 99), S. 40f. Für die Zahlen von 1885 und 1900: www.lindenberg.de/ index.shtml? tourismus-hutgeschichte (aufgerufen am 3.12.2018). 101 Gewerbe und Handel (Anm. 96), S. 326*. <?page no="227"?> K ATRIN H OLLY 228 Industrialisierung. 102 Insbesondere die Verarbeitung empfindlicher Garnqualitäten und die Herstellung komplizierter Muster, die von den mechanischen Webstühlen lange nicht bewältigt werden konnten, waren die Marktnische der Handweber. 103 In den Jahren 1882 und 1895 waren 46,2 % und 1907 immer noch 37,4 % aller hausindustriellen bayerischen Betriebe in Oberfranken angesiedelt, der mit Abstand höchste Wert in Bayern überhaupt. 1882 waren von den bayerischen in der Hausindustrie beschäftigten Personen in Oberfranken 47,8 % tätig. Bis 1895 stieg der Wert auf 49,8 % und sank bis 1907 auf 46,9 %. Davon entfielen 61,1 % auf den Textilbereich, ergänzt von 9,5 % im Bekleidungsgewerbe. 28,5% der oberfränkischen Hausindustriellen waren im Bereich der Holz- und Schnitzstoffe, also vor allem in der Korbwarenflechterei beschäftigt. 104 In der Textilherstellung dominierten 1907 vor allem Baumwollspinnerei (Stadt und Bezirksamt Hof), Wollweberei (Bezirksämter Berneck, Hof, Münchberg, Stadtsteinach), Baumwollweberei (Bezirksämter Berneck, Hof, Münchberg, Naila, Rehau, Stadtsteinach, Wunsiedel), in geringerem Umfang andere Produktionszweige, wie Teppichherstellung, Leinenweberei, Häkelei und Stickerei, Spitzenherstellung, Weißzeugstickerei, Posamentenherstellung und Textilveredelungen. Die Näherei war in den Bezirksämtern Hof und besonders Naila stark vertreten. Die hausindustrielle Fertigung von Holz- und Schnitzstoffen umfasste 1907 vor allem die Korbmacher und Korbflechter in den Bezirksämtern Lichtenfels mit 1.354 und Kronach mit 715 Betrieben, im letzteren Bezirksamt kamen noch 124 Betriebe mit sonstigen Flechterzeugnissen hinzu. 105 Die hausindustriell Tätigen fanden sich also vor allem im Osten Oberfrankens in den Mittelgebirgen (Fichtelgebirge, Frankenwald, Bayerisches Vogtland) mit meist kargen Böden und ungünstigem Klima, eine traditionell gewerbereiche Gegend, weil dort Landwirtschaft praktisch nur als Nebenerwerb für den Eigenbedarf betrieben werden konnte. 106 Bis Ende des 18. Jahrhunderts/ Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Gewerbe zünftisch und in der Regel für den regionalen Markt ausgeübt. Dann entwickelte sich zunehmend die nichtzünftische Hausindustrie im Verlagssystem, die ihren Schwerpunkt auf das Land verlagerte. 107 Im 102 Zur Entwicklung kleinbetrieblicher Strukturen auch im Verlag und zur Hausindustrie parallel zur Industrialisierung vgl. F.-W. H ENNING , Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Anm. 14), S. 347, 875-877. Zur Hausindustrie in Bayern vgl. D IRK G ÖTSCHMANN , Wirtschaftsgeschichte Bayerns. 19. und 20. Jahrhundert, Regensburg 2010, S. 185, 188. 103 Zur langsamen Mechanisierung der Textilindustrie vgl. F.-W. H ENNING , Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Anm. 14), S. 454-469, 864-866. 104 Gewerbe und Handel (Anm. 96), S. 321*, 323*. 105 Gewerbe und Handel (Anm. 96), S. 324*-327*. 106 T. N EFF , Textilindustrie (Anm. 50), S. 2f. 107 Zur Heimindustrie des 19. bis Anfang 20. Jahrhunderts in Oberfranken vgl. H ANS D ENGLER , Die Heimarbeit des Frankenwaldes, Diss. Frankfurt, Hof 1932; A LBRECHT H ÄNLEIN , Beiträge zur Geschichte der Hausweberei im Bayerischen Voigtland, München <?page no="228"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 229 folgenden wird als das bedeutendste Beispiel für die hausindustrielle Textilproduktion Oberfrankens die Weberei vorgestellt. Die Leinenweberei erlebte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst einen starken Aufschwung, ging dann aber wegen der industriellen Konkurrenz wieder stark zurück. Gleichzeitig verbreitete sich die Baumwollweberei. Ausschlaggebend dafür war die Überflutung des Marktes mit billigem englischen Maschinengarn, das die Verleger in England einkauften. Später kam Maschinengarn aus Sachsen und Westfalen hinzu. Zudem entstanden in Oberfranken zahlreiche Färbereien, in denen Garne und Stoffe kostengünstig gefärbt werden konnten. Damit waren die oberfränkischen, hausindustriell hergestellten Baumwollgewebe auf dem deutschen Markt konkurrenzfähig. 108 Seit Mitte der 1850er Jahre Verleger aus dem sächsischen Vogtland wegen des niedrigen fränkischen Lohnniveaus in Oberfranken Aufträge vergaben, blühte die hausindustrielle Weberei bis ans Ende der 1860er Jahre noch einmal auf. 109 Da zunächst vor allem mechanische Spinnereien gegründet wurden, blieb den Hauswebern anfangs die industrielle Konkurrenz vor der Haustüre erspart. 110 Als um 1860 die ersten mechanischen Webereien in Oberfranken entstanden, wurde die Herstellung billiger Baumwollstapelware für Handweber unrentabel. Sie stellten vermehrt auf halbwollene, wollene und halbleinene Artikel um. Reine Baumwollweberei existierte in 1894; C ARL H OFMANN , Die Hausweberei in Oberfranken, Diss. Frankfurt a. Main, Hof- Saale 1927; F RIEDRICH K ÄSTNER , Die oberfränkische Handweberei, Diss. München, Bayreuth 1918; A RND K LUGE , Zünftige und nichtzünftige Handweberei in Oberfranken, in: K. B. M URR u. a. (Hg.), Die süddeutsche Textillandschaft (Anm. 3), S. 139-159; T. N EFF , Textilindustrie (Anm. 50); K URT P ITTROFF , Die Schal-Industrie der nordoberfränkischen hausindustriellen Handweberei, Diss. Erlangen, Helmbrechts 1926; L UDWIG R EINHOLD , Die Handstickerei-Industrie Oberfrankens. Entwicklung und heutige Lage, Diss. Jena 1923; H ANS S EIFFERT , Hinter Webstuhl und Spulrad. Geschichtliches und Volkskundliches aus der Handweberei im Frankenwald, Helmbrechts 1934; H EINRICH M EYER , Die Entwicklung der Korbflechterei und des Korbhandels am Obermain, in: Geschichte am Obermain 4 (1966/ 67), S. 131-151; A RNOLD L ASSOTA / B EATRIX M ÜNZER - G LAS , So war’s halt. Leben und Arbeit der oberfränkischen Hausweber. Ein Lesebuch aus Anlaß der gleichnamige Ausstellung des Oberfränkischen Textilmuseums in Helmbrechts und des Westfälischen Industriemuseums/ Textilmuseum in Bocholt (Westfälisches Industriemuseum: Quellen und Studien 2), Essen 1994; G ÜNTER D IPPOLD , Industrialisierung im Dorf. Zur wirtschaftlichen Entwicklung von Redwitz im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: J OCHEN N EUMANN (Hg.), 750 Jahre Redwitz und Unterlangenstadt. Geschichte und Geschichten, Trainau 2000, S. 217-242, 422-425. 108 C. H OFMANN , Hausweberei (Anm. 107), S. 29-40. 1825 wurden vor allem »Schnupf-, Hals-, Kopftücher, Baréges, Kleiderzeuge, gestreifte und glatte Kottonaden, gestreifte, quadrierte und sog. Kölner Bettzeuge, gestreifte und weiße Bettbarchente« hergestellt; vgl. ebd., S. 32. 109 T. N EFF , Textilindustrie (Anm. 50), S. 17. 110 C. H OFMANN , Hausweberei (Anm. 107), S. 40. <?page no="229"?> K ATRIN H OLLY 230 der Hausindustrie nur noch als in Kette und Schuss mit aufwendigen Mustern betriebene Buntweberei, bis schließlich ab den 1870er Jahren in der mechanischen Weberei der Schützenwechsel ausgereift automatisiert war. Die Hausweber verarbeiteten auch kurze Ketten sowie weichgedrehte und geringwertige, leicht reißende Garne. In der Wollweberei spezialisierte man sich auf Wolltuche, auch auf Kaschmirgewebe, die wegen ihrer Empfindlichkeit lange nur auf Handwebstühlen verarbeitet werden konnten. Bei komplizierten Mustern, kleinen Chargen, schnellen Materialien- und Modewechseln war die Handweberei wesentlich anpassungsfähiger und flexibler als die Fabrikfertigung. Deshalb reagierte sie rascher auf Marktverschiebungen, auch wenn diese zwischendurch immer wieder krisenhafte Ausmaße annahmen. Hier spielten die Weber ihre Überlegenheit gegenüber der Fabrikmassenware aus. Die Verleger erschlossen nun sogar den internationalen Markt. Es wurde nicht nur in europäische Länder, sondern auch in die Türkei, nach Asien, Arabien, Afrika und Lateinamerika exportiert. Als die Maschinenwebstühle zunehmend empfindliche Gewebe verarbeiten konnten und die mechanischen Buntwebstühle so ausgereift waren, dass sie komplexe mehrfarbige Muster bewältigten, sog letztendlich die Industrialisierung die hausindustrielle Weberei in Oberfranken auf. 111 Ein weiteres Beispiel ist die Korbmacherei. Sie begann im 17. Jahrhundert, anfangs vor allem in Ergänzung der wenig ertragreichen Landwirtschaft und bediente den regionalen Markt. 112 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine Arbeitsteilung von Korbmachern und Korbhändlern, letztere waren oft auch Verleger. Das Gewerbe nahm erst mit der Erschließung internationaler Märkte durch findige Unternehmer seit etwa den 1850er Jahren einen starken Aufschwung. Unterstützt wurden die Bemühungen durch die seit 1846 in Betrieb genommene Bahnlinie Bamberg-Lichtenfels und die Aufhebung des Konzessionszwanges 1845. Seitdem produzierten die Korbmacher ausschließlich für den Überseeabsatz, überwiegend nach Nordamerika. Als Rohmaterial wurden Weidenruten verarbeitet, später kam vor allem im Steinachtal das Palmblatt hinzu, importiert aus Kuba bzw. über Frankreich. 113 Die Branche entwickelte sich beeindruckend. Die oberfränkische Korbindustrie setzte 1901 zehn Millionen Mark um, davon entfiel die Hälfte auf den Ort Lichtenfels. 114 111 C. H OFMANN , Hausweberei (Anm. 107), S. 41-74; T. N EFF , Textilindustrie (Anm. 50), S. 20-23. 112 H. M EYER , Entwicklung der Korbflechterei (Anm. 107), S. 131-140. 113 H. D ENGLER , Heimarbeit (Anm. 107), S. 74-77; H. M EYER , Entwicklung der Korbflechterei (Anm. 107), S. 143. Zur Korbmacherei in Redwitz an der Rodach vgl. auch G. D IPPOLD , Industrialisierung im Dorf (Anm. 107), S. 230-242. 114 1875 waren im Bezirk Kronach im Frankenwald 521 Betriebe mit 843 Korbmachern tätig. 1907 waren es 731 Betriebe mit 1.539 Beschäftigten. Alleine in Redwitz an der Rodach (Landgericht Lichtenfels), dem lange wichtigsten Korbmacherdorf im Dreieck <?page no="230"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 231 3. Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei der Industrialisierung von Schwaben und Oberfranken 3.1 Zeiträume der Industrialisierung Die bisherige Darstellung erklärt die Zeitverschiebungen der Industrialisierungsphasen in Schwaben und Oberfranken. Die frühe Industrialisierungswelle in Augsburg ab 1836 beruhte nicht nur auf den Standortfaktoren Arbeitskräfte, Kapitalressourcen und dem aufnahmefähigen Markt für Baumwollgarn. Weitere Voraussetzungen waren die Gründung des Zollvereins 1834 und die 1840 eröffnete Eisenbahnlinie München-Augsburg. Aber wie der Vergleich zu Oberfranken zeigt, setzte die Industrialisierung in Augsburg nur deshalb so früh ein, weil die Wasserkraft eine effektive und kostengünstige Energieversorgung ermöglichte. Nach der Initialzündung, der Gründung der Augsburger Kammgarnspinnerei 1836, folgten aufgrund der günstigen Umstände zahlreiche weitere Initiativen. Allein bis 1856 wurden mindestens zehn größere Unternehmen gegründet. Auch im Allgäu war die Verfügbarkeit von Wasserkraft neben anderen Standortfaktoren der letztlich ausschlaggebende Grund für die frühen Industrieansiedlungen. Hier begannen die Fabrikgründungen in Kaufbeuren mit der 1840 in Betrieb gehenden Spinnerei. An der oberen Iller wurden die ersten Textilfabriken 1846 aufgebaut, weitere folgten bis 1868, hier auch abseits der großen Ortschaften. An der unteren Iller wurden die Fabriken seit 1857 aufgebaut. Seit Ende der 1830er Jahre produzierten im Allgäu Haus- und Alpsennereien (keine Fabriken) Emmentaler und Weichkäse. Die Hochzeit dieser Produktion kam mit den Eisenbahnanschlüssen im Allgäu ab den 1850er Jahren, die den raschen Absatz der verderblichen Lebensmittel in die Großstädte ermöglichten. 115 Doch die eigentliche Gründungswelle der Milchindustrie setzte erst mit dem Fortschritt der Lebensmittelchemie in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein. 116 Die Gründungswelle der oberfränkischen Textilfabriken begann im Vergleich zu Schwaben rund 15 bis 20 Jahre später mit der Erschließung der Kohlereviere durch die Eisenbahn. Wie in Augsburg und einem großen Teil von Schwaben war Lichtenfels-Coburg-Kronach, wurde 1872 ein halbe Million Gulden für Korbwaren umgesetzt. 1885 beschäftigten im Bezirksamt Lichtenfels rund 30 Firmen ca. 13.000 Arbeiter. Später verlor Redwitz an der Rodach seine starke Stellung, und der Ort Lichtenfels übernahm die Führung in der Branche. Vgl. G. D IPPOLD , Industrialisierung im Dorf (Anm. 107), S. 235, 238; H. D ENGLER , Heimarbeit (Anm. 107), S. 77; Jahresbericht der Handels- & Gewerbekammer für Oberfranken für die Jahre 1885 & 1886, Bayreuth 1887, S. 75. 115 1855 wurden bereits insgesamt rund 100.000 bis 120.000 Zentner Käse produziert; C. W ACHTER , Allgäuer Milchwirtschaft (Anm. 60); W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15), S. 189. 116 A. K UHLO , Geschichte (Anm. 73), S. 61; W. M ESSENZEHL , Milchindustrie (Anm. 72). <?page no="231"?> K ATRIN H OLLY 232 also die Energieversorgung, hier auf Basis der Dampfkraft, der entscheidende Standortfaktor, der die Industrialisierung auslöste. In Bayreuth und Bamberg sowie vor allem in Hof wurden die Fabriken hochgezogen, es folgten die Gründungen flächig über den Norden und Osten verteilt. Ein markantes Beispiel für einen solchen Industrialisierungsschub ist Marktredwitz mit seinen Vororten. Der Ort entwickelte sich von 1878 bis 1883 zu einer Eisenbahndrehscheibe mit Anbindung nach Böhmen, Sachsen und in den Süden Bayerns. Bereits bestehende Betriebe blühten wieder auf und wurden erweitert. Es folgten v. a. zahlreiche Neugründungen, 117 auch im unmittelbar angrenzenden Dörflas etablierten sich drei Textilfabriken. 118 Die Porzellanindustrie Oberfrankens kennzeichnete andere Zyklen. Die Gründung zahlreicher Porzellanmanufakturen, oft auf dem Land, weil dort Holz, Wasser, begrenzte mechanische Wasserkraft und der Rohstoff Kaolin zur Verfügung standen, begann bereits Ende des 18. Jahrhunderts. Diese Betriebe gingen allerdings teilweise wieder ein. Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden weitere fünf Manufakturen in Hohenberg a. d. Eger, 119 in Arzberg, 120 Plößberg bei Selb (Jacob Zeidler) oder in Moschendorf bei Hof. Es blieb lange bei diesen wenigen Manufakturen. Erst die weltweite Porzellankonjunktur der 1880er Jahre führte zur regelrechten Gründungswelle u. a. in Rehau, Selb, Martinlamitz, Holenbrunn bei Wunsiedel, Schirnding, Arzberg, Markleuthen, Röslau und Oberkotzau. 121 In Kulmbach löste der Aufschwung des Exportbiers infolge des Eisenbahnbaus eine Umstrukturierung der Brauereien aus. Hier erschloss der Eisenbahnbau nicht nur die Energieressource Kohle, sondern vor allem einen aufnahmefähigen Markt. Es spalteten sich von den für den Eigenverbrauch brauenden Bürgerbrauereien solche Brauereien ab, die vorwiegend für den Export ausgelegt waren, der eine 117 C. S TEPHAN , Marktredwitz (Anm. 21), S. 89-106; B. L EUTHEUSSER , Marktredwitz (Anm. 21), S. 73-74. 118 C. S TEPHAN , Marktredwitz (Anm. 21), S. 87-91. Die Firmen in Marktredwitz und seinen Vororten boten 1897 jeweils zwischen 13 und 494 Beschäftigten Arbeit, wobei der größte Arbeitgeber die Buntweberei Johann Benker in Dörflas war; B. L EUTHEUSSER , Marktredwitz (Anm. 21), S. 76. 119 Die 1822 gegründete Manufaktur des oberfränkischen Porzellanpioniers Carolus Magnus Hutschenreuther nahm 1841 den dritten Brennofen in Betrieb und beschäftigte 55 Mitarbeiter, deren Zahl bis 1856 auf 200 anstieg. 1889 waren dort 500 Arbeiter tätig; E. M EY , Im Zeichen des Löwen (Anm. 29), S. 8f., 11. Auch G. D IPPOLD , Von der Stadt aufs Land? (Anm. 27), S. 296-299; G. E IDELLOTH , Porzellanindustrie (Anm. 27). 120 Die vom Sohn von Carolus Magnus Hutschenreuther, Lorenz, in Selb 1859 in Betrieb genommene Fabrik hatte 1861 ca. 120 bis 130 Arbeitskräfte, bis 1874 waren es 293; vgl. E. M EY , Im Zeichen des Löwen (Anm. 29), S. 10. Christian Paul Äcker aus Seußen gründete 1838 eine Manufaktur in Schirnding, die er nach Arzberg verlegte; vgl. A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 386. 121 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 388f. <?page no="232"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 233 gleichmäßige Qualität in großen Mengen verlangte. Die zwei großen Kommunbrauhäuser gingen 1869 und 1872 in Privatbesitz über und wurden die Keimzelle der industriellen Bierherstellung. 1872 entstand die erste Aktienbrauerei, bis 1895 folgten vier weitere. Nach weiteren Konzentrationsprozessen unter den zahlreichen Kulmbacher Brauereien teilten sich Ende des 19. Jahrhunderts sechs Brauereien das Exportgeschäft. 122 Die Hofer Brauereien dagegen, vorwiegend als Familienunternehmen betrieben, stagnierten und konnten mit den Kulmbacher Produktionszahlen nie mithalten. 123 3.2 Die gewerbliche Durchdringung am Ende des Untersuchungszeitraums 1907 Die Bayerische Gewerbezählung von 1907 spiegelt die gewerbliche Durchdringung am Ende des Untersuchungszeitraums. Da hier unter ›Gewerbe und Industrie‹ sowohl das Handwerk als auch die Industriefabrik subsumiert wurden, zeigen die Ergebnisse signifikante Unterschiede der beiden Regionen, weil sie auch die Hausindustrie erfassen. 124 1907 waren in Schwaben 28,2 % der Bevölkerung mit ihrem Hauptberuf in Gewerbe und Industrie tätig, in Oberfranken waren es 39,4 %. Schwaben lag unter, Oberfranken über dem bayerischen Durchschnitt von 33,3 %. Schwaben gehörte zu den Regierungsbezirken, in denen zwar immer noch mehr Personen in der Land- und Forstwirtschaft tätig waren als in Gewerbe und Industrie, aber sie waren mit 45,9 % nicht mehr in der Mehrheit. In Oberfranken dagegen überflügelte die Beschäftigtenanzahl knapp die in Land- und Forstwirtschaft (38,3 %). 125 Eben weil in diesen Zahlen unter der Rubrik ›Gewerbe und Industrie‹ nicht nur die Fabrikarbeiter und -angestellten subsumiert, sondern auch die im Handwerk Beschäftigten einbezogen sind, ist diese Statistik so aussagefähig: Sie zeigt die sehr starke gewerbliche Prägung Oberfrankens. In Bayern gab es nur 22 Bezirksämter, in denen die Bevölkerung mehrheitlich in Gewerbe, Industrie und Handel tätig war, darunter die acht oberfränkischen Bezirksämter Hof (58,8 %), Kronach (58,1 %), Lichtenfels (50,8 %), Münchberg (66,3 %), Naila (64,9 %), Rehau (69,8 %), Teuschnitz (52,2 %) und Wunsiedel (65,7 %). In Schwaben ist dagegen nur das Bezirksamt Augsburg mit 65,0 % zu finden. Oberfranken war also 1907 in der Fläche wesentlich stärker gewerblich durchdrungen als Schwaben. 126 Dies lag sicher 122 B. W INKLER , Kulmbacher Brauindustrie (Anm. 26). 123 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 376. 124 In den Zahlen für Schwaben ist das Bezirksamt Neuburg a. d. Donau integriert. 125 Gewerbe und Handel (Anm. 96), S. 15*, Tabelle unten. Überflügelt wurden beide Regierungsbezirke beim Anteil der im Hauptberuf in Industrie und Handwerk Beschäftigten von Mittelfranken (41,8 %) und der Pfalz (42,3 %). 126 Ein Bezirksamt gehörte zu Mittelfranken (Lauf 55,8 %) und zehn zur Pfalz; Gewerbe und Handel (Anm. 96), S. 16*f. Vgl. hierzu auch E RNST M ORITZ S PILKER , Bayerns <?page no="233"?> K ATRIN H OLLY 234 nicht an der industriellen Unterentwicklung Nordschwabens, denn auch in Oberfranken gab es mit dem landwirtschaftlich geprägten Westen ein solches Gebiet. Mit verantwortlich war vermutlich die spezifische Entwicklung im Allgäu. Denn parallel zur Gründung der Fabriken entlang der Iller, die der Allgäuer Bevölkerung nach dem Niedergang der Protoindustrie Arbeitsplätze bot, entwickelte sich in der Fläche die lukrative Milchwirtschaft und Käseerzeugung und stärkte die Verdienstmöglichkeiten im landwirtschaftlichen Sektor. Zudem war in Oberfranken das Heimgewerbe sehr stark vertreten. 3.3 Branchenstruktur, räumliche Verteilung, Zuordnung zu Industrielandschaften sowie Kontinuitäten Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, war in beiden Regionen die Textilindustrie nicht nur die Leitbranche der Industrialisierung, sondern dort auch konzentriert angesiedelt: Von den bayerischen Beschäftigten arbeiteten in der Textilindustrie in Oberfranken 41,7 % (1875: 31 %) und in Schwaben 33,6 % (1875: 26 %), 127 das sind zusammengenommen allein in diesen beiden Regionen über 75 %. Aber in Oberfranken war die sogenannte Hausindustrie besonders stark ausgeprägt, denn 1907 arbeiteten 37,4 % aller hausindustriellen Betriebe in Oberfranken (1895: 46,2 % und 1882: 46,2 %), der höchste Wert in Bayern überhaupt. In Schwaben waren es nur 7,5 %. Von den bayerischen in Hausindustrie beschäftigten Personen waren 1907 in Oberfranken 46,9 % (1895: 49,8 %, 1882: 47,8 %) tätig und in Schwaben nur 5,9 % (1895: 4,2 %, 1882: 5,1 %). 128 Auch wenn die statistische Erfassung der Hausindustrie äußerst problematisch und mit vielen Fehlern behaftet ist, 129 liefern diese Zahlen in der Gesamtschau ein realistisches Bild der Verhältnisse. Dabei war in Oberfranken die Textilindustrie mit 61,1 % der hausindustriell Beschäftigten die stärkste Branche, es folgten mit 28,5 % die Industrie der Holz- und Schnitzstoffe und mit 9,5 % das Bekleidungsgewerbe. In Schwaben waren es mit 45,7 % die Industrie der Holz- und Schnitzstoffe, mit 33,4 % das Bekleidungsgewerbe und mit 16,1 % die Textilindustrie. 130 Obwohl sich die Hausindustrie Oberfrankens seit Ende des 19. Jahrhunderts im Niedergang befand, ist ihre herausragende Stellung immer noch ablesbar. Ein wichtiger Strukturunterschied zwischen der oberfränkischen und schwäbischen Textilindustrie liegt in der Größe der Betriebe. In Schwaben herrschten ins- Gewerbe 1815-1965 (Volkswirtschaftliche Forschungsbeiträge 2), München 1985, S. 26- 50, 208-217; D. G ÖTSCHMANN , Wirtschaftsgeschichte (Anm. 102), S. 175. 127 Gewerbe und Handel (Anm. 96), S. 63*, 72*. 128 Gewerbe und Handel (Anm. 96), S. 321*. 129 Gewerbe und Handel (Anm. 96), S. 308*f. 130 Gewerbe und Handel (Anm. 96), S. 323*. <?page no="234"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 235 besondere in Augsburg und den unmittelbar angrenzenden Vororten die Großfabriken vor, 131 in Oberfranken dominierten Klein- und Mittelbetriebe das Bild. Tabelle: Baumwollindustrie in Schwaben 1872/ 73 Betriebsart (Anzahl der Betriebe) Spindelanzahl mechanische Webstühle Arbeiter BW-Spinnereien in Augsburg (4) 214.664 0 2.267 BW-Spinn- und Webereien in Augsburg und Pfersee (2) 71.944 1.401 1.302 BW-Spinn- und Webereien im Allgäu (4)* 117.556 2.141 2.400 BW-Webereien in Augsburg und Haunstetten (4) 0 1.871 1.590 BW-Webereien im übrigen Schwaben (6) 0 1.825 963 Flachs-, Hanf- und Wergspinnerei, Zwirnerei, Seilerei und Weberei in Schwaben (ohne Augsburg) (10)** 17.210 99 1.834 Gesamt 404.164 7.238 8.522 * Arbeiteranzahl nur von 3 Firmen ** plus 330 Handwebstühle und 300 Handweber Quelle: eigene Berechnung aus Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Schwaben und Neuburg 1872 und 1873, Augsburg 1874, Anhang Tabelle IV und V. Wie aus der Tabelle ersichtlich wird, befanden sich 1872/ 73 insgesamt 71 % der schwäbischen Spindelkapazitäten in den sechs Textilfabriken in Augsburg und seinen unmittelbaren Vororten, 29 % teilten sich die übrigen 30 Fabriken Schwabens. 132 Bei den mechanischen Webstühlen war die Dominanz der sechs Betriebe in der Großstadt und ihren Vororten nicht ganz so deutlich, aber immerhin befanden sich dort noch 45 %, die übrigen 55 % standen in den zehn Baumwollverarbeitungsbetrieben (3.966 Webstühle, plus nur 99 in der restlichen Textilindustrie mit nochmals zehn Betrieben) im übrigen Schwaben. In Augsburg produzierten die größten Textilfabriken Deutschlands: 1891 waren dort knapp 440.000 und 1913 sogar 761.300 Spindeln in Betrieb. Diese Kapazitäten stellten 1913 rund ein Drittel aller bayerischen und circa ein Fünftel aller deutschen Spindeln. 1891 standen in Augsburg 6.538 und 1913 insgesamt 12.701 Webmaschinen, wobei allein in der SWA 3.672 Webstühle liefen. Die SWA war die reichsgrößte Baumwollweberei 131 K. B. M URR , Entwicklung (Anm. 3), S. 45; J. VON G RASSMANN , Augsburger Industrie (Anm. 4), S. 91. 132 Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Schwaben und Neuburg 1872 und 1873, Augsburg 1874, S. 104. <?page no="235"?> K ATRIN H OLLY 236 und zugleich zusammen mit der Stadtbachspinnerei die zweitbzw. drittgrößte Baumwollspinnerei des Deutschen Reiches. 133 Außerhalb der Großstadt Augsburg war die schwäbische Textilindustrie mehrheitlich von mittleren und kleineren Betrieben geprägt. In Oberfranken waren bis 1900 Großspinnereien mit einer Spindelanzahl von jeweils über 60.000 bis 125.000 Stück in fünf Betrieben in Bayreuth, Hof und Bamberg zu finden, drei Spinnereien in Forchheim, Hof und Kulmbach hatten jeweils zwischen 18.000 und 30.000 Spinnmaschinen. 134 Die Spinnkapazitäten in Oberfranken überflügelten 1895 mit 770.000 Maschinen diejenigen in Schwaben (736.000). Bei den Webereien sah es anders aus, dort übertraf 1895 Schwaben mit 18.400 Webstühlen Oberfranken mit 12.700 Webstühlen. 135 In Oberfranken verteilten sich die Großfabriken der Spinnereien auf mehr Standorte als in Schwaben. Vor allem Oberfrankens Webereien waren überwiegend mittelständisch geprägt. Zu einem großen Teil stammten »die Gründer von etwa 50 Textilfabriken mit jeweils um die 100 Beschäftigten, die in Oberfranken während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufen wurden,« 136 aus der Verlegerschicht. In Oberfranken entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine starke Porzellanindustrie, allein 14 % der Beschäftigten Oberfrankens waren 1907 in der Industrie der Steine und Erden tätig. 137 Daneben bestanden kleinere bedeutende, in dieser Form in Schwaben nicht vorhandene Branchen: eine leistungsfähige exportorientierte Brauindustrie und die Granitindustrie. 138 In der Heimindustrie gab es neben der bedeutenden Textilproduktion auch eine exportorientierte Korbwarenflechterei. Auffällig ist der Branchenmix in Marktredwitz im Gegensatz zu den Monostrukturen in Selb und Arzberg (Porzellan) sowie Hof (Textilindustrie). Zusätzlich zur bereits bestehenden chemischen Fabrik entwickelten sich u. a. eine Chamottefabrik, zwei Porzellanfabriken, eine Spiegelglasfabrik, drei Maschinenfabriken und eine Fabrik für Spiralfedern und Stahlsaiten. 139 Hinzu kamen die drei Textilfabriken im angrenzenden Dörflas. 140 In Schwaben war die Textilbranche führend, in Augsburg ergänzt durch eine leistungsfähige Maschinenbaubranche. Im Allgäu siedelte sich die milchverarbeitende Nahrungsmittelindustrie an, wovon vor allem Kempten und dessen nähere 133 K. B. M URR , Manchester (Anm. 36), S. 178. 134 R. L OIBL , Textilherstellung (Anm. 12), S. 78. 135 R. L OIBL , Textilherstellung (Anm. 12), S. 80. 136 R. L OIBL , Textilherstellung (Anm. 12), S. 81. 137 Gewerbe und Handel (Anm. 96), S. 63*. 138 A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12). 139 C. S TEPHAN , Marktredwitz (Anm. 21), S. 89-106; B. L EUTHEUSSER , Marktredwitz (Anm. 21), S. 73-74. 140 C. S TEPHAN , Marktredwitz (Anm. 21), S. 87-91. <?page no="236"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 237 Umgebung profitierte, aber auch Biessenhofen und später Memmingen. 141 Die Heimindustrie war in Schwaben bis auf die Strohhutproduktion im Bezirksamt Lindau unbedeutend. Die räumliche Verteilung der Industrie zeigt in Schwaben und Oberfranken signifikante Unterschiede, die deutlich an den Karten im Anhang ablesbar sind. In Oberfranken waren die Großbetriebe der Textilindustrie vor allem in Bamberg, Bayreuth, Hof und Forchheim angesiedelt. Hof war das wichtigste Textilzentrum Oberfrankens, doch im östlichen Oberfranken produzierten zugleich zahlreiche mittelständische Textilbetriebe oft auf dem Land in kleineren Ortschaften. Die Porzellanindustrie verteilte sich flächig über zwei größere Gebiete. Das erste befand sich im Nordosten mit Schwerpunkten in Selb und Arzberg. Das zweite Gebiet lag im westlichen Norden, von Schney bis nach Lauenstein. Die Granitschleifereien waren bis auf eine Ausnahme eine Industrie des Fichtelgebirges. Die auf der Karte nicht dargestellten exportorientierten Brauereien befanden sich in Oberfranken vor allem konzentriert in Kulmbach. Tendenziell orientierte sich die räumliche Entwicklung der oberfränkischen Industrie entlang der Eisenbahnlinien, aber hier in einer starken Konzentration auf den landwirtschaftlich wenig ertragreichen und gebirgigen Norden und vor allem Nordosten. In Schwaben dominierte die Großindustrie Augsburg und dessen unmittelbaren Vororte. Im übrigen Schwaben prägte der Mittelstand das Bild. Die Fabrikgründungen orientierten sich räumlich vor allem in einer Nord-Süd-Richtung entlang der schwäbischen Flüsse, dabei fällt die Dominanz entlang der Iller auf, und erst zweitrangig an den Eisenbahnlinien. Die Milchindustrie bildete sich im südlichen Westallgäu aus. Nordschwaben dagegen war zusammen mit dem westlichen Mittelfranken eine industriell unterentwickelte Region. 