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Krieg in der Region

1113
2017
978-3-7398-0210-7
978-3-8676-4827-1
UVK Verlag 
Reinhard Baumann
Paul Hoser

Vom Mittelalter bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren Schwaben und seine angrenzenden Regionen Schauplätze von Kriegen. Die Bewohner mussten sie meist erdulden, nur einmal - im Großen Bauernkrieg - ging der Krieg auch von den Menschen der Region aus. Die 15 Autoren des Bandes betrachten den Krieg vornehmlich nicht unter militärhistorischen, sondern gesellschaftsgeschichtlichen Blickwinkeln: Krieg und Städtebünde, die Situation von Gefangenen im Spätmittelalter, Besatzungstruppen in Reichsstädten, Abdankung am Kriegsende, Organisation der Militärseelsorge, Kriegskrankenpflegerinnen im Ersten Weltkrieg und die Ernährungslage in Schwaben, wie sie sich in der Presse darstellt, das Kriegsende 1945 in der Region. Auch bisher wenig beachteten Antikriegsgedichten wird nachgegangen und - mit dem britischen Mythopoeten J. R. R. Tolkien und dem Memminger Maler Josef Madlener im Fokus - der Kriegsdarstellung in der Fantasy-Literatur.

<?page no="0"?> Krieg in der Region Reinhard Baumann, Paul Hoser (Hg.) 12 Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen FORUM SUEVICUM <?page no="1"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Herausgegeben von Dietmar Schiersner im Auftrag des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e.V. Band 12 <?page no="2"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Band 12 Krieg in der Region Herausgegeben von Reinhard Baumann und Paul Hoser UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz und München <?page no="3"?> Dieser Band wurde veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Stadt Memmingen, der Sparkasse Memmingen-Mindelheim-Lindau und der Lechwerke AG. Abbildung auf der Einbandvorderseite: Der Kupferstich stammt aus „Die Hauptgötter der Fabel, in 24 Kupferstichen dargestellt, mit ihrer Geschichte und ursprünglichen Bedeutung“ / Ovidii Metamorphoses aeri incisae ad exemplar optimorum Gallicae Gentis pictorum, Bd 4: Supplement Augsburg 1803. © Staats- und Stadtbibliothek Augsburg 4H-466 3/ 4, Taf. IX. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. ISSN 1431-9993 ISBN 978-3-86764-827-1 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2018 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Lektorat und Layout: Angela Schlenkrich, Augsburg Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D- 78462 Konstanz Tel. 07531- 9053- 0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> 5 Vorwort Krieg in der Region? Seit einem Menschenalter von siebzig Jahren ist Schwaben, ist Deutschland vom Krieg verschont. Nur die Älteren erinnern sich noch daran, wie der Zweite Weltkrieg schließlich auch in die Heimat kam. Wer mit den Autorinnen und Autoren dieses Buches den Blick zurückwirft bis ins späte Mittelalter, wird aber schnell erkennen: Jahrzehntelange Friedenszeiten gab es in Schwaben selten, unmittelbar betroffen von Kämpfen waren die Menschen hier nicht nur in den am Ende des Zweiten Weltkriegs oder im Dreißigjährigen Krieg. Zudem zeigen die Beiträge dieses Bandes, was auch der ›ferne‹ Krieg für den Alltag der Menschen bedeutete und welche mentale Präsenz er für sie hatte. Darin schließt sich dann der Kreis zur Gegenwart, tragen doch nicht wenige Menschen, die in den letzten Jahren nach Schwaben gekommen sind, die Bilder eines fernen Krieges als schwere Last mit sich hierher. Wer sich also mit dem ›Krieg in der Region‹ auseinandersetzt, erfährt nicht nur von Belagerungen, Landsknechten, Soldaten und Schlachten, sondern auch vom Krieg im Magen und im Kopf. Er lernt damit viele spezifische Probleme Schwabens und seiner Nachbarregionen kennen und sieht, wie regionale Strukturen unter den Bedingungen des Krieges funktionierten, überhaupt erst entstanden oder aber zerbrachen. Im ›Memminger Forum für schwäbische Regionalgeschichte‹ war - auch mit Blick auf den mittlerweile hundert Jahre zurückliegenden Ersten Weltkrieg und auf das bevorstehende Gedenken zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges - der Wunsch aufgekommen, sich mit ›Krieg und Krise‹, so die ursprünglich erweiterte Formulierung, in der Region auseinanderzusetzen. Dr. Reinhard Baumann und Dr. Paul Hoser haben diese Anregung aufgenommen, für die 15. Tagung des ›Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte‹ ein attraktives und facettenreiches Programm zusammengestellt und auch die Herausgabe der Tagungsbeiträge übernommen. Dafür gilt ihnen an erster Stelle mein ganz herzlicher Dank! Auch den 15 Referentinnen und Referenten danke ich sehr für ihre Bereitschaft, die Vorträge für den Druck zu bearbeiten und dabei den engen Zeitplan einzuhalten, den wird uns bei den alle zwei Jahre erfolgenden Publikationen der Reihe ›Forum Suevicum‹ geben müssen. Dass die Durchführung der Tagung vom 13. bis 15. November 2015 im Memminger Rathaussaal so anregend und entspannt zugleich möglich war, ist nicht zuletzt der versierten Organisation durch den Geschäftsführer des Memminger Forums, Dr. Hans-Wolfgang Bayer, Leiter des Memminger Kulturamts, und seine Mitarbeiterinnen Julia Mayer M. A., Gerlinde Stanzel und Stefanie Vetter zu danken. Die Stadt Memmingen war am Gelingen der Tagung nicht nur als Gastgeberin <?page no="5"?> 6 beteiligt: Oberbürgermeister a. D. Dr. Ivo Holzinger, dem amtierenden Oberbürgermeister Manfred Schilder und dem Memminger Stadtrat sei darüber hinaus herzlich gedankt für den Zuschuss zu den Druckkosten des vorliegenden Bandes. In gleicher Weise ermöglichten die Sparkasse Memmingen-Mindelheim-Lindau sowie die Lechwerke AG durch ihre Unterstützung die Drucklegung dieses Bandes. Herrn Vorstandsvorsitzenden Dipl.-Volkswirt Thomas Munding sowie Herrn Eckhard Wruck, dem Leiter der Abteilung ›Kommunikation und Marketing‹, gebührt dafür ebenfalls ein ganz besonderer Dank. Schließlich haben auch bei diesem 12. Band der Reihe die Augsburger Lektorin Angela Schlenkrich M. A. und Uta C. Preimesser vom UVK-Verlag zuverlässig, pünktlich und fruchtbar zusammengearbeitet. Ihnen wie auch dem Memminger MedienCentrum, das in bewährter Weise den Druck des Buches übernommen hat, ein ganz herzliches Dankeschön! Weingarten, im September 2017 Dietmar Schiersner <?page no="6"?> 7 Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 9 R EINHARD B AUMANN / P AUL H OSER Einführung 11 N IKLAS K ONZEN »Der größte Wüterich im deutschen Land«: Hans von Rechberg, die Reichsstadt Memmingen und der Zerfall des schwäbischen Städtebundes 29 U WE T RESP Sicherungsbriefe und Gefangene. Beobachtungen zur Kriegsführung Herzog Ludwigs des Reichen 1462 in Schwaben 49 O LIVER L ANDOLT Krieg und Krise in der Eidgenossenschaft um 1500 75 P EER F RIESS Bürgerliches Krisenmanagement - Die oberschwäbischen Reichsstädte im Fürstenkrieg von 1552 101 R EINHARD B AUMANN Auswärtige Kriegsprobleme nach Schwaben hereintragen. Die Auseinandersetzungen zwischen dem Obristen Georg II. von Frundsberg und der Interessenvertretung seines Regiments in den Niederlanden 1576-1585 133 G ERHARD I MMLER Zweimal Memmingen im Brennpunkt des Dreißigjährigen Krieges: 1630 und 1647 167 M ICHAEL K AISER Das schwierige Ende des Krieges. Die Abdankung des Regiments Winterscheid in Memmingen 1649 193 W OLFGANG W ÜST Krieg, Kummer und Krisen - Turbulente Zeitläufte vor der Säkularisation im Spiegel der Elchinger Klosterchronik 223 <?page no="7"?> 8 G ERHARD H ETZER Kreuz und Helm. Militärseelsorge in Armeen des 19. Jahrhunderts 239 P AUL H OSER Die Ernährungslage im Ersten Weltkrieg im Spiegel ausgewählter Zeitungen in Bayerisch-Schwaben 265 C HRISTA H ÄMMERLE Ach das ist bitter einem Landsmann die Augen zuschliessen zu müssen. Kriegskrankenpflegerinnen im Ersten Weltkrieg als Brücke zur Region 289 E LISABETH P LÖSSL Zürnendes Leid. Hedwig Lachmanns (1865-1918) Antikriegsgedichte 315 T HOMAS A LBRICH Der Hubschrauber Focke-Achgelis 223 ›Drache‹: Entwicklung und Einsatz im Alpenraum 1944/ 45 339 V ERONIKA D IEM Das Kriegsende 1945 im Süden Bayerns 363 M ICHAEL B AUMANN Von der Schlacht zum Schlachten. Die Entwicklung des Krieges in der Fantasy 383 Autorenverzeichnis 407 Nachweis der Abbildungen 408 <?page no="8"?> 9 Abkürzungsverzeichnis ADB Allgemeine Deutsche Biographie BArch Bundesarchiv BayHStA Bayerisches Hauptstaatsarchiv München DAEI Diözesanarchiv Eichstätt FAB Freiheitsaktion Bayern Frhr. Freiherr FS Festschrift HAB Historischer Atlas von Bayern HHStA Wien Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien HStA Hauptstaatsarchiv HZ Historische Zeitschrift IfZ Institut für Zeitgeschichte, München IPO Instrumentum Pacis Osnabrugensis JHVD Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau KA Kreisarchiv k. b. königlich bayerisch k. k. kaiserlich-königlich k. w. königlich württembergisch LAELKB Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern ND Nachdruck/ Neudruck NDB Neue Deutsche Biographie NF Neue Folge PKMS 5/ 6 J OHANNES H ERRMANN / G ÜNTHER W ARTENBERG / C HRISTIAN W INTER (Hg.), Politische Korrespondenz des Kurfürsten Moritz von Sachsen, Bd. 5: 9. Januar 1551-1. Mai 1552, Berlin 1998; Bd. 6: 2. Mai 1552-11. Juli 1553, Berlin 2006. RP Ratsprotokolle SFG Schwäbische Forschungsgemeinschaft StaatsA Staatsarchiv StadtA Stadtarchiv StBib Stadtbibliothek Veröff. Veröffentlichung(en) VSWG Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ZbKG Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte ZBLG Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte ZHVS Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben (und Neuburg) <?page no="10"?> 11 R EINHARD B AUMANN / P AUL H OSER Einführung ›Krieg und Krise in der Region‹ war der Titel der 15. wissenschaftlichen Tagung des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte, die vom 13. bis 15. November 2015 im Rathaus in Memmingen stattfand. Bereits während die Referentinnen und Referenten ihre Ergebnisse vortrugen und zur Diskussion stellten, zeigte sich, dass die Auseinandersetzung mit dem Problem der Krise in Verbindung mit der Erscheinung des Krieges nur in einigen Vorträgen im Fokus stand, in mehreren hingegen nur am Rande oder nicht behandelt wurde. Insgesamt wurde deutlich, dass Krieg und Krise häufig eng miteinander verflochten sind: Kriege führen häufig zu Krisen, in Krisensituationen entstehen Kriege. Beispiele dafür lassen sich vom Mittelalter bis zur Gegenwart finden. Der Krieg in Syrien und die europäische Flüchtlingskrise sind die derzeit aktuelle Variante. Letztendlich erschien Krise als ein zu unbestimmter, zu wenig in allen Beiträgen berücksichtigter und berücksichtigbarer Begriff, um in den Titel des Tagungsbandes Eingang zu finden. Die Herausgeber haben sich deshalb für den Titel ›Krieg in der Region‹ entschieden. Dies konnte aber nicht bedeuten, dass Krise nicht in einigen Aufsätzen eine wichtige Rolle spielt und in ihrem Zusammenhang mit dem Krieg untersucht wird. Vom Interregnum bis in die Reformationszeit hinein, also das ganze Spätmittelalter hindurch, war Schwaben - Ostschwaben, Oberschwaben und Niederschwaben - ein Raum, in dem die Rechtsunsicherheit besonders groß und das Fehdewesen besonders verbreitet war. Die herrschende Schicht engagierte sich in den deutschen und europäischen Konflikten der Zeit, sie zog in den Krieg und wurde mit Krieg überzogen. Ob man all die Händel, Fehden, Feldzüge, Gefechte und Schlachten als ›Krieg‹ bezeichnen will, ist eine definitionstheoretische Überlegung und für die betroffene Bevölkerung ohne Bedeutung. Von einem friedlichen Leben in der Region kann nicht die Rede sein, auch in der Reformationszeit nicht und nicht nach dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um Bekenntnis, kaiserlichen und ständischen Machtanspruch im Dreißigjährigen Krieg. Die unsicheren Zeiten begannen schon unter Rudolf von Habsburg. 1 Der Streit um das staufische Erbe und das der Grafen von Dillingen verlief kriegerisch. Dem 1 Zu kriegerischen Auseinandersetzungen im spätmittelalterlichen Schwaben im Überblick vgl. A DOLF L AYER / P ANKRAZ F RIED , Vom Interregnum bis zum Augsburger Religionsfrieden, in: A NDREAS K RAUS (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte III/ 2: Geschichte <?page no="11"?> REINHARD BAUMANN/ PAUL HOSER 12 Ausgreifen der Wittelsbacher nach Schwaben in diesem Zusammenhang stellte sich am stärksten Bischof Hartmann von Augsburg entgegen. Die meisten schwäbischen Städte unterstützten König Rudolf in seinem Bestreben, das Herzogtum Schwaben wiederherzustellen, eine Opposition unter dem Herzog von Württemberg verhinderte das. Auch die Politik König Albrechts I. überzog Schwaben mit kriegerischen Auseinandersetzungen. Gewaltsam holte er Donauwörth, Mertingen und Schwabegg dem Reich zurück. Die Kämpfe Ludwigs des Bayern um die Krone zogen Schwaben ebenso in Mitleidenschaft, denn schwäbische Herrschaftsträger standen ihm zur Seite, andere hielten zu Habsburg. Kriegerische Aktionen in Schwaben traten zudem am Ende der Regierungszeit Kaiser Karls IV. auf. Der vom Kaiser initiierte Städtebund, dem die schwäbischen Reichsstädte angehörten, richtete sich gegen die Rittergesellschaften - mehrere Kriegszüge gegeneinander im Schwabenland waren die Folge. Auch die Gründung des Schwäbischen Städtebundes zog kriegerische Unternehmungen in Schwaben nach sich. 1441 führte er einen erfolgreichen Kleinkrieg gegen schwäbische Raubritter, im großen Städtekrieg acht Jahre später ging es in Einzelaktionen gegen schwäbische Adelige, besonders gegen die Grafen von Oettingen. Wiederum acht Jahre danach griff Herzog Ludwig IX. von Baiern-Landshut nach der Reichsstadt Donauwörth. Ein Reichskrieg gegen ihn, vor allem auf ostschwäbischem Gebiet geführt, war die Folge. Der Sieg des Herzogs bei Giengen 1461 ließen ihn und seinen Sohn Georg nun daran gehen, den baierischen Besitz in Schwaben weiter auszubauen. Gegen die baierische Expansion fanden sich Adel, geistliche Herren, Ritter und Städte zum Schwäbischen Bund zusammen, als Landfriedenssicherungsorgan geplant, doch fast von Anfang an auch ein Instrument habsburgischer Politik. Seine erste große Bewährungsprobe war der Schweizerkrieg von 1499, in dem er zwar die Hauptlast trug, aber weder militärische noch politische Erfolge erzielen konnte. Viele Schwaben kämpften dabei im Sold des Bundes. Im Baierischen Erbfolgekrieg am Anfang des 16. Jahrhunderts zogen schwäbische Fußknechte in den Dienst der Münchner Partei ebenso wie in den der Landshuter. 2 Danach wurde Schwaben zum Kriegsschauplatz im Schmalkaldischen Krieg und im Fürstenkrieg. Das 17. Jahrhundert begann mit der baierischen Belagerung Donauwörths, sie war gleichsam das den Dreißigjährigen Krieg ankündigende Wetterleuchten. Dem Kontributionszug des französischen Generals de Feuquière durch Gebiete Ost- und Nordschwabens 1688 folgte Schwabens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, 3. neu bearb. Aufl., München 2001, S. 233-242. 2 Vgl. R EINHARD B AUMANN , Söldnerische Kleinunternehmer im Bayerischen Erbfolgekrieg 1504 - eine Studie zur Entwicklung des europäischen Kriegsunternehmertums in der frühen Neuzeit, in: W OLF D. G RUNER / P AUL H OSER (Hg.), Wissenschaft - Bildung - Politik. Von Bayern nach Europa, Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte (FS Ludwig Hammermayer zum 80. Geburtstag), Hamburg 2008, S. 19-31, hier 21-28. <?page no="12"?> E INFÜHR UNG 13 wenige Jahre später der Spanische Erbfolgekrieg, in dem Ostschwaben einer der Hauptkriegsschauplätze wurde. Im Österreichischen Erbfolgekrieg trafen Einquartierungen und Truppendurchzüge vor allem das Allgäu und das Donautal. 3 Dieser kurze Überblick belegt ein recht friedloses Schwaben im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bauernaufstände zeigen den Krieg in der Region von einer anderen Seite. Zunächst waren es am Anfang des 15. Jahrhunderts Bauern vom Rande der Region, die den Krieg ins Land brachten. In Appenzell formierte sich eine mächtige Unabhängigkeitsbewegung, die bald schon ihre Vorstellungen exportierte. 1406 entstand unter Einfluss der Appenzeller Erfolge der Allgäuer Bund als freiheitlicher Schwurverband von Bauern mehrerer Herren. 4 1407 belagerte ein Appenzeller Bauernheer das montfortische Städtchen Immenstadt. Erst sechs Jahre später wurden die Appenzeller besiegt, nachdem ein Städtebund - mit dabei auch Memmingen - und die Rittergesellschaft vom St. Jörgenschild gegen sie zu Felde gezogen waren. Das ganze 15. Jahrhundert über aber war die oberschwäbische, vor allem die Allgäuer Bauernschaft in Unruhe. Rechtsbrüche und Unterdrückung der Herren führten nicht nur zu Protest, sondern auch zur Rebellion: im Lechtal 1397, 1403 im oberen Illertal, 1408 im Gebiet der Abtei Ottobeuren, 1415 und 1462 im Fürststift Kempten. Höhepunkte waren der Aufstand der stiftkemptischen Bauern gegen den Fürstabt und den Schwäbischen Bund 1491/ 92 und der Ochsenhausener Untertanen 1502 gegen Abt und Klosterkonvent und ebenfalls den Schwäbischen Bund. 5 Im 16. Jahrhundert war es der große Bauernkrieg, die erste deutsche Revolution, die 1525 das Leben in der Region für einige Monate bestimmte. Seit Beginn der Tagungsplanung waren sich Vorstandschaft und Herausgeber darüber im Klaren, dass dieses Thema eigentlich nicht fehlen durfte. In Peter Blickles Biographie des ›Bauernjörgs‹ sind wesentliche Erkenntnisse zum großen Krieg des gemeinen Mannes in der Region Schwaben publiziert - militärische, verfassungsrechtliche und soziale. 6 Allein schon die Fragestellung nach der Legitimation dieses Krieges 3 Kriegerische Ereignisse im frühneuzeitlichen Schwaben im Überblick vgl. A. L AYER / P. F RIED , Interregnum (Anm. 1), S. 256-263, 272-280. 4 K ARL -H EINZ B URMEISTER , Der Bund ob dem See, in: P ETER B LICKLE / P ETER W ITSCHI (Hg.), Appenzell - Oberschwaben, Begegnung zweier Regionen in sieben Jahrhunderten, Konstanz 1997, S. 65-83; P ETER B LICKLE , Der Allgäuer Bund, in: Ebd., S. 85-96. 5 Für einen Überblick zu den Bauernaufständen im 15. Jahrhundert in Schwaben und im Allgäu noch immer G ÜNTHER F RANZ , Der deutsche Bauernkrieg, 10. verbesserte und erweiterte Aufl., Darmstadt 1975, S. 10-19. 6 P ETER B LICKLE , Der Bauernjörg, Feldherr im Bauernkrieg. Georg Truchsess von Waldburg, 1488-1531, München 2015. Der inzwischen verstorbene Peter Blickle wäre der berufene Referent gewesen, doch konnte er, wiewohl dem Memminger Forum als auch Memmingen eng verbunden, nicht gewonnen werden, denn damals war er mit der Fertigstellung dieses Buchs beschäftigt. <?page no="13"?> REINHARD BAUMANN/ PAUL HOSER 14 und nach der Form der Kriegserklärung kommt zu neuen Ergebnissen: Landfriedensbruch wird am 15. Februar 1525 als Grund für den Kriegszug des Schwäbischen Bundes unter dem Oberbefehl des Truchsess von Waldburg genannt, Landfriedensbruch war allerdings auch nach damals gültigem Recht eine unzutreffende, zumindest sehr zweifelhafte Begründung. 7 Eine klare Legitimation von Seiten der alten Obrigkeit für diesen Krieg war also nicht gegeben. Dem Feldherrn des Schwäbischen Bundes ging es bei der Begründung des Krieges nicht um Kategorien des Rechts, sondern um solche der Macht. Die Kriegsherren in diesem sog. Großen Bauernkrieg, bei dem Schwaben im Zentrum der Ereignisse stand, waren auf der einen Seite der Schwäbische Bund, und mit ihm der Kaiser und die Reichsstände, d. h. die alte Obrigkeit, wie dies im Eid der bündischen Landsknechte deutlich wird, auf der anderen Seite die Bauern, die sich, wie die Memminger Bundesordnung ausweist, im Namen der heiligen Dreifaltigkeit versammelt und somit Gott als Kriegsherrn ausgerufen hatten. 8 Gerade im Hinblick auf das revolutionäre Zentrum Schwaben ist ein Blick auf die gegnerischen Heere erhellend: Dass auf Bundesseite nicht die Fußknechte Waldburgs kriegsentscheidend waren, sondern genau die Waffengattung, über die die Bauern nicht verfügten, nämlich die Adels- und Soldreiterei, hat Peter Blickle zwar nicht als Erster erkannt, aber mit vielen Belegen eindringlich dargestellt. Die Bauernhaufen wiederum waren so militärisch unbedeutend nicht, wie sie immer wieder in der Bauernkriegsforschung dargestellt wurden und werden. Rekrutiert wurden sie keineswegs willkürlich und spontan, sondern auf der Basis des Landesdefensionswesens, auf das die Bauern zurückgreifen konnten. Zudem stand ›der Soldknecht zu Fuß‹ auf beiden Seiten der Revolution: Nicht nur der Schwäbische Bund verpflichtete Landsknechte, besonders in Schwaben, auch die Bauern warben solche erfolgreich an, der Seehaufen sogar Schweizer Söldner. 9 Der Bauernkrieg in der Region ist deshalb die große Ausnahme unter den Kriegen vom späten 13. bis zum 19. Jahrhundert, weil nicht nur Krieg in der Region geführt wurde und eine schwäbische Bevölkerung ihn passiv hinnehmen musste, sondern weil hier große Teile der schwäbischen Bevölkerung sich im Krieg gegen ihre altangestammte Obrigkeit befanden und dieses Tun religiös legitimierten. Für das 16. und 17. Jahrhundert sollte man zudem feststellen, dass auch Kriege unmittelbare Auswirkungen auf Schwaben hatten, die gar nicht in Schwaben geführt wurden: Hier erfolgten Werbungen für Kriegsvolk, das auf europäischen Kriegsschauplätzen in Italien, Frankreich, England und den Niederlanden zum Einsatz kam. Dort suchten Werber Fußknechte für die Türkengrenze und gegen maurische Seeräuber. Aus Schwaben und in Schwaben strömten aber auch Kramer, 7 P. B LICKLE , Bauernjörg (Anm. 6), S. 105-108. 8 P. B LICKLE , Bauernjörg (Anm. 6), S. 120. 9 P. B LICKLE , Bauernjörg (Anm. 6), S. 302-308, 318-322. <?page no="14"?> E INFÜHR UNG 15 Metzger, Bäcker, Marketenderinnen, Schänkmägde und Huren, kurzum das Trossvolk, zu den Musterplätzen. Und Schwaben war durch seine Kleinräumigkeit, durch seinen territorialen ›Flecklesteppich‹ für gartendes Kriegsvolk (also für Landsknechte ohne Soldvertrag) beliebter Aufenthalts- und Rückzugsort. 10 Krieg als Gegenstand historischer Forschung ist längst nicht mehr ein Reservat der Militärhistoriker. 11 Spätestens seit den 1990er Jahren hat sich die Gesellschafts- und die Sozialgeschichte des Krieges angenommen und seitdem wesentliche Ergebnisse dazu vorgelegt. In engem Zusammenhang damit ist der Krieg auch ein Thema für die Regionalgeschichte. Das Memminger Forum verstand ja seit seinem Bestehen Gesellschaftsgeschichte und Regionalgeschichte als zwei Seiten einer Medaille. Die Gesellschaftsgeschichte, auch die im Rahmen der Regionalgeschichte betriebene, stellt aus ihrem Selbstverständnis heraus ganz andere Fragen an den ›Krieg‹ als etwa die politische Geschichte oder eben die Militärgeschichte. So zeigen einzelne Beiträge des Bandes, dass es in den hier untersuchten Fällen nicht um Schlachten- und Kriegsverlauf geht, sondern um das Handeln von Städten und Städtebünden im Krieg, um Aspekte der Ökonomie, der Herrschaft und des Rechts in der Kriegsführung eines mächtigen Territorialherrn z. B. in einem Krieg auf schwäbischem Boden. Der italienische Historiker Lauro Martines hat in seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Band ›Blutiges Zeitalter. Europa im Krieg 1450-1700‹ den Versuch gemacht, mit griffigen Kapitelüberschriften Aspekte des gesellschaftsgeschichtlichen Herangehens an den Krieg zu zeigen: z. B. »Geplünderte Städte«, »Belagerungen«, »Wandernde Städte, sterbende Städte: Armeen«, »Plündergut und Beute«, »Die Hölle in den Dörfern«. 12 Der vorliegende Band weitet dann auch den Blick auf Kriegsrezeption in der Gesellschaft, z. B. in der Unterhaltungsliteratur der Gegenwart. Die Rezeption kann kritisch sein, durchaus aber auch im Sinne von Kriegs- und Kulturpropaganda bewusster oder unbewusster Art erfolgen. Im Sinne einer Alltags-, Wahrnehmungs- und Erfahrungsgeschichte des Krieges sind die Beiträge des neuerdings erschienenen Sammelbandes, der aus einer Tagung der Abteilung für Rheinische Landesgeschichte des Bonner Instituts für Geschichtswissenschaft entstand. 13 In den einzelnen Beiträgen geht es dann z. B. 10 Vgl. R EINHARD B AUMANN , Feldzugs- und Gartmigration von Kriegsleuten im 16. Jahrhundert, in: R EINHARD B AUMANN / R OLF K IESSLING (Hg.), Mobilität und Migration in der Region (Forum Suevicum 10), Konstanz-München 2013, S. 65-84. 11 Vgl. dazu R AINER W OHLFEIL , Überlegungen zum Begriff ›Militärgeschichte‹, in: S TEFAN K ROLL / K ERSTEN K RÜGER (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit 1), Hamburg 2000, S. 15-22. 12 L AURO M ARTINES , Blutiges Zeitalter, Europa im Krieg 1450-1700, Darmstadt 2015. 13 A NDREAS R UTZ (Hg.), Krieg und Kriegserfahrung im Westen des Reiches 1568-1714, Göttingen 2016. <?page no="15"?> REINHARD BAUMANN/ PAUL HOSER 16 um den »Alltag des Krieges«, um »Bürger und Soldaten. Erfahrungen rheinischer Gemeinden mit dem Militär 1618-1714« oder um »Kriegserfahrung und Krisenbewältigung in Luxemburger Selbstzeugnissen des späten 17. Jahrhunderts«. 14 Über das Verhältnis zwischen Söldnern und Bevölkerung in der Frühen Neuzeit forscht zudem seit mehreren Jahren Michael Kaiser, Autor in diesem Band. 15 Auch die Schweizer Forschung der letzten Jahre hat erhellende gesellschafts- und regionalgeschichtliche Ergebnisse vorgelegt, die auch für die Forschung in Deutschland richtungsweisende Anregungen enthalten. Es ist nicht nur das 2014 erschienene Beiheft der Zeitschrift für Historische Forschung ›Söldnerlandschaften‹, dem eine internationale Tagung an der Universität Bern zugrunde liegt. 16 Hier werden beispielsweise Süddeutschland, die Eidgenossenschaft und Böhmen als Söldnermärkte und Söldnerlandschaften untersucht, und das unter wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Aspekten. Die Herausgeber Philippe Rogger und Benjamin Hitz publizierten beide 2015 eigene umfangreiche Untersuchungen. Hitz schrieb unter dem Titel ›Kämpfen um Sold‹ eine Alltags- und Sozialgeschichte schweizerischer Söldner in der Frühen Neuzeit. 17 Dabei beschäftigte er sich vor allem anhand Luzerner Quellen intensiv mit Aspekten des Söldneralltags, d. h. mit dem Tod als Berufsrisiko - mit Strapazen auf dem Marsch, mit Krankheiten, mit dem Umgang mit Verwundung und Tod - auch mit dem Kampf um das tägliche Brot, mit Alkohol und Spiel, mit Konflikten und Händeln. Besonders wichtig sind auch seine Ergebnisse über das Verhältnis zwischen Söldnern, ihren Hauptleuten und Unternehmern und der städtischen Obrigkeit. Hitz zeigt Stadtgericht und Rat als vermittelnde Instanz, aber auch deren enge Verflechtung mit den Söldnerunternehmerdynastien. Insgesamt wird deutlich, dass in den Schweizer Kantonen die Soldknechte viel stärker in die Gesellschaft (sei es die der Stadt, sei es die des Landkantons) eingebunden blieben als im Reich. 14 T HOMAS P. B ECKER , Der Alltag des Krieges. Das Rheinland im Kölner Krieg, S. 121- 139; R ENÉ H ANKE , Bürger und Soldaten. Erfahrungen rheinischer Gemeinden mit dem Militär 1618-1714, S. 41-158; G UY T HEWES , Kriegserfahrung und Krisenbewältigung in Luxemburger Selbstzeugnissen des späten 17. Jahrhunderts, S. 183-204. 15 M ICHAEL K AISER , Die Söldner und die Bevölkerung. Überlegungen zu Konstituierung und Überwindung eines lebensweltlichen Antagonismus, in: S TEFAN K ROLL / K ERSTEN K RÜGER (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 1), Hamburg 2000, S. 79-120. 16 P HILIPPE R OGGER / B ENJAMIN H ITZ (Hg.), Söldnerlandschaften. Frühneuzeitliche Gewaltmärkte im Vergleich (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 49), Berlin 2014. 17 B ENJAMIN H ITZ , Kämpfen um Sold. Eine Alltags- und Sozialgeschichte schweizerischer Söldner in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2015. <?page no="16"?> E INFÜHR UNG 17 Philippe Rogger widmet sich unter dem Titel ›Geld, Krieg und Macht‹ den Pensionenunruhen in der Eidgenossenschaft in den Mailänderkriegen zwischen 1494- 1516. 18 Er führt dabei in Fallstudien an Bern, Luzern, Solothurn und Zürich vor, wie die Kriegsknechte zur Handelsware wurden, an der zahlreiche Mitglieder der städtischen Oberschichten erhebliche Summen verdienten, und wie diese Geschäfte mit der militärischen Gewalt zur gesellschaftlichen Krise in diesen Kantonen führten: Aufstände, gewaltsame Proteste und mehrere Hinrichtungen von Großverdienern. Stefan Xenakis hat mit seiner Arbeit ›Gewalt und Gemeinschaft. Kriegsknechte um 1500‹ nicht nur das Innenleben von Fußknechtfähnlein und Haufen am Anfang des 16. Jahrhunderts untersucht, sondern auch neue Erkenntnisse über solche »Gewaltgemeinschaften« im Baierischen Erbfolgekrieg und im Bauernkrieg geliefert. 19 Er geht nicht nur dem Selbstverständnis der Soldknechte nach und führt sie in ihren frühdemokratischen Organisationsformen vor, er zeigt uns die Kriegsjahre von 1503-1505 und von 1525/ 26, dabei besonders den »Salzburgischen Krieg« 1526, als eine Kette von Streiks bzw. Meutereien, die die Kriegsführung stark beeinflussten und ein ungeheuer selbstbewusstes Kriegsvolk gegenüber seiner militärischen Obrigkeit belegen, wie es am Ende des Jahrhunderts nicht mehr denkbar ist. Der zweite Teil der Memminger Tagung umspannte eine Zeit von rund eineinhalb Jahrhunderten, in der ein großer Krieg von europäischem Ausmaß am Anfang steht, hundert Jahre später ein weiterer weltumspannender einsetzte und ein Vierteljahrhundert danach der größte in der Geschichte der Menschheit folgte. Vom Dreißigjährigen Krieg ist bekannt, dass einige Regionen verwüstet und eine Stadt vom Rang Magdeburgs zerstört wurden, während andere Orte wie z. B. Hamburg völlig unberührt blieben und aus Geschäften mit den Kriegsführenden sogar Vorteile zogen. Die französischen Revolutionskriege und die sie fortsetzenden napoleonischen Kriege dagegen griffen über begrenzte und überschaubare Räume hinaus. 20 Sie waren flächendeckend und brachten im Süden Deutschlands harte Belastungen für die Zivilbevölkerung mit sich, das Land wurde ausgesogen; die Versorgung moderner Massenheere zog dies in ganz anderem Ausmaß nach sich als in früheren Zeiten. Die erste Welle der Revolutionskriege schwappte 1796 auch auf das Gebiet des heutigen bayerischen Schwaben über. Die schlecht versorgten 18 P HILIPPE R OGGER , Geld, Krieg und Macht. Pensionsherren, Söldner und eidgenössische Politik in den Mailänderkriegen 1494-1516. 19 S TEFAN X ENAKIS , Gewalt und Gemeinschaft, Kriegsknechte um 1500 (Krieg in der Geschichte 90), Paderborn 2015. 20 Zur allgemeinen politischen und militärischen Entwicklung im Süden Deutschlands: U TE P LANERT , Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden. Alltag - Wahrnehmung - Deutung 1792-1841 (Krieg in der Geschichte 33), Paderborn u. a. 2007, S. 67-95. <?page no="17"?> REINHARD BAUMANN/ PAUL HOSER 18 französischen Soldaten plünderten oft hemmungslos. 21 Auch ihre Gegner, Österreicher, Russen und Angehörige französischer Emigrantentruppen, standen ihnen in nichts nach. Die napoleonischen Truppen nahmen ihren gesamten Bedarf aus dem jeweiligen Gebiet, verzichteten aber auf Plünderungen. 22 Doch erpressten ihre Offiziere gern stattdessen Geld. Dazu kamen die Belastungen durch die im Krieg steigenden Steuern und Abgaben, durch Requisitionen (Naturallieferungen und Truppenversorgung), Arbeitsleistungen und Einquartierungen und häufige Truppendurchmärsche. 23 Die finanzielle Belastung der Bevölkerung im süddeutschen Raum verdoppelte sich von 1789 bis 1819. 24 Die neue Wehrpflicht griff tief ins Leben der Familien ein. 25 Sie sollte eine zentraler Faktor auch der zukünftigen Kriege bleiben. Auch Krankheiten und Viehseuchen verbreiteten sich durch die fremden Truppen. Besonders stark wurde die ländliche Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen. 1816 fiel auch noch zusätzlich eine ganze Ernte auf Grund des sich wegen einer Naturkatastrophe verschlechternden Klimas 26 aus. Die Folge war eine Hungerkatastrophe. 27 Immerhin blieben schwere Kriegszerstörungen in den Städten aus. 28 21 U. P LANERT , Mythos (Anm. 20), S. 127-134, 151-155. 22 U. P LANERT , Mythos (Anm. 20), S. 157f., 171-175. 23 U. P LANERT , Mythos (Anm. 20), S. 212-226, 245-281. 24 U. P LANERT , Mythos (Anm. 20), S. 648. 25 U. P LANERT , Mythos (Anm. 20), S. 383-473. 26 G ILLEN D’A RCY W OOD , Vulkanwinter 1816. Die Welt im Schatten des Tambora, Darmstadt 2015; W OLFGANG B EHRINGER , Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, 3. Aufl. München 2016. 27 G ERALD M ÜLLER , Hunger in Bayern 1816-1818. Politik und Gesellschaft in einer Staatskrise des frühen 19. Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften III/ 812), Frankfurt am Main 1998. 28 Zu den französischen Revolutionskriegen und den napoleonischen Kriegen auf lokaler Ebene: O THMAR S CHWARZ , 1785-1945. Die bayerische Landstadt bis zu ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, in: L ORE G ROHSMANN (Hg.), Geschichte der Stadt Donauwörth, Bd. 2, 2. Aufl. Donauwörth 2001, S. 145-279, hier 145-155; R UDIBERT E TTELT , Geschichte der Stadt Füssen, Füssen 1970, S. 338-349; F RANZ R EISSENAUER , Günzburg. Geschichte einer schwäbischen Stadt, Bd. 1, Augsburg 2009, S. 391-410; G EORG K REUZER , Von der Herrschaft der Familie vom Stain bis zu Ende des I. Weltkriegs, in: G EORG K REUZER / C LAUDIA M ADEL -B ÖHRINGER (Hg.), Ichenhausen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. I, Ichenhausen 2007, S. 42-48; R UDOLF V OGEL , Geschichte der Stadt Immenstadt, in: D ERS . (Hg.), Immenstadt im Allgäu. Landschaft, Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, kulturelles und religiöses Leben im Lauf der Jahrhunderte, Immenstadt im Allgäu 1996, S. 41- 195, hier 78-84; S TEFAN F ISCHER , Die bayerische Stadt des 19. Jahrhunderts in den Ereignissen deutscher Stadtentwicklung (1780 bis 1914), in: J ÜRGEN K RAUS / S TEFAN F ISCHER (Hg.), Die Stadt Kaufbeuren, Bd. I, Thalhofen 1999, S. 100-127, hier 100-105; W ILHELM <?page no="18"?> E INFÜHR UNG 19 Die Aufstandsbewegung in Tirol war nicht nur die Folge der französischen Besatzung, sondern auch der Praktiken der bayerischen Herrschaft, die das Land finanziell in Mitleidenschaft zog und durch aufklärerische Eingriffe in religiöse Praktiken für Unmut sorgte. In Schwaben, in dem traditionelle Herrschaftsbereiche wie die kirchlichen und reichsstädtischen Territorien verschwanden, blieb dagegen zum großen Teil eine Aufstandsbewegung gegen Bayern aus. Die aufständischen Tiroler fielen ihrerseits 1808 kurzzeitig ins Allgäu ein, darunter in Füssen, Kempten, Immenstadt, Kaufbeuren und Memmingen. 29 Im Oberallgäu soldarisierte sich sogar ein Teil der Bevölkerung mit ihnen. Die Tiroler und die auf ihrer Seite stehenden Vorarlberger mussten dann aber vor den französischen, bayerischen und württembergischen Truppen weichen. Die Folge der napoleonischen Kriege war eine vollständig neue Raum- und Herrschaftsordnung im Gebiet des untergegangenen Alten Reichs, dessen zahlreiche kleinere Herrschaftsgebiete zugunsten größerer Flächenstaaten erheblich dezimiert wurden. In der Revolutionszeit 1848 wurde zwar eine bayerische Truppeneinheit in das als besonders aufsässig angesehene Allgäu geschickt. 30 Aufstände oder gar blutige militärische Kämpfe wie in Baden 31 fanden aber nicht statt, die Voraussetzungen für einen erfolgreichen revolutionären Kampf waren auch dort nicht gegeben. Ein L IEBHART , Krieg und Frieden. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1803, in: V OLKER D OTTERWEICH u. a., Geschichte der Stadt Kempten, Kempten 1989, S. 244-256, hier 251- 254; W OLFGANG W ÜST , Die Epoche zwischen Dreißigjährigem Krieg und dem Ende des Alten Reiches, in: G EORG K REUZER / A LFONS S CHMID / W OLFGANG W ÜST , Krumbach. Vorderösterreichischer Markt. Bayerisch-schwäbische Stadt, Bd. I, Krumbach 1993, S. 60- 118, hier 109-112; P AUL H OSER , Die Geschichte der Stadt Memmingen. Vom Neubeginn im Königreich Bayern bis 1945 (Geschichte der Stadt Memmingen 2), Stuttgart 2001, S. 37-42, 47; W ALTER P ÖTZL , Kriegsereignisse in der Frühen Neuzeit, in: D ERS . (Hg.), Herrschaft und Politik vom Frühen Mittelter bis zur Gebietsreform (Der Landkreis Augsburg 3), Augsburg 2003, S. 278-316, hier 304-310. 29 P. H OSER , Memmingen (Anm. 28), S. 43-46; R. V OGEL , Immenstadt (Anm. 28), S. 80- 83; M ARGOT H AMM , Die bayerische Integrationspolitik in Tirol 1806-1814 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 105), München 1996, S. 325; M ARTIN P. S CHENNACH , Revolte in der Region. Zur Tiroler Erhebung von 1809, Innsbruck 2009, S. 485; R EIN - HARD B AUMANN , ›Dreigeteiltes Allgäu‹ - die Integration einer historisch gewachsenen Landschaft in den bayerischen, österreichischen und württembergischen modernen Staat, in: C ARL A. H OFFMANN / R OLF K IESSLING (Hg.), Die Integration in den modernen Staat, Ostschwaben, Oberschwaben und Vorarlberg im 19. Jahrhundert (Forum Suevicum 7), Konstanz 2007, S. 157-179. 30 D IETMAR N ICKEL , Die Revolution von 1848/ 49 in Augsburg und Bayerisch-Schwaben (Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen 8), Augsburg 1965, S. 199-203. 31 K URT H OCHSTUHL , Das revolutionäre Militär in der Mairevolution 1849, in: 1848/ 49. Revolution der deutschen Demokraten in Baden, Baden-Baden 1998, S. 371-373. <?page no="19"?> REINHARD BAUMANN/ PAUL HOSER 20 regionaler Bürgerkrieg spielte sich in der Schweiz mit dem Sonderbundskrieg ab; 32 hier gewannen, anders als in den Ländern des übrigen deutschen Sprachraums, die liberalen Kräfte dauerhaft die Oberhand. Die deutschen Einigungskriege stießen dank der in Schwaben immer noch starken liberalen Anschauungen Sympathien. Am Rande streifte bereits der Krieg gegen Preußen auch das Gebiet des bayerischen Schwaben. Nassauische Einheiten, die gegen Preußen gekämpft hatten, kamen etwa auf ihrem Rückzug bis Günzburg und Ichenhausen. 33 Der Krieg von 1870 griff insofern in die Region ein, als Wehrpflichtige von dort in den bayerischen Heereseinheiten erfasst waren. 34 Da er kurz und erfolgreich war, bildete er die Grundlage für eine stetige militarisierende Propaganda in Vereinen und Presse während des Kaiserreichs und förderte das nationale Bewusstsein im Regionalen über die Schicht des nationalliberal orientierten Bürgertums hinaus. 35 Der Erste Weltkrieg wurde für die Bevölkerung durch Belastungen aller Art spürbar. 36 Die Gefallenenmeldungen ließen nicht lange auf sich warten. Die nicht 32 P IERRE DU B OIS , La guerre du Sonderbund. La Suisse de 1847, Paris 2003. 33 G. K REUZER , Herrschaft (Anm. 28), S. 56. Zur Teilnahme von Soldaten aus dem Ort ebd.; vgl. auch R. V OGEL , Immenstadt (Anm. 28), S. 93. 34 Bis zur Heeresreform von 1868 hatte man in Bayern die Wehrpflicht noch legal unterlaufen können; R AINER B RAUN , Bayern und seine Armee. Eine Ausstellung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs aus den Beständen des Heeresarchivs (Ausstellungskataloge der staatlichen Archive Bayerns 21), München 1987, S. 55. 35 Dazu z. B. T HOMAS R OHKRÄMER , Der Militarismus der ›kleinen Leute‹. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871-1914 (Beiträge zur Militärgeschichte 29), München 1990; B ERND U LRICH / J AKOB V OGEL / B ENJAMIN Z IEMANN (Hg.), Untertan in Uniform. Militär und Militarismus im Kaiserreich 1871-1914. Quellen und Dokumente, Frankfurt am Mai 2001; O TTO D ANN , Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990, München 1993; für Schwaben: G ERHARD H ETZER , Von der Reichgründung bis zum Ende der Weimarer Republik 1871-1933, in: G UNTHER G OTTLIEB u. a. (Hg.), Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 568-592, hier 569. 