142 Die großen prägenden Branchen Oberfrankens und Schwabens standen nicht für sich allein, sie waren in überregionale Industrielandschaften eingebunden. Die Porzellanindustrie Oberfrankens gehörte zu einer Industrielandschaft, die sich über die nördliche Oberpfalz, Thüringen, Sachsen, Böhmen bis nach Schlesien erstreckte. 143 Die exportorientierte Großbierbrauindustrie war Teil einer gesamtfränkischen Entwicklung. 144 Die industrielle Baumwolltextilregion Oberfrankens bildete zusammen mit Sachsen und Thüringen eine mitteldeutsche Textillandschaft. Eine 141 A. K UHLO , Geschichte (Anm. 73), S. 61; W. M ESSENZEHL , Milchindustrie (Anm. 72). 142 Vgl. hierzu E. M. S PILKER , Bayerns Gewerbe (Anm. 126), S. 227-238: Spilker führt dies v. a. auf den Mangel an Bodenschätzen und auf eine extreme Benachteiligung beim Anschluss an das Bahnnetz zurück sowie darauf, dass der Bevölkerungsüberschuss in benachbarte, wirtschaftlich besser gestellte Regionen abwandern konnte. 143 W OLFGANG S CHILLING , 200 Jahre Porzellan der bayerischen Fabriken - Die Anfänge, in: A. B ALD u. a., Porzellan für die Welt (Anm. 27), S. 17-28, hier 28; E. M EY , Porzellanindustrie (Anm. 40), S. 36f.; A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12), S. 398. 144 K. R EITINGER , Standortsfaktoren (Anm. 31), S. 144. <?page no="237"?> K ATRIN H OLLY 238 besonders enge Verflechtung bestand in der oberfränkischen Heimindustrie mit der des Sächsischen Vogtlands. Die südwestdeutsche Textillandschaft schloss Bayerisch-Schwaben, Württemberg, Süd-Baden, das Elsass und die Schweiz zusammen. 145 Die schwäbische Milchindustrie des Allgäus war eingebunden in Entwicklungen des württembergischen Allgäus und der Schweiz. 146 Gerade in Schwaben knüpfte die Industrialisierung teilweise an ältere Traditionen an. Die schwäbische Textilindustrie setzte eine jahrhundertelange oberdeutsche Tradition der textilen exportorientierten Protoindustrie der Frühen Neuzeit fort. 147 Teilweise kamen die Unternehmer aus der alten Kaufmanns-, Verleger- und Handelstradition, viele Weber gingen in die Fabriken. Alte Netzwerke zur Schweiz und ins Elsass sorgten für den Techniktransfer mittels Personal und Maschinen und für den Einsatz schweizerischen Kapitals in Schwaben. 148 Der Aufbau der Milchindustrie im Allgäu beruhte dagegen auf einer erst ein paar Jahrzehnte bestehenden Milchwirtschaft, die sich infolge der Einführung der Käseproduktion aus dem schweizerischen Emmental entwickelt hatte. Die Schweizer setzten dieses 145 G ERHARD A DELMANN , Zur regionalen Differenzierung der Baumwoll- und Seidenverarbeitung und der textilen Spezialfertigungen Deutschlands 1846-1907, in: H ANS P OHL (Hg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 78), Stuttgart 1986, S. 284-345, hier v. a. 298, 300-306, 335f. (Karten 1 u. 2). Zur oberschwäbischen Textilindustrie in Württemberg und zu ihrer starken Bindungen zur Schweiz und zum Elsass vgl. auch P ETER E ITEL , Geschichte Oberschwabens im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1: Der Weg ins Königreich Württemberg (1800-18170), Ostfildern 2010, S. 158, 161, 163; Bd. 2: Oberschwaben im Kaiserreich (1870-1918), Ostfildern 2015, S. 114f. Zur Schweizer Textillandschaft vgl. W ALTER B ODMER , Die Entwicklung der schweizerischen Textilwirtschaft im Rahmen der übrigen Industrien und Wirtschaftszweige, Zürich 1960, vgl. darin zur protoindustriellen Leinwandweberei seit dem 16. Jahrhundert in der Ostschweiz, später auch in der Zentralschweiz, sowie zum Übergang zur Baumwollverarbeitung v. a. seit dem 18. Jahrhundert S. 86-93, 118-121, 124f., 134-145, 173-177, 181-208, 220-237. Zur Industrialisierung der schweizerischen Baumwollindustrie im 19. Jahrhundert ebd., S. 276-303, 338-347, 365-372, und zum Ende der protoindustriellen Leinenindustrie im 19. Jahrhundert in der Ostschweiz S. 313-315, 384-386. 146 Zur Milchwirtschaft im württembergischen Allgäu und zu den Impulsen aus der Schweiz und Bayerisch-Schwaben vgl. auch P. E ITEL , Geschichte Oberschwabens (Anm. 145), Bd. 1, S. 143; Bd. 2, S. 102-104. Zur schweizerischen Milchindustrie und deren Innovationstransfer u. a. nach Deutschland vgl. W. B ODMER , Entwicklung (Anm. 145), S. 413. 147 Zur oberschwäbischen Textillandschaft der Frühen Neuzeit vgl. u. a. E CKART S CHREM - MER , Handel und Gewerbe bis zum Beginn des Merkantilismus, in: HBG III/ 2, S. 540- 556; C LAUS -P ETER C LASEN , Textilherstellung in Augsburg in der frühen Neuzeit, 2 Bde., Augsburg 1995; A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 94); D IES ., Textilregion (Anm. 94); R. V OGEL , Handwerk (Anm. 17); 148 Vgl. Kapitel 1.4 dieses Beitrags. <?page no="238"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 239 Engagement in Schwaben fort, indem sie Zweigwerke ihrer Milchindustrie in das Allgäu verlegten. 149 In Oberfranken begünstigte die traditionell starke gewerbliche Orientierung des gebirgigen und klimatisch benachteiligten Nordens und Ostens vor allem der für den regionalen Markt arbeitenden Weberei der Frühen Neuzeit im 19. Jahrhundert die Entwicklung der textilen exportorientierten Heimindustrie und letztendlich der Textilindustrie. Die seit dem 17. Jahrhundert für den regionalen Markt betriebene Korbflechterei legte die Grundlage für den Ausbau zur exportorientierten Massenproduktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, derselbe Zusammenhang lässt sich für die Porzellanmanufakturgründungen des 18. Jahrhunderts und die späteren Porzellanfabriken herstellen. Insgesamt jedoch waren die Anknüpfungen in Oberfranken an Traditionen der Gewerbelandschaft der Frühen Neuzeit schwächer als in Schwaben. 4. Ergebnisse Die wesentlichsten Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Regionen während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert lassen sich schlagwortartig so kennzeichnen: Entscheidender Industrialisierungsauslöser war die Energieversorgung, in Schwaben die Wasserkraft, in Oberfranken die Erschließung der Kohlereviere durch den Eisenbahnbau. Dies erklärt die um 15 bis 20 Jahre auseinanderliegende Industrialisierung, zum anderen die räumliche Verteilung: Die Fabriken waren in Schwaben v. a. entlang der Flüsse Lech und Iller angesiedelt und in Oberfranken flächiger über das ganze Land verteilt. In Schwaben gab es mit Augsburg und seinen Vororten ein klares Hauptzentrum, in Oberfranken dominierten dagegen viele mittlere und kleinere Standorte. In beiden Gebieten wurden die agrarisch geprägten Landschaften kaum erfasst, jedoch sorgte die Allgäuer Milchwirtschaft für die Ansiedlung der Milchindustrie. Die Heimindustrie prägte Oberfranken als integraler Bestandteil der Industrialisierung. Die Textilindustrie war in beiden Regionen die Leitindustrie. Die Branchenstruktur der dominierenden Industrien war in Oberfranken breiter gefächert als in Schwaben. Beide Regionen gehörten spezifischen Gewerbelandschaften an, wobei sich diese in Oberfranken im Osten und Norden, in Schwaben im Süden und Westen anschlossen. 149 Vgl. Kapitel 1.5 dieses Beitrags. <?page no="239"?> K ATRIN H OLLY 240 <?page no="240"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 241 Erläuterungen und Quellen zur Karte von Oberfranken Bei der Bierbrauindustrie wurden nur die herausragenden Standorte der exportorientierten Großbrauereien und die Großmälzereien aufgenommen. Weitere Branchen enthält u. a. Maschinenbau, Chemie, Spiegelglasindustrie, Schiefertafelindustrie, Lederverarbeitung, Möbelbau. Nicht aufgenommen wurden Eisenverarbeitung und Glasindustrie (außer Spiegelglas), da im 19. Jahrhundert trotz zwischenzeitlicher Hochs weitgehend aussterbende Branchen. Bei der Porzellanindustrie wurden die Gründungen bis 1910 berücksichtigt, aber solche aus dem 18. Jahrhundert, die im 19. Jahrhundert eingingen, nicht aufgenommen. Zur Grenze: Für die Karte wurde die Grenze des heutigen Regierungsbezirks Oberfranken gewählt, die Analyse bezog sich jedoch auf den Gebietsstand des Kreises Oberfranken von 1862. Quellen Ingeborg F UHRMANN -H OFFMANN , Die Leder-, Holzwolle- und Porzellanindustrie in Rehau, in: Wolfgang W ÜST (Hg.), Industrialisierung einer Landschaft - der Traum von Textil und Porzellan. Die Region Hof und das Vogtland (Mikro und Makro - Vergleichende Regionalstudien 2), Erlangen 2018, S. 117-135; E. J ÄGER , Wunsiedel (Anm. 34); Jahresbericht der Handels- & Gewerbekammer für Oberfranken für die Jahre 1885 & 1886, Bayreuth 1887 (Anm. 114); Jahresbericht der Handelskammer für Oberfranken für das Jahr 1912, Bayreuth 1913, S. 38; A. K LUGE , Faktoren (Anm. 12); B. L EUTHEUSSER , Marktredwitz (Anm. 21); R. L OIBL , Textilherstellung (Anm. 12); E. M EY , Porzellanindustrie (Anm. 40); B. M ÜNZER -G LAS / H. M ETZEL (Mitarb.), GründerFamilien (Anm. 77); T H . N EFF , Textilindustrie (Anm. 50); K. R EITINGER , Standortsfaktoren (Anm. 31); W. S CHILLING , 200 Jahre Porzellan (Anm. 143); K. S CHMID , Hofer Baumwoll-Industrie (Anm. 86); H. S CHWARZ , Forchheim (Anm. 22); C. S TEPHAN , Marktredwitz (Anm. 21); F RITZ S TREIT , Die Granitindustrie des Fichtelgebirges. Ein Beitrag zur Klärung der volkswirtschaftlichen Verhältnisse im Königreich Bayern, München 1913, S. 48; B. W INKLER , Kulmbacher Brauindustrie (Anm. 26); M. W URZBACHER , Eisenbahnbau (Anm. 18); D ERS ., Münchberg (Anm. 39); S. Z EHENTMEIER , Leben (Anm. 51). <?page no="241"?> K ATRIN H OLLY 242 <?page no="242"?> I NDU S T R IALIS IE R UNG IN B AYER I S CH -S C HW A BEN UND O BER F R ANKEN 243 Erläuterungen und Quellen zur Karte von Schwaben Es wurden nur wichtige Hauptindustrien aufgenommen. Bei der Milchverarbeitungsindustrie wurden auch Gründungen Anfang des 20. Jahrhunderts bis 1910 einbezogen. Brauereien sind nicht aufgenommen. Manche Firmen wechselten den Standort, angegeben wurde der letzte Standort. Zur Grenze: Für die Karte wurde die Grenze des heutigen Regierungsbezirks Schwaben gewählt. Die Analyse bezog sich allerdings auf den Gebietsstand des Kreises Schwaben und Neuburg von 1862 ohne das Bezirksamt Neuburg a. d. Donau. Quellen K. F ILSER , Industrialisierung (Anm. 6); J. V . G RASSMANN , Augsburger Industrie (Anm. 4); A. H AUG , Kulturlandschaft Illerkanal (Anm. 6); R. H IPPER / A. K OLB , Sonthofen (Anm. 33); P. H OSER , Geschichte der Stadt Memmingen (Anm. 17); R. L ANG , Arbeit (Anm. 6); C. M ALEK , Kaufbeuren (Anm. 7); M. M AYER , Textilindustrie (Anm. 6); W. M ESSENZEHL , Milchindustrie (Anm. 72); K. B. M URR , Entwicklung (Anm. 3); R. V OGEL , Handwerk, (Anm. 17); C. W ACHTER , Allgäuer Milchwirtschaft (Anm. 60); W. Z ORN , Handels- und Industriegeschichte (Anm. 15). <?page no="244"?> III. Komplexe Identitäten? <?page no="246"?> 247 G ERHARD L UBICH Typen der Regiogenese. Schwaben, Franken und das ›Land am Kocher‹ In den vielfältigen Diskussionen um den Begriff ›Heimat‹, die in den letzten Jahren wieder verstärkt und nicht unbedingt immer niveauvoll geführt worden sind, 1 scheint eine Konstellation fast unverrückbar festzustehen: Was immer man unter dem umstrittenen Begriff auch genau verstehen mag, so ist es doch die territoriale Komponente dieser Mensch-Raum-Beziehung, die als gegeben betrachtet wird; es ist der Mensch und die von ihm getroffene Selbstzuschreibung zu diesem Raum, der die Qualität ›Heimat‹ entstehen lässt oder eben nicht. Was dabei aus dem Blick gerät, ist der Sachverhalt, dass ›Räume‹ zumindest dann nicht naturgegeben sind, wenn sie als Projektion sozialer Zusammenhänge und nicht als Beschreibung naturräumlicher oder aber architektonisch hergestellter Strukturen verwendet werden - eine ›historische Region‹ ist qualitativ eben etwas anderes als eine Insel oder ein Wohnzimmer. Der ›spatial turn‹ hat sich schon seit längerem mit eben diesem Sachverhalt und seinen Konsequenzen auch für die Geschichtswissenschaft auseinandergesetzt; 2 wollte man die Konsequenz daraus kurz fassen, dann ließe sich vielleicht sagen, dass nun nicht mehr die Geschichte eines festgesetzten Raumes betrachtet wird (wie etwa in der klassischen ›Landesgeschichte‹), sondern die Entstehung, Wahrnehmung und Veränderung eines Raumes im historischen Wandel thematisiert wird, was, wie wir sehen werden, die Betrachtungsgegenstände durchaus in einem neuen Licht erscheinen lassen kann. Zumindest kann eine Unterscheidung nach verschiedenen Beziehungsreichweiten schon verdeutlichen, welche Abstufungen innerhalb der Raumwahrnehmung vorliegen. Unterscheidet man etwa Makro-, Meso- und Mikroraum, die in etwa Land, Region und lokalem Umfeld 1 Ein Überblick über die verschiedenen möglichen Herangehensweisen bietet E DOARDO C OSTADURA / K LAUS R IES (Hg.), Heimat gestern und heute: interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016. 2 Vgl. für unseren Zusammenhang zuletzt etwa D IETMAR S CHIERSNER , Räume der Kulturgeschichte - Räume der Landesgeschichte: Affinitäten, Divergenzen, Perspektiven, in: S IG - RID H IRBODIAN / C HRISTIAN J ÖRG / S ABINE K LAPP (Hg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte (Landesgeschichte 1), Ostfildern 2015, S. 149-164; allgemein im Überblick S TEPHAN G ÜNZEL , Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung, Bielefeld 2017. <?page no="247"?> G ERHAR D L U BIC H 248 entsprechen, 3 so kann wohl auch jeder Leser mit diesen Kategorien multiple Bindungen und Beziehungsqualitäten assoziieren: An der Staatsgrenze ist er ein Deutscher (Bezug zum ›Makroraum‹), innerhalb seines Staates ist er einem Bundesland zugehörig (›Mesoraum‹), und zudem dürfte er Geburts-, Kindheits- und Wohnort doch eher einem kleineren territorialen Zusammenhang zuordnen (›Mikroraum‹). Diese Verortungen sind kommunizierbar, damit teilbar - und mit diesem Einverständnis entsteht ein Raum, der zugleich den Einzelnen einer auf regionaler Zusammengehörigkeit basierenden Gruppe zuschreibt, ihm also ›Heimat‹ bieten kann. Ob und wieweit diese Fragen sozialer Raumkonstruktion und -konstitution, die für unsere Gegenwart durchaus interessant und plausibel nachvollziehbar sein mögen, auch einen Erklärungswert für vergangene Epochen haben, soll im folgenden versuchsweise überprüft werden. Einen Anlass hierfür bietet bereits das Thema des vorliegenden Sammelbandes, das zwei historische Regionen gegenüberstellt, die niemals in ihrer Geschichte identisch waren mit den heutigen administrativen ›Mesoregionen‹, mit denen sie für gewöhnlich in Verbindung gebracht werden, Schwaben mit Baden-Württemberg, und Franken mit Bayern. Die angestrebte alternative Deutung, die eben nicht teleologisch diesen zeitgenössischen Zustand herbeischreiben will, ist einerseits bemüht um eine adäquate, also: plausible und methodisch korrekte Erklärung historischer Prozesse. Zum anderen mag sie auch zu lesen sein als ein Kommentar zu aktueller ›Identitätspolitik‹, die sich gerne der Geschichte als Argument bedient, mit dem historischen Argument als solchem aber oftmals erschreckend wenig vertraut ist. 3 F RANK G ÖTTMANN , Zur Bedeutung der Raumkategorie in der Regionalgeschichte; http: / / ubdok.uni-paderborn.de/ servlets/ DocumentServlet? id=10226; veröffentlicht 2009 (aufgerufen am 4.4.2019). 1. »Der Mikro-Raum als Raum [ist derjenige] der elementaren leiblichen und sozialen Lebenserfahrungen des Menschen«. 2. »Der Meso-Raum repräsentiert komplexe Raumstrukturen auf der Ebene regionaler Lebens- und Gesellschaftszusammenhänge und vereinigt insofern Teil-Räume […] zu einem Raumsystem, das weithin fähig ist, sich selbst zu erhalten und zu reproduzieren«. 3. »Makro-Räume scheinen vom gestaltenden Faktor her eher eindimensional, abstrakter und weniger komplex. Sie entsprechen je nach Fragestellung und Sichtweise nationalen politischen Räumen oder internationalen Wirtschaftsräumen bzw. binden kleinere Raumeinheiten ein«. <?page no="248"?> T YPEN DER R EGIOGENE S E 249 1. ›Franken‹, bevor es Franken gab: Ein Überblick über Regnum Francorum, Francia (orientalis) und Franconia Die vorgestellte Perspektive auf das Phänomen ›Raum‹ fokussiert bei der Betrachtung der ›Regiogenese‹, dem Prozess der Herausbildung von ›Raum‹, eindeutig auf den Menschen: Der Mensch schafft den Raum, und es ist nicht der Raum, der ihn definiert. Gerade das Beispiel Franken verdeutlicht die Berechtigung dieser Reihenfolge: In einem ersten Schritt musste sich ein Volk der Franken zunächst bilden. Im ausgehenden 3. Jahrhundert fällt der Volksname erstmals, ohne jedoch schon deutlich geklärt zu sein. Immerhin werden in der Folgezeit mit den Franken eine beachtliche Menge ›germanischer‹ Siedlungsgruppen in Verbindung gebracht, was den Anschein erweckt, als ob die Bezeichnung ›Franke‹ lediglich eine Art Oberbegriff darstellt, unter dem diese Gruppen subsumiert wurden; dies mag darauf hinweisen, dass hier zunächst ein locker gefügter Handlungsverband vorlag, der sich im Verlauf der Zeit fester fügte und sukzessive kleinere Partikulargemeinschaften in sich aufnahm. 4 Parallele Phänomene hält die Epoche der ›Völkerwanderung‹ durchaus bereit: So kennt etwa Tacitus ähnliche übergreifende ethnische Ordnungsbezeichnungen, hinter denen man später ein bereits existierendes ›Volk‹ im modernen Wortsinne erblickte, 5 und der Sachverhalt, dass sich gerade im (oftmals konfliktvollen) Kontakt mit dem spätantiken römischen Imperium erst aus verschiedenen Siedlungsgruppen einzelne Völker bildeten (›Ethnogenese‹), ist in den letzten Jahrzehnten vielfach untersucht worden. 6 4 Nach dem Klassiker von E RICH Z ÖLLNER , Geschichte der Franken bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts, München 1970, der immer noch für die Quellengrundlage verbindlich ist, bietet sich für die in unserem Zusammenhang notwendigen Fakten die Sammeldarstellung; U LRICH N ONN , Die Franken, Stuttgart 2010, S. 15-30; neue Aspekte bei H ELMUT C ASTRI - TIUS , Überlegungen zu Herkunft und Ethnogenese der Franken, in: S EBASTIAN B RATHER (Hg.), Historia archaeologica. FS für Heiko Steuer zum 70. Geburtstag (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 70), Berlin u. a. 2009, S. 217-226. - Die Darstellung von B ERNHARD J USSEN , Die Franken. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, München 2014, ist in unserem Zusammenhang wenig ergiebig. - Einzelne Aspekte, die die Frühgeschichte unseres Themas betreffen, finden sich in den Beiträgen zu D IETER G EUE - NICH (Hg.), Die Franken und die Alemannen bis zur »Schlacht bei Zülpich« (496/ 97) (RGA-Ergänzungsbd. 19), Berlin-New York 1998. 5 Exemplarisch hierzu am Beispiel der Vandalen: J OHN L IEBESCHÜTZ , »Gens« into »Regnum«: The Vandals, in: H ANS -W ERNER G OETZ / J ÖRG J ARNUT / W ALTER P OHL (Hg.), Regna and gentes. The relationship between late antique and early medieval peoples and kingdoms in the transformation of the Roman world (Transformation of the Roman world 13), Leiden 2003, S. 55-83, hier 59. 6 Grundlegender Sammelband L ESLIE E. W EBSTER / M ICHELLE P. B ROWN (Hg.), The Transformation of the Roman World, AD 400-900, London 1997; deutschsprachige Über- <?page no="249"?> G ERHAR D L U BIC H 250 Der Siedlungsraum dieses Völkergemischs, versehen mit der im frühen 4. Jahrhundert langsam auftauchenden Bezeichnung Francia als Siedlungsgebiet der Franci, lag deutlich nordwestlich des heutigen Franken, nämlich rechtsrheinisch in etwa vom oberen Mittelrhein bis hin in Richtung Rheinmündung. Von gemeinsamen politischen Aktionen der Franken ist zunächst nicht viel zu hören, waren die ersten in den Quellen erwähnten Franken doch keine Anführer ihres Volkes gewesen, sondern einzelne erfolgreiche Militärs in römischen Diensten, wie sie noch das ganze 5. Jahrhundert hindurch nachzuweisen sind. Erst mit der verstärkten Krise des Reiches im späteren 4. und dann im 5. Jahrhundert erfahren wir von den Franci als gemeinsam handelndem Kampfverband auf römischem Boden 7 - auch diese Formierungsphase ist durchaus in struktureller Parallele zu den anderen neuen Völkern der Zeit zu sehen, 8 die sich als »Gewaltgemeinschaften« bildeten, also ihren Zusammenhalt und ihre Struktur ganz maßgeblich an der Ausübung von Gewalt ausrichteten. 9 In diesem Zusammenhang scheint es auch zur Verlagerung der Francia gekommen zu sein. Immerhin fassen wir zunächst eine Konzentration fränkischer Aktionen auf dem Gebiet des sogenannten Toxandrien, nach heutiger Topographie in den südlichen Niederlanden und Nordbelgien gelegen. 10 Hier, von der nördlichen Grenze des römischen Imperiums aus, suchte man Zugang zu den Möglichkeiten, die Rom bot. Über Einbeziehung in das Militär (besonders etwa unter Valentinian), 11 doch auch über die Begleiterscheinungen der Koexistenz der ja mittlerweile auf dem Boden des Imperiums in der Belgica secunda siedelnden Franken (Handel, Connubium, religiöse Gemeinschaft etc.) kam es hier zu einer Annäherung. Die dennoch feststellbaren Auseinandersetzungen, soweit blicksdarstellungen, die den neuen Paradigmen verpflichtet sind, sind etwa W ALTER P OHL , Die Völkerwanderung, 2. Aufl. Stuttgart u. a. 2005; oder V ERENA P OSTEL , Die Ursprünge Europas. Migration und Integration im frühen Mittelalter. Stuttgart 2004; zur Akkulturation vgl. die Beiträge zu D IETER H ÄGERMANN / W OLFGANG H AUBRICHS / J ÖRG J ARNUT (Hg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter (RGA-Ergänzungsbd. 41), Berlin-New York 2004. - Die neue Sicht blieb durchaus nicht unwidersprochen; vgl. etwa aus archäologischer Perspektive: J OHN B RYAN W ARD P ERKINS , Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation, Stuttgart 2007 (orig.: The Fall of Rome and the End of Civilization, Oxford 2005). 7 U. N ONN , Franken (Anm. 4), S. 60-63, 74-79. 8 Hierzu im Überblick H AGEN K ELLER , Strukturveränderungen in der westgermanischen Welt am Vorabend der fränkischen Großreichsbildung: Fragen, Suchbilder, Hypothesen bei D. G EUENICH (Hg.), Franken und Alemannen (Anm. 4), S. 581-607. 9 Vgl. hierzu Definitionen und Beiträge bei W INFRIED S PEITKAMP (Hg.), Gewaltgemeinschaften: Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013. 10 C HRISTOPH R EICHMANN , Zur Ansiedlung der Salfranken in Toxandrien, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 216 (2013), S. 1-16. 11 U. N ONN , Franken (Anm. 4), S. 54. <?page no="250"?> T YPEN DER R EGIOGENE S E 251 wir sie in der fragmentarischen Überlieferung richtig erkennen, scheinen keineswegs permanent gewesen zu sein, sondern eskalierten eher periodisch, strahlten aber mit zunehmender fränkischer Integration immer weiter in den nordgallischen Bereich hinein aus. Trotz einer anfänglich durchaus vorhandenen konfliktfreien Nähe zum römischen System wurden die Franken bzw. Teile von ihnen 12 damit im Laufe der Zeit zu einer der Kräfte, die das Ende des Römischen Reiches herbeiführten und zugleich die poströmische Ordnung begründeten. Gewiss mag es ein Spiegel der diversifizierten ›Stammesstruktur‹ bzw. der keineswegs vereinheitlichten Identität der Franken gewesen sein, dass sich zunächst verschiedene dem Namen nach fränkische Königreiche bildeten. Doch mit dem Herrschaftsausbau Chlodwigs in den Jahren um 500 gab es bald nur noch einen Herrscher und in seiner Nachfolge: ein Herrschergeschlecht im regnum Francorum, dasjenige der Merowinger. 13 In einem ersten Schub wurde der Herrschaftsbereich erweitert. Von dem alten Siedlungsgebiet der Belgica secunda aus, die man weiter als Francia oder aber dann als ›Austrasien‹ bezeichnete, reichte die Herrschaft bald bis an die Loire (›Neustrien‹) und umschloss Burgund und Aquitanien. Das regnum Francorum beschränkte sich also keineswegs auf die Herrschaft über Franken, sondern schloss mehrere Völker und ihre Herrschaftsgebiete ein. Bei allem Export von Herrschaftsprinzipien: Eine von der älteren Forschung immer wieder angenommene ›Frankisierung‹ im ethnischen Sinne, also eine planmäßige Vereinnahmung bedeutender Positionen exklusiv durch fränkische Machthaber und eine selbst die Landbevölkerung betreffende planmäßige Verdrängung autochthoner Elemente, ist dabei wohl nicht zu verzeichnen. 14 Abgesehen davon, dass ein solches Vorgehen wohl die Möglichkeiten der Zeit überstiegen hätte, so agierte doch das merowingische Königtum in einer nicht immer glücklichen Mischung von Beibehaltung alter Eliten und eigenem Zugriff, der sich nicht immer auf Franken allein stützte. Eine Grenze im politischen Sinne fand das Frankenreich zur Zeit der Merowinger noch am Rhein. Zwar lassen sich immer wieder Versuche belegen, auch rechts des Rheins Einfluss zu nehmen: Alemannien wurde zumindest locker über Her- 12 Zur besonderen Rolle der Salfranken vgl. U. N ONN , Franken (Anm. 4), S. 79. 13 M ATTHIAS B ECHER , Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt, München 2011, S. 251-258. 14 Diese Auffassung von E. Z ÖLLNER , Franken (Anm. 4), S. 105, hat in den 1970er Jahren noch viele Vertreter gefunden; vgl. am Beispiel Hessen etwa F RED S CHWIND , Die Franken in Althessen, in: W ALTER S CHLESINGER (Hg.), Althessen im Frankenreich (Nationes 2), Sigmaringen 1975, S. 211-290; vgl. hierzu auch H UBERT F EHR , Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen (RGA-Ergänzungsbd. 68), Berlin-New York 2010, S. 160f., dessen Arbeit im Grunde in ihrer Gesamtheit eine Ablehnung dieser Perspektive aus archäologischer Sicht darstellt. Zum anwachsenden fränkischen Einfluss W ILHELM S TÖRMER , Die innere Entwicklung, in: HBG III/ 1, S. 89-106, hier 96-100. <?page no="251"?> G ERHAR D L U BIC H 252 zöge angebunden; man eroberte Thüringen und nahm südlich und westlich davon im späteren ›Franken‹ zumindest punktuell Einfluss. 15 Doch blieb diesen Versuchen offenbar ein nachhaltiger Erfolg verwehrt. Erst die Einflüsse der Karolinger, als Hausmeier in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts noch in Verbindung mit Bonifatius, später zunehmend autogen handelnd, sorgten für eine nachhaltige Änderung. 16 Mit der Errichtung des Bistums Würzburg wurde ein geistlich-administrativer Mittelpunkt installiert; Klöster durchzogen die Landschaft; und auf der Ebene der weltlichen Macht finden sich nunmehr Grafen als Sachwalter des Königtums flächendeckend eingesetzt. 17 Das Gebiet selbst war zwar zumindest teilweise im Machtbereich einer durchaus auch mit den im östlich benachbarten Thüringen engagierten Herzogsfamilie (›Hedene‹) gewesen, 18 doch fand sich offenbar kein Widerstand dagegen, das Gebiet dem unmittelbaren Zugriff des fränkischen Königtums einzuverleiben: Die Francia erweiterte sich um einen östlichen Teil, der organisatorisch schnell auf das Königtum hin ausgerichtet wurde und als Francia orientalis bereits in den Quellen der Zeit reflektiert wird. 19 Die Geschichte Frankens bis hierhin war recht bewegt, geprägt von so unterschiedlichen Prozessen wie Integration (verschiedener Teilstämme unter die Fran- 15 Die thüringischen Verhältnisse finden sich erschöpfend behandelt in: H ELMUT C ASTRI - TIUS / D IETER G EUENICH / M ATTHIAS W ERNER (Hg.), Die Frühzeit der Thüringer. Archäologie, Sprache, Geschichte (RGA-Ergänzungsbd. 63), Berlin-New York 2009. 16 R EINER B UTZEN , Die Merowinger östlich des mittleren Rheins: Studien zur militärischen, politischen, rechtlichen, kulturellen Erfassung durch Königtum und Adel im 6. sowie 7. Jahrhundert (Mainfränkische Studien 38), Würzburg 1987, S. 220f. (als Fazit seiner Überlegungen). 17 Zum Phänomen knapp zusammenfassend W ERNER H ECHBERGER , Adel, Ministerialität und Rittertum im Mittelalter (Enzyklopädie deutscher Geschichte 72), 2. Aufl. München 2014, S. 12f.; ausführlich H ANS K. S CHULZE , Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten östlich des Rheins (Schriften zur Verfassungsgeschichte 19), Berlin 1973; Regionalbezug bei W ILHELM S TÖRMER , Bemerkungen zu Graf und Grafschaft in Franken, in: J OSEF S CHRÖDER (Hg.), Beiträge zu Kirche, Staat und Geistesleben. FS Günter Christ (Beiträge zur Geschichte der Reichskirche in der Neuzeit 14), Stuttgart 1994, S. 81-93. 18 W ILHELM S TÖRMER , Zu Herkunft und Wirkungskreis der merowingerzeitlichen »mainfränkischen« Herzöge, in: K ARL R UDOLF S CHNITH / R OLAND P AULER , FS für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag (Münchener Historische Studien Abt. Mittelalterliche Geschichte 5), Kallmünz 1993, S. 11-21; H UBERT M ORDEK , Die Hedenen als politische Kraft im austrasischen Frankenreich, in: J ÖRG J ARNUT (Hg.), Karl Martell in seiner Zeit (Beihefte der Francia 37), Sigmaringen 1994, S. 345-366. 19 Belege und Entwicklung bei G ERHARD L UBICH , Einmal fränkisch - immer fränkisch? Gentile, regionale und lokale Selbstverortungsstrategien im Verlauf eines Jahrtausends, in: M ICHAEL O BERWEIS u. a. (Hg.), Recht, Religion, Gesellschaft und Kultur im Wandel der Geschichte. Ferculum de cibis spiritualibus. FS für Dieter Scheler (Studien zur Geschichtsforschung des Mittelalters 23), Hamburg 2008, S. 63-87, hier 67-69. <?page no="252"?> T YPEN DER R EGIOGENE S E 253 ken), Migration und Expansion (der Franken ins römische Reich, später östlich des Rheins) und Kolonialisierung (des östlichen Frankens). Das als Francia bezeichnete Gebiet wanderte mit den gemeinsam lebenden und aktiven Menschen von den ursprünglichen Siedlungsräumen am Niederrhein in einer beinahe-Kreisbewegung über Toxandrien, die Belgica secunda hin zur Francia orientalis; zu berücksichtigen bleibt jedoch, dass die Quellen nicht die Selbstverortungen der Franci wiedergeben, sondern von außen eine verallgemeinernde Zuordnung zu einem im Grunde politischen Verband treffen. Dem heutigen Betrachter wird dadurch das vorgeführt, was nach der zum Eingang getroffenen Definition als die Schaffung eines Makroraums erscheint, eines großflächigen, Menschen vereinnahmenden Gebildes, das zwar politisch-sozial eine gewisse gemeinsame Struktur aufwies, die jedoch etwa in Anbetracht der Mobilität der Akteure keine enge Bindung des Menschen (im Sinne einer daran ausgerichteten Identität) zum stabilen Raum (als ›historische Region‹) hervorbrachte. Dies geschah für Franken erst in einem Prozess von Spaltung und Abgrenzung, der im Grunde zu einer ersten Figuration von Franken als ›Mesoraum‹ führte. 20 Hintergrund dieser Entwicklung ist die politische Geschichte des 9. und 10. Jahrhunderts, die zur irreversiblen Teilung des Frankenreichs führte, wobei auch der Kernbereich des Königtums, die Francia also, entlang der Grenzen der neu entstandenen Reiche unterteilt wurde. Dem vornehmlich rechts des Rheins gelegenen Reichsteil verblieb damit das neue östliche Franken, die Francia orientalis, deren Entwicklung gleich noch zu beschreiben sein wird. In der westlichen Francia, der man, weil im Grunde identisch mit der alten vorkarolingischen Francia, keinen neuen Namen gegeben hatte, reduzierte in der Folgezeit ein machtlos gewordenes Königtum seinen Einfluss zunächst derart, dass ihm nur noch eine ›Insel‹ blieb - die ›Île de France‹, von der man das fränkische - französische - Reich nach dem Wiederaufstieg der Herrscher im 12. und 13. Jahrhundert ausbaute. Entwickelte sich im Westen sozusagen aus der zum ›Mesoraum‹ abgestiegenen westlichen Francia erneut ein ›Makroraum‹, der in seiner Identität mit dem ›Reich‹ andere Regionen subsumieren konnte, so verlief die Tendenz aus der Perspektive Frankens im 20 Hierzu und zum folgenden G. L UBICH , Einmal fränkisch (Anm. 19) S. 71-76, in Auseinandersetzung mit J ÜRGEN P ETERSOHN , Franken um 900. Der Durchbruch stammlichen Selbstverständnisses in den Mainlanden im Lichte der Bewußtseinsgeschichte, in: E RICH S CHNEIDER (Hg.), Nachdenken über fränkische Geschichte. Vorträge aus Anlaß des 100. Gründungsjubiläums der Gesellschaft für fränkische Geschichte vom 16.-19. September 2004 (Veröff. der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX/ 50), Neustadt a. d. Aisch 2005, S. 57-70. - Petersohn geht nicht auf diese Bedenken ein, was ein gewisses Problem darstellt für die Grundlagen seines folgenden Werkes J ÜRGEN P ETERSOHN , Franken im Mittelalter. Identität und Profil im Spiegel von Bewußtsein und Vorstellung (Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte. Vorträge und Forschungen, Sonderbd. 51), Ostfildern 2008. <?page no="253"?> G ERHAR D L U BIC H 254 Osten im Grunde gegenläufig: Die Francia orientalis spielte für die östlichen Reichsbildungen der Karolinger keine besondere Rolle, sondern scheint zunächst immer gemeinsam mit der (ja erst unter Karl dem Großen erworbenen) Saxonia als eine Art Teilungsmasse behandelt worden zu sein. 21 Eine Differenzierung dieses Gebildes brachte das sächsische Königtum der Ottonen, das territorial stärker im Osten verankert war und in der Francia orientalis selbst kaum Herrschaftsschwerpunkte ausbildete. Dies sorgte dafür, dass die Francia orientalis schnell an Geschlossenheit verlor und sich entlang herrschaftlicher Einflusszonen, wie adligem Grundbesitz oder Diözesangrenzen, in einen rheinischen Teil und einen östlichen Teil trennte - Präfigurationen von ›Rheinfranken‹/ ›Mittelrhein‹ und engerem ›Franken‹, aber noch keineswegs identisch mit diesen modernen Einheiten. 22 Weitere Zerfalls-, Verschiebungs- und Trennungstendenzen wurden in den folgenden Jahrhunderten spürbar, in deren Mittelpunkt das Bistum Würzburg stand. In dessen Diözese machten sich an der Jahrtausendwende benachbarte Bistümer breit, was zu einer Gegenwehr des Bistums auf ›diplomatischem Wege‹ führte, nämlich zur Fälschung verschiedener Privilegien, die den Würzburger Einflussbereich sichern sollten. 23 Seitens des Königtums erfuhr man zumeist Unterstützung, etwa in der Verleihung von Grafschaftsrechten und Wildbannen, doch geschah es gerade aufgrund herrscherlicher Initiative, dass mit der Gründung des Bistums Bamberg hauptsächlich zu Lasten der Würzburger Kirche der sich immer weiter hin zu einem einheitlichen ›Mesoraum‹ Mainfranken verdichtende Bereich zerteilt wurde. Es bedurfte gehöriger Anstrengungen des Bistums Würzburg, das wohl als Reaktion auf diese (aus seiner Perspektive) zentrifugalen Tendenzen weltliche Hoheitsrechte zu okkupieren versuchte, 24 bis schließlich dessen Zentralfunk- 21 J OSEF S EMMLER , Francia Saxoniaque oder die ostfränkische Reichsteilung von 865/ 876 und die Folgen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 46 (1990), S. 338- 374. In diesem Sinne auch G ERHARD L UBICH , Auf dem Weg zur »Güldenen Freiheit« (1168). Herrschaft und Raum in der Francia orientalis von der Karolingerzur Stauferzeit (Historische Studien 449), Husum 1996, S. 40-46. 22 J. P ETERSOHN , Franken (Anm. 20), S. 163-165, sieht diese Trennung als Resultat »bewußtseinsmäßiger Eigenständigkeit des Raumes östlich des Spessart« im Gegensatz zur politischeren Argumentation von G. L UBICH , Auf dem Weg (Anm. 21), S. 59-61; zu der Problematik, dass ein »Bewusstsein« sich zwar postulieren lässt, nicht aber nachweisbar ist; vgl. noch G. L UBICH , Einmal fränkisch (Anm. 19), S. 71-76. 23 Zusammenfassend G ERHARD L UBICH , Faktoren der politischen Raumgliederung im früh- und hochmittelalterlichen Franken, in: J OHANNES M ERZ / R OBERT S CHUH (Hg.), Franken im Mittelalter. Francia orientalis, Franconia, Land zu Franken: Raum und Geschichte (Hefte zur bayerischen Landesgeschichte 3), München 2004, S. 59-81, hier 73-75. 24 G ERHARD L UBICH , Früh- und hochmittelalterlicher Adel zwischen Tauber und Neckar. Genese und Prägung adliger Herrschaftsräume im fränkisch-schwäbischen Grenzgebiet, in: S ÖNKE L ORENZ / S TEFAN M OLITOR (Hg.), Herrschaft und Legitimation: Hochmittelalter- <?page no="254"?> T YPEN DER R EGIOGENE S E 255 tion auch als Gerichtshoheit über ganz Franken anerkannt war. Doch bezog die ›Güldene Freiheit‹ genannte Urkunde, durch die Bistum und herzogliche Befugnisse in eins gedacht wurden, diese neue Herrschaftsform nur auf den Bereich des Würzburger Hochstifts, also den Bereich, in dem das Bistum begütert war, zumal der Grundbesitz eine weitere, eigenständige Wurzel für Gerichtsrechte darstellte. 25 Dass dies das Bistum in späteren Jahrhunderten nicht daran hinderte, einen ganz Franken auch jenseits des Eigenbesitzes umfassenden Gerichtsanspruch unter dem Titel eines Iudicium provinciale ducatus Franconiae zu erheben, 26 werden wir noch zu behandeln haben. In unserem Zusammenhang ist an dieser Stelle zunächst wichtig, dass sich die Qualität Frankens als Raum ganz offensichtlich im Verlauf der Zeit änderte: Die Francia orientalis entstand mit der karolingischen Expansionsphase des Frankenreichs und wurde zunächst Teil des Kerngebiets, damit auch Element des ›Makroraums‹ Franken. Nach den Reichsteilungen aber verlor das Gebiet die Funktion eines Menschen und Regionen überwölbenden ›Makroraums‹ und entwickelte im Verlauf des Hochmittelalters eine zumindest in den Kernbereichen konstante, an den Peripherien aber oftmals umstrittene territoriale Integrität, die sich am Bistum Würzburg als zentralem Kristallisationspunkt ausrichtete. Wie die anderen provinciae des alten Reiches auch entwickelte es sich dadurch in einem langgestreckten Prozess hin zu einem ›Mesoraum‹ mit vornehmlich regional determinierten politischsozialen Strukturen. 2. Zum Vergleich: Schwaben als Alemannia, ducatus Sueviae, Württemberg und Baden Durchaus ähnliche Elemente, jedoch Unterschiede im Detail und, daraus resultierend, eine andere Geschichte weist Schwaben auf, der nach der mittelalterlichen Regionaltopologie südliche Nachbar Frankens. Auch hier gehen die Belege für den Namen des Volkes der Bezeichnung einer Region voraus und stammen in etwa aus derselben Zeit; der Name Alemannia allein, der wortgeschichtlich am ehesten als licher Adel in Südwestdeutschland (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 36), Leinfelden-Echterdingen 2002, S. 13-48, hier 29-39. 25 Literatur bei J. P ETERSOHN , Franken (Anm. 20), S. 168f. Anm. 3. 26 F RIEDRICH M ERZBACHER , Iudicium Provinciale Ducatus Franconiae. Das kaiserliche Landgericht des Herzogtums Franken-Würzburg im Spätmittelalter (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 56), München 1956; zur Wechselwirkung mit dem Herzogstitel und der ›Monopolisierung‹ des Franken-Titels durch das Bistum vgl. J OHANNES M ERZ , Das Herzogtum Franken. Wunschvorstellungen und Konkretionen, in: D ERS ./ R. S CHUH (Hg.), Franken im Mittelalter (Anm. 23), S. 43-58. <?page no="255"?> G ERHAR D L U BIC H 256 das »Gebiet der Vielvölker (Alemanni = alle, jeder Art Menschen)« zu übersetzen ist, hat wohl etwas stärker als bei den Franken den Charakter einer Sammelbezeichnung, ohne dass (außer den Juthungen) tatsächlich Namen der einzelnen Teilgruppen überliefert wären. 27 Als handelnde Einheit finden wir die Alemannen - und hier besteht bereits ein wesentlicher Unterschied zu den Franken - nicht in dem Bestreben, sich im späten römischen Imperium einen Platz zu verschaffen, sondern vielmehr als Profiteure römischer Krisen. 28 Einen regelrechten Schub dürfte die Aufgabe des rätischen Limes durch die Römer gegeben haben, wodurch der Raum zwischen Donau/ Iller und Main für mehrere germanische Siedlungsgruppen frei wurde. Das von den Römern nunmehr als Alemannia bezeichnete Gebiet wurde durch Neuankömmlinge, mutmaßlich aber auch einen Rest verbliebener Bevölkerung weiter bewirtschaftet, 29 ohne dass eine einheitliche politische Organisation zu erkennen wäre. Dennoch scheint sich die eigentliche Ethnogenese der Alemannen in dieser Epoche abgespielt zu haben, zumal das Auskommen von Neuankömmlingen und Ansässigen in diesem abgegrenzten Bereich über beträchtliche Zeit ausverhandelt werden musste. Wie bei den Franken im 5. Jahrhundert herrschten über verschiedene Teilgebiete eine Anzahl von »Kleinkönigen«, die aber von den Quellen einheitlich als reges Alemannorum bezeichnet werden. 30 Verschiedene Konflikte mit wechselhaftem Ausgang, die die Alemannen mitunter in Abhängigkeit von Rom brachten, prägten die nächsten Jahrhunderte. Die größte Expansion erfolgte gegen Ende des 5. Jahrhunderts 31 und wurde erst von den Franken unter Chlodwig aufgehalten, die, wie erwähnt, zu dieser Zeit noch links des Rheins angesiedelt waren. Die Franken waren es auch, die schließlich im 6. Jahrhundert die Oberherrschaft über die Alemannia übernahmen, eine Oberherrschaft, die aber wohl wenig intensiv (nur wenige 27 Die archäologische Perspektive bei H EIKO S TEUER , Theorien zur Herkunft und Entstehung der Alemannen. Archäologische Forschungsansätze, in: D. G EUENICH (Hg.), Franken und Alemannen (Anm. 4), S. 270-324. Zum Namen: B RUNO B LECKMANN , Die Alamannen im 3. Jahrhundert. Althistorische Bemerkungen zur Ersterwähnung und Ethnogenese, in: Museum Helveticum 59 (2002), S. 145-171, vertritt die zwischenzeitlich von Matthias Springer und Lawrence Okamura in Zweifel gezogene ältere Auffassung. Knapp zusammenfassend D IETER G EUENICH , Geschichte der Alemannen, Stuttgart 1997, S. 18-20. 28 M AX M ARTIN , Alemannen im römischen Heer - eine verpaßte Integration und ihre Folgen, in: D. G EUENICH , Franken und Alemannen (Anm. 4), S. 407-422. 29 H ELGA S CHACH -D ÖRGERS , »Zusammengespülte und vermengte Menschen«. Suebische Kriegerbünde werden sesshaft, in: Die Alamannen. Ausstellungskatalog, hg. vom Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg, Stuttgart 2007, S. 79-102. 30 D. G EUENICH , Geschichte der Alemannen (Anm. 27), S. 44-46. 31 D IETER G EUENICH , Widersacher der Franken. Expansion und Konfrontation, in: Die Alamannen (Anm. 29), S. 144-148. <?page no="256"?> T YPEN DER R EGIOGENE S E 257 Herzöge sind belegt) und nur punktuell ausgeübt wurde. 32 Ohne auf den Sonderfall des Elsass näher einzugehen, 33 lässt sich sagen, dass das Herzogtum nunmehr eine Gestalt angenommen hatte, die im Grunde bis in das Hochmittelalter hinein stabil war, dennoch aber immer nur in Abhängigkeit vom Frankenreich betrachtet werden kann. Die Phase stärkster Geschlossenheit und beginnender Autonomie stellt im Grunde das frühe 8. Jahrhundert dar, doch wurde diese kurze Phase sich bildender Eigenständigkeit durch das Einschreiten der karolingischen Hausmeier beendet, wobei der massive Eingriff des dafür gerne herangezogenen ›Tages von Cannstatt‹ nicht ohne Vorläufer war und auch nicht unabhängig von der Situation in der karolingischen Familie zu betrachten ist, mithin also kein einzigartiges oder isoliertes Phänomen darstellt. 34 Was folgte, war die konsequente Einbeziehung in die karolingische Reichsorganisation, was im Unterschied zur erweiterten Francia auf eine Art Kolonialisierung hinauslief. 35 Das fränkische Modell mit seinen Grafschaften, der Bistumsorganisation und Ansätzen zu einem Lehnswesen wurde exportiert und von eingesetzten fränkischen Eliten implementiert - was jedoch nicht bedeutete, dass sich dieses Modell auch unmittelbar durchgesetzt hätte. Gewiss stand kein alternativer alemannischer ›Makroraum‹ dem regnum Francorum und seinen Vertretern gegenüber, den mobilen Eliten der ›Reichsaristokratie‹, 36 denn Schwaben selbst war nie zu 32 H AGEN K ELLER , Germanische Landnahme und Frühmittelalter, in: M EINRAD S CHAAB u. a. (Hg.), Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte, Bd. I/ 1: Von der Urzeit bis zum Ende der Staufer (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B), Stuttgart 2001, S. 191-296, hier 228-248. Aus archäologischer Perspektive U RSULA K OCH , Ethnische Vielfalt im Südwesten. Beobachtungen in merowingerzeitlichen Gräberfeldern an Neckar und Donau, in: K ARLHEINZ F UCHS , Die Alamannen, Stuttgart 1997, S. 219-232. 33 Zuletzt umfassend K ARL W EBER , Die Formierung des Elsass im Regnum Francorum. Adel, Kirche und Königtum am Oberrhein in merowingischer und frühkarolingischer Zeit (Archäologie und Geschichte 19), Ostfildern 2011. 34 A LFONS Z ETTLER , Karolingerzeit, in: Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte (Anm. 32), S. 297-380, hier 316f., in Fortführung von J ÖRG J ARNUT , Alemannien zur Zeit der Doppelherrschaft der Hausmeier Karlmann und Pippin, in: R UDOLF S CHIEF - FER (Hg.), Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum. Referate beim wissenschaftlichen Colloquium zum 75. Geburtstag von Eugen Ewig am 28. Mai 1988 (Beihefte der Francia 22), Sigmaringen 1990, S. 57-66. 35 Der Begriff der Kolonialisierung wird in der Geschichtswissenschaft in der Regel mit dem Epochenbegriff des (eurozentristischen) ›Kolonialismus‹ der Neuzeit gebraucht. Dennoch scheint das analoge Muster, ein fremdes Gebiet mit eigenen Modellen religiös und politisch zu durchdringen, die Verwendung an dieser Stelle durchaus zu rechtfertigen, insbesondere, um den Unterschied zur klassischen ›Eroberung‹ deutlich zu machen. 36 Zur Forschungsgeschichte W. H ECHBERGER , Adel, Ministerialität und Rittertum (Anm. 17), S. 15-17. <?page no="257"?> G ERHAR D L U BIC H 258 einem Reich geworden, hatte nie die Partikularismen der lokalen Gesellschaften durch eine überwölbende politische Struktur überhöht und zugleich regional zusammengefasst. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Schwaben dadurch als Bezugsrahmen beseitigt worden wäre. Ganz im Gegenteil war die Behandlung des Raumes als Entität und auch die Konfrontation fränkischer Adliger mit Ansässigen einem Gemeinschaftsbewusstsein durchaus nicht abträglich, ergab sich doch auf diese Art das Schema ›Wir gegen die anderen‹; am Beispiel der für diesen Zeitraum außerordentlich dichten Sankt Galler Überlieferung ließe sich etwa zeigen, dass es nur weniger Generationen bedurfte, um die neuen Herrenfamilien in die lokalen Verhältnisse einzubinden. 37 Der darauf aufbauende letzte Versuch, nochmals den ›Mesoraum‹ zum ›Makroraum‹ zu erheben, also unabhängig vom fränkischen Königtum und seinen Nachfolgeeinrichtungen die vorliegenden Strukturen zu nutzen, endete nach kaum zwei Jahrzehnten mit der beispielgebenden Einsetzung eines Herzogs durch Heinrich I. im Jahre 926. 38 Worum es in dieser kurzen Episode ging, war keineswegs ein ›Stammesherzogtum‹, für das, wie die ältere Forschung meinte, auf der Basis gemeinsamer Abstammung der Schwaben, ihrer auf landsmannschaftlicher Geschlossenheit ruhenden genossenschaftlichen Gleichheit und gemeinsamen Kultur in einer gemeinsam getragenen Handlung eigene Herzöge gleichsam als ›Volksvertreter‹ installiert worden wären. Dies entspricht wohl kaum der historischen Realität. Vielmehr ging es um das Handeln von mobilen, in reichsweitem Horizont aktiven Eliten, die ein »window of opportunity« zu nutzen versuchten, wie es sich in der Schwächephase der karolingischen Herrschaft 887/ 8 und nochmals nach dem Tod Arnulfs von Kärnten auftat. 39 Dass für das Streben Einzelner nach Oberhoheit und einem entsprechenden Titel (Königtum, Herzogtum) nicht unbedingt ein ›Stamm‹ notwendig war, zeigt etwa das Beispiel der jungen territorialen, allein politisch konturierten Einheit Lothringen. Auch die Entstehung der Provence, die im Grunde problemlosen burgundischen Teilungen und auch die Abwesenheit ›stammesherzoglicher‹ Bestrebungen im fränkischen Ostreich etwa bei Franken, Friesen und Thüringern zeigen, dass das Vorhandensein politischer Räume und angeblich daraus hervorgehender Völker sich nicht unbedingt in politisches Handeln übersetzen mussten; dementsprechend wird man auch vorsichtig sein, eine 37 Ein Beitrag zur Familie der berühmten Grafen Warin und Ruthard ist in Vorbereitung (2020). 38 T HOMAS Z OTZ , Ottonen-, Salier- und frühe Stauferzeit (911-1167), in: Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte (Anm. 32), S. 381-528, hier 389. 39 Diese Sicht der Dinge ist in Deutschland erstmals prominent vertreten worden durch H ANS -W ERNER G OETZ , »Dux« und »Ducatus«. Begriffs- und verfassungsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung des sogenannten »jüngeren« Stammesherzogtums an der Wende vom neunten zum zehnten Jahrhundert, Bochum 1977, und ist - mit gewissen Modifizierungen - zur communis opinio der Forschung geworden. <?page no="258"?> T YPEN DER R EGIOGENE S E 259 kaum zu verifizierende ›Identität‹ im Sinne eines ›Volksbewusstseins‹ als Triebfeder dieser Prozesse zu postulieren. Es verwundert nicht, dass eine ›von unten‹ gedachte Geschlossenheit Schwabens, wie das neue Gebilde mittlerweile in den Quellen seither überwiegend genannt wurde, durch eine Orientierung des Herzogtums auf das Königtum hin nicht befördert wurde - nach 926 ist fast durchgängig die königliche Einsetzung gebietsfremder Herzöge zu verzeichnen, die in der älteren Forschung als ›Amtsherzöge‹ bezeichnet wurden und ihrem Amt erst Geltung zu verschaffen hatten. 40 Subregionen bildeten sich entlang der Besitzzonen der mächtigen ansässigen Familien aus; am Ende des 11. Jahrhunderts, nach den Unruhen des ›Investiturstreits‹, waren nicht weniger als drei Familien präsent, die den Herzogtitel führten: Die Staufer, die aufgrund königlicher Einsetzung zumindest nominell die Gesamtheit des Herzogtums beherrschen sollten; 41 die Zähringer, die als von der antiköniglichen Opposition eingesetzte Herzöge aus der Perspektive des Reiches den Herzogstitel zwar nur als ein nomen vacuum führten, die aber doch am Oberrhein fast uneingeschränkt und aufgrund der territorialen Durchdringung des Gebietes ›proto-staatlich‹ herrschten; 42 und schließlich die Welfen, die als Herzöge von Bayern und Sachsen mit dem Titel sozusagen verwachsen waren und ihn im Zusammenhang mit ihren oberschwäbischen Besitzungen ebenfalls führten. 43 Es ist in unserem Zusammenhang nicht von Bedeutung, ob in Anbetracht dieser Lage ein vom Königtum gelenkter Kompromiss hinsichtlich der Herrschaft in Schwaben gefunden werden musste 44 oder ob die Herrschaftszonen stillschweigend akzeptiert wurden. Aus dieser Konstellation heraus wird allerdings verständlich, warum sich das 40 H ELMUT M AURER , Der Herzog von Schwaben. Grundlagen, Wirkungen und Wesen seiner Herrschaft in ottonischer, salischer und staufischer Zeit, Sigmaringen 1978, S. 129-152. 41 G ERHARD L UBICH , Territorien-, Kloster- und Bistumspolitik in einer Gesellschaft im Wandel. Zur politischen Komponente des Herrschaftsaufbaus der Staufer vor 1138, in: H UBERTUS S EIBERT / J ÜRGEN D ENDORFER (Hg.), Grafen, Herzöge, Könige. Der Aufstieg der Staufer und das Reich 1079-1152 (Mittelalter-Forschungen 18), Ostfildern 2005, S. 179-212. 42 J ÖRG P ELZER , Locus - nomen - gloria. Zum Rang Bertholds V., in: J ÜRGEN D ENDORFER / H EINZ K RIEG / J OHANNA R EGNATH (Hg.), Die Zähringer - Rang und Herrschaft um 1200 (Veröff. des Alemannischen Instituts), Ostfildern 2018, S. 173-186; die Charakterisierung der Herrschaft geht zurück auf T HEODOR M AYER , Der Staat der Herzoge von Zähringen, in: D ERS ., Mittelalterliche Studien. Gesammelte Aufsätze, Lindau 1959, S. 350-364. 43 Hierzu A LOIS S CHMID , Comes und comitatus im süddeutschen Raum während des Hochmittelalters. Beobachtungen und Überlegungen, in: L OTHAR K OLMER / P ETER S EGL (Hg.), Regensburg, Bayern und Europa. FS für Kurt Reindel zu seinem 70. Geburtstag, Regensburg 1995, S. 189-212. 44 H. M AURER , Herzog (Anm. 40), S. 220 mit Anm. 10 zur älteren Literatur im Sinne dieser Hypothese. <?page no="259"?> G ERHAR D L U BIC H 260 Land wesentlich später in Anlehnung an regional führende Geschlechter als ›Baden‹ und ›Württemberg‹ auseinanderdividieren sollte, 45 eine langanhaltende Teilung, die erst durch die bundesrepublikanische Geschichte (zumindest der Form nach) wieder aufgehoben wurde. Die Qualität der mittelalterlichen Herzogsräume war wohl ebenfalls die von ›Mesoräumen‹, zumal ihr Umfang zwar unter dem Schwabens lag, zugleich aber zu groß war, um durch ›Alltagserfahrung‹ diese geringere Qualität spürbar werden zu lassen. Alles in allem, so lässt sich zusammenfassen, ist die Geschichte Alemanniens/ Schwabens eine Geschichte verschiedener Anläufe, parallel zu der das Gebiet umfassenden politischen Organisation auch den eigenen Raum zum ›Makroraum‹ aufzuwerten. Die Gründe für das permanente Scheitern mögen durchaus unterschiedlich gewesen sein, doch summierten sie sich in der Konsequenz dazu, dass der Raum als solcher immer deutlichere Bruchstellen aufwies, wodurch die verbleibenden Teile - auch für sich am ehesten ›Mesoräume‹ kleineren Umfangs - für die längste Zeit die Bezugsgröße der Bewohner darstellten. 3. Das ›Land am Kocher‹: Ein Hybrid als ›Mikroraum‹ Schwaben und Franken sind im Vorangegangenen in ihrer eigenen Entwicklung beschrieben worden, so, als ob es zwischen den beiden benachbarten Regionen keine Berührungspunkte gegeben hätte. Diese gab es selbstverständlich, auch wenn wir aus der frühen Geschichte allein sporadische Nachrichten darüber haben. Ein etwas deutlicheres Profil erhält die Grenzzone nach der Jahrtausendwende, als tatsächlich auch die schwäbisch-fränkische Grenze in verschiedenen Urkunden genannt und genauer beschrieben wird. Ihr Verlauf, der grob zwischen Heilbronn und Eichstätt anzusetzen ist, trennte zwei Teilregionen, die für ihren ›Mesoraum‹ jeweils peripher waren, den fränkischen Süden hinsichtlich des Würzburger Raums auf der einen, den schwäbischen Norden in Bezug auf das schwäbische Zentralgebiet am Bodensee auf der anderen Seite. Die Überlieferung erweckt den Eindruck, als hätte sich hier ein grenzübergreifender Adelsverband gebildet, der nunmehr durch die vom Königtum unterstützten Interessen des Bistums Würzburg wieder getrennt wurde. Dies schien zunächst von Erfolg gekrönt, doch traten die frühen Staufer nach 1100 in diese Positionen ein, und mit dem Königtum Konrads III., der kurzfristig (1116-1120) unter dem bislang nicht verwendeten Titel Herzog von Franken amtierte, verband sich dieser Raum nun mit den Macht- 45 Zu den Ursprüngen vgl. H ANSMARTIN S CHWARZMAIER , in: D ERS ., Klöster, Stifter, Dynastien. Studien zur Sozialgeschichte des Adels im Hochmittelalter (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 190), Stuttgart 2012, S. 249-261. <?page no="260"?> T YPEN DER R EGIOGENE S E 261 grundlagen des Königtums. Ein regionales Profil wird aus diesem Grund schwer erkennbar. Hinzu kam, dass seit dem ausgehenden Hochmittelalter neben die klassische Trias von Königtum, Adel und Kirche ein neues Element im Spiel der politischen Kräfte zu verzeichnen ist: Die Städte, die sich gerade im Südwesten des Reiches im 12. Jahrhundert zahlreich entwickelt hatten. Sie wirkten nicht allein auf lokaler Ebene als Machtfaktoren, sondern konnten in Bündnissen auf regionaler Ebene Wirkung entfalten. Der wohl bedeutendste dieser Städtebünde war der ›Schwäbische Städtebund‹, zu dessen Mitgliedern auch fränkische Städte zählten. Unter diesen Bündnisstädten befand sich Schwäbisch Hall, dessen spätmittelalterliche Geschichte in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse ist. Der Name der Stadt ist im Grunde irreführend: Der früheste überlieferte Name der Stadt in schlicht ›Hall‹. Sie lag auf fränkischem Boden, und ihre Entstehung war maßgeblich durch eine Marktverleihung durch den Würzburger Bischof befördert worden. 46 Die staufischen Stadtherren hatten dort eine Münze eingerichtet, deren Betrieb sie - wie auch die dortige Salzgewinnung und die Verwaltungsämter der Stadt - durch eigene Ministeriale wahrnehmen ließen. Die daraus resultierende Abhängigkeit war offenbar derart eklatant, dass einige gebietsfremde Autoren an der Wende zum bzw. im frühen 13. Jahrhundert die Stadt fälschlich als in Schwaben gelegen bezeichneten. 47 Dem Selbstverständnis der Stadt entsprach dies offenbar nicht; zumindest gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass man sich selbst aus dem gegebenen Kontext entfernen wollte. Dieser Kontext war in regionaler Hinsicht wohl auf Franken bezogen, in seiner lokalen Ausprägung jedoch eher ein auf die Stadt und ihr unmittelbares Umland fokussierender Horizont. Das lokale Selbst- und vielleicht gar Eigenständigkeitsbewusstsein verstärkte sich im 13. Jahrhundert sicherlich noch, als die Stadt mit dem privilegium de non evocando die Unterstellung unter die königliche Gerichtsbarkeit erhielt, also den Status als ›Reichsstadt‹ verbrieft bekam. 48 Diese Verleihung war im Grunde eine Schutzerklärung gegenüber den Ansprüchen der benachbarten Territorialgewalten. Adlige wie die Hohenlohe oder die Schenken von Limpurg hatten verschiedentlich versucht, Zugriff auf die Stadt zu gewinnen, aber es war der juristisch begründete Anspruch des Würzburger Bischofs, 46 Regest mit Nachweisen der Editionen bei F RIEDRICH P IETSCH , Die Urkunden des Archivs der Reichsstadt Schwäbisch Hall, Bd. 1 (Veröff. der Staatlichen Archivverwaltung Baden- Württemberg 21), Stuttgart 1967, U 1; zum Forschungsgang G ERHARD L UBICH , Geschichte der Stadt Schwäbisch Hall. Von den Anfängen bis zum Ausgang des Mittelalters (Veröff. der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX/ 52), Würzburg 2006, S. 47-53. 47 G ISLEBERT VON M ONS , Chronicon Hanoniense ad a. 1191, ed. W ILHELM A RNDT , MGH SS in usum schol., Hannover 1869, S. 221; A LBERT VON S TADE , Chronik, ed. J OHANN M. L APPENBERG , MGH SS XVI, Hannover 1859, S. 232f. - Zur Wertung dieser Begriffe ausführlicher G. L UBICH , Einmal fränkisch (Anm. 19), S. 77f. 48 G. L UBICH , Schwäbisch Hall (Anm. 46), S. 74-81 mit der älteren Literatur. <?page no="261"?