36 Dazu B ENJAMIN Z IEMANN , Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923 (Veröff. des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung A 8), Essen 1997; zum Ausbruch des Kriegs: Krieg! Bayern im Sommer 1914. Eine Ausstellung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs (Ausstellungskataloge der staatlichen Archive Bayerns 56), München 2014; lokale Darstellungen: G. H ETZER , Augsburg (Anm. 35), S. 576-580; D ERS ., Weltkrieg und Parlamentarismus, in: W. P ÖTZL (Hg.), Herrschaft und Politik (Anm. 28), S. 374-392, hier 374-380; R UDIBERT E TTELT , Geschichte der Stadt Füssen vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Jahre 1945, Füssen 1979, S. 177-208; F. R EISSENAUER , Günzburg, Bd. 2 (Anm. 28), S. 557-563; G. K REUZER , Herrschaft (Anm. 28), S. 57f.; R. V OGEL , Immenstadt, S. 106-114; W ERNER W EIRICH , Zeitenwende. Erster Weltkrieg und Revolution (1914 bis 1919), in: J. K RAUS / S. F ISCHER (Hg.), Die Stadt Kaufbeuren, Bd. I (Anm. 28), S. 128-143, hier 128-135; A LOIS S CHMID / S IEGFRIED <?page no="20"?> E INFÜHR UNG 21 auf eine lange Dauer des Krieges eingestellten Organisationen und Behörden bekamen das Problem der alltäglichen Versorgung nicht in den Griff. So machte sich bald Mangel auf allen Gebieten bemerkbar. Auch in schwäbischen Städten wurden deshalb Proteste laut, wie dies die im Kriegsministerium einlaufenden Stimmungsberichte und Artikel der Presse zeigen. Handel und Gewerbe waren durch den Mangel an Rohstoffen und Arbeitskräften und durch den Wegfall von ausländischen Absatzmärkten beeinträchtigt. Die Zivilbevölkerung wurde immer mehr in den Krieg einbezogen, erstmals auch die Frauen. Es wäre zu fragen, wie weit die immer schlechter werdende Versorgungslage bei ausbleibenden durchschlagenden militärischen Erfolgen gerade im schwäbischen Bereich das Prestige der Monarchie und des bayerischen Staats erschütterte, machten sich nach dem Zusammenbruch doch sogar separatistische Stimmungen breit. Doch wurde noch bis in den September 1918 hinein ein Sieg in Aussicht gestellt und die Bevölkerung von der Propaganda zu Opferbereitschaft und Durchhalten aufgefordert. Die Revolution von 1918/ 19 verlief in Schwaben unblutig. 37 Das Ende der Revolution, an dem auch in Schwaben in einer Reihe von Orten die Räterepublik ausgerufen wurde, hatte anders als in München und seinem Umland keine Rachemorde der Regierungstruppen in großem Stil zur Folge. Dabei hatten sich in Oberbayern und der Landeshauptstadt besonders württembergische Einheiten hervorgetan. An der Niederwerfung war auch das Freikorps Schwaben beteiligt. 38 Die Region im Süden Deutschlands war beim Ende des Krieges 1918 vom Einfall fremder Truppen verschont geblieben. Dagegen war 1945 der Zusammenbruch total. 39 Der wichtigste Faktor ist in diesem Zusammenhang natürlich die nationalsozialistische Herrschaft, die von Propaganda und Terror getragen wurde, aber doch auch von breiten Volksschichten akzeptiert war. Autoritäre Verhaltens- M ÜNCHENBACH , Krumbach unter bayerischer Herrschaft vom Jahre 1805 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, in: G. K REUZER / A. S CHMID / W. W ÜST (Hg.), Krumbach, Bd. I (Anm. 28), S. 120-223, hier 220-223; P. H OSER , Memmingen (Anm. 28), S. 93-99. 37 Siehe zu dem Thema R EINHARD B AUMANN / P AUL H OSER , Die Revolution von 1918/ 19 in der Provinz (Forum Suevicum 1), Konstanz 1996. 38 D ANIEL R ITTER VON P ITROF , Gegen Spartakus in München und im Allgäu, München 1937. 39 Zur Literatur zum Zweiten Weltkrieg in Bayerisch-Schwaben s. die Angaben in dem Beitrag von Veronika Diem in diesem Band und P ETER F ASSL , Erinnerungen und Berichte über das Kriegsende 1945 in Bayerisch-Schwaben, in: D ERS . (Hg.), Das Kriegsende in Bayerisch Schwaben 1945. Wissenschaftliche Tagung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben in Zusammenarbeit mit der Schwabenakademie Irsee am 8./ 9.4.2005, Augsburg 2006, S. 299-313. Zum Nationalsozialismus: P AUL H OSER , Zur Geschichte der NSDAP in Bayerisch-Schwaben, in: M ARKUS W ÜRMSEHER / R ENÉ B RUGGER (Hg.), Grenzüberschreitungen zwischen Altbayern und Schwaben. Geschichte, Politik und Kunst zu beiden Seiten des Lechs, FS für Wilhelm Liebhart, Regensburg 2016, S. 135-148. <?page no="21"?> REINHARD BAUMANN/ PAUL HOSER 22 muster wirkten nach, viele von den Nationalsozialisten verbreitete Anschauungen waren über ihre Partei hinaus weiten Bevölkerungskreisen gemeinsam. Dies galt auch für die Kirchen, bei denen Pflicht, Gehorsam, Nation, bürgerliche Sittlichkeitsformen, Antibolschewismus etc. durchaus grundlegende Werte waren, die den Krieg akzeptabel erscheinen ließen. Widerstand kam nur auf, wenn der eigene Denk- und Herrschaftsbereich bedroht war. In der Durchhaltepropaganda der letzten Kriegsmonate kamen die Nationalsozialisten immer mehr auf den Heimatbegriff zurück. In München und in seinen umliegenden Regionen scheiterte blutig der in letzter Minute unternommene Versuch, den Nationalsozialisten die Macht zu entreißen; dies gelang überraschenderweise nur in Oberstdorf im Allgäu. 40 Vielfältige Erscheinungsformen des Krieges und der Gewalt in Schwaben innerhalb von mehr als 700 Jahren wurden hier im Überblick skizziert. Nachfolgend werden nun die einzelnen Beiträge vorgestellt. Sie befassen sich mit ganz speziellen Aspekten des Krieges in der Region Schwaben und den angrenzenden Räumen. Ein zentrales Problem für ein friedliches Zusammenleben im Spätmittelalter, von dem Schwaben besonders betroffen war, das Fehdewesen, untersucht N IKLAS K ONZEN in seinem Beitrag. Am Beispiel des Hans von Rechberg, des größten Wüterichs im deutschen Land, wie ihn der Memminger Chronist Wintergerst nannte, wird deutlich, dass hier letztlich über zwei Jahrzehnte in der Mitte des 15. Jahrhunderts ein permanenter Kleinkrieg adeliger Städtefeinde gegen die im schwäbischen Städtebund zusammengeschlossenen Reichsstädte ablief. Rechberg bewegte sich dabei in einer Grauzone zwischen besoldetem Kriegsdienst für benachbarte Fürsten, eigenständiger Fehdeführung und organisierter Kriminalität. Allerdings scheiterte er dann am Ende nicht an den mächtigen Städten, sondern an den eigenen Standesgenossen. Der Niederadel schloss sich zur Rittergesellschaft vom St. Jörgenschild zusammen und war, im Gegensatz zu Rechberg, zukunftsorientiert und realistisch, auf Ausgleich mit dem Bürgertum bedacht. Aus dem Jörgenschild wurde die ständeübergreifende Einung des Schwäbischen Bundes, die Adel, Fürsten, Reichsklerus und Städte zur Landfriedensorganisation zusammenführte. U WE T RESP deckt die Kriegsabsichten Herzog Ludwig des Reichen von Niederbayern im süddeutschen Fürstenkrieg von 1448-1463 auf. Eigentlich galt für Kriegs- und Fehdeführung im Spätmittelalter das Prinzip der nachhaltigen Schädigung des Gegners, und das ging vor allem zu Lasten der Landbevölkerung. 40 Zu den Problemen des Neubeginns: P AUL H OSER / R EINHARD B AUMANN (Hg.), Kriegsende und Neubeginn. Die Besatzungszeit im schwäbisch-alemannischen Raum (Forum Suevicum 5), Konstanz 2003, und P ETER F ASSL (Hg.), Beiträge zur Nachkriegsgeschichte von Bayerisch-Schwaben 1945-1970. Tagungsband zu den wissenschaftlichen Tagungen von 2006, 2007 und 2008 (Schriftenreihe der Bezirksheimatpflege Schwaben zur Geschichte und Kultur 2), Augsburg 2011. <?page no="22"?> E INFÜHR UNG 23 Feldordnungen, Sicherungsbriefe und Gefangenenverzeichnisse belegen jedoch, dass dieser Krieg nach dem Prinzip des herrschaftlichen Nutzens geführt wurde: Sicherungsbriefe wurden ausgestellt, um Untertanen, Besitz und Rechte des Gegners dem Herzog dienlich zu machen (verschonten allerdings die damit Gesicherten vor Brand, Raub und Verwüstung), Kriegsgefangene waren Austauschobjekte und Druckmittel. Als Resultat am Ende des Krieges ergibt sich aber, dass diese Maßnahmen zum herzoglichen Nutzen nur für wenige Jahre wirksam waren, denn die Gesamtkosten des Krieges hatten die Kasse des reichen Herzogs geleert, sodass der gewonnene Kriegsnutzen auf Dauer nicht gehalten werden konnte. Mit den Wechselbeziehungen zwischen Krieg und Gesellschaft beschäftigt sich O LIVER L ANDOLT und erkennt den eidgenössischen Solddienst als Ursache staatlicher finanzieller Gewinne, aber auch als den Grund gesellschaftlicher Krisen in den Stadt- und Länderorten der Eidgenossenschaft. Das durch auswärtigen Solddienst und eidgenössische Südexpansion um 1500 erworbene militärische Ansehen führte zu Parteienbildungen in Städte- und Länderorten, die die Gesellschaft spalteten, vor allem in die Franzosenfreunde und die Kaiseranhänger. Andererseits konnten einige Orte durch das Pensionenwesen - die Geldzahlungen für Söldnerwerbegenehmigungen an Orte und im Soldgeschäft tätige, gesellschaftlich führende Kreise - die Steuerlast erheblich senken und ihre Finanzhaushalte sanieren. Die Missstände im Zusammenhang mit dem Söldnerwesen wie die Korruption durch das Pensionenwesen und die hohen Verluste an Menschenleben in Schlachten und durch Seuchen auf Kriegszügen führten aber auch zu massiver Kritik aus humanistisch-philosophischen Kreisen und aus der reformatorischen pazifistischen Schweizer Täuferbewegung. Ganz anderen Krisenphänomenen und ihrer Bewältigung geht P EER F RIESS nach, der das Verhalten der oberschwäbischen Reichsstädte im Fürstenkrieg 1552 analysiert. Dabei stellt er ein effektives Kommunikationsnetz zwischen den einzelnen Reichsstädten fest, das es ermöglichte, in einer diplomatisch schwierigen Situation 1552 das politische Vorgehen zu harmonisieren. Übergeordnetes Ziel bei allen Aktionen war dabei, die Wahrung und Förderung des gemeinen Nutzens nicht zu gefährden. Als besonders wirksam erwiesen sich dabei Rückgriffe auf republikanische bzw. kommunalistische Mechanismen der direkten Bürgerbeteiligung wie Bürgerbefragungen, Gemeindeversammlungen und Abstimmungen, die den Ratsgremien nicht nur eine breite Entscheidungsbasis ermöglichten, sondern gleichzeitig innerstädtische Spannungen abmilderten, konkurrierende Kräfte ausglichen und ein gezieltes Krisenmanagement ermöglichten, das die Städte letztlich geschickt und relativ unbeschadet den Fürstenkrieg überstehen ließ. Wie ein Krieg, der zunächst mit Schwaben nichts zu tun zu haben scheint, die schwäbischen Lande in mehrfacher Weise betrifft, zeigt R EINHARD B AUMANN in seinem Beitrag. Ihren Krieg gegen die aufständischen Niederlande in den 1570er Jahren führte die spanische Krone auch mit deutschen Soldknechten. Das Regi- <?page no="23"?> REINHARD BAUMANN/ PAUL HOSER 24 ment des schwäbischen Obristen Georg II. von Frundsberg wurde vor allem in Schwaben angeworben. Da die Knechte einige Jahre durch die spanische Wirtschafts- und Staatskrise nur unvollständig, 1577 dann gar nicht mehr bezahlt wurden, streikten sie und rebellierten. Schließlich verlangten sie von ihrem Obristen die Ausstellung von Schuldscheinen und wollten diese ein Jahr später in dessen Herrschaft Mindelheim einlösen. Dabei schienen sie auch vor Gewalt nicht zurückzuschrecken. Nach einem Gefecht in Mittelschwaben gegen Truppen des Schwäbischen Reichskreises gingen die Knechte aber nicht auseinander, sondern wählten einen Ausschuss, der schließlich vors Reichskammergericht zog. Der Ausgang des Prozesses ist nicht überliefert. Es handelt sich um einen besonders harten und zähen Arbeitskampf zwischen mehrheitlich schwäbischen Söldnern und ihrem Kriegsherrn samt dessen Obristen. Zwei Autoren beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit der Reichsstadt Memmingen im Dreißigjährigen Krieg. Zunächst wirft G ERHARD I MMLER den Blick auf zwei Brennpunkte des Krieges: 1630 und 1647. In beiden Jahren befanden sich Besatzungstruppen in der Stadt, dennoch war die Situation jeweils für Rat und Bürgerschaft völlig unterschiedlich. 1630 ging das Leben in der evangelischen Reichsstadt unter der kaiserlichen Besatzung mit dem katholischen Feldherrn Wallenstein im Wesentlichen seinen normalen Gang. Kleinere Einschränkungen nahm die dem Rat gehorsame Bürgerschaft hin, wirtschaftlich brachten die Monate unter dem kaiserlichen Generalissimus sogar Vorteile für mehrere Bürger. Ganz anders war die Situation 1647 unter einer schwedischen Besatzung. Oberschwaben war damals im Vorjahr bereits Kriegsschauplatz gewesen, der Rat verunsichert über den politischen Kurs. Der schwedische Kommandant verhielt sich im Großen und Ganzen korrekt, konnte allerdings mit dem Argument des gemeinsamen Bekenntnisses die Bürgerschaft nicht für ein überzeugtes Engagement bei der Verteidigung der Stadt gewinnen. Einige Belege in den städtischen Quellen weisen vielmehr darauf, dass die Memminger nicht zu religiösen Frontstellungen neigten, sondern immer mehr Frieden als spezifisch christliches Anliegen sahen. Ein nicht unproblematisches Nachspiel des Dreißigjährigen Krieges in Memmingen führt M ICHAEL K AISER in seinem Beitrag vor, indem er erstmals die Abdankung eines bayerischen Regiments nach dem Westfälischen Frieden gründlich untersucht. Das Regiment Winterscheid lag 1649 noch als kurbayerische Besatzung in der Stadt und sollte abgedankt werden. Dem Kriegs- und Soldherrn Kurfürst Maximilian I. von Bayern war an einer raschen, für ihn kostensparenden Lösung gelegen, den Söldnern an einer korrekten Auszahlung des üblichen, vereinbarten Abdankungssoldes. Zwischen den Söldnern und dem Kriegsherrn stand der Obrist des Regiments, Generalwachtmeister Johann von Winterscheid. Für die einzelnen Beteiligten - für die Kriegsknechte des Regiments, seine Offiziere, die Kommissäre der Bayerischen Militärverwaltung und den Kriegsherrn - bemühte er sich um eine akzeptable Lösung und wurde durch sein geschicktes Handeln seinen Söldnern <?page no="24"?> E INFÜHR UNG 25 zum verehrungswürdigen Patron. Die Memminger Bürgerschaft war ihm zu Dank verpflichtet, hatte er doch eine nicht mehr zu kontrollierende Meuterei verhindert und so dafür gesorgt, dass mit einem friedlichen Ende der Besatzungszeit die Stadt künftig wieder selbstverantwortlich als Reichsstadt handeln konnte. W OLFGANG W ÜST betrachtet eine von dem Archivar des Benediktinerklosters Elchingen seit 1785 verfasste Chronik. Die in unmittelbare Nähe des Klosters sich abspielende Schlacht vom 14. Oktober 1805 führte zur vollständigen Niederlage des österreichischen Heeres. Darauf nimmt die Chronik offenbar keinen direkten Bezug, doch spiegelt sich in ihr schon 1797 die Furcht vor einem neuen Franzoseneinfall mit einer erneuten Ausplünderung der Region. 41 G ERHARD H ETZER befasst sich mit der unerforschten Geschichte der Militärseelsorge in Bayern und berücksichtigt auch die Zeit des bayerischen Königtums in Griechenland. Das größte Problem stellte dabei die sehr dogmatische Haltung Ludwigs I. in der Frage des Verhältnisses der beiden großen Konfessionen dar. Ähnlich starr war die Haltung des Erzbischöflichen Ordinariats in München. Auch später war die Frage gemeinsamer Zeremonien ein Konfliktstoff. Hetzers Studie zieht einen Vergleich zu den Verhältnissen in Preußen, in Württemberg im Habsburgerreich und in der Schweiz. Preußen hatte als erstes Land eine hauptberufliche Militärgeistlichkeit. Die unklare Stellung der Geistlichen beim Militär in Bayern warf in den Kriegen von 1866 und 1870/ 71 Probleme auf, nicht zuletzt in der Frage der Kompetenzen, die die Offiziere ihnen gegenüber. Im Ersten Weltkrieg wuchs die Zahl der Militärgeistlichen in Bayern erheblich an. In jüngerer Zeit ist zudem die Rolle der Feldrabbiner näher beleuchtet worden. 42 P AUL H OSER beschreibt in seinem Beitrag die Rahmenbedingungen der Presse Bayerisch-Schwabens im Ersten Weltkrieg. Beleuchtet werden ausgewählte Zeitungen verschiedener politischer Richtungen und unterschiedlicher Reichweite. Alle verkündeten sie bis zum Schluss Siegeszuversicht. Die Zensur ließ der Kritik an inneren Missständen durchaus freien Raum. Das zentrale Problem war die schlechte Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, insbesondere in den Städten. Kritisiert wurden die mangelhafte Organisation der Verteilung durch die Behörden. Außerdem prangerte man immer wieder Spekulanten an, die die Notlage ausnutzten, um Gewinne einzustreichen. Die schärfste Kritik kam von dem einzigen Blatt der Sozialdemokraten, der ›Schwäbischen Volkszeitung‹ in Augsburg, während sich liberale und Zentrumszeitungen bisweilen auf die Seite der Magistrate stellten, in denen ja auch Vertreter ihrer politischen Richtungen saßen. Allerdings waren auch diese Zeitungen nicht immer Parteigänger der Behörden, besonders, 41 Zur Bedeutung der Klosterchroniken als Quellen für die Kriegsereignisse U. P LANERT , Mythos (Anm. 20), S. 46f. 42 S ABINE H ANK / H ERMANN S IMON / U WE H ANK (Hg.), Feldrabbiner in den deutschen Streitkräften des Ersten Weltkrieges (Schriftenreihe des Centrum Judaicum 7), Berlin 2013. <?page no="25"?> REINHARD BAUMANN/ PAUL HOSER 26 wenn es um die Interessen der Bauern als Produzenten ging. Polemisiert wurde gegen Städter, die in Scharen zum Lebensmittelhamstern aufs Land kamen. Anders als in Oberbayern waren dabei aber antisemitische Untertöne sehr selten. E LISABETH P LÖSSL rückt die ganz und gar sich der siegestrunkenen und hurrapatriotischen Publizistik, wie sie in Schwaben etwa von Ludwig Ganghofer verkörpert wurde, entgegenstemmenden Antikriegsgedichte Hedwig Lachmanns in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die in Hürben bei Krumbach aufgewachsene Schriftstellerin und Übersetzerin veröffentlichte Gedichte gegen den Krieg, die gegenüber der riesigen Flut kriegsverherrlichender Lyrik allerdings keine Chance hatten, Gehör zu finden. Sie starb selbst am 21. Februar 1918 als Opfer der Grippewelle dieses Winters. Der Erste Weltkrieg brachte in großem Maß die Mobilisierung von Frauen als Arbeitskräfte und als Personal in der Kranken- und Verwundetenpflege mit sich. C HRISTA H ÄMMERLE schildert das Schicksal Agathe Fesslers, die die moderne Sozialarbeit in Vorarlberg begründete. Sie hatte Sanitätskurse absolviert, sich für den Kriegsfall beim Roten Kreuz verpflichtet und war an allen österreichischen Fronten tätig. Neben Krankenpflegerinnen aus Adel und Bürgertum wurden auch Ordensschwestern eingesetzt. Für die Verwundeten bedeuteten die Krankenpflegerinnen vielfach eine Verbindung von der Front zur Heimat. Neben Agathe Fessler hinterließ auch Maria Pöll-Naepflin Aufzeichnungen. Sie stammte wie andere Krankenpflegerinnen aus der neutralen Schweiz. Alle kriegführenden Staaten warben um Schweizer Krankenschwestern. Für beide Frauen bedeutete die Kriegstätigkeit eine extreme psychische Belastung. Im Zweiten Weltkrieg erfuhr die Kriegstechnik einen enormen Schub. T HOMAS A LBRICHS Gegenstand ist der Bau von Hubschraubern für Kriegszwecke. Dr. Heinrich Focke, einer der Pioniere des Flugzeugbaus in Deutschland, trieb die Entwicklung des Hubschraubers voran. 1936 erhielt er den Auftrag für die Entwicklung eines großen Helikopters. Er sollte der Nahaufklärung, aber auch dem Lastentransport in unwegsames Gelände und der U-Boot-Bekämpfung dienen können. März 1940 war der Prototyp erstmals flugtauglich. Als wendiger und stabiler erwies sich eine von der Konkurrenzfirma Flettner entwickelte Maschine. Nach erheblichen Bombenschäden im Juni 1942 wurde die Produktion des Focke-Hubschraubers von Hoyenkamp bei Delmenhorst nach Laupheim in Baden-Württemberg verlegt. Erst Anfang 1943 konnte die Produktion anlaufen. Im Juni 1943 stellte Focke Hitler den Hubschrauber auf dem Berghof vor. Es mangelte aber an Kapazitäten, um die Herstellung voranzutreiben. Im Juli 1944 richteten überdies zwei Bombenangriffe auf Laupheim erhebliche Schäden an. Im September und Oktober 1944 startete man Erprobungsflüge im Raum Mittenwald. Es gab allerdings so gut wie keine geeigneten Landeplätze im Hochgebirge. Auch technisch waren die Maschinen noch nicht ausgereift. Dennoch war man mit dem Ergebnis zufrieden. So hatte man etwa den Transport von Geschützen demonst- <?page no="26"?> E INFÜHR UNG 27 rieren können. Am 11. November wurde jedoch ein Großteil des für die Hubschrauberentwicklung eingesetzten Personals auf Befehl Hitlers zugunsten der Herstellung des Düsenjägers Me 262 abgezogen. Im Februar 1945 wurde die Produktion der Hubschrauber, nachdem man schließlich noch das Flettner-Werk nach Bad Tölz verlegt hatte, endgültig eingestellt. Die noch aufgestellte Hubschraubstaffel spielte keine Rolle mehr. V ERONIKA D IEM zeichnet die in letzter Stunde unternommenen Versuche nach, die Herrschaft der Nationalsozialisten auszuschalten und weitere sinnlose Kämpfe zu unterbinden. Im schwäbischen Memmingen konnte der Oberbürgermeister im Zusammenwirken mit örtlichen Bürgern eine kampflose Übergabe der Stadt an die amerikanischen Truppen zustande bringen. In Oberstdorf organisierte sich ein Heimatschutz, der die wichtigsten Gebäude besetzte und die örtlichen Nationalsozialisten verhaftete. Nach der Besetzung durch französische Einheiten fungierten Angehörige dieses Heimatschutzes übergangsweise als Ordnungskräfte. In Augsburg bildete sich eine ›Deutsche Freiheitsbewegung‹, die eine kampflose Übergabe der Stadt forderte. Sie unterstützte die amerikanischen Truppen bei der Festnahme des bis zum letzten entschlossenen Kampfkommandanten. Blutig scheiterte dagegen der Versuch der Freiheitsaktion Bayern, im letzten Moment den Nationalsozialisten die Macht zu entreißen, der auch in einer Reihe von Orten im oberbayerischen Raum südlich von München schlimme Auswirkungen hatte. Bisher hat man bei der Betrachtung des nationalsozialistischen Terrors den Blick vor allem auf SS-Einheiten gerichtet. In München spielte allerdings auch der Volkssturm eine grausame Rolle; dazu kam die Haltung des fanatischen Kampfkommandanten. Die Rolle der Wehrmachtsoffiziere in diesen Funktionen ist bisher noch kaum untersucht, oft sind nicht einmal ihre Namen bekannt und schwer zu ermitteln. Im letzten Beitrag des Bandes beschäftigt sich M ICHAEL B AUMANN mit der Entwicklung des Krieges in der Fantasyliteratur. Ausgehend von dem Bild ›Der Berggeist‹ des Memminger Malers Joseph Madlener 1935, das das Aussehen des Zauberers Gandalf in den Fantasyromanen ›Der Kleine Hobbit‹ und ›Der Herr der Ringe‹ des britischen Mythopoeten J. R. R. Tolkien maßgeblich beeinflusste, stellt der Literaturwissenschaftler fest, dass diese Literatur, entstanden zwischen zwei Weltkriegen, als Epos von Krieg, Schlachten und kühnen Helden erzählt, dabei allerdings propagandistischer Geschichtsschreibung entspricht, die sinnloses Massensterben als Heldentod verklärt. Inzwischen hat sich die Fantasyliteratur verändert. Neben anderen Romanen ist es vor allem George R. Martins ›A Song of Ice and Fire‹, Grundlage der TV-Serie ›Game of Thrones‹, in dem nicht mehr verherrlichend von heldenhafter Schlacht, sondern realistisch von blutigem Schlachten berichtet wird. <?page no="28"?> 29 N IKLAS K ONZEN »Der größte Wüterich im deutschen Land«: Hans von Rechberg, die Reichsstadt Memmingen und der Zerfall des schwäbischen Städtebundes Im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts verfasste der Memminger Bürger Erhard Wintergerst († 1471) eine Stadtchronik, die heute eine der wertvollsten Quellen zur spätmittelalterlichen Geschichte Memmingens ist. 1 Darin thematisiert Wintergerst die Bedrohung seiner Heimatstadt durch Auseinandersetzungen mit verfeindeten Adligen, die ihn als wehrpflichtigen Bürger ganz unmittelbar betraf. In den 1440er Jahren kämpfte Wintergerst selbst im Memminger Kontingent eines Belagerungsheeres des schwäbischen Städtebundes, das eine Reihe von Adelsburgen im Bodenseeraum zerstörte. 2 Unter den Gegnern des Städtebundes war damals ein schwäbischer Niederadliger namens Hans von Rechberg von Hohenrechberg, der sich in den folgenden zwei Jahrzehnten zu einer Führungsfigur der Städtefeinde im südwestdeutschen Adel aufschwang. Über ihn schrieb Wintergerst anlässlich von Rechbergs Tod bei einer Belagerung im November 1464: An Sanct Martins tag ward Hans von Rechberg erschossen, es teths ein baur. Er ist der gröst wüetrich gewessen, als bey unsserem gedencken keiner gewessen, im Teütschland. Er hat alweg krieg, er hatt vill schlösser verloren, hat unsäcklich vill menschen umbgebracht und mörderey gestifft mit stäth einnemen, er hat vill armer leytt gemacht mit brenen und rauben. […] Der baur wer zuo krönen, der Hanssen von Rechberg erschossen. 3 Wintergersts grimmiger Nachruf reflektiert die lange und konfliktreiche Beziehung Rechbergs zu den schwäbischen Reichsstädten und speziell zur Reichsstadt Memmingen, die im Folgenden thematisiert wird. Der Fokus liegt dabei auf den Kriegsereignissen in der Region, insbesondere den Mobilisierungsstrategien des schwäbischen Städtebundes einerseits und adliger Fehdebündnisse andererseits sowie dem Feldzug der oberschwäbischen Reichsstädte gegen die Ruggburg im November 1452. 1 P ETER J OHANEK , Wintergerst, Erhard, in: Verfasserlexikon 10 (1999), Sp. 1231-1234. 2 Memminger Chronik von Erhard Wintergerst und Johannes Kimpel (hier zitiert nach der Handschrift Wissenschaftliche Stadtbibliothek Memmingen 4° 2, 19), S. 28f. Vgl. Zitat unten. 3 E. W INTERGERST , Chronik (Anm. 2), S. 114f. <?page no="29"?> N IKLA S K ONZEN 30 1. Hans von Rechberg, Fehdeführer und Städtefeind Memmingens langjähriger Widersacher Hans von Rechberg stammte aus einem weitverzweigten Ministerialengeschlecht, das seinen Stammsitz bei Göppingen hatte. Seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert hatte es immer wieder Familienmitglieder gegeben, die wegen ihrer Nähe zu Königen und Kaisern prominent waren, etwa als Reichslandvögte. Andere waren zu Bischöfen gewählt worden und so in den geistlichen Reichsfürstenstand aufgestiegen. Vor allem aber hatten die Rechberger immer wieder prestigeträchtige Eheverbindungen in den Hochadel geschlossen. So waren Hans von Rechbergs Bruder Albrecht Bischof von Eichstätt und sein Sohn Fürstpropst zu Ellwangen, also beides geistliche Reichsfürsten; Hans selbst war Enkel einer Gräfin von Veringen, Sohn einer Gräfin von Helfenstein und Ehemann einer Gräfin von Werdenberg-Sargans. 4 Während die Herren von Rechberg damit im 15. Jahrhundert insgesamt zu den besser begüterten und einflussreichen Familien des Niederadels zählten, hatten jedoch viele der mit ihnen versippten Geschlechter des hohen Adels um diese Zeit schon einen langen Abstieg hinter sich, darunter Grafen und Edelfreie, die im 13. und 14. Jahrhundert noch über beachtliche Herrschaftsbereiche verfügt hatten. Die Grafen von Veringen waren um 1415 ausgestorben, nachdem der letzte von ihnen 1408 die ihm verbliebenen Herrschaftsrechte auf der Zollernalb seinem Neffen Heinrich von Rechberg, dem Vater von Hans, vermacht hatte. 5 Die Grafen von Helfenstein und die von Werdenberg-Sargans kämpften im 15. Jahrhundert mühsam gegen den Verlust der letzten Reste ihrer ehemals beachtlichen herrschaftlichen Besitzungen. 6 Hans von Rechberg hat sich sicherlich ein Stück weit mit diesen Grafenfamilien identifiziert und sich dort zugehörig gefühlt. Vielleicht ist einer der Gründe für seine ausgeprägte Abneigung gegen die Reichsstädte hierin zu suchen: Für einen Adligen, in 4 Zu den verwandtschaftlichen und politischen Verbindungen der Rechberger im Spätmittelalter N IKLAS K ONZEN , Aller Welt Feind. Fehdenetzwerke um Hans von Rechberg († 1464) im Kontext der südwestdeutschen Territorienbildung (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen 194), Stuttgart 2014, S. 65-70, 83-85. 5 S EBASTIAN L OCHER , Regesten zur Geschichte der Grafen von Veringen, Sigmaringen 1872, S. 169-172 (zum Erbe der Veringer), 178f. (zum Todesjahr des letzten Veringers, Graf Wölfli von Veringen). 6 Zur Situation der Grafen von Helfenstein N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 261, 320-336. Zu den Grafen von Werdenberg-Sargans im 15. Jahrhundert P ETER L IVER , Graf Jörg von Werdenberg-Sargans, 1424-1504, in: Bedeutende Bündner, Chur 1970, S. 9-23, hier 18-22; R OGER S ABLONIER , Politik und Staatlichkeit im spätmittelalterlichen Rätien, in: J ÜRG S IMONETT / R OGER S ABLONIER (Hg.), Handbuch der Bündner Geschichte, Teil 1: Frühzeit bis Mittelalter, Chur 2000, S. 245-294, hier 260, 266; N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 265, 361-367. <?page no="30"?> R EC HBER G , M EMMINGEN U ND DER Z ER F ALL DE S S TÄDTE BU NDE S 31 dessen Augen nur die eigenen Verwandten und deren Standesgenossen zum Herrschen befugt waren, musste es besonders unerträglich sein zu sehen, wie die von ›Bauern‹ regierten Reichsstädte nach und nach den früheren Besitz dieser Verwandtschaft ihren Territorien einverleibten, wie es die Reichsstadt Ulm mit den Besitzungen der Grafen von Helfenstein machte, Hans von Rechbergs Cousins. 7 Wintergersts Aussage Er hat allweg Krieg ist bezogen auf Rechberg kaum eine Übertreibung, denn dieser beteiligte sich ab den späten 1430er Jahren bis zu seinem Tod fast kontinuierlich an gewaltsamen Auseinandersetzungen. Dabei bewegte er sich in einer Grauzone zwischen besoldetem Kriegsdienst für benachbarte Fürsten, eigenständiger Fehdeführung und organisierter Kriminalität. 8 Entscheidend dabei war seine Instrumentalisierung des Fehderechts: Im spätmittelalterlichen Landfriedensrecht war die Fehde theoretisch als eigenmächtige Selbstjustiz das letzte Mittel einer in ihren Rechten verletzten Person, die bei ihrer Gegenpartei keine Sühne oder Wiedergutmachung erreichen konnte, weil diese sich gegen eine gerichtliche Konfliktbearbeitung sperrte oder ein gerichtliches Urteil gegen sie nicht durchgesetzt werden konnte. In diesem Fall durfte der Geschädigte seinen Widersacher selbst mit Gewalt schädigen, um eine weitere Entwicklung des Konflikts in seinem Sinne zu erreichen. Dabei war er jedoch verpflichtet, seine Absicht zur Fehde der Gegenpartei drei Tage im Voraus durch einen Fehdebrief anzukündigen. In der Praxis war es allerdings recht einfach, dieses Fehderecht zu missbrauchen, um Gewalttaten beliebig zu rechtfertigen: Ein Fehdegrund ließ sich entweder konstruieren, oder aber der Fehdewillige suchte sich jemand, der tatsächlich durch den jeweiligen Gegner geschädigt worden war, und agierte in dessen Namen als dessen Helfer. 9 Für Hans von Rechbergs Fehden waren vor allem zwei Dinge charakteristisch: Erstens trat er immer als Helfer einer anderen Person auf und zeigte wenig persönliches Interesse an den Rechtsansprüchen der Männer, die er als Fehdehelfer unterstützte. Zweitens verstieß er oft gegen die Regel, der Gegenpartei vor Beginn der Feindseligkeiten einen Fehdebrief zu schicken. Durch diesen kalkulierten Regelverstoß verschaffte er sich den taktischen Vorteil des Überraschungs- 7 N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 320-336, sowie zu Rechbergs Städetefeindlichkeit S. 217, 225-237. 8 Siehe Überblick zu Rechbergs Beteiligung an Kriegen, fehderechtlich begründeten oder auch unlegitimierten Gewalttaten zwischen 1431 und 1464 in N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 99-215. 9 Vgl. C HRISTINE R EINLE , Legitimation und Delegitimierung von Fehden in juristischen und theologischen Diskursen des Spätmittelalters, in: G ISELA N AEGLE (Hg.), Frieden schaffen und sich verteidigen im Spätmittelalter (Pariser Historische Studien 98), München 2012, S. 83-120; N IKLAS K ONZEN , Legitimation des Angreifers, Fahndungshilfe des Verteidigers: Fehdebriefe in südwestdeutschen Adelsfehden des 15. Jahrhunderts, in: P ETER R ÜCKERT / N ICOLE B ICKHOFF / M ARC M ERSIOWSKY , Briefe aus dem Spätmittelalter: Herrschaftliche Korrespondenz im deutschen Südwesten, Stuttgart 2015, S. 105-126. <?page no="31"?> N IKLA S K ONZEN 32 angriffs und konnte trotzdem meistens erreichen, dass er als Fehdeführender und nicht als Krimineller behandelt wurde. 10 Rechbergs städtefeindliche Haltung und seine Instrumentalisierung des Fehderechts zeigten sich in einer Serie von Fehden gegen die schwäbischen Reichsstädte. Vordergründige Konfliktursachen waren hierbei häufig Nachbarschaftsstreitigkeiten, die beispielsweise aus der Expansion städtischen Territoriums auf Kosten benachbarter Adliger entstanden, als deren Helfer Rechberg in Erscheinung trat. Konfliktbegleitend verbreitete Rechberg immer wieder Vorwürfe, die Reichsstädte verfolgten die Absicht, den Adel zu vertreiben oder zu ermorden und sich selbst zu Herrschern aufzuschwingen. Damit zielte er offensichtlich darauf ab, eine möglichst große Koalition gleichgesinnter Adliger zu mobilisieren sowie zugleich die Fürsten ideologisch zu vereinnahmen und ständeübergreifende Bündnisse zu verhindern. 11 2. Hans von Rechberg, Memmingen und der schwäbische Städtebund Dieses antistädtische Feindbild richtete sich vor allem gegen die großen Bündnissysteme nichtadliger Herrschaftsträger im südwestdeutschen Raum, insbesondere die Eidgenossenschaft und den schwäbischen Städtebund, dem die Reichsstadt Memmingen von Anfang an angehört hatte. Die ›Gemeinen Reichsstädte der Vereinigung in Schwaben‹, wie sich der Städtebund selbst nannte, waren ein militärisches Bündnis reichsunmittelbarer Städte, die sich zur gegenseitigen Hilfeleistung im Verteidigungsfall verpflichteten. Über das Bündnis schlossen die beteiligten Städte befristete Verträge, die etwa alle drei Jahre erneuert werden mussten. Gemeinsames Gremium des Bundes war die Bundesversammlung, die sich aus den Gesandten der Mitgliedsstädte zusammensetzte. Die Bundesversammlung wurde anlassbezogen einberufen und tagte üblicherweise in Ulm, das als ›Vorort‹ des Städtebundes eine koordinierende Rolle einnahm. Sie entschied unter anderem über militärische Hilfsgesuche von Mitgliedsstädten und schlichtete Konflikte zwischen Mitgliedern. Die finanziellen Verpflichtungen der Mitglieder bei gemeinsamen Unternehmungen waren durch einen festen Schlüssel definiert, der sich an der Größe und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientierte. Memmingen, eine der mittelgroßen Städte des Bundes, gehörte mit einigen anderen Allgäustädten, Ulm und Rottweil zu den frühesten und dauerhaftesten Mitgliedern. 12 10 Wie Anm. 7. 11 N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 217, 225-237, 399-402. 12 Siehe den detaillierten Überblick zur Organisationsstruktur des Städtebundes, zu seiner Vorgeschichte und seinen Mitgliedern bis 1445 bei H ARRO B LEZINGER , Der schwäbische <?page no="32"?> R EC HBER G , M EMMINGEN U ND DER Z ER F ALL DE S S TÄDTE BU NDE S 33 Es waren die daraus erwachsenden Bündnisverpflichtungen der Reichsstadt Memmingen, die ihren Chronisten Erhard Wintergerst 1442 als Teilnehmer in einen Straffeldzug des Bundes gegen Adelsburgen am Bodensee führten. Aus Memmingen brachen in der Palmwoche 20 Reiter und 24 Knechte auf, die sich in Überlingen mit den übrigen reichsstädtischen Kontingenten vereinigten. Wintergerst erwähnt seine eigene Anwesenheit bei der Schilderung eines Angriffs auf das Städtchen Tengen im Hegau: Da ward einer von Ulm erschossen auff der bruggen, zwischen Caspar Schmelczen und Erhardt Wintergerst von Memingen. 13 In dieser Auseinandersetzung hatte sich zuvor Hans von Rechberg zum ersten Mal offen auf die Seite der Städtefeinde gestellt, als er gemeinsam mit 38 anderen zumeist adligen Personen am 24. Mai 1441 seinen Namen unter einen Fehdebrief an Ulm und dessen Verbündete gesetzt hatte. Der Absage war ein spektakulärer Raubüberfall auf dem Bodensee vorausgegangen, bei dem die im Brief genannten Adligen mehrere Schiffe aufgebracht hatten, auf denen Kaufleute aus Ulm, Konstanz und anderen Städten von der Genfer Frühjahrsmesse zurückreisten. Die Täter rechtfertigten sich in ihrem Fehdebrief damit, dass sie Helfer der Herren von Heimenhofen seien, die ihrerseits kurze Zeit zuvor eine Fehde gegen die Reichsstadt Kempten begonnen hatten. Da Kempten dem Städtebund angehörte, richtete sich die Feindschaft auch gegen alle übrigen Städte des Bundes. Nach dem erwähnten Straffeldzug der Städte gelang es König Friedrich III. im November 1442, einen Frieden zwischen dem Städtebund und den meisten adligen Städtefeinden zu schließen, dem sich auch Rechberg anschloss. 14 In den folgenden Jahren trat er nicht offen als Feind des Städtebunds in Erscheinung, da er als Parteigänger Österreichs die Eidgenossenschaft bekämpfte. Er hielt jedoch die Verbindung zu Adligen aufrecht, die weiter Fehde gegen die Städte kämpften und zugleich seine Verbündeten in seiner Auseinandersetzung mit den Eidgenossen waren, und gewährte einigen Städtefeinden heimlich Unterschlupf in seinen Burgen. Daraus erwuchs 1446 ein Rechtsstreit als die Reichsstadt Schaffhausen - ebenfalls ein Mitglied des Städtebundes - Rechbergs Burg Neusunthausen im Hegau zerstörte, weil zwei andere Adlige die Burg als Stützpunkt für ihre Fehde gegen Schaffhausen benutzt hatten. 15 Städtebund in den Jahren 1438-1445 (Darstellungen aus der württembergischen Geschichte 39), Stuttgart 1954, S. 3-5, 8-20. 13 E. W INTERGERST , Chronik (Anm. 2), S. 28f. 14 H. B LEZINGER , Städtebund (Anm. 12), S. 70f; T HOMAS M AROLF , »Er war allenthalb im spil«. Hans von Rechberg, das Fehdeunternehmertum und der Alte Zürichkrieg, Menziken 2006, S. 118, sowie S. L OCHER , Regesten (Anm. 5), S. 257: 1441 Mai 24, und S. 258: 1441 Aug. 10; N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 118-121; vgl. Auszüge aus den Chroniken der Konstanzer Gregor Mangold und Christoph Schultheiss sowie Wintergersts in S IGMUND R IEZLER (Bearb.), Fürstenbergisches Urkundenbuch 6, Tübingen 1889, Nr. 230, S. 368-372. 15 N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 135-140. <?page no="33"?> N IKLA S K ONZEN 34 Diese Ereignisse vollzogen sich vor dem Hintergrund einer reichspolitischen Polarisierung zwischen Fürsten und Adligen auf der einen und den Reichsstädten auf der anderen Seite, die sich ab ca. 1440 zunehmend verschärfte. Neben grundsätzlichen Differenzen über die Reform der Reichsverfassung trugen eine Reihe regionaler Konflikte zwischen Fürsten und Städten zu dieser Polarisierung bei: So stritt beispielsweise Württemberg mit Esslingen über Zollrechte am Neckar, und Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach versuchte die fränkischen Reichsstädte seinem Nürnberger Burggrafengericht zu unterwerfen. 1446 schlossen sich die städtefeindlichen Fürsten im Mergentheimer Bund zusammen. 16 Im gleichen Jahr erreichte der schwäbische Städtebund auf der anderen Seite mit 31 Mitgliedern seine größte Ausdehnung. 17 Nachdem sich so die beiden gegnerischen Bündnisse formiert hatten, kulminierten die Differenzen schließlich 1449 im süddeutschen Städtekrieg, in dem Hans von Rechberg einmal mehr als Fehdehelfer Österreichs, Württembergs und Brandenburgs und als Gegner der Reichsstädte in Erscheinung trat. König Friedrich III. gelang es zwar am 22. Juni 1450, auch hier einen Frieden zu vermitteln. Die Konflikte zwischen individuellen Fürsten und Städten waren damit allerdings nicht gelöst, sondern wurden auf schiedsgerichtlicher Ebene weiterverhandelt. 