> G ERHAR D L U BIC H 262 der unter Verweis auf das bereits erwähnte Iudicium provinciale ducatus Franconiae weiterhin versuchte, Einfluss zu nehmen. Einen zusätzlichen Ansatzpunkt bot dafür auch die kirchliche Zuständigkeit über die Stadt, so dass sich kirchlich-administrative Kompetenzen und wenig deutliche Rechtsansprüche mitunter vermischten. Die latent permanent vorhandenen, immer wieder offen aufflammenden Konflikte wurden nie grundsätzlich geklärt, führten aber zu einer in unserem Zusammenhang durchaus beachtenswerten Konsequenz. Um die Wende zum 15. Jahrhundert befanden sich Stadt und Bistum wieder einmal im Streit um Eigentumsrechte einer Haller Bürgerfamilie. Im Rahmen des daraus resultierenden ausführlichen Briefwechsels nannte die städtische Kanzlei ihre Stadt konsequent ›Schwäbisch Hall‹; die Würzburger adressierten ihre Schreiben weiterhin an ›Hall‹. Genau diese Schreiben (nicht jedoch Mitteilungen anderer Korrespondenzpartner) aber nahm die Stadt nicht in ihr Archiv auf, ganz so, als sei man nicht angesprochen. Der Zweck dieser Spitzfindigkeit ist deutlich, ging es doch darum, mit einem Verweis auf eine nicht-würzburgische regionale Bezugsgröße die Zuständigkeit des Bischofs in Abrede zu stellen. Doch worauf berief man sich? Wohl kaum auf das schwäbische Herzogtum, zu dem keine Beziehungen bestanden. Mutmaßlich galt der Verweis der Verbindung mit dem Schwäbischen Städtebund, möglicherweise aber auch der Lage der Stadt in der königlichen (nicht: bischöflichen) Reichslandvogtei Niederschwaben (Sitz: Wimpfen), die sich in königlichem Auftrag um das Reichsgut und den Landfrieden in der Region zu kümmern hatte. Dieses eigentlich anlassbezogene Vorgehen zeitigte bald Konsequenzen. Im Jahre 1421 wurde erstmals die Selbstbezeichnung ›Schwäbisch‹ Hall in einer Streitsache gegen Würzburg verwendet, was in den Konflikten der Folgezeit beibehalten wurde. Die Bezeichnung setzte sich offenbar durch, finden wir doch bereit 1435 einen ausdrücklich ›Schwäbisch‹ Haller Bürger. Im stadtinternen Schriftverkehr blieb man - wie in der heutigen lokalen Umgangssprache - eher beim kurzen ›Hall‹, wenngleich im Jahre 1439 ›Bürgermeister, Rat und Bürger der Stadt Schwäbisch Hall‹ genannt werden und sich auch der Rat der Stadt im Jahre 1442 einmal so nannte. 49 1472 ging man dann noch einen Schritt weiter, als Gesandte der Stadt auf einem Reichstag behaupteten, sie hießen Swäbisch Halle und lägen auf Swäbischem Erdreich. 50 Inwiefern man sich vom Schriftgebrauch täuschen ließ oder einmal mehr ein strategisches Argument plazierte, ist kaum zu entscheiden, doch war man sich um 1500 der Zuordnung der Stadt nicht mehr sicher. Der aus Kitzingen am Main stammende Rothenburger Stadtschreiber Thomas Zweifel antwortete auf die Frage, wo Hall denn liege: er wisse, daß diese Stadt am Kochen, ob sie aber in Franken oder 49 G. L UBICH , Einmal fränkisch (Anm.19), S. 79-81 mit Quellennachweisen. 50 F. P IETSCH , Urkunden Schwäbisch Hall (Anm. 46), U 1973; vgl. Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe, Teildbd. 16 (1441-1442), 1. u. 2. Hälfte, ed. H ERMANN H ERRE / L UD - WIG Q UIDDE , Stuttgart-Gotha 1928, n. 276 Nachschrift 2. <?page no="262"?> T YPEN DER R EGIOGENE S E 263 Schwaben gelegen, wiss er nit 51 - und dies aus dem Mund eines Mannes, der seine Ausbildung in ›Schwäbisch‹ Hall selbst erhalten hatte. Der Referenzpunkt war damit neu gesetzt, und die Orientierung bot nicht mehr die ›Mesoregion‹ Franken, sondern ein keineswegs langer Fluss, mithin: die nächste Umgebung. Zwischen Schwaben und Franken entstand durch die Selbstzuschreibung der Bewohner eine eigene neue Kleinregion, ein ›Mikroraum‹, wie dies schließlich auch in den beiden Haller Stadtchroniken von Georg Widman und Johann Herolt deutlich wird, die kurz vor der Mitte des 16. Jahrhunderts verfasst wurden. 52 Für Widman ist seine Heimatstadt eindeutig ›Schwäbisch Hall‹, und in seiner Einleitung bemängelt er, man widme sich in der Geschichtsschreibung zu selten der volckher und ländlein, so zwischen den enden und orten der anstoszenden provinzen […] gelegen, darunter die einwohner an dem flusz Kochen - zwischen den provinzen Schwaben und Franckhen gelegen. 53 Ganz deutlich sind die alten politisch-geographischen Größen noch vorhanden, doch scheinen sie für den eigenen Fall nicht mehr treffend. Der städtisch-lokale Horizont des Mikroraums verdrängte die regionale Perspektive. Ein solcher Prozess der Verengung der Selbstverortung liegt auch andernorts vor, etwa in Nürnberg, das sich selbst nie als in Franken gelegen oder Bayern zugehörig bezeichnete. Wie man wohl wusste, wollen die Nürmberger weder Bayern noch Francken aber ein drittes besunders geslecht sein. 54 51 Zitiert nach G ERD W UNDER , Die Bürger von Hall. Sozialgeschichte einer Reichsstadt 1216-1802 (Forschungen aus Württembergisch Franken 16), Sigmaringen 1980, S. 14. 52 Zu einer Charakteristik der beiden, die aus jeweils unterschiedlicher konfessioneller Perspektive verschiedene Sichten der Vergangenheit entwickelten, vgl. G. L UBICH , Schwäbisch Hall (Anm. 46), S. 13-16. 53 Widmans Chronica, ed. C HRISTIAN K OLB (Württembergische Geschichtsquellen VI), Stuttgart 1904, S. 6. - Auch das von den »Revindikationen« des Bistums Würzburg an der Jahrtausendwende betroffene fränkische Kloster Murrhardt bringt Widman mit Schwaben in Verbindung (S. 128f.); die Grafen von Comburg-Rothenburg sind für ihn fränkisch, wodurch nicht, den ersten Erwähnungen entsprechend, die Gegend am Kocher, sondern Rothenburg und der Taubergrund ihre mutmaßliche Herkunft zu sein scheinen (S. 153). 54 H ARTMANN S CHEDEL , Buch der Chroniken (1493), fol. 100v; zum Thema vgl. die bei H ELMUT F LACHENECKER , Landschafts- und Reichsbindung von Städten in Franken, in: J. M ERZ / R. S CHUH (Hg.), Franken im Mittelalter (Anm. 23), S. 167-187, hier 177, angeführte Literatur. <?page no="263"?> G ERHAR D L U BIC H 264 4. Fazit Selbst wenn ›Raum‹ als physikalische Größe messbar ist und damit festgelegt werden kann, so ist doch der Raum als soziale Konvention alles andere als feststehend. Im vorangegangenen haben wir beobachtet, wie sich Räume als Bezugsgrößen veränderten, verschiedene Ausdehnungen annahmen, zugleich aber unterschiedliche Qualitäten erreichen konnten. Auch Kategorien wie ›Schwaben‹ und ›Franken‹ waren einem solchen Wandel unterworfen, da sie je nach historischem Kontext immer wieder neu und andersartig fokussiert werden konnten. Gewiss standen sie dabei immer auch in Bezug zu denjenigen, die diese territorialen Einheiten konstituierten, und boten dabei einen identitätsstiftenden Punkt. Doch darf diese Bezugnahme nicht zu vereinfachten Gleichsetzungen verleiten, die über schlichte Rückprojektionen heutiger Gebietsgrößen in die Vergangenheit eine historisch gewachsene Identität postulieren. Dazu waren, und dies dürfte deutlich geworden sein, die immer wieder einsetzenden Prozesse der ›Regiogenese‹ zu unterschiedlich, bildeten sich doch im Zusammenhang mit historischen Konstellationen immer wieder aktualisierte Bezugsrahmen und damit auch neue Räume heraus. Geschichte als Wissenschaft sollte daher - gerade in ihrer Form als oftmals von heute aus gedachter und institutionalisierter ›Landesgeschichte‹ - immer auf ihren Auftrag achten, eine Zeit für sich zu betrachten, zu analysieren und zu beschreiben, und eben nicht Kontinuitätserzählungen zu liefern, die von einer Stabilität des beschriebenen Raumes ›unverrückbar für alle Zeiten‹ ausgehen und die an dieser Stelle exemplarisch beschriebenen Prozesse im Grunde leugnen. <?page no="264"?> 265 K URT A NDERMANN Hohenlohe - zwischen Franken und Schwaben? Hohenlohe ist der Name eines alten Dynastengeschlechts aus dem Taubergrund um Mergentheim. 1 Seine Angehörigen begegnen seit 1153 zunächst mit der Bezeichnung von Weikersheim, später - erstmals 1178 in einer Würzburger Bischofsurkunde 2 - unter dem Namen Hohenloch beziehungsweise Hohenlohe. Der im übrigen unbedeutende Weiler Hohlach, nach dem die Familie sich seither nennt, liegt zwischen Creglingen und Uffenheim an einem alten Handelsweg aus den Niederlanden über Frankfurt und Augsburg weiter in den Süden 3 und war vermutlich nur deshalb zeitweise von herrschaftlichem Interesse. Diesem Ursprung entsprechend verteilte sich der älteste Besitz der Edelherren - seit 1450/ 95 Grafen und schließlich seit 1744/ 64 Fürsten - zu Hohenlohe um Mergentheim und Röttingen an der Tauber, im Uffenheimer Gau, im südwestlichen Steigerwald und im Rangau, das heißt ganz überwiegend im Gebiet der heutigen bayerischen Regierungsbezirke Unterfranken und Mittelfranken. Erst im früheren 13. Jahrhundert begann mit staufischer Protektion die hohenlohische Expansion nach Westen, in die Landschaften um Kocher und Jagst. 4 Die entscheidenden Neuerwerbungen waren dabei um 1 A DOLF F ISCHER , Geschichte des Hauses Hohenlohe, 2 Bde. in 3, Stuttgart 1866-1871; K ARL W ELLER , Geschichte des Hauses Hohenlohe, 2 Bde., Stuttgart 1903-1908; F RIED - RICH K ARL F ÜRST ZU H OHENLOHE -W ALDENBURG , Hohenlohe. Bilder aus der Geschichte von Haus und Land, Neuenstein 4 1983; G ERHARD T ADDEY , Hohenlohe, in: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte, Bd. 2, hg. v. M EINRAD S CHAAB u. a., Stuttgart 1995, S. 379-388; K URT A NDERMANN , Hohenlohe, in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich: Grafen und Herren. Ein dynastisch-topographisches Handbuch (Residenzenforschung 15,4), hg. v. J AN H IRSCHBIEGEL u. a., 2 Bde., Ostfildern 2012, hier Bd. 1, S. 603-621. 2 K ARL W ELLER / C HRISTIAN B ELSCHNER , Hohenlohisches Urkundenbuch, 3 Bde., Stuttgart 1899-1912, hier Bd. 1, Nr. 1 und 14. 3 M EINRAD S CHAAB u. a., Geleitstraßen um 1550 im Raum Worms, Würzburg, Straßburg, Ulm, in: Historischer Atlas von Baden-Württemberg, hg. v. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg in Verbindung mit dem Landesvermessungsamt Baden-Württemberg, Stuttgart 1972-1988, Karte und Erläuterungen X,1 (1982). 4 G ERHARD L UBICH , Der Aufstieg des Hauses Hohenlohe zu Territorialherren im Taubergrund. Die Herrschaftsbildung eines Edelfreiengeschlechts im 13. Jahrhundert, in: Hochmittelalterliche Adelsfamilien in Altbayern, Franken und Schwaben (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 20), hg. v. F ERDINAND K RAMER / W ILHELM S TÖRMER , München 2005, S. 563-589. <?page no="265"?> K U R T A NDER MANN 266 1232/ 36 die Herrschaft Langenburg und um 1250 die vom Hochstift Regensburg lehnbare Kirchenvogtei über den ausgedehnten Besitz des Kollegiatstifts Öhringen im Ohrnwald, dazu das weithin sichtbare Schloss Waldenburg auf einem Sporn der nach ihm benannten Waldenburger Berge. Ausgehend von diesen Keimzellen entwickelten sich im Lauf des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit die hohenlohischen Territorien zwischen der Brettach im Westen, der Frankenhöhe im Osten, der Jagst im Norden und den Schwäbisch-Fränkischen Waldbergen im Süden. 5 Und schließlich wurde seit dem 19. Jahrhundert für dieses landschaftliche und herrschaftliche Konglomerat, zu dem zur Zeit des Alten Reiches auch noch diverse reichsritterschaftliche, reichsstädtische und geistliche Gebiete gehörten, die Raumbezeichnung Hohenlohe gebräuchlich. 6 Bevor das Haus Hohenlohe hierzuland Fuß fasste, hatten diese Landschaften keinen besonderen, sie verbindenden Namen; in Überlieferungen aus dem frühen und hohen Mittelalter werden sie als Brettach-, Jagst- und Kochergau bezeichnet. 7 Demnach können die Angehörigen des Hauses Hohenlohe, die es noch heute in großer Zahl gibt, 8 wie der Herzog von Württemberg für sich in Anspruch nehmen, das Land trage ihren Namen. Im Unterschied zum Haus Württemberg allerdings, dessen Name aus dem Herzen des nachherigen Landes selbst stammt, hat das Haus Hohenlohe dem Land - seinem Land - den eigenen Namen - seinen Namen - überhaupt erst gegeben, ihn im Ergebnis eines herrschaftlichen Wanderungsprozesses auf der seither so bezeichneten Hohenloher Ebene und darüber hinaus gewissermaßen von außen implantiert. Nachdem diese Landschaften bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts als provinziell, ja rückständig gegolten hatten, ist »Hohenlohe« in unseren Tagen längst zum Inbegriff für Kunst, Kultur und Lebensart geworden - und nicht zuletzt für wirtschaftlichen Erfolg und technische Innovation. 9 5 G ERHARD T ADDEY , Hohenlohe, in: Historischer Atlas von Baden-Württemberg (Anm. 3), Karte und Beiwort VI,6 (1983/ 85). 6 R ICHARD S CHMIDT , Hohenloher Land, mit Aufnahmen von H ELGA S CHMIDT -G LASSNER (Deutsche Lande, deutsche Kunst), München 3 1971; R UDOLF S CHLAUCH , Hohenlohe Franken. Landschaft, Geschichte, Kultur, Kunst (Bibliothek deutsche Landeskunde), Nürnberg 2 1973; O TTO B AUSCHERT (Hg.), Hohenlohe (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 21), Stuttgart 1993. 7 A LBERT B AUER / H ANS J ÄNICHEN , Bezirksnamen des 8. bis 12. Jahrhunderts, in: Historischer Atlas von Baden-Württemberg (Anm. 3), Karte und Beiwort IV,3 (1972). 8 D ETLEV S CHWENNICKE , Europäische Stammtafeln. Stammtafeln zur Geschichte der europäischen Staaten NF 17, Frankfurt a. M. 1998, Tfl. 1-23; Genealogisches Handbuch der fürstlichen Häuser, Bd. 19 (Genealogisches Handbuch des Adels 149), bearb. von G OTTFRIED G RAF F INCK VON F INCKENSTEIN / C HRISTOPH F RANKE , Limburg a. d. L. 2011, S. 180-226. 9 Der Landkreis Schwäbisch Hall. Baden-Württemberg - das Land in seinen Kreisen, bearb. von der Abteilung Fachprogramme und Bildungsarbeit des Landesarchivs Baden- <?page no="266"?> H OHENL OHE - Z WIS C HEN F R ANKEN U ND S C HW A B EN ? 267 Die hohenlohischen Territorien des Mittelalters und der frühen Neuzeit lagen stets ausnahmslos im Sprengel der Diözese Würzburg, 10 das heißt in altem fränkischem Stammesgebiet. Desgleichen gehörten die hohenlohischen Territorien immer ganz und gar zum fränkischen Reichskreis. 11 Beim Reichstag saßen die Grafen und Fürsten zu Hohenlohe auf der Bank der fränkischen Grafen, und ihrer Bedeutung gemäß fungierten sie häufig als ausschreibende Direktoren dieses Kollegiums. 12 Zu keiner Zeit griff das Haus Hohenlohe mit seinem Herrschaftsbesitz in schwäbisch-alemannisches Gebiet aus, sieht man einmal ab von der eher episodischen Teilhabe an der Ganerbschaft Oberbronn im unteren Elsass, die von 1727 bis zur Französischen Revolution währte 13 und schließlich durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 die katholischen Fürsten zu Hohenlohe-Bartenstein mit Jagstberg und Niederstetten - wiederum in Franken - zu Profiteuren der Säkularisation werden ließ. 14 Bald darauf fielen die hohenlohischen Fürstentümer - damals nicht weniger als sieben an der Zahl - der Mediatisierung durch die Rheinbundvasallen Napoleon Bonapartes zum Opfer: Die Residenz der Linie Schillingsfürst wurde dem neu Württemberg, hg. v. Landesarchiv Baden-Württemberg in Verbindung mit dem Landkreis Schwäbisch Hall, 2 Bde., Ostfildern 2005; Der Hohenlohekreis. Baden-Württemberg - das Land in seinen Kreisen, bearb. von der Abteilung Fachprogramme und Bildungsarbeit des Landesarchivs Baden-Württemberg, hg. v. Landesarchiv Baden-Württemberg in Verbindung mit dem Hohenlohekreis, 2 Bde., Ostfildern 2006; Kunstschätze aus Hohenlohe [Ausstellungskatalog des Landesmuseums Württemberg], Stuttgart 2015. 10 M EINRAD S CHAAB , Kirchliche Gliederung um 1500, in: Historischer Atlas von Baden- Württemberg (Anm. 3), Karte und Erläuterungen VIII,5 (1972); H ELMUT F LACHENECKER , Bistum und Hochstift Würzburg um 1500, in: Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart. Heiliges Römisches Reich, deutschsprachige Länder, hg. v. E RWIN G ATZ u. a., Regensburg 2009, S. 142f. 11 W INFRIED D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise in der Verfassung des Alten Reiches und ihr Eigenleben (1500-1806), Darmstadt 1989; D ERS ., Die deutschen Reichskreise (1383-1806). Geschichte und Aktenedition, Stuttgart 1998, S. 81-141. 12 E RNST B ÖHME , Das fränkische Reichsgrafenkollegium im 16. und 17. Jahrhundert. Untersuchungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der korporativen Politik mindermächtiger Reichsstände (Veröff. des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte 132 - Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 8), Stuttgart 1989, S. 32-42 und passim; vgl. auch F ERDINAND M AGEN , Reichsgräfliche Politik in Franken. Zur Reichspolitik der Grafen von Hohenlohe am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges (Forschungen aus Württembergisch-Franken 10), Schwäbisch Hall 1975. 13 M ARKUS W IRTH , Hohenloher Herrschaft im Elsass. Handlungsspielräume eines mindermächtigen Reichsstandes in geographisch entlegenen Besitzungen am Beispiel der Seigneurie Oberbronn 1727 bis 1789/ 93 (Geschichte 88), Berlin 2009. 14 Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Eine Dokumentation zum Untergang des Alten Reiches, hg. v. U LRICH H UFELD , Köln u. a. 2003, S. 82. <?page no="267"?> K U R T A NDER MANN 268 geschaffenen Königreich Bayern zugeschlagen, die Residenzen der Linien Langenburg, Oehringen, Kirchberg, Bartenstein, Jagstberg und Waldenburg samt den dazugehörigen Territorien dem ebenfalls neu kreierten Königreich Württemberg. 15 Damit war der bei weitem größte Teil Hohenlohes zwar württembergisch geworden, aber selbstverständlich nicht schwäbisch. Die Unterwerfung durch Württemberg war schmerzlich genug. Wie König Friedrich I. seine neuen, vormals reichsständischen Untertanen zu schikanieren und zu demütigen wusste, ist hinreichend bekannt. 16 Bezeichnend erscheint in diesem Kontext, wie er 1809 mit der Einrichtung der vier Kronerbämter 17 seines Königreichs klarstellte, dass die Rangstufen des Adels in Württemberg fortan allein von ihm definiert wurden und er keinesfalls gesonnen war, auf im Lauf von Jahrhunderten gewachsene Strukturen, Ränge und Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. So übertrug er das Reichserbmarschallamt den Fürsten zu Hohenlohe, das Reichsoberhofmeisteramt den Fürsten zu Waldburg und das Reichsoberkammerherrenamt den Fürsten zu Löwenstein-Wertheim - alle von hohem, ehedem reichsständischem Adel -, das Reichsbannerherrenamt aber den niederadligen Zeppelin-Aschhausen, einer aus Mecklenburg stammenden Familie, die in seiner besonderen Gunst stand und erst 1793, auf sein eigenes Betreiben, vom Kaiser gegraft worden, aber nie reichsunmittelbar, geschweige denn jemals reichsständisch war. 18 Mögen die höchstrangigen Ämter für die Hohenlohe, Waldburg und Löwenstein noch so ehrenvoll gewesen sein, so war die Gleichstellung mit den nicht standesgleichen Zeppelin doch demütigend, ein offener Affront, der die ohnehin ablehnende Haltung der vormals Reichsständischen gegenüber Württemberg noch verstärkte. Damals entstanden auf Distanz zielende Erzählmuster, die unter den Mediatisierten bis in die Gegenwart gepflegt werden, inzwischen natürlich augenzwinkernd. So erklärte der 2015 verstorbene Fürst von Waldburg zu Zeil und Trauchburg mit 15 H ARTMUT W EBER , Die Fürsten von Hohenlohe im Vormärz. Politische und soziale Verhaltensweisen württembergischer Standesherren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Forschungen aus Württembergisch-Franken 11), Schwäbisch Hall 1977; H ANS K ONRAD S CHENK , Hohenlohe. Vom Reichsfürstentum zur Standesherrschaft. Die Mediatisierung und die staatliche Eingliederung des reichsunmittelbaren Fürstentums in das Königreich Württemberg 1800 bis 1847, Künzelsau 2006. 16 V OLKER P RESS , König Friedrich I. - der Begründer des modernen Württemberg, in: Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons, hg. v. Württembergischen Landesmuseum Stuttgart, 2 Bde. in 3, Stuttgart 1987, hier Bd. 2, S. 25-40; T HOMAS S CHULZ , Die Mediatisierung des Adels, in: Ebd., S. 157-174. 17 T HEODOR K NAPP , Die württembergischen Erbämter, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte 42 (1936), S. 301-322. 18 K URT A NDERMANN , Von Mecklenburg nach Württemberg. Zweihundert Jahre Reichsgrafen von Zeppelin in Aschhausen, in: Württembergisch-Franken 88 (2004), S. 27-40. <?page no="268"?> H OHENL OHE - Z WIS C HEN F R ANKEN U ND S C HW A B EN ? 269 Blick auf die schneebedeckten Alpen, sein Haus pflege seit den Zeiten der Staufer die engsten Beziehungen zu Italien, von Württemberg aber trennten es tiefe Wälder. 19 Und im Hause Hohenlohe erzählt man sich, dass, als nach erfolgter Mediatisierung aus Stuttgart zum Nachweis der Titelführung die Vorlage des Fürstendiploms verlangt wurde, der Hausarchivar zwar nicht dieses, wohl aber einen württembergischen Lehnrevers gegenüber einem Grafen von Hohenlohe gefunden habe; überdies sei es von altersher üblich gewesen, dass bei Heiraten hohenlohischer Töchter ein Graf von Württemberg die Schleppe der Braut getragen habe. 20 Gewiß, solche Geschichten spiegeln nur die Kränkung der vormals Regierenden. Wie aber ist beziehungsweise war es im Hohenloher Land um das Verhältnis des »gemeinen Mannes« zu Württemberg bestellt? Der aus Esslingen am Neckar gebürtige Schwabe Rudolf Schlauch (1909- 1971), der als evangelischer Pfarrer in Bächlingen an der Jagst, zu Füßen der hohenlohischen Residenz Langenburg, auf seiner Kanzel 36 Jahre lang allsonntäglich den geharnischten Ritter Burkhard Rezzo, einen »freien Franken«, 21 vor Augen hatte und sich in zahllosen Schriften als der große Apologet Hohenlohes profilierte, wurde nicht müde, die kernige und hintergründige fränkische Eigenart der Hohenloher Bevölkerung herauszustellen. 22 Er spricht ausdrücklich von der württembergischen »Kolonisierung des fränkischen Hohenlohe« 23 und weiß feinsinnig zu berichten, dass die Einwohner dieses gesegneten Landes »uff Schdugert hinter« gehen, aber »uff Haalbrunn für«. 24 Tatsächlich hat der Wechsel ins württembergische Untertanenverhältnis nicht allein den mediatisierten Hohenloher Fürsten, sondern auch den Hohenloher Bauern aus mancherlei Gründen missfallen. Kaum waren nach der Besitzergreifung im September 1806 landauf, landab die württembergischen Hoheitszeichen angeschlagen, wurden ihre Söhne zum Militärdienst eingezogen und mussten für Napoleon nach Russland ziehen; 25 das war ebenso ärgerlich und traurig wie neu, denn stehende 19 So gelegentlich einer Führung auf Schloss Zeil am 21. Mai 1993 anlässlich des 53. Südwestdeutschen Archivtags in Leutkirch. 20 Kolportiert von Josef Hubert Graf von Neipperg (Jahrgang 1918), der in zweiter Ehe mit einer Prinzessin von Hohenlohe-Waldenburg verheiratet ist. 21 W OLFGANG J AHN (Hg.), Edel und frei. Franken im Mittelalter [Ausstellungskatalog des Hauses der Bayerischen Geschichte], Darmstadt 2004. 22 R. S CHLAUCH , Hohenlohe Franken (Anm. 6); D ERS ., Eine Reise durch Hohenlohe. Geschichte, Kunst, Kultur. Eine Textauswahl von W OLFGANG S CHLAUCH , Crailsheim 2009. 23 R. S CHLAUCH , Reise durch Hohenlohe (Anm. 22), S. 13. 24 R. S CHLAUCH , Hohenlohe Franken (Anm. 6), S. 1. 25 R. S CHLAUCH , Hohenlohe Franken (Anm. 6), S. 231; H ARTMUT W EBER , Hohenlohische Unterlandesherrschaft, Politik und Verwaltung, in: O. B AUSCHERT , Hohenlohe (Anm. 6), S. 54-85, hier 55-60. <?page no="269"?> K U R T A NDER MANN 270 Heere und Militärdienstpflicht hatte es in den hohenlohischen Fürstentümern des Alten Reiches nicht gegeben. Indes blieb den an ein patriarchalisches Verhältnis zu ihrer Herrschaft gewöhnten Hohenlohern der neue, bald wohlorganisierte württembergische Staat nicht allein wegen der von diesem eingeführten Militärdienstpflicht lange Zeit fremd. 26 Hinzu kam, dass das im Hohenlohischen von jeher gebräuchliche Anerbenrecht 27 im Unterschied zu großen Teilen Württembergs, wo Realteilung praktiziert wurde, einen selbstbewussten und wohlhabenden Bauernstand hervorgebracht hatte. Außerdem hatte der »Gipsapostel« von Kupferzell, der evangelische Pfarrer und Agrarreformer Johann Friedrich Mayer (1719-1798), die Hohenloher Bauern gelehrt, ihre Ressourcen besser zu nutzen und ihre Erträge zu steigern. 28 Nicht zu vergessen ist darüber hinaus, dass zu Zeiten des Alten Reiches von den vielen hohenlohischen Residenzen und fürstlichen Höfen mit ihren gehobenen Bedürfnissen zahllose Handwerker, Händler und Künstler in Lohn und Brot gesetzt worden waren, die nun vielfach darbten. Die württembergische Provinz des 19. Jahrhunderts kam wirtschaftlich immer mehr ins Hintertreffen und geriet schließlich zu der Region, aus der sich die Stuttgarter Dienstboten rekrutierten. Dem entsprach folgerichtig die Geringschätzung, mit der die schwäbischen Württemberger ihren fränkischen Landsleuten begegneten. Dass Schwaben und Franken ja ohnehin recht unterschiedlich sind, fiel da kaum noch ins Gewicht. Aufgrund der herrschaftlichen Vielfalt zur Zeit des Alten Reiches war die Bevölkerung der Gebiete, die wir heute unter dem Namen Hohenlohe begreifen, zu Beginn des 19. Jahrhunderts alles andere als homogen, weder in ihrer herrschaftlichen, noch in ihrer konfessionellen Prägung; eine starke Minderheit war katholisch, die Mehrheit war evangelisch, allerdings ohne die für Altwürttemberg charakteristische pietistische Note. 29 Aber gerade die Vielfalt und Buntheit in allen Bereichen des Alltags trug zur wendigen und immer latent widerständigen Eigenart der Hohenloher Franken ganz zweifellos das ihre bei. Die alten württembergischen Oberamtsbeschreibungen, seit 1824 herausgegeben vom königlichen statistisch-topographischen Bureau in Stuttgart, sind nicht zuletzt berühmt für ihre lebensnahen Schilderungen des Landvolks. 30 Die Hohenloher 26 H. W EBER , Hohenlohische Unterlandesherrschaft (Anm. 25). 27 K ARL H EINZ S CHRÖDER , Vererbungsformen und Betriebsgrößen in der Landwirtschaft um 1955, in: Historischer Atlas von Baden-Württemberg (Anm. 3), Karte und Erläuterungen IX,6 (1979). 28 K LAUS H ERRMANN , Pfarrer Johann Friedrich Mayer, der Gipsapostel von Kupferzell, in: Hohenlohekreis (Anm. 9), Bd. 2, S. 65. 29 W ALTER H AMPELE , Die politische Kultur Hohenlohes, in: O. B AUSCHERT , Hohenlohe (Anm. 6), S. 141-167. 30 Für Hohenlohe vor allem einschlägig: Beschreibung des Oberamts Crailsheim, hg. v. dem königlichen statistisch-topographischen Bureau, Stuttgart 1884; Beschreibung des <?page no="270"?> H OHENL OHE - Z WIS C HEN F R ANKEN U ND S C HW A B EN ? 271 Franken charakterisieren sie einhellig als »geistig wohlbegabt und aufgeweckt«, fleißig, arbeitsam und betriebsam, zuvorkommend, dienstfertig, bescheiden, redselig und »jedem seine Ehre gebend«; in der Mehrzahl seien die Hohenloher »gutartige, ruhige, friedliebende, haushälterische und arbeitsame Leute« 31 mit »gesunde[r] Urtheilskraft und im Handel und Wandel eine[r] außerordentliche[n], beinahe ›Verschmitztheit‹ zu nennende[n] Klugheit«. 32 Freilich, obgleich »von Hause aus konservativ [… liebe] der Franke die Opposition«. 33 Im übrigen sei »leben und leben lassen […] der leitende Grundsatz«. 34 Die Hohenloher schätzten die »heitere Geselligkeit« und seien »nicht so schwerfällig wie die Schwaben«; 35 das »sinnliche Prinzip« sei bei ihnen vorherrschend. 36 Während der Schwabe den Fremden stehen lasse, komme der Hohenloher Franke ihm entgegen oder ihm gar zuvor. 37 Die religiöse Anschauung sei in Hohenlohefranken frei und tolerant, die Gemütstiefe des Schwaben sei dort allerdings nicht zu finden. 38 Desgleichen fehle im Hohenlohischen »jener Hang zum Mystischen und zur Absonderung, der in Alt-Württemberg den Pietismus erzeugt«, 39 und auch »jene verzehrende, alle Kräfte anspannende Anstrengung des ›hartschaffenden‹ Volkes in Schwaben kennt der Franke nicht«. 40 - Wen mag es da wundern, dass Heiraten zwischen den Einwohnern hohenlohischer Orte und solchen altwürttembergischer Orte noch in den 1860er Jahren selten waren? 41 Als eine Hohenloher Identifikationsfigur ganz eigener Art kann der Heimatdichter Wilhelm Schrader (1847-1914) gelten mit seinen »G’schichtlich« vom »alten Gäwele von Neiestaa«. Im hohenlohischen Neuenstein geboren und hier Oberamts Gerabronn, hg. v. dem königlichen statistisch-topographischen Bureau, bearb. von [C HRISTIAN L UDWIG ] F ROMM , Stuttgart-Tübingen 1847; Beschreibung des Oberamts Hall, hg. v. dem königlichen statistisch-topographischen Bureau, bearb. von [R UDOLF ] M OSER , Stuttgart-Tübingen 1847; Beschreibung des Oberamts Künzelsau, hg. v. dem königlichen statistisch-topographischen Bureau, Stuttgart 1883; Beschreibung des Oberamts Mergentheim, hg. v. dem königlichen statistisch-topographischen Bureau, Stuttgart 1880; Beschreibung des Oberamts Oehringen, hg. v. dem königlichen statistisch-topographischen Bureau, Stuttgart 1865. 31 Beschreibung des Oberamts Crailsheim (Anm. 30), S. 107f. 32 Beschreibung des Oberamts Hall (Anm. 30), S. 39. 33 Beschreibung des Oberamts Künzelsau (Anm. 30), S. 116. 34 Beschreibung des Oberamts Oehringen (Anm. 30), S. 39. 35 Beschreibung des Oberamts Künzelsau (Anm. 30), S. 115. 36 Beschreibung des Oberamts Hall (Anm. 30), S. 39. 37 Beschreibung des Oberamts Crailsheim (Anm. 30), S. 108, den ›Schwäbischen Merkur‹ von 1844 zitierend. 38 Beschreibung des Oberamts Mergentheim (Anm. 30), S. 121. 39 Beschreibung des Oberamts Oehringen (Anm. 30), S. 39. 40 Beschreibung des Oberamts Künzelsau (Anm. 30), S. 115. 41 Beschreibung des Oberamts Oehringen (Anm. 30), S. 37. <?page no="271"?> K U R T A NDER MANN 272 sowie im benachbarten Öhringen zur Schule gegangen, verbrachte Schrader als Jurist und Kameralist in württembergischen Staatsdiensten praktisch sein ganzes weiteres Leben in nahezu allen schwäbischen Teilen Württembergs - in Stuttgart, Blaubeuren, Tübingen, Göppingen, Tettnang, Langenargen, Friedrichshafen und Ulm -, hielt aber im Geist seiner fränkischen Heimat allzeit die Treue und begeistert mit seinem dichterischen Talent in hohenlohe-fränkischer Mundart seine Landsleute und andere bis auf den heutigen Tag. Seine unter dem Titel ›Bamm alte Gäwele‹ publizierten Erzählungen bringen das hintergründig Schlitzohrige des Hohenloher Naturells sehr lebhaft zum Ausdruck. 