18 Vor diesem Hintergrund eines brüchigen Friedens zwischen Fürsten und Städten begann Hans von Rechberg eine neue Fehde gegen den Städtebund. 3. Der Beginn der Eisenburg-Fehde Ein Jahr nach Ende des Städtekriegs erhob ein Adliger aus der Memminger Nachbarschaft, Heinrich von Eisenburg, Klage gegen die Reichsstadt Ulm. Heinrich stammte aus einer Familie, die vormals im Memminger Umland über umfangreichen herrschaftlichen Besitz verfügt hatte. Dieser Besitz war jedoch um die Mitte des 15. Jahrhunderts bereits weitgehend verloren gegangen: Sein Vater Veit und 16 Vgl. G ABRIEL Z EILINGER , Lebensformen im Krieg. Eine Alltags- und Erfahrungsgeschichte des süddeutschen Städtekrieges 1449/ 50 (VSWG Beihefte 196), Stuttgart 2007, S. 25-28. 17 Regesten der Bündnisverträge bis 1448 bei H. B LEZINGER , Städtebund (Anm. 12), S. 135f. 18 Zu Vorgeschichte und Verlauf des Städtekriegs G. Z EILINGER , Lebensformen (Anm. 16), S. 25-36, sowie T HOMAS F RITZ , Ulrich der Vielgeliebte - ein Württemberger im Herbst des Mittelalters. Zur Geschichte der württembergischem Politik im Spannungsfeld zwischen Hausmacht, Region und Reich (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 25), Leinfelden-Echterdingen 1999, S. 80-103; zu den schiedsgerichtlichen Verhandlungen nach der Bamberger Richtung auch C HRISTINE R EINLE , Ulrich Riederer (ca. 1406-1462). Gelehrter Rat im Dienste Kaiser Friedrichs III. (Mannheimer Historische Forschungen 2), Mannheim 1993, S. 389. Zu Rechbergs Beteiligung N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 163f. <?page no="34"?> R EC HBER G , M EMMINGEN U ND DER Z ER F ALL DE S S TÄDTE BU NDE S 35 dessen Bruder Heinrich d. Ä. hatten zwischen 1438 und 1448 unter dem Druck eines Zwangspfändungsurteils des Memminger Stadtgerichts Teile ihrer Herrschaftsrechte an das Memminger Spital oder einzelne Memminger Bürger verkauft; 1455 wurden die letzten Reste der Herrschaft Eisenburg veräußert. 19 Peter Blickle schrieb über dieses Geschlecht daher, es habe »unter dem Druck des aufstrebenden reichsstädtischen Bürgertums […] die totale Zersplitterung und Auflösung seiner Herrschaft und seine politische Entmündigung erfahren« 20 müssen. Diese Erfahrung dürfte die Eisenburger für eine städtefeindliche Geschichtsdeutung in Rechbergs Sinn empfänglich gemacht haben. Tatsächlich präsentierte sich Heinrich der Jüngere von Eisenburg in seiner Korrespondenz mit Ulm als Opfer reichsstädtischer Machenschaften zur Vertreibung des Adels. Seine Klage gegenüber Ulm ging auf Ereignisse zurück, die sich während der Heimenhofen- Fehde abgespielt hatten: Nachdem Heinrichs Vater und Onkel, Veit und Heinrich d. Ä. von Eisenburg, im Mai 1441 einen Ulmer Bürger entführt hatten, zog die Reichsstadt Ulm mit einem Belagerungsheer vor die Eisenburg und nahm sie ein. Der genaue Verlauf ist unklar, am Ende besiegelten die beiden Eisenburger jedoch für sich und den noch unmündigen Heinrich d. J. eine Aussöhnung mit Ulm. Nun, zehn Jahre später, forderte Heinrich d. J. von Ulm eine Entschädigung wegen des Ulmer Feldzugs, ungeachtet des Aussöhnungsbriefs. Ulm lehnte entschieden ab. 21 Daraufhin eröffnete Eisenburg die Feindseligkeiten mit dem Städtebund, indem er ohne Vorwarnung eine Gruppe von Kaufleuten überfiel, die unter anderem aus Ulm und Ravensburg stammten. Die Kaufleute verschleppte er auf Hans von Rechbergs Burg Ramstein im Schwarzwald. Ulm fand daher bald heraus, dass Heinrich von Eisenburg nur als Strohmann für Hans von Rechberg agierte, der den Konflikt erst aus dem Hintergrund, dann zunehmend offen steuerte. Erst nach dem Überfall schickten Eisenburg und Rechberg am 4. (Eisenburg) bzw. 17. (Rechberg) Oktober 1451 ihre Fehdebriefe. 22 Aus Sicht des Städtebundes kam der Angriff zu einem delikaten Zeitpunkt. Die Städte befürchteten einen Wiederausbruch der erst vor einem Jahr befriedeten Auseinandersetzungen mit den süddeutschen Fürsten. Rechberg scheint auch auf eine solche Entwicklung abgezielt zu haben: So rief er am 3. Juli 1453 die bei einem Fürstentag in Worms versammelten Mitglieder des Mergentheimer Bundes zu Maßnahmen gegen die Städte auf, und es gelang ihm mittelfristig, die politische 19 P ETER B LICKLE , Memmingen (HAB, Teil Schwaben 4), München 1967, S. 224-227; N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 243-245, 260f. 20 P. B LICKLE , Memmingen (Anm. 19), S. 225. 21 N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 166, 225f. 22 Fehdebriefe überliefert in StadtA Ulm, A 1117, Nr. 3, 5. Vgl. N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 166. <?page no="35"?> N IKLA S K ONZEN 36 Unterstützung des Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach zu gewinnen. 23 Überdies standen die angegriffenen Städte vor dem Problem, dass der Städtebund nach der Beendigung des Krieges von 1449/ 50 in Auflösung begriffen war: Allgemeine Kriegsmüdigkeit und anhaltende Streitereien um die Lastenaufteilung führten dazu, dass die meisten Städte sich vom Bund distanzierten. Für die Zeit nach dem 23. April 1452, als der letzte bekannte Bündnisvertrag auslief, sind keine weiteren Bündnisverlängerungen überliefert. An einem Bündnisvertrag mit der Kurpfalz vom 13. Dezember 1451 beteiligten sich nur noch Ulm, Reutlingen, Kempten, Giengen und Aalen. 24 Eigentlich wären die Mitglieder des auslaufenden Bundes trotzdem zur Waffenhilfe gegen Rechberg verpflichtet gewesen, da die Fehde bereits ein halbes Jahr vor Auslaufen des Vertrags begonnen hatte. 25 Wohl aus diesem Grund wurden die Bündnisinstitutionen, insbesondere die Bundesversammlung, auch weiterhin von Seiten Ulms aufrechterhalten. Die meisten der 31 Reichsstädte verweigerten sich jedoch den Ladungen Ulms. An den Auseinandersetzungen mit Rechberg und dessen Verbündeten beteiligten sich außer Ulm nur noch eine Reihe von Reichsstädten in Oberschwaben und im Allgäu, darunter Memmingen, sowie Rottweil und Schaffhausen, die an der Bekämpfung Rechbergs besonders interessiert waren. Angesichts dieser Situation versuchten Ulm und seine Verbündeten eine bewaffnete Auseinandersetzung zunächst zu vermeiden. Einerseits sandten die Ulmer zahlreiche Sendschreiben an andere Städte, aber auch an benachbarte Fürsten, um sie über die Ereignisse zu informieren, Hans von Rechberg ins Unrecht und jeden möglichen Unterstützer der Adligen unter Rechtfertigungsdruck zu setzen. Andererseits unternahmen sie eine Reihe von Verhandlungsinitiativen, die jedoch früher oder später ins Leere liefen. 26 23 Zum Fürstentag in Worms N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 232-234; zu Rechbergs Verhältnis zu Markgraf Albrecht Achilles ebd., S. 173-177, sowie C. R EINLE , Ulrich Riederer (Anm. 18), S. 388-396. 24 T. F RITZ , Ulrich (Anm. 18), S. 112f. 25 HStA Stuttgart, A 602, Nr. 5634, bzw. StA Ludwigsburg, B 189, U 40: Bündnisvertrag 1448 Juni 27. Das Regest dazu bei H. B LEZINGER , Städtebund (Anm. 12), S. 136, ist etwas missverständlich formuliert: Die beteiligten Städte verlängerten ihre Einung nicht nur ab Datum des Briefes »um drei Jahre«, sondern bis zum nächsten Georgstag (1449 April 23) und von da an gerechnet um drei Jahre, also bis 23. April 1452; HStA Stuttgart, A 602, Nr. 5634 bzw. StA Ludwigsburg, B 189, U 40. 26 Darstellung der Ereignisse in N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 166-178. <?page no="36"?> R EC HBER G , M EMMINGEN U ND DER Z ER F ALL DE S S TÄDTE BU NDE S 37 4. Mobilisierung auf adliger Seite In den folgenden drei bis vier Jahren gewannen Rechberg und Eisenburg eine beachtliche Zahl von Fehdehelfern: Die auf reichsstädtischer Seite überlieferten Feindslisten und gegnerischen Fehdebriefe umfassen die Namen von über 300 Personen - Adlige mit ihren Gefolgsleuten - aus weit auseinanderliegenden Regionen. Im Neckartal, am Hochrhein, in Oberschwaben, im Allgäu und im Alpenrheintal mussten reichsstädtische Kaufleute mit Überfällen durch Eisenburgs Helfer und Helfershelfer rechnen. Die Gegner der Reichsstädte waren zahlreich genug, um den reichsstädtischen Handelsverkehr weiträumig zu gefährden, das Umland einzelner Städte systematisch zu verheeren, isolierte Mitglieder des Städtebundes über Wochen hinweg von der Außenwelt abzuschneiden oder sie sogar direkt anzugreifen. Einige der Städtefeinde erklärten sich nicht nur zu Fehdehelfern Eisenburgs oder Rechbergs, sondern führten darüber hinaus eigene Fehden gegen den schwäbischen Städtebund und gaben dabei Beweggründe an, die mit der ideologischen Rahmenerzählung einer angeblichen Vertreibung des Adels konform gehen: Zwei Adlige aus dem Neckargäu beklagten jeweils eine widerrechtliche Einnahme von Burgen aus dem Besitz ihrer Familien durch die Reichsstadt Ulm - in beiden Fällen ist jedoch nachweisbar, dass ein Mitglied der jeweiligen Adelsfamilie im Städtekrieg in Ulms Dienste getreten war und die jeweilige Burg der Reichsstadt geöffnet hatte, sodass von einer widerrechtlichen Inbesitznahme nicht die Rede sein kann. Andere Bundesgenossen Rechbergs führten parallel Fehden gegen völlig andere Konfliktgegner, unter anderem gegen Basel und gegen Bundesgenossen der Kurpfalz. Rechberg revanchierte sich im Gegenzug mit Fehdehandlungen gegen Basel. 27 Die Städtefeinde agierten teils in kleineren Banden, die von festen Stützpunkten aus kürzere Streifzüge in die nähere Umgebung unternahmen. Bei einigen Gelegenheiten sammelten die adligen Anführer des städtefeindlichen Bündnisses ihre Gefolgsleute auch für größere Feldzüge. Im Herbst 1453 zog ein plündernder und raubender Trupp von etwa 200 Reitern vom Sundgau den Hochrhein hinauf bis Schaffhausen, um sich von dort in Richtung Rottweil zu wenden. 28 27 Darstellung mit Analyse der geographischen Herkunft der Fehdehelfer in N IKLAS K ON - ZEN , Hans von Rechberg und sein Netzwerk als Fehdehelfer des Heinrich von Eisenburg, ca. 1451-53: Eine prosopographische Analyse, in: J ULIA E ULENSTEIN / C HRISTINE R EIN - LE / M ICHAEL R OTHMANN (Hg.), Fehdeführung im spätmittelalterlichen Reich. Zwischen adeliger Handlungslogik und territorialer Verdichtung (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mitttelalters 7), Affalterbach 2013, S. 221-248; sowie in N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 178-196. 28 N. K ONZEN , Hans von Rechberg (Anm. 27), S. 230f.; D ERS ., Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 189f. <?page no="37"?> N IKLA S K ONZEN 38 Die Vernetzung mit anderen fehdeführenden Adligen brachte den Protagonisten der Eisenburg-Fehde also erhebliche Vorteile: Die Möglichkeit, mit ihren Verbündeten eine große gemeinsame Streitmacht aufzustellen, schuf strategische Chancen, die keiner dieser Adligen alleine gehabt hätte. Außerdem konnten die Adligen dadurch, dass sie sich gegenseitig ihre Burgen öffneten, in einem geographisch sehr weiträumigen Gebiet agieren. Neben den Burgen und Städten, von denen den Städten bekannt war, dass Hans von Rechberg sie nutzte - vor allem Burg Ramstein, Ruggburg und Sulz am Neckar - muss es noch zahlreiche weitere Stützpunkte gegeben haben, die Rechberg beispielsweise seine Präsenz im Hegau in den Jahren 1453-1454 ermöglichten. 29 Diese überregionale Verfügbarkeit von Stützpunkten machte es für die Gegenseite schwierig, Bedrohungen einzuschätzen und adäquat darauf zu reagieren. 5. Mobilisierung und militärische Maßnahmen Ulms und seiner Verbündeten Ulm und seine Verbündeten waren demgegenüber strategisch im Nachteil: Nicht nur, weil sie zunächst in der Defensive waren und sich nur schwer abschätzen ließ, wo die Städtefeinde als nächstes zuschlagen würden, sondern auch, weil die Koordinierung von Gegenmaßnahmen sehr viel Zeit kostete. Beschloss die Bundesversammlung eine gemeinsame Unternehmung, sollte jede Stadt ein militärisches Kontingent aufstellen, das teils aus wehrpflichtigen Bürgern, teils aus Söldnern bestand. Diese Kontingente wurden dann üblicherweise in der Nähe des Einsatzortes gesammelt. - Bei akuten Bedrohungen einzelner Städte durfte ein Mitglied zwar notfallmäßige Gegenmaßnahmen ergreifen, die dann nachträglich von der Bundesversammlung legitimiert werden konnten, sodass die Kriegskosten unter den Mitgliedern aufgeteilt wurden. In der Praxis war die Versammlung allerdings selten dazu bereit. Selbst in Fällen, wo die Bundeshilfe im Vorfeld beschlossen worden war, konnte es sein, dass diejenigen Städte, die bei den Kriegskosten in Vorschuss gegangen waren, auf ihren Forderungen an die Bundeskasse sitzen blieben, weil andere Städte vertragswidrig ihre Beiträge schuldig blieben. 30 So weigerten sich nach dem Städtekrieg von 1449/ 50 Augsburg und Esslingen, ihre noch ausstehenden Schulden für damals nach Beschluss der Bundesversammlung bestellte Söldner zu begleichen, weil diese ihrer Ansicht nach nur dazu eingesetzt worden seien, Ulmer Gebiet zu schützen. 31 Ulm drohte säumigen Beitragszahlern gelegentlich mit 29 N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 192-195. 30 Vgl. für die Zeit bis 1445 H. B LEZINGER , Städtebund (Anm. 12), S. 14-16. 31 T. F RITZ , Ulrich (Anm. 18), S. 112. <?page no="38"?> R EC HBER G , M EMMINGEN U ND DER Z ER F ALL DE S S TÄDTE BU NDE S 39 Sanktionen gemäß dem Bundesbrief, jedoch wohl ohne Erfolg. 32 In anderen Fällen wurden Städte, die mit Billigung des Bundes mit ihren eigenen Kontingenten gegen Burgen von Städtefeinden vorgegangen waren, von ihren Bundesgenossen mit den entstandenen Kosten und den juristischen Folgen ihrer Feldzüge allein gelassen. So hatte im Städtekrieg 1449/ 50 Rottweil die Burg Oberhohenberg, Schaffhausen die Burgen Balm und Rheinau erobert und als Raubschlösser zerstört. Als Herzog Albrecht VI. von Österreich Schadensersatz für diese Burgen forderte, vereinbarten Abgesandte des Städtebundes ohne Vertreter der betroffenen Städte eine separate Einigung mit dem Habsburger, die die übrigen Mitglieder des Städtebundes von einer Haftung ausschloss. In schiedsgerichtlichen Verhandlungen 1451 und 1453 wurden Rottweil und Schaffhausen dann zu hohen Entschädigungszahlungen an den Herzog verurteilt. Beide Städte machten geltend, dass sie die jeweiligen Feldzüge nicht eigenmächtig, sondern im Namen des Städtebundes ausgeführt hatten, und stritten noch bis mindestens 1457 (Schaffhausen) bzw. 1472 (Rottweil) in schiedsgerichtlichen Verhandlungen mit ihren ehemaligen Verbündeten - mit ungewissem Ausgang. 33 Dieser Mangel an Solidarität erwies sich als massiver Hemmschuh für die Handlungsfähigkeit des Bundes. Trotzdem konnte Ulm mit seinen verbliebenen Bundesgenossen noch zwei gemeinsame Feldzüge auf die Beine stellen. Über beide Unternehmungen existieren detaillierte Berichte aus erster Hand, verfasst vom Hauptmann des Ulmer Truppenkontingents, Jakob Ehinger. Die Bundesversammlung bewilligte zunächst die Kosten für einen Feldzug gegen Ramstein, Rechbergs Schwarzwaldburg. Über diesen ersten Feldzug berichtet Ehinger: Nachdem sich die städtischen Kontingente in Rottweil gesammelt hatten, brachen am 13. Juli 1451 insgesamt 1.200 Mann zu Fuß und 220 Reiter, 34 darunter auch ein Memmin- 32 Ein zwischen dem 16. Oktober und dem 1. November 1453 entworfener Brief Ulms an die Städte Donauwörth, Esslingen, Nördlingen, Rothenburg ob der Tauber, Hall, Schaffhausen, Gmünd, Heilbronn, Biberach, Dinkelsbühl, Pfullendorf, Wimpfen, Windsheim, Weißenburg, Kaufbeuren, Giengen, Aalen, Bopfingen und Radolfzell forderte alle Städte auf, die denne an der stette alten und nüwen rechnungen und och sust gelihens geltz schuldig sind uff etwiemenig vnd vil vergangner zile, diese Schulden bis zum 11. November in Ulm zu bezahlen. Ansonsten werden die in der Einung festgesetzten Sanktionen angedroht: das denn über si umb houptgu[o]t, schaden, pene, ungehorsamkait und alle sachen nach lut der veraynung vollefaren werden sol. Den adressierten Städten wurde zur besseren Erinnerung eine Aufstellung ihrer Schulden (rechenzedel üwrer schuld) angehängt; StadtA Ulm, A 1110: 1453 Okt. 16/ Nov. 1. 33 J OHANNES E ICHMANN , Der Städtekrieg von 1449-1450, besonders die Fehde Herzog Albrechts von Oesterreich mit den schwäbischen Reichsstädten, welche die Herrschaft Hohenberg in Pfand hatten, Berlin 1882, S. 16-41. 34 StadtA Ulm, A 1117, Nr. 26. <?page no="39"?> N IKLA S K ONZEN 40 ger Aufgebot, 35 mit einer unbekannten Zahl von Steinbüchsen zur Burg Ramstein auf. Nach ein paar Tagen gelang es den Belagerern, Burg Ramstein mit Feuergeschossen in Brand zu setzen und in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli zu erobern. Von der 44-köpfigen Besatzung der Burg konnten acht Personen entkommen, die übrigen kamen ums Leben. Von den adligen Hauptleuten der Fehdekoalition hatte sich niemand auf der Burg aufgehalten. Nachdem das Bundesheer die Burg geschleift hatte, kehrten die einzelnen Kontingente in ihre Heimatstädte zurück. 36 Mit diesem Erfolg erreichte der Städtebund jedoch zunächst nur, dass die Adligen ihre Aktivitäten vom Schwarzwald nach Oberschwaben und ins Allgäu verlagerten. Bereits im März 1452 hatte die Reichsstadt Ravensburg die Ulmer vor der Möglichkeit gewarnt, dass Rechberg eine Burg der mit ihm verschwägerten Grafen von Werdenberg-Sargans nutzen könnte, nämlich die bei Bregenz gelegene Ruggburg. Am 13. Juli 1452 berichtete Ravensburg dann an Ulm, eine Gruppe rechbergischer Kriegsknechte unter dem Kommando eines gewissen Hans Pfau hätte in der Nähe von Waldsee mehrere aus Ravensburg kommende Reisende überfallen und ermordet. Hans Pfau habe dabei gesagt, er und alle anderen Helfer und Knechte Hans von Rechbergs hätten geschworen, alle Gefangenen von reichsstädtischer Seite, die zukünftig in ihre Hände fielen, nicht mehr gefangen zu nehmen, sondern zu töten. Rechberg wollte diesen Mord offenbar als Vergeltung für die Hinrichtung von neun seiner Kriegsknechte verstanden wissen, die kurz zuvor in Ulm als Straßenräuber enthauptet worden waren. 37 Vermutlich ging bereits dieser Angriff von der Ruggburg aus. Für die folgenden fünf Monate sind Berichte zu zahlreichen Überfällen im näheren Umkreis der Ruggburg überliefert, in denen Hans Pfau immer wieder als Beteiligter erwähnt wird (vgl. Karte). 35 Erhard Wintergerst schreibt aus Memminger Perspektive zur Belagerung Ramsteins: Sambstag nach Ulrici [8. Juli] schickt man 30 pferdt hinweg gehn Ramstain, und legtten sie die stäth darvur mit 2500 man. Jorg Zwicker war der unsseren haubttman. […] Am afftermontag vor Iacobi [18. Juli] gewan man Ramstain mit foürpfeilen. Es verbrendt vil, die darin lagen, es was ein guot schlos. Sambstag nach Iacobi [29. Juli] kamen die 30 pferdt wider und hetten die ross fast abgeritten; E. W IN - TERGERST , Chronik (Anm. 2), S. 64. 36 Berichte des Ulmer Hauptmanns Jakob Ehinger in StadtA Ulm, A 1117, Nr. 26-29; Edition: N IKLAS K ONZEN , »Die anderen sind alle tot«: Die Zerstörung von Burg Ramstein 1452 in Berichten des Ulmer Hauptmanns Jakob Ehinger, in: D’ Kräz: Beiträge zur Geschichte der Stadt und Raumschaft Schramberg 35 (2015), S. 2-12. 37 Die Stadt Ravensburg schrieb Ulm am 13. Juli 1452 zu diesem Vorfall, Hans Pfau habe den Überlebenden des Überfalls ausrichten lassen, das er und alle ander Hannsen von Rechbergs hellffer und knecht demselben Hannsen vo[n] Rechberg geswo[r]en haben, was lút si von unns stetten begriffen, das si die nit and[er]s gefanngen, den glich von stund von lib tun sollen; HStA Stuttgart A 602, Nr. 5533, Bü 4. Zum Kontext N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 223f. <?page no="40"?> R EC HBER G , M EMMINGEN U ND DER Z ER F ALL DE S S TÄDTE BU NDE S 41 Abb. 1: Lokalisierbare Überfälle der Städtefeinde in der Nachbarschaft der Ruggburg, Juli bis November 1452. Die Angreifer waren meistens zu Fuß unterwegs und mit Armbrüsten und Handbüchsen bewaffnet; sie beobachteten die Straßen und drangen nachts in die Dörfer ein, legten Feuer, raubten Vieh und nahmen häufig auch Dorfbewohner gefangen, die mit hohen Lösegeldern wieder frei gekauft werden mussten. Die Leidtragenden waren überwiegend Leibeigene der Reichsstädte Isny und Wangen, außerdem ein Kaufmann aus Lindau und Bauern aus dem Bregenzerwald, die auf der Straße überfallen wurden. 38 38 Diese Ereignisse wurden im Zuge einer späteren Schadensersatzklage der Grafen von Werdenberg-Sargans gegen Ulm und seine Verbündeten wegen Zerstörung der Ruggburg zum Ermittlungsgegenstand. Die Zeugenaussagen und Korrespondenz aus den zugehörigen Akten werden behandelt bei H UGO B AZING , Streitsache Werdenberg-Sargans gegen Ulm und Gen. wegen Brechung der Ruggburg, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte 9 (1886), S. 253-262. <?page no="41"?> N IKLA S K ONZEN 42 Die Städte in Oberschwaben beschlossen daher die Entsendung eines Bundesheeres gegen die Ruggburg. Tatsächlich wurde auch ein Heer aufgestellt, doch beteiligten sich nur noch acht Städte, nämlich Ulm, Memmingen, Ravensburg, Kempten, Kaufbeuren, Wangen, Isny und Leutkirch. Immerhin kamen die vereinigten Kontingente dieser acht Städte noch auf eine Sollstärke von 600 Mann, die sich nach gemeinsamem Beschluss bis zum 5. November 1452 in Wangen sammeln sollten, um am Folgetag zur Burg aufzubrechen. 39 Eine vom 6. November datierende Aufforderung Ulms an 23 weitere Reichsstädte des Bundes aus der Städtekriegszeit, möglichst bald Hilfstruppen ins Feld vor die Ruggburg zu schicken, blieb offenbar ohne Resonanz. 40 Dieser zweite Feldzug brachte deutlich größere Schwierigkeiten mit sich als der erste. Zunächst bezogen nur die Kontingente aus Ravensburg und Wangen Position vor der Ruggburg, die übrigen trafen mit Verspätung ein: Jakob Ehinger mit den Ulmern am 8. November, Memmingen, Kempten und Kaufbeuren am 10. 41 Erhard Wintergerst berichtet dazu, dass allein Memmingen mit 300 Mann ausrückte - es handelte sich um wehrpflichtige Bürger, die ausgelost worden waren. Die Memminger seien demnach bereits am 4. November mit einer großen Steinbüchse und 24 Wagen voller Pulver und Steingeschosse zur Burg aufgebrochen, angeführt durch ihren Hauptmann Ortlieb Seng. Zwischen dem 23. November und dem 6. Dezember wurden die 300 Mann schrittweise durch 150 Wehrpflichtige und eine unbekannte Zahl von Schweizer Söldnern abgelöst. 42 39 Zur Truppensammlung in Wangen: Hierumb so wöllent uns[er]n fründ[e]n den darzu[o]gewanten stetten von stund an und ernstlich schriben, damit das sechßhundertt mane[n] taugenlich uf sontag nehstkünftig zu[o] nacht zu[o] Wanngen sien, enmornens an dem montag sich füro mit Rennwartten [Georg Rennwart, ein anderer Hauptmann] an das ennd zu[o]fu[o]gen; StadtA Ulm, A 1117, Nr. 33: Brief Ulms an Memmingen, 1452 Nov. 1. 40 Adressaten des Briefes waren Rottweil, Schaffhausen, Biberach, Pfullendorf, Gmünd, Hall, Esslingen, Giengen, Bopfingen, Nördlingen, Nürnberg, Dinkelsbühl, Rottenburg, Windsheim, Donauwörth, Weißenburg, Aalen, Radolfzell, Augsburg, Reutlingen, Heilbronn, Wimpfen und Weil der Stadt; StadtA Ulm, A 1117, Nr. 35. 41 Jakob Ehinger berichtete am Donnerstag, 9. November nach Ulm, daz Renwart mit den von Raffenspurg un[d] Wangen daz schloß am gu[o]ttem tag berent hätt un[d] ich an der mitwochen by im mit der bichß un[d] waß darzu[o] gehert hatt, kumen bin, un[d] risten die bichs(en) un[d] uns zu[o], so wir best mugen, aber die von Memmingen, Kemtten, Buren kumen erst an frittag in das feld. Lieben heren, ich kan úch noch núcz treffenlich wissen lassen, dan daz by sechzigen din sind un[d] fast buen alß lit die beliben wend, un[d] daz schloß fill anderß fu(n)den haben, wen da es waß, da syß besechen haben, un[d] der schne ist fast groß. Ich trú aber dem almechtigen got, unser sach schik sich zu[o] gu[o]ttem; StadtA Ulm, A 1117, Nr. 43. 42 Demnach hätte das Memminger Kontingent - verlangsamt durch Wagen und Geschütz - für den Weg bis zur Ruggburg sechs Tage gebraucht. Montag darnach spillett man durch die gancze stat alwegen fier mit einanderen, und welcher am munsten warf, der verlor dz selbig viertel. So verloren hate, waren bey 300 Man, die zogen sambstag vor Martini für Rugburg. Man fiert die gross bixen <?page no="42"?> R EC HBER G , M EMMINGEN U ND DER Z ER F ALL DE S S TÄDTE BU NDE S 43 Während sich die Belagerung in die Länge zog, war die Moral der Truppe verschiedenen Belastungen ausgesetzt. Bereits am 9. November berichtet Jakob Ehinger, der schne ist fast groß; 43 am 19. November erneut, 44 am 23. November weist er gemeinsam mit seinem Mithauptmann Jörg Rennwart darauf hin, dass die Stimmung unter den Belagerten aufgrund des anhaltend harten Wetters schlecht sei. 45 Hinzu kam die ständige Furcht vor einem Entsatzheer der Städtefeinde. Das Belagerungsheer war der auf 60 Mann geschätzten Besatzung der Ruggburg 46 zwar zahlenmäßig weit überlegen, aber bestenfalls halb so stark wie beim Feldzug gegen Ramstein. Den ganzen November über kursierten Gerüchte über einen bevorstehenden Angriff Rechbergs, der sich in Bregenz aufhielt und die Belagerer durch Kundschafter beobachten ließ. Am 15. November warnten die Hauptleute der städtischen Kontingente in einem Brief an Ulm, ein Graf von Eberstein sei angeblich mit mehr als hundert Mann zu ihm gestoßen, die er in Schiffen mit sich über den Bodensee gebracht habe. 47 Am 21. November 1452 meldete Jakob Ehinger, die Reichsstadt Lindau, die sich zunächst den Truppen des Städtebundes gegenüber kooperativ gezeigt hatte, weigere sich mittlerweile, die bündischen Kriegsknechte und Reiter aufzunehmen oder auch nur in ihre Mauern zu lassen. Immerhin setzte Lindau die Versorgung des Belagerungsheers mit Nahrungsmitteln fort. Ehinger schrieb diese Verschlechterung einer diplomatischen Intervention seitens der Bodenseestädte Buchhorn und Überlingen zu. 48 Möglicherweise fürchteten mit pulffer, schierm und stein, was 24 wägen tragen mochten. Ier haubttman war Ortlieb Seeng, und Otho Weschbach, und Hans Maurer truog der stadt fenlein. Auch schickten die von Ulm 22 wägen mit bixen und pulffer und was in ein feldt gehört. Am montag hernach berent man Rugburg und macht ein feldläger darvir. Am donderstag for Cathrina schickt man aber ein halb fiertel, namlich 100 und 50 man und 5 wägen mit bixen, bulffer und stein. Auf Nicalao kommen die wider, so ieren monat waren ausgewessen, und bestelt schweyczer in dz feld, deren fand man genuog. E. W INTERGERST , Chronik (Anm. 2), S. 65. 43 StadtA Ulm, A 1117, Nr. 43. 44 [D]er schne ist ietz fast groß wa[u]rden, daz beß mit um zegon wer, un[d] will mich behelffen mit bretter un[d] anderm, so ich best mag. Die geselen hand sich fast in gegraben; StadtA Ulm, A 1117, Nr. 38. 45 Lieben heren, alß lang wir in dem feld gewessen syen, haben wir den merdail hert weter gehebt, un(d) sind die lut unlustig zewirken gewessen; StadtA Ulm, A 1117, Nr. 42. 46 Laut Bericht von Jakob Ehinger am 9. November 1452; StadtA Ulm, A 1117, Nr. 43. 47 Wir fügend úcher wishait ze wissen, dz Hans vo[n] Rechberg mit etlichen sinen knecht[e]n, als lang wir vor Ruggburg gelegen sind, ye sider ze Bregentz gewessen sind, dez das er die knecht ze ross und ze fu[o]ss von im schike etc. Wir wissend o[u]ch warlich, dz er täglichs sin kundschafft ob baiden heren [Heeren] haut. V[er]stand wir nit anders, den dz er lernan wil, was uns ze t[o]n sy, dz er daz fürniemen wil etc. Un[d] kumpt uns warlich für, dz er streng uf söllichs werb. Es ist o[u]ch min herr von Eberstain zu[o] im gen Bregentz komen und hand gros gewerb und anschleg mitanander. Da by gu[o]t v[er]stan ist, mugend sy dz dz über uns gew. Es hant o[u]ch min herr von Eberstain by oder ob hundert fu[o]sknecht[e]n in schiffen mit im komen sy; StadtA Ulm, A 1117, Nr. 36. 48 StadtA Ulm, A 1117, Nr. 40. <?page no="43"?> N IKLA S K ONZEN 44 diese Städte, in die Eisenburg-Fehde hineingezogen zu werden, aus der sie sich bisher erfolgreich herausgehalten hatten, denn Ehinger zufolge kursierten weiterhin Gerüchte, wie daz Hanß vo[n] Rechberg kum mit aim grossen folk un[d] sich understan, unß denne ze schlachen. Diese Gerüchte, schrieb Ehinger am 21. November, setzten die Belagerer zunehmend unter Druck: Die war[n]ung ist a[u]ch deglich imerdar groß, daz wir dag un[d] nacht mit gefassettem schilt sigen miessen. 49 Am Folgetag erschien ein Bote aus Biberach, der den Belagerungstruppen eine akute Warnung überbrachte, wie daz unß Hanß von Rechberg die selben nacht yber ziechen welt. 50 Dazu scheint es allerdings nicht mehr gekommen zu sein. Die städtischen Hauptleute machten gegenüber Ulm die schlechte Stimmung im Bundesheer, aber auch einen Mangel an kompetenten Büchsenmeistern für die lange Dauer der Belagerung verantwortlich. 51 Immerhin gelang es bis zum 23. November, zwei äußere, der Burg vorgelagerte Gräben einzunehmen und sich an eine Anhöhe heranzuarbeiten, welche die Belagerten zum Bollwerk ausgebaut hatten. 52 Auf die Klagen der Hauptleute hin hatte Ulm schließlich auch zwei Büchsenmeister geschickt, 53 die sofort an die Geschütze beordert wurden. 54 Nachdem die Belagerer vier Wochen lang ausgeharrt hatten, wurden sie durch die Aufgabe der Burgbesatzung erlöst: Am 8. Dezember 1452 meldete Jakob Ehinger nach Ulm, dass die Belagerten, die mittlerweile auf 37 Mann zusammengeschmolzen waren, in der vergangenen Nacht die Ruggburg angezündet hatten und geflohen waren, sodass die Belagerer sie einnehmen konnten. Lediglich ein Priester, der ser geschoßen ist, zwei Frauen und ein Junge waren zurückgeblieben. 55 Über diese Nacht berichtet auch Erhard Wintergerst, dessen Darstellung vor allem die Rolle des Memminger Büchsenmeisters Konrad Merk in den Vordergrund rückt. 56 49 StadtA Ulm, A 1117, Nr. 40. 50 StadtA Ulm, A 1117, Nr. 41: Brief Ehingers an Ulm, 1452 Nov. 23. 51 [Und] haben grossen bruch an bichsenmaister geheb, daz unß bißher ser gehindret hätt; StadtA Ulm, A 1117, Nr. 42. 52 Doch haben wir die zwen graben in genomen un[d] arbaitte[n] an de[m] dritten. Drú[en] wir wol, wir a[u]ch bald in kumen. Dar uff hand sy ain kapff, darin hand sy sich mit bolwerken vergraben nach notturft; StadtA Ulm, A 1117, Nr. 42: Brief Ehingers und Rennwarts an Ulm, 1452 Nov. 23. 53 Lieben heren, der Nigel un[d] Herman kamen am afftermentag [20. November] in daz her, un[d] nam mich fremd, daz ir alß so er[…? ] warund, daz ir zwen für ain her schikten. Un[d] wer eß in dem anfang geschechen, wer fill gelcz wert gewessen, aber ich trú, sy sollen uns noch wol erschiessen. Doch han ich nun dallen me, so wir alß nach kumen syen uff daz graben besser cost, den uff daz schiessen, doch wend wir sy baiden bruchen, so wir best muge[n]; StadtA Ulm, A 1117, Nr. 40: Brief Ehingers, 1452 Nov. 21. 54 Och, lieben heren, alß die bichsenmaister in daz feld kamen sind, da han sy die ha[u]btlüt vo[n] stund an morge[n] an die zwo bichsen gestelt, Meminge[n] un[d] Kemtten, wieß die schaffen werden, wissen wir noch nit etc.; StadtA Ulm, A 1117, Nr. 42: Brief Ehingers und Rennwarts an Ulm, 1452 Nov. 23. 55 StadtA Ulm A 1117, Nr. 44. 56 Am freitag nach Nicolai zanden die von Rugburg dz schlos selbst an und zogen darvon. Die haubttleytt <?page no="44"?> R EC HBER G , M EMMINGEN U ND DER Z ER F ALL DE S S TÄDTE BU NDE S 45 Die Zerstörung der Ruggburg konnte jedoch die Aktivitäten der Fehdeführenden um Hans von Rechberg ebenso wenig eindämmen wie der Tod des nominellen Anführers der Städtefeinde, Heinrich von Eisenburg, im Winter 1452/ 53: Das rechbergische Fehdenetzwerk war zu verzweigt, als dass die Städte gegen alle möglichen Stützpunkte hätten vorgehen können, und die Städte waren für weitere gemeinsame Kriegszüge mittlerweile zu zerstritten. 57 So notiert Erhard Wintergerst für Pfingsten 1453: Umb pfingsten war gross rauberey und bieberey umb die stath geiebtt und getri[ben? ] durch die rauber, bock genant, so Hanssen von Rechberg zum obersten und herren haten. Und zur Woche vor Katharina (25. November): Es ward auch zuo der zeitt so unfridlich, als nie kein man gedacht, der buoben halber, die man bock genant, die lagen in holczern und beraubtten die leyt, was von stäthen was. Es was niemands sicher ein meyl umb die stath; man beraubtt die leytt an der Illerbrug, bey Grinenbach auff dem weg nach Kempten, im Hardt und am Heüberg. Wer hinaus wolt, muoste geleyt haben von dem Thrucksessen. Ist dz nicht ein cleglich ding: die büberey hatte niemand zuo einem herrn, dan den Hanssen von Rechberg, und sind die stäth nicht einhellig, luogtt einer dem anderen zuo bis es ie lenger iee erger wierdt. 58 6. Ausgang der Eisenburg-Fehde Parallel zu diesen Feldzügen setzten Ulm und seine verbliebenen Verbündeten ihre Bemühungen fort, einen friedlichen Prozess der Konfliktbearbeitung in Gang zu bringen. Obwohl sie dafür 1453 Kaiser Friedrich III. als Verbündeten gewannen, blieben diese Bemühungen zunächst ohne Erfolg: Hans von Rechberg und seine Bundesgenossen ignorierten mehrere kaiserliche Friedensgebote ebenso wie die Vorladung des Bischofs von Würzburg, den der Kaiser als kommissarischen Richter in einer Entschädigungsklage der Reichsstädte gegen Rechberg eingesetzt hatte. Sie brachten ihrerseits den Markgrafen von Brandenburg-Ansbach dazu, ein altes Achturteil seines Nürnberger Burggrafengerichts gegen 21 Reichsstädte zu erneuern. hiessen unsseren bixenmaister darin schiessen, da sprach er: »weysse herren, scheüs ich, so losch ich dz feür. Ist weger, man las es brunen, so treibet man sie herausser«, dan man wust nicht, dz sie es selbsten angezundt hetten. Also sprachen die haubttleytt, er solt schiessen. Er schos und loschet dz feür, dan er geradt in dz feür schos. Also sahe man, dz sie niemandt mer herausser werett [? ]. Da zohe man hinein, fand aber niemandt darinen, den einen priester und ein magdt, die liess man ier stras gehn. Man hett drey feldleger vor Rugburg; Conrat Merck, der stath werck- und bixenmaister, war auch darvor, und der beste büxenmaister, dan er beschos das schlos mit deren von Memingen bixen. Die von Ulm waren darvor mit 20 raisig[en], aber die von Memingen, Rave[n]sburg, Kempten, Kauffbeyren, Wangen, Issna und Leükirch mit ganczer macht. Nach solchem zohe man heim, und geschah niemand nichts, und war dz schlos eingenomen und verbrant; E. W INTERGERST , Chronik (Anm. 2), S. 65f. 57 N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 169. 58 E. W INTERGERST , Chronik (Anm. 2), S. 68f. <?page no="45"?> N IKLA S K ONZEN 46 Ab Herbst 1454 setzte der Kaiser eine Reihe schiedsgerichtlicher Verhandlungstermine an, auf die Hans von Rechberg und seine Verbündeten schließlich eingingen. Allerdings nutzten sie die Termine am kaiserlichen Hof in Wiener Neustadt für öffentliche Anklagen gegen die Städte, die den üblichen städtefeindlichen Klischees folgten - so wurde etwa die Reichsstadt Nördlingen eines Giftmordversuchs an einem Grafen von Oettingen bezichtigt. Am 5. Juli 1456 begann schließlich ein Gerichtsprozess zwischen Rechberg und den adligen Anklägern der Reichsstadt Ulm einerseits und den Vertretern der an der Fehde beteiligten Reichsstädte andererseits. Als kommissarischen Richter hatte Kaiser Friedrich III. diesmal den städtefeindlichen Markgrafen Albrecht von Brandenburg-Ansbach eingesetzt. Letztendlich wurden die an den Feldzügen beteiligten Städte 1457 dazu verurteilt, Hans von Rechberg für seine Gerichtskosten sowie die Zerstörung der Burg Ramstein zu entschädigen. Auch weitere adlige Verbündete Rechbergs konnten Schadensersatzansprüche gegen die angegriffenen Reichsstädte durchsetzen, zuletzt 1476 die Grafen von Werdenberg-Sargans für ihren Anteil an der Ruggburg. 59 7. Der Überfall auf Memmingen 1460 Obwohl Hans von Rechberg 1457 Frieden mit den Städten geschlossen hatte, steht zu vermuten, dass er Verbindungen zu anderen Adligen unterhielt, die auch nach dem Ende der Eisenburg-Fehde die Überfälle auf Angehörige einzelner Städte fortsetzten. In Wintergersts Chronik sind für den Zeitraum 1457 bis zu Rechbergs Tod 1464 zahlreiche gewalttätige Übergriffe gegen Angehörige oberschwäbischer Reichsstädte dokumentiert. 60 Im Frühjahr 1460 trat dann Rechberg selbst ein letztes Mal offen als Feind Memmingens in Erscheinung. Im April 1460 hatten Memminger Bewaffnete einen gewissen Zeller festgesetzt, der mit vier Reitern die Landstraßen um Memmingen unsicher gemacht hatte, und ihn erst gegen einen 59 Zu Rechberg und Ramstein N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 169-178, 234; zu Ruggburg und den Grafen von Werdenberg-Sargans H. B AZING , Streitsache Werdenberg- Sargans (Anm. 38), S. 260-262. 60 So Wintergerst zum Jahr 1457: In dissem somer war es gar unsicher im Wurczacher wald im Hardt und Heüberg. Sie fingen den burgermaister von Leükirch mit ein knecht, der muost 200 fl geben. Sie fingen von hinen Hans Aman, den schaczten sie umb 100 fl. Die zalt sein dochterman für in. Solch morderey müosten die stäth leid[en], dan disse haten auff dem lanndt grossen fürschub. Zum Jahr 1458: Montag vor Sanct Paulus bekerung sactzen die reytter und rauber die wägenleytt im Hart aus, die zuo der stath gehorten; waren fünff und fuortens gehn Sulcz [evtl. Sulz am Neckar, das den Herren von Geroldseck-Sulz gehörte - langjährige Verbündete Rechbergs]. Was der herren was, liessen sie fahren. Sie schaczten den wein, ein waagen p[er] 8 fl., was her in die stath gehorte. Wa die fuorleit den wein nicht wolten schaczen lassen, wolten Sie den fassen die böden einschlagen. Der reytter waren zweinczig; E. W IN - TERGERST , Chronik (Anm. 2), S. 80, 82. <?page no="46"?> R EC HBER G , M EMMINGEN U ND DER Z ER F ALL DE S S TÄDTE BU NDE S 47 Urfehdeeid wieder freigelassen. Daraufhin forderte Hans von Rechberg die Reichsstadt in einem Brief auf, den Zeller von seiner Urfehde zu lösen. Als Memmingen sich weigerte, erschien Hans von Rechberg eines Morgens nach dem 24. Juni 1460 mit einer Streitmacht vor der Stadt. Sie raubten oder töteten Schafe, Pferde und anderes Vieh, nahmen jeden Stadtbewohner gefangen, der sich vor die Tore wagte, und erstachen einen armen Fuhrmann. Danach plünderten sie die Memminger Dörfer Volkratshofen und Steinheim und brandschatzten Amendingen und Pleß. In der Stadt wurde Sturm geläutet und die bewaffneten Bürger versammelt, einen Angriff wagten sie jedoch angesichts der Stärke von Rechbergs Mannschaft nicht. Zwei Adlige aus der Nachbarschaft vermittelten schließlich Verhandlungen zwischen den Angreifern und dem Memminger Rat. Nachdem die Memminger sich zur Zahlung von Lösegeldern bereit erklärt hatten, zogen Rechberg und seine Leute ungehindert wieder ab. 61 8. Ausblick Vier Jahre später, im November 1464, empfing Hans von Rechberg bei der Belagerung seiner Burg Hohenschramberg die tödliche Verletzung, die Erhard Wintergerst in seinem Nachruf erwähnt. In seiner letzten Fehde kämpfte Rechberg jedoch weder gegen schwäbische Städte noch gegen die Eidgenossen, sondern gegen seine Standesgenossen von der Rittergesellschaft mit St. Jörgenschild, und gegen seine langjährigen Dienstherren, die Grafen von Württemberg. Diese Konstellation enthüllt einen lange schwelenden Konflikt, der die meiste Zeit von Rechbergs ostentativ zur Schau getragener Städtefeindlichkeit verdeckt worden war, der jedoch für ihn letztlich folgenreicher war als seine Beziehung zu den Reichsstädten: Württemberg hatte ab den 1440er Jahren wiederholt Versuche unternommen, sich Teile der Herrschaftsrechte einzuverleiben, die die Grundlage von Rechbergs Existenz als Herrschaftsträger bildeten. Sein politisches Überleben hing daher in erster Linie von seinen Möglichkeiten ab, die Außenpolitik benachbarter Fürsten zu beeinflussen, deren Potenzial zur territorialen Expansion für Rechberg sowohl Bedrohungen als auch Chancen boten. Seine Fehdeaktivitäten halfen ihm dabei: Unter dem übergreifenden Zusammenhang einer drohenden Vertreibung des Adels durch die Bauern schuf Hans von Rechberg ein Vereinigungsmotiv für sämtliche Adligen, die sich als Opfer einer solchen Vertreibung fühlten, und bot außerdem durch Gelegenheiten zu Raub und Plünderung finanzielle Anreize für mögliche Gefolgsleute. Wie das Beispiel der Eisenburg-Fehde zeigt, zog Rechberg daraus eine enorme Mobilisierungs- und überregionale Handlungsfähigkeit, die ihn als 61 E. W INTERGERST , Chronik (Anm. 2), S. 92-95. Vgl. F RANZ L UDWIG B AUMANN , Geschichte des Allgäus 2, Kempten 1890, S. 56-58. <?page no="47"?> N IKLA S K ONZEN 48 Gegner gefährlich und als Verbündeten interessant machte. Dies verschaffte ihm schließlich Zugang zu Einflusspositionen an den Höfen erst der Habsburger, dann der Württemberger. Dadurch konnte er zwar württembergische Initiativen zur territorialen Expansion auf seine Kosten vorübergehend abstellen, geriet jedoch in Konkurrenz mit anderen auf Einfluss bedachten Adelsgruppen, darunter der Gesellschaft mit St. Jörgenschild. Aus dieser Rivalität erwuchs im Sommer 1464 die offene Auseinandersetzung, in der er schließlich sein Leben verlor. 62 Der St. Jörgenschild war all die Jahre von Rechbergs Karriere als Städtefeind auf Ausgleich und Kooperation mit den schwäbischen Städten bedacht gewesen, deren Potenzial als Verbündete gegen fürstliche Übermacht aus Sicht der Georgenschildritter die Relevanz ständisch-sozialer Gegensätze deutlich überwog. Diese Interessengemeinschaft fand längerfristig ihren Ausdruck in der ständeübergreifenden Einung des Schwäbischen Bundes, den Reichsstädte und Georgenschildritter 1488 gemeinsam mit kaiserlichem Segen begründeten, lange nachdem der schwäbische Städtebund im Zeichen kleinlicher Zänkereien über die finanziellen Altlasten seiner Feldzüge endgültig zerfallen war. Im Schwäbischen Bund fand auch die Reichsstadt Memmingen vorübergehend eine neue bündnispolitische Heimat. 63 62 Vgl. zur Klingenberger Fehde von 1464 N. K ONZEN , Aller Welt Feind (Anm. 4), S. 204- 209, 389-396; zur Einordnung von Rechbergs Gewaltkarriere ebd., S. 397-404. 63 H ORST C ARL , Der Schwäbische Bund 1488-1534, Leinfelden-Echterdingen 2000, S. 62. <?page no="48"?> 49 U WE T RESP Sicherungsbriefe und Gefangene. Beobachtungen zur Kriegsführung Herzog Ludwigs des Reichen 1462 in Schwaben 1 Des hab immer dank das hochgeborn blut / herzog Ludwig von Landshut! / Der hat einen solichen krieg gefurt / Den kein man nie im herzen spurt; / Der ist zu velde gelegen neunzig tag, / noch hat man nie gehort die clag, / daß er keinem bawren sein haus noch schewern / nie ab hieß sengen noch fewern, / und was man pawren gefangen bracht, / kein andere schatzung er da erdacht, / dann daß er sie da eßen ließ / und sie alle wider heim hin hieß, / ir ecker pawen, ir wisen meen, kein ander leit ließ er in geschehen. 2 Mit diesen Worten rühmte der Nürnberger Dichter Hans Rosenplüt († 1460) die Kriegsführung Herzog Ludwigs IX. des Reichen von Bayern-Landshut (reg. 1450-1479), der angeblich die Landbevölkerung besonders schonend behandelte. Ähnlich äußerte sich der Münchner Geschichtsschreiber Ulrich Füetrer († 1496 oder 1502), der den Landshuter Herzog für den von ihm geführten ritterlichen und fürstlichen krieg lobte: Er led auch von seinem kriegsvolck kain schimpflich noch unritterliche, noch verräterische tat […] und wurde dafür in verren und nahenden landen […] hoch gepreist. 3 Beide Autoren schrieben ihr Fürstenlob nicht aus unparteiischer Perspektive. Während Rosenplüt als Nürnberger ein erbitterter Feind des Bayern-Landshuter Kriegsgegners Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg war, vertrat Füetrer eine dezidiert wittelsbachische Position. Gleichwohl war dieses Urteil nicht ohne Wirkung auf das historische Bild Ludwigs des Reichen. Noch in jüngerer Zeit - 1 Für wertvolle Hinweise und unverzichtbare Hilfe, besonders bei der Identifizierung von Orts- und Personennamen, bin ich Herrn Dr. Reinhard H. Seitz, Neuburg a. d. Donau, und Herrn Prof. Dr. Rolf Kießling, Augsburg, zu großem Dank verpflichtet. 2 H ANS R OSENPLÜT , Von Herzog Ludwig von Baiern, in: R OCHUS VON L ILIENCRON (Hg.), Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert 1, Leipzig 1865, Nr. 110, S. 517. Zu Rosenplüt siehe zuletzt M ARIO M ÜLLER , Art. Hans Rosenplüt, in: W OLFGANG A CHNITZ (Hg.), Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, Bd. 5, Berlin 2013, Sp. 1533-1541. 3 U LRICH F ÜETRER , Bayerische Chronik, hg. von R EINHOLD S PILLER (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte NF II/ 2), München 1909, S. 212. Zu Füetrer (oder Fuetrer) siehe K URT N YHOLM , Art. Fuetrer, Ulrich, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 11, 2. Aufl. Berlin-New York 2004, Sp. 470. <?page no="49"?> U WE T R E S P 50 wurde ihm bisweilen eine ungewöhnlich schonungsvolle Behandlung seiner Gegner im Krieg attestiert. 4 Demgegenüber zeichneten insbesondere die Augsburger Chronisten des 15. Jahrhunderts, wie zum Beispiel Burkart Zink, Hektor Mülich oder Johannes Frank, ein gänzlich anderes Bild von der Kriegsführung Ludwigs, das selbstverständlich ebenso wenig unparteiisch war wie die Lobgesänge Rosenplüts und Füetrers. 5 Dennoch dürften sie der Wahrheit etwas näher gewesen sein. Es genügt schließlich bereits ein knapper Blick auf den Verlauf des Süddeutschen Fürstenkriegs von 1458 bis 1463 und die von den verschiedenen Kriegsparteien bei ihren Feldzügen verursachten Schäden, um festzustellen, dass sich die Kriegspraxis Ludwigs des Reichen nicht von der üblichen Rücksichtslosigkeit zeitgenössischer Kriegshandlungen unterschied. 6 1. Kriegsführung und Fehde im späten Mittelalter Der spätmittelalterliche Krieg folgte dem Prinzip der nachhaltigen Schädigung des Gegners. Landschaften wurden weiträumig verheert, Dörfer geplündert und verbrannt, Ernten vernichtet und Vieh geraubt. Zu leiden hatte darunter vor allem die Landbevölkerung, während Fürsten, Adel und Städte - insoweit sie nicht selbst Opfer wurden - auf Beutezug gingen. 7 In dieser Hinsicht ist die Kriegsführung des - 4 So zum Beispiel: A NDREAS K RAUS , Sammlung der Kräfte und Aufschwung (1450-1508), in: M AX S PINDLER (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 2, 2. Aufl. München 1988, S. 298-305. Ausgangspunkt waren dabei nicht zuletzt die Bemerkungen von A UGUST K LUCKHOHN , Ludwig der Reiche, Herzog von Bayern, Nördlingen 1865, S. 218, zur Schlacht bei Giengen 1462. Vgl. dazu E RNST A ICHNER , Herzog Ludwig IX. »der Reiche« von Bayern-Landshut (1417-1479), in: JHVD 113 (2012), S. 89-105, hier 101-103. 5 Vgl. Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 5: Augsburg (Die Chroniken der schwäbischen Städte 2), hg. von F ERDINAND F RENSDORFF , Leipzig 1866; Bd. 22: Augsburg (Die Chroniken der schwäbischen Städte 3), hg. von F RIED - RICH R OTH / M ATTHIAS L EXER , Leipzig 1892; Bd. 25: Augsburg (Die Chroniken der schwäbischen Städte 5), hg. von F ERDINAND F RENSDORFF / F RIEDRICH R OTH / M ATTHIAS L EXER , Leipzig 1896. Zu den Augsburger Berichten über die Kriegsereignisse im Jahr 1462 siehe P ETER F LEISCHMANN , Auswirkungen des Reichskriegs von 1462 auf Orte in Bayerisch- Schwaben, in: JHVD 113 (2012), S. 239-262, bes. 247f. 6 Siehe dazu die Ereignisgeschichte bei J OSEPH W ÜRDINGER , Kriegsgeschichte von Bayern, Franken, Pfalz und Schwaben von 1347 bis 1506, Bd. 2, München 1869. Detailliert zu den Kriegsereignissen 1462 in Schwaben P. F LEISCHMANN , Auswirkungen (Anm. 5), S. 248-258. 7 Siehe zum Beispiel die anschauliche Analyse bei G ABRIEL Z EILINGER , Lebensformen im Krieg. Eine Alltags- und Erfahrungsgeschichte des süddeutschen Städtekriegs 1449/ 50 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 196), Stuttgart 2007. <?page no="50"?> S IC HER U NGS BR IEFE UND G E FANGENE 51 - ausgehenden Mittelalters nicht von der gleichzeitigen Fehdeführung zu trennen, die in den letzten Jahrzehnten zunehmend - und vergleichsweise erheblich stärker als die Kriegspraxis - das Interesse der historischen Forschung in Deutschland geweckt hat. 8 Ein Angelpunkt der Diskussion war dabei der soziale Sinn der adeligen Fehdepraxis. Einerseits wurde eine aus der Fehdeführung folgende Stabilisierung der Adelsherrschaft über die Landbevölkerung konstatiert, andererseits eine soziale Stratifikation des Adels oder eine Mobilisierung und Verstetigung sozialer Netzwerke, die über die Fehdehelfer zu rekonstruieren sind. 9 Umso mehr muss Gleiches aber auch im Blick auf die Kriegsführung der Fürsten angenommen werden, zumal man sie sinnvoll mit der Fehdepraxis in Verbindung setzen sollte. Hinsichtlich der rechtlichen Grundlagen und der Austragungsformen ist die Gleichartigkeit von Fürstenkrieg und Fehde jedenfalls kaum zu leugnen. Signifikante Unterschiede lassen sich eigentlich nur im Ausmaß und in den tatsächlichen Zielen der Gewaltanwendung feststellen. Die soziale Bedeutung der fürstlichen Kriegsführung wird schon in den eingangs vorgestellten zeitgenössischen Zitaten sichtbar: Betont wird die rücksichtsvolle Kriegsführung des bayerischen Herzogs, der die Landbevölkerung schonte und schützte, sowie sein ritterlich geführter Krieg, der als Vorbild dienen sollte und zugleich dem Adel den (militärischen) Fürstendienst als attraktives Betätigungsfeld zuwies. - 8 Siehe dazu vor allem die Sammelbände: J ULIA E ULENSTEIN / C HRISTINE R EINLE / M ICHA - EL R OTHMANN (Hg.), Fehdeführung im spätmittelalterlichen Reich. Zwischen adeliger Handlungslogik und territorialer Verdichtung (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 7), Affalterbach 2013; M ATTHIS P RANGE (Hg.), Fehdehandeln und Fehdegruppen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, Göttingen 2014; K URT A NDERMANN (Hg.), »Raubritter« oder »Rechtschaffene vom Adel«? Aspekte von Politik, Friede und Recht im späten Mittelalter (Oberrheinische Studien 14), Sigmaringen 1997. 9 Auslöser der Diskussion waren die Thesen von G ADI A LGAZI , Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch (Historische Studien 17), Frankfurt am Main 1996; und J OSEPH M ORSEL , »Das sy sich mitt der besstenn gewarsamig schicken, das sy durch die widerwertigenn Franckenn nitt nidergeworffen werdenn«. Überlegungen zum sozialen Sinn der Fehdepraxis am Beispiel des spätmittelalterlichen Franken, in: D IETER R ÖDEL / J OACHIM S CHNEIDER (Hg.), Strukturen der Gesellschaft im Mittelalter. Interdisziplinäre Mediävistik in Würzburg, Wiesbaden 1996, S. 140-167. Siehe dazu die sachkundigen Entgegnungen von K URT A NDERMANN , Adelsfehde zwischen Recht und Unrecht. Das Beispiel der Dohna-Fehde, in: M ARTINA S CHATT - KOWSKY (Hg.), Die Familie von Bünau. Adelsherrschaften in Sachsen und Böhmen vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Studien zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 27), Leipzig 2008, S. 151-166; und K LAUS G RAF , Gewalt und Adel in Südwestdeutschland. Überlegungen zur spätmittelalterlichen Fehde (2000), URL: http: / / hsozkult.geschichte.huberlin.de/ BEITRAG / essays/ grkl0500.htm (aufgerufen am 20.2.2017). <?page no="51"?> U WE T R E S P 52 Mehr noch als bei der adeligen Fehdeführung sollte man also beim fürstlichen Krieg des späten Mittelalters die hintergründigen sozialen und herrschaftlichen Aspekte berücksichtigen. Ausgehend von ihrer ideellen Zuständigkeit für Rechts- und Friedenswahrung konnten die Fürsten ein Gewaltmonopol beanspruchen, indem sie sich im Krieg als Beschützer des Landes inszenierten, denen sich Adel, Städte und Bauern unterzuordnen hatten. Gleichzeitig sorgte die notwendige Kriegsfinanzierung für Ausbau und Verdichtung der landesherrlichen Finanzverwaltung. Die fürstliche Kriegsführung in allen ihren Facetten führte also zu Einbindung in und Unterordnung unter die Landesherrschaft und erweist sich somit als Motor im Prozess von Herrschaftsausbau und Territorialisierung. Sie zielte dabei gleichermaßen auf die Nachbarn wie auf die eigenen Untertanen. Besonders gut lässt sich dies im Rahmen des Süddeutschen Fürstenkrieges von 1458 bis 1463 beobachten, bei dem die beiden Hauptkonkurrenten auf dem östlichen Kriegsschauplatz, Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg und Herzog Ludwig der Reiche von Bayern-Landshut, um die Herrschaft vor allem über Franken kämpften. 10 Als sich dann 1462 der Krieg nach Schwaben verlagerte, ging es nicht zuletzt um die langfristigen herrschaftlichen Ambitionen der Wittelsbacher gegenüber den Habsburgern und den Reichsstädten in diesem Raum. 11 Aus diesem Jahr 1462 haben sich in den niederbayerischen Archivalien, vor allem in den sogenannten Neuburger Kopialbüchern, einige in der bisherigen Forschung kaum - 10 Eine moderne Gesamtdarstellung dieses wahrscheinlich größten Krieges innerhalb des Reiches im 15. Jahrhundert ist immer noch ein Forschungsdesiderat. Siehe zusammenfassend oder zu einzelnen Aspekten: R EINHARD S EYBOTH , Fürstenkrieg, 1458-1463 (2014), in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http: / / www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/ Fürstenkrieg, 1458-1463 (aufgerufen am 20.2.2017); E BERHARD B IRK , Politische Rahmenbedingungen und strategische Grenzen im Verlauf des Reichskrieges von 1459- 1462 - ein Überblick, in: JHVD 113 (2012), S. 107-130; I RMGARD L ACKNER , Herzog Ludwig IX. der Reiche von Bayern Landshut (1450)-1479. Reichsfürstliche Politik gegenüber Kaiser und Reichsständen, Diss. Regensburg 2010, URL: https: / / epub.uni-regensburg.de/ 16019/ , S. 190-232 (aufgerufen am 20.2.2017); H UBERT E MMERIG , Der Krieg zwischen Herzog Ludwig dem Reichen und Markgraf Albrecht Achilles und der Beginn der Schinderlingszeit in Bayern-Landshut, in: T HEO K ÖLZER u. a. (Hg.), De litteris, manuscriptis, inscriptionibus … Festschrift zum 65. Geburtstag von Walter Koch, Wien 2007, S. 525- 541; D IETER W EISS , Das Ringen um die Vormacht, in: M AX S PINDLER / A NDREAS K RAUS (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 3/ 1: Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, 3. Aufl. München 1997, S. 425-441. 11 W ILHELM L IEBHART , Die Wittelsbacher, Bayern und Ostschwaben. Informelle Herrschaft, Sicherheitspolitik und Arrondierung, in: JHVD 113 (2012), S. 71-87; I. L ACKNER , Herzog Ludwig IX. (Anm. 10), S. 232-247. <?page no="52"?> S IC HER U NGS BR IEFE UND G E FANGENE 53 - beachtete Quellen erhalten, 12 die zu weiterführenden Überlegungen zu den sozialen bzw. herrschaftlichen Hintergründen der Kriegsführung Herzog Ludwigs des Reichen einladen. Den Anfang machen dabei als normative Quellen die Feldordnungen des Herzogs für seine Truppen aus dem April 1462. Ihnen folgen in den Akten unmittelbar 28 abschriftlich oder als Notizen überlieferte Sicherungsbriefe aus dem Sommer 1462, mit denen Ludwig verschiedene Dörfer und Güter hauptsächlich in Schwaben vor Übergriffen seiner Söldner schützen wollte. Und schließlich finden sich in den Akten umfangreiche Gefangenenverzeichnisse aus den Feldzügen des Sommers 1462, die einen kurzen Blick auf die Praxis beim Umgang mit den Kriegsgefangenen erlauben. 2. Normative Grundlage: Die bayerischen Feldordnungen von 1460 und 1462 Blicken wir also zunächst auf die Anordnungen, die Herzog Ludwig für die Sicherung und den Schutz der von seinem Heer eroberten Orte und deren Bewohner traf. In seiner Feldordnung, die er am 10. April 1462 im Feldlager bei Lauingen erließ, 13 musste er schon in der Präambel zugeben, dass ihm ein solcher Schutz vor den eigenen Söldnern bisher kaum gelungen war. Das lässt sich einerseits auf den allgemeinen Kriegsalltag beziehen, könnte aber andererseits auch ganz konkret mit den vorangegangenen Plünderungszügen des bayerischen Heeres in Schwaben nach der Schlacht bei Gundelfingen am 24. März 1462 zusammenhängen, bei denen Anfang April insbesondere Wertingen und die Gegend um Ulm in Mitleidenschaft gezogen wurden. 14 Die Feldordnung sagt also im Grunde mehr darüber aus, wie sich das Heer im Feld verhielt, als über seine tatsächlich durchgesetzte Disziplin. Gewalttätigkeiten und eigenmächtiges Handeln der Söldner dürften damit auch weiterhin an der Tagesordnung gewesen sein. Streit und Übergriffe der Kriegsleute ergaben sich insbesondere immer wieder wegen der Verteilung der Beute. Deshalb regelte Herzog Ludwig in seinen Feld- - 12 Dazu bisher am umfassendsten P. F LEISCHMANN , Auswirkungen (Anm. 5). Einiges davon auch bereits knapp in den Fußnoten erwähnt bei J. W ÜRDINGER , Kriegsgeschichte (Anm. 6), S. 56. 13 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 230-233. Dazu ausführlich U WE T RESP , Söldner aus Böhmen. Im Dienst deutscher Fürsten: Kriegsgeschäft und Heeresorganisation im 15. Jahrhundert (Krieg in der Geschichte 19), Paderborn 2004, S. 295-300. Siehe auch P. F LEISCHMANN , Auswirkungen (Anm. 5), S. 245f. 14 Dazu auf der Grundlage der Augsburger Chroniken P. F LEISCHMANN , Auswirkungen (Anm. 5), S. 254f. <?page no="53"?> U WE T R E S P 54 ordnungen, dass alle fahrende Habe - also alles mobile Inventar - in einer durch Sturmangriff eroberten Stadt als Beute an die Söldner fallen sollte. Dem Hauptmann, vermutlich jenem, der den Sturmangriff geleitet hatte, stand bei der Verteilung das beste und wertvollste Stück dieser mobilen Beute zu. Der Herzog als Kriegsherr beanspruchte hingegen alle Immobilien: die zarg, slos, stet, hawser, stock und stain [die Mauern, Schlösser, Städte und Häuser aus Fachwerk oder Stein], also alle Gebäude und Befestigungen. Darüber hinaus mussten ihm alle in dem eroberten Ort gefangenen Personen ausgeliefert werden. Den Söldnern, die diese Personen gefangengenommen hatten, sollte nur dann etwas an ihnen zustehen, wenn die Gefangenen schaczper [schatzbar] wären, also ein Lösegeld von ihnen zu erhoffen war. In diesem Fall versprach der Herzog den Söldnern für jeden dieser Gefangenen einen Fanggulden als Kopfprämie. Wenn sich aber eine Burg oder Stadt noch vor Beginn des Sturmangriffs dem Herzog ergab oder ihm nach Verhandlungen gegen Lösegeld die Tore öffnete, sollten ihm allein alle darin befindlichen Leute und Güter zufallen. Weder der Hauptmann noch die Söldner durften dann eigene Ansprüche auf diese Beute erheben. Gleiches galt für alle erpressten Gelder aus Huldigungen und Brandschatzungen, welche die unterworfenen Orte dem Herzog zahlen mussten. Diese Einnahmen hatten anscheinend gelegentlich die kommandierenden Hauptleute für sich in Anspruch genommen, denn Herzog Ludwig verfügte schon 1460 dazu ausdrücklich: und haben dy hawtläwt nichtz darin, dann was wir in von gnaden wegen tun. 15 Trotz dieser klaren Bestimmungen musste der Herzog noch in seiner Feldordnung von 1462 über ein offenbar häufig aufgetretenes Fehlverhalten klagen: wann auch ettwas gewonnen wirdet, oder sich an uns gibt, so vallen dannoch ettlich darein und nemen das guet zu irn hannden, womit sie seine teyding [Übereinkommen] und zusagen verletzen würden. Solche eigenmächtigen, undisziplinierten Übergriffe der Söldner waren für den Herzog besonders ärgerlich, nicht nur wegen der dabei entgangenen Beute, sondern auch, weil sein Ansehen durch diesen Wortbruch gefährdet war. Für derartiges Verhalten sollten die Söldner daher künftig schwer an Leib und Gut bestraft werden. Besonderer Schutz galt darüber hinaus den Kirchen, in denen kainer, wer der sey, kainicherlay kelich, messpücher, mesgewanndt oder annderlay ordnat zu der kirchen gehören nicht nemen, oder das heilig wirdig sacrament uneren und ausschütten solle. Geschützt werden sollten aber vor allem sämtliche Untertanen des Herzogs - sowie alle Orte und Menschen, die mit sicherbrieven des Herzogs ausgestattet waren. - 15 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 23: Bestimmungen Herzog Ludwigs des Reichen von Bayern-Landshut zur Verteilung von Beute und Gefangenen vom 30. März 1460, fol. 136. Siehe dazu U. T RESP , Söldner (Anm. 13), S. 298. <?page no="54"?> S IC HER U NGS BR IEFE UND G E FANGENE 55 - 3. Sicherungsbriefe: Brandschatzung, Herrschaftssicherung oder Wirtschaftspolitik? Solche Sicherungsbriefe, von denen einige als Abschrift oder Notiz in den Neuburger Kopialbüchern überliefert sind, 16 sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Dass es sich bei diesen überlieferten Stücken um eine vollständige Sammlung aller von Herzog Ludwig dem Reichen während des Fürstenkrieges ausgegebenen Sicherungsbriefe handelt, ist unwahrscheinlich, da sie alle erst aus den letzten Kriegsmonaten nach den entscheidenden Ereignissen des Jahres 1462, den Schlachten bei Gundelfingen (24. März) und Giengen (19. Juli), stammen. Sie sind hier aber nicht zuletzt deshalb von besonderem Interesse, weil sie bis auf wenige Ausnahmen alle die Region Ostschwaben betreffen. Es lohnt sich daher, mögliche Zusammenhänge und Hintergründe dieser Sicherungsbriefe zu erwägen. Ein inhaltlich beispielhaftes Stück ist der Sicherungsbrief für das Dorf Mertingen bei Donauwörth vom 14. August 1462: Wir Ludwig etc. bekennen offennl[ich] mit d[ies]em brief, das wir Märding das dorff, Hewssen den weiler, auch Konigsmul und Hagmul, mitsambt den armenleuten darzu und darein gehornde, gesichert haben unnd sichern die auch wissenntlich in craft d[ies]es briefs fur uns, die unnsern und der wir ungeverlich machtig sein, fur nam, brandt, vencknuß und geverlich beschedigung, von hewt, dato d[ies]es briefs, bis auf sand Marteins tag schirstkomende, außgenomen treffenlich rais oder hereßczuge, ob wir die tatn, dafur sollen sy nicht gesichert sein. Sy sollen auch unsere veinde nicht hawsen, hofen, etzen, trencken, noch furschieben, noch unns, die unnsern land und lewte kainerlai schaden, weder haimlich noch offennlich zucziehen. Wo sy aber das überfürn, mogen wir sy hallten als annder unser veinde. Darauf so bevelhen wir ainem yeden und allen unnsern haubtlewten, anwalden, pflegern und andern unser undertanen, das ir solh obgenannt unnser sicherung hallten und dawider nicht tun, noch andern den unnsern zutun gestatten wellet. Daran tut ir all und ewr yeder unser maynung und willen. Datum under unnserm secrete uff sambstag vor Marie assumpcionis, anno domini etc. LXsecundo. 17 In dieser wie auch in den anderen Urkunden werden also möglichst genau die davon geschützten Orte, Höfe und Personen genannt, dann die Dauer des zugesagten Schutzes sowie mögliche Einschränkungen, wie notwendige Versorgungsmaßnahmen im Rahmen von Kriegshandlungen. Weiterhin wird unter Androhung von Vergeltung zur Bedingung gemacht, dass sich die geschützten Orte friedlich und freundlich verhalten. Und schließlich werden die herzoglichen Beamten und Hauptleute aufgefordert, sich an dieses Schutzversprechen ihres Herrn zu halten. - 16 Siehe die Auflistung mit knappen Inhaltsangaben im Anhang. 17 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 243. Siehe Anhang, Nr. 16. <?page no="55"?> U WE T R E S P 56 Bei aller inhaltlichen Klarheit der Sicherungsbriefe lässt sich über ihre tatsächlichen Hintergründe jedoch nur spekulieren. Eine naheliegende Erklärung wäre, dass die Sicherungsbriefe infolge von Brandschatzungen ausgestellt wurden, also ganz einfach zur spätmittelalterlichen Kriegspraxis gehörten. Eine solche Brandschatzung bedeutete keineswegs ein Niederbrennen der Dörfer. Stattdessen war sie das übliche im Krieg angewandte Verfahren zur Erpressung von Zahlungen durch die Dorfgemeinschaft oder den bzw. die Dorfbesitzer, indem sich diese von der angedrohten Verbrennung ihrer Häuser und Felder freikaufen mussten. 18 Dieses Erpressungsverfahren hatte für beide Seiten Vorteile: Die Angreifer vermieden damit ein möglicherweise gefährliches Eindringen in die Dörfer, bei denen sich die Bauern mit Waffen der Plünderung erwehren konnten. Zudem blieben die Dörfer der weiteren herrschaftlichen Unterwerfung und Ausbeutung erhalten, was im Interesse des Kriegsherrn liegen konnte. Auf der anderen Seite vermieden die Bauern und die Grund- oder Pachtherren auf diese Weise eine nachhaltige Schädigung ihrer Existenzgrundlagen und ihres Besitzes, auch wenn die Kosten der Brandschatzung sicher zunächst schmerzhaft waren. Die flächendeckende Unterwerfung durch erzwungene Huldigungen und Brandschatzungen war eine übliche Kriegspraxis der Fürsten, insbesondere dort, wo sie eigene herrschaftliche Interessen verfolgten. Auf diese Weise konnten sie zumindest bis zum nächsten Waffenstillstand oder Friedensschluss faktische Herrschaft über eigentlich fremde Güter ausüben und diese ökonomisch nutzen, um finanzielle Belastungen durch den Krieg zu senken und die Truppen direkt im Feld zu versorgen. Zugleich wurden die ökonomischen Ressourcen der somit unterworfenen Dörfer der Gegenseite und ihrer Kriegsführung entzogen, wodurch diese nachhaltig geschädigt wurde. Im Bereich der Möglichkeiten lag sogar ein dauerhafter Herrschaftsausbau. Immerhin war es nicht auszuschließen, dass es dem siegreichen Fürsten bei den anschließenden Friedensverhandlungen gelang, die einmal eroberten Dörfer zu behaupten. Nicht zu unterschätzen wäre in diesem Zusammenhang auch die mit den Sicherungsbriefen einhergehende Herrschaftslegitimation. Herzog Ludwig versprach den Unterworfenen einen bedingten Schutz vor den Übergriffen seiner eigenen Söldner, stellte sich ihnen also als potenter Schutzherr dar, der dieser Aufgabe offenbar besser gewachsen war als seine Gegner. Angesichts solcher unmittelbarer Zusammenhänge zwischen Herrschaftsausbau, Ökonomie und Kriegspraxis lässt sich jedenfalls eine einfache ritterliche Großmut des erfolgreichen Kriegsherrn als Hintergrund der Sicherungsbriefe Herzog Ludwigs des Reichen sicher ausschließen. Bestenfalls könnte man vielleicht die - 18 H ORST C ARL , Art. Brandschatzung, in: Enzyklopädie der Neuzeit 2, Stuttgart-Weimar 2005, Sp. 385-388; S TEFAN X ENAKIS , Gewalt und Gemeinschaft. Kriegsknechte um 1500 (Krieg in der Geschichte 90), Paderborn 2015, S. 307-310. <?page no="56"?> S IC HER U NGS BR IEFE UND G E FANGENE 57 - ausdrückliche Nennung einiger Besitzungen von geistlichen Institutionen als tatsächliche Umsetzung des von Herzog Ludwig in seiner Feldordnung geforderten Kirchenschutzes deuten. Es fällt jedoch auf, dass - zumindest in der hier zur Verfügung stehenden Überlieferung - dabei nur wenige ausgewählte Institutionen begünstigt wurden: einige Häuser des Deutschen Ordens in Franken, 19 verschiedene Kirchen, Klöster, das Spital und das Domkapitel von Augsburg, 20 das Spital zu Kaufbeuren 21 und - besonders bemerkenswert - das Hauskloster der Hohenzollern im fränkischen Heilsbronn. 22 Steckte hinter dem Sicherungsbrief für Heilsbronn vielleicht eine gewisse gegenseitige Rücksichtnahme im Wechselspiel mit dem hauptsächlichen Kriegsgegner Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg? Einige weitere Sicherungsbriefe scheinen derartiges anzudeuten, auch wenn eine solche Interpretation auf den ersten Blick wenig wahrscheinlich erscheint. So findet sich zum Beispiel im Sicherungsbrief für das Dorf Aystetten (westlich von Augsburg) der Hinweis darauf, dass er als Erwiderung für einen Sicherungsbrief des kaiserlichen Hauptmanns Markgraf Albrecht für einen Hof und eine Mühle in Gailenbach bei Gersthofen erteilt wurde. 23 Ebenso ausdrücklich bei einem Sicherungsbrief Herzog Ludwigs für einige Dörfer bei Meitingen am Lech, die einem Augsburger Bürger gehörten, als Entgegnung für einen Sicherungsbrief des Markgrafen Albrecht von Brandenburg über einige Güter des herzoglich bayerischen Rates Heinrich von Freyberg. 24 Gleiches findet sich noch bei weiteren Sicherungsbriefen. 25 Die Nennung bestimmter Personen, Familien oder Institutionen bei diesen wechselseitigen Schutzversprechen könnte darauf hindeuten, dass es dabei entweder um gegenseitige Zugeständnisse ging oder um gute Beziehungen der Geschützten zu beiden Kriegsherren. Denkbar wäre aber auch eine Konkurrenz der gegnerischen Fürsten bei der herrschaftlichen Absicherung eroberter Gebiete. Die langfristigen Interessen der Landshuter Wittelsbacher in diesem Raum wurden bereits erwähnt. 26 Sie kollidierten hier nicht selten mit denen der Habsburger, als deren Interessensvertreter der kaiserliche Feldhauptmann Markgraf Albrecht Achilles agiert haben könnte. - 19 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 236. Siehe Anhang, Nr. 1. 20 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 238, 243, 245, 248. Siehe Anhang, Nr. 9, 15, 21, 27. 21 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 247. Siehe Anhang, Nr. 25. 22 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 236f. Siehe Anhang, Nr. 3. 23 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 239. Siehe Anhang, Nr. 11. 24 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 240. Siehe Anhang, Nr. 12. Wahrscheinlich wurde dieser Sicherungsbrief aber nicht ausgestellt. 25 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 239, 242. Siehe Anhang, Nr. 10, 14. 26 Siehe oben Anm. 11. <?page no="57"?> U WE T R E S P 58 Wie aus diesen Beispielen bereits ersichtlich ist, finden sich in dem hier behandelten Bestand von Sicherungsbriefen Herzog Ludwigs des Reichen oft Angaben über Personen oder Familien, die als Grund- oder Pachtherren dieser Dörfer oder Höfe von dem versprochenen Schutz profitieren sollten. Diese Beobachtung lenkt die Überlegungen über die möglichen Hintergründe dieser Sicherungsbriefe noch in andere Richtungen. Wenn in diesen Quellen konkrete Namen genannt werden, handelt es sich ausschließlich um bedeutende Augsburger Patriziergeschlechter, die zur wirtschaftlichen und politischen Elite der Stadt gehörten, wie die Familien Konzelmann, Ridler, Langenmantel von Radau, Ilsung, Schmucker, Honold. Sie hatten während des 14. und 15. Jahrhunderts im Umland der Stadt großen Grundbesitz erworben, 27 der nun durch den Krieg geschädigt zu werden drohte. In weiteren Sicherungsbriefen ist nur unbestimmt von Augsburger Bürgern oder einmal auch von Ulmer Bürgern die Rede, denen die geschützten Dörfer oder Höfe gehörten. Da sie Landbesitzer waren, wird man auch sie zu den reicheren Familien dieser Städte rechnen dürfen. Und auch die oben genannten geistlichen Institutionen kommen hier wieder in den Blick. Schließlich standen sie einerseits sicher in enger Verbindung zu den bedeutenden Patrizierfamilien und vertraten andererseits nicht selten eine andere Politik als die Stadt. In diesem Zusammenhang wäre etwa darauf hinzuweisen, dass der Augsburger Bischof und Kardinal Peter von Schaumberg sich im Fürstenkrieg neutral verhielt und zwischen den Kriegsparteien vermittelte. 28 Im Hintergrund dieser Sicherungsbriefe könnten demnach innerstädtische Differenzen um die Kriegsteilnahme stehen, die Herzog Ludwig der Reiche hier bewusst zu fördern suchte, um seine Gegner zu schwächen. Nur widerstrebend und zögernd hatte die Reichsstadt Augsburg auf nachdrückliche Aufforderung Kaiser Friedrichs III. hin 1461 dem niederbayerischen Herzog den Krieg erklärt. Dass dieser Schritt insbesondere wegen der befürchteten wirtschaftlichen Folgen innerhalb Augsburgs umstritten war, deuten einige Äußerungen von Augsburger Chronisten an, die unter anderem betonen, die Stadt habe durch den Krieg großen schaden und faintschafft erfahren. 29 Tatsächlich verschärften der Krieg und seine Folgen die - 27 Aus den zahlreichen Arbeiten von Rolf Kießling zu diesem Thema sei hier nur knapp auf zwei zusammenfassende Darstellungen hingewiesen: R OLF K IESSLING , Bürgerlicher Besitz auf dem Land - ein Schlüssel zu den Stadt-Land-Beziehungen im Spätmittelalter, aufgezeigt am Beispiel Augsburg und anderer ostschwäbischer Städte, in: P ANKRAZ F RIED (Hg.), Bayerisch-Schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg 1975-1977 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 1), Sigmaringen 1979, S. 121- 140; R OLF K IESSLING , Augsburger Bürger, Klöster und Stifte als Grundherren, in: Jahresbericht des Heimatvereins für den Landkreis Augsburg 20 (1985/ 86), S. 99-120. 28 R. S EYBOTH , Fürstenkrieg (Anm. 10). 29 So der Augsburger Bürgermeister Ulrich Schwarz in seiner Chronik, hier zitiert nach J ÖRG R OGGE , Für den gemeinen Nutzen. Politisches Handeln und Politikverständnis von - <?page no="58"?> S IC HER U NGS BR IEFE UND G E FANGENE 59 - seit der Mitte des 15. Jahrhunderts spürbare ökonomische Depression in der Stadt. 30 Etliche Augsburger Kaufleute unterhielten zudem enge wirtschaftliche Beziehungen zum Herzogtum Bayern-Landshut. Der Krieg schädigte also nicht nur diese Händler, sondern zugleich auch die bayerische Wirtschaft. Mit den Sicherungsbriefen wird jedenfalls deutlich, dass Herzog Ludwig ein starkes Interesse daran hatte, den Besitz und Handel bestimmter Augsburger (und Ulmer) Familien zu schützen, wobei sich politische und wirtschaftliche Interessen beider Seiten eng miteinander verbunden haben dürften. 31 Ein besonders auffälliger Sicherungsbrief verdient in diesem Zusammenhang noch weitere Beachtung, weil er zusätzliche Fragen aufwirft. Im Kopialbuch, in dem er als Abschrift überliefert ist, erhielt er die Überschrift Sicherung der strass. 32 Damit war jedoch keine Straße gemeint, sondern das Gebiet der sogenannten Straßvogtei nördlich und südlich von Augsburg, also des Raumes, in dem die wichtige Handelsstraße entlang des Lechs nach Italien verlief. Daher handelte es sich hier um einen flächendeckenden Sicherungsbrief für eine ganze Reihe von Dörfern in einem Korridor zwischen Wertach und Lech im Süden Augsburgs und zwischen Lech und Schmutter nördlich der Stadt. Alle Dörfer in diesem langgezogenen Raum, der in der Urkunde als zirckel bezeichnet wird, sollten mit diesem Sicherungsbrief wie üblich vor Plünderung, Brand und Geiselnahme durch das herzogliche Kriegsvolk geschützt werden. Interessant sind aber die ungewöhnlichen weiteren Regelungen. Demnach durften die Einwohner dieser Orte innerhalb der Frist des von ihnen beschworenen Landfriedens und innerhalb des durch Herzog Ludwig gesicherten Bereiches freien Handel und Wandel treiben - ausdrücklich auch mit der Stadt Augsburg. 33 Bemerkenswert sind dabei Datum und Ort der Ausstellung dieses Sicherungsbriefes, der 26. Juli 1462, in unnserm here bey Augsburg. An jenem Tag begann Herzog Ludwig die Belagerung der feindlichen Stadt. Der gleichzeitig einigen umliegenden Dörfern gewährte freie Handel mit den Belagerten steht dazu jedoch in einem merkwürdigen Widerspruch, der nur mit Ludwigs eigenen wirtschaftlichen Interessen - oder denen seiner möglichen Augsburger Parteigänger - erklärt werden kann. Erst nach dieser Sicherung der strass Ende Juli - Rat und Bürgerschaft in Augsburg im Spätmittelalter (Studia Augustana 6), Tübingen 1996, S. 30. Vgl. dazu auch P. F LEISCHMANN , Auswirkungen (Anm. 5), S. 258-262. 30 J. R OGGE , Nutzen (Anm. 29), S. 30f. 31 Zu diesem Themenkomplex siehe auch C HRISTOF P AULUS , Herzog Ludwig IX. der Reiche von Bayern-Landshut (1450-1479) und die Reichsstadt Augsburg. Spätmittelalterliche Außenpolitik? , in: ZHVS 101 (2008), S. 7-34. 32 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 241. Siehe Anhang, Nr. 13. 33 Siehe auch die Inhaltsangaben bei P. F LEISCHMANN , Auswirkungen (Anm. 5), S. 260, mit leichten Lesefehlern (Dunburg statt Aimberg) und falscher Datierung. <?page no="59"?> U WE T R E S P 60 1462 folgten dann im August die weiteren Sicherungsbriefe für Orte und Höfe in Ostschwaben. Möglicherweise griffen also der Herzog und seine mutmaßlichen Augsburger Verbindungsleute ein bei der Straßvogtei bewährtes Modell auf und bauten es zu einem erweiterten Schutzsystem, einer faktischen Landshuter Schutzherrschaft in Ostschwaben, aus. 4. Kriegsgefangene: Theorie und Praxis im Fürstenkrieg Neben Kriegsordnungen und Sicherungsbriefen finden sich unter den zahlreichen, in den Neuburger Kopialbüchern überlieferten Quellen zur bayerischen Kriegs- und Heeresorganisation in jener Zeit auch Aufzeichnungen über Kriegsgefangene, die die Landshuter Kriegsverwaltung im Sommer 1462 erstellt hat. Sie beziehen sich also gleichermaßen auf den damaligen ostschwäbischen Kriegsschauplatz wie die Sicherungsbriefe Herzog Ludwigs des Reichen. Das Thema der Kriegsgefangenschaft im Mittelalter ist bislang in seiner Gesamtheit noch weitgehend als Forschungsdesiderat anzusehen. 34 Bei den wenigen vorhandenen Studien, die sich diesem Thema widmen, stehen zumeist nur bestimmte Einzelaspekte der normativen Regeln und Praktiken von Gefangennahme, Gefangenschaft und Auslösung im Vordergrund. 35 Hervorzuheben ist demnach vor allem die ökonomisch-soziale Dimension der Kriegsgefangenschaft im Mittelalter, die jene Gefangenen begünstigte, die von Stand und Vermögen waren. Sie konnten sich einerseits auf einen allgemeinen adeligen Ehrenkodex verlassen, der die Tötung von unterworfenen und sich ergebenden Standesgenossen erschwerte, andererseits konnte sich der Gegner von ihnen ein hohes Lösegeld erhoffen, das er - 34 So die immer noch gültige Feststellung von H ANNELORE Z UG T UCCI , Kriegsgefangenschaft im Mittelalter. Probleme und Forschungsergebnisse, in: H ANS -H ENNING K ORTÜM (Hg.), Krieg im Mittelalter, Berlin 2001, S. 123-140, hier 123-125. 35 Siehe z. B.: A RNULF N ÖDING , »Min Sicherheit si din«. Kriegsgefangenschaft im christlichen Mittelalter, in: R ÜDIGER O VERMARS (Hg.), In der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg, Köln 1999, S. 99-117; M ARTIN C LAUSS , Die Gefangenen von Agincourt. Kriegsgreuel im Jahr 1415, in: S ÖNKE N EITZEL / D ANIEL H OHRATH (Hg.), Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert (Krieg in der Geschichte 40), Paderborn 2008, S. 99-118; B ASTIAN W ALTER -B OGEDAIN , Je l’ai pris! Je l’ai pris! Die Gefangennahme von Königen auf dem spätmittelalterlichen Schlachtfeld, in: M ARTIN C LAUSS / A NDREA S TIEL - DORF / T OBIAS W ELLER (Hg.), Der König als Krieger. Zum Verhältnis von Königtum und Krieg im Mittelalter (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien 5), Bamberg 2015, S. 137-158. <?page no="60"?> S IC HER U NGS BR IEFE UND G E FANGENE 61 - zu seiner Beute rechnete. 36 Nicht selten gaben diese wertvollen Gefangenen ihrem Fänger ihr Ehrenwort, mit dem sie sich zur Lösegeldzahlung und Waffenruhe verpflichteten. Daraufhin wurden sie betagt, das heißt, ihnen wurde ein genauer Zeitpunkt genannt, zu dem sie sich an einem bestimmten Ort einzufinden hatten, an dem über ihr weiteres Schicksal - die Höhe ihres Lösegeldes oder die Bedingungen weiterer Gefangenschaft - entschieden werden sollte. Dieses Verfahren von Schatzung und Betagung ersparte beiden Seiten eine aufwendige und belastende Haft und sollte nicht zuletzt dem Gefangenen dazu dienen, seine Lösegeldzahlungen zu organisieren. Allerdings konnten im Krieg Faktoren eintreten, die solche Regeln beeinflussten, wie etwa die militärische Situation oder die Versorgungslage, die es dem Sieger möglicherweise nicht erlaubten, Gefangene zu machen. In manchen Fällen konnte auch der Kontext des Krieges zur Hinrichtung von Gefangenen führen, etwa wegen vorangegangenen Verrats, aus Rache oder Hass. Besonders hart und gnadenlos geführt wurden interkulturelle und religiöse Konflikte, zumeist im Rahmen der Kreuzzüge, bei denen die Spielregeln des christlich-abendländischen Kriegsrechts keine Anwendung mehr fanden, womit sich selbstverständlich die Chancen der Kombattanten auf ein Überleben durch Gefangennahme verringerten. 