42 Aber der Dichter liebte neben Hohenlohe auch Oberschwaben, wo er lange Jahre seines Berufslebens verbrachte, und das ist gewiss kein Zufall. So arrangierten sich am Ende die Hohenloher mit dem württembergischen Staat, der in Kirche, Schule, Verwaltung und Militär, aber auch in den »Segnungen einer liberalen Verfassung« für sie täglich päsent war. 43 Und so wurden die Hohenloher mit der Zeit Württemberger, blieben aber mit ihrer südostfränkischen Mundart und mit ihrer ganz eigenen Mentalität, das heißt nicht zuletzt mit ihrem Mutterwitz, doch auch weiterhin eine Art für sich. Gelegentliche Überlagerungen der fränkischen Mundart mit Stuttgarter Honoratiorenschwäbisch sind dabei wohl nicht viel mehr als eine Folge des »zweihundertjährige[n] Anpassungsdruck[s] der schwäbischen Herrschaftssprache«. 44 Dass die Hohenloher Lande seit 1806 zum allergrößten Teil zu Württemberg gehören und die Hohenloher sich in Württemberg gut eingerichtet haben, ist, wie gerade das Beispiel Wilhelm Schraders zeigt, eine schlichte Tatsache. Und völlig unstrittig ist insoweit auch die alternative Raumbezeichnung Württembergisch Franken, die der Historische Verein für Württembergisch Franken seit 170 Jahren sehr zu Recht und nicht ohne Stolz in seinem Namen führt. 45 Wie man indes in jüngerer Zeit einer Tagung über Hohenlohe im Aufbruch in die Neuzeit den Untertitel geben konnte, »das nördliche Württemberg im 16. Jahrhundert«, 46 muss ob des darin zum Ausdruck kommenden unbekümmerten Anachronismus dem problembewussten Historiker ein Rätsel bleiben. 42 N ORBERT F EINÄUGLE , Kulturlandschaft Hohenlohe - Literatur, in: O. B AUSCHERT , Hohenlohe (Anm. 6), S. 168-201, hier v. a. 193f. 43 W. H AMPELE , Politische Kultur (Anm. 29), S. 142. 44 W. H AMPELE , Politische Kultur (Anm. 29), S. 142f. 45 E BERHARD G ÖNNER (Bearb.), Landesgeschichtliche Vereinigungen in Baden-Württemberg (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg), Stuttgart 2 1999, S. 180-182. 46 P ETER S CHIFFER (Hg.), Aufbruch in die Neuzeit. Das nördliche Württemberg im 16. Jahrhundert (Forschungen aus Württembergisch-Franken 53), Ostfildern 2012. <?page no="272"?> H OHENL OHE - Z WIS C HEN F R ANKEN U ND S C HW A B EN ? 273 Soviel zum Verhältnis Hohenlohes zum schwäbischen Württemberg. Mit Schwaben als solchem aber hatte Hohenlohe nie etwas zu tun, und wenn es gelegentlich vorkommt, dass sogar Hohenloher sich selbst als Schwaben bezeichnen, 47 geben sie damit nur zu erkennen, dass ihnen - wie vielen anderen - der grundlegende Unterschied zwischen schwäbischem Stammesgebiet einerseits und württembergischem Staatsgebiet andererseits bedauerlicherweise nicht geläufig ist. Daher erklärt es sich wohl auch, dass vor bald zwanzig Jahren im hohenlohischen Kochertal Wegweiser mit der ganz und gar deplazierten Aufschrift »Schwäbische Weinstraße« zu sehen waren, die aber inzwischen glücklicherweise gegen Schilder mit der korrekten Aufschrift »Württembergische Weinstraße« ausgetauscht sind. In den älteren Schildern zeigte sich derselbe historische Unverstand wie er auf den badischen Fußballplätzen in Karlsruhe, Freiburg oder neuerdings auch in Sinsheim zum Ausdruck kommt, wenn dort gegen die Schwaben gegrölt wird, aber die ungeliebten Württemberger aus Stuttgart gemeint sind. Die Stammesgrenze zwischen Franken und Schwaben, um die es hier ja letztlich geht, ist unstrittig. Sie entspricht im wesentlichen dem Verlauf der Grenze zwischen den alten fränkischen Diözesen Speyer und Würzburg einerseits und den alten schwäbisch-alemannischen Diözesen Straßburg, Konstanz und Augsburg andererseits. Das heißt, sie zieht aus dem unteren Elsass kommend vom Rhein bei Rastatt über die Hornisgrinde im Nordschwarzwald zum Neckar bei Ludwigsburg und weiter im Bogen nach Nordosten, wobei Weißenburg, Hirsau, Weil der Stadt, Markgröningen, Backnang, Murrhardt und Crailsheim in fränkischem Gebiet liegen, Herrenberg, Sindelfingen, Ludwigsburg, Winnenden und Ellwangen hingegen in schwäbischem. 48 Und dem entspricht auch die Verteilung der Mundarten: Nördlich der mit vielen Schleifen und Zacken durch das Land ziehenden Linie, die selbstverständlich zu keiner Zeit eine scharfe Grenze bildete, werden herkömmlich südrheinfränkische und südostfränkische Mundarten gesprochen, südlich davon schwäbisch-alemannische. 49 Irritieren mag dabei, dass die Stadt Schwäbisch Hall, die zwar nie hohenlohisch war, aber gemeinhin doch der Region Hohenlohe zugerechnet wird, mitnichten auf der schwäbischen, sondern ganz eindeutig auf der fränkischen Seite der alten Stammesgrenze liegt. Aber merkwürdig ist das nur auf den ersten Blick. 47 W. H AMPELE , Politische Kultur (Anm. 29), S. 142. 48 M. S CHAAB , Kirchliche Gliederung (Anm. 10); Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart (Anm. 10), S. 68f., 90f., 132f. und 142f. 49 H UGO S TEGER / K ARLHEIZ J AKOB , Raumgliederung der Mundarten. Vorstudien zur Sprachkontinuität im deutschen Südwesten (Arbeiten zum Historischen Atlas von Südwestdeutschland 7), Stuttgart 1983, S. 16. <?page no="273"?> K U R T A NDER MANN 274 Wenn nämlich zum Jahr 1190 Giselbert von Mons in seiner Hennegauer Chronik von einem Hoftag König Heinrichs VI. apud Hallam in Suevia berichtet, 50 wird man diese irrige Zuordnung getrost den mangelhaften Raumvorstellungen des fernen Chronisten zurechnen dürfen. Im 15. Jahrhundert indes gebrauchte der Haller Magistrat die Bezeichnung »Schwäbisch« Hall mitunter selbst und ganz bewusst, um damit - eingedenk ihrer staufischen Vergangenheit 51 - die freie Reichsstadt vor der Zudringlichkeit des Würzburger Bischofs mittels des Landgerichts im Herzogtum Franken 52 zu bewahren. Und erst 1934 wurde der Name Schwäbisch Hall schließlich amtlich. 53 Dabei stand die Zugehörigkeit Halls zur Würzburger Diözese und zum fränkischen Stammesgebiet selbstverständlich nie ernstlich in Frage. Und daran änderte auch nichts, dass beim Immerwährenden Reichstag zu Regensburg Schwäbisch Hall auf der Bank der schwäbischen Städte saß, denn auf dieser Bank saßen aus historischen Gründen ganz genauso die Vertreter der urfränkischen Reichsstädte Nürnberg, Rothenburg, Heilbronn, Schweinfurt, Windsheim und Wimpfen; 54 bekanntlich hat es eine eigene Bank der fränkischen Reichsstädte nie gegeben. Und selbstverständlich war der Ritterkanton Odenwald, bei dem die kaiserunmittelbaren Rittergüter im Gebiet ganz Hohenlohes immatrikuliert waren, Teil des fränkischen Reichsritterkreises. 55 50 Monumenta Germaniae Historica. Scriptores, Bd. 21, hg. v. G EORG H EINRICH P ERTZ , Hannover 1869, S. 571f.; F RIEDRICH P IETSCH , Die Urkunden des Archivs der Reichsstadt Schwäbisch Hall, Bd. 1: 1156 bis 1399 (Veröff. der staatlichen Archivverwaltung Baden- Württemberg 21), Stuttgart 1967, Nr. 10. 51 G ERHARD L UBICH , Geschichte der Stadt Schwäbisch Hall. Von den Anfängen bis zum Ausgang des Mittelalters (Veröff. der Gesellschaft für fränkische Geschichte 9,52), Würzburg 2006. 52 J OHANNES M ERZ , Fürst und Herrschaft. Der Herzog in Franken und seine Nachbarn 1470 bis 1519, München 2000. 53 G ERD W UNDER , Schwäbisch Hall, in: Handbuch der historischen Stätten Deutschlands: Baden-Württemberg, hg. v. M AX M ILLER (†)/ G ERHARD T ADDEY , Stuttgart 2 1980, S. 723- 728, hier 723. 54 G ERHARD O ESTREICH / E. H OLZER , Übersicht über die Reichsstände, in: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, hg. v. H ERBERT G RUNDMANN , Bd. 2, Stuttgart 9 1970, S. 769-784, hier 784. 55 J OHANN G OTTFRIED B IEDERMANN , Geschlechts-Register der reichsfrey unmittelbaren Ritterschafft Landes zu Francken, löblichen Orts Ottenwald, Kulmbach 1751; W OLFGANG VON S TETTEN , Die Rechtsstellung der unmittelbaren freien Reichsritterschaft, ihre Mediatisierung und ihre Stellung in den neuen Landen, dargestellt am fränkischen Kanton Odenwald (Forschungen aus Württembergisch-Franken 8), Schwäbisch Hall 1973; H EL - MUT N EUMAIER , »Daß wir kein anderes Haupt oder von Gott eingesetzte zeitliche Obrigkeit haben«. Ort Odenwald der fränkischen Reichsritterschaft von den Anfängen bis zum Dreißigjährigen Krieg (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden- Württemberg B 161), Stuttgart 2005. <?page no="274"?> H OHENL OHE - Z WIS C HEN F R ANKEN U ND S C HW A B EN ? 275 Fragt man nach historischen Beziehungen Hohenlohes zu Schwaben, dann fallen einem natürlich sogleich die Angehörigen des Hauses Hohenlohe ein, die dem Gefolge der Staufer angehörten, als Gefolgsleute der Staufer Karriere machten und begünstigt durch die Nähe zu dem schwäbischen Kaiserhaus ihre Herrschaft expandieren konnten. 56 Aber diese Hinwendung galt selbstverständlich nicht den Staufern als Schwaben, sondern den Staufern als Kaisern und Königen in der Erwartung herrscherlicher Gunst, von der man sich - zu Recht - viel erhoffte und durch die man schließlich viel erreichte. Und entsprechend gestaltete sich dann auch die Königsnähe des Hauses Hohenlohe zu Zeiten habsburgischer, luxemburgischer und wittelsbachischer Herrscher über das Mittelalter hinaus. Ganz selbstverständlich orientierte sie sich an den jeweiligen politischen Erfordernissen und Perspektiven. 57 Dienste nahmen die Hohenlohe im Mittelalter vorzugsweise bei geistlichen Fürsten der näheren und weiteren Umgebung - zumeist in Franken -, nur gelegentlich einmal bei den Pfalzgrafen am Rhein, die man in genügend sicherer Entfernung wähnte, hingegen kaum einmal bei den Markgrafen von Ansbach, und auch gegenüber Württemberg übten sie auffällige Zurückhaltung. Im einen Fall stand dem ganz zweifellos die Hohenlohe bedrängende markgräfliche Hegemonialpolitik entgegen, im anderen Fall zunächst wohl geburtsständisches Prestigedenken - Gleichrangigen dient man nicht -, später aber ebenfalls eine natürliche Vorsicht gegenüber den expansiven Bestrebungen Württembergs. 58 Insofern ist das bekannte, im 16. Jahrhundert entstandene Tafelbild, das im früheren 15. Jahrhundert einen Herrn von Hohenlohe im Rat des Grafen Eberhard des Milden von Württemberg zeigt, nicht viel mehr als der Ausdruck eines frommen württembergischen Wunsches. 59 56 K. W ELLER , Geschichte des Hauses Hohenlohe (Anm. 1), Bd. 1. 57 K URT A NDERMANN , Die fränkischen Grafen und das Königtum im späten Mittelalter, in: F RANZ F UCHS / P AUL -J OACHIM H EINIG / J ÖRG S CHWARZ (Hg.), König, Fürsten und Reich im 15. Jahrhundert (Beihefte zu J. F. Böhmers Regesta Imperii 29), Wien u. a. 2009, S. 173-191, hier 178-181; D ERS ., Schwäbische und fränkische Grafen an fürstlichen Höfen in der frühen Neuzeit, in: R ONALD A SCH / V ÁCLAV B ŽEK / V OLKER T RUGENBERGER (Hg.), Adel in Südwestdeutschland und Böhmen 1450 bis 1850 (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 191), Stuttgart 2013, S. 1-35, hier 21f.; D ERS ., Der König zu Gast. Maximilians I. Besuch beim Grafen von Hohenlohe in Neuenstein, in: O LIVER A UGE (Hg.), König, Reich und Fürsten im Mittelalter. Abschlusstagung des Greifswalder »Principes-Projekts«. FS für Karl-Heinz Spieß (Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald 12), Stuttgart 2017, S. 407-419. 58 K. A NDERMANN , Schwäbische und fränkische Grafen (Anm. 57), S. 21f. 59 D IETER M ERTENS , Die württembergischen Höfe in den Krisen von Dynastie und Land im 15. und frühen 16. Jahrhundert, in: P ETER R ÜCKERT (Hg.), Der württembergische Hof im 15. Jahrhundert (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden- Württemberg B 167), Stuttgart 2006, S. 74-98, hier v. a. S. 96-98; P ETER R ÜCKERT , Die <?page no="275"?> K U R T A NDER MANN 276 Als Dom- und Stiftsherren, 60 mitunter auch als Bischöfe, begegnen Söhne des Hauses Hohenlohe verständlicherweise häufig in Würzburg, daneben in Bamberg, Passau und Freising, in Speyer, Worms, Mainz und Trier, in Köln sowie mehrfach an dem wie Köln freiständischen Domstift in Straßburg; in Augsburg waren sie immerhin fünf- oder sogar sechsmal vertreten, 61 an den beiden anderen schwäbisch-alemannischen Domstiften in Konstanz und Basel hingegen überhaupt nicht. Bei den geistlichen Engagements der Hohenlohe dominierten also wiederum die fränkischen und die rheinischen Verbindungen. Ganz entsprechend verhält es sich auch mit dem Konnubium des Hauses Hohenlohe. 62 Zwar ist die allererste, bereits um die Wende des 12. Jahrhunderts urkundlich bezeugte Allianz eines Herrn von Hohenlohe ausgerechnet die mit einer Gundelfingerin aus dem Osten Schwabens, aber aufs Ganze gesehen überwiegen bei den Angehörigen des Hauses Hohenlohe vom Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches doch bei weitem die Heiratsverbindungen mit ihren fränkischen Standesgenossen. An der Spitze stehen dabei die Häuser Castell und Erbach, gefolgt von den Henneberg, Schenk von Limpurg, Löwenstein, Weinsberg und Rieneck; auch die Burggrafen von Nürnberg respektive Markgrafen von Brandenburg-Ansbach gehören dazu, von vielen Heiraten innerhalb des allzeit weitverzweigten Hauses Hohenlohe ganz zu schweigen. Zahlreiche Verschwägerungen gab es auch mit den Oettingen, deren Territorien zwischen Frankenhöhe und Donau tatsächlich zwischen Franken und Schwaben lagen. 63 Unter den Geschlechtern aus Schwaben nimmt das Haus Württemberg vom 14. bis ins 18. Jahrhundert mit fünf Allianzen den ersten Rang ein; zu nennen sind darüber hinaus für das 13. und 14. Jahrhundert die Grafen von Berg-Schelklingen (zwei), für das 14. und 15. Jahrhundert die Grafen von Zollern (zwei) und für das 16. Jahrhundert die Herren von Staufen im Breisgau (zwei) sowie vom 15. bis ins 18. Jahrhundert die Truchsessen von Waldburg in Oberschwaben (vier). Daneben kommen als Heiratspartner buchstäblich vereinzelt die Helfenstein, Fürstenberg, Montfort, Sulz, Tübingen und andere vor. Viel häufiger als mit Familien aus Schwaben verbanden sich die Hohenlohe mit solchen aus den Landschaften um »Ratssitzung« Graf Eberhards III. von Württemberg. Politische Partizipation im Bild? , in: S ÖNKE L ORENZ / D ERS . (Hg.), Auf dem Weg zur politischen Partizipation? Landstände und Herrschaft im deutschen Südwesten (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 182), Stuttgart 2010, S. 137-153. 60 Vgl. D. S CHWENNICKE , Europäische Stammtafeln (Anm. 8), Tfl. 1-23. 61 A LBERT H AEMMERLE , Die Canoniker des hohen Domstiftes zu Augsburg bis zur Säkularisation, Augsburg 1935, S. 102f. 62 D. S CHWENNICKE , Europäische Stammtafeln (Anm. 8), Tfl. 1-23. 63 D IETER K UDORFER , Die Grafschaft Oettingen. Territorialer Bestand und innerer Aufbau (um 1140 bis 1806) (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben 2,3), München 1985. <?page no="276"?> H OHENL OHE - Z WIS C HEN F R ANKEN U ND S C HW A B EN ? 277 den Rhein, vor allem mit den Nassau, Solms, Hessen und Isenburg, mit den Wild- und Rheingrafen sowie nicht zuletzt mit den wittelsbachischen Pfalzgrafen verschiedener Linien. Noch seltener als die Allianzen mit schwäbischen Familien sind nur die mit sächsischen und thüringischen, aber auch die mit bayerischen Familien. Freilich wird man nicht soweit gehen dürfen, solchem Heiratsverhalten landsmannschaftliche Präferenzen oder Divergenzen zu unterstellen, spielten doch bei der Wahl adliger Ehepartner vielerlei politische, wirtschaftliche und praktische Überlegungen eine Rolle, die für landsmannschaftliche Zu- oder Abneigungen wenig Raum ließen. Wie sonst wären in der frühen Neuzeit allein fünf hohenlohische Verbindungen mit dem holsteinischen Fürstenhaus zustande gekommen. Hinsichtlich möglicher Verbindungen zwischen dem hohenlohischen Raum und Schwaben sind zu guter Letzt die Straßen nicht zu vergessen. 64 Von der an dem Weiler Hohlach vorüberführenden Straße aus dem Norden über Würzburg und Augsburg in den Süden war bereits eingangs die Rede, aber diese Straße liegt östlich außerhalb der Region, die sich seit dem 13. Jahrhundert zum Hohenloher Land entsprechend heutigem Verständnis entwickelte. Ähnliches gilt für die sogenannte Kaiserstraße durch das Taubertal über Crailsheim nach Dinkelsbühl. Ansonsten verliefen alle älteren Geleitstraßen durch das Hohenloher Land, soweit sie von einiger Bedeutung waren, von Westen nach Osten oder umgekehrt, so die Kaiser- oder Hohe Straße von Speyer über Wimpfen und Rothenburg nach Nürnberg sowie die Straße von Wimpfen respektive Heilbronn über Öhringen und Crailsheim nach Dinkelsbühl. Die in dem Raum zwischen Neckar und Jagst nach Süden führenden Straßen waren allesamt von nachrangiger Bedeutung, wichtig darunter allein die Südostroute von Öhringen über Westernach, Schwäbisch Hall und Ellwangen nach Dinkelsbühl. Am deutlichsten wird dieser Befund beim Blick auf die in unserem Kontext wesentlichen Postcourse der frühen Neuzeit. 65 Eine nördliche Route verlief - wie die heutige Autobahn - von Wiesloch über Fürfeld im Kraichgau und Heilbronn nach Öhringen und von dort weiter über Schwäbisch Hall und Bühlertann nach Ellwangen. Eine südliche Route zog von Cannstatt über Schorndorf, Schwäbisch Gmünd und Aalen ebenfalls nach Ellwangen. Und im Westen waren Heilbronn und Stuttgart über einen Postcours entlang dem Neckar miteinander verbunden. Dazwischen lagen und liegen die Schwäbisch-Fränkischen Waldberge, ein zwar nicht unwegsames, aber doch auch nicht gerade verkehrsoffenes Gelände. Daher erklärt sich schließlich auch, weshalb die Hohenloher von altersher »uff Schdugert hinter« und »uff Haalbrunn für« gehen. Nach Heilbronn führen ihre bequemen Straßen, nach Stuttgart müssen sie die Berge überqueren. 64 Das Folgende nach M. S CHAAB , Geleitstraßen (Anm. 3). 65 W ALTER L EIBBRAND , Die Postrouten (Postcourse) in Baden-Württemberg 1490 bis 1803, in: Historischer Atlas von Baden-Württemberg (Anm. 3), Karte und Erläuterungen X,2 (1979). <?page no="277"?> K U R T A NDER MANN 278 So behinderten die Schwäbisch-Fränkischen Waldberge nicht nur zu allen Zeiten den Verkehr zwischen Franken und Schwaben, sondern sie verstellten im 19. Jahrhundert auch den Blick von Öhringen nach Stuttgart - und umgekehrt. Zwischen Franken und Schwaben liegt also nicht Hohenlohe. Zwischen Franken und Schwaben liegen vielmehr naturgegeben die Schwäbisch-Fränkischen Waldberge. Hohenlohe aber liegt in und gehört ganz eindeutig zu Franken. <?page no="278"?> 279 D IETER J. W EISS Zwischen Historiographie und moderner Landesgeschichte. Historische Vereine als regionale Identitätsträger Franken und Schwaben nahmen eine vielfach ähnliche historische Entwicklung, als königsnahe Reichslandschaften des Mittelalters, als Reichskreise in der frühen Neuzeit und weitgehend als Verlierer von Säkularisation und Mediatisierung im frühen 19. Jahrhundert. An den zahlreichen geistlichen und säkularen Höfen wie in den Reichsstädten entwickelte sich seit dem Humanismus höfische oder städtische Historiographie, die dem eigenen Ruhm und der Identitätsbildung diente. Ansätze zu einer den eigenen Reichsstand übersteigenden Geschichtsschreibung, die etwa auf den gesamten Reichskreis abgezielt hätte, sind aber kaum zu erkennen, am ehesten wohl noch in Würzburg, wo man sich in der Tradition eines Herzogtums Franken sah. 1 In Ansbach konnten die Überlegungen Johann Sigmund Strebels (1700-1764) zur Einrichtung einer Sozietät zur fränkischen Geschichte nicht umgesetzt werden, von seiner geplanten historisch-statistischen Beschreibung ›Franconia illustrata‹ mit Quelleneditionen erschien im Jahr 1761 nur der Brandenburg- Ansbach betreffende Teil. 2 All diese Ansätze brachen mit der Neuformierung der deutschen Staatenwelt im frühen 19. Jahrhundert weg, das Königreich Bayern formierte sich als ein allein rationalen Grundsätzen unterworfener Zentralstaat, in dem jahrhundertealte Rechtszustände und Traditionen erst einmal abgeschnitten wurden. 3 1 F RIEDRICH M ERZBACHER , Franconiae Historiographia. Konturen der Geschichtsschreibung in Franken, in: ZBLG 40 (1977), S. 515-552; S TEFAN B ENZ , Modelle barocker Geschichtsschreibung in und über Franken, in: D IETER J. W EISS (Hg.), Barock in Franken (Bayreuther Historische Kolloquien 17), Dettelbach 2004, S. 133-196. Als Beispiel J OHANN G EORG VON E CKHART , Commentarii de rebus Franciae orientalis et episcopatus Wirceburgensis, Bd. 1, Würzburg 1729, S. 388-400; zu ihm S TEFAN B ENZ , Johann Georg Eckhart (1674-1730), in: Fränkische Lebensbilder 15 (VGffG VIIa/ 15), Neustadt a. d. Aisch 1993, S. 135-156. 2 G EORG S EIDERER , Formen der Aufklärung in fränkischen Städten. Ansbach, Bamberg und Nürnberg im Vergleich (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 114), München 1997, S. 198f.; A LOIS S CHMID , Johann Sigmund Strebel (1700-1764), in: Fränkische Lebensbilder 16 (VGffG VIIa/ 16), Neustadt a. d. Aisch 1996, S. 95-108. 3 W ALTER D EMEL , Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/ 08-1817. Staats- und gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära in der ersten Phase des Königreichs Bayern (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 76), München 1983, S. 124-132. <?page no="279"?> D IE TER J. W EIS S 280 Das neue Bayern wurde 1808 mit einer am französischen Vorbild orientierten Departement-Einteilung überzogen, 4 in dem für regionale Identitäten kein Raum bleiben sollte. König Ludwig I. von Bayern (1825-1848, † 1868) aber bemühte sich nach seinem Regierungsantritt, die eigenständigen Traditionen der neubayerischen Territorien zu beleben, auch, um seine eigene Legitimität zu betonen, und versuchte, Bayern als Stämmestaat zu konstituieren. 5 Dabei stützte er sich auf Gedanken des Ansbacher aufgeklärten Beamten Karl Heinrich Ritter von Lang (1764-1835), 6 der die wissenschaftliche Untermauerung für die Ideen des Königs lieferte. Ludwig I. selbst wollte die historisch gewachsene Vielfalt seiner Länder und ihre Zusammensetzung aus »vier Völkerstämmen« in dem neuen Titel dokumentieren, den er 1835 annahm: »Ludwig von Gottes Gnaden König von Bayern, Pfalzgraf bei Rhein, Herzog von Bayern, Franken und in Schwaben etc. etc.« 7 In diesen Bereich gehört die Historisierung des bayerischen Wappens, 1835 wurde durch Teilung des Schildes und Aufnahme von Wappen neubayerischer Territorien der historischen Vielfalt des Königreichs Rechnung getragen. 8 Der König bezog die Kreise in dieses Konzept ein, am 29. November 1837 ließ er die Flussnamen durch historisierende 4 W ILHELM V OLKERT , Die bayerischen Kreise. Namen und Einteilung zwischen 1808 und 1838, in: Gesellschaftsgeschichte. FS für Karl Bosl zum 80. Geburtstag, hg. von F ERDI - NAND S EIBT , Bd. 2, München 1988, S. 308-323, bes. 310-312. 5 K ARL B ORROMÄUS M URR , Wittelsbachische Geschichtspolitik in Unterfranken im 19. Jahrhundert, in: E RNST -G ÜNTER K RENIG (Hg.), Wittelsbach und Unterfranken. Vorträge des Symposions 50 Jahre Freunde Mainfränkischer Kunst und Geschichte (Mainfränkische Studien 65), Würzburg 1999, S. 198-228; D IETER J. W EISS , König Ludwig I. und Franken, in: FS Rudolf Endres, hg. v. C HARLOTTE B ÜHL / P ETER F LEISCHMANN (Jahrbuch für fränkische Landesforschung 60), Neustadt a. d. Aisch 2000, S. 451-467. 6 K ARL H EINRICH R ITTER VON L ANG , Die Vereinigung des Baierischen Staats aus seinen einzelnen Bestandtheilen der ältesten Stämme, Gauen und Gebiete, in: Denkschriften der Akademie 1811/ 12, S. 1-168, verbesserte und um Würzburg, Aschaffenburg und Speyer erweiterte Neuaufl. auf Wunsch Königs Ludwigs I. mit Handschreiben vom 28. Jänner 1829 unter dem Titel: ›Baierns Gauen nach den drei Volksstämmen der Alemannen, Franken und Bojoaren, aus den alten Bisthums Sprengeln nachgewiesen‹, Nürnberg 1830. 7 Vgl. dazu Signate König Ludwigs I., ausgewählt und eingeleitet v. M AX S PINDLER , hg. v. A NDREAS K RAUS (Materialien zur bayerischen Landesgeschichte 1-6), 6 Bde., München 1987-1997 (Bd. 12 Register), hier Bd. 2, 1835 Juni 11: Nr. 360, S. 616; 1835 Okt. 18: Nr. 578, S. 680. 8 Regierungsblatt für das Königreich Bayern 1835, S. 889. - W ILHELM V OLKERT , Die Bilder in den Wappen der Wittelsbacher, in: Die Zeit der frühen Herzöge. Von Otto I. zu Ludwig dem Bayern. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1180-1350 (Wittelsbach und Bayern I/ 1), hg. v. H UBERT G LASER , München-Zürich 1980, S. 13-28. <?page no="280"?> H I S TO RIS C HE V ER EINE AL S R EGIONALE I DENTITÄTS TR ÄGER 281 Bezeichnungen ersetzen. 9 Der Obermainkreis wurde zu Oberfranken, der Rezatkreis zu Mittelfranken, der Untermainkreis zu Unterfranken und Aschaffenburg und schließlich der Oberdonaukreis zu Schwaben und Neuburg. Bereits zuvor hatte Ludwig I. sich für Denkmalpflege und die Stärkung des historischen Bewusstseins engagiert, seine Devise lautete »Vaterlandsliebe durch Vaterlandskunde«. 10 Als Geburtsurkunde der Denkmalpflege und der historischen Vereine in Bayern gilt das in der Villa Colombella bei Perugia erlassene Dekret des Königs vom 29. Mai 1827. Sein Ziel war es dabei, Nationalgeist und Vaterlandsliebe durch die Bewahrung der Denkmäler und die Beschäftigung mit der Vergangenheit zu beleben. 11 Im Hinblick auf die Etablierung Historischer Vereine und ihre Verbindung mit Museum und Bibliothek folgte Ludwig I. wieder einer Anregung des Ritters von Lang. 12 Dieser hatte 1827 vorgeschlagen, dass zur Pflege der Urkunden und Denkmale in Bayern »für jede Provinz ein eigenes historisches Museum gegründet werden möchte.« 13 Natürlich war König Ludwig I. nicht der einzige, der in dieser Zeit solche Ideen vertrat, denken wir etwa an die Gründung der ›Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde‹ durch den Freiherrn von Stein im Jahr 1819 oder verschiedene lokale Gesellschaften und Vereine, in denen sich Honoratioren mit historischen Interessen zusammenschlossen. Das besondere 9 1837 Nov. 29: Regierungssystem und Finanzverfassung, unter Mitwirkung v. W ERNER K. B LESSING bearb. v. R OLF K IESSLING / A NTON S CHMID (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern III/ 3), München 1977, Nr. 57, S. 125-127. 10 S IEGFRIED W ENISCH , König Ludwig I. und die historischen Vereine in Bayern, in: J OHANNES E RICHSEN u. a. (Hg.), »Vorwärts, vorwärts sollst du schauen …«. Geschichte, Politik und Kunst unter Ludwig I. Aufsätze (Veröff. zur Bayerischen Geschichte und Kultur 9), München 1986, S. 323-339. 11 G ERTRUD S TETTER , Die Entwicklung der Historischen Vereine in Bayern bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Diss. phil. München 1973, S. 25-27; N ORBERT G ÖTZ , Aspekte der Denkmalpflege unter Ludwig I. von Bayern, in: Romantik und Restauration. Architektur in Bayern zur Zeit Ludwigs I. 1825-1848, hg. v. W INFRIED N ERDINGER (Ausstellungskataloge der Architektursammlung der Technischen Universität München und des Münchner Stadtmuseums 6), München 1987, S. 44-53. Zur Denkmalschutzpolitik und Inventarisation: H ANS -M ICHAEL K ÖRNER , Staat und Geschichte im Königreich Bayern 1806-1918 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 96), München 1992, S. 329-365. - Abdruck: G. S TETTER , Entwicklung (Anm. 11), Nr. 8, S. 82. 12 K ARL H EINRICH R ITTER VON L ANG , Allgemeine Uebersicht der neuesten baierischen Geschichtsliteratur, in: Hermes, oder Kritisches Jahrbuch der Literatur 29 (1827), S. 1-65, 181-228, hier 225-228. Zur Biographie: A DOLF B AYER , Karl Heinrich Ritter von Lang, Geschichtsforscher und Verwaltungsbeamter, 1764-1835, in: Lebensläufe aus Franken 3 (VGffG VII/ 3), Würzburg 1927, S. 329-351; H EINRICH VON M OSCH , Karl Heinrich Ritter von Lang, geboren zu Balgheim im Ries, in: Jahrbuch des historischen Vereins für Mittelfranken 89 (1977-1981), S. 119-132. 13 K. H. v. L ANG , Uebersicht (Anm. 12), S. 225. <?page no="281"?> D IE TER J. W EIS S 282 an der Entwicklung in Bayern war nur, dass der König tatsächlich in allen bayerischen Kreisen Historische Vereine, verbunden mit Museen, einrichten lassen wollte und dies durch das Innenministerium kontrollieren ließ. 14 Den Anfang machten zwei fränkische Kreise mit Hohenzollern-Tradition, Bayreuth und Ansbach. 15 Angestoßen durch den Wunsch des Königs, aber noch ohne förmlichen Regierungsauftrag hatte sich bereits 1827 in Bayreuth ein Historischer Verein für das frühere Markgraftum gebildet. 16 Zur Gründungsversammlung am 31. März 1827 hatten sich vier Geschichtsfreunde, Juristen und Theologen, darunter der Erste Bürgermeister von Bayreuth Erhard Christian Hagen (1786- 1867), 17 getroffen, um einen »Alterthumsverein« aufzubauen. Eingeladen zum Beitritt wurden alle »Freunde der vaterländischen Geschichte und Alterthumskunde«. 18 Im folgenden Jahr erschien dann das erste Heft des ersten Bandes der vereinseigenen Zeitschrift ›Archiv für Bayreuthische Geschichte und Alterthumskunde‹. Schon im Titel wird hier deutlich, dass die Gründer zunächst weniger an den bayerischen Obermainkreis als an das alte Markgraftum als Referenzrahmen dachten, weshalb dem Verein dann auch in Bamberg Konkurrenz erwachsen sollte. In Ansbach war es der rührige Karl Heinrich Ritter von Lang, der 1830 mit geschichtsinteressierten Beamten und Bürgern einen Historischen Verein gründete. 19 Offenbar war ihm bereits bewusst, dass neben Ansbach die ehemalige Reichsstadt Nürnberg im Rezatkreis lag, weshalb er - wohl um keine Konkurrenz entstehen zu lassen - sowohl in Ansbach am 1. Januar wie in Nürnberg am 11. Februar 1830 Gründungsversammlungen durchführen ließ. 20 Allerdings nahm Nürnberg dann doch einen Sonderweg. Aber auch in Ansbach hatte es bereits vor 1830 Zusammen- 14 G. S TETTER , Entwicklung (Anm. 11), S. 27f. 15 S IEGFRIED W ENISCH , Die Anfänge der historischen Vereine in Franken, in: BHVB 120 (1984), S. 655-669. 16 E VA K UNZMANN , Zur Geschichte des Historischen Vereins für Oberfranken, in: AO 51 (1971), S. 231-234; E RWIN H ERRMANN , 150 Jahre Historischer Verein für Oberfranken zu Bayreuth, in: AO 56 (1976), S. 9-22; K ARL M ÜSSEL , Gründung und Gründer des Historischen Vereins für Oberfranken, in: AO 81 (2001), S. 13-50; Georg K UNZ , Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 138), Göttingen 2000, S. 78-118. 17 W ILHELM M ÜLLER , Erhard Christian von Hagen. Dem Gründer des Historischen Vereins für Oberfranken zum 100. Todestag am 28. Oktober 1967, in: AO 47 (1967), S. 379-394; K. M ÜSSEL , Gründung (Anm. 16), S. 17-20. 18 Aufruf abgedruckt in Archiv 1, Heft 1, 1828, S. VII-X (Nachdruck E. H ERRMANN , 150 Jahre, Anm. 16, S. 19-22). 19 R UDOLF E NDRES , Mittelfranken und sein historischer Verein, in: Jahrbuch des historischen Vereins für Mittelfranken 89 (1977-1981), S. 1-16. 20 R. E NDRES , Mittelfranken (Anm. 19), S. 6f. <?page no="282"?> H I S TO RIS C HE V ER EINE AL S R EGIONALE I DENTITÄTS TR ÄGER 283 schlüsse von Geschichtsfreunden gegeben. Rudolf Endres weist zu recht darauf hin, dass neben dem königlichen Dekret auch der Wunsch vieler Bürger, historisches Forschen in Vereinen zu organisieren, für die schließlichen Gründungen maßgeblich war. 21 Mehreren Kreisvereinen waren gesellschaftliche Zusammenschlüsse vorausgegangen, wie in Ansbach 1817 die ›Gesellschaft für vaterländischen Kunst- und Gewerbefleiß‹. Die umfangreichen Sammlungen des Mittelfränkischen Vereins werden heute im Markgrafenmuseum Ansbach verwahrt, die Bibliothek wird von der Staatlichen Bibliothek Ansbach, die Archivalien und Handschriften vom Staatsarchiv Nürnberg betreut. Mit Dekret vom 13. Mai 1830 wandte sich der königliche Innenminister Eduard von Schenk (1788-1841) an alle bayerischen Regierungspräsidenten, verwies auf das Vorbild des Rezatkreises und forderte zur Nachahmung »in allen Kreisen des Königreiches« auf, die zur wünschenswerten »Vorbereitung von Spezialgeschichten und kräftige[n] Förderung des Nationalgeistes« führen würde. 22 Im gleichen Jahr, wie in den meisten anderen bayerischen Kreisen, entstand darauf in Bamberg am 8. Juli 1830 ein eigener ›Historischer Verein des Obermaynkreises zu Bamberg‹. 23 Er stand unter der Leitung des Archivars Paul Oesterreicher (1766-1839) und sollte sich besonders mit der Geschichte des ehemaligen Hochstifts auseinandersetzen. 24 Den Anstoß hatte der Besuch des Königspaares im Obermainkreis vom Juni 1830 gebildet. 25 Dabei wurde schon bald die zeitliche, nicht aber die territoriale Grenze überschritten, das heißt die Bamberger Geschichte auch nach der Säkularisation einbezogen. Allerdings wollte sich der Bayreuther Verein, der bereits über 230 Subskribenten verfügte, den Vorrang nicht nehmen lassen und benannte sich fortan ›Historischer Verein für den Obermainkreis‹, seine Zeitschrift ›Archiv für Geschichte und Alterhumskunde des Obermainkreises‹. 26 Er lud den Bamberger Verein zur Mitarbeit ein und arrangierte sich zunächst mit der Neugründung. Ab 1834 gingen die beiden Vereine aber getrennte Wege mit jeweils eigenen Zeitschriften. Damit wurde das spätere Oberfranken der einzige bayerische Kreis mit gleich zwei historischen Vereinen, die ihre Anregung 21 R. E NDRES , Mittelfranken (Anm. 19), S. 5f. 22 Zitiert nach S IEGFRIED W ENISCH , Zur Ausstellung ›1831-1981: Der Historische Verein von Unterfranken, Aschaffenburg, ein Rückblick auf Werden, Wirken in 150 Jahren‹, in: Mainfränkisches Jahrbuch 33 (1981), S. 45-84, hier 48. 23 Bericht über das bisherige Bestehen und Wirken des historischen Vereins des Ober- Main-Kreises zu Bamberg, Bamberg 1834. Vgl. G. K UNZ , Verortete Geschichte (Anm. 16), S. 119-158. 24 O TTO M EYER , Wirken für die Geschichte. Festvortrag zum 150jährigen Jubiläum des Historischen Vereins Bamberg 1980, in: BHVB 117 (1981), S. 7-20. 25 K ARL M ÜSSEL , Der Besuch des bayerischen Königs Ludwig I. im Obermainkreis 1830, in: AO 81 (2001), S. 53-80. 26 K. M ÜSSEL , Gründung (Anm. 16), S. 45. <?page no="283"?> D IE TER J. W EIS S 284 König Ludwig verdankten. Der überkommene Dualismus zwischen dem evangelischen Markgraftum und dem katholischen Hochstift ließ sich auch durch die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem bayerischen Kreis nicht überwinden. Auch der Bamberger Verein baute besonders durch Schenkungen umfangreiche Sammlungen an prähistorischen Funden, Medaillen, Münzen, Handschriften, Kunstwerken und überhaupt historischen Gegenständen auf. 27 Bis ins beginnende 20. Jahrhundert lag die Vereinsleitung häufig in den Händen von Mitgliedern des Domkapitels oder anderen Klerikern, die auch unter der Mitgliedschaft stark vertreten waren. Etwa länger dauerte die Entwicklung im späteren Unterfranken. Im Untermainkreis entstand erst im folgenden Jahr, am 22. Januar 1831, auf Initiative des Regierungspräsidenten Maximilian Freiherr von Zu Rhein (1780-1832), der ›Historische Verein für den Untermain-Kreis‹. 28 Auch hier schlossen sich Honoratioren aus Adel, Klerus und Bürgerschaft zusammen, eine wichtige Persönlichkeit bildete dabei der noch aus der Verwaltung des Hochstifts kommende Legationsrat Dr. Karl Gottfried Scharold (1769-1847). 29 Seit 1832 erschien als Vereinsorgan das ›Historische Archiv für den Untermainkreis‹ (1832-1837), das 1838 mit der Umbenennung des Vereins den neuen Titel ›Archiv des Historischen Vereins für Unterfranken und Aschaffenburg‹ übernahm. Als einem von zwei bayerischen Regierungskreisen hatte ja König Ludwig I. Unterfranken einen Doppelnamen verliehen, um auf die historisch anderen, kurmainzischen Wurzeln Aschaffenburgs und des Spessarts als im übrigen Unterfranken hinzuweisen. Aus den Mitgliedern des Vereins heraus wurde 1893 der Fränkische Kunst- und Altertumsverein, der 1913 das Fränkische Luitpold-Museum eröffnen konnte, gegründet. 1938 wurde der Verein in Analogie zur Umbenennung des Regierungsbezirks zum Historischen Verein von Mainfranken. Nach schweren Einbrüchen durch Nationalsozialismus und Krieg fusionierten die beiden Vereine 1948 mit dem 1841 gegründeten Kunstverein Würzburg unter dem neuen Namen ›Freunde mainfränkischer Kunst und Geschichte‹. Seit 1949 erscheint als Nachfolgeorgan des Archivs für Unter- 27 Vgl. Sammeln - Bewahren - Erforschen. Texte zur Ausstellung des Historischen Vereins Bamberg, in: 175 Jahre Historischer Verein Bamberg 1830-2005. Festakt - Ausstellung - Beiträge, in: BHVB 141 (2005), S. 33-71. 28 O TTO H ANDWERKER , Werden und Wirken des Historischen Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg 1831-1931, in: Archiv des historischen Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg 69 (1931/ 34), S. 81-108; O TTO M EYER , »Nicht die Asche sammeln, sondern das Feuer hüten«, in: Mainfränkisches Jahrbuch 33 (1981), S. 20-36; S. W ENISCH , Ausstellung (Anm. 22), Abdruck der Statuten, S. 50-52. 29 O. M EYER , Asche (Anm. 28), S. 32f.; S. W ENISCH , Ausstellung (Anm. 22), S. 57. <?page no="284"?> H I S TO RIS C HE V ER EINE AL S R EGIONALE I DENTITÄTS TR ÄGER 285 franken das ›Mainfränkische Jahrbuch für Geschichte und Kunst‹, das im Untertitel die alte Bandzählung fortsetzt. 30 Anders als in Franken wurde in Schwaben nur der östliche Teil des Schwäbischen Reichskreises vom Königreich Bayern übernommen, der mit teilweise älteren Wittelsbacher Territorien im Oberdonaukreis verbunden und neu organisiert wurde. Noch vor dem Kreisverein entstanden in Schwaben bald nach dem königlichen Erlass von 1827 eine Reihe von teils kurzlebigen lokalen Geschichtsvereinen: 1828 Buchloe, 1831 Dillingen (Archäologischer Verein im Bezirke des Königlichen Landgerichtes Dillingen) und Günzburg, 1832 Aichach, Roggenburg, Donauwörth, 1833 Neuburg an der Donau. Mit Ausnahme des Neuburger Vereins gingen sie bald im später gegründeten Kreisverein auf. 31 Auf königlichen Befehl sollte 1833 endlich auch im Oberdonaukreis ein eigener Historischer Verein gegründet werden, was bei einer Versammlung am 11. September 1834 in Augsburg tatsächlich erfolgte. 32 Aus einem Kreis um den Regierungsdirektor Dr. Johann Nepomuk von Raiser (1768-1853) entstand der Historische Verein für den Oberdonaukreis. 33 Er war hervorgegangen aus einer bereits 1819 zusammengetretenen Gesellschaft von Altertumsfreunden, 34 die mit den ›Denkwürdigkeiten des Oberdonaukreises‹ (1820- 1834) über ein eigenes Publikationsorgan verfügt hatten. 35 Den Vorsitz übernahm der Regierungspräsident Franz Arnold Ritter von Linck 36 (1769-1838), Raiser fungierte als zweiter Vorsitzender. Die Neueinteilung der bayerischen Kreise 1838 bedeutete für den Historischen Verein eine Umstrukturierung seiner Mitglieder, die Bezirke Aichach, Friedberg, Rain und Schrobenhausen kamen an Oberbayern, das Ries, Wemding und Monheim zu Schwaben und Neuburg. Mit der Umbenennung des Kreises 1837 erhielt auch der Verein den veränderten Namen ›Historischer Verein für Schwaben und Neuburg‹ (1938 zu Schwaben gekürzt). Ab 1834 erschienen Jahresberichte, ab 1874 die ›Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg‹ mit neuer Zählung (ab 1941 mit dem verkürzten Titel ohne Neuburg). 37 Seit 1854 konnten die Kunstsammlungen des schwäbischen Vereins im neu gegründeten 30 Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 1, Archiv des Historischen Vereins für Unterfranken und Aschaffenburg 72 (1949). 31 Eduard G EBELE , 100 Jahre Historischer Verein, in: ZHVS 51 (1934/ 35), S. 9-64, hier 14. 32 E. G EBELE , 100 Jahre (Anm. 31), S. 14f. 33 E. G EBELE , 100 Jahre (Anm. 31), S. 9-64. 34 E. G EBELE , 100 Jahre (Anm. 31), S. 11. 35 E. G EBELE , 100 Jahre (Anm. 31), S. 12, 39f. 36 J USTINA B AYER , Franz Arnold Ritter von Linck: Forstspezialist und treuer Patriot, in: M ARITA K RAUSS / R AINER J EDLITSCHKA (Hg.), Verwaltungselite und Region. Die Regierungspräsidenten von Schwaben 1817 bis 2017, München 2017, S. 49-57. 37 E. G EBELE , 100 Jahre (Anm. 31), S. 39-52. <?page no="285"?> D IE TER J. W EIS S 286 Maximilianmuseum in Augsburg präsentiert werden. 38 Bis 1887 fungierte der Regierungspräsident als Vorsitzender des Vereins. Auch dieser Verein verfügte über umfangreiche Kunstsammlungen, die er 1908 der Stadt Augsburg als Dauerleihgabe übertrug. Die Kreisvereine erfüllten sicher die ihnen vom König zugedachten Aufgaben, einmal die Pflege ihrer Geschichtslandschaften im Rahmen des Königreichs Bayern, die Bewahrung von Denkmälern, die archäologische Forschung, die Gründung von Museen, die Anlage von Bibliotheken und Archivaliensammlungen. Gleichzeitig konnten sie politische Unzufriedenheit mit den neuen Verhältnissen im Königreich gleichsam aufnehmen und sollten die Loyalität zur Monarchie stärken. Ihre Forschungsgegenstände berührten weniger die großen politischen Fragen als besonders die Kulturgeschichte im weitesten Sinne. »Damit wurde Kulturgeschichte das bevorzugte Interessen- und Arbeitsgebiet der Historischen Vereine […]«. 39 Zunächst stand an der Spitze dieser Vereine, und dies teilweise bis in die Gegenwart, der jeweilige Regierungspräsident, was die Nähe zur offiziellen Politik festschrieb. Die Ansätze zu bürgerlichen Geschichtsvereinen, die sich bereits im Vormärz gefunden hatten, wurden durch die ludovizianischen Kreisvereine erst einmal aufgesogen und überformt. Noch in der zweiten Jahrhunderthälfte, und verstärkt nach der kleindeutschen Reichsgründung 1870/ 71, entstanden auch in den Städten und Regionen, die durch die Kreisvereine nur am Rande abgedeckt wurden, weitere Initiativen zu Vereinsneugründungen. 40 Beispielhaft mag dafür Nürnberg stehen, dessen Bürger ihre reichsstädtische Vergangenheit im Ansbacher Kreisverein nur ungenügend abgedeckt fanden. Da Nürnberg bereits 1810 den Regierungssitz des kurzlebigen Pegnitzkreises verloren hatte, war es nicht zum Sitz eines Kreisvereins geworden. Freilich traf sich auch hier seit 1833 eine Gesellschaft zur Pflege von Denkmälern der älteren deutschen Geschichte um den Freiherrn Hans von Aufseß 41 (1801-1872), dessen Interessen gesamtdeutsch ausgerichtet waren. 38 E. G EBELE , 100 Jahre (Anm. 31), S. 27-32 (Sammlungen, Bibliothek, Archiv); N ORBERT L IEB , Der Aufbau des Augsburger Maximilian-Museums, in: ZHVS 51 (1934/ 35), S. 157- 193. 39 O. M EYER , Asche (Anm. 28), S. 30. 40 Zur Verdichtung des Vereinsnetzes nach der Bismarckschen Reichsgründung (1871) vgl. A LFRED W ENDEHORST , 150 Jahre Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 138 (2003), S. 1-65, hier 17-23. 41 G USTAV VON B EZOLD , Aufseß Hans Freiherr von und zu, Altertumsforscher, Gründer des Germanischen Museums, in: Lebensläufe aus Franken 1 (VGffG VII/ 1), München- Leipzig 1919, S. 1-10. <?page no="286"?> H I S TO RIS C HE V ER EINE AL S R EGIONALE I DENTITÄTS TR ÄGER 287 Seine Bemühungen mündeten schließlich 1852 in der Gründung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. 42 Baron Aufseß stand auch am Beginn des Zusammenschlusses der deutschen Geschichtsvereine. Als Dachverband der reichen historischen Vereinslandschaft innerhalb des Deutschen Bundes, aber auch der deutschen Schweiz, war 1852 der ›Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine‹ aus zwei Treffen in Dresden und Mainz hervorgegangen, wobei Hans von Aufseß und Prinz Johann von Sachsen (1801-1873), der spätere König Johann (1854-1873), wichtige Rollen spielten. 43 Aus diesen Versammlungen heraus erfolgten die Gründung des ›Römisch-Germanischen Central-Museums‹ in Mainz und eben des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. 44 Aus diesem Umfeld heraus erfolgte auch der Anstoß zur Gründung eines eigenen Nürnberger Geschichtsvereins. Zur 25-Jahrfeier des Germanischen Nationalmuseums hielt der ›Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine‹ seine Generalversammlung in Nürnberg ab, die auf Anregung des Justizrats Freiherr Georg Kreß von Kressenstein 45 (1840-1911) die Einrichtung eines Geschichtsvereins forderte. 46 Der Verein für die Geschichte der Stadt Nürnberg wurde am 17. Januar 1878 gegründet, zum Vorsitzenden wurde mit demselben Georg Kreß von Kressenstein ein Angehöriger des Patriziats gewählt. Mit den ›Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg‹ erhielt er ein eigenes Publikationsorgan, bald fand eine gewisse organisatorische Anbindung an das Stadtarchiv statt. Auch in anderen fränkischen Städten erfolgten nun Gründungen lokaler Geschichtsvereine wie 1879 der Verein für Heimatkunde Gunzenhausen, 1886 der Historische Verein Eichstätt, 1898 der Verein Alt-Rothenburg, 1904 der Aschaffenburger Geschichtsverein und 1909 der Historische Verein Schweinfurt. 47 Nach dem Ersten Weltkrieg kamen der Heimat- und Geschichtsverein Erlangen (1919), die Historische Gesellschaft Coburg (1920), der Heimatverein Spalter Land (1929) und der Verein für Geschichte und Heimatforschung Alt-Fürth (1933) dazu. 48 Die 42 B ERNWARD D ENEKE / R AINER K AHSNITZ (Hg.), Das Germanische Nationalmuseum. Nürnberg 1852-1977. Beiträge zu seiner Geschichte, München-Berlin 1978. 43 A. W ENDEHORST , 150 Jahre Gesamtverein (Anm. 40), S. 7-15. 44 A. W ENDEHORST , 150 Jahre Gesamtverein (Anm. 40), S. 10. 45 L UDWIG VON W ELSER , Kreß, Georg Freiherr von, Rechtsanwalt, Politiker und Geschichtsforscher 1840-1911, in: Lebensläufe aus Franken 1 (VGffG VII/ 1), München- Leipzig 1919, S. 266-273. 46 R UDOLF E NDRES , 100 Jahre Nürnberger Geschichtsverein - 100 Jahre Nürnberger Geschichte, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 65, 1978, S. 9- 26 (FS des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg zur Feier seines hundertjährigen Bestehens 1878-1978, Nürnberg 1978), hier 13. 47 A. W ENDEHORST , 150 Jahre Gesamtverein (Anm. 40), S. 17-21. 48 A. W ENDEHORST , 150 Jahre Gesamtverein (Anm. 40), S. 22. <?page no="287"?> D IE TER J. W EIS S 288 Schwerpunkte dieser Vereine waren stärker lokalgeschichtlich ausgelegt, auch hier dominierten zunächst Honoratioren unter den Mitgliedern. Auch Schwaben erlebte in der Zeit des Kaiserreichs eine Gründungswelle Historischer Vereine mit lokalen Bezügen. Dazu gehört der - nach einem Vorläufer 1831 - im Jahr 1888 neugegründete Historische Verein Dillingen an der Donau, der sich zunächst auf die archäologische Forschung konzentrierte. 49 In Memmingen erfolgte die Gründung des Memminger Altertumsvereins (dieser Name seit 1885) 1881/ 82 zunächst aus archäologischen Interessen, seit 2007 unter dem neuen Namen: Historischer Verein Memmingen mit den Aufgabenbestimmungen Geschichtsforschung, Heimatpflege und Denkmalschutz. Diese lokalen Vereine stärkten sicher die Identität in der jeweiligen Heimatgemeinde, waren aber kaum fränkisch oder schwäbisch oder gar gesamtbayerisch ausgerichtet. Auch im Bereich der Kirchengeschichte entstanden eigene Geschichtsvereine. In Würzburg 50 (1932) und Augsburg 51 (1965) haben sich eigene Diözesangeschichtsvereine gebildet, in Bamberg wird diese Aufgabe durch den Historischen Verein abgedeckt. Im protestantischen Bereich gibt es bereits seit 1924 den Verein für bayerische Kirchengeschichte, 52 der trotz eines fränkischen Schwerpunkts den gesamten Bereich der Landeskirche abdeckt und eben deshalb integrativ wirkt. Die Integration Frankens in Bayern war in der Zeit des Königreichs weitgehend geglückt, 53 und dies war nicht zum geringsten Teil das Verdienst König Ludwigs I. 54 Der Preis dafür war, dass ein gesamtfränkisches Bewusstsein in der Epoche des Kaiserreichs nur schwach ausgeprägt blieb, weil ein Kristallisationskern fehlte. 49 D IETER M. S CHINHAMMER , Der Historische Verein Dillingen a. d. Donau 1888-1988. Eine schwäbische Institution im Wandel der Zeit, in: Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau 90 (1988), S. 14-26. 50 Seit 1933 Würzburger Diözesangeschichtsblätter. - W OLFGANG W EISS , Würzburger Diözesangeschichtsverein, in: Territorialkirchengeschichte. Handbuch für Landeskirchen- und Diözesangeschichte, hg. v. D IETRICH B LAUFUSS / T HOMAS S CHARF -W REDE (Veröff. der Arbeitsgemeinschaft der Archive und Bibliotheken in der evangelischen Kirche 26), Neustadt a. d. Aisch 2005, S. 345-350. 51 Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte e. V. 1 (1967). - M ANFRED W EITLAUFF , Verein für Augsburger Bistumsgeschichte e. V., in: Territorialkirchengeschichte (Anm. 50), S. 237-242; W ALTER A NSBACHER , 50 Jahre Verein für Augsburger Bistumsgeschichte e. V. - Der Zeitraum von 2002 bis 2015, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 50 (2016), S. 7-46. 52 Seit 1926 Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte. - H ELMUT B AIER , Verein für bayerische Kirchengeschichte, in: Territorialkirchengeschichte (Anm. 50), S. 17-32. 53 W ERNER K. B LESSING , Staatsintegration als soziale Integration. Zur Entstehung einer bayerischen Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert, in: ZBLG 41 (1978), S. 633-700. 54 D. J. W EISS , König Ludwig I. (Anm. 5), S. 451-467. <?page no="288"?> H I S TO RIS C HE V ER EINE AL S R EGIONALE I DENTITÄTS TR ÄGER 289 Trotz der oder als bewusstes Gegenbild zur rasch fortschreitenden Industrialisierung und Modernisierung in der Prinzregentenzeit entwickelte sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein unpolitisches und romantisches Frankenbild. Für Teile des vormals reichsständischen und ritterschaftlichen Adels und des Bildungsbürgertums trug es zur Identitätsstiftung bei, es entstand ein - wie es Werner K. Blessing formulierte - Frankonismus von ›folkloristischem‹ Charakter, der sich nicht gegen Bayern, sondern auf ein über die bayerischen Grenzen hinausreichendes, imaginiertes Stammesfranken richtete. 55 Diese Entwicklung fiel zusammen mit der Heimatschutzbewegung und der Entdeckung des romantischen Frankens durch den Tourismus. Seinen wissenschaftlichen Überbau fand dies 1905 in der Gründung der ›Gesellschaft für fränkische Geschichte‹ aus der Zusammenarbeit von Forschung und gesellschaftlich relevanten Gruppen, besonders dem fränkischen Adel. 56 Damit wurden die partikular ausgerichteten und überwiegend vom Bürger- und Beamtentum getragenen Geschichtsvereine des Vormärz erstmals gesamtfränkisch überwölbt. 57 Der »Impulsgeber und Motor der Gesellschaft« 58 war Anton Chroust (1864- 1945), der 1898 als außerordentlicher Professor für neuere Geschichte und historische Hilfswissenschaften an die Universität Würzburg berufen worden war. 59 Der gebürtige Grazer hatte in seiner Vaterstadt, in Berlin und am Institut für österreichische Geschichtsforschung in Wien studiert. Im Jahr 1902 wurde sein Würzburger Extraordinariat zu einer ordentlichen Professur für neuere Geschichte aufgewertet, im Zusammenhang eines damit verbundenen Intrigenspiels musste der bayerische Kultusminister Robert von Landmann (1845-1926) zurücktreten. 60 War 55 W ERNER K. B LESSING , Franken in Staatsbayern: Integration und Identität, in: E RICH S CHNEIDER (Hg.), Nachdenken über fränkische Geschichte. Vorträge aus Anlass des 100. Gründungsjubiläums der Gesellschaft für fränkische Geschichte vom 16.-19. September 2004 (VGffG IX/ 50), Neustadt a. d. Aisch 2005, S. 279-312, hier 298. 56 A LFRED W ENDEHORST , Hundert Jahre Gesellschaft für fränkische Geschichte, in: E. S CHNEIDER (Hg.), Nachdenken (Anm. 55), S. 11-37. 57 W. K. B LESSING , Franken (Anm. 55), S. 298f. 58 A. W ENDEHORST , Hundert Jahre (Anm. 56), S. 12. 59 A NDREAS B IGELMAIR , Chroust, Anton, Professor der Geschichte an der Universität Würzburg (1864-1945), in: Lebensläufe aus Franken 6 (VGffG VII/ 6), Würzburg 1960, S. 98-108; P ETER H ERDE , Anton Chroust. Mitbegründer der Gesellschaft für fränkische Geschichte. Ein österreichischer Historiker im deutschen akademischen Umfeld von der Wilhelminischen Zeit bis zum Nationalsozialismus, in: E. S CHNEIDER (Hg.), Nachdenken (Anm. 55), S. 39-56. 60 P ETER H ERDE , Die Äbtissin Cuthsuuith, Anton Chroust und der Sturz des bayerischen Kultusministers Robert von Landmann (1901/ 02), in: Universität Würzburg und Wissenschaft in der Neuzeit. Beiträge zur Bildungsgeschichte. Gewidmet Peter Baumgart anlässlich seines 65. Geburtstages, hg. v. P ETER H ERDE / A NTON S CHINDLING (Quellen und For- <?page no="289"?> D IE TER J. W EIS S 290 Chroust daran weitgehend unschuldig, so blieb doch sein Leben von seiner ausgeprägten Streitlust überschattet, die auch mehrfach sein Werk, die Gesellschaft für fränkische Geschichte, gefährdete. Am 17. Dezember 1904 führten Vertreter aus den drei fränkischen Kreisen des Königsreichs Bayern in Nürnberg Vorbesprechungen für eine zu gründende wissenschaftliche Gesellschaft, als deren Vorbild die ältere, bereits 1881 entstandene ›Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde‹ dienen sollte. 61 Anton Chroust entwarf darauf ein Memorandum zur Gründung einer ›Gesellschaft für fränkische Geschichte‹, das vom 3. März 1905 datiert. Am Beginn dieser Denkschrift betont er »die Notwendigkeit, in anderer und mehr systematischer Weise als bisher für die Veröffentlichung und Bearbeitung von Quellen zur fränkischen Geschichte zu sorgen«. 62 Chroust formulierte die bis heute gültige Aufgabenstellung der Gesellschaft, in deren Mittelpunkt die historische Grundlagenforschung steht, und gab als Ziel vor, »die bisher unveröffentlichten Quellen zur Geschichte Frankens den modernen Anforderungen der Geschichtswissenschaft entsprechend herauszugeben und einschlägige Forschungen auf dem Gebiet der fränkischen Geschichte anzuregen und zu fördern«. 63 Ganz modern mutet Chrousts umfassende Beschreibung des Arbeitsfeldes der Gesellschaft an: »Überhaupt will die Gesellschaft für fränkische Geschichte ihr Arbeitsfeld nicht ängstlich begrenzen. Jede Art menschlicher Betätigung, soweit sie sich durch die Mittel geschichtlicher Forschung erfassen und begreifen läßt, soll mit der gegebenen räumlichen Beschränkung auf den fränkischen Kreis heutigen bayerischen Anteils und auf das Fürstentum Aschaffenburg in den Kreis der Wirksamkeit der Gesellschaft gezogen werden können und Beachtung, unter Umständen auch Bearbeitung finden - natürlich nach Maßgabe der vorhandenen Mittel und der vorhandenen Arbeitskräfte im Lauf der Jahre.« 64 Chrousts ebenso anspruchsvolles wie umfassendes Programm stieß auf breites Interesse. Aus einer Privatinitiative und zunächst ohne staatliche Unterstützung entstand die Gesellschaft für fränkische Geschichte. Bis heute setzt sie sich zusammen aus Stiftern und Patronen sowie den wissenschaftlich arbeitenden Wahlmitgliedern. Unter den Patronen waren und sind besonders Angehörige des standesherrlichen und reichsritterschaftlichen Adels in Franken vertreten, aber auch schungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 53), Würzburg 1998, S. 231-270. 61 Rheinische Landesgeschichte an der Universität Bonn. Traditionen - Entwicklungen - Perspektiven, hg. v. M ANFRED G ROTEN / A NDREAS R UTZ , Göttingen 2007. 62 Edition: A LFRED W ENDEHORST (Hg.), Dokumente zur Geschichte der Gesellschaft für fränkische Geschichte und ihres Umfeldes 1905-1961 (VGffG XIII/ 48), Schweinfurt 2006, Nr. 1, S. 9-17, hier 9. 63 Edition: A. W ENDEHORST (Hg.), Dokumente (Anm. 62), Nr. 1, S. 11. 64 Edition: A. W ENDEHORST (Hg.), Dokumente (Anm. 62), Nr. 1, S. 5. <?page no="290"?> H I S TO RIS C HE V ER EINE AL S R EGIONALE I DENTITÄTS TR ÄGER 291 Vertreter der Kirchen, der staatlichen Verwaltung, der Bezirke und der Kommunen. Diese Konstruktion sollte der Finanzierung der Gesellschaft und besonders der Anstellung von auf eine bestimmte Zeit beschäftigten wissenschaftlichen Bearbeitern, Mitarbeitern und Hilfsarbeitern dienen, was freilich nur bis zum Ersten Weltkrieg gelang. 65 Der Vorsitz wird aus dem Bereich der Patrone bestimmt. Erster Vorsitzender wurde der aus dem Ulmer Zweig einer Patriziatsfamilie stammende, überwiegend in Nürnberg aufgewachsene mittelfränkische Regierungspräsident Dr. Ludwig Freiherr von Welser (1841-1931). 66 Seine Nachfolge übernahm 1913 Reichsrat Friedrich Carl Fürst zu Castell-Castell (1864-1923), dessen Haus der Gesellschaft bis heute aufs engste verbunden ist. Die wissenschaftliche Leitung lag bis zu dessen Tode 1945 in den Händen von Anton Chroust. Das große Programm aus der Zeit des Kaiserreichs von 1905 ist zwar bei weitem noch nicht erfüllt, aber auf vielen Feldern liegen doch sehr bedeutende Ergebnisse und Leistungen vor. 67 Dies ist um so bemerkenswerter, als die Gesellschaft - abgesehen von den für die Wissenschaften so glücklichen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg - nicht über hauptamtliche Kräfte verfügt und einen privaten Zusammenschluss bildet. Hier wurde und wird Landesgeschichte betrieben ohne Rückhalt an einem Staat oder auch nur einem einzigen kulturellen Zentrum. Die Arbeit der Gesellschaft bietet damit ein Gegenbild und zugleich eine wertvolle Ergänzung zu der am Staat ausgerichteten bayerischen Landesgeschichte. Die Arbeitsfelder der Gesellschaft orientieren sich in vielen Fällen an den Traditionen des Alten Reichs, der geographische Rahmen vielfach am Fränkischen Reichskreis, der über den Raum der späteren bayerischen Regierungsbezirke hinausgriff. In diesen Regionen haben sich teilweise schon im 19. Jahrhundert Vereine gebildet, die bewusst an fränkische Traditionen anknüpften. Zunächst ist hier der bereits 1847 gegründete ›Historische Verein für Württembergisch Franken‹ zu nennen, der den Honoratiorenvereinen des Vormärz zuzuordnen ist. 68 Auch dieser Verein verfügte bald über ein eigenes Museum, zunächst in Künzelsau, ab 1873 in Schwäbisch Hall. Im ehemals zur Diözese Würzburg und zum Fränkischen 65 Ordnung für die Bearbeitung der wissenschaftlichen Aufgaben der Gesellschaft für fränkische Geschichte vom 28. Mai 1910 nach der Ergänzung vom 9. Juli 1911 und den Beschlüssen vom 15. Dezember 1912: A. W ENDEHORST (Hg.), Dokumente (Anm. 62), Nr. 3, S. 21-28. 66 H ANS F REIHERR VON W ELSER , Dr. Welser, Ludwig Freiherr von, Verwaltungsbeamter und Geschichtsfreund, 1841-1931, in: Lebensläufe aus Franken 5 (VGffG VII/ 5), Würzburg 1936, S. 492-508. 67 D IETER J. W EISS , Quelleneditionen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, in: Erlanger Editionen. Grundlagenforschung durch Quelleneditionen: Bericht und Studien, hg. v. H ELMUT N EUHAUS (Erlanger Studien zur Geschichte 8), Erlangen-Jena 2009, S. 119-132. 68 H ANS -M ARTIN M AURER , Die Anfänge des Historischen Vereins für Württembergisch Franken, in: Württembergisch Franken 81 (1997), S. 7-28. <?page no="291"?> D IE TER J. W EIS S 292 Reichskreis gehörigen Teil Thüringens zwischen Rennsteig und Hoher Rhön initiierte 1832 der Dichter und Hofbibliothekar Ludwig Bechstein (1801-1860) den ›Hennebergisch-altertumsforschenden Verein‹ zu Meiningen, von dem sich 1888 der ›Verein für Sachsen-Meiningische Geschichte und Landeskunde‹ separierte. 69 Beide Vereine schlossen sich 1935 unter dem Namen ›Hennebergisch-fränkischer Geschichtsverein‹ zusammen, der jedoch 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone verboten wurde. 70 Ab 1990 konnte dieser Verein in Meiningen und Kloster Veßra seine Tätigkeit wieder aufnehmen, mit drei Museen kooperieren und seine Publikationstätigkeit fortsetzen. Eine der Gesellschaft für fränkische Geschichte vergleichbare Institution konnte sich in Schwaben nicht ausbilden, war wohl auch nicht nötig, weil ihr Aufgabenbereich vom Historischen Verein betreut wurde. Auf Initiative des Münchener Ordinarius Max Spindler (1894-1986) konnte aber 1949 die Schwäbische Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften eingerichtet werden. 71 Zu ihren Hauptaufgaben gehört neben der Beratung in Forschungsfragen »die planmäßige wissenschaftliche Erforschung und Bearbeitung der Geschichte und Landeskunde Bayerisch-Schwabens und die Veröffentlichung entsprechender Quellen und Forschungsergebnisse«. 72 Als Geschäftsführender Vorsitzender wirkte über drei Jahrzehnte der Augsburger Stadtschulrat Dr. Eduard Nübling (1906-1997). Mit einer Satzungsreform von 1968 wurde die Rechtsstellung der Forschungsgemeinschaft gegenüber der Münchener Kommission gestärkt. 73 Die deshalb 1991 daneben eingerichtete ›Schwäbische Forschungsstelle Augsburg der Kommission für bayerische Landesgeschichte‹ leitet und koordiniert nun die Projekte der Kommission für den schwäbischen Bereich. Ihre Erträge schlagen sich in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen nieder und werden von Grundlagenforschung, besonders Quellen- und 69 Gründungsbericht und Festrede von Dr. G ÜNTHER W ÖLFING , in: Neugründung des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins am 11. März 1990 im Schloß Elisabethenburg zu Meiningen, Würzburg 1990, S. 7-22, hier 15. 70 Gründungsbericht und Festrede von Dr. G ÜNTHER W ÖLFING (Anm. 69), S. 16-18. 71 P ANKRAZ F RIED , Schwäbische Forschungsgemeinschaft und Schwäbische Forschungsstelle Augsburg, in: W ILHELM V OLKERT / W ALTER Z IEGLER (Hg.), Im Dienst der bayerischen Geschichte. 70 Jahre Kommission für bayerische Landesgeschichte, 50 Jahre Institut für Bayerische Geschichte (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 111), München 1998, S. 161-169. 72 Satzung der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte von 1949, in: W. V OLKERT / W. Z IEGLER (Hg.), Im Dienst der bayerischen Geschichte (Anm. 71), S. 273-276, hier § 1, 273. 73 P. F RIED , Schwäbische Forschungsgemeinschaft (Anm. 71), S. 164, Abdruck der Satzung von 1968: W. V OLKERT / W. Z IEGLER (Hg.), Im Dienst der bayerischen Geschichte (Anm. 71), S. 277-282. <?page no="292"?> H I S TO RIS C HE V ER EINE AL S R EGIONALE I DENTITÄTS TR ÄGER 293 Regesteneditionen, aber auch den großen Reihen des Historischen Atlasses und des Ortsnamensbuchs von Bayern geprägt. Bei den bisher vorgestellten Gesellschaften und Vereinen handelte sich um Honoratiorenvereinigungen, deren Mitglieder sich bis weit über den Ersten Weltkrieg hinaus aus der gehobenen Beamtenschaft nicht nur aus Archiven und Bibliotheken, aus dem Bürgertum, dem Adel und dem Klerus rekrutierten, natürlich befanden sich zahlreiche Gymnasial- und einige Universitätsprofessoren darunter. Allerdings nahm die Zahl der Hochschullehrer auch unter den Vorständen der Vereine erst nach dem Zweiten Weltkrieg beachtlich zu. Dies mag damit zusammenhängen, dass man auch in Bayern von einer universitären Landesgeschichte erst ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert sprechen kann. Mit Anton Chroust wurde erstmals einen Universitätsprofessor in diesem Beitrag genannt. Dies hängt damit zusammen, dass sich die Landesgeschichte erst relativ spät als Universitätsfach etablieren konnte. Sigmund von Riezler 74 (1843- 1927) wurde als erster Inhaber auf die endlich 1898 eingerichtete ordentliche Professur für bayerische Landesgeschichte an der Universität München berufen. Mittlerweile hatte sich der bayerische Selbstbehauptungswille nach der vollzogenen Integration in das Kaiserreich wieder gestärkt, so dass er »sich seiner historischen Grundlagen zu vergewissern versuchte.« 75 Schon zwei Jahre zuvor war 1886 in Würzburg der Sohn der Stadt Theodor Henner (1851-1928) nach langen Bemühungen auf eine außerplanmäßige Professur mit der Verpflichtung zu regelmäßigen Vorlesungen aus den Bereichen Allgemeine Geschichte und besonders Bayerische Geschichte ernannt worden, 1898 angehoben »zum ordentlichen Professor der Geschichte, insbesondere der bayerischen Landesgeschichte«. 76 Auf das Extraordinariat wurde darauf der mehrfach genannte Anton Chroust berufen. Staatspolitische Motive sorgten also für die institutionelle Etablierung der Landesgeschichte als universitärem Fach 77 - und staatspolitische Motive waren es 74 K ATHARINA W EIGAND , Der Lehrstuhl für bayerische Landesgeschichte an der Universität München und sein erster Inhaber Sigmund von Riezler, in: W. V OLKERT / W. Z IEGLER (Hg.), Im Dienst der bayerischen Geschichte (Anm. 71), S. 307-350, hier 325-336. 75 W ERNER K. B LESSING , Landesgeschichtliche Arbeit in Bayern seit 1945, in: Methoden und Themen der Landes-, Regional- und Heimatgeschichte in Bayern, Sachsen und Thüringen, hg. v. Haus der Bayerischen Geschichte, München 1991, S. 21-32, hier 22. 76 H ELMUT F LACHENECKER , Theodor Henner, Geheimer Regierungsrat und ordentlicher Professor für Geschichte (1851-1928), in: D ERS ./ F RANZ F UCHS (Hg.), Anfänge der geschichtlichen Forschung an der Universität Würzburg. 150 Jahre Historisches Institut/ 100 Jahre Kunstgeschichtliches Institut (Historische Studien der Universität Würzburg 9/ Mainfränkische Hefte 109), Regensburg 2010, S. 108-143, hier 116-118. 77 A NDREAS K RAUS , Die staatspolitische Bedeutung der bayerischen Geschichte, in: W. V OLKERT / W. Z IEGLER (Hg.), Im Dienst der bayerischen Geschichte (Anm. 71), S. 1- <?page no="293"?> D IE TER J. W EIS S 294 auch, die zur Einrichtung der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften durch das bayerische Gesamtministerium am 31. Mai 1927 führten. 78 Der Kommission war die Aufgabe der »Förderung und Zusammenfassung der planmäßigen Erforschung und Bearbeitung der bayerischen Landesgeschichte« zugedacht. 79 Da sich die Kommissionsarbeit an den Grenzen Staatsbayerns orientierte, drohten Konflikte mit der zwanzig Jahre älteren Gesellschaft für fränkische Geschichte. 80 Dies wurde durch die glückliche Konstruktion verhindert, die fränkische Gesellschaft der Kommission faktisch zu assoziieren, indem deren Vorstand aufgenommen und ihr die Herausgeberschaft für die fränkischen Belange der Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte übertragen wurde. 81 Zum Abschluss sollen noch die Universitäten betrachtet werden. Eine feste Verankerung an einer fränkischen Universität fand die fränkische Landesgeschichte erst mit der Gründung des ›Instituts für fränkische Landesforschung‹ am 1. April 1933 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen. 82 Auch wenn man dahinter einen Zusammenhang mit den aktuellen politischen Entwicklungen vermuten könnte, von denen die Universität Erlangen ja in besonderer Weise betroffen war, so stand dahinter vielmehr die ältere Idee der interdisziplinären Zusammenarbeit von Geographie, Germanistik und Geschichte. Das Forschungsinteresse »kultureller Hinwendung zum Volk und seiner Heimat« musste eben nicht mit 17; A LOIS S CHMID , Landesgeschichte in Bayern: Bilanzen und Perspektiven, in: D ERS ., Neue Wege der bayerischen Landesgeschichte (Otto-von-Freising-Vorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt), Wiesbaden 2008, S. 38-44, hier 38. 78 M AX S PINDLER , Die Kommission für bayerische Landesgeschichte. Gründung und Anfänge, in: D ERS ., Erbe und Verpflichtung. Aufsätze und Vorträge zur bayerischen Geschichte, hg. v. A NDREAS K RAUS , München 1966, S. 127-167; W ILHELM V OLKERT , Die Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: D ERS ./ W. Z IEGLER (Hg.), Im Dienst der bayerischen Geschichte (Anm. 71), S. 21-103. 79 Verordnung über die Errichtung einer Kommission für bayerische Landesgeschichte von 1927 mit den Ergänzungen von 1929, in: W. V OLKERT / W. Z IEGLER (Hg.), Im Dienst der bayerischen Geschichte (Anm. 71), S. 251-254. 80 A NTON C HROUST , Franken und Bayern, in: Aufsätze und Vorträge zur fränkischen, deutschen und allgemeinen Geschichte (VGffG IX/ 8), Leipzig 1939, S. 24-29; A. W ENDE - HORST , 150 Jahre Gesamtverein (Anm. 40), S. 36-38. 81 A LFRED W ENDEHORST , Die Gesellschaft für fränkische Geschichte und die Kommission für bayerische Landesgeschichte, in: W. V OLKERT / W. Z IEGLER (Hg.), Im Dienst der bayerischen Geschichte (Anm. 71), S. 145-160. 82 W ERNER K. B LESSING , Die Institutionalisierung des regionalen Blicks. Landesgeschichte in Erlangen, in: Geschichtswissenschaft in Erlangen, hg. v. H ELMUT N EUHAUS (Erlanger Studien zur Geschichte 6), Erlangen-Jena 2000, S. 135-170. <?page no="294"?> H I S TO RIS C HE V ER EINE AL S R EGIONALE I DENTITÄTS TR ÄGER 295 völkischer oder gar nationalsozialistischer Politik einhergehen. 83 So galt als eines der Hauptprojekte die Erarbeitung eines Fränkischen Ortsnamenbuchs als Grundlage für die Siedlungsgeschichte. 84 Seit 1935 erscheint hier das Jahrbuch für fränkische Landesforschung. Mit der Berufung des Mediävisten Erich Freiherrn von Guttenberg 85 (1888-1952) wurde 1936 ein Vertreter der Landesgeschichte nach Erlangen geholt, wo erst 1958 ein Extraordinariat und 1965 ein Lehrstuhl für bayerische und fränkische Landesgeschichte, ab 1961 besetzt mit Gerhard Pfeiffer 86 (1905-1996), eingerichtet wurden. 87 Dieser Lehrstuhl und die Gesellschaft für fränkische Geschichte wurden von Baron Guttenberg (1946-1952), von Gerhard Pfeiffer (1965- 1975) und am längsten von Alfred Wendehorst 88 (1927-2014) (1976-1996 Vorsitz, 1996-2006 Stellvertreter) in Personalunion geleitet. Gleichzeitig wurden die Zusammenarbeit mit der Münchener Kommission intensiviert und die fränkischen Arbeiten am Historischen Atlas und Ortsnamenbuch koordiniert. Fränkische Landesgeschichte wurde an der Universität Würzburg von Theodor Henner und von Anton Chroust von ihren auch allgemeinhistorischen Lehrstühlen aus betrieben. Die Vertretung der Landesgeschichte wurde dann dem konkordatsmäßig gebundenen Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte übertragen. 89 Im Jahr 1937 wurde der als Wissenschaftspolitiker tief in das nationalsozialistische Regime verstrickte Wilhelm Engel (1905-1964) auf den Würzburger Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte, Historische Hilfswissenschaften und Landesgeschichte berufen. 90 Otto Meyer (1906-2000) konnte seit 1947 an der Universität Würzburg wie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Bamberg lehren, ab 1949 als außerplanmäßiger Professor in Würzburg, ab 1955 als außerordentlicher Professor in Bamberg. Auf den Würzburger Lehrstuhl für mittlere und neuere Geschichte 83 W. K. B LESSING , Institutionalisierung (Anm. 82), S. 142. 84 W. K. B LESSING , Institutionalisierung (Anm. 82), S. 138. 85 A LFRED W ENDEHORST , Erich Freiherr von Guttenberg 1888-1952, in: Fränkische Lebensbilder 11 (VGffG VIIa/ 11), Neustadt a. d. Aisch 1984, S. 192-210. 86 D IETER J. W EISS , Gerhard Pfeiffer (1905-1996), Nachruf und Schriftenverzeichnis, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 58 (1998), S. 391-398. 87 W. K. B LESSING , Institutionalisierung (Anm. 82), S. 161-166. 88 D IETER J. W EISS , Alfred Wendehorst (1927-2014), in: ZBLG 77 (2014), S. 963-967. 89 P ETER H ERDE , Max Buchner (1881-1941) und die politische Stellung der Geschichtswissenschaft an der Universität Würzburg 1925-1945, in: P ETER B AUMGART (Hg.), Die Universität Würzburg in den Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Biographischsystematische Studien zu ihrer Geschichte zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Neubeginn 1945, Würzburg 2002, S. 183-251, hier 189. 90 E NNO B ÜNZ , Ein Historiker zwischen Wissenschaft und Weltanschauung: Wilhelm Engel (1905-1964), in: P. B AUMGART (Hg.), Universität Würzburg (Anm. 89), S. 252-318; E NNO B ÜNZ , Wilhelm Engel (1905-1964). Archivar und Landeshistoriker, in: Fränkische Lebensbilder 25 (VGffG VIIa/ 25), Würzburg 2018, S. 301-317. <?page no="295"?> D IE TER J. W EIS S 296 unter besonderer Berücksichtigung der bayerischen Landesgeschichte aber wurde 1953 Karl Bosl (1908-1993) berufen. Seine Nachfolge trat ab 1962 bis 1974 als ordentlicher Professor für »mittlere Geschichte, Landesgeschichte und historische Hilfswissenschaften« Otto Meyer an. 91 Er prägte die fränkische Landesgeschichte nicht nur in Bamberg und Würzburg, sondern wirkte nach seiner Emeritierung auch noch in Erlangen und erreichte dort den Aufbau einer Professur für Buch- und Bibliothekswissenschaften. Eine Ausdifferenzierung der universitären Landesgeschichte bildete dann ein Resultat der Universitätsneugründungen der 70er Jahre. In Bayern wurde trotz einer Hochkonjunktur der Sozialwissenschaften die Landesgeschichte gefördert und an allen Landesuniversitäten verankert. 92 Dabei wurde wie in Augsburg und Bayreuth als Fächerbezeichnung zunächst meist Bayerische Landesgeschichte ohne die Zusätze Schwäbisch oder Fränkisch gewählt. In Augsburg wurde Pankraz Fried 93 (1931-2013) der erste Lehrstuhlinhaber für bayerische und schwäbische (Bezeichnung seit 1986) Landesgeschichte (1974 Extraordinarius, 1980 Lehrstuhlinhaber). 94 Vor der Jahrtausendwende war die Landesgeschichte damit in der bayerischen Universitätslandschaft relativ gut aufgestellt, teilweise waren sogar zusätzliche C 3-Professuren eingerichtet worden. Dies hängt auch damit zusammen, dass sie einen integralen Bestandteil der Lehrerbildung bildet und in den Prüfungsordnungen wie in den Lehrplänen entsprechend verankert ist. 95 Auf der Ebene der Vereine lassen sich drei Stufen landesgeschichtlicher Arbeit ausmachen: zunächst die königlich bayerischen Kreisvereine um 1830, dann zweitens lokale Geschichtsvereine teils schon im Vormärz, meist aber erst nach der Gründung des kleindeutschen Kaiserreichs, die sich ab 1852 im ›Centralverein der deutschen Geschichtsvereine‹ zusammenschlossen, und schließlich drittens die Gründung überregionaler Institutionen wie der Gesellschaft für fränkische Geschichte 1904 als die bayerischen Verwaltungsgrenzen überschreitende Wissenschaftsorganisation oder die Etablierung der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft 1949. Während die letztgenannten Gremien wissenschaftlich und in der Grundlagenforschung engagiert sind, tragen die historischen Vereine durch ihr Vortragsprogramm, die Betreuung von Museen und eigene Publikationsorgane 91 P ETER J OHANEK , Otto Meyer. Nachruf, in: Deutsches Archiv zur Erforschung des Mittelalters 56, 2000, S. 843-845; P ETER B AUMGART , Otto Meyer und die Geschichtswissenschaft am Institut für Geschichte in Würzburg, in: Akademische Gedenkfeier für Professor Dr. Otto Meyer in der Neubaukirche 5. Juni 2000, Würzburg 2002, S. 15-22. 92 W. K. B LESSING , Landesgeschichtliche Arbeit (Anm. 75), S. 27. 93 W OLFGANG W ÜST , Nachruf Pankraz Fried (1931-2013), in: ZBLG 76 (2013), S. 603- 609. 94 P. F RIED , Schwäbische Forschungsgemeinschaft (Anm. 71), S. 166. 95 A. S CHMID , Landesgeschichte (Anm. 76), S. 39. <?page no="296"?> H I S TO RIS C HE V ER EINE AL S R EGIONALE I DENTITÄTS TR ÄGER 297 stärker zur Festigung der regionalen Identität bei. Mit der Verankerung der Landesgeschichte als eigenständigem Universitätsfach engagieren sich auch deren Vertreter bei zahllosen Vortragsveranstaltungen und der Mitarbeit in den Vereinsgremien, so dass auch die Arbeit der historischen Vereine zunehmend professionalisiert wird. Auf ihre je spezifische Weise beteiligen sich so alle genannten Institutionen an der Stärkung lokaler und regionaler Identitäten. <?page no="298"?> 299 E VA B ENDL Geschichtsbegeisterung und Heimatliebe. Zur Entwicklung der historischen Museen in Schwaben und Franken Ein überraschend lebhaftes Bild bietet sich dem Besucher beim Eintritt in dieses historisch so merkwürdige Zimmer dar; farbenreich, wie der Geschmack der Vorzeit, vielseitig wie die Äußerungen ihres Lebens. 1 So beschrieb der Jurist und Schriftsteller Gottfried Böhm 1878 das bereits 1866 eröffnete Städtische Museum Nördlingen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden in immer mehr Städten Bayerns Museen, die sich auf die öffentliche Präsentation von historischen Objekten spezialisierten. Sie übten eine große Faszination auf die geschichtsbegeisterten Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts aus. Ab 1880 begann in Bayern ein regelrechter Gründungsboom: Jede Stadt wollte ein eigenes Geschichtsmuseum vorweisen können. Als in den 1920er Jahren in vielen Regionen des deutschsprachigen Raumes eine weitere Welle von Museumseröffnungen einsetzte, besaßen die meisten größeren Städte in Bayern bereits mindestens ein Museum. Wie entwickelten sich die historischen Museen in Schwaben und Franken im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Welche Einstellungen und Denkweisen brachten die Museumsleiter in ihre museale Arbeit ein? Welche kollektiven Identitäten spielten bei der Konzeption von Museen eine Rolle? 1. Faszination und Repräsentation Museumsarbeit war zunächst reine Männersache. In Schwaben wie auch in Franken kamen die Initiativen zur Gründung historischer Museen in fast allen Fällen aus dem gebildeten Bürgertum. Honoratioren eines Ortes, angesehene Männer, wie Lehrer, Pfarrer und Beamte, aber teilweise auch Wirtschaftsbürger, sammelten ehrenamtlich für das örtliche Museum und übernahmen die Gestaltung der Dauerausstellungen. Mit dem Engagement im Museum konnten sie sowohl ihren Einsatz für das Allgemeinwohl als auch ihr Wissen demonstrieren und ihrem Geschichtsinteresse ungehindert nachgehen. Museumsakteure und Museumsbesucher bildeten 1 G OTTFRIED B ÖHM , Das städtische Museum in Nördlingen. Besprochen von G OTTFRIED B ÖHM 1878, in: Historischer Verein für Nördlingen und Umgebung 11 (1927), S. 159-175, hier 161. <?page no="299"?> E VA B ENDL 300 eine homogene Gruppe, aus der Frauen und nichtbürgerliche Schichten weitgehend ausgeschlossen blieben. Die Bürger handelten bei Museumsgründungen sowohl als Einzelpersonen als auch im Kollektiv. Historische Vereine tauchen häufig als Museumsgründer auf. 2 Ein Beispiel sind die in Ansbach verwahrten und ausgestellten Sammlungen des Historischen Vereins für Mittelfranken. 3 Sie profitierten wiederum von Stiftungen einer Einzelperson: Johann Georg Pfister schenkte der Sammlung in Ansbach zahlreiche Objekte, die er auf Reisen erworben hatte. Pfister hatte sich vom Kellner zum Sekretär wohlhabender Engländer hochgearbeitet und dabei historische und numismatische Kenntnisse erworben. Im Britischen Museum war er als Konservator im Münz- und Medaillenkabinett tätig. 4 Durch seine Stiftung konnte er seiner Heimatstadt etwas zurückgeben und sich dort gleichzeitig ein Denkmal setzen. Die Stadt Ansbach dankte ihm sein Engagement mit der Ernennung zum Ehrenbürger 1866. 5 Diese Mischung von altruistischen und wissenschaftlichen Motiven sowie ein ausgeprägtes Repräsentationsbedürfnis ist typisch für das bürgerliche Engagement im Museumsbereich. Ab 1872 konnten die von Pfister gestifteten Objekte besichtigt werden. Die öffentliche Ausstellung der Sammlung, die ein Museum erst konstituiert, gelang nur dank der Kooperationsbereitschaft des bayerischen Königshauses: Die Wittelsbacher stellten Räume im nördlichen Flügel des Ansbacher Schlosses zur Verfügung. Hier ließe sich ein Zusammenhang mit den Bemühungen um ein gesamtbayerisches Zusammengehörigkeitsgefühl vermuten. Doch zur kollektiven Identitätsbildung eigneten sich die gezeigten Gegenstände kaum. Denn auffallend ist, dass zunächst weder ein regionaler noch ein nationaler Fokus die Auswahl der Exponate beschränkte. Stattdessen präsentierte man in Ansbach historische Objekte aus den unterschiedlichsten Ländern. Andernorts boten Ausgrabungen historischer Vereine den Anlass für eine Museumsgründung. Dabei spielte der Stolz auf römische Vergangenheit und auf die frühe Besiedelung der Orte eine wichtige Rolle. Beispielsweise basieren die Sammlungen der 1879 bzw. 1889 gegründeten historischen Museen in Gunzenhausen 2 E VA B ENDL , Inszenierte Geschichtsbilder. Museale Sinnbildung in Bayerisch-Schwaben vom 19. Jahrhundert bis in die Nachkriegszeit (Bayerische Studien zur Museumsgeschichte 2), Berlin 2016, S. 56. 3 Der größte Teil der Sammlungen des Historischen Vereins für Mittelfranken befindet sich in Ansbach. Die Handschriften- und Archivaliensammlung des Vereins wird im Staatsarchiv Nürnberg aufbewahrt. 4 J UTTA F RANKE , Pfister, Johann Georg, Antiquar, in: Bosls Bayerische Biographie. 8000 Persönlichkeiten aus 15 Jahrhunderten, hg. von K ARL B OSL , Regensburg 1983, S. 586. 5 J. F RANKE , Pfister, Johann Georg (Anm. 4), S. 586. <?page no="300"?> G E S C HIC HTS B EGEI S TERU NG U ND H EIMATLIE BE 301 und Weißenburg auf Ausgrabungsfunden der lokalen Altertumsvereine. 6 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren erste Sammelbemühungen oftmals noch eng mit dem aufklärerischen oder neuhumanistischen Geschichtsbild verbunden, das in der Antike ein Vorbild für die Gegenwart sah, wie zum Beispiel in Lauingen und Augsburg. 7 Die historischen Museen im 19. Jahrhundert zeigten oftmals ein buntes und facettenreiches Bild der Vergangenheit. Kuriositäten und Exotika 8 tauchten in den Sammlungen auf, die meist unter akutem Platzmangel und Überfüllung litten. Depoträumlichkeiten waren nur sehr selten vorhanden. Oft mussten sich die im Museum Engagierten mit einem einzigen Raum, häufig in öffentlichen Gebäuden, wie Rathäusern oder Schulen, begnügen. (Abb. 1) 6 G ESA B ÜCHERT , Schauräume der Stadtgeschichte. Städtische Heimatmuseen in Franken von ihren Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (Bayerische Studien zur Museumsgeschichte 1), Berlin 2011, S. 73. 7 E. B ENDL , Inszenierte Geschichtsbilder (Anm. 2), S. 75f. 8 Beispiele für umfangreiche völkerkundliche Sammlungen sind Bamberg, Ansbach, Bayreuth und Obergünzburg. G. B ÜCHERT , Heimatmuseen in Franken (Anm. 6), S. 187; E. B ENDL , Inszenierte Geschichtsbilder (Anm. 2), S. 212. Abb. 1: Postkarte aus dem Führer durch das Kaufbeurer Lokalmuseum, 1899. <?page no="301"?> E VA B ENDL 302 Hauptamtlich beschäftigte Fachleute aus größeren Museen betrachteten die Bemühungen ihrer ehrenamtlichen Kollegen in der Provinz mit großer Skepsis. Das Schreckgespenst der sinn- und zwecklosen unerfreulichen Rumpelkammern, in denen wertvolle Stücke eher untergehen als konserviert werden 9 und sogar ausgestopfte Krokodile und Waffen von Südseeinsulanern 10 zu sehen sind, geisterte auch noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch die Fachpublikationen. Doch tatsächlich verfolgten bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr historische Museen sowohl in Franken als auch in Schwaben ein Sammlungskonzept mit einem engen räumlichen Fokus. In Franken ging in vielen Fällen die Ausstellung von Altertümern mit einem starken deutschnationalen Identitätsgefühl einher. Als Paradebeispiel muss natürlich das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg genannt werden. Durch ihre Ausrichtung auf die Zeit vor 1800 hoben die Museen außerdem frühere territoriale Zugehörigkeiten hervor. Die Gestaltung der historischen Museen von Ansbach und Bayreuth betonte die jahrhundertelange Herrschaft der (Hohen-)Zollern als Burggrafen von Nürnberg bzw. Markgrafen von Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Kulmbach/ -Bayreuth durch zahlreiche Portraits von Mitgliedern des Hauses der Hohenzollern, während Darstellungen von Wittelsbachern nicht zu sehen waren. Bei kommunalen Museen stand meist die städtische Selbstdarstellung im Vordergrund. Die Zugehörigkeit zu Bayern wurde kaum thematisiert. Gesa Büchert vermutet dahinter den Wunsch, sich vom bayerischen Königtum abzugrenzen und durch die Betonung der vorbayerischen Geschichte eine eigene kulturelle Identität zu schaffen bzw. zu stärken. 11 Dabei trugen die Museumsakteure mit ihrer Fokussierung auf die vorbayerische Geschichte eher dazu bei, alte regionale Identitäten weiterzutragen, als ein gesamtfränkisches Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. In den schwäbischen Museen lässt sich zur gleichen Zeit eine Abgrenzung vom Königreich Bayern nicht feststellen. Zwar richteten die meisten Museen Schwabens ihren Blick ebenfalls auf die vorbayerische, oftmals reichsstädtische Geschichte, doch dies ging meist mit öffentlichen Loyalitätsbekundungen zum Königreich Bayern einher. Der Augsburger Magistrat beispielsweise nutzte das örtliche Museumsprojekt, um seine Treue zum bayerischen Königshaus publikumswirksam zu demonstrieren: Den Eröffnungstermin legte man auf den 28. November 1854, den Geburtstag König Maximilians II., und bat ihn, die Schirmherrschaft für das Museum zu übernehmen. 9 G USTAV B RANDT , Über Kreis- und Ortsmuseen, in: Museumskunde 9 (1913), S. 133-138, hier 134. 10 G. B RANDT , Über Kreis- und Ortsmuseen (Anm. 9), S. 136. 11 G. B ÜCHERT , Heimatmuseen in Franken (Anm. 6), S. 87. <?page no="302"?> G E S C HIC HTS B EGEI S TERU NG U ND H EIMATLIE BE 303 Abb. 2: Neueröffnung des Augsburger Maximilianmuseums 1909, unter den Ehrengästen befinden sich der damalige bayerische Kronprinz Ludwig (später: Ludwig III.), Anton von Wehner, Heinrich von Frauendorfer, Friedrich von Brettreich und Graf Ferdinand von Zeppelin Die Reverenz an den Herrscher 12 blieb nicht unbeantwortet: Im Februar 1856 schrieb Maximilian II. an den Stadtmagistrat: Mit lebhaftem Interesse habe ich von der Vorstellung des Magistrats und der Gemeinde-Bevollmächtigten Meiner getreuen Stadt Augsburg das dortige Museum betr. Kenntnis genommen. Es gereicht Mir zur Befriedigung, daß der gemeinnützige Kunstsinn der wackeren Bewohner Augsburgs […] eine würdige Stätte gefunden […] hat. Mit Vergnügen übernehme Ich, den Wünschen der Stadt entsprechend, das Protectorat der Anstalt, und genehmige, daß dieselbe Meinen Namen führe. 13 Auch bei der Neugestaltung des Maximiliansmuseums von 1907 bis 1909 14 achteten die Verantwortlichen auf die Integration mehrerer Portraits bayerischer 12 In Franken kombinierte der Fränkische Kunst- und Altertumsverein Regionalbewusstsein und Loyalität zum bayerischen Königshaus. 1913 gründete er das Fränkische Luitpoldmuseum; G USTAV VON B EZOLD , Die Kunstdenkmäler von Bayern, im Auftrage des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus. Die Kunstdenkmale des Regierungsbezirkes Oberbayern, München 1915, S. 679. 13 StadtA Augsburg, 35, 76: König Maximilian II. an den Augsburger Stadtmagistrat, 13.2.1856. 14 P IUS D IRR , Das Maximilians-Museum in Augsburg. Amtlicher Führer, Augsburg 1916, S. 79. <?page no="303"?> E VA B ENDL 304 Könige in die Ausstellung und konnten schließlich Kronprinz Ludwig sowie die Staatsminister Anton von Wehner, Heinrich von Frauendorfer und Friedrich von Brettreich zur Eröffnungsfeier begrüßen. 15 (Abb. 2) An die Einwohnerschaft Augsburgs erging der warme Appell, 16 dass sie ihre Häuser ja recht feierlich beflaggen möge, 17 um Prinz Ludwig, den kraftvollen Sproß des Hauses Wittelsbach unter dessen Schutz und Schirm Bayerns Kunst und Wohlfahrt groß geworden, 18 angemessen zu begrüßen. Nach der Abschaffung der Monarchie veränderte sich allerdings das Verhältnis zu München und Altbayern. Nun bezog man den Namen des Museums lieber auf Kaiser Maximilian I. 2. Heimatkonzept und Stubenprinzip Ab 1900 lässt sich sowohl in Schwaben als auch in Franken beobachten, dass der Einfluss der Heimatbewegung auf die Konzeptionierung und Gestaltung historischer Museen stark zunahm. Die in den Museen engagierten Bürger fanden zunehmend Gefallen an dem Wunschbild einer harmonischen, idyllischen und romantischen Heimat. Eingriffe in das Landschafts- und Stadtbild, industriell hergestellte Waren und internationale Einflüsse nahmen sie vermehrt als Bedrohungen war. Viele Museumsakteure setzten sich zum Ziel, in ihren Räumlichkeiten das Bild einer scheinbar zeitlosen, aber vom Untergang unmittelbar bedrohten idealen Heimatwelt zu präsentieren. In den Besuchern wollten sie nostalgische Wehmut erwecken, aber auch das Verlangen nach einer Neubesinnung auf die Heimat auslösen. Geeignetes Mittel hierfür erschien ihnen die Einrichtung ganzheitlicher Raumensembles, meistens im Sinne von Bürger- oder Bauernstuben. (Abb. 3) Erstmals in Bayern zu sehen waren solche musealen Stuben 1901 in der Ausstellung ›Volkskunst und Heimatkunde‹ in Kaufbeuren. Gustav Kahr 19 , von 1899 bis 1902 Bezirksamtmann in Kaufbeuren, veranstaltete sie zusammen mit dem Architekten Franz Zell und dem Priester Christian Frank. 20 Der Franke Kahr, der 15 StadtA Augsburg, 35, 72: Neue Augsburger Zeitung, 30.9.1909, Eröffnung des Maximilians-Museums Augsburg. 16 StadtA Augsburg, 35, 72: Augsburger Neueste Nachrichten, 26.9.1909, Die Eröffnungsfeier des Maximiliansmuseums in Augsburg. 17 StadtA Augsburg, 35, 72: Augsburger Neueste Nachrichten, 26.9.1909, Die Eröffnungsfeier des Maximiliansmuseums in Augsburg. 18 StadtA Augsburg, 35, 72: Augsburger Neueste Nachrichten, 28.9.1909, Willkommen in Augsburgs Mauern. 19 Gustav Kahr, ab 1911 Gustav Ritter von Kahr, war von März 1920 bis September 1921 bayerischer Ministerpräsident. 20 E. B ENDL , Inszenierte Geschichtsbilder (Anm. 2), S. 109. <?page no="304"?> G E S C HIC HTS B EGEI S TERU NG U ND H EIMATLIE BE 305 Altbayer Zell und der Schwabe Frank wollten in mehreren Bauernstuben eine überraschend tief im Volke wurzelnde, ächt volkstümliche Kunst 21 zeigen. Abb. 3: Bauernstube im Städtischen Museum Memmingen um 1929. Zell schreibt: Sollen wir uns wirklich von unseren Vorfahren beschämen lassen, die eine hochentwickelte Volkskunst trotz Kriegszeiten und Elend ihr eigen nannten, während wir uns mit braunlackierten ordinären Fabrikmöbeln in Dutzendware bescheiden begnügen? 22 Mit dem Ziel, ein getreues Spiegelbild des früheren Lebens und Treibens der Bevölkerung 23 zu schaffen, konstruierten die Ausstellungsmacher ihr heimatliches Wunschbild. Nach ihren persönlichen ästhetischen Kriterien wählten sie Objekte aus unterschiedlichen Gegenden des Allgäus aus und ergänzten sie durch Nachbildungen und neu bemalte Möbelstücke. 24 (Abb. 4, 5) Die Ausstellung entwickelte sich zu einem großen Publikumserfolg. Zahlreiche Künstler und Architekten reisten aus München an, um Inspirationen für Gebäude und Inneneinrichtungen im immer populärer werdenden Heimatstil zu sammeln. 21 F RANZ Z ELL , Volkskunst im Allgäu. Die »kritische Plauderei« von Architekt Franz Zell in München, in: Festschrift zur landwirtschaftlichen und gewerblich-historischen Ausstellung in Kaufbeuren im Jahre 1901 11 (1901), o. S. 22 F. Z ELL , Volkskunst im Allgäu 1903 (Anm. 21), S. 11. 23 F RANZ Z ELL , Die Ortsmuseen in Bayern, in: Volkskunst und Volkskunde 1 (1903), S. 43f., hier 43. 24 E. B ENDL , Inszenierte Geschichtsbilder (Anm. 2), S. 127. <?page no="305"?> E VA B ENDL 306 Abb. 4: Ostallgäuer Bauernstube der Ausstellung ›Volkskunst und Heimatkunde‹ 1901 in Kaufbeuren. Abb. 5: Ostallgäuer Bauernstube der Ausstellung ›Volkskunst und Heimatkunde‹ 1901 in Kaufbeuren. <?page no="306"?> G E S C HIC HTS B EGEI S TERU NG U ND H EIMATLIE BE 307 In der Folge verbreitete sich das Stubenprinzip schnell in ganz Bayern. Nachdem Franz Zell eine oberbayerische Stube im Germanischen Nationalmuseum eingerichtet hatte, beauftragte ihn 1906 der Verein Alt-Rothenburg mit der Neuaufstellung seiner Sammlungen. 25 (Abb. 6, 7) Auch der Altertumsverein Weißenburg wünschte sich 1904 eine Präsentation von Volkskunst und Volkskunde. Ab 1910 gab es in dem ursprünglich auf die Antike ausgerichteten Museum einen heimatkundlichen Raum, 1921 folgten eine altfränkische Bauernstube sowie eine Bürgerstube des Rokoko. 26 Immer mehr Museen nannten sich nun ausdrücklich ›Heimatmuseum‹. Umbenennungen erfolgten beispielsweise in Lindau 27 und Weißenburg. 28 Auch das Kemptener Museum, das bis 1925 ›städtische Altertumssammlung‹ hieß, erhielt nach einer Neukonzeptionierung den Namen ›Allgäuer Heimatmuseum‹. 29 Zudem entstanden neue Museen, die von Anfang an auf das Heimatkonzept ausgerichtet waren, wie unter anderem die Museen in Weißenhorn, Illertissen, Immenstadt, 30 Cadolzburg, Ebermannstadt, Schnaittach und Windsheim 31 sowie das 1921 eröffnete Heimatmuseum Gunzenhausen, in dem ganz selbstverständlich eine altfränkische Bürger- und eine Bauernstube zu sehen waren. 32 Solche Museumsstuben sowohl in Franken als auch in Schwaben wiesen zwar einen dezidiert regionalen oder lokalen Bezug auf, doch kleinräumige Identitätskonzepte gingen stets Hand in Hand mit einem deutlich betonten Nationalismus. Der Weißenburger Bürgermeister Danler wünschte sich beispielsweise 1925 für das dortige Museum: Möge das Weißenburger Heimatmuseum zu seinem ganz bescheidenen Teil dazu beitragen, die hehren Ideale: Heimat, Volk, Vaterland in uns wachzurufen und Töne in uns erklingen zu lassen, die über unser Städtchen hinweg ihre Wellen in das große Vaterland hinaustragen. 33 Die konservative Grundhaltung der Museumsakteure mischte sich in den 1920er Jahren vermehrt mit nationalistischen und auch völkischen Einstellungen. 25 G. B ÜCHERT , Heimatmuseen in Franken (Anm. 6), S. 126. 26 G. B ÜCHERT , Heimatmuseen in Franken (Anm. 6), S. 171. 27 E. B ENDL , Inszenierte Geschichtsbilder (Anm. 2), S. 157. 28 G. B ÜCHERT , Heimatmuseen in Franken (Anm. 6), S. 170. 29 E. B ENDL , Inszenierte Geschichtsbilder (Anm. 2), S. 151. 30 E. B ENDL , Inszenierte Geschichtsbilder (Anm. 2), S. 157. 31 G. B ÜCHERT , Heimatmuseen in Franken (Anm. 6), S. 155. 32 G. B ÜCHERT , Heimatmuseen in Franken (Anm. 6), S. 172f. 33 ReichstadtMuseum Weißenburg, Einrichtung Heimatmuseum, Ansprache vom 30.11.1925, zitiert nach G. B ÜCHERT , Heimatmuseen in Franken (Anm. 6), S. 174. <?page no="307"?> E VA B ENDL 308 Abb. 6: Patrizierzimmer des 17./ 18 Jahrhunderts im Ortsmuseum Rothenburg o. Tbr. um 1906. Abb. 7: Gutes Bürgerzimmer im Stil Louis XVI. im Ortsmuseum Rothenburg o. Tbr. um 1906. <?page no="308"?> G E S C HIC HTS B EGEI S TERU NG U ND H EIMATLIE BE 309 3. Organisation und Regionalismus Während der Weimarer Zeit lässt sich sowohl in Franken als auch in Schwaben beobachten, dass regionalistische und teilweise sogar separatistische Strömungen an Bedeutung gewannen. Dabei handelte es sich nicht etwa um ein neues Phänomen. In beiden Regionen finden sich auch zuvor Hinweise auf ein regionales Zusammengehörigkeitsgefühl, das über territorialstaatliche Grenzen hinausging. 34 Verschiedene kollektive Identitäten - ein fränkisches bzw. schwäbisches Regionalbewusstsein, örtliche Lokalpatriotismen sowie die Loyalität zum Königreich Bayern - überlagerten sich gegenseitig. Aktuelle Bedürfnisse gaben den Ausschlag, welche der unterschiedlichen Identitäten zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Vordergrund des öffentlichen Interesses rückte. 35 In den 1920er Jahren führte das Wegfallen der Klammer des bayerischen Königshauses dazu, dass regionalistische Tendenzen sowohl in Franken als auch Schwaben erstarkten. 36 1920 gründete der Gymnasiallehrer Peter Schneider in Würzburg den ›Frankenbund‹, der es sich zur Aufgabe machte, das lebendige fränkische Volkstum 37 zu pflegen und vor Überfremdung 38 zu schützen. Die Betonung fränkischer Eigenart war dabei eng verknüpft mit nationalistischen Denkweisen, die von einer aus mehreren Stämmen bestehenden Nation ausgehen. 39 Eine Nutzung der historischen Museen Frankens zur regionalen kollektiven Identitätsbildung kam im ›Frankenbund‹ nicht zur Sprache. In Schwaben hingegen entdeckten regionalistische Kreise das Medium Museum für sich. Dort entstand einige Jahre später eine Organisation, bei der die historischen Museen als Aufhänger für kulturpolitisches Engagement dienten. Der 1924 gegründete ›Schwäbische Museumsverband‹ beteiligte sich an der Verbreitung regionalistischen Gedankenguts, das sich an der Vorstellung eines ›schwäbischen Stammes‹ orientierte. 40 34 G EORG S EIDERER , Der »Tag der Franken«. Identitätsstiftung zwischen Erinnerung und Politik, Göttingen 2010, in: Tag der Franken. Geschichte - Anspruch - Wirklichkeit, hg. v. Bezirk Mittelfranken durch A NDREA M. K LUXEN / J ULIA H ECHT , Würzburg 2010, S. 69- 92, hier 86. 35 R OLF K IESSLING , Schwabens Weg in das Königreich Bayern. Zwischen Integrationsbereitschaft und Traditionsbewusstsein, in: 1806. Bayern wird Königreich. Vorgeschichte - Inszenierung - europäischer Rahmen, hg. v. A LOIS S CHMID , Regensburg 2006, S. 147-169, hier 167. 36 G. S EIDERER , Der »Tag der Franken« (Anm. 34), S. 89. 37 J OSEPH A UGUST E ICHELSBACHER , Dr. Peter Schneider und sein Werk. Zum 75. Geburtstage des Frankenbundsvorsitzenden, in: Frankenland (1957), S. 125-136, hier 126. 38 J. E ICHELSBACHER , Dr. Peter Schneider und sein Werk (Anm. 37), S. 126. 39 J. E ICHELSBACHER , Dr. Peter Schneider und sein Werk (Anm. 37), S. 126. 40 M ARTINA S TEBER , Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime, Göttingen 2010, S. 258. <?page no="309"?> E VA B ENDL 310 Die Initiative für die Verbandsgründung stammte vom Kemptener Bürgermeister Otto Merkt und dem hauptamtlichen Augsburger Museumsleiter Ludwig Ohlenroth. Ihrer Einladung zur konstituierenden Sitzung folgten Vertreter der Museen von Burgau, Dillingen, Donauwörth, Günzburg, Illertissen, Kaufbeuren, Lindau, Memmingen, Mindelheim, Neuburg a. D., Nördlingen, Obergünzburg, Rain am Lech sowie Schwabmünchen. Alle schwäbischen Geschichtsmuseen traten in der Folge dem Verband bei. Auch in anderen deutschen Regionen, insbesondere in Nord- und Mitteldeutschland, entstanden in den 1920er Jahren regionale Museumsverbände; doch während diese meist einer staatlichen Museumspolitik dienten, 41 lässt sich in Schwaben das Gegenteil beobachten. Hier entwickelte sich die Arbeit des Museumsverbandes zu einem Kulminationspunkt der Regionalisierungstendenzen im Museumsbereich, die mit einer Hinwendung zum württembergischen Schwaben und einer Abgrenzung von München einhergingen. 1925 trafen die Verbandsmitglieder die Entscheidung, das Einzugsgebiet des Verbandes auf Württemberg auszudehnen, um die alten Kulturkreise aufs Neue zu bilden. 42 In der Folge traten zahlreiche württembergische Museen bei und der Leiter des Ulmer Museums, Julius Baum, engagierte sich von nun an neben Merkt und Ohlenroth stark in der Verbandsleitung. Die Artikel der Verbandszeitschrift sowie die jährlich stattfindenden dreitägigen Tagungen nutzte der Verband, um heimatschützerische, großstadtfeindliche, regionalistische und teilweise auch völkischreaktionäre Einstellungen zu propagieren. Insbesondere Otto Merkt betonte in seinen Vorträgen immer wieder, dass Bayerisch- und Württembergisch-Schwaben die gleiche geschichtliche Vergangenheit und die gleiche Sprache verbinde 43 und warnte davor, dass der Moloch der großen Zentren unersetzliches Kulturgut von seinem Heimatboden lösen und an sich reißen 44 könne. Den historischen Museen wiesen die Verbandsmitglieder eine große Bedeutung bei der regionalen Identitätsbildung zu. Sie sollten den Schwaben die Einheitlichkeit des Volkstums 45 sowie die vermeintlich jahrhundertealte gemeinsame Kultur 46 trotz politischer Trennung deutlich machen. Ziel war es also, mit Hilfe der Museen eine 41 M ARTIN G RIEPENTROG , Kulturhistorische Museen in Westfalen (1900-1950). Geschichtsbilder, Kulturströmungen, Bildungskonzepte, Paderborn 1998, S. 33. 42 Bericht über die Tagung des Schwäbischen Museumsverbandes zu Ulm a. D., in: Mitteilungen des Schwäbischen Museumsverbandes 1 (1926), S. 2-16, hier 3. 43 Tagung des Schwäbischen Museumsverbandes (Anm. 42), S. 10. 44 StadtA Kempten, Mb, Kvk 12: Programm des Schwäbischen Museumsverbandes, Februar 1924. 45 J ULIUS B AUM , Das Heimatmuseum, in: Das schwäbische Museum. Mitteilungen des Schwäbischen Museumsverbandes 5 (1927), S. 17f., hier 18. 46 J. B AUM , Das Heimatmuseum (Anm. 45), S. 18. <?page no="310"?> G E S C HIC HTS B EGEI S TERU NG U ND H EIMATLIE BE 311 grenzübergreifende schwäbische Identität zu schaffen. 47 Wer allerdings Teil dieser regionalen Einheit sein sollte und wer nicht, darüber herrschte keine Einigkeit. Während Otto Merkt ethnisch-biologistisch argumentierte, ging Julius Baum vom individuellen Heimatgefühl des Einzelnen aus. Er vertrat die Meinung, dass jeder willkommen sei, der sich nach Schwaben hingezogen fühlt und ein eigenes Schwaben will. 48 Als Kassier des Verbandes fungierte der Augsburger Konrad Bertele, der für die Bildung eines ›Reichlands Groß-Schwaben‹ warb, das den Stamm der Schwaben vereinen und dessen Zersplitterung beenden sollte. 49 Doch offiziell gab der Verband bekannt: Die Vorstandschaft steht auf dem Standpunkte, daß das Problem Neugliederung des Reiches nach Stämmen als ein politisches zu betrachten sei und deswegen nicht zur Zuständigkeit des Museumsverbandes gehöre. 50 Die vom Verband geäußerten Befürchtungen vor einer zu großen Einflussnahme staatlicher Organe aus München und die Appelle für eine stärkere grenzübergreifende Zusammenarbeit stießen gleichwohl bei den schwäbischen Eliten auf Zustimmung, denn die Tagungen des Verbandes waren stets gut besucht. Hier hatten die oftmals für die Museen verantwortlichen kommunalen Beamten, Bürgermeister, Lehrer, Stadtarchivare und andere Honoratioren die Möglichkeit, sich informell - sicher nicht nur über ihre Museen - auszutauschen. 51 (Abb. 8, 9) Auf den Tagungen des Verbandes wurde häufig und ausführlich darüber gesprochen, welchen Einfluss die historischen Museen auf ihre Besucher ausüben sollten. Wie sich dies allerdings konkret auf die Gestaltung der Museen auswirken konnte, blieb unerwähnt. Lediglich die personelle Vermittlung kam zur Sprache: Schülern und Arbeitern sollte in Führungen die Liebe zur schwäbischen Heimat eingepflanzt werden. 52 Otto Merkt hoffte außerdem, den Museumsbesuch als Teil der katholischen Firmungsfeierlichkeiten zu etablieren: Eine wichtige Aufgabe des Museumsverbandes ist, zu erreichen, daß die vorhandenen Museen besser ausgenützt werden, daß die Schulen Verbindung halten mit dem Museum. […] Im Allgäu droben ist im Leben des Kindes der Tag der Firmung ein großer Tag. Da kommen in den größeren Orten die Firmlinge mit ihren Firmpaten von weit her zusammen. Vormittags der kirchliche Akt, nachmittags leider bisher das Wirtshaus. In Zukunft vormittags die heilige Firmung und nachmittags geht der Firmling mit seinem Firmpaten ins Museum. Dann bedeutet ihm dieser Tag auf religiösem und weltlichem 47 E. B ENDL , Inszenierte Geschichtsbilder (Anm. 2), S. 168. 48 J ULIUS B AUM , Zur Frage unseres Verbandsgebietes, in: Das schwäbische Museum. Mitteilungen des Schwäbischen Museumsverbandes 3 (1928), S. 10. 49 K ONSTANTIN B ERTELE , Reichsland Groß-Schwaben mit Stuttgart und Augsburg. Ein Beitrag zur Reichsreform und Reichsneugliederung unter besonderer Berücksichtigung bayerisch-Schwabens d. i. Ostschwabens, Kempten 1930. 50 Verbandsangelegenheiten, in: Das schwäbische Museum. Mitteilungen des Schwäbischen Museumsverbandes 1/ 2 (1932), S. 5f., hier 5. 51 E. B ENDL , Inszenierte Geschichtsbilder (Anm. 2), S. 167. 52 Tagung des Schwäbischen Museumsverbandes (Anm. 42), S. 6. <?page no="311"?> E VA B ENDL 312 Abb. 8: Teilnehmer der Tagung des Schwäbischen Museumsverbandes 1927 in Ravensburg. <?page no="312"?> G E S C HIC HTS B EGEI S TERU NG U ND H EIMATLIE BE 313 Abb. 9: Teilnehmer der Tagung des Schwäbischen Museumsverbandes 1928 in Memmingen. Gebiete wirklich eine Erinnerung, einen Gewinn an Erkenntnis. 53 Julius Baum vertraute auf die Vorbildhaftigkeit historischer Objekte und bodenwüchsiger 54 Kunst, um der drohenden Verflachung 55 durch die Amerikanisierung und den Sport, den Hauptfeind des geistigen Lebens, 56 entgegenzuwirken. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten endete die Arbeit des ›Schwäbischen Museumsverbands‹ abrupt. Im Mai 1933 entließ die Stadt Ulm ihren Museumsleiter Julius Baum, der 1918 vom Judentum zum protestantischen Glauben übergetreten war, fristlos und begründete dies mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. 57 Er emigrierte schließlich in die Schweiz. 58 Otto 53 Tagung des Schwäbischen Museumsverbandes (Anm. 42), S. 9. 54 Tagung des Schwäbischen Museumsverbandes (Anm. 42), S. 12. 55 J. B AUM , Das Heimatmuseum (Anm. 45), S. 17. 56 J. B AUM , Das Heimatmuseum (Anm. 45), S. 17. 57 M YRAH A DAMS , Julius Baum. Museumsdirektor zwischen Tradition und Moderne, Ulm 2012, S. 48. <?page no="313"?> E VA B ENDL 314 Merkt leitete die Selbstgleichschaltung des Verbandes ein. Er gab auf der Verbandstagung 1933 bekannt, der Verband werde freudig an der Neugestaltung der Dinge mitarbeiten. 59 Doch sein Bemühen um die Wahrung der Selbstverwaltung des Verbandes 60 war nicht erfolgreich. Er ging noch im gleichen Jahr im neu gegründeten ›Verband für schwäbische Kultur und Heimatpflege‹ auf. 4. Kontinuität und Gleichschaltung Die historischen Museen in Franken und Schwaben ließen sich ohne größere Widerstände in das NS-System eingliedern. Das Heimatkonzept erwies sich politisch als höchst kompatibel. Sowohl in der Monarchie als auch in Demokratie und Diktatur konnten sich die Museumsleiter darauf berufen, dass die historischen Museen einer Besinnung auf die Heimat dienten, die für die nationale Identitätsbildung unerlässlich sei. Während sie in der Weimarer Zeit allerdings das Bild des unpolitischen Museums betonten, argumentierten die Museumsleute in der NS-Zeit insbesondere gegenüber kommunalen und staatlichen Behörden, die Museen könnten eine propagandistische Wirkung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie entfalten. Gesa Büchert zufolge lässt sich in Franken eine Didaktisierung der Museen durch Texttafeln, Graphiken, Karten und Modelle feststellen, beispielsweise in Bamberg (Abb. 10) und in Fürth. 61 Im Fürther Heimatmuseum richtete man außerdem einen familienkundlichen Raum ein. 62 Die historischen Museen in Franken und Schwaben zeigten zwar keine rassenkundlichen Ausstellungen, doch regte sich aus Museumskreisen auch keinerlei Widerstand gegen die NS-Ideologie. Der Gunzenhauser Museumsleiter Michl Hertlein präsentierte im dortigen Heimatmuseum ab 1939 jüdische Kultgegenstände. 63 Die jüdische Gemeinde in Gunzenhausen, die ab 1938 nicht mehr existierte, ordnete er damit der Vergangenheit zu und in die Geschichte des Ortes ein. 58 1946 kehrte Julius Baum nach Deutschland zurück und leitete bis 1952 das Württembergische Landesmuseum in Stuttgart; M. A DAMS , Julius Baum (Anm. 57), S. 56. 59 L UDWIG W EGELE , 9. Mitgliederversammlung des Schwäbischen Museumsverbandes in Friedrichshafen am 16. und 17. September 1933, in: Das schwäbische Museum. Mitteilungen des Schwäbischen Museumsverbandes 7/ 8/ 9 (1933), S. 97-106, hier 105. 60 L. W EGELE , 9. Mitgliederversammlung (Anm. 59), S. 105. 61 G. B ÜCHERT , Heimatmuseen in Franken (Anm. 6), S. 288f. 62 G. B ÜCHERT , Heimatmuseen in Franken (Anm. 6), S. 252. 63 G. B ÜCHERT , Heimatmuseen in Franken (Anm. 6), S. 255. <?page no="314"?> G E S C HIC HTS B EGEI S TERU NG U ND H EIMATLIE BE 315 Abb. 10: Heimatmuseum Bamberg 1938. Auffallend ist jedoch, dass eine größere Veränderung der Gestaltungsprinzipien historischer Museen nach dem Vorbild der NS-Propaganda-Ausstellungen ausblieb. Bewährte Gestaltungsmuster wie das Stubenprinzip wurden bei Neuaufstellungen weitergeführt, beispielsweise 1934 in Kaufbeuren (Abb. 11) oder 1935/ 36 in Kempten. Schließlich machte der Zweite Weltkrieg und die Sicherung der Museumsobjekte vor Luftangriffen die Schließung der meisten Museen notwendig. Erst 1947 beklagte sich das Landesamt für Denkmalpflege in München beim Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus wieder über staatsseparatistische Tendenzen 64 in Franken und Schwaben, die eine Zusammenarbeit mit den nichtstaatlichen Museen erschwerten. Doch es kam nicht zu einer eigenständigen Organisationsbildung auf fränkischer oder schwäbischer Ebene im Museumsbereich. Die interne Koordination der regionalen Museumsarbeit, wie sie zwischen 1924 und 1933 der ›Schwäbische Museumsverband‹ angestrebt hatte, blieb in Bayern eine singuläre Erscheinung. 64 BayHStA, Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen 39: Joseph Maria Ritz an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 24.4.1947. <?page no="315"?> E VA B ENDL 316 Abb. 11: Bauernstube im Heimatmuseum Kaufbeuren 1936. Eine starke inhaltliche oder personelle Zäsur ist nach Kriegsende weder in Franken noch in Schwaben zu bemerken. Lediglich die Kontextualisierung der Präsentationen in Führungen und gedruckten Führern veränderte sich. Eine grundsätzliche Diskussion über die Aufgaben, Ziele und Gestaltungsprinzipien historischer Museen begann erst in den 1970er Jahren. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die historischen Museen in Franken und Schwaben weitgehend parallel entwickelten. Prägende Faktoren im 19. Jahrhundert waren die bürgerliche Geschichtsbegeisterung sowie die enge Verbindung von Lokal-, Regional- und Nationalpatriotismus. Im 20. Jahrhundert kam das fortschrittspessimistische und romantisierende Heimatkonzept der in Bayern sehr populären Heimatschutzbewegung hinzu, das vom Kaiserreich über die Weimarer und NS-Zeit bis in die Bundesrepublik weitergetragen wurde. Kollektive Identitäten und Alteritäten der Verantwortlichen spielen bei der Gestaltung der Museen stets eine große Rolle. In Franken weist die Konzentration auf die vorbayerische Geschichte zur Zeit des Königreichs Bayern auf eine Abgrenzung zur Wittelsbacher Dynastie und zu Altbayern hin. In Schwaben lässt sich der Kulminationspunkt regionalistischer Tendenzen im Museumsbereich in den 1920er Jahren ausmachen. <?page no="316"?> 317 Autorenverzeichnis Prof. Dr. Kurt Andermann Archivdirektor a. D., Karlsruhe und Freiburg i. Br. Dr. Eva Bendl Wiss. Mitarbeiterin am Museum Oberschönenfeld, Gessertshausen Prof. Dr. Helmut Flachenecker Lehrstuhl für Fränkische Landesgeschichte des Mittelalters, Julius-Maximilians-Universität Würzburg Dr. Andreas Flurschütz da Cruz Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Neuere Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte, Otto-Friedrich-Universität Bamberg Dr. Veronika Heilmannseder M. A. Historikerin, Germanistin, Kulturmanagerin, Wiggensbach Katrin Holly M. A. Freiberufliche Historikerin und wiss. Mitarbeiterin der Heimatpflege Bezirk Schwaben, Augsburg Dr. Andreas Link (†) Pfarrer, Augsburg Prof. Dr. Gerhard Lubich Lehrstuhl für die Geschichte des Früh- und Hochmittelalters und Historische Hilfswissenschaften, Ruhr-Universität Bochum Dr. Esteban Mauerer Wiss. Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München Prof. Dr. Dietmar Schiersner Professur für Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Pädagogische Hochschule Weingarten <?page no="317"?> 318 Dr. Fabian Schulze Studienrat an der Beruflichen Oberschule Neu-Ulm und Lehrbeauftragter für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Augsburg Prof. Dr. Georg Seiderer Professur für Neuere Bayerische und Fränkische Landesgeschichte und Volkskunde, Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Dieter J. Weiß Lehrstuhl für Bayerische Geschichte und Vergleichende Landesgeschichte mit besonderer Berücksichtigung des Mittelalters, Ludwig-Maximilians- Universität München Prof. Dr. Klaus Wolf Professur für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit dem Schwerpunkt Bayern, Universität Augsburg Dr. Stefan Xenakis Historiker, Sinntal <?page no="318"?> 319 Nachweis der Abbildungen Beitrag H ELMUT F LACHENECKER Abb. 1-3 Karte Germania Benedictina 2. Bayern, hg. v. M ICHAEL K AUFMANN / H ELMUT F LACHENECKER / W OLFGANG W ÜST / M ANFRED H EIM , Redaktion: Maria Hildebrandt, München 2014 [Abdruck mit freundlicher Genehmigung vom EOS- Verlag, St. Ottilien, P. Cyrill Schäfer] mit Einarbeitung der Grenzen und Markierung der Klöster, die vor 1000 gegründet worden sind, durch Dr. Markus Naser (Universität Würzburg). Beitrag F ABIAN S CHULZE Abb. 1 J OHANN S AMUEL T ROMSDORFF , Accurate neue und alte Geographie von ganz Teutschland, Frankfurt am Main-Leipzig 1711, Titelbild; Exemplar der BSB, Germ. g. 490. Abb. 2 Kartenausschnitt, entnommen aus: F ABIAN S CHULZE , Bayern und Böhmen im Dreißigjährigen Krieg. Zwei föderale Bündnisprojekte im Vergleich, in: M ILAN H LAVA KA / R OBERT L UFT / U LRIKE L UNOW (Hg.), Tschechien und Bayern. Gegenüberstellungen und Vergleiche. Konferenzband des Collegium Carolinum, des Historický ústav AV R und des Hauses der Bayerischen Geschichte zur Bayerisch-Tschechischen Landesausstellung 2016/ 2017 in Prag und Nürnberg, München 2016, S. 77-98, hier 92. Abb. 3 StadtA Ulm, F3, Ansicht 620g. Beitrag K LAUS W OLF Abb. 1 StadtA Memmingen, Digitalisat https: / / stadtarchiv.memmingen.de/ blaetter kataloge/ index.html? catalog=Stadtarchiv/ Meistersinger-1626-1788-Memmingen #page_10. Abb. 2 StadtA Memmingen, Digitalisat https: / / stadtarchiv.memmingen.de/ blaetter kataloge/ index.html? catalog=Stadtarchiv/ Meistersinger-1626-1788-Memmingen #page_64. Abb. 3 StadtA Memmingen, Digitalisat https: / / stadtarchiv.memmingen.de/ blaetter kataloge/ index.html? catalog=Stadtarchiv/ Meistersinger-1626-1788-Memmingen #page_66. Abb. 4 StadtA Memmingen, Digitalisat https: / / stadtarchiv.memmingen.de/ blaetter kataloge/ index.html? catalog=Stadtarchiv/ Meistersinger-1626-1788-Memmingen #page_32. Abb. 5 StadtA Memmingen, Digitalisat https: / / stadtarchiv.memmingen.de/ blaetter kataloge/ index.html? catalog=Stadtarchiv/ Meistersinger-1626-1788-Memmingen #page_50. Abb. 6 StadtA Memmingen, Digitalisat https: / / stadtarchiv.memmingen.de/ blaetter kataloge/ index.html? catalog=Stadtarchiv/ Meistersinger-1671-1861-Memmingen #page_182. <?page no="319"?> 320 Beitrag S TEFAN X ENAKIS Abb. 1 Otto H ENNE AM R HYN , Kulturgeschichte des deutschen Volkes, 1. Bd., Berlin 1897, S. 482. Beitrag E STEBAN M AUERER Abb. 1 Karte des Königreichs Bayern, Zeichner und Herausgeber C HRISTOPH F EMBO , Nürnberg 1829. Gesamtgröße 84 x 66 cm, Größe des Ausschnitts 63 x 66 cm; BayHStA, Geheimes Hausarchiv, Nachlass König Ludwig I., XIII 398. Beitrag K ATRIN H OLLY Karte 1 Manuskript Katrin Holly; Kartengrundlage: d-maps.com; Kartographie: Jochen Bohn, Augsburg. Karte 2 Manuskript Katrin Holly; Kartengrundlage: d-maps.com; Kartographie: Jochen Bohn, Augsburg. Beitrag E VA B ENDL Abb. 1 A LBERT R EHLE , Führer durch das Kaufbeurer Lokalmuseum, Kaufbeuren 1899, © Verlag der P. Schön’schen Buchhandlung, Kaufbeuren. Abb. 2 Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 51 (1934/ 1935), © Verlag der J. A. Schlosser’schen Buchhandlung (F. Schott). Abb. 3 J ULIUS M IEDEL , Führer durch Memmingen und Umgebung, Memmingen 1929. Abb. 4 F RANZ Z ELL , Volkskunst im Allgäu. Originalaufnahmen aus der Ausstellung für Volkskunst und Heimatkunde in Kaufbeuren - September 1901, Kaufbeuren 1902, © Verlag der Vereinigten Kunstanstalten, Kaufbeuren. Abb. 5 F RANZ Z ELL , Volkskunst im Allgäu. Originalaufnahmen aus der Ausstellung für Volkskunst und Heimatkunde in Kaufbeuren - September 1901, Kaufbeuren 1902, © Verlag der Vereinigten Kunstanstalten, Kaufbeuren. Abb. 6 Bildarchiv des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege. Abb. 7 Bildarchiv des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege. Abb. 8 Mitteilungen des Schwäbischen Museumsverbandes (1927). Abb. 9 Mitteilungen des Schwäbischen Museumsverbandes (1928). Abb. 10 Bildarchiv des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege. Abb. 11 Bildarchiv des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege. <?page no="320"?> Was haben die historischen Landschaften Schwaben und Franken gemeinsam, was unterscheidet sie? Die 13 Autorinnen und Autoren dieses Tagungsbandes gehen dieser Frage jeweils im direkten Vergleich nach. Sie zeichnen ein vielschichtiges, uneinheitliches Bild: Strukturell weisen beide Regionen, von der Ausbildung unscharfer Grenzen und Grenzzonen im frühen Mittelalter bis hin zu der die Territorien übergreifenden Institution der Reichskreise in der Frühen Neuzeit sowohl Gemeinsamkeiten als auch Spezifisches auf. Die gleichen historischen Makroprozesse wie die Konfessionalisierung, die Industrialisierung oder die Integration in die neuen Staaten des 19. Jahrhunderts, in Bayern, Württemberg und Baden, waren in Schwaben wie in Franken wirksam, wenn auch mit unterschiedlichen Voraussetzungen, Verläufen und Ergebnissen. Auch der Suche nach einer regionalen Identität, nicht zuletzt in den historischen Vereinen und Museen des 19. und 20. Jahrhunderts, lagen vergleichbare Bedürfnisse zugrunde, wobei immer wieder historische Räume und Traditionen auf die Gegenwart projiziert wurden: Schwaben und Franken entstanden und entstehen so in der ordnenden Vorstellung des Betrachters gleichsam immer wieder neu. ISBN 978-3-86764-909-4 www.uvk.de