37 Doch dies waren Ausnahmen, die nicht mit der alltäglich überwiegenden Kriegspraxis im europäischen (Spät-)Mittelalter gleichgesetzt werden dürfen. Eng mit den ökonomisch-sozialen Bedingungen von mittelalterlicher Kriegsgefangenschaft zusammen hängt die immer wieder geäußerte Vorstellung, dass nichtadelige und unvermögende Gefangene, die weder schutzwürdig waren noch Lösegeld einbrachten, brutal abgeschlachtet wurden. 38 Tatsächlich gibt es markante Beispiele, die eine solche Praxis zu belegen scheinen. Bei näherer Betrachtung deutet sich aber an, dass diesen Morden jeweils besondere Ausnahmesituationen zugrunde lagen und sie von den Chronisten gerade wegen ihrer Außergewöhnlichkeit besonders hervorgehoben wurden oder vielleicht sogar als Topos zu betrachten sind. Sie sollten daher nicht leichtfertig für das gesamte Mittelalter verallgemeinert werden. Allerdings fehlt es noch an weiterer Forschung, mit der sich solche Pauschalisierungen vermeiden ließen. Quellenfundierte Einzelstudien haben längst - 36 Dazu u. a. S TEPHAN S ELZER , Deutsche Söldner im Italien des Trecento (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 98), Tübingen 2001, S. 114-122. 37 Zur grundsätzlichen Differenzierung zwischen intrakulturellen und transkulturellen Kriegen, nicht zuletzt im Hinblick auf Kriegspraxis, Verlaufsformen und Gewaltbereitschaft siehe H ANS -H ENNING K ORTÜM , Kriege und Krieger, 500-1500, Stuttgart 2010, S. 56-65. 38 So z. B. bei N ORBERT O HLER , Krieg und Frieden im Mittelalter, München 1997, S. 270; A. N ÖDING , Kriegsgefangenschaft (Anm. 35), S. 102; H. K ORTÜM , Kriege (Anm. 37), S. 193f., 246-256. <?page no="61"?> U WE T R E S P 62 angedeutet, dass man - zumindest im mitteleuropäischen Kontext im späten Mittelalter - regelmäßig auch unvermögende Gefangene verschonte, sie entweder in Haft nahm oder ihre Wiederstellung nach Eidesleistung verlangte. 39 Die Praxis von Schatzung und Betagung wurde also offenbar nicht (mehr) nur auf Adelige oder Reiche angewandt. Dies zeigt sich beispielhaft in den bayerischen Quellen von 1462. Auffällig ist auch dort die für das Mittelalter typische klare Trennung zwischen ›wertvollen‹ und ›wertlosen‹ Gefangenen, je nach Lösegelderwartung. Diese findet sich vor allem in den Feldordnungen Ludwigs des Reichen aus den Jahren 1460 und 1462, wo einige besondere Anweisungen zu den Kriegsgefangenen enthalten sind - schließlich gehörten diese in den Bereich der Kriegsbeute. 40 Dabei handelte es sich jedoch um eine Art von Beute, die der Kriegsherr möglichst in die eigenen Hände bekommen und daher nicht seinen Söldnern überlassen wollte. Sehr deutlich unterschieden die Bestimmungen Herzog Ludwigs zwischen Gefangenen, die schaczper [schatzbar] waren, von denen man also ein Lösegeld erwarten konnte, und anderen Gefangenen, zumeist Fußknechten und Bauern, von denen dieses nicht zu erhoffen war. Dennoch sollten die Söldner auch für jeden nicht schatzbaren Gefangenen einen ›Fanggulden‹ erhalten, eine pauschale Geldsumme, mit der Herzog ihnen den Gefangenen abkaufte. Bei schwerer Strafe wurde es den Söldnern verboten, etwaige adelige Gefangene dem Herzog zu unterschlagen. An diesen bestand also ein gesteigertes Interesse, das sich wohl nicht nur an deren Geldwert bemaß, sondern auch an ihrer sozialen Stellung, durch die sie zum Verhandlungskapital und auch zur symbolisch herausragenden Beute wurden. Nicht schatzbare Gefangene hingegen waren unmittelbar und sofort der Gewalt des Herzogs zu unterstellen. Sie dürften für die Söldner allerdings auch nicht von Wert gewesen sein. Doch welches Interesse konnte ein Kriegsherr an diesen Gefangenen haben, die keinen ökonomischen Wert besaßen? Immerhin war Herzog Ludwig trotz geringer Lösegeldaussichten bereit, den Söldnern Kopfprämien für diese Leute zu bezahlen. Ansätze für mögliche Erklärungen deuten sich in den bayerischen Gefangenenlisten von 1462 an. 41 Bei diesen Quellen handelt es sich nicht um systematische Verzeichnisse, sondern um wahrscheinlich nur bruchstückhaft überlieferte Notizen und Namenslisten, die hauptsächlich dazu angefertigt wurden, um einen notdürftigen Überblick über die Rechtssituation und den sozialen Status der mehreren hundert Gefangenen zu behalten. Die Mehrzahl dieser Personen waren - 39 G. Z EILINGER , Lebensformen (Anm. 7), S. 197-199; U. T RESP , Söldner (Anm. 13), S. 354f.; S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 18), S. 310-317. 40 Dazu ausführlich U. T RESP , Söldner (Anm. 13), S. 295-300; S. X ENAKIS , Gewalt (Anm. 18), S. 310. 41 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 278-294, 296-304. <?page no="62"?> S IC HER U NGS BR IEFE UND G E FANGENE 63 - Söldner und Kriegsknechte aus schwäbischen Städten wie Augsburg, Ulm, Stuttgart oder Esslingen, daneben auch etliche schwäbische Adelige, wahrscheinlich Gefolgsleute der Grafen von Württemberg, sowie Adelige und Kriegsknechte aus Franken, die zum Heer des Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg gehörten. Nicht immer ist eindeutig ersichtlich, wann und wo sie in Gefangenschaft geraten waren. Größere Gruppen hatte dieses Schicksal aber offensichtlich im Zusammenhang mit der Schlacht bei Gundelfingen (24. März 1462) sowie den bayerischen Überfällen auf Wertingen (4. April 1462), Kötz und Langenau (Anfang April 1462) ereilt. 42 Meist sind die Namen gruppenweise mit einem Datum und Ort versehen worden, zu dem sie sich nach ihrer Freilassung auf Ehrenwort wieder zu stellen hatten. So mussten sich zum Beispiel etliche Kriegsknechte, die bei der Eroberung von Radau und Göggingen bei Augsburg in Gefangenschaft geraten waren, am 24. August 1462 wieder in Rain am Lech stellen. 43 Dort sollte dann offenbar über ihre weitere Verwendung und über ihr Lösegeld entschieden werden. Gleiches galt auch für Hanß Herttenhaimer und Hanns Wollf, zwei gefangene Boten der Stadt Augsburg. 44 Ein längeres Verzeichnis von Gefangenen aus den Kämpfen um Gundelfingen, bei dem sich neben einigen Namen ein Kreuz findet, wurde um die Notiz ergänzt: Item die mit eyn krewtzlein bezaichent sein, haben sich an hut, mitwoch vor Palmarum [1462, April 7], gein Gundelfingen gestellt und widerumb bis auf Invencio crucis [1462, Mai 3] betagt worden gen Ingolstat. 45 Solche Beispiele von Verzeichnissen gefangener Kriegsleute ließen sich noch weiter fortsetzen. Besonders bemerkenswert sind aber die umfangreichen Namenslisten von offensichtlichen Nichtkombattanten, die ebenfalls im Zuge der bayerischen Kriegshandlungen in Gefangenschaft geraten waren. Eine davon betraf eine Gruppe von Personen, die laut Überschrift in den Dörfern um Pappenheim gefangen wurden. Darunter steht der Vermerk: Dy vorgeschiben sollen sich auf Walburgis [1462, April 30] gen Lawgingen [Lauingen] stellen. 46 Noch deutlicher ist eine Liste von etwa 300 Namen mit der Überschrift Pawren gefanngen, in Naw gesessen. 47 Es handelte sich also offenbar um Bauern aus Langenau und Umgebung, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren. Unklar bleibt, auf welche Weise sie dieses Schicksal ereilt hatte - in ihren Dörfern im Zuge der bayerischen Beutezüge, als Flüchtlinge in Langenau bei dessen Eroberung, oder vielleicht doch als Kombattanten, weil diese - 42 Siehe dazu ausführlich P. F LEISCHMANN , Auswirkungen (Anm. 5), S. 254-256, mit näheren Details aus den Augsburger Chroniken. 43 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 303. 44 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 304. 45 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 278-280. 46 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 281. 47 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 296-299. <?page no="63"?> U WE T R E S P 64 Bauern für das feindliche Heer Spann- und Schanzdienste geleistet hatten. Festzuhalten bleibt aber auf jeden Fall, dass man diese einfachen Leute, die nicht einmal zu den Kriegsleuten gehörten, keineswegs getötet hat. Auch wenn man sich von ihnen wohl kaum ein erhebliches Lösegeld versprechen konnte, wurden sie alle auf Wiederstellung betagt. 5. Kriegsgefangene als Faktor der Kriegsführung Hier stellt sich natürlich noch einmal deutlich die Frage nach dem Sinn dieser Gefangenschaft, die anscheinend nicht mehr nur ökonomisch zu begründen ist. Eine denkbare Erklärung könnte vielleicht der Versuch sein, durch diese Praxis die Gegenseite zu demoralisieren und psychischen wie ökonomischen Druck auf sie auszuüben. Dafür sprechen zum Beispiel auch die Berichte der Augsburger Chroniken über die verbreitete Angst der Bevölkerung im Fürstenkrieg, vor den Stadttoren von bayerischen Truppen regelrecht gekidnappt zu werden. 48 Für die Gefangenen und ihre Herren war diese Praxis sehr lästig. Die Angst vor hohen Lösegelderpressungen lähmte die Wirtschaft ebenso wie der Zwang zur Stellung auf Ehrenwort. Gerade Letzteres war oft mit zeitraubenden und kostspieligen Reisen zum Stellungsort verbunden, zumal bis dahin das weitere Schicksal der Betroffenen ungewiss blieb. Solange die Gefangenen nicht entlassen waren, hatte der gegnerische Kriegsherr sie praktisch in der Hand und konnte Macht über sie ausüben. Das spiegelt sich auch im großen Interesse der bayerischen Seite an einer Kontrolle der Gefangenen wider, der die Aufzeichnungen dienten. An einer Stelle sind zum Beispiel vier Personen aufgeführt, die für 42 Gefangene aus Wertingen gebürgt hatten. 49 In einer Namenslisten von Gefangenen, die sich am Pfingstmontag 1462 zu stellen hatten, finden sich sogar Hinweise auf eine Überprüfung der Gründe, warum sich etliche der einfachen Bauern oder Kriegsleute nicht fristgemäß am Stellungsort eingefunden hatten. Viele hatten sich demnach als krank gemeldet, zwei waren sogar verstorben. Weitere wurden als ›ledig‹ verzeichnet, waren also inzwischen freige- - 48 Beispiele dazu bei P. F LEISCHMANN , Auswirkungen (Anm. 5), S. 246f. Dass auch die Gegenseite auf ihre Gefangenen erheblichen Druck durch hohe Lösegeldforderungen ausübte, geht u. a. aus den Berichten von den Nürnberger Waffenstillstandsverhandlungen Mitte August 1462 hervor, als die bayerischen Unterhändler dies den kaiserlichen Unterhändlern vorwarfen. Siehe A DOLF B ACHMANN (Hg.), Briefe und Acten zur österreichischdeutschen Geschichte im Zeitalter Kaiser Friedrich III. (Fontes rerum Austriacarum II/ 44), Wien 1885, Nr. 355. 49 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 288. <?page no="64"?> S IC HER U NGS BR IEFE UND G E FANGENE 65 - lassen worden. 50 An anderer Stelle unterstreicht ein ausdrücklicher Kanzleivermerk hinter einigen Namen von Gefangenen den Nachdruck der bayerischen Verwaltung bei der Durchsetzung der Betagungen: sind tagt und sullen sich stellen auf Pfingsten schiristeng gein Ingolstat. Ob man sy aber ee der stallung manen würde, sol man in die breve gein Werde [Donauwörth] schicken. 51 Für die Kriegsführung von Bedeutung war die Regel, dass sich auf Ehrenwort entlassene Gefangene aus den weiteren Kampfhandlungen heraushalten sollten. Gelegentlich mussten sie ihr Stillhalten für die Dauer ihrer Gefangenschaft durch eine Urfehde eigens beschwören. Auf diese Weise konnte die Gegenseite erheblich geschwächt werden - kaum weniger als zum Beispiel durch Tod oder Verwundung ihrer Kämpfer. Daher hatte die bayerische Verwaltung auch auf das Verhalten der Gefangenen während ihrer Freistellung ein besonderes Augenmerk, wie eine beiläufige Notiz belegt: Nota Lorenntz Mawrer ist auch zu Werttingen gefanngen worden und noch nit eingeschriben, dann das man ingedennck sei, das er in und nachdem er gefanngen ist, meinem genedigen herrn gepranndt hat. 52 Dem als fortgesetzten Gewalttäter identifizierten Mann drohten sicher drastische Strafen. Allerdings ist dies der einzige Fall, der auf diese Weise in den untersuchten Akten vermerkt wurde. Feindselige Handlungen trotz Gefangenschaft waren also entweder sehr selten oder konnten kaum nachgewiesen werden. Ein weiterer wichtiger Grund für die zahlreichen Gefangennahmen war die übliche Möglichkeit des Gefangenenaustauschs. Für solche Zwecke konnte ein Kriegsherr niemals genug Gegner in die eigene Hand bekommen, denn es war schließlich kaum abzusehen, wie viele seiner eigenen Leute in feindliche Gefangenschaft geraten würden. Gegeneinander ausgetauscht wurden dann in der Regel gleichrangige Gefangene in gleicher Anzahl. Für diese Praxis finden sich in den bayerischen Akten einige Nachweise in Form von Austauschzetteln, auf denen die Namen der gegeneinander freigelassenen Kriegsknechte notiert wurden. So weist ein solcher Zettel unter der Überschrift Diss nachgeschriben sein gegeneinander ledig gelassen die Namen von sechs Knechten des Ulrich von Frundsberg auf, die gegen ebenso viele Knechte des fränkischen Adeligen Peter von Wilhelmsdorf ausgetauscht worden waren. 53 Ein anderer Fall ist durch eine zwischen die Aktenblätter eingebundene Urkunde belegt, mit der der herzogliche Hauptmann Ritter Georg Ahaimer den Austausch mehrerer bayerischer gegen fränkische Gefangene am 25. April 1462 bezeugte. 54 Wie ein solcher Austausch genau vonstatten ging, und - 50 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 282f. 51 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 298. 52 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 288. 53 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 199. 54 BayHStA, Neuburger Kopialbücher 41, fol. 289. <?page no="65"?> U WE T R E S P 66 ob die ausgetauschten Kriegsleute im Anschluss wieder in den Krieg eingreifen durften, geht aus den hier untersuchten Quellen aber leider nicht hervor. Auch das weitere Schicksal der nicht ausgetauschten Gefangenen, die an ihr Ehrenwort gebunden blieben, bleibt weitgehend unklar. Üblich war ihre Freilassung nach einem Friedensschluss oder einem Waffenstillstand, wobei bestehende Lösegeldforderungen in der Regel aufgehoben wurden, insofern nicht wichtige Gründe, wie zum Beispiel Verletzungen der geschworenen Urfehde, dagegen sprachen. Schon der am 22. August zwischen den Kriegsparteien des Fürstenkrieges ausgehandelte Waffenstillstand bestimmte die Freilassung der Gefangenen für die Zeit der weiteren Verhandlungen bis zum endgültigen Friedensschluss, wobei adelige Gefangene ein Gelübde und Kriegsknechte einen Eid ablegen mussten, sich gegebenenfalls wieder zu stellen. Bürgerliche Gefangene und Bauern sollten auf pürgschafft und gewiszhait freigelassen werden. 55 Endgültige Klarheit schuf dann erst der Prager Friedensvertrag vom 23. August 1463, in welchem festgelegt wurde, dass die Gefangenen beider Seiten innerhalb von zwei Monaten freigelassen werden sollten. Alle aus der Gefangenschaft hervorgehenden Bürgschaften und Verpflichtungen, womit sowohl Betagungen als auch Lösegeldforderungen gemeint waren, wurden aufgehoben. 56 Gleiches galt auch für alle noch ausstehenden Forderungen aus Brandschatzungen. Und schließlich sollten alle beteiligten Parteien und ihre Helfer alle im Krieg gemachten Eroberungen ohne Entschädigung zurückgeben. 6. Fazit Die vorgestellten Quellen aus dem Zusammenhang der Kriegsführung Herzog Ludwigs des Reichen von Bayern-Landshut im Süddeutschen Fürstenkrieg 1462 zeigen deutliche Kennzeichen einer herrschaftlichen Praxis. Mit Sicherungsbriefen gliederte der Herzog etliche schwäbische Ortschaften im bayerischen Interessensgebiet bei Augsburg zumindest zeitweilig seiner eigenen Herrschaft ein. Mit großer Wahrscheinlichkeit mussten die Einwohner dieser Orte ihm dafür Brandschatzung und Huldigung leisten und gingen damit der Verfügbarkeit der bayerischen Kriegsgegner - dem Reich, den Habsburgern oder verschiedenen Bürgern der Reichs- - 55 Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440-1493). Nach Archiven und Bibliotheken geordnet, Heft 18: Die Urkunden und Briefe des Österreichischen Staatsarchivs in Wien, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv: Allgemeine Urkundenreihe, Familienurkunden und Abschriftensammlungen (1458-1463), bearb. von S ONJA D ÜNNEBEIL / P AUL H EROLD / K ORNELIA H OLZNER -T OBISCH , Wien 2004, Nr. 284. 56 Regesten Kaiser Friedrichs III. (Anm. 55), Nr. 331. <?page no="66"?> S IC HER U NGS BR IEFE UND G E FANGENE 67 - städte - vorläufig verloren. Andererseits dürften die auf diese Weise unterworfenen Dörfer in der Folge für den bayerischen Krieg ökonomisch ausgebeutet worden sein. Zugleich aber deutet sich auch an, dass die Erteilung von Sicherungsbriefen nicht allein der Kriegsnotwendigkeit folgte, sondern auch politische Interessen oder damit verbundene weitergehende ökonomische Interessen im Zusammenhang mit Handelskontakten widerspiegelte. Auch der Umgang mit den Kriegsgefangenen wurde vom herrschaftlichen Nutzen bestimmt. Nicht nur Adelige, sondern auch einfache Kriegsknechte oder sogar bäuerliche Untertanen der Gegner wurden durch die bayerischen Truppen zu Hunderten eingefangen. In der Regel wurden sie alle jedoch auf Ehrenwort wieder entlassen und hatten sich an festgesetzten Terminen und Orten wieder zu stellen. Sie gerieten in eine temporäre Abhängigkeit zum bayerischen Herzog und konnten zudem als Austauschobjekte oder Druckmittel gegenüber dem Feind eingesetzt werden. In den untersuchten Quellen offenbaren sich also wesentliche Kriegsziele Herzog Ludwigs des Reichen, die deutlich über die immer wieder postulierte Abwehr von Übergriffen des Nürnberger Landgerichts oder die ritterliche Behauptung seiner angegriffenen Ehre hinausgingen. Ludwig ging es insbesondere bei seinen Kriegsoffensiven in Franken und Schwaben darum, Verfügungsgewalt über Herrschaftsrechte, Einkünfte und Personen zu erlangen. Das gelang ihm im Sommer 1462 zumindest zeitweilig, allerdings nicht dauerhaft. Im Ergebnis des Krieges waren die Ressourcen des reichen Landshuter Herzogs aufgezehrt, so dass er beim Friedensschluss seine Eroberungen weder in Franken noch in Schwaben bewahren konnte. <?page no="67"?> U WE T R E S P 68 Anhang Sicherungsbriefe Herzog Ludwigs des Reichen von Bayern-Landshut aus dem Sommer 1462 in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Neuburger Kopialbücher 41. 1. Fol. 236: Für die Deutschordenshäuser Ellingen 57 , Nurmberg 58 , Eschenbach 59 und Virnsberg 60 (1462, Mai 25). 2. Fol. 236: Für Bernhard von Rechberg zu Hohenrechberg, Ritter und Hauptmann, über das Dorf Wernßhofen 61 und die Höfe zu Gamenried 62 , Schönenschach 63 , Hattlimtal 64 (1462, Juni 8). 3. Fol. 236f.: Für das Kloster Heilsbronn 65 (1462, Juni 10). 4. Fol. 237: Für die Witwe Gräfin Agnes von Helfenstein (1462, Juni 24). 5. Fol. 238: Für zwei Schwaighöfe im Sandt gelegen 66 , der eine genannt Michel Stumpf, dem Cuntzlman 67 von Augsburg zugehörig, der andere genannt Hans Saur, dem Gabriel Rigler 68 von Augsburg zugehörig, bis zum 11. November (im Feld bei Fünfstetn 69 , 1462, August 7). - 57 Ellingen, Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen. 58 Nürnberg. 59 Wolframs-Eschenbach, Landkreis Ansbach. 60 Virnsberg, Landkreis Ansbach. 61 Bad Wörishofen, Landkreis Unterallgäu. 62 Unter- oder Obergammenried, Gemeinde Bad Wörishofen. 63 Schöneschach, Gemeinde Bad Wörishofen. 64 Hartental, Gemeinde Bad Wörishofen. 65 Heilsbronn, Landkreis Ansbach. 66 Wahrscheinlich im Überschwemmungsgebiet der Donau zwischen Blindheim und Donauwörth. 67 Die Konzelmann waren eine auch politisch bedeutende Augsburger Patrizierfamilie. Als Besitzer des hier genannten Schwaighofes kommen entweder Peter oder Georg Konzelmann in Frage. Siehe P ETER G EFFCKEN , Art. Konzelmann (Conzelmann, Cunzelmann, Chüntzelman), Patrizierfamilie, in: Augsburger Stadtlexikon, URL: http: / / www.stadtlexi kon-augsburg.de/ index.php? id=114&tx_ttnews[swords]=Konzelmann&tx_ttnews[tt_ news]=4465&tx_ttnews[backPid]=115&cHash=5c01bcf9bf (aufgerufen am 20.2.2017). 68 Gabriel Ridler († 1470) war zu dieser Zeit als führender Zunftpolitiker das bedeutendste Mitglied der Metzgerfamilie Ridler, die ursprünglich aus dem Münchner Patriziat stammte und vor allem im Ochsenhandel engagiert war. Siehe P ETER G EFFCKEN , Art. Ridler (Riedler, Rigler) Kaufmannsfamilie, in: Augsburger Stadtlexikon, URL: http: / / www.stadtlexikonaugsburg.de/ index.php? id=114&tx_ttnews[swords]=Ridler&tx_ttnews[tt_news]=5172&tx _ttnews[backPid]=115&cHash=56f525e81e (aufgerufen am 20.2.2017). 69 Fünfstetten, Landkreis Donau-Ries. <?page no="68"?> S IC HER U NGS BR IEFE UND G E FANGENE 69 - 6. Fol. 238: Für Hans Krimer von Zußmershausen 70 mitsamt Haus und Hof gesichert für den ganzen Krieg (1462, August 7). 7. Fol. 238: Für Claus Riß mit dem Weiler Ristling [? ], bis Weihnachten (1462, August 7). 8. Fol. 238: Für den Hof zu Welldenshofen 71 , bis Weihnachten (1462, August 7). 9. Fol. 238: Für zwei Höfe und ein Sölden zu Alezhofen 72 , einen Hof und ein Sölden zu Traunried 73 sowie drei Höfe des Gotteshauses St. Margaret und des Spitals zu Augsburg, bis Weihnachten (1462, August 7). 10. Fol. 239: Für das Dorf Ahingen 74 als Gegenleistung für Sicherungsbriefe Markgraf Albrechts von Brandenburg für die Dörfer des Wolfgang Marschall von Donnersberg (Donrsperg 75 , Norndorff 76 , Blanckenburg 77 mitsamt dem Gericht) und allem weiteren, was ihm zwischen Lech und Donau zusteht (im Heer bei Weilheim, 1462, August 9). 11. Fol. 239: Für das Dorf Aisteten 78 des Augsburger Bürgers Leonhart Radawer 79 als Gegenleistung für einen Sicherungsbrief Markgraf Albrechts von Brandenburg für zwei Höfe zu Gailenbach 80 und die Darferdinger Mühle 81 , die denen von Argaw 82 zustehen, bis zum 11. November (1462, August 11). 12. Fol. 240: Für den Weiler Kulental 83 mitsamt dem Burgstall und dem Gericht und die Dörfer Westendorf 84 , Ostendorf 85 , Waltershofen 86 bis zum 11. November - 70 Zusmarshausen, Landkreis Augsburg. 71 Weldishof, Gemeinde Altenmünster, Landkreis Augsburg. 72 Aletshofen, Gemeinde Ettringen, Landkreis Unterallgäu. 73 Traunried, Gemeinde Ettringen. 74 Vermutlich Ehingen, Landkreis Augsburg. 75 Donnsberg, Gemeinde Nordendorf, Landkreis Augsburg. 76 Nordendorf, Landkreis Augsburg. 77 Blankenburg, Gemeinde Nordendorf. 78 Aystetten, Landkreis Augsburg. 79 Leonhard Radauer war um 1460 mehrmals Bürgermeister und langjähriger Stadtpfleger in Augsburg. Er gehörte zum Raudauer Zweig der bedeutenden Augsburger Patrizierfamilie Langenmantel, die seit dem Ende des 13. Jahrhunderts umfangreichen Grundbesitz im Augsburger Umland erworben hatte. Siehe P ETER G EFFCKEN , Art. Langenmantel I (Longum Pallium, »vom Sparren«, »von Rohrbach«, von Radau), Patrizierfamilie, in: Augsburger Stadtlexikon, URL: http: / / www.stadtlexikon-augsburg.de/ index.php? id=114&tx_ ttnews[swords]=Langenmantel&tx_ttnews[tt_news]=4567&tx_ttnews[backPid]=115&cHa sh=dc4d3470ce (aufgerufen am 20.2.2017). 80 Gailenbach, Gemeinde Gersthofen, Landkreis Augsburg. 81 (Gailenbacher) Mühle in Täfertingen, Gemeinde Neusäß, Landkreis Augsburg. 82 Die dem Augsburger Patriziat entstammende Familie von Argon (ehemals Egen)? Siehe dazu auch unten, Anhang, Nr. 28. 83 Kühlenthal, Landkreis Augsburg. <?page no="69"?> U WE T R E S P 70 als Gegenleistung für einen Sicherungsbrief Markgraf Albrechts von Brandenburg für das Dorf Ellingen und den Weiler Burgk des herzoglichen Rates Heinrich von Freiberg (ohne Datum; wurde laut Notiz nicht ausgestellt). 13. Fol. 241: Sicherung der strass 87 im zirckel beginnend bei Aimberg 88 , von dort ab für alle Dörfer und Güter zwischen Lech und Wertach sowie die Dörfer Gersthofen 89 , Lanckwad 90 , weiter über die Schmutter bis Eysenprechtzhofen 91 , weiter bis zum Sandtberg 92 und was zwischen diesem und der Wertach liegt, dazu das Dorf Lechhausen 93 , bis nach Weihnachten. Bestimmungen zum Handelsverkehr in dieser Zeit (im Heer vor Augsburg, 1462, Juli 26). 14. Fol. 242: Für die Güter Kruchen 94 und Engelpretzhofen 95 des Sebold Ilsing von Augsburg 96 als Gegenleistung für die Sicherung des Dorfes Glett 97 und des dabei liegenden Weilers des bayerischen Gefolgsmannes Jacob Herwartt durch Markgraf Albrecht von Brandenburg (1462, August 13). 15. Fol. 243: Für die Dörfer und Höfe der Äbtissin und des Konvents von St. Stefan zu Augsburg: das Dorf Pfaffenhofen 98 , das Dorf Obertierhan 99 , Höfe zu Felbach 100 und Aspach 101 (1462, August 14). 16. Fol. 243: Für das Dorf Märding 102 , den Weiler Hewssen 103 , auch Konigsmul 104 und Hagmul 105 bis zum 11. November (1462, August 14). - 84 Westendorf, Landkreis Augsburg. 85 Ostendorf, Gemeinde Meitingen, Landkreis Augsburg. 86 Waltershofen, Gemeinde Meitingen. 87 Gemeint ist die Straßvogtei. 88 Amberg, Landkreis Unterallgäu. 89 Gersthofen, Landkreis Augsburg. 90 Langweid am Lech, Landkreis Augsburg. 91 Eisenbrechtshofen, Gemeinde Biberbach, Landkreis Augsburg. 92 Sandberg bei Diedorf, Landkreis Augsburg. 93 Lechhausen, Stadt Augsburg. 94 Kruichen, Gemeinde Adelsried, Landkreis Augsburg. 95 Engratshofen, Gemeinde Fuchstal, Landkreis Landsberg am Lech (? ). 96 Ein Mitglied der Augsburger Patrizierfamilie Ilsung. Siehe P ETER G EFFCKEN / K ATHARI - NA S IEH -B URENS / M ARTINA H AGGENMÜLLER , Ilsung II (»bei St. Johann«), Patrizierfamilie, in: Augsburger Stadtlexikon, URL: http: / / www.stadtlexikon-augsburg.de/ index. php? id=114&tx_ttnews[tt_news]=4238&tx_ttnews[backPid]=113&cHash=c2dc2b4e11 (aufgerufen am 20.2.2017). 97 Glött, Landkreis Dillingen an der Donau. 98 Pfaffenhofen an der Zusam, Gemeinde Buttenwiesen, Landkreis Dillingen an der Donau. 99 Oberthürheim, Gemeinde Buttenwiesen. 100 Feldbach, Gemeinde Buttenwiesen. 101 Aspach, Gemeinde Laugna, Landkreis Dillingen an der Donau (? ). 102 Mertingen, Landkreis Donau-Ries. <?page no="70"?> S IC HER U NGS BR IEFE UND G E FANGENE 71 - 17. Fol. 245: Für einen Hof zu Stoffenried 106 und die Rietmühle 107 bis 11. November (1462, August 14). 18. Fol. 245: Für das Dorf Ochsenbrunn 108 und einen Hof zu Wilertzhausen 109 und Hans Pintnagel bis zum 11. November (1462, August 14). 19. Fol. 245: Für die Dörfer Wallenhausen 110 , Pergk 111 , Walbertzhofen 112 , Niderhausen 113 bis zum 11. November (1462, August 14). 20. Fol. 245: Für den Swaighof 114 zwischen Holltz 115 und Narndorf 116 , der einem Augsburger Bürger gehört, bis Weihnachten (1462, August 23). 21. Fol. 245: Für mehrere namentlich genannte Bauern in Suntheim 117 (Herman Wagner, Michel Wagner, Hans Natershofer, Stefan Klingker), Ragton 118 (Jörg Gutman) und Hettingen 119 (Hainlin Hofbaur), die Augsburger Bürgern zustehen, sowie Hans Gugenrieder von Gugenried 120 und Linhart Müllner von Ragton, die dem Abt von St. Ulrich zu Augsburg zustehen, bis 23. April 1463 (1462, August 24). 22. Fol. 245f.: Für mehrere namentlich genannte Hofbauern zu Ortelfingen 121 (Heinz Kraiser, Stefan Bschorner, die Witwe Dosinn, Hans Wylinger), zu Aulingen 122 (Albrecht Aulinger, Claus Sailer, Lienhart Rosskopf) und Werting 123 (Lienhart von Werting), die Augsburger Bürgern zustehen, sowie einen Hof des Smuckers von - 103 Heißesheim, Gemeinde Mertingen. 104 Königsmühle, Gemeinde Asbach-Bäumenheim, Landkreis Donau-Ries. 105 Hagmühle, Gemeinde Mertingen. 106 Stoffenried, Gemeinde Ellzee, Landkreis Günzburg. 107 Riedmühle, Gemeinde Ellzee. 108 Oxenbrunn, Gemeinde Ichenhausen, Landkreis Günzburg. 109 Wiblishauserhof, Gemeinde Waldstetten, Landkreis Günzburg. 110 Wallenhausen, Gemeinde Weißenhorn, Landkreis Neu-Ulm. 111 Berg, Gemeinde Pfaffenhofen an der Roth, Landkreis Neu-Ulm (? ). 112 Balmertzhofen, Gemeinde Pfaffenhofen an der Roth (? ). 113 Niederhausen, Gemeinde Pfaffenhofen an der Roth. 114 Schwaighof, Gemeinde Allmannshofen, Landkreis Augsburg. 115 Holzen, Gemeinde Ehingen, Landkreis Augsburg. 116 Nordendorf, Landkreis Augsburg. 117 Sontheim, Gemeinde Zusamaltheim, Landkreis Dillingen an der Donau. 118 Roggden, Gemeinde Wertingen, Landkreis Dillingen an der Donau. 119 Hettlingen, Gemeinde Wertingen. 120 Gauried, Gemeinde Zusamaltheim. 121 Ortlfingen, Gemeinde Ehingen, Landkreis Augsburg. 122 Ahlingen, Gemeinde Kühlenthal, Landkreis Augsburg. 123 Fertingen, Gemeinde Kühlenthal. <?page no="71"?> U WE T R E S P 72 Augsburg 124 , auf dem der Aynödepaur Ulrich Antzenhofer 125 sitzt, bis 11. November (1462, August 16). 23. Fol. 246: Für mehrere namentlich genannte Bauern mit ihren Höfen: Hans Werlin in Maschach 126 , Cuntz Eber in Helber 127 , Hans Rötting in Helber, Jörg Eber in Haiternau 128 und Sigmund Schaiffer aus der Haiternau, die ungenannten Augsburger Bürgern zustehen, bis zum 11. November (1462, August 16). 24. Fol. 246f.: Für einige Dörfer des Augsburger Bügers Ulrich Haunold 129 bei Kaufbeuren: Lengveldt 130 (mit neun Höfen, sechs Sölden und der Zehnt), Haymenhausen 131 (mit drei Höfen, fünf Sölden, den Widem und das Pfaffenhaus), Umenhofen 132 (mit sieben Höfen, einem Sölden), Reichenpach 133 (mit zwei Höfen), Kramoß 134 (mit einem Hof), Engratzhofen 135 (mit drei Höfen), Walhaubten 136 (mit vier Höfen), Undernosten 137 (mit einem Hof), Stetwangen 138 (mit zwei Höfen), - 124 Die Schmucker waren eine bedeutende Augsburger Kaufmannsfamilie mit umfangreichem Grundbesitz, u. a. in der Markgrafschaft Burgau. Siehe P ETER G EFFCKEN , Art. Schmucker (Smuker), Kaufmanns- und Patrizierfamilie, in: Augsburger Stadtlexikon, URL: http: / / www.stadtlexikon-augsburg.de/ index.php? id=114&tx_ttnews[swords]=Schmucker &tx_ttnews[tt_news]=5342&tx_ttnews[backPid]=115&cHash=5c15dfe746 (aufgerufen am 20.2.2017). 125 Anzenhof, Gemeinde Kühlenthal. 126 Wahrscheinlich Aschach (Obere Hoserschwaige), Gemeinde Tapfheim, Landkreis Donau-Ries. 127 Helbern (Bauernhasenschwaige), Gemeinde Tapfheim. 128 Haiternau (Böldleschwaige? ), Gemeinde Tapfheim. 129 Gemeint ist sicher Ulrich II. Honold vom Luchs († 1465/ 66), ein aus einer Kaufbeurer Patrizierfamilie stammender Augsburger Bürger, der vorwiegend im Fernhandel zu großem Reichtum gekommen war. Um 1460 war er der reichste Bürger Augsburgs. Siehe P ETER G EFFCKEN , Art. Honold (Hanold, Haunold, »vom Luchs«), Kaufmanns- und Patrizierfamilie, in: Augsburger Stadtlexikon, URL: http: / / www.stadtlexikon-augsburg.de/ index. php? id=114&tx_ttnews[swords]=Honold&tx_ttnews[tt_news]=4199&tx_ttnews[backPid] =115&cHash=c9dec530cc (aufgerufen am 20.2.2017). 130 Lengenfeld, Gemeinde Oberostendorf, Landkreis Ostallgäu. 131 Emmenhausen, Gemeinde Waal, Landkreis Ostallgäu (? ). 132 Ummenhofen, Gemeinde Jengen, Landkreis Ostallgäu. 133 Reichenbach, Gemeinde Stöttwang, Landkreis Ostallgäu. 134 Krämoos, Gemeinde Oberostendorf. 135 Engratzhofen, Gemeinde Fuchstal, Landkreis Landsberg am Lech. 136 Waalhaupten, Gemeinde Waal, Landkreis Ostallgäu. 137 Unterostendorf, Gemeinde Oberostendorf. 138 Stöttwang, Landkreis Ostallgäu. <?page no="72"?> S IC HER U NGS BR IEFE UND G E FANGENE 73 - Guetenberg 139 (mit einem Hof), Eleckhofen 140 (mit einem Widem), bis 6. Januar 1463 (1462, August 14). 25. Fol. 247: Für folgende Dörfer und Höfe des Spitals von Kaufbeuren: Eyreshofen 141 (mit sieben Höfen, sechs Sölden und der Pfarrer mit dem Widem), Weinhausen 142 (das Gericht sowie sechs Höfe, zwei Sölden und der Zehnt), Hawsen 143 bei Wal 144 (zwei Höfe), Walhaubten 145 (ein Hof), Rieden 146 (drei Höfe), Pecksteten 147 (zwei Höfe), Swabischhofen 148 (zwei Höfe und der Zehnt), Under Osterndorff 149 (ein Hof), sowie die Güter der Stadt Kaufbeuren in Obergermaningen 150 (acht Höfe, acht Sölden und der Zehnt), Undergermayningen 151 (vier Güter, ein Pfaffe und der Zehnte), Percksteten 152 (zwei Güter), Lindo 153 (ein vierdhalber Hof, das Gericht und eine Mühle), Franckenhofen 154 (ein Gut und noch ein Gut), Swabichhofen 155 (ein Hof), bis 6. Januar 1463 (1462, August 14). 26. Fol. 247: Für mehrere namentlich genannte Bauern (Clauß Menlach, Cristo Wagner, Hanns Trager) zu Riedzend 156 sowie die Tragerin von Hawsen 157 mit ihren Gütern und Leuten, die Augsburger Bürgern zustehen, bis 6. Januar 1463 (1462, August 14). 27. Fol. 248: Für die folgenden Dörfer des Domkapitels zu Augsburg: Ellerbach 158 (zwei Höfe), Zusamtzell 159 (das ganze Dorf), Hawsen 160 (den Weiler), Vilen- - 139 Gutenberg, Gemeinde Oberostendorf. 140 Ellighofen, Landkreis Landsberg am Lech. 141 Eurishofen, Gemeinde Jengen, Landkreis Ostallgäu. 142 Weinhausen, Gemeinde Jengen. 143 Hausen, Gemeinde Buchloe, Landkreis Ostallgäu. 144 Waal, Landkreis Ostallgäu. 145 Waalhaupten, Gemeinde Waal. 146 Rieden, Landkreis Ostallgäu. 147 Beckstetten, Gemeinde Jengen. 148 Schwäbishofen, Gemeinde Germaringen, Landkreis Ostallgäu. 149 Unterostendorf, Gemeinde Oberostendorf. 150 Obergermaringen, Gemeinde Germaringen, Landkreis Ostallgäu. 151 Untergermaringen, Gemeinde Germaringen. 152 Beckstetten, Gemeinde Jengen. 153 Linden, Gemeinde Stöttwang, Landkreis Ostallgäu. 154 Frankenhofen, Gemeinde Bad Wörishofen, Landkreis Unterallgäu. 155 Schwäbishofen, Gemeinde Germaringen. 156 Riedsend, Gemeinde Villenbach, Landkreis Dillingen an der Donau. 157 Hausen, Gemeinde Villenbach. 158 Ellerbach, Gemeinde Holzheim, Landkreis Dillingen an der Donau. 159 Zusamzell, Gemeinde Altenmünster, Landkreis Augsburg. 160 Hausen, Gemeinde Villenbach. <?page no="73"?> U WE T R E S P 74 pach 161 (das Dorf), zu Suntheim 162 (einen Hof, sieben Sölden), zu Zusemaltheim 163 (vier Höfe, eine Mühle, 24 Sölden), Rockgn 164 (ein Hof, ein Lehlein, ein Sölden), Pleinspach 165 (zwei Höfe, drei Sölden und das Pfarrhaus), St. Johannsried 166 (zwei Höfe), Undertierheim 167 (ein Hof), Ferttingen 168 (zwei Höfe), Ortellfingen 169 (ein Hof), Langenreichen 170 (drei Höfe und ein Lehen), Erlingen 171 (der Weiler), Eykirchen 172 (ein Hof und das Pfarrhaus), Biberbach 173 (ein Hof und ein Lehen), die Furttmül 174 , Herwartzhofen 175 (zwei Höflein), Lutzelburg 176 (ein Höflein), bis Weihnachten (ohne Datum). 28. Fol. 248: Auf Bitte des Sigmund von Argon 177 das Dorf Guntremingen 178 , das mehreren Ulmer Bürgern zusteht, bis Weihnachten (1462 August 16). - 161 Villenbach, Landkreis Dillingen an der Donau. 162 Sontheim, Gemeinde Zusamaltheim. 163 Zusamaltheim, Landkreis Dillingen an der Donau. 164 Roggden, Gemeinde Wertingen, Landkreis Dillingen an der Donau. 165 Bliensbach, Gemeinde Wertingen, Landkreis Dillingen an der Donau. 166 Vorderried, Gemeinde Buttenwiesen, Landkreis Dillingen an der Donau. 167 Untertürheim, Gemeinde Buttenwiesen. 168 Fertingen, Gemeinde Kühlenthal, Landkreis Augsburg. 169 Ortlfingen, Gemeinde Ehingen, Landkreis Augsburg. 170 Langenreichen, Gemeinde Meitingen, Landkreis Augsburg. 171 Erlingen, Gemeinde Meitingen. 172 Ehekirchen, Gemeinde Meitingen. 173 Biberbach, Landkreis Augsburg. 174 Furtmühle, Gemeinde Biberbach. 175 Herbertshofen, Gemeinde Meitingen. 176 Lützelburg, Gemeinde Gablingen, Landkreis Augsburg. 177 Sohn des Peter Egen, einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Augsburger Politik in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, der das Bürgerrecht ablegte und bei seinem Eintritt in den Landadel den Namen von Argon annahm. Siehe P ETER G EFFCKEN , Art. Egen (von Argon), Kaufmanns-, Adelsfamilie, in: Stadtlexikon Augsburg, URL: http: / / www.stadt lexikon-augsburg.de/ index.php? id=114&tx_ttnews[swords]=Egen&tx_ttnews[tt_news]= 3632&tx_ttnews[backPid]=115&cHash=382e1433bd (aufgerufen am 20.2.2017). Zu Peter von Argon siehe: H ARTMUT B OOCKMANN , Fürsten, Bürger, Edelleute. Lebensbilder aus dem späten Mittelalter, München 1994, S. 57-80. 178 Gundremmingen, Landkreis Günzburg. <?page no="74"?> 75 O LIVER L ANDOLT Krieg und Krise in der Eidgenossenschaft um 1500 1. Einleitung Der militärische Ruhm, den die Eidgenossen in verschiedenen siegreichen Schlachten des 14. und vor allem des 15. Jahrhunderts gegen unterschiedliche Gegner erwarben, ließ den Marktwert von aus dem Gebiet der heutigen Schweiz stammenden Söldnern im europäischen Raum ansteigen. Speziell die in den Burgunderkriegen in der Mitte der 1470er Jahre gegen Herzog Karl den Kühnen errungenen militärischen Siege schufen die Grundlage für die Attraktivität eidgenössischer Reisläufer für verschiedene herrschaftliche Potentaten Europas. 1 Nicht nur Könige und Fürsten, selbst verschiedene süddeutsche Städte beschäftigten aus der Eidgenossenschaft stammende Söldner. 2 Gegen Ende des 15. Jahrhunderts galten sie als »die besten Söldner Europas«. 3 Neben den aus der Eidgenossenschaft stammenden 1 Allgemein zum eidgenössischen Reislaufwesen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit: H ANS R UDOLF F UHRER / R OBERT -P ETER E YER , Schweizer in »Fremden Diensten«. Verherrlicht und verurteilt, Zürich 2006; B ENJAMIN H ITZ , Kämpfen um Sold. Eine Alltags- und Sozialgeschichte schweizerischer Söldner in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2015. Journalistisch und sehr plakativ: J OST A UF DER M AUR , Söldner für Europa. Mehr als eine Schwyzer Familiengeschichte, Basel 2011. 2 Im süddeutschen Städtekrieg gegen den Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg in der Mitte des 15. Jahrhunderts kamen eidgenössische Reisläufer auf der Seite der Stadt Nürnberg zum Einsatz. Siehe hierzu T HEODOR VON L IEBENAU , Die Beziehungen der Eidgenossenschaft zum Auslande in den Jahren 1447 bis 1459, in: Der Geschichtsfreund 32 (1877), S. 1-106, hier 16-23; A LBERT G ÜMBEL , St. Gallener als militärische Ausbilder in Nürnberg 1479, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 5 (1925), S. 230-235, hier 232f. Anm. 6. 3 M ATTHEW B ENNETT u. a., Kriege im Mittelalter. Schlachten - Waffen - Taktik, Stuttgart 2009, S. 61; M ICHAEL P RESTWICH , Die Schiesspulver-Revolution, 1300-1500, in: M ATTHEW B ENNETT (Hg.), Die Welt im Mittelalter. 1000 Jahre Kriegsgeschichte, München 2010, S. 183-203, hier 186f. Allgemein zur spätmittelalterlichen Kriegsgeschichte der Eidgenossenschaft: W ALTER S CHAUFELBERGER , Der Alte Schweizer und sein Krieg. Studien zur Kriegführung vornehmlich im 15. Jahrhundert, 3. Aufl. Frauenfeld 1987; R OGER S ABLO - NIER , Etat et structure militaires dans la Confédération autour des années 1480, in: Cinqcentième anniversaire de la bataille de Nancy (1477). Actes du colloque organisé par l’Institut de recherche régionale en sciences sociales, humaines et économiques de l’Université de Nancy II, Nancy, 22-24 septembre 1977, Nancy 1979, S. 429-447; W ERNER M EYER , <?page no="75"?> O LIV ER L ANDOLT 76 Soldkriegern gab es aber auch aus anderen Regionen Europas stammende Söldner - so etwa aus Böhmen, Schottland, der Bretagne oder weiteren Gebieten -, die unterschiedlichen europäischen Mächten ihre Dienste anboten und teilweise, wie etwa auch die aus Deutschland stammenden Landsknechte um 1500, in eine harte Konkurrenz zu den aus den eidgenössischen Orten stammenden Reisläufern traten. 4 Die besondere Gunst der eidgenössischen Reisläufer um 1500 lag nicht zuletzt in der Tatsache, dass das Gebiet der heutigen Schweiz mit seinem großen Söldnerpotential in unmittelbarer Nähe zum damaligen Hauptkampfgebiet verschiedener europäischer Mächte lag, nämlich der italienischen Halbinsel. Diese zentrale Lage in Europa gilt im Übrigen auch für die aus Süddeutschland stammenden Landsknechte, welche seit dem späten 15. Jahrhundert eine ernstzunehmende Konkurrenz zu den eidgenössischen Reisläufern waren. 5 Die geographische Lage der eidgenössischen Städte- und Länderorte im Zentrum Europas spielte seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine wichtige Rolle innerhalb dieses Gewaltmarktes und verschaffte den aus dem Gebiet der heutigen Schweiz stammenden Reisläufern einen wesentlichen Marktvorteil gegenüber den aus peripherer gelegenen europäischen Regionen stammenden Söldnern. 6 Alteidgenössisches Kriegertum und Söldnerwesen, in: C HRISTOPH K AINDEL / A NDREAS O BENAUS (Hg.), Krieg im mittelalterlichen Abendland, Wien 2010, S. 177-205; O LIVER L ANDOLT , Switzerland: Narrative, in: C LIFFORD R OGERS (ed.), The Oxford Encyclopedia of Medieval Warfare and Military Technology, Bd. 3, Oxford-New York 2010, S. 326-333. 4 Zum Söldnerwesen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit: J OHN D. H OSLER , Mercenaries, in: C LIFFORD J. R OGERS (Hg.), The Oxford Encyclopedia of Medieval Warfare and Military Technology, Bd. 3, New York 2010, S. 1-3; M ICHAEL H OWARD , Der Krieg in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zu den neuen Kriegen der Gegenwart, 2. aktual. und erw. Aufl. München 2010, S. 35-57. Zu den Söldnern aus verschiedenen Gegenden Europas: R EINHARD B AUMANN , Landsknechte. Ihre Geschichte und Kultur vom späten Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg, München 1994; U WE T RESP , Söldner aus Böhmen. Im Dienst deutscher Fürsten: Kriegsgeschäft und Heeresorganisation im 15. Jahrhundert (Krieg in der Geschichte 19), Paderborn 2004. Neuerdings zu den unterschiedlichen Söldnerlandschaften im europäischen Raum und darüber hinaus die Beiträge bei P HILIPPE R OGGER / B ENJAMIN H ITZ (Hg.), Söldnerlandschaften. Frühneuzeitliche Gewaltmärkte im Vergleich (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 49), Berlin 2014. Zu den Unterschieden und Ähnlichkeiten zwischen eidgenössischen Reisläufern und süddeutschen Landsknechten: M ATTHIAS R OGG , Landsknechte und Reisläufer: Bilder vom Soldaten. Ein Stand in der Kunst des 16. Jahrhunderts (Krieg in der Geschichte 59), Paderborn 2002. Siehe insbesondere auch F RANZ B ÄCHTIGER , Andreaskreuz und Schweizerkreuz. Zur Feindschaft zwischen Landsknechten und Eidgenossen, in: Jahrbuch des Bernischen Historischen Museums 51/ 52 (1971-1972), Bern 1975, S. 205-270. 5 R EINHARD B AUMANN , Süddeutschland als Söldnermarkt, in: P. R OGGER / B. H ITZ (Hg.), Söldnerlandschaften (Anm. 4), S. 67-83. 6 Allgemein zur geopolitischen Lage der eidgenössischen Orte innerhalb Europas, deren <?page no="76"?> K R IEG U ND K RI S E IN DER E IDGENOS S ENS C HAF T UM 1500 77 In der älteren schweizerischen Historiographie wurde die Zeitphase zwischen den Burgunderkriegen seit der zweiten Hälfte der 1470er Jahre und der Schlacht bei Marignano 1515 häufig als eine Zeit eidgenössischer ›Großmachtpolitik‹ beschrieben und der Eidgenossenschaft eine wesentliche Rolle in der damaligen europäischen Politik zugestanden. 7 Dies steht im Kontrast zu den Darstellungen verschiedener ausländischer Historiker, welche den eidgenössischen Orten - insbesondere im Hinblick auf die seit den 1490er Jahren einsetzenden italienischen Kriege - politisch nur eine untergeordnete Rolle beimessen und bestenfalls ihre Rolle als Söldnermarkt im europäischen Kräftespiel hervorheben. 8 In der Forschung fand die eidgenössische Kriegsrespektive Militärgeschichte des Spätmittelalters schon vielfach Berücksichtigung, und auch die sozialen, mentalen, kulturellen wie auch wirtschaftlichen Auswirkungen dieser militärischen Ereignisse wurden durch zeitgenössische Chronisten und nachgeborene Historiker wiederholt behandelt und häufig als krisenhafte Entwicklung gedeutet. 9 Neben vielen negativen und krisenhaften Entwicklungen müssen oder können aber durchaus positive zentrale Lage den eidgenössischen Söldnern einen Vorteil verschaffte: A NDRÉ H OLEN - STEIN , Mitten in Europa. Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte, Baden 2014, S. 32. Zur Entwicklung der Eidgenossenschaft im Laufe des 15. Jahrhunderts: B ERNHARD S TETTLER , Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner, Zürich 2004. 7 Vor allem in der früheren schweizerischen Geschichtsschreibung findet sich wiederholt die Vorstellung, dass die Eidgenossenschaft um 1500 eine eigentliche Großmachtpolitik betrieb. Siehe beispielsweise die Arbeit von E. G AGLIARDI , Novara und Dijon. Höhepunkt und Verfall der schweizerischen Großmacht im 16. Jahrhundert, Zürich 1907. Selbst in jüngerer Zeit finden sich noch Vorstellungen über die Eidgenossenschaft als »europäische Großmacht« um 1500: So betitelt V OLKER R EINHARDT , Die Geschichte der Schweiz. Von den Anfängen bis heute, München 2011, das Kapitel 4, S. 117-167, mit »Zünglein an der europäischen Waage (1476-1522)«. Auch T HOMAS M AISSEN , Geschichte der Schweiz, 3. Aufl. Baden 2011, S. 71, sieht die Eidgenossenschaft für »kurze Zeit« zwischen 1512 und 1515 als »Grossmacht« an. 8 So bezeichnet beispielsweise L AURO M ARTINES , Blutiges Zeitalter. Europa im Krieg 1450-1700, Darmstadt 2015, S. 102f., die eidgenössischen Reisläufer neben den spanischen ›tercios‹ und den deutschen Landsknechten als die »besten Streitkräfte des 16. Jahrhunderts«, wobei diese »für verschiedene Fürsten kämpften - französische, spanische, dänische, schwedische und deutsche - sowie nach 1570 auch für die neue Niederländische Republik«. Eine eigenständige politische Bedeutung der eidgenössischen Orte um 1500 wird im ganzen Buch nicht erwähnt. 9 Insbesondere der aus der Eidgenossenschaft zugewandten Stadt Rottweil stammende Valerius Anshelm (1475-1546/ 47), der in der Stadt Bern als offizieller Chronist bestellt war, prangerte als Zeitgenosse und Gegner der Solddienste in seiner Chronik die Auswirkungen des Reislaufs wiederholt an: Die Berner Chronik des Valerius Anshelm, hg. vom Historischen Verein des Kantons Bern, 6 Bde., Bern 1884-1901, passim. <?page no="77"?> O LIV ER L ANDOLT 78 Folgen dieser kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb der eidgenössischen Orte festgestellt werden. 10 Gerade in den letzten Jahren wurde der zeitenweise konjunkturell verwendete Begriff der ›Krise‹ speziell in der geschichtswissenschaftlichen Forschung einer umfassenden Kritik unterzogen und relativiert. 11 Zudem muss man sich bewusst sein, dass Krisen unterschiedlichster Natur für eine Gesellschaft immer auch Chancen und Möglichkeiten darstellen, um aus der erfolgreichen Bewältigung solcher negativen Entwicklungen gestärkt hervorzugehen. 2. Eidgenössische Kriegerkultur um 1500 - eine weitgehend militarisierte Gesellschaft? Albrecht von Bonstetten (um 1442/ 43-1504/ 05), Dekan der Benediktinerabtei Einsiedeln, verfasste kurz nach den Burgunderkriegen eine in lateinischer Sprache verfasste ›Superioris Germanie Confœderationis descriptio‹, die er schon bald ins Mittelhochdeutsche übersetzte. In dieser gerne durch verschiedene Historiker zitierten Landesbeschreibung charakterisierte der Einsiedlermönch auch die kriegerische Mentalität der in der Eidgenossenschaft lebenden Menschen, wobei der merteil […] diser lüten […] ruch und herter nature seien und die Gewohnheit existiere, das sy sich […] in frömde krieg gebent, sich in den waffen in stritten zemal fast übende. Feigheit vor dem Feind würde mit Todesstrafe geahndet und Familienangehörige solcher Feiglinge würden bis an das dritt geschlecht ze schande ufgehalten. Die Eidgenossen seien ouch eren und gutes gitig und fröwent sich, wo sy schloss, herschaften und roube [Beute, OL] eroberent. Wichtig sei ihnen, dass sie als strittbar, manhaft lüte gehalten […] und gescheczt werden; um diesen so loblichen tittel nicht zu verlieren, tůnd sy sich mit hohem ernst flissen. Dabei gäbe es Unterschiede in der kriegerischen Mentalität unter den einzelnen 10 Siehe beispielsweise den kulturellen Transfer anhand des Hausbaus im eidgenössischen Hauptort Schwyz im 16. und 17. Jahrhundert: M ARKUS B AMERT , Von Nord, von Ost, von West, von Süd. Zur Beeinflussung der Architektur und Ausstattung Schwyzer Herrenhäuser, in: Mittelalter - Moyen Age - Medioevo - Temp medieval (Zeitschrift des Schweizerischen Burgenvereins 21 (2016/ 2)), S. 17-28. 11 Kritisch gegenüber dem Krisenbegriff in der Zeit des Spätmittelalters: P ETER S CHUSTER , Die Krise des Spätmittelalters. Zur Evidenz eines sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Paradigmas in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, in: HZ 269 (1999), S. 19-55. Prägend für den Begriff der Krise und der sog. krisenhaften Entwicklung im Spätmittelalter: F RANTIŠEK G RAUS , Pest - Geissler - Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 86), 2. Aufl. Göttingen 1987. Für die Entwicklung im Gebiet der heutigen Schweiz: H ANS -J ÖRG G ILOMEN , Die Schweiz in der spätmittelalterlichen Krisenzeit, in: Die Orientierung 99 (1991), S. 12-18. Siehe auch P IERRE D UBUIS , Krise des Spätmittelalters, in: Historisches Lexikon der Schweiz 7, Basel 2008, S. 460f. <?page no="78"?> K R IEG U ND K RI S E IN DER E IDGENOS S ENS C HAF T UM 1500 79 eidgenössischen Orten, wobei die lantlütt […] ettwas die rüchern wären, welche sich auch gerne als Söldner verdingten. Diese seien rüstiger rede, übel zů bezwingen, bruchig [nützlich, vielfältig brauchbar, OL], roubig [beutehungrig, OL] und ouch hochgemüte. Diese kriegerischen Menschen würden vor allem aus den Voralpenwie Alpenregionen stammen, wo wenig fruchtbarkeit herrsche, und sich diese Bevölkerungsgruppen vor allem von dem vihe wol erneren. Gemäß allgemeiner Auffassung würden diese aus den Bergregionen stammenden Leute gegenüber den Stadtbewohnern als die stritbarern geachtet. Diplomatisch bemerkt von Bonstetten allerdings, dass es viele gäbe, die da meinent diss folk [die Stadtbewohner, OL] in strittes nöten gliches lobes zů sinde. 12 Der Einsiedlermönch stellt diese eidgenössische Kriegerkultur durchaus positiv dar. Schließlich war diese dem Dogen von Venedig Giovanni Mocenigo († 1485) wie auch dem französischen König Ludwig XI. (1423-1483) gewidmete Schrift eine eigentliche Werbeschrift für das eidgenössische Söldnerpotential, wobei der aus dem Zürcher Freiherrengeschlecht stammende Albrecht von Bonstetten mit dieser Arbeit durchaus auch eigene Interessen in Hinsicht einer persönlichen Bereicherung, sei es in finanzieller oder ehrenhafter Beförderung, beabsichtigte. 13 Während der Florentiner Philosoph und Staatstheoretiker Niccolò Machiavelli (1469-1527) in der eidgenössischen Militärtüchtigkeit altrömische Tugenden wiedergeboren sah, 14 nahmen andere ausländische Protagonisten eidgenössische Reisläufer in einem durchaus kritischeren Blickwinkel wahr. Dies zeigt beispielsweise die bekannte Publikation des englischen Humanisten und nachmaligen Lordkanzlers Thomas Morus (1478-1535) in seinem 1516 in lateinischer Sprache veröffentlichten Roman ›Utopia‹, in welchem er die sog. ›Zapoleten‹ als eigentliche ›Barbaren‹ abseits jeglicher Zivilisation darstellt. Diese frönten einzig dem Kriegshandwerk und böten sich für Geld dem Meistbietenden an, um sogleich, wenn jemand mehr Sold bezahlte, treulos auf die Seite des Feindes zu wechseln. Mit diesen ›Zapoleten‹ war kein anderes Volk als die Eidgenossen gemeint. 15 Negative Texte über die Eidgenossen sind vor allem von aus dem süddeutschen Raum stammenden Humanisten dokumentiert, wobei viele dieser Texte im Umfeld des sog. Schweizerbeziehungsweise Schwabenkrieges von 1499 entstanden sind 12 A LBRECHT VON B ONSTETTEN , Beschreibung der Schweiz, in: D ERS ., Briefe und ausgewählte Schriften, hg. von A LBERT B ÜCHI , Basel 1893 (Quellen zur Schweizer Geschichte 13), S. 217-267, hier 264f. 13 Siehe hierzu R EGINE S CHWEERS , Albrecht von Bonstetten und die vorländische Historiographie zwischen Burgunder- und Schwabenkriegen (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 6), Münster u. a. 2005, S. 176f. 14 V OLKER R EINHARDT , Machiavellis helvetische Projektion. Neue Überlegungen zu einem alten Thema, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 45 (1995), S. 301-329; D ERS ., Machiavelli oder die Kunst der Macht, München 2012, S. 237f. 15 T HOMAS S CHÖLDERLE , Geschichte der Utopie, Wien u. a., S. 41. <?page no="79"?> O LIV ER L ANDOLT 80 und in starkem Maße aktuellen propagandistischen Zwecken dienten. 16 Speziell die besondere Grausamkeit eidgenössischer Krieger im Kampf, indem diesen die Tötung sämtlicher unterlegener Feinde zum Vorwurf gemacht wurde, wird bisweilen in solchen Texten als eigentliches Schreckmoment hervorgehoben. 17 Zumindest teilweise entsprach dieser Vorwurf auch dem realen eidgenössischen Kriegsbrauch, wie dies mittels des Einbezugs forensischer Methoden in jüngerer Zeit anhand der Untersuchung von Skeletten von Kriegsgefallenen nachgewiesen werden konnte. 18 Innerhalb der eidgenössischen Städte- und Länderorte entwickelte sich im Laufe des Spätmittelalters eine Kriegerkultur, die sich in eigenständigen Formen manifestierte. Ein ausgeprägter Fahnenkult, kommunale Schlachtjahrzeitfeiern und besondere Gebetsrituale (beten mit zertanen armen) waren ein religiös-frommer Aspekt dieser Kriegerkultur, der sich auch erinnerungskulturell in verschiedenen Formen niedergeschlagen hat. 19 Ein eigenständiger, die herrschenden moralisch-sittli- 16 Verschiedene Texte sind ediert in: C LAUDIUS S IEBER -L EHMANN / T HOMAS W ILHELMI (Hg.), In Helvetios - Wider die Kuhschweizer. Fremd- und Feindbilder von den Schweizern in antieidgenössischen Texten aus der Zeit von 1386 bis 1532 (Schweizer Texte NF 13), Bern u. a. 1998. 17 Siehe beispielsweise J AKOB W IMPFELING , Soliloquium pro pace Christianorum et pro Helvetiis ut resipiscant, in: C. S IEBER -L EHMANN / T. W ILHELMI (Hg.), In Helvetios (Anm. 16), S. 162-218, hier 186f. 18 C HRISTINE C OOPER , Forensisch-anthropologische und traumatologische Untersuchungen an den menschlichen Skeletten aus der spätmittelalterlichen Schlacht von Dornach (1499 n. Chr.), Diss., Mainz 2010 (http: / / ubm.opus.hbz-nrw.de/ volltexte/ 2011/ 2419/ , aufgerufen am 23.11.2016). Allgemein zum eidgenössischen Kriegsbrauch im Spätmittelalter: O LIVER L ANDOLT , Wider christenlich ordnung und kriegsbruch. Kriegsverbrechen in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft, in: Personen der Geschichte - Geschichte der Personen. Studien zur Kreuzzugs-, Sozial- und Bildungsgeschichte. FS für Rainer C. Schwinges, hg. von C HRISTIAN H ESSE u. a., Basel 2003, S. 83-100; D ERS ., »wider christenliche ordnung und kriegsbruch …«. Schwyzerische und eidgenössische Kriegsverbrechen im Spätmittelalter, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 22 (2005), S. 91-121; D ERS ., Die Kriminalisierung von Kriegsverbrechen - Das Beispiel der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft, in: C LAUDIA O PITZ / B RIGITTE S TUDER / J AKOB T ANNER (Hg.), Kriminalisieren, Entkriminalisieren, Normalisieren - Criminaliser, Décriminaliser, Normaliser (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 21), Zürich 2006, S. 93-107. 19 R EGULA S CHMID , Fahnengeschichten. Erinnern in der spätmittelalterlichen Gemeinde, in: Traverse 1999/ 1, S. 39-48; R UDOLF H ENGGELER (Hg.), Das Schlachtenjahrzeit der Eidgenossen nach den innerschweizerischen Jahrzeitbüchern (Quellen zur Schweizer Geschichte, Abt. II: Akten 3), Basel 1940; P ETER O CHSENBEIN , Beten ›mit zertanen armen‹ - ein alteidgenössischer Brauch, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 75 (1979), S. 129-172. Allgemein zu den verschiedenen ›Erinnerungsmedien‹ alteidgenössischer Krie- <?page no="80"?> K R IEG U ND K RI S E IN DER E IDGENOS S ENS C HAF T UM 1500 81 chen Vorstellungen provozierender Kleiderkult als Mittel der Abgrenzung gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen gewann vor allem im Zusammenhang mit den ausländischen Söldnerdiensten seit dem späten 15. Jahrhundert an Verbreitung. 20 Auch ikonographisch wurde dieses kriegerisch-militärische Gehabe seit Beginn des 16. Jahrhunderts aufgegriffen, indem einerseits über Brunnenfiguren der kommunalen Brunnen aber andererseits über gläserne Wappenscheiben öffentlicher wie privater Provenienz solches kriegerisch-martialisches Brauchtum idealisiert und glorifiziert wurde. 21 Die Reisläuferthematik beeinflusste in dieser Zeit auch in starkem Maße die grafische Kunst, wobei die Popularität der Darstellungen von Landsknechten im weiteren deutschsprachigen Sprachraum groß war. 22 Gerade letzteres deutet darauf hin, dass die Ausbildung solcher spezieller Kriegerkulturen keineswegs ein nur im Gebiet der heutigen Schweiz stattfindender Prozess war, sondern sich solche Entwicklungen ebenfalls in den unterschiedlichen Regionen Europas wahrnehmen lassen. So bekannte der Nürnberger Patrizier Christoph Fürer der Ältere (1479-1537) in seinen persönlichen Aufzeichnungen seine ihn durchs Leben begleitende Liebe zu kriegerischen Aktivitäten. Dies, obwohl ihn sein Vater für die Kaufmannstätigkeit vorgesehen hatte: In solchen jarn ist durchs Welschland viel ziechens von teutschen kriegsvolks gewest, mit denen ich in kuntschaft kam, gerkultur: O LIVER L ANDOLT , Eidgenössisches »Heldenzeitalter« zwischen Morgarten 1315 und Marignano 1515? Militärische Erinnerungskultur in der Alten Eidgenossenschaft, in: H ORST C ARL / U TE P LANERT (Hg.), Militärische Erinnerungskulturen vom 14. bis zum 19. Jahrhundert. Träger - Medien - Deutungskonkurrenzen (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 15), Göttingen 2012, S. 69-97; R AINER H UGENER , Buchführung für die Ewigkeit. Totengedenken, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter, Zürich 2014, S. 171-294. Siehe auch allgemein zur Erinnerungskultur im kommunalen Umfeld: M ARK M ERSIOWSKY , Medien der Erinnerung in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt, in: J OACHIM J. H ALBEKANN / E LLEN W IDDER / S ABINE VON H EU - SINGER (Hg.), Stadt zwischen Erinnerungsbewahrung und Gedächtnisverlust (Stadt in der Geschichte 39), Ostfildern 2015, S. 193-254. 20 K ATHARINA S IMON -M USCHEID , »Schweizergelb« und »Judasfarbe«. Nationale Ehre, Zeitschelte und Kleidermode um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für historische Forschung 25 (1995), S. 317-343. 21 Zu den Brunnenfiguren: G EORG K REIS , Namenlose Eidgenossen. Zur Frühgeschichte der schweizerischen Denkmalkultur, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 55 (1998), S. 13-24. Allgemein zur Wappenscheibenkunst im Gebiet der heutigen Schweiz: H ERMANN M EYER , Die schweizerische Sitte der Fenster- und Wappenschenkung vom 15. bis 17. Jahrhundert, nebst Verzeichnis der Zürcher Glasmaler von 1540 an und Nachweis noch vorhandener Arbeiten derselben. Eine kulturgeschichtliche Studie, Frauenfeld 1884. 22 M. R OGG , Landsknechte (Anm. 4): besonders prächtig gekleidete Reisläufer z. B. Abb. 43, 45, 47, 49; besonders prunkvoll bekleidete Landsknechte z. B. Abb. 11, 26, 87. <?page no="81"?> O LIV ER L ANDOLT 82 derwegen ungeacht, daβ mich mein vater auf kriegen nie gewist noch gezogen hat, empfieng ich doch damals in meiner jugent ein kriegswurzel, die mir mein leben lang nie entging. 23 Das sog. Reislaufen, die Leistung von Kriegsdiensten gegen Soldzahlung, war im Gebiet der heutigen Schweiz mindestens schon seit dem 13. Jahrhundert verbreitet, wobei insbesondere das Gebiet der Voralpen und Alpen als Rekrutierungsgebiet solcher Soldkrieger wohl eine Vorreiterrolle gespielt haben dürfte. 24 Im Lauf des Spätmittelalters entwickelte sich das Reislaufen zumeist gegen den obrigkeitlichen Widerstand der eidgenössischen Städte- und Länderorte zu einer eigentlichen »Feldsucht«, wie dies der Schweizer Historiker Walter Schaufelberger formuliert hat. Darunter versteht er »all jene Unternehmungen feindwärts«, welche nicht durch die Obrigkeiten angeregt, sondern »von diesen oft sogar verboten wurden.« Dabei handelte es sich um »Freibeuterei«, um »Reislauf in eigener Sache«. 25 Zum einen begaben sich Reisläufer - wie bereits erwähnt - in die Dienste von unterschiedlichen Herrschaftsträgern. Zum anderen konnten - insbesondere in den innerschweizerischen, häufig chaotisch regierten Länderorten vor allem im 15. Jahrhundert - auch ohne oder sogar gegen einen obrigkeitlichen offiziellen Auftrag Reisläufer sich zusammenrotten und aus in unserem heutigen Verständnis häufig sogar nichtigen Gründen Kriegszüge beginnen, die oft den Charakter von Beuterespektive Erpressungsfeldzügen annahmen. Solche von fehdewilligen Reisläufern oder auch von privaten Militärunternehmern vom Zaune gebrochenen Kriegszüge versetzten die kommunalen eidgenössischen Obrigkeiten immer wieder in politische Krisen. Insbesondere der sog. Saubannerzug von 1477, eine Zusammenrottung von mit der Beuteteilung in den Burgunderkriegen unzufriedenen 23 J OHANN K AMANN , Der Nürnberger Patrizier Christoph Fürer der Ältere und seine Denkwürdigkeiten 1479-1537, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 28 (1928), S. 209-311, hier Anhang I, S. 283. Selbst der berühmte Nürnberger Humanist Willibald Pirckheimer (1470-1530) bekannte in seinen Lebensaufzeichnungen seine Zuneigung zum Kriegshandwerk in seiner am Hofe des Bischofs von Eichstätt verbrachten Jugendzeit; Cl. Viri, D. Bilibaldi Pirckheymheri, Senatoris quondam Nurenbergensis, Vita, in: W ILLIBALD P IRCKHEIMER , Der Schweizerkrieg. De bello Suitense sive Eluetico. In lateinischer und deutscher Sprache. Neu übers. und kommentiert von F RITZ W ILLE , Baden 1998, S. 138-155, hier 140 (lat. Original), 141 (dt. Übersetzung). Allgemein zum Bestreben jugendlicher Stadtpatrizier zur Teilnahme an Kriegszügen: M ATTHIAS R OGG , »Ein Kriegsordnung neu gemacht«. Die Entstehung, Aufgabe und Bedeutung militärischer Funktionseliten im 16. Jahrhundert, in: G ÜNTHER S CHOLZ (Hg.), Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2000/ 2001), München 2002, S. 357-386, hier 370. 24 Zu frühen Reislaufunternehmungen im Bereich der Voralpen und Alpen mit weiteren Literaturangaben: O LIVER L ANDOLT , Söldner- und Pensionenwesen, in: Geschichte des Kantons Schwyz, Bd. 2: Vom Tal zum Land 1350-1550, Schwyz-Zürich 2012, S. 147-165. 25 W. S CHAUFELBERGER , Alte Schweizer (Anm. 3), S. 147. <?page no="82"?> K R IEG U ND K RI S E IN DER E IDGENOS S ENS C HAF T UM 1500 83 Innerschweizer Söldnern, führte innenpolitisch zwischen den eidgenössischen Städte- und Länderorten sogar zu einem schwerwiegenden Zerwürfnis. 26 Diese politische Krise wurde erst mit dem sog. Stanser Verkommnis von 1481 beigelegt, wobei aber auch in der folgenden Zeit dieses Übereinkommen keineswegs unumstritten war und besonders durch die Innerschweizer Länderorte in Frage gestellt wurde. 27 Die sog. Freischaren blieben jedoch auch in der folgenden Zeit ein Problem der eidgenössischen Geschichte; diese begleiteten häufig die regulären Truppen in ihren Heeresaufgeboten, so dass sehr viel größere Militärkontingente zusammenkamen. Beispielsweise wurden für den sog. Dijonerzug im Jahre 1513 16.000 Mann aufgeboten, tatsächlich sollen es aber ungefähr 30.000 Mann gewesen sein. 28 Bis in die jüngere Geschichtsforschung wird von einer ausgeprägten eidgenössischen Kriegerkultur ausgegangen, ja sogar - um dies in modernen Worten auszudrücken - von einer stark militarisierten Gesellschaft. Von Kindheit und Jugend an soll das männliche Geschlecht in kriegerischer Übung, in militärischem Geist erzogen worden sein. Dies beschrieb beispielsweise im Jahre 1576 der bekannte Zürcher Theologe und Geschichtsschreiber Josias Simler (1530-1576). Er erwähnt dabei Knaben von 8 bis 15 Jahren, welche mit Trommeln und Waffen herumzögen und so von Jugend an mit dem Umgang von kriegerischen Gepflogenheiten vertraut würden. 29 Normative Quellen zeigen denn auch, dass die Wehrpflicht im Spätmittelalter in den eidgenössischen Städte- und Länderorten ab dem 14. respektive 16. Lebensjahr gegolten hat. 30 26 A NDREAS W ÜRGLER , Vom Kolbenbanner zum Saubanner. Die historiographische Entpolitisierung einer Protestaktion aus der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft, in: P ETER B LICKLE / T HOMAS A DAM (Hg.), Untergrombach 1502. Das unruhige Reich und die Revolutionierbarkeit Europas, Stuttgart 2004, S. 195-215. 27 E RNST W ALDER , Das Stanser Verkommnis. Ein Kapitel eidgenössischer Geschichte (Beiträge zur Geschichte Nidwaldens 44), Stans 1994. 28 E. G AGLIARDI , Novara und Dijon. Höhepunkt und Verfall der schweizerischen Grossmacht im 16. Jahrhundert, Zürich 1907, S. 232. 29 J OSIAS S IMLER , Regiment Gemeiner loblicher Eydtgnoschafft: Beschriben unnd in zwey Bu e cher gestellt, Zürich 1576, II. Buch, fol. 160v: Es geschicht auch offt das junge knaben von 8. und 10. Jahren biß uff die 15. jre fendlin habend / und mit der trummen umbziehend / da etliche büchsen / spieß und hellenparten tragend / da einer vermeinte sy söllend kaum dörffen ein sölich weer angreyffen oder tragen mögen. Und wiewol sy Vegetium unnd andere / so von kriegskünsten geschriben / nie geläsen habend / un(n) jnen ouch niemants söllichs gebotte(n) hat / so tragend sy doch vo(n) natur ein liebe zu(n) waaffen / un(n) gwennend sich selbs von jugendt auff / das sy wol under dem spieß hereyn trätten könnind. Im Gegensatz hierzu zweifelt W. S CHAUFELBERGER , Alter Schweizer (Anm. 3), S. 44-47, unter der Ablehnung älterer Forschungserkenntnisse an einer militärischen Erziehung der Kinder und Jugendlichen in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft. 30 R ICHARD W EISS , Volkskunde der Schweiz. Grundriss, 3. Aufl. Zürich-Schwäbisch Hall 1984, S. 189f. <?page no="83"?> O LIV ER L ANDOLT 84 Tatsächlich bestanden die kriegerischen eidgenössischen Auszüge im Spätmittelalter hauptsächlich aus häufig sehr jungen, zumeist unverheirateten Kriegern. In vereinzelten Fällen ist das junge Alter von solchen Kriegern auch belegt, wie das Beispiel der Nachricht des frühen Schlachtentodes des Berner Jünglings Ludwig Frisching in der Schlacht bei Marignano im Jahre 1515 zeigt, der gemäß dem erschütternden Bericht seines Vaters im Alter von XIIII jär, XV wochen und I tag eines ellenden todß gestorben sei. 31 Die jüngere Forschung hat die negativen Auswirkungen militarisierter Gesellschaften auf jüngere Generationen für die neuere Zeit beschrieben. 32 Inwiefern solche Erkenntnisse auch für die ältere Vergangenheit Gültigkeit haben, ist bisher nicht geklärt. Ein ebenfalls in großen gesellschaftlichen Kreisen weitverbreiteter Waffenkult der eidgenössischen Städte- und Länderorte muss ebenfalls zur Militarisierung beigetragen haben. Während in Regionen mit weitgehend adligen Herrschaftsstrukturen eine Tendenz zur zunehmenden Entwaffnung der Untertanen vorherrschte, waren Gebiete mit autonomeren kommunalen Verhältnissen, wie diese im Gebiet der heutigen Schweiz vorherrschten, durch einen liberalen Umgang mit Waffenbesitz geprägt. ›Ehr und Wehr‹ drückte sich hier im persönlichen Waffenbesitz aus, wie sich dies insbesondere in der Strafgesetzgebung zeigt. Überführten Delinquenten wurde darin verschiedentlich das Recht auf das Tragen von Waffen demonstrativ eingeschränkt. Diese durften künftighin in der Öffentlichkeit nur noch ein abgebrochenes Messer tragen, was als stark ehrverminderndes Symbol, ja geradezu als eigentliche ›Kastration‹ der männlichen Ehre in der damaligen Zeit verstanden werden muss. 33 Immerhin gibt es Zeugnisse, in welchen schon die spätmittelalterlichen Zeitgenossen die sozialen Folgen des Reislaufens beklagten: So bemerkte der Berner Chronist Diebold Schilling († 1486), dass die an ihr kriegerisches Leben gewöhnten 31 U RS M ARTIN Z AHND , Die autobiographischen Aufzeichnungen Ludwig von Diesbachs. Studien zur spätmittelalterlichen Selbstdarstellung im oberdeutschen und schweizerischen Raume, Bern 1986, Nr. 2, S. 426. 32 Siehe hierzu mit dem Beispiel Deutschlands: W OLFRAM W ETTE , Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur, Frankfurt am Main 2008. Zu Kindersoldaten in der jüngsten Zeit vor allem in der sog. ›Dritten Welt‹: A NDREAS H ERBERG - R OTHE , Der Krieg. Geschichte und Gegenwart, Frankfurt am Main-New York 2003, S. 75-77. 33 Im eidgenössischen Raum war das Tragen einer Seitenwehr eng mit der persönlichen Rechts- und Ehrenstellung verbunden. Wer keine Waffe mehr tragen durfte, war ›ehr- und wehrlos‹. Siehe hierzu schon E DUARD O SENBRÜGGEN , Deutsche Rechtsalterthümer aus der Schweiz, Heft 2, Zürich 1859, S. 57-53. Allgemein zum Waffentragen mit verschiedenen Beispielen aus dem Gebiet der spätmittelalterlichen Schweiz: W ERNER M EYER , Gewalt und Gewalttätigkeit im Lichte archäologischer und realienkundlicher Zeugnisse, in: M ANU - EL B RAUN / C ORNELIA H ERBERICHS (Hg.), Gewalt im Mittelalter. Realitäten - Imaginationen, München 2005, S. 39-64, hier 59-64. <?page no="84"?> K R IEG U ND K RI S E IN DER E IDGENOS S ENS C HAF T UM 1500 85 Reisläufer nachmalen nit me werken noch keinem biderman dienen wolten. 34 Wiederholt beschäftigte sich auch die eidgenössische Tagsatzung mit der Problematik zurückgekehrter Reisläufer, welche sich nicht in den normalen Alltag integrieren konnten oder wollten. So stand beispielsweise während der Jahre 1484 und 1485 die Reislaufproblematik mehrmals auf der Traktandenliste der Tagsatzung, weil aus Frankreich zurückkehrende Reisläufer sich dem Müßiggang hingaben und ein lasterhaftes Leben führten. Diese trügen eine laszive Kleiderpracht, dz doch vor Gott und der Welt ein schand ist; die öffentlich zur Schau getragenen Waffen wie auch die Gotteslästerungen wurden genauso moniert wie der schamlose Umgang mit Prostituierten. 35 Die Reislaufproblematik blieb ein ständig diskutiertes Thema auf den eidgenössischen Tagsatzungen. Die zumeist auf das blutige Geschäft des Kriegshandwerks spezialisierten Männer fanden - wie bereits erwähnt - nur schwierig ins Alltagsleben zurück; ihre im Kriege erlernten gewalttätigen Methoden zur Gewinnung des Lebensunterhalts fanden in Friedenszeiten nicht selten mittels Räuberei und Wegelagerei ihre Fortsetzung. So sprechen beispielsweise im Berner Staatsarchiv aufbewahrte Verhörprotokolle von Delinquenten aus dem frühen 16. Jahrhundert eine deutliche Sprache; verschiedene der aufgegriffenen Delinquenten waren ehemalige Reisläufer, die nun mittels Diebstählen und Raubüberfällen ihr Dasein fristeten. 36 Die rohe und kriminelle Laufbahnen annehmenden Lebensformen von Reisläufern fanden auch Eingang in die zeitgenössischen Chroniken, wie beispielsweise die Geschichte des Reisläufers Hans Spiess zeigt, der seine Ehefrau misshandelt und schließlich ermordet hat. 37 Auch die Problematik des Streites um geschuldete Solddienstzahlungen wurde in den Chroniken aufgegriffen: Andres Hellmann z. B. prozessierte deswegen 1508 und verlor. Das Urteil nicht akzeptierend erklärte er die Fehde gegenüber dem Land Schwyz und verübte in der Folge verschiedene Brandanschläge; schließlich wurde er aufgegriffen und nach einem Prozess mit 34 Die Berner Chronik des Diebold Schilling, 1468-1484, hg. von G USTAV T OBLER , Bd. 2, Bern 1901, S. 172. 35 Amtliche Sammlung der ältern Eidgenössischen Abschiede: Die Eidgenössischen Abschiede aus dem Zeitraum von 1478 bis 1499, bearb. von A NTON P HILIPP S EGESSER , Bd. 3/ 1, Zürich 1858, Nr. 204k., l., m., n., S. 173f.; Nr. 208e, S. 177; Nr. 233o, S. 205; Nr. 235e, S. 207; Nr. 236o, S. 209. 36 A RNOLD E SCH , Räuber, Diebe, Wegelagerer. Reviere, Beute, Schicksale in Berner Verhörprotokollen des frühen 16. Jahrhunderts, in: D ERS ., Alltag der Entscheidung. Beiträge zur Geschichte der Schweiz an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Bern u. a. 1998, S. 137-159, hier 154 mit 159 Anm. 68. 37 Die Schweizer Bilderchronik des Luzerners Diebold Schilling 1513. Sonderausgabe des Kommentarbandes zum Faksimile der Handschrift S. 23 fol. in der Zentralbibliothek Luzern, hg. von A LFRED A. S CHMID , Luzern 1981, S. 328-331. Siehe auch: Berner-Chronik des Valerius Anshelm (Anm. 9), Bd. 2, S. 393. <?page no="85"?> O LIV ER L ANDOLT 86 dem Schwert hingerichtet. 38 Der Berner Chronist Valerius Anshelm (1475-1547) bezeichnete solche Entwicklungen als Kriegsfrücht und klagte gegen die Sittenverderbnis an, welche durch die auswärtigen Kriegsdienste in den eidgenössischen Orten Einzug gehalten habe: Geldgier, Kleiderluxus, Unmäßigkeit im Trinken, sexuelle Unzucht, hohe Gewaltbereitschaft, Kriminalität - alles ist nach Ansicht dieser Zeitzeugen eine negative Folge des Reisläufertums. 39 Unmut gegenüber dem Reislauf, den Pensionszahlungen und dem Bündnisschluss mit auswärtigen Mächten äußerte sich immer wieder auch in den Ämteranfragen, welche die Städteorte Bern, Zürich und Luzern vor allem seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in ihren ländlichen Herrschaftsterritorien durchführen ließen. 40 Die Einschleppung der seuchenartig auftretenden Geschlechtskrankheit Syphilis in die Eidgenossenschaft in den Jahren 1494/ 95 wurde durch verschiedene Chronisten den vom neapolitanischen Kriegszug unter Führung des französischen Königs Karl VIII. zurückkehrenden Reisläufern zum Vorwurf gemacht. 41 In der um 1500 sich entwickelnden humanistischen Kultur innerhalb der eidgenössischen Orte gewannen aber zunehmend auch den Frieden idealisierende Ideen Verbreitung. Oder wie es der aus der Stadt St. Gallen stammende Joachim von Watt (1484-1551), latinisiert Vadian, im Jahre 1517 zum Ausdruck brachte, dass aus der Eidgenossenschaft als »Kriegsnation auch eine Kulturnation zu machen« sei, wobei »dem streitbaren Mars die kunstverständige Minerva zur Seite zu stellen« sei. 42 38 Berner-Chronik des Valerius Anshelm (Anm. 9), Bd. 2, S. 468, 470-472. 39 Siehe hierzu A RNOLD E SCH , Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels in Bern an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Thüring Fricker und Valerius Anshelm, in: D ERS ., Alltag der Entscheidung. Beiträge zur Geschichte der Schweiz an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Bern 1998, S. 87-136, hier 105-127; K ATHARINA S IMON -M USCHEID , Die Dinge im Schnittpunkt sozialer Beziehungsnetze. Reden und Objekte im Alltag (Oberrhein, 14.-16. Jahrhundert) (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 193), Göttingen 2004, S. 329-334; D IES ., »Schweizergelb« (Anm. 20). 40 K ARL D ÄNDLIKER , Die Berichterstattungen und Anfragen der Zürcher Regierung an die Landschaft in der Zeit vor der Reformation, in: Jahrbuch für Schweizer Geschichte 21 (1896), S. 37-69; D ERS ., Zürcher Volksanfragen von 1521 bis 1798, in: Jahrbuch für Schweizer Geschichte 23 (1898), S. 149-225; C HRISTIAN E RNI , Bernische Ämterbefragungen 1495-1522, in: Archiv des historischen Vereins des Kanton Bern 39 (1948), S. 1-124; C ATHERINE S CHORER , Berner Ämterbefragungen. Untertanenrepräsentation und -mentalität im ausgehenden Mittelalter, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 51 (1989), S. 217-252. Siehe allgemein: A NNE -M ARIE D UBLER , Ämteranfragen, in: Historisches Lexikon der Schweiz 1, Basel 2003, S. 317. 41 Eine Zusammenstellung der einzelnen chronikalischen Stellen bei C ONRAD M EYER - A HRENS , Geschichtliche Notizen über das erste Auftreten der Lustseuche in der Schweiz und die gegen die weitere Ausbreitung der Krankheit in der Schweiz namentlich im Canton Zürich getroffenen Massregeln, Zürich 1841, S. 14-25. 42 Zit. nach U LRICH I M H OF , Mythos Schweiz. Identität - Nation - Geschichte. 1291- <?page no="86"?> K R IEG U ND K RI S E IN DER E IDGENOS S ENS C HAF T UM 1500 87 3. Wirtschaftliche Auswirkungen des Reislaufens um 1500 Eng mit dem Reislaufen zusammenhängend war das Pensionenwesen, welches seit dem Ende des 15. Jahrhunderts zu einem Problem innerhalb der eidgenössischen Orte wurde. Durch die Zahlung von Pensionsgeldern erhielten einzelne europäische Mächte das Recht, in den eidgenössischen Orten Söldnerwerbung vorzunehmen. Darüber hinaus wurden Handelsprivilegien sowie Zollfreiheiten und vergünstigte Salz- und Kornlieferungen gestattet. Verschiedentlich wurden Freiplätze an ausländischen Universitäten für eidgenössische Landsleute gewährt. 43 Zu Beginn des 16. Jahrhunderts konnten die eidgenössischen Orte aufgrund des reichen Zuflusses von Pensionsgeldern die steuerliche Belastung ihrer Bevölkerung auf ein tieferes Niveau hinunterfahren; ein Großteil der staatlichen Einnahmen wurde durch diese Gelder gedeckt. Im Zeitraum zwischen 1500 und 1520 machten die Pensionsgeldzahlungen in den einzelnen eidgenössischen Städteorten zwischen 30-60 % der gesamten Staatseinnahmen aus. 44 In den eidgenössischen Länderorten war dieser Anteil vermutlich noch höher, was sich aber aufgrund einer schlechten Quellenüberlieferung nur schwierig ermitteln lässt. 45 Die meisten eidgenössischen Kommunen konnten auf diese Weise seit dem beginnenden 16. Jahrhundert ihre während des 15. Jahrhunderts stark in Schulden geratenen Finanzhaushalte mit diesem ausländischen Geldzufluss weitgehend sanieren. 46 1991, Zürich 1991, S. 54. Im Original heißt die Stelle: […] ut Helvetii, quemadmodum Marte et armorum gloria nemini cedunt, ita tandem eos habeant, qui, Minervæ donis eximii, gloriam eorum literis, non minus quam armis illustrem facere possint; Die Vadianische Briefsammlung der Stadtbibliothek St. Gallen I: 1508-1518, hg. von E MIL A RBENZ , in: Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte XXIV, Dritte Folge IV/ 1. Hälfte, St. Gallen 1890, S. 77-270, hier Nr. 18, S. 249. Allgemein zur Bedeutung des Humanismus in der Eidgenossenschaft: T HOMAS M AISSEN , Humanismus, in: Historisches Lexikon der Schweiz 6, Basel 2007, S. 526-529. 43 Zur Problematik der Pensionsgeldzahlungen in den eidgenössischen Orten: V ALENTIN G ROEBNER , Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven 4), Konstanz 2000. 44 H ANS C ONRAD P EYER , Die Schweizer Wirtschaft im Umbruch in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: 500 Jahre Stanser Verkommnis. Beiträge zu einem Zeitbild, hg. vom Historischer Verein Nidwalden/ Historisch-Antiquarischer Verein Obwalden, Stans 1981, S. 59-70, hier 70. 45 Mit dem Beispiel des Finanzhaushalts des spätmittelalterlichen Länderortes Schwyz: O LI - VER L ANDOLT , »Non prosunt consilia, si desunt necessaria« - Finanzen und Finanzverwaltung im spätmittelalterlichen Land Schwyz, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz 97 (2005), S. 75-93, hier 83. 46 Vor allem die Arbeit von M ARTIN K ÖRNER , Solidarités financières suisses au XVIe siècle, Thèse Genève, Lausanne 1980, konnte dies umfassend durch die Untersuchung verschiedener städtischer Finanzhaushalte nachweisen. Siehe auch M ARTIN K ÖRNER , <?page no="87"?> O LIV ER L ANDOLT 88 Neben den öffentlichen an die einzelnen eidgenössischen Stände gezahlten Pensionsgeldern wurden auch an politisch einflussreiche Personen, d. h. an die politischen Führungsschichten der eidgenössischen Städte- und Länderorte heimliche Geldzahlungen getätigt bzw. eigentliche Bestechungsgelder gezahlt. Insbesondere diese ›heimlichen‹ Pensionsgeldzahlungen riefen innerhalb der Städte- und Länderorte den Unwillen der Bevölkerung hervor, weswegen es wiederholt zu Unruhen kam und diese als ›Fleischverkäufer‹ bezeichneten Personen an den Pranger gestellt und einzelne sogar hingerichtet wurden. 47 Obwohl die Annahme solcher Gelder wiederholt in den einzelnen eidgenössischen Orten untersagt wurde und auf gesamteidgenössischer Ebene mit dem 1503 erlassenen Pensionenbrief verhindert werden sollte, blieben alle diese Verbote in der Regel - mit einzelnen Ausnahmen - aber ohne größere Konsequenzen. 48 In den verschiedenen eidgenössischen Orten entstanden vor allem seit dem frühen 16. Jahrhundert Parteiungen der Anhänger der verschiedenen ausländischen Solddienstherren, welche sich gegenseitig bekämpften und deren Anhängerschaften sich bisweilen sogar mittels Parteiabzeichen markierten. 49 In Konkurrenz standen damals vor allem die Anhänger der französischen Königs und diejenigen des Kaisers. Diese Parteikämpfe müssen in den einzelnen Orten sehr gehässig ausgetragen worden sein, so dass sich auch die eidgenössische Tagsatzung zum Eingreifen veranlasst sah. Nach der Niederlage bei Marignano 1515 müssen diese Auseinandersetzungen innerhalb der eidgenössischen Städtewie Länderorte besonders heftig gewesen sein. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der nachmalige Reformator Ulrich Zwingli (1484-1531): Dieser war im Hauptort Glarus seit 1506 Pfarrer und damals Papstanhänger, wofür er sogar zeitenweise eine jährliche Pension von 50 Gulden erhielt. 50 In Glarus gewann nach der eidgenös- Luzerner Staatsfinanzen 1415-1798. Strukturen, Wachstum, Konjunkturen (Luzerner Historische Veröffentlichungen 13), Luzern-Stuttgart 1981, S. 192-199. 47 Die neueste Arbeit zu diesem schon lange beobachteten Phänomen: P HILIPPE R OGGER , Geld, Krieg und Macht. Pensionsherren, Söldner und eidgenössische Politik in den Mailänderkriegen 1494-1516, Baden 2015. 48 Zu den Maßnahmen der eidgenössischen Tagsatzung zu Beginn des 16. Jahrhunderts: M ARTIN K ÖRNER , Zur eidgenössischen Solddienst- und Pensionendebatte im 16. Jahrhundert, in: N ORBERT F URRER u. a. (Hg.), Gente ferocissima. Mercenariat et société en Suisse (XVe-XIXe siècle) - Solddienst und Gesellschaft in der Schweiz (15.- 19. Jahrhundert). FS für Alain Dubois, Zürich 1997, S. 193-203. 49 B RUNO K OCH , Kronenfresser und deutsche Franzosen. Zur Sozialgeschichte der Reisläuferei aus Bern, Solothurn und Biel zur Zeit der Mailänderkriege, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 46 (1996), S. 151-184. 50 Akten über die diplomatischen Beziehungen der römischen Curie zu der Schweiz, 1512- 1552, hg. von C ASPAR W IRZ (Quellen zur Schweizer Geschichte 16), Basel 1895, Nr. 83, S. 173f. <?page no="88"?> K R IEG U ND K RI S E IN DER E IDGENOS S ENS C HAF T UM 1500 89 sischen Niederlage in der Schlacht bei Marignano 1515 die Franzosenpartei die Überhand, so dass Zwingli in der Folge seine Pfarrei verlassen musste und er die freigewordene Stelle eines Leutpriesters im berühmten Wallfahrtsort Einsiedeln, unter schwyzerischer Schirmherrschaft stehend, zwischen 1516 und 1518 übernahm. 51 Auch die eidgenössische Tagsatzung beschäftigte sich mit diesen heftigen Parteienkämpfen, wie aus einem Tagsatzungsbeschluss vom 7. Juli 1516 hervorgeht: Heimbringen, als yetz allenthalb zwytracht, also dz einer französisch, der ander keysersch ist, das sölichs werdt abgestelt, und yederman eidgnossen sye(n). 52 Im Länderort Schwyz nahm man sich diese Aufforderung tatsächlich zu Herzen, wie auch aus dem Schwyzer Exemplar des Tagsatzungsbeschlusses hervorgeht, wo bei der betreffenden Stelle im Beschluss der Eintrag gmeind sich findet. 53 Dies bedeutet nichts anderes, als dass dieser Tagsatzungsbeschluss wahrscheinlich vor der Schwyzer Landsgemeinde behandelt werden sollte. Inwiefern dies tatsächlich geschah, entzieht sich unseren Kenntnissen. Jedenfalls findet sich im Schwyzer Landbuch ein durch Landammann und Landrat gefasster Beschluss vom 6. September 1516 folgenden Inhalts: Niemand solle keins frömden ußlendischen fürsten oder Herren Namen […] offentlichen beruffen, noch ußschryen. Auch durfte niemand keins ußlendischen fürsten oder Herren Libery [ = Dienstkleidung, OL], oder offen zeychen in siner bekleidung tragen. Genauso durften keine Wappen oder Zeichen auswärtiger Potentaten an Hauswände, Türen oder an anderen Orten öffentlich angebracht beziehungsweise gemalt werden. 1523 wurde dieses Verbot bestätigt. 54 Nichtsdestotrotz fanden im schwyzerischen Raum Parteiabzeichen im 16. Jahrhundert Eingang ins Wappen- und Siegelwesen und kennzeichneten den Träger als Anhänger der jeweiligen Partei. Das Zeichen der Lilie als Erkennungszeichen der Anhänger des französischen Soldbündnisses findet sich seit dem 16. Jahrhundert auf verschiedenen Schwyzer Familienwappen. 55 51 U LRICH G ÄBLER , Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, München 1983, S. 35. 52 StaatsA Schwyz, Abschiede, Theke 1003. Siehe auch Amtliche Sammlung der ältern Eidgenössischen Abschiede: Die Eidgenössischen Abschiede aus dem Zeitraume von 1500 bis 1520, bearb. von A NTON P HILIPP S EGESSER , Bd. 3/ 2, Luzern 1869, Nr. 666a, S. 985. 53 StaatsA Schwyz, Abschiede, Theke 1003. 54 M ARTIN K OTHING (Hg.), Das Landbuch von Schwyz, in amtlich beglaubigtem Text, Zürich 1850, S. 60. Zur Bedeutung von Zeichen und Wappen als Instrumente von Parteizugehörigkeit in der spätmittelalterlichen Gesellschaft: V ALENTIN G ROEBNER , Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters, München 2004, S. 39f.; S IMONA S LANIČKA , Krieg der Zeichen. Die visuelle Politik Johanns ohne Furcht und der armagnakisch-burgundische Bürgerkrieg (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 182), Göttingen 2002. 55 M ARTIN S TYGER , Wappenbuch des Kantons Schwyz, hg. von P AUL S TYGER , Genf 1936, S. 16f.; siehe auch D ERS ., Eine heraldische Kuriosität in Schwyz aus dem XVI. Jahrhun- <?page no="89"?> O LIV ER L ANDOLT 90 Um aber auf die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Eidgenossenschaft um 1500 zurückzukommen: Seit Ende des 15. Jahrhunderts flossen einerseits über öffentliche wie heimliche Pensionszahlungen, andererseits über Soldgelder und Beute gewaltige Vermögenswerte in die Eidgenossenschaft. Das durch das Söldnerwesen in die Eidgenossenschaft gepumpte Geld hatte aber nicht nur positive Folgen, sondern verursachte nach der Ansicht verschiedener Zeitgenossen auch einen eigentlichen Teuerungsschub, wie dies etwa der Zürcher Ratsherr Gerold Edlibach (1454-1530) in seinen chronikalischen Aufzeichnungen bezeugt: So meinten viele, dz die fille des geltz die türe macht. 56 Klagen kamen auch von Handwerksmeistern, welche gegen das Weglaufen ihrer Handwerksgesellen in Kriegsdienste wetterten. 1512 beschwerten sich die Zürcher Metzgermeister vor der städtischen Ratsobrigkeit, dass etliche ihrer Metzgergesellen yetz uß dem Jar in Krieg unnd hin gelouffen weren. Dabei stellten sie den Antrag, dass diese Metzgergesellen bei der Rückkehr für drei Jahre bei keinem Metzger mehr eingestellt und rückständige Lohnforderungen ebenfalls hinfällig sein sollten. 57 Nach Abschluss der Soldallianz zwischen den zwölf eidgenössischen Orten (ohne Zürich) mit dem französischen König Franz I. vom 5. Mai 1521 liefen im Sommer desselben Jahres so viele eidgenössische Reisläufer den französischen Diensten zu, dass es in der Stadt Bern wie auch dessen Territorium zu Misskundsbezeugungen kam. Darzů so murmleten ho e nlich in stat und land alle hantwerks- und burslu e t um ire ab den stu e len und ackeren hingefu e erte su e n und knecht. Es war ein solcher Mangel an Männern, dass die wiber mit ja e merlicher klag den ho e wet ussmachen und alle a e rnd inbringen mussten. 58 Letztere Beispiele zeigen, dass der Solddienst im Gegensatz zu späteren Zeiten finanziell um 1500 durchaus attraktiv sein konnte: So betrug der Monatslohn eines Reisläufers beinahe das Doppelte eines in der Stadt Zürich angestellten Maurergesellen; daneben lockten Beuteanteile aus Plünderungen. 59 dert, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz 10 (1897), S. 257-267, hier 260f. 56 Gerold Edlibach’s Chronik mit Sorgfalt nach dem Original copirt und mit einer gleichzeitig verfertigten Abschrift genau vergleichen und aus derselben vermehrt und ergänzt von Joh. Martin Usterj. Nebst einem Anhange, Zürich 1847, S. 232. 57 Zit. nach H ANS M ORF , Zunftverfassung und Obrigkeit in Zürich von Waldmann bis Zwingli (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 45/ 1), Zürich 1969, S. 65. 58 Berner-Chronik des Valerius Anshelm (Anm. 9), Bd. 4, S. 442. 59 H ANS C ONRAD P EYER , Die wirtschaftliche Bedeutung der fremden Dienste für die Schweiz vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, in: D ERS ., Könige, Stadt und Kapital. Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters, hg. von L UDWIG S CHMUGGE / R O - GER S ABLONIER / K ONRAD W ANNER , Zürich 1982, S. 219-231, 309f., hier 222f. Sehr kritisch über das Einkommen aus Beute, insbesondere für gewöhnliche Reisläufer äußert sich M ICHAEL J UCKER , Erfolgreiche Söldnerlandschaft Eidgenossenschaft? Die Innenperspektive um 1476, in: P. R OGGER / B. H ITZ , Söldnerlandschaften (Anm. 4), S. 85-105. <?page no="90"?> K R IEG U ND K RI S E IN DER E IDGENOS S ENS C HAF T UM 1500 91 Während im städtischen Bereich wie auch in den ländlichen Regionen des schweizerischen Mittellandes durchaus ein Arbeitskräftemangel aufgrund des Weglaufens in den Krieg in der Regel geherrscht hat, sah dies in den ländlichen Gebieten des schweizerischen Voralpen- und Alpengebietes in dieser Zeit anders aus. Aufgrund der im Spätmittelalter forcierten Umstellung von der personalintensiven, weitgehend auf Selbstversorgung ausgerichteten Subsistenzwirtschaft auf die verhältnismäßig nur wenige Arbeitskräfte benötigende exportorientierte Vieh- und Milchwirtschaft waren diese Regionen in starkem Maße durch Arbeitslosigkeit bedroht. 60 In diesen Regionen wurden die auswärtigen Reislaufdienste als eine Art Ventil betrachtet, wohin man solche arbeitslosen Bevölkerungselemente schicken und gleichzeitig den einheimischen Arbeitsmarkt entlasten konnte. So meinte - gemäß dem Zeugnis des Berner Chronisten Valerius Anshelm - der Schwyzer Landammann Reding im Zusammenhang mit dem Reislaufwesen, d’ Eidgnossen mu e ssen ein loch haben. 61 Auch aus dem städtischen Umfeld liegen Belege vor, in denen der Reislauf als Ausweg für Arbeitslosigkeit gedient haben muss. So suchte der Zürcher Rat im Sommer 1522 aus dem zürcherischen Herrschaftsbereich stammende Personen von ihrem Vorhaben, in den Reislauf zu ziehen, abzubringen, indem der Rat Folgendes verlauten ließ: Und ob etlich sich klagten, dass si nit ze werken hetten, denen wöllte man zuo werken schaffen, damit si dester bas bliben möchten. 62 4. Höhere Zahlen von eidgenössischen Kriegsgefallenen - gesellschaftliche Auswirkungen und mentale Krise In besonderem Maße rühmten sich die Eidgenossen im Spätmittelalter wiederholt, Gottes auserwähltes Volk zu sein, welches gleich dem alttestamentarischen Volk Israel durch alle Unbilden der Zeit durch ihre Gottesfürchtigkeit geführt worden sein sollen. Dies sei insbesondere in vergangenen Kriegen und Schlachten des 14. und 15. Jahrhunderts - wie zeitgenössische Chronisten und einheimische Liedersänger hervorhoben - bewiesen worden, in welchen nur wenige Kriegsgefallene 60 W ERNER M EYER , Eidgenössischer Solddienst und Wirtschaftsverhältnisse im schweizerischen Alpenraum um 1500, in: S TEFAN K ROLL / K ERSTEN K RÜGER (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit 1), Hamburg 2000, S. 23-39. Allerdings gibt es auch gegensätzliche Ansichten: So sieht J ON M ATHIEU , Geschichte der Alpen 1500-1900. Umwelt, Entwicklung Gesellschaft, 2. Aufl. Wien 2001, S. 63f., es keineswegs als gegeben an, dass durch die Zurückdrängung des Getreidebaus und die Spezialisierung auf die Vieh- und Milchproduktion in den voralpinen und alpinen Regionen zu einem Freiwerden von Arbeitskräften gekommen sein muss. 61 Berner-Chronik des Valerius Anshelm (Anm. 9), Bd. 1, S. 118. 62 Actensammlung zur Geschichte der Zürcher Reformation in den Jahren 1519-1533, hg. von E MIL E GLI , Zürich 1879, Nr. 262, S. 91. <?page no="91"?> O LIV ER L ANDOLT 92 auf eidgenössischer Seite zu beklagen waren. 63 So bemüht beispielsweise der Liederdichter Matthias Zoller in seinem kurz nach der Schlacht bei Murten 1476 entstandenen historischen Volkslied den Vergleich mit der alttestamentlichen Überlieferung des von Moses durch das Meer geführten Volkes Israel: Ir sind gefu e rt als Israel mit kleinem schaden durchs mer. 64 Die durch verschiedene eidgenössische Chronisten überlieferten niedrigen Gefallenenzahlen in den Schlachten des 14. und 15. Jahrhunderts müssen durch eine kritische Geschichtswissenschaft tatsächlich hinterfragt werden, zumal solche Gefallenenzahlen durchaus eine propagandistische Funktion haben konnten. Diesen Aspekt hob beispielsweise Willibald Pirckheimer (1470-1530), der bekannte Humanist und Anführer des Nürnberger Truppenkontingents im Schwabenbzw. Schweizerkrieg von 1499, hervor. Es sei bei den Eidgenossen allgemein üblich, weitaus geringere Schlachtverluste anzugeben als sie tatsächlich erlitten hätten. 65 63 Zur angeblichen ›Gottesauserwähltheit‹ der alten Eidgenossen: G UY P. M ARCHAL , Das Geschichtsbild von den »Alten Eidgenossen« im Wandel der Zeiten vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in: D ERS ., Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität, Basel 2006, S. 21-171, hier 32-34. 64 R OCHUS VON L ILIENCRON (Hg.), Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, Bd. 2, Leipzig 1866, Nr. 144, S. 102. Direkt an diese Zeilen anschließend erinnert Zoller die Eidgenossen ob der großen Gnade, an den tiefen Fall: nun behu e t u e ch got vor sündenquel, mit bösem u e ch nit beladent! Geradezu seherisch sucht Zoller die Eidgenossen vor Hochmut zu warnen. 65 W. P IRCKHEIMER , Der Schweizerkrieg (Anm. 23), S. 114 (lat. Original), 115 (dt. Übersetzung). Zum propagandistischen Einsatz der Truppen- und Gefallenenzahlen am Beispiel der Schlacht an der Calven 1499 durch die bündnerischen und eidgenössischen Truppen wie auch des gegnerischen kaiserlichen Heeres: C LAUDIO W ILLI , Calvenschlacht und Benedikt Fontana. Überlieferung eines Schlachtberichtes und Entstehung und Popularisierung eines Heldenbildes, in: Jahresbericht der Historisch-Antiquarischen Gesellschaft von Graubünden 99 (1969), S. 1-257, hier 35-38. <?page no="92"?> K R IEG U ND K RI S E IN DER E IDGENOS S ENS C HAF T UM 1500 93 5. Eidgenössische Gefallenenzahlen in militärischen Treffen zwischen 1474 und 1525 66 Militärisches Ereignis Datum Gegnerische Kriegsmacht Eidgenössisches Heer (samt Verbündete) Gefallene Gegner Gefallene Eidgenossen (samt Verbündete) Schlacht bei Héricourt 13. Nov. 1474 12.000 18.000 ca. 3.000 ca. 400 Schlacht bei Grandson 2. März 1476 etwa 20.000 rund 18.000 ca. 1.000 ca. 100 samt 412 Mann der hingerichteten Burgbesatzung Schlacht bei Murten 22. Juni 1476 etwa 23.000 gegen 25.000 10.000- 12.000 410 Schlacht bei Nancy 5. Jan. 1477 gegen 12.000 nahezu 20.000 gegen 7.000 unbekannt Schlacht bei Giornico 28. Dez. 1478 10.000 nahezu 600 gegen 1.400 50 Schlacht im Schwaderloh 11. April 1499 6.000-7.000 1.500 600-1.300 ca. 100 Schlacht bei Frastanz 20. April 1499 ca. 9.500 ca. 9.000 ca. 3.000 ca. 11 Tote, 60 Verwundete Schlacht an der Calven 22. Mai 1499 ca. 12.000 6.300 5.000 2000 Schlacht bei Dornach 22. Juli 1499 ca. 10.000 ca. 7.200 3.000 500 Schlacht bei Novara 6. Juni 1513 ca. 13.500 etwa 9.000- 10.000 ca. 7.000 ca. 2.000 Schlacht bei Marignano 13./ 14. Sept. 1515 ca. 45.000 ca. 23.000 5.000-8.000 9.000-10.000 66 Angaben zu den verschiedenen Zahlen: H ANS R UDOLF K URZ , Schweizerschlachten, Bern 1962, S. 87, 91, 103, 111, 120, 124, 133f., 147f., 150, 152, 157, 160, 164, 169, 175, 186, 192, 199, 200. Mit weiteren aus der Literatur gewonnenen Ergänzungen innerhalb der Tabelle. <?page no="93"?> O LIV ER L ANDOLT 94 Militärisches Ereignis Datum Gegnerische Kriegsmacht Eidgenössisches Heer (samt Verbündete) Gefallene Gegner Gefallene Eidgenossen (samt Verbündete) Schlacht bei Biccoca 67 27. April 1522 Rund 20.000 32.000 ›kaum nennenswerte Verluste‹ ca. 3.000-4.200 Schlacht bei Pavia 68 23./ 24. Feb. 1525 20.000 29.000 1.000 10.000 Tote (die Hälfte davon Eidgenossen), gegen 10.000 Gefangene Insbesondere die seit 1494 einsetzenden oberitalienischen Kriege müssen den damaligen Zeitgenossen als eine neue Dimension kriegerischer Gewalt vorgekommen sein. 69 Seit Beginn des 16. Jahrhunderts stiegen die Gefallenenzahlen stark an. Der verstärkte Einsatz von Feuerwaffen unterschiedlicher Gattung von der Kanone bis zu Handfeuerwaffen führte zu einer Veränderung der ›killing zones‹ innerhalb des Schlachtfeldes. Dabei verschob sich der Bereich einer unmittelbaren Gefährdung an Leib und Leben der einzelnen Krieger von den vorderen Frontlinien auf die gesamte Tiefe der Schlachthaufen. Neben der Verletzung oder dem Tod im Nahkampf von Mann gegen Mann in den vordersten Linien konnte nun die plötzliche Verwundung oder sogar Tötung durch pulvergestützte Fernwaffen inmitten der Kriegerhaufen treten. 70 Die eidgenössischen Heere mit ihrer bis dahin erfolgreichen Haufentaktik, welche ehemals als militärische Innovation den Untergang der traditionell kämpfenden Ritterheere bereitet hatte, wurden seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts nun selber durch den kombinierten Kampfeinsatz von Feuerwaffen wie auch Kavallerie an die Grenzen ihres Könnens gebracht und erlitten zunehmend hohe Menschenverluste. Die eidgenössischen Städte- und Länderorte waren aufgrund ihres nur lockeren Bündnisgeflechts und ihrer nur wenig zentralen 67 T HOMAS H ENGARTNER , Die Schlacht bei Bicocca 1522, in: Schweizer Schlachtfelder II: Laupen, St. Jakob, Bicocca (Schriftenreihe der Eidgenössischen Militärbibliothek und des Historischen Dienstes 11), Bern 2004, S. 44-60. 68 H ANS S TADLER , Pavia, Schlacht bei, in: Historisches Lexikon der Schweiz 9, Basel 2010, S. 582. 69 Allgemein zu diesen Kriegen in jüngerer Darstellung: M ICHAEL M ALLETT / C HRISTINE S HAW , The Italian Wars, 1494-1559. War, State and Society in Early Modern Europe, London-New York 2014. 70 S TEFAN X ENAKIS , Gewalt und Gemeinschaft. Kriegsknechte um 1500 (Krieg in der Geschichte 90), Paderborn 2015, S. 232f. <?page no="94"?> K R IEG U ND K RI S E IN DER E IDGENOS S ENS C HAF T UM 1500 95 Verfasstheit auf der militärischen Ebene gar nicht in der finanziellen Lage, auf die neue Feuerwaffentechnologie umzusatteln. Dazu hätte es den Ausbau des Steuerstaates gebraucht, wobei dies weitgehend nur den Monarchien mit einigermaßen zentralen Strukturen gelang. 71 In den eidgenössischen Orten wurden hingegen die ins Land fließenden, aus den fremden Solddiensten stammenden Pensionsgelder weitgehend zur Sanierung der kommunalen Finanzhaushalte verwendet unter gleichzeitigem Abbau direkter Steuern. 72 In einzelnen, insbesondere autobiographischen Zeugnissen lässt sich der Einfluss des Krieges auf die innerfamiliären Verhältnisse ebenfalls feststellen. Der aus dem Wallis stammende und in der Stadt Basel Karriere machende Thomas Platter (ca. 1499-1582) hielt in seiner Lebensbeschreibung fest, dass von seinen drei Brüdern zwei in kriegen bliben sind. 73 Die gestiegene Zahl der Kriegsgefallenen wurde den damalige Zeitgenossen ebenfalls bewusst, wobei diese aber eine solche Entwicklung zumeist weniger auf die veränderte Kriegstaktik der Gegner zurückführten, sondern dies vielmehr mit dem seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sich zunehmend verbreitenden Reisläuferwesen und den damit verbundenen verderblichen Einflüssen wie dem Pensionswesen in Zusammenhang brachten. In bezeichnender Weise argumentierte der bekannte Zürcher Reformatoren Ulrich Zwingli (1484-1531) in seiner 1522 veröffentlichten Schrift ›Eine göttliche Vermahnung an die Eidgenossen zu Schwyz‹, dass Gott die Eidgenossen bei der Verteidigung ihres Vaterlandes wie auch ihrer Freiheit immer beschirmt habe, wie die Beispiele der Schlachten zum Morgarten, zů Semppach, ze Nefels zeigen würden. Wie er weiter vermerkt, seien die Eidgenossen by 200 jaren ruewig gewesen […] und ungeschendt in verschiedenen Schlachten an vil orten. Als Gegensatz hierzu nennt Zwingli die verlustreichen, außerhalb des eidgenössischen Gebietes geschlagenen Schlachten der vergangenen Jahre: Wir haben in menschen gedechtniß ze Napels, Novarien, Meyland grösseren schaden in der herren dienst empfangn, denn die wyl ein Eiggnoschafft gestanden ist, und sind in eygnem krieg allweg sighafft xin, in frömdem dick sigloß. 74 71 Zum Ausbau des Steuerstaates im 16. Jahrhundert in den monarchisch verfassten Staaten: M ICHAEL S TOLLEIS , Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1983; siehe auch W IM B LOCKMANS , Geschichte der Macht in Europa. Völker, Staaten, Märkte, Frankfurt am Main-New York 1998, S. 92-103. 72 Allgemein zu den Finanzen und Finanzhaushalten insbesondere in den eidgenössischen Städteorten in der Frühen Neuzeit: M. K ÖRNER , Solidarités financières (Anm. 46). 73 T HOMAS P LATTER , Hirtenknabe, Handwerker und Humanist. Die Selbstbiographie 1499 bis 1582, bearb. von H EINRICH B OOS , mit einem Nachwort von R ALPH -R AINER R UTHE - NOW , Nördlingen 1989, S. 9. 74 Huldrich Zwinglis sämtliche Werke, hg. von E MIL E GLI / G EORG F INSLER , Bd. 1 (Corpus Reformatorum LXXXVIII, Bd. 1), Berlin 1905, Nr. 10, S. 155-188, hier 171. <?page no="95"?> O LIV ER L ANDOLT 96 Neben den hohen Verlusten an Menschenleben in Schlachten und Gefechten müssen auch die Ausfälle durch Krankheit und Seuchen sowie Hunger beträchtliche Ausmaße angenommen haben. Die geringen medizinischen Kenntnisse der Zeit führten bei Verwundungen wie Krankheiten häufig zum Tode, unter medizinisch glücklich verlaufenden Behandlungen nicht selten zu Invalidität. 75 Nicht wenige dieser invaliden ehemaligen Reisläufer fielen zu Hause dem Bettel anheim. 76 In einzelnen Orten gibt es immerhin Hinweise, dass Familienangehörige von im Dienste der Kommune Gefallenen zumindest zeitenweise eine gewisse soziale Unterstützung erhielten. 1468 sicherte beispielsweise der Luzerner Rat die Soldnachzahlung an die Hinterbliebenen von Kriegsgefallenen, da doch diese umb der statt und unser herrn willen lib und gůt verlorn hetten. 77 Zu Beginn des Jahres 1476, mitten in den Burgunderkriegen, sicherte der Luzerner Rat den Familienangehörigen der in Schlachten gefallenen Kämpfer in Stadt und Land wirtschaftliche Unterstützung zu. Zum einen sollten für Kriegswaisen von Gefallenen mit Hinterlassenschaft Vögte eingesetzt werden, welche diese Hinterlassenschaft bis zur Erreichung des Erwachsenenalters der Waisen getreu zu verwalten hatten; zum anderen sollten Waisen von armen, über kein Vermögen verfügenden Kriegsgefallenen bis zur Vollmündigkeit durch die stat, dz land old das ampt, under denen der gesessen, zum Unterhalt verpflichtet sein. Ebenso sollten Verwundete bis zu ihrer Genesung wie auch ihre minderjährigen Kinder Unterstützung erhalten. 78 Wie letzteres Beispiel zeigt, wurde das Problem von Kriegswaisen erkannt und Lösungsansätze gesucht, doch wie nachhaltig diese Maßnahmen waren, entzieht sich unseren Kenntnissen. 79 75 Allgemein zur Versorgung von Kriegsverwundeten in der Alten Eidgenossenschaft: C ONRAD B RUNNER , Die Verwundeten in den Kriegen der alten Eidgenossenschaft. Geschichte des Heeressanitätswesens und der Kriegschirurgie in schweizerischen Landen bis zum Jahre 1798, Tübingen 1903. 76 Beispielsweise griffen im Februar 1521 die Zürcher Bettelvögte in der Limmatstadt einen Mann namens Biberg auf, der gemäß dessen Angaben seit einer in der Schlacht bei Novara (1513) erlittenen Verletzung an der Hand zum Bettel gezwungen gewesen war; Actensammlung zur Geschichte der Zürcher Reformation in den Jahren 1519-1533, hg. von E MIL E GLI , Zürich 1879, Nr. 146, S. 34. 77 Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, III. Abt.: Die Rechtsquellen des Kantons Luzern. Erster Teil: Stadtrechte, Bd. 3: Stadt und Territorialstaat Luzern. Satzungen, Eidbuch, Stadtrechtbuch und andere normative Quellen (1461-1489), bearb. von K ONRAD W ANNER , Basel 2005, Nr. 37, S. 48. 78 Rechtsquellen Luzern (Anm. 77), Nr. 138, S. 162-164. Zahlungen an Hinterbliebene sind tatsächlich in Einträgen aus den Luzerner Ratsprotokollen dieser Jahre bezeugt (S. 164). 79 Aus dem Beginn der 1590er Jahre haben sich aus der Stadt Luzern Listen von unterstützten Bedürftigen erhalten, welche Einblick in die einzelnen Haushalte gewähren. Die hohe Bedeutung auswärtiger Kriegsdienste für die Verarmung einzelner Familien zeigt sich in verschiedenen Fällen, wo entweder die Männer aktuell im Kriegsdienst waren und ihre Familien nahezu unversorgt zurückließen oder die Männer ›im krieg gstorben‹ sind oder <?page no="96"?> K R IEG U ND K RI S E IN DER E IDGENOS S ENS C HAF T UM 1500 97 All diese Entwicklungen führten nach 1500 in der Eidgenossenschaft zu einer eigentlichen Sinnkrise, wobei diese mentale Krise im Motiv des ›Alten und Jungen Eidgenossen‹ einen besonderen Ausdruck fand. Erstmals wurde dieses Motiv im Theaterstück ›Spiel von den alten und jungen Eidgenossen‹ aufgegriffen, verfasst im Spätherbst 1513 durch den Zürcher Balthasar Spross († 1521). 80 Auch künstlerisch wurde das Motiv umgesetzt, so etwa in einem ursprünglich durch Niklaus Manuel Deutsch entworfenen und durch den Glasmaler Hans Funk (um 1470- 1539) ausgeführten Glasgemälde. 81 Zentrale Botschaft des Dialoges zwischen dem ›Alten und dem Jungen Eidgenossen‹ ist die Kritik an der Lebenshaltung der zu Beginn des 16. Jahrhunderts lebenden Generation. Durch den Reislauf reich geworden, hätten diese die einfachen Lebensformen, die Frömmigkeit und Eintracht der ›Alten Eidgenossen‹ zugunsten von Prunk- und Genusssucht aufgegeben und seien käuflich und korrupt geworden. Der in einfacher Tracht dargestellte ›Alte Eidgenosse‹ wird dabei dem den alteidgenössischen Idealen abtrünnig gewordenen und in geckenhafter Kleidung daherkommenden ›Jungen Eidgenossen‹ als Vorbild gegenübergestellt. 82 Dabei gibt es für die Zeit des Beginns des 16. Jahrhunderts auch Beispiele von Männern, welche in ihren jugendlichen Jahren zumindest zeitenweise als Reisläufer tätig waren, sich aber im weiteren Lauf ihres Lebens von einer solchen Karriere verabschiedeten. Ein typischer Vertreter dieser Gattung ist etwa der aus der Stadt Schaffhausen stammende Hans Stockar (1490-1556), der sich als junger Mann an den Mailänderkriegen beteiligte. Gemäß seinen Aufzeichnungen soll er 5 züg gegen die Franzosen mitgemacht haben, wobei er im speziellen den Pavierzug 1512, die Beteiligung an der Schlacht bei Novara 1513, die Teilnahme am Dijonerzug des invalid zurückgekommen sind; S TEFAN J ÄGGI , Arm sein in Luzern. Untersuchungen und Quellen zum Luzerner Armen- und Fürsorgewesen 1590-1593 (Luzerner Historische Veröffentlichungen 43), Basel 2012. Siehe auch B ENJAMIN H ITZ , Kämpfen um Sold. Eine Alltags- und Sozialgeschichte schweizerischer Söldner in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2015, S. 229-239. 80 Edition in: F RIEDERIKE C HRIST -K UTTER (Hg.), Das Spiel von den alten und jungen Eidgenossen (Altdeutsche Übungstexte 18), Bern 1963. Zu diesem Stück: H EIDY G RECO - K AUFMANN , Das Spiel von den alten und jungen Eidgenossen, in: A NDREAS K OTTE (Hg.), Theaterlexikon der Schweiz, Bd. 3, Zürich 2005, S. 1710-1712. Online abrufbar unter: http: / / tls.theaterwissenschaft.ch/ wiki/ Das_Spiel_von_den_alten_und_jungen_Eidgenossen (aufgerufen am 28.11.2016). 81 Die Glasscheibe wurde wiederholt in der Literatur publiziert, zuletzt beispielsweise bei G UY P. M ARCHAL , Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität, Basel 2006, S. 248 (Tafel III); und T HOMAS M AISSEN , Schweizer Geschichte im Bild, Baden 2012, S. 61. 82 Zum Kleidertopos der eidgenössischen Reisläufer siehe K. S IMON -M USCHEID , Schweizergelb (Anm. 20), S. 317-343. <?page no="97"?> O LIV ER L ANDOLT 98 gleichen Jahres und die Schlacht bei Marignano 1515 hervorhebt. 83 Im Jahre 1523 beschloss Stockar, in kain krieg zu züchen, es dreff dan mis vatters land ain. 84 In der Zeit seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts fanden verschiedentlich auch pazifistische Vorstellungen Verbreitung innerhalb der Eidgenossenschaft wie auch im europäischen Raum. Wichtiger Exponent dieser pazifistischen Einstellung war der ab 1514 sporadisch und seit 1521 dauernd mit aus religiösen Gründen versehenen Unterbrechungen in Basel lebende Humanist Erasmus von Rotterdam (1466-1536), welcher entsprechende Schriften insbesondere seit dem zweiten Dezennium des 16. Jahrhunderts veröffentlichte (u. a. Dulce bellum inexpertis, 1515; Querela pacis, 1517). 85 Schon nach kurzer Zeit wurden diese Schriften ins Deutsche übersetzt und konnten so und vor allem über die Druckerpresse eine Breitenwirkung erzielen. 86 Der Aufenthalt von Erasmus ab 1514 im seit 1501 eidgenössischen Basel hat diese Schriften durchaus beeinflusst. 87 Jedenfalls nahm er Krieg wie Kriegsfolgen in der damaligen Eidgenossenschaft respektive dem eidgenössischen Basel wahr und rezipierte solche Erfahrungen in seinen Schriften. 88 Erasmus hatte mit seinen Ideen und Vorstellungen einen großen Einfluss auf den seit dem späten 15. Jahrhundert immer breiter werdenden Kreis der eidgenössischen Humanisten. 89 83 K ARL S CHIB (Hg.), Hans Stockars Jerusalemfahrt 1519 und Chronik 1520-1529 (Quellen zur Schweizer Geschichte NF, 1. Abt.: Chroniken 4), Basel 1949, S. 71. 84 K. S CHIB , Hans Stockars (Anm. 83), S. 93. 85 Allgemein zu den pazifistischen Schriften von Erasmus von Rotterdam: A NTON S CHIND - LING , Scarabaeus aquilam quaerit. Humanismus und die Legitimation von Krieg und Frieden, in: T HOMAS M AISSEN / G ERRIT W ALTHER (Hg.), Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, Göttingen 2006, S. 343-361. 86 Zu den deutschsprachigen Übersetzungen: J OACHIM H AMM , Pax Erasmiana deutsch. Zu den Erasmusübersetzungen Ulrich Varnbülers und Georg Spalatins, in: N ICOLA M C L EL - LAND / H ANS -J OCHEN S CHIEWER / S TEFANIE S CHMITT (Hg.), Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium, Hofgeismar 2003, Tübingen 2008, S. 25-51. 87 Zur ›Eidgenössisierung‹ Basel nach dem Beitritt im Jahre 1501: C LAUDIUS S IEBER -L EH - MANN , Die Verschweizerung Basels. Der 13. Juli 1501 und seine Folgen, in: Basler Stadtbuch 122 (2001), S. 6-9. 88 Die Rückkehr der in der Schlacht bei Marignano am 13./ 14. September 1515 geschlagenen Basler Truppen schildert Erasmus in einem Schreiben an Andreas Ammonius vom 2. Oktober 1515: Eluetii nostri magnopere stomachantur aduersos Gallos, quod sibi in acie non cesserint ciuiliter, vt olim cesserant Anglis, sed machinis suis multos dissipauerint. Rediere domum aliquanto pauciores quam exierant, laceri, mutili, saucii, signis dissectis; proinde pro epinciis celebrant parentalia; Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, hg. von P. S. A LLEN , tom. II: 1514-1517, Oxford 1910, Nr. 360, S. 149. 89 Zu Erasmus von Rotterdam als ›Leuchtgestalt‹ der humanistischen Gelehrtenkultur nördlich der Alpen: C ORNELIS A UGUSTIJN , Erasmus von Rotterdam. Leben - Werk - Wirkung, München 1986. <?page no="98"?> K R IEG U ND K RI S E IN DER E IDGENOS S ENS C HAF T UM 1500 99 Aber nicht nur auf der humanistisch-philosophischen Ebene wurden solche pazifistischen Ideen entwickelt. Die im Rahmen der Radikalisierung der Reformation entstehende freikirchliche Bewegung der Täufer, deren Ursprünge seit 1522 im Raum der ehemaligen Eidgenossenschaft zu finden sind, stand in seiner schweizerischen Ausprägung von Anfang an pazifistischen Vorstellungen sehr nahe. Deutlich manifestiert sich dies im sog. Schleitheimer Bekenntnis von 1527, in welchem der Kriegsdienst von Christen abgelehnt wurde. 90 Auch äußerlich in ›modischer‹ Hinsicht wurde diese pazifistische Einstellung durch die Täufer demonstrativ - im Gegensatz zur Kleiderpracht der eidgenössischen Reisläufer - mit sehr schlichter Kleidung zum Ausdruck gebracht, wie der St. Galler Chronist Johannes Kessler (um 1502-1574) bemerkt. Darby glantzet ir wandel und geberd gantz from, hailig und unstraffbar, die kostlicheu klaider vermitten sy, verachtend kostlich essen und trincken, beclaidten sich mitt grobem tůch, verhullend ir höpter mitt braiten filtzhůten, ir gang und wandel gantz demůttig, sy trůgend kain gewer, weder schwert nach tegen, dann ann abbrochen brotmesser, sprachend, es werend wölffs claider, die die schaff nitt tragen söllend. 91 6. Schlusswort Auf dem Höhepunkt des militärischen Ansehens der eidgenössischen Orte um 1500 zeigten sich in steigendem Grade auch die schädlichen Auswüchse des kriegerischen Erfolges. Eine in starkem Maße an kriegerischen Werten orientierte Gesellschaft erkannte zunehmend die gesellschaftspolitischen Folgen dieser Entwicklung mit ihren sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen. In Verbindung mit dem allmählichen Umschwung der militärischen Erfolge und steigenden Gefallenenzahlen auf den Kriegszügen fiel die Eidgenossenschaft nach 1500 in eine zunehmende Sinnkrise, die diese Entwicklungen zunehmend kritisch hinterfragte. Dabei wurde insbesondere der Reislauf als eigentliches ›Krebsübel‹ durch verschiedene Bevölkerungskreise erkannt und abgelehnt. Nichtsdestoweniger wurden die ›Fremden Dienste‹ für die frühneuzeitliche Eidgenossenschaft bis ins 18. Jahrhundert zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. 90 B EATRICE J ENNY , Das Schleitheimer Täuferbekenntnis 1527, in: Schaffhauser Beiträge zur vaterländischen Geschichte 28 (1951), S. 5-81, hier 14-16. Allgemein zur durchaus ambivalenten Einstellung der Täufer zu Krieg und Kriegsdienst: E LSA B ERNHOFER -P IPPERT , Täuferische Denkweise und Lebensformen im Spiegel oberdeutscher Täuferverhöre (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 96), Münster 1967, S. 133-146. 91 Johannes Kesslers Sabbata, Chronik der Jahre 1523-1539, Erster Teil, hg. v. E RNST G ÖTZINGER , St. Gallen 1870, S. 272. <?page no="100"?> 101 P EER F RIESS Bürgerliches Krisenmanagement - Die oberschwäbischen Reichsstädte im Fürstenkrieg von 1552 Nach seinem Sieg über den Schmalkaldischen Bund im Frühjahr 1547 war Kaiser Karl V. auf dem Höhepunkt seiner Macht angekommen. 1 Die Demütigung seiner protestantischen Gegner und der Erlass des Interims auf dem Reichstag von Augsburg 1548 führte dies allen Ständen des Reiches eindrücklich vor Augen. In den folgenden Jahren konnte Karl V. seine Vision der ›Monarchia universalis‹ zwar nicht vollständig verwirklichen. Mit der Reform des Reichskammergerichts, der Einführung des ›Vorrats‹ und des ›Baugeldes‹ sowie den Plänen zur ›spanischen Sukzession‹ begann er jedoch, spürbar in das Reichsgefüge einzugreifen. Gleichzeitig gelang es dem Kaiser, die Wiederaufnahme der Konzilsberatungen in Trient durchzusetzen und damit die Lösung des seit Jahrzehnten schwelenden Religionskonflikts in seinem Sinne voranzubringen. Um dem Tagungsort der Kirchenversammlung möglichst nahe zu sein, residierte er seit dem Herbst 1551 in Innsbruck. Dort fühlte er sich so sicher, dass er mehrere Warnungen vor einer sich formierenden Opposition unbeachtet ließ. Die Erhebung des Kurfürsten Moritz von Sachsen im Frühjahr 1552 ließ die scheinbar unangreifbare Machtposition Karls V. dann innerhalb weniger Wochen wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Der Kaiser wurde zur Freilassung seiner fürstlichen Geisel Friedrich von Sachsen und zur Flucht über den Brenner genötigt. Er musste im Passauer Vertrag erneut einem provisorischen Stillstand im Ringen zwischen den Konfessionen im Reich zustimmen und scheiterte wenig später daran, die an den französischen König verlorene Stadt Metz zurückzugewinnen. 2 1 A LFRED K OHLER , Karl V. 1500-1558, München 1999, S. 314; F ERDINAND S EIBT , Karl V. Der Kaiser und die Reformation, München 1990, S. 167. 2 V OLKER L EPPIN , Das Zeitalter der Reformation, Darmstadt 2009, S. 111-119; W OLF - GANG R EINHARD , Reichsreform und Reformation 1495-1555 (Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte 9), Stuttgart 2001, S. 111-356, hier 344-349; H ORST R ABE , Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500-1600, München 1989, S. 284-303; H EINRICH L UTZ , Das Ringen um deutsche Einheit und kirchliche Erneuerung, Frankfurt-Berlin 1987, S. 292-298; H EINZ S CHILLING , Aufbruch und Krise. Deutschland 1517-1648, Berlin 1994, S. 237-239; B ERND M OELLER , Deutschland im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1981, S. 166-168; H EINRICH L UTZ , Christianitas Afflicta. Europa, das Reich und die päpstliche Politik im Niedergang der Hegemonie Karls V. (1552-1556), Göttingen 1964, S. 40-131. <?page no="101"?> P EER F R IE S S 102 Aus der Rückschau betrachtet stellt der Fürstenkrieg von 1552 daher zweifellos den krisenhaften Wendepunkt in der Herrschaft Karls V. dar. Während des etwa fünf Monate andauernden Ringens zwischen Moritz von Sachsen und seinen Verbündeten auf der einen und den Habsburgern auf der anderen Seite war das allerdings für die Beteiligten noch nicht erkennbar. Die Parteinahme für eine der beiden Fraktionen stellte ein völlig unkalkulierbares Risiko dar. Mächtige Reichsfürsten, wie der katholische Herzog Albrecht von Bayern und der evangelische Herzog Christoph von Württemberg, bemühten sich daher um neutrale Zurückhaltung, was ihnen trotz ihres politischen Gewichts nur mit Mühe gelang. 3 Den mindermächtigen Reichsständen war das allerdings nicht möglich. Dies galt für Prälaten und Reichsritter ebenso wie für die süddeutschen Reichsstädte. Selbst die größten unter ihnen - Augsburg, Ulm, Nürnberg, Frankfurt und Straßburg - erwiesen sich letztlich als zu schwach, um einen vergleichbaren Neutralitätskurs zu steuern. Von ihnen wurde erwartet, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden. Dieser äußere Zwang stürzte nahezu jede süddeutsche Reichsstadt in ein krisenhaftes Dilemma. Sollte man sich angesichts der fürstlichen Übermacht und des fast völligen Ausbleibens kaiserlicher Hilfe den Kriegsfürsten anschließen und damit den Zorn Kaiser Karls V. heraufbeschwören? Oder sollte man den Fürsten trotzen und sich auf eine Belagerung einlassen, die zumindest das Umland der eigenen Stadt verwüstete, möglicherweise aber auch zahlreichen Bürgern im Kampf das Leben kosten könnte? Warfen diese Fragen allein schon genügend Probleme auf, so führte das Ringen um eine angemessene Antwort in vielen Reichsstädten außerdem noch dazu, dass alte innerstädtische Rivalitäten wieder aufbrachen, dass latent vorhandene konfessionelle und gesellschaftliche Gegensätze offen zu Tage traten. Die Auseinandersetzung zwischen Moritz von Sachsen und Kaiser Karl V. ist in den vergangenen 150 Jahren intensiv untersucht worden. 4 Im Gegensatz dazu hat sich die historische Forschung der doppelten Krise der Reichsstädte jedoch kaum zugewandt. Diese Lücke lässt sich im Rahmen eines begrenzten Beitrages 3 A LBRECHT P IUS L UTTENBERGER , Politische Kommunikation, Neutralität und Vermittlung während des Fürstenaufstandes 1552, in: W INFRIED B ECKER (Hg.), Der Passauer Vertrag von 1552. Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und konfessionsgeschichtliche Bewertung (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 80), Neustadt a. d. Aisch 2003, S. 56-84; A XEL G OTTHARD , Frühe »Neutralität«. Der Fürstenkrieg in einer Archäologie des Neutralitätsrechts, in: M ARTINA F UCHS / R OBERT R EBITSCH (Hg.), Kaiser und Kurfürst. Aspekte des Fürstenaufstandes 1552, Münster 2010, S. 9-31; umfassend zur Frage der Neutralität D ERS ., Der liebe vnd werthe Fried. Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der Frühen Neuzeit (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 32), Köln u. a. 2014. 4 Vgl. die jüngste Gesamtdarstellung von K ERSTIN S CHÄFER , Der Fürstenaufstand gegen Karl V. im Jahre 1552. Entstehung, Verlauf und Ergebnis - vom Schmalkaldischen Krieg bis zum Passauer Vertrag, Taunusstein 2009. <?page no="102"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 103 zwar nicht schließen. 5 Am Beispiel der oberschwäbischen Reichsstädte, die für diesen Werkstattbericht aus der großen Gruppe der süddeutschen Reichsstädte herausgegriffen seien, können aber zumindest die Komplexität der Problematik veranschaulicht und elementare Grundmuster des reichsstädtischen Krisenmanagements herausgearbeitet werden. 6 Unter Krisenmanagement wird dabei die Summe aller Maßnahmen verstanden, die darauf abzielten, den innenwie außenpolitisch bedrohten Status quo aufrecht zu erhalten. 7 Im Zentrum der zum Teil sehr emotional geführten Diskussionen standen in allen oberdeutschen Kommunen auf Grund ihrer verfassungsrechtlichen Verantwortung die Ratsherren der Stadt. Die Vorgänge werden daher primär aus der Perspektive des reichsstädtischen Rates betrachtet. 1. Die oberschwäbischen Reichsstädte am Vorabend des Fürstenkriegs Am 13. Januar 1547 hatten die Gesandten der Reichsstadt Memmingen im kaiserlichen Lager in Heilbronn kniefällig um Verzeihung gebeten und sich zusammen mit den Vertretern von Biberach, Isny, Ravensburg und Kempten Kaiser Karl V. auf Gnade und Ungnade unterworfen. Angesichts des Abzugs der schmalkaldischen Bundesfürsten nach Norden sahen auch die anderen evangelischen Kommunen Oberschwabens keinen anderen Weg, als sich möglichst rasch dem Kaiser zu ergeben. Der Traum eines evangelischen Oberschwabens war ausgeträumt. Die Reichsstadt Ulm versuchte zwar im Februar noch, eine gemeinsame Strategie der Reichsstädte zu entwickeln. Nach dem Sieg der kaiserlichen Truppen über das Heer der schmalkaldischen Bundesfürsten bei Mühlberg am 24. April 1547 blieb den Kommunen aber nur mehr, sich wieder in die Strukturen des Reiches zu fügen und 5 Das soll in einer umfangreicheren Monographie geschehen, die der Verf. in der Reihe ›Oberschwaben - Geschichte und Kultur‹ veröffentlichen wird. 6 Zur Gruppe der oberschwäbischen Reichsstädte zählten Biberach, Buchau, Buchhorn, Isny, Kaufbeuren, Kempten, Leutkirch, Lindau, Memmingen, Pfullendorf, Ravensburg, Überlingen und Wangen. Vgl. K ARL O TTO M ÜLLER , Die oberschwäbischen Reichsstädte. Ihre Entstehung und ältere Verfassung, Stuttgart 1912, S. 1-4. 7 M ARTIN J ÄNICKE , Krisenbegriff und Krisenforschung, in: D ERS . (Hg.), Herrschaft und Krise. Beiträge zur politikwissenschaftlichen Krisenforschung, Opladen 1973, S. 10-25; C ARLA M EYER / K ATJA P ATZEL -M ATTERN / G ERRIT J ASPER S CHENK , Krisengeschichte(n). »Krise« als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive - eine Einführung, in: D IES . (Hg.), Krisengeschichte(n). »Krise« als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013, S. 9-23; O LIVER R AMONAT , Art. Krise, in: Enzyklopädie der Neuzeit 7, Sp. 226-229. <?page no="103"?> P EER F R IE S S 104 ihre nachgeordneten Plätze im Schwäbischen Reichskreis bzw. auf dem Reichstag einzunehmen. 8 Die Städte hatten zudem erhebliche finanzielle Lasten zu tragen. Neben den unmittelbaren Kosten der militärischen Operationen mussten auch die Sühneleistungen gegenüber dem Kaiser und dem König getragen sowie die Entschädigungsforderungen der während des Schmalkaldischen Kriegs gebrandschatzten altgläubigen Stände der Region bedient werden. Allein für die Reichsstadt Memmingen addierten sich die Verbindlichkeiten auf den enormen Betrag von ca. 150.000 Gulden. 9 Die Bewältigung dieser monetären Kriegsfolgen wurde durch die auf kaiserlichen Befehl erfolgende Restitution säkularisierten Kirchenbesitzes und die Einquartierung kaiserlicher Truppen noch erschwert. 10 Um diese ökonomischen Lasten bewältigen zu können, wären die oberschwäbischen Reichsstädte auf eine langjährige Periode des inneren und äußeren Friedens angewiesen gewesen. Das auf dem Reichstag von Augsburg 1548 dekretierte Interim bedrohte jedoch diese dringend notwendige Stabilität. 11 Die seit dem Beginn der Reformation in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts gewachsenen evangelischen Kirchtümer der meisten oberschwäbischen Reichsstädte sollten nach dem Willen des Kaisers bis zur endgültigen Regelung der Glaubensfrage nach den Vorgaben des zahlreiche katholische Elemente wiederbelebenden Interims umgestaltet werden. Gegen die Umsetzung des Interims regte sich überall erheblicher Widerstand. Trotz der erzwungenen Entlassung und Ausweisung zahlreicher Priester, Schulmeister und Stadtschreiber hielten die Proteste gegen die »papistische« Religion in den Folgejahren an. 12 Die Regelungen wurden nur schleppend eingeführt, 8 P EER F RIESS , Die Außenpolitik der Reichsstadt Memmingen in der Reformationszeit (1517-1555) (Memminger Forschungen 4), Memmingen 1993, S. 205-207. 9 P. F RIESS , Außenpolitik (Anm. 8), S. 217-219. 10 Die Städte versuchten entweder, sich von derartigen Einquartierungen freizukaufen oder eine Verlegung zu erwirken. Vgl. H EINRICH G ÜNTER (Hg.), Gerwig Blarer, Abt von Weingarten 1520-1567. Briefe und Akten, Bd. 2: 1547-1567 (Württembergische Geschichtsquellen 17), Stuttgart 1921, S. 305, Nr. 1258; M ATTHIAS L ANGENSTEINER , Der Feind in meiner Stadt. Das Verhältnis von Stadtbevölkerung und feindlichen Garnisonstruppen im Spiegel der spanischen Besatzung Württembergs nach dem Schmalkaldischen Krieg, in: F RANZ H EDERER u. a. (Hg.), Handlungsräume: Facetten politischer Kommunikation in der Frühen Neuzeit, München 2011, S. 219-228. 11 H ORST R ABE , Zur Interimspolitik Karls V., in: L UISE S CHORN -S CHÜTTE (Hg.), Das Interim 1548/ 50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 203), Gütersloh 2005, S. 127-146. 12 P AUL W ARMBRUNN , Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648 (Veröff. des Instituts für Europäische Geschichte 111), Wiesbaden 1983, S. 74-92. <?page no="104"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 105 heimlich unterlaufen oder auch ganz offen kritisiert. 13 Selbst die Einbestellung der offiziell interimistischen Pfarrer im Herbst 1551 an den kaiserlichen Hof nach Augsburg konnte nichts daran ändern. 14 Das Interim blieb eine Quelle permanenter Spannungen. All diese Probleme hatten die Bürger von Überlingen und Buchhorn, von Wangen, Pfullendorf und Buchau nicht. Sie waren im altgläubig kaisertreuen Lager geblieben, hatten sich nicht dem Schmalkaldischen Bund angeschlossen und durften sich des Wohlwollens des Kaisers gewiss sein. 15 Umso überraschter waren sie, als ihnen im Sommer 1551 mitgeteilt wurde, dass der Kaiser auch ihre Verfassung verändern wollte, wie er es bereits 1548 in Ulm und Augsburg getan hatte. 16 Vom 8. Oktober 1551 bis zum 26. Februar 1552 erschienen in allen oberschwäbischen Reichsstädten die von Heinrich Hass geführten kaiserlichen Kommissionen, um das traditionelle Zunftregiment zu beseitigen und ein neues Ratsregime einzusetzen. Kaiser Karl V. hoffte, dass die süddeutschen Reichsstädte zuverlässiger für die kaiserliche Position eintraten, wenn möglichst viele altgläubige Patrizier unabhängig von zünftischem Einfluss die führenden politischen Ämter bekleideten. Dass damit die Bürger der katholisch gebliebenen Reichsstädte besonders brüskiert wurden und erheblichen Widerstand leisteten, wurde billigend in Kauf genommen. 17 Das Ideal der Etablierung einer mehrheitlich altgläubigen, patrizischen 13 Auf Bitten Karls V. hatte Abt Gerwig Blarer Erkundigungen eingeholt und bereits am 15. März 1550 an den Kaiser berichtet, dass in den schwäbischen Städten gegen das Interim gepredigt werde und dass man dort die Vorgaben des Kaisers keineswegs vollständig einhielte: Zu Lindow, zu Kempten und Kauffbeuren befinde ich die sachen am allerergosten, dann in denen dreyen stetten ist bis anher ohn alles scheuhen das zwinglisch vermaint nachtmal offentlich gehalten […] worden. E RWEIN E LTZ (Hg.), Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe XIX, Der Reichstag zu Augsburg 1550/ 51, Bd. 1, Stuttgart 2005, S. 174-176. 14 M ARTIN B RECHT / H ERRMANN E HMER , Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, Stuttgart 1984, S. 299-304. 15 W ILFRIED E NDERLE , Rottweil und die katholischen Reichsstädte im Südwesten, in: A NTON S CHINDLING / W ALTER Z IEGLER (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650, Bd. 5: Der Südwesten, Münster 1993, S. 214-230. 16 Vgl. zur Einführung der karolinischen Ratsreformation in den süddeutschen Reichsstädten allgemein L UDWIG F ÜRSTENWERTH , Die Verfassungsänderungen in den oberdeutschen Reichsstädten zur Zeit Karls V., Göttingen 1893; E BERHARD N AUJOKS (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung. Ausgewählte Aktenstücke zu den Verfassungsänderungen in den oberdeutschen Reichsstädten (1547-1556) (Veröff. Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg A 36), Stuttgart 1985. 17 V OLKER R EINHARD , Governi stretti e Tirannici. Die Städtepolitik Kaiser Karl V. 1515- 1556, in: A LFRED K OHLER / B ARBARA H AIDER / C HRISTINE O TTNER (Hg.), Karl V. 1500- 1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und Übersee (Zentraleuropa-Studien 6), Wien 2002, S. 407-434, hier 411-413. <?page no="105"?> P EER F R IE S S 106 Ratsoligarchie ließ sich - von wenigen Ausnahmen abgesehen - in den übrigen Städten dennoch nicht umsetzen, da es in vielen Kommunen nur mehr ganz wenige Altgläubige und oft noch nicht einmal genügend Patrizier gab. Große personelle Veränderungen lassen sich daher kaum feststellen. 18 Gravierender als die strukturelle Modifikation der Ratsgremien, die eher zu einer unerwünschten Mehrbelastung der neu ernannten Mitglieder führte, erwiesen sich demgegenüber die Aufhebung der politischen Funktion der Zünfte und die Einschränkung ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten. Die Zunfthäuser sollten verkauft, das Vermögen der Zünfte eingezogen und die zünftische Selbstverwaltung vom Rat überwacht werden. Sinnfälligen Ausdruck fand diese Degradierung der traditionsreichen Zünfte auch in einer neuen Nomenklatur. So sollte zukünftig nicht von Zünften, sondern von Handwerken gesprochen werden, deren Leitung sogenannten Obleuten übertragen wurde, die nicht mehr gewählt, sondern vom Rat ernannt wurden. 19 Dass damit auch eine disziplinierende Zielsetzung verfolgt wurde, wird daraus ersichtlich, dass Heinrich Hass die neuen Amtsträger ermahnte, alle Kritiker an der neuen Ordnung zu verfolgen. Außerdem sollten die neuen Ratsherren den in allen Kommunen mehrheitlich mit Handwerksmeistern besetzten Großen Rat oder die Gemeinde […] on mergliche Ursache nit zusamenkhumen lassen. 20 Widerstand gegen die neue Stadtverfassung wurde also weniger von den etablierten Führungskreisen als vielmehr von der bürgerlichen Mittelschicht erwartet. In der Summe haben die Belastungen der städtischen Haushalte durch die Folgekosten des Schmalkaldischen Krieges, die erzwungene Einführung des Interims gegen die eindeutig oberdeutsch-zwinglianische Ausrichtung der Stadtbevölkerung und der die Zünfte entmachtende Verfassungsoktroi des Kaisers das gesamte kommunale Gefüge in den oberschwäbischen Reichsstädten aus dem Gleichgewicht gebracht. Und genau in diese labile Situation hinein stieß nur wenige Monate nach der Umgestaltung der reichsstädtischen Verfassungen der Kriegszug des Fürstenbündnisses unter Führung von Moritz von Sachsen. 18 R EINER J ENSCH , Stadtchronik Wangen im Allgäu, Wangen 2015, S. 144; S TEFAN D IE - TER / F RITZ J UNGINGER , Die urbane Herausforderung. Von den Ereignissen der Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg, in: J ÜRGEN K RAUS / S TEFAN F ISCHER (Hg.), Die Stadt Kaufbeuren, Bd. I, Thalhofen 1999, S. 68. 19 P HILIP K INTNER , Memmingen in den vergessenen Jahren, in: J OACHIM J AHN (Hg.), Die Geschichte der Stadt Memmingen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsstadt, Memmingen 1997, S. 457-567, hier 465. 20 E. N AUJOKS (Hg.), Zunftverfassung (Anm. 16), S. 201. <?page no="106"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 107 2. Der Kriegszug der Fürsten nach Süddeutschland Während Karl V. bereits seit der Jahreswende 1551/ 52 eindeutige Hinweise auf ein mögliches militärisches Vorgehen opponierender Fürsten erhalten hatte, ohne diese Warnungen allerdings wirklich ernst zu nehmen, war die Informationslage der Reichsstädte deutlich schlechter. Von wenigen Führungspersönlichkeiten in Straßburg und Augsburg abgesehen, hatten die Ratsherren der süddeutschen Reichsstädte nur mitbekommen, dass an vielen Orten Söldner angeworben wurden und immer häufiger Truppenkontingente durch ihre Region zogen. 21 Auch in den oberschwäbischen Reichsstädten war man sich nicht im Klaren darüber, welches Ziel diese Rüstungen hatten. Neben Gerüchten über einen bevorstehenden Krieg gegen Frankreich oder einen neuen Feldzug gegen die Osmanen gab es auch Nachrichten von neuen Kämpfen um Parma, die der Grund für die Truppenbewegungen hätten sein können. 22 Mit dem Aufmarsch eines Reitergeschwaders des Markgrafen Albrecht Alkibiades von Brandenburg-Kulmbach vor der Reichsstadt Donauwörth am 16. März 1552 begann daher für die Menschen in Oberdeutschland völlig überraschend ein Krieg im eigenen Land, dessen Ursachen und Zielsetzungen sie zunächst kaum erfassen konnten. 23 Gestützt auf ein Bündnis mit dem französischen König Heinrich II. hatten Kurfürst Moritz von Sachsen, Landgraf Wilhelm von Hessen, Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg und Markgraf Johann von Brandenburg- Küstrin bereits im Februar 1552 damit begonnen, ihre Truppen zu mustern und 21 Vgl. etwa das Schreiben des oberösterreichischen Hauptmanns von Konstanz, Nikolaus von Pollweiler, an Lindau mit dem Hinweis auf Söldneranwerbungen in Frankreich; StadtA Lindau, A III 35,8: 1552 II 25. Die Lindauer sollten ihr Augenmerk darauf richten und Kundschaften weitergeben. 22 Zu den ereignisgeschichtlichen Hintergründen s. A NDRÉ B OURDE , Frankreich vom Ende des 100jährigen Krieges bis zum Beginn der Selbstherrschaft Ludwig XIV. (1453-1661), in: T HEODOR S CHIEDER (Hg.), Handbuch der Europäischen Geschichte, Bd. 3, Stuttgart 1971, S. 719-851, hier 757f.; H EINRICH L UTZ , Italien vom Frieden von Lodi bis zum Spanischen Erbfolgekrieg (1454-1710), in: Ebd., S. 852-901, hier 884; G OTTHOLD R HODE , Ungarn vom Ende der Verbindung mit Polen bis zum Ende der Türkenherrschaft (1444- 1699), in: Ebd., S. 1062-1117, hier 1094. Vgl. auch H EINZ S CHILLING , Veni, vidi, Deus vixit - Karl V. zwischen Religionskrieg und Religionsfrieden, in: Archiv für Reformationsgeschichte 89 (1998), S. 144-166. 23 J OHANNES H ERRMANN / G ÜNTHER W ARTENBERG / C HRISTIAN W INTER (Hg.), Politische Korrespondenz des Kurfürsten Moritz von Sachsen, Bd. 5: 9. Januar 1551-1. Mai 1552, Berlin 1998 (PKMS 5), S. 741, Nr. 419. Die jüngste Darstellung der Kriegsereignisse stammt von I NES G RUND , Die Ehre - die Freiheit - der Krieg. Frankreich und die deutsche Fürstenopposition gegen Karl V. 1547/ 48-1552, 2 Teile, Bad Camberg 2007, hier Teil 1, S. 163-243. <?page no="107"?> P EER F R IE S S 108 am Untermain zu konzentrieren. 24 Ihr erklärtes Ziel war es, die teutsche Libertät gegen die wachsende Dominanz des habsburgischen Kaisers zu verteidigen, die Position der evangelischen Stände wieder zu stärken und insbesondere den nach wie vor gefangen gehaltenen Schwiegervater des Kurfürsten Moritz von Sachsen, den Landgrafen Philipp von Hessen, zu befreien. 25 Der nur lose mit den Fürsten assoziierte Markgraf Albrecht Alkibiades hatte andere Pläne. Er wollte seine Herrschaft in Franken sichern und durch ergiebiges Brandschatzen seine hohe Schuldenlast reduzieren. 26 Neben den fränkischen Bistümern kamen dafür insbesondere die wohlhabenden süddeutschen Reichsstädte in Betracht. So wandte er sich von Donauwörth aus nach Nordwesten, zog am 20. März 1552 in Dinkelsbühl ein und bedrohte von dort aus die umliegenden Reichsstädte, wie z. B. Nördlingen, Schwäbisch Hall und Rothenburg. 27 Die Strategie der Kriegsfürsten, denen er sich in den nächsten Wochen anschloss, bestand demgegenüber darin, rasch nach Süden vorzustoßen, um sich in Oberdeutschland eine sichere Machtbasis zu schaffen, die es ihnen erleichtern sollte, dem habsburgischen Kaiser ihre Bedingungen zu diktieren. Eine Schlüsselfunktion kam in ihren Plänen der Reichsstadt Augsburg zu. Auf Grund verschiedener persönlicher Kontakte zu einzelnen Persönlichkeiten aus der Augsburger Führungsschicht, v. a. zu Jakob Herbrot, glaubten sie, die latente Unzufriedenheit vieler Augsburger mit der aktuellen Situation ausnützen zu können. 28 Der militärische Berater der Fürsten und des französischen Königs, Sebastian Schertlin von Burtenbach, ging sogar davon aus, dass die evangelisch gesinnten süddeutschen Reichsstädte sich relativ rasch auf die Seite der Kriegsfürsten stellen würden. 29 Tatsächlich gestaltete sich der Vorstoß der Kriegsfürsten nach Süden zunächst völlig problemlos. Ohne auf Widerstand zu stoßen, erreichte Moritz von Sachsen mit seinem Heer in wenigen Tagen die Reichsstadt Augsburg, die er am 24 E RICH B ORN , Moritz von Sachsen und die Fürstenverschwörung gegen Karl V., in: HZ 191 (1960), S. 18-66; vgl. zur Person des Anführers der Kriegsfürsten J OHANNES H ERR - MANN , Moritz von Sachsen (1521-1553). Landes-, Reichs- und Friedensfürst, Beucha 2003; und K ARLHEINZ B LASCHKE (Hg.), Moritz von Sachsen - Ein Fürst der Reformationszeit zwischen Territorium und Reich, Leipzig 2007. 25 Zu den Zielsetzungen der Kriegsfürsten s. PKMS 5 (Anm. 23), S. 13-47 »Einführung«. 26 A NDREA B ADEA , »Es trieb ihn längst zum Krieg in der Unruhe seines Geistes«. Markgraf Albrecht von Brandenburg-Kulmbach und der Fürstenaufstand, in: M ARTINA F UCHS / R OBERT R EBITSCH , Kaiser und Kurfürst. Aspekte des Fürstenaufstandes 1552 (Geschichte in der Epoche Karls des V. 11), Münster 2010, S. 99-117, hier 104-114. 27 I. G RUND , Die Ehre (Anm. 23), Teil 1, S. 188; vgl. PKMS 5 (Anm. 23), S. 739f., Nr. 417. 28 F RIEDRICH R OTH , Augsburgs Reformationsgeschichte, Bd. 4, München 1911, S. 418. Zu Herbrot s. M ARK H ÄBERLEIN , Jakob Herbrot 1490/ 95-1564, in: W OLFGANG H ABERL (Hg.), Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 15 (Veröff. SFG 3/ 15), Weißenhorn 1997, S. 69-111. 29 PKMS 5 (Anm. 23), S. 493-496, Nr. 257. <?page no="108"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 109 4. April 1552 ohne Blutvergießen einnehmen konnte. Von hier aus steuerte Moritz in den folgenden Monaten sowohl die Verhandlungen mit König Ferdinand I. als auch die militärischen Operationen des Fürstenheeres. 30 Eine der ersten Aktionen bestand darin, bereits am 8. April ein Ausschreiben an die oberdeutschen Städte zu senden, in dem diese aufgefordert wurden, sich den Fürsten anzuschließen. 31 Um dieser Aufforderung Nachdruck zu verleihen, erfolgte als erstes die Besetzung des Territoriums des Augsburger Bischofs und am 13. April die Einnahme der Residenzstadt Ottheinrichs von der Pfalz, Neuburg an der Donau. Am selben Tag sandten die Kriegsfürsten ein Schreiben an Bürgermeister und Rat von Regensburg, in dem sie auch von dieser Reichsstadt den Beitritt zu ihrem Bündnis verlangten. 32 Bereits am 12. April war ein Teil des fürstlichen Heeres vor die Tore Ulms marschiert. Anders als Augsburg unterwarf sich Ulm jedoch nicht. Trotz einer mehrtägigen Belagerung, in deren Gefolge das Umland der Stadt geplündert und stark verwüstet wurde, weigerte sich Ulm standhaft, die geforderte Capitulation zu unterzeichnen. 33 Nachdem Moritz von Sachsen am 16. April zu den ersten Verhandlungen mit Ferdinand I. nach Linz gereist war, brach Landgraf Wilhelm von Hessen die Belagerung von Ulm schließlich am 19. April ab und zog mit seinen Truppen im großen Bogen durch Oberschwaben. Der Weg führte zunächst über Pfullendorf nach Stockach und von da dann weiter über Überlingen, Salmansweiler, Ravensburg, Weingarten und Laupheim wieder zurück an die Donau, wo der Landgraf am 1. Mai sein Feldlager bei Gundelfingen aufschlug. 34 Dass es dabei vor allem darum ging, die über die Eidgenossenschaft transferierten, dringend zur Bezahlung der Söldner benötigten französischen Subsidiengelder in Empfang zu nehmen und 30 J. H ERRMANN , Moritz von Sachsen (Anm. 24), S. 190. 31 PKMS 5 (Anm. 23), S. 809, Nr. 472. 32 Diese Vorstöße wurden in ganz Oberschwaben genau registriert; s. StadtA Kempten, B 31: Schwarzsche Chronik, fol. 133r; zu Regensburg vgl. T HEOBALD L EONHARD , Die Reformationsgeschichte der Reichsstadt Regensburg, Bd. 2, München 1951, S. 182. Zu Ulm siehe H ANS E UGEN S PECKER , Ulm. Stadtgeschichte, Ulm 1977, S. 138f. 33 Mit dem Begriff Capitulation ist in diesem Kontext eine formelle schriftliche Akzeptanz der fürstlichen Forderungen gemeint. Der von den Kriegsfürsten entworfene Text bildete die Grundlage der diversen innerstädtischen Beratungen sowie der Konferenz der Städtegesandten in Augsburg Anfang Mai. Vgl. den Entwurf einer Capitulation mit den Städten des Oberlandes in A UGUST VON D RUFFEL , Beiträge zur Reichsgeschichte 1552 (Briefe und Akten zur Geschichte des 16. Jahrhunderts 2), München 1880, S. 464f. 34 M AX R ADLKOFER , Der Zug des sächsischen Kurfürsten Moritz und seiner Verbündeten durch Schwaben im Frühjahr 1552, in: ZHVS 17 (1890), S. 153-200; vgl. auch das Tagebuch des Damian von Sibottendorf (1519-1585) in: A UGUST VON D RUFFEL , Beiträge zur Reichsgeschichte 1552 (Briefe und Akten zur Geschichte des 16. Jahrhunderts 3), München 1882, S. 356-361. <?page no="109"?> P EER F R IE S S 110 sicher nach Augsburg zu bringen, war den Menschen der betroffenen Region nicht bekannt. Sie erlebten einfach den Durchzug eines brandschatzenden und plündernden Heeres, dem sich niemand in den Weg stellte. Um sich für die in Linz vereinbarten Passauer Verhandlungen eine bessere Position zu verschaffen und militärische Gegenmaßnahmen des Kaisers zu vereiteln, starteten die Kriegsfürsten Anfang Mai eine zweite militärische Expedition. 35 Die Truppen brachen am 12. Mai von ihrem Feldlager in Gundelfingen auf und marschierten über Mindelheim, Kaufbeuren und Roßhaupten bis Füssen. Nach der Erstürmung der Ehrenberger Klause zogen die Bundesfürsten weiter ins Inntal und erreichten am 23. Mai Innsbruck. Karl V. hatte die Stadt mittlerweile verlassen und war mit seinem Hof nach Bruneck ausgewichen. Während Moritz von Sachsen von Innsbruck aus per Schiff weiter nach Passau reiste, wo am 1. Juni die Friedensverhandlungen begannen, zogen die Regimenter der Kriegsfürsten unter Führung des Landgrafen Wilhelm von Hessen wieder über Kaufbeuren und Augsburg nach Donauwörth zurück. Mit dem Beginn der Passauer Verhandlungen war die Kriegsgefahr aber trotz der vereinbarten Waffenruhe nicht gebannt. Karl V. ließ vielerorts Söldner anwerben. In Oberschwaben war Graf Hugo XVI. von Montfort als kaiserlicher Kriegskommissar aktiv und forderte z. B. von den Orten am Bodensee Proviant für seine Truppen. 36 Gleichzeitig drohte Albrecht Alkibiades, der gerade plündernd durch Mittelfranken gezogen war, in einem Schreiben vom 20. Juni erneut damit, die Stadt Ulm anzugreifen vnd kein mansbildt, so uber sieben jar, leben zu lassen, wenn sie nicht in die Capitulation einwilligte. 37 Auch der im Feldlager an der Donau wartende Landgraf Wilhelm von Hessen drängte zum Abbruch der Verhandlungen und zur Fortsetzung des Krieges. Bereits Ende Juni zog er mit seinen Truppen von der Donau ab und rückte über Rothenburg nach Norden vor. Moritz reiste ihm Anfang Juli nach, um ab dem 17. Juli gemeinsam mit ihm und den anderen Verbündeten die von kaiserlichen Truppen verteidigte Reichsstadt Frankfurt zu belagern. 38 35 J. H ERRMANN , Moritz von Sachsen (Anm. 24), S. 202. 36 StadtA Lindau, A III 35,8, 1552 VI 22: Schreiben von Lindau an Biberach. Vgl. J OHANNES H ERRMANN / G ÜNTHER W ARTENBERG / C HRISTIAN W INTER (Hg.), Politische Korrespondenz des Kurfürsten Moritz von Sachsen, Bd. 6: 2. Mai 1552-11. Juli 1553, Berlin 2006 (PKMS 6), S. 154, Nr. 110: Schreiben Landgraf Wilhelms von Hessen an Moritz von Sachsen über kaiserliche Truppenbewegungen, 1552 VI 2; die Situation änderte sich bis in den August hinein nicht wesentlich; vgl. das Schreiben Graf Hugos von Montfort an Abt Gerwig Blarer vom 28. Juli 1552; H. G ÜNTER , Briefe und Akten (Anm. 10), S. 320, Nr. 1293. 37 PKMS 6 (Anm 36), S. 237, Nr. 153. 38 PKMS 6 (Anm 36), S. XXIIIf.; S IGRID J AHNS , Frankfurt am Main im Zeitalter der Reformation (um 1500-1555), in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, <?page no="110"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 111 Diese Bedrohung des bedeutendsten kaiserlichen Musterplatzes in Deutschland mag dazu beigetragen haben, dass Karl V. den Passauer Vertrag nach langem Zögern und diversen Korrekturen des Textes schließlich doch am 15. August in München ratifizierte. Am 19. August 1552 überbrachte Heinrich von Plauen 39 den Vertrag im Auftrag König Ferdinands I. in Donauwörth Herzog Moritz von Sachsen. Damit war der Fürstenkrieg im engeren Sinn beendet. 40 Die unmittelbare Bedrohung der süddeutschen Reichsstädte schien Ende August 1552 gebannt zu sein. 3. Die Reaktionen der oberschwäbischen Reichsstädte Betrachtet man den Fürstenkrieg nicht aus der Perspektive der adeligen Protagonisten, sondern mit den Augen der vom Kriegsgeschehen unmittelbar betroffenen Handwerker und Kaufleute, Bauern und Tagelöhner, den Objekten des Geschehens, dann wird deutlich, dass für sie nicht nur im Vorfeld der Verhandlungen in Passau, sondern während der gesamten Dauer des Konflikts eine permanente Bedrohung bestand. Die knappe Skizze der verschiedenen militärischen Operationen zeigt, dass es keine Region in Oberschwaben gab, die nicht zumindest mittelbar von den Kriegsereignissen berührt worden war. Von der Belagerung und Beschießung, wie sie Ulm erlebt hatte, oder der konkreten Besetzung, wie sie Augsburg zu ertragen hatte, über die Brandschatzung und Plünderung, die die Bewohner des Bischöflich- Augsburgischen Territoriums oder die Mönche der Klöster Weingarten und Ochsenhausen über sich ergehen lassen mussten, den Truppendurchzügen, Einquartierungen und Feldlagern, etwa bei Biberach, bis zu den willkürlichen Straßenkontrollen, Konfiskationen, Plünderungen, Gefangennahmen und Hinrichtungen erlebten die Menschen in Oberschwaben alle Grausamkeiten des Krieges. Auch ohne unmittelbare Kampfhandlungen führte dies zu erheblichen Belastungen der Bevölkerung. In manchen Regionen war so geplündert worden, dass viele Menschen verhungerten, bevor die neue Ernte eingebracht werden konnte. 41 hg. von der Frankfurter Historischen Kommission, Sigmaringen 1991, S. 151-204, hier 197-199. 39 Heinrich IV. von Plauen, Fürst von Reuß, oberster Kanzler der böhmischen Krone (1510-1554). Vgl. J OHANNES R ICHTER , Burggraf Heinrich IV. von Meissen, Graf zu Hartenstein, Herr zu Plauen und Gera - »Der Eroberer von Hof«, in: Geschichte am Obermain 19 (1993/ 94), S. 47-55. 40 Zum Passauer Vertrag allgemein W INFRIED B ECKER (Hg.), Der Passauer Vertrag von 1552. Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und konfessionsgeschichtliche Bewertung (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 80), Neustadt a. d. Aisch 2003. 41 Vgl. das Schreiben von Sebastian Kurz an den Lindauer Rat, 1552 IV 21, abgedruckt bei K ARL W OLFART , Karl V. und Lindau, in: Schriften des Vereins für die Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 39 (1910), S. 3-26, hier 23. <?page no="111"?> P EER F R IE S S 112 Da Karl V. die Reichsstädte nach ihrer Niederlage im Schmalkaldischen Krieg gezwungen hatte, sämtliche Sonderbündnisse aufzugeben, der von ihm angestrebte ›Reichsbund‹ jedoch gescheitert war, existierten in Oberschwaben keinerlei korporativen Schutzmechanismen gegen die im März 1552 heraufziehende Bedrohung. 42 Selbst der Rückgriff auf die etablierten Strukturen des Reiches scheiterte. So blieb der Appell der Stände des Schwäbischen Reichskreises an den Kaiser vom 29. März 1552 ebenso wirkungslos wie die Bitte um Unterstützung, die Ulm am 8. April 1552 an den kreisausschreibenden Fürsten, Herzog Christoph von Württemberg, richtete. 43 Die oberschwäbischen Reichsstädte waren daher auf sich allein gestellt und mussten versuchen, eigene Wege durch die heraufziehende Krise zu finden. Für viele war der erste Schritt dazu die unmittelbare Kontaktaufnahme mit dem Kaiser in Innsbruck. In zahlreichen Briefen, aber auch durch Mittelsmänner und eigene Botschaften wurde Karl V. die Notlage der Reichsstädte geschildert. 44 Da der Kaiser die wenigen Truppen, die ihm in Oberschwaben zur Verfügung standen, unmittelbar vor Beginn des Krieges abgezogen hatte, konnten jedoch weder er selbst noch irgendeiner seiner Amtsträger in der Region eine aktive Unterstützung bieten. Mehr als schriftliche Appelle und Ermahnungen, in einigen wenigen Fällen verbunden mit der Zusage, die städtischen Verteidigungskosten nachträglich zu erstatten, war von Karl V. nicht zu bekommen. In seinen Briefen gab er allerdings klare Anweisungen, wie sich die Reichsstädte seines Erachtens zu verhalten hatten. So wurde beispielsweise die Reichsstadt Kaufbeuren angewiesen: 45 Ir wollet Ewer fleissig aufsehens haben, wie sich die sachen allenthalben anlassen. Euch auch durch niemanndt wer der sey oder andter was gesuechtem schein, das Immer geschehen möchte von unns unnd dem Heiligen Reiche, nit abwenden oder abschrecken lassen. Sonnder bey unns unnd dem Reiche bestandiglich, unnd gehorsamblich verharren. Und da 42 O SWALD H ECKER , Karls V. Plan zur Gründung eines Reichsbundes. Ursprung und erste Versuche bis zum Ausgang des Ulmer Tages 1547 (Leipziger Historische Abhandlungen 1), Diss. Phil., Leipzig 1906, S. 13. H ORST R ABE , Reichsbund und Interim. Die Verfassungs- und Religionspolitik Karls V. und der Reichstag von Augsburg 1547/ 48, Köln-Wien 1971, S. 273-294. 43 V IKTOR E RNST , Briefwechsel des Herzogs Christoph von Württemberg, Bd. I: 1550- 1552, Stuttgart 1899, S. 470 und 493f., Nr. 444 und 469; vgl. M ATTHIAS L ANGENSTEINER , Für Land und Luthertum. Die Politik Herzog Christophs von Württemberg (1550-1568) (Stuttgarter Historische Forschungen 7), Köln u. a. 2008, S. 90-106. 44 Vgl. z. B. StadtA Wangen, XIIa 5: Schreiben von Wangen an Kaiser Karl V., 1552 IV 17; StadtA Lindau, A III 64,5, fol. 251: Schreiben von Sebastian Kurz an Lindau, 1552 IV 12; StadtA Ravensburg 163c/ 2, Nr. 35: Bericht Isnys an Ravensburg, 1552 IV 15. 45 Evangelisches Kirchenarchiv Kaufbeuren, Bd. N 0, Anlage 056, fol. 11f.: Schreiben Karls V. an Bürgermeister und Rat von Kaufbeuren, 1552 IV 16, abgedruckt bei T HOMAS P FUNDNER , Drei Kaiserbriefe Karls V. an die Reichsstadt Kaufbeuren, in: ZbKG (1994), S. 218-225, hier 223. <?page no="112"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 113 Ichts an Euch gesuecht wurde Euch nit von stund an abschrecken lassen. Sonnder auf unns unnd anndere Stette, unnd Stennde des Heiligen Reichs entschuldigen. Und sovil In Ewrem vermögen Ist durch diese unnd andere fuegliche weg unnd mittel aufhalten. Tatsächlich folgten die Reichstädte den kaiserlichen Anweisungen zumindest insoweit, als sie sich alle auf eine mögliche Belagerung einstellten. 46 Gleichzeitig traten sie aber auch in Kontakt mit Moritz von Sachsen und seinen Verbündeten. 47 Ausgelöst hatte dies das Ausschreiben der Kriegsfürsten vom 8. April, in dem sie die Reichsstädte zum Beitritt zu ihrem Bündnis und zur Unterstützung ihres Vorhabens aufforderten. 48 Insbesondere sollten sie einen Beitrag zur Finanzierung der Reichssteuer bezahlen, dem fürstlichen Heer bei Bedarf ihre Tore öffnen sowie die Truppen mit Proviant, Geschützen und Munition versorgen, wenn sie nicht als Feinde der Fürsten gelten wollten. Details sollten ab dem 30. April 1552 auf einer Konferenz in Augsburg geregelt werden. Die zusätzlichen Handlungsanweisungen der Fürsten waren ebenfalls eindeutig: 49 Demnach begeren wir […] dass Ir […] vnsern Zügen oder wercken/ kains wegs Euch entgegensetzen/ verhinderlich sein/ oder vnsern Feinden/ oder iren anhengern/ ainichen gehorsam/ hilff/ befürderunge/ oder fürschub mit Gelt/ Geschütz/ Pulfer/ Lot eingebunge der Pässe/ öffnung in Ewern gebieten/ Es seyen schlössern oder stetten/ zufürunge der Prouiand/ weder haimlich noch offentlich thun wölltet […]. Deßgleichen mit gebung kundtschafft/ wider diese stende/ Euch nicht gebrauchen lassen. Die ohnehin schon geringen Handlungsspielräume der oberschwäbischen Reichsstädte wurden durch diese Anforderungen der Kriegsfürsten noch weiter eingeschränkt. 50 Die Ratsherren reagierten daher ausgesprochen zurückhaltend. Sie 46 StadtA Kempten, B 31: Schwarzsche Chronik, fol. 132v; StadtA Leutkirch, 418b: Musterung der Bürger, 1552 IV 27; StadtA Lindau, Lit. 19: Bertlinsche Chronik, S. 513: Musterung der Bürger, 1552 IV 10. Zur Lindauer Chronistik vgl. F RANZ J OETZE , Die Chroniken der Stadt Lindau, Programm des königlichen Maximilians-Gymnasiums für das Schuljahr 1904/ 05, München 1905, S. 23-27. 47 Zum Beispiel StadtA Memmingen, A 335: Schreiben der Stadt Memmingen an die Kriegsfürsten, 1552 IV 22. 48 PKMS 5 (Anm. 23), S. 809, Nr. 472. Dieses Schreiben hat alle oberschwäbischen Reichsstädte erreicht, mit Ausnahme von Buchau. Die kleine Reichsstadt am Federsee scheint den Räten des sächsischen Kurfürsten entgangen zu sein. Sie schickte auch keine Vertreter zu den im Mai stattfindenden Verhandlungen nach Augsburg. 49 Zitat nach der gedruckten Ausschreibung, vgl. u. a. StadtA Wangen, XIIa, 3; KA Biberach, G 2; StadtA Ravensburg, 163c/ 2, Nr. 29; StadtA Lindau, A III 64,5; StadtA Leutkirch, Fürstenkrieg, Nr. 18; Regest PKMS 5 (Anm. 23), S. 809, Nr. 472. 50 Grundlegend zur historischen Kategorie des Handlungsspielraums s. R UDOLF V IER - HAUS , Handlungsspielräume. Zur Rekonstruktion historischer Prozesse, in: HZ 237 (1983), S. 289-309. <?page no="113"?> P EER F R IE S S 114 erklärten sich zwar alle dazu bereit, ihre Delegationen Ende April nach Augsburg zu schicken. 51 Weiter reichende Zusagen gab jedoch keine oberschwäbische Reichsstadt ab. Stattdessen versuchten sie, sich zunächst durch den Austausch aktueller Lageberichte und schriftlicher Anfragen bei den Nachbarstädten ein Bild von der tatsächlichen militärischen Lage zu verschaffen. Dabei übernahmen Memmingen im Osten und Ravensburg im Westen Oberschwabens die Funktion regionaler Kommunikationszentren, die den Ausfall Ulms und Augsburgs ausglichen. 52 Parallel dazu wurden Emissäre zum Kaiser bzw. zu den Fürsten gesandt, die vorsichtig abklären sollten, welchen Spielraum die einzelne Stadt wirklich hatte. 53 Ganz typisch war das Verhalten von Lindau. Einerseits suchte man den unmittelbaren Kontakt mit den Kriegsfürsten und erwies sich ihnen gegenüber als unterwürfig und dienstbereit. 54 Andererseits kam man aber auch gerne der Bitte des Bregenzer Vogts nach und stellte ihm die städtischen Mühlen zur Verfügung, damit er dort das Getreide für die von ihm in Vorarlberg angeworbenen kaiserlichen Söldner mahlen lassen konnte. 55 Kulminationspunkt der städtischen Bemühungen, die Krise in Oberschwaben auf diplomatischem Wege zu lösen, war der von den Kriegsfürsten einberufene Städtetag in Augsburg. Den Fürsten ging es in den Verhandlungen im Mai 1552 darum, von allen Städten, die sich ihren Forderungen noch nicht gebeugt hatten, die offizielle Ratifikation der Capitulation zu erhalten. 56 Diese Vereinbarung enthielt neben der einleitenden Erklärung, dass alle bisher zwischen den Vertragsparteien entstandenen Streitpunkte beigelegt seien und dass der reichsstädtische Status sowie die Privilegien der jeweiligen Stadt unangetastet bleiben sollten, zwei zusätzliche 51 Vgl. das Verzeichnis Simon Bings über die Antworten der Städte auf das Ausschreiben der Kriegsfürsten, 1552 IV ca. 30, in: I. G RUND , Die Ehre (Anm. 23), Teil 2, S. 454f., Nr. 109. 52 Vgl. P EER F RIESS , Reichsstädtische Diplomatie als Indikator für die politische Struktur einer Region, in: R OLF K IESSLING / C ARL A. H OFFMANN (Hg.), Kommunikation und Region (Forum Suevicum 4), Konstanz 2001, S. 113-138, hier 125. 53 Isny berichtet Ravensburg von einer Gesandtschaft an den Kaiser. StadtA Ravensburg, 163c/ 2, Nr. 35, 1552 IV 15; auch Memmingen und Kempten hatten eigene Delegationen nach Innsbruck geschickt; vgl. StadtA Kempten, B 31: Schwarzsche Chronik, fol. 135r; StadtA Memmingen, RP 1552 IV 6: Abfertigung von Dr. Wilhelm Vogt; HHStA Wien, Kleine Reichsstädte, Fasz. 354, fol. 133. 54 Dem bei Salmansweiler lagernden Landgrafen Wilhelm von Hessen sandte Lindau eine Ratsdelegation entgegen, die versuchte, den Fürsten milde zu stimmen. Dazu beteuerten die Gesandten nicht nur, dass sie in Lindau das hailige Euangelium noch haben. Sie waren außerdem gerne bereit, das Pferd des Lindauer Ratsherrn Anton Rem, das dem Landgrafen besonders gut gefiel, gegen ein anderes einzutauschen. Vgl. StadtA Lindau, Lit. 19: Bertlinsche Chronik, S. 514. 55 StadtA Lindau, Lit. 19: Bertlinsche Chronik, S. 515. 56 StadtA Wangen, XII A 19. <?page no="114"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 115 Vorgaben, zu deren Einhaltung bzw. Umsetzung sich jede Stadt verpflichten musste: Die Confessio Augustana sollte eingeführt und die Zunftverfassung restituiert werden. Die Städte durften die kaiserliche Seite nicht unterstützen. Dagegen hatten sie, wenn das gewünscht wurde, die fürstlichen Truppen als Besatzung zu akzeptieren und je nach Bedarf auch zu verproviantieren. 57 In den Verhandlungen ging es außerdem darum, eine möglichst hohe und möglichst rasche Beteiligung der relativ wohlhabenden Kommunen an den Kriegskosten der Fürsten zu erreichen. 58 Die Gesandten der oberschwäbischen Reichsstädte verhielten sich diesem fürstlichen Ansinnen gegenüber keineswegs wohlwollend neutral, wie das lange Zeit angenommen wurde. 59 Dies geht aus den erhaltenen Instruktionen für die städtischen Gesandten eindeutig hervor. Durchaus repräsentativ für das Vorgehen der Reichsstädte in diesen Tagen ist das Beispiel von Biberach. 60 Die städtischen Gesandten sollten in Augsburg als erstes feststellen, welche Vertragskonditionen die Städte erhalten hatten, die bereits die Capitulation unterzeichnet hatten, und sich gleichzeitig eng mit den Delegationen der Städte abstimmen, die noch nicht in die Capitulation eingewilligt hatten. In den Verhandlungen mit den Fürsten sei dann zunächst darauf zu verweisen, dass die Stadt Biberach völlig verarmt sowie militärisch unbedeutend sei, weswegen man um Schonung bitte. Wenn das nicht akzeptiert würde, dürften die Gesandten in der folgenden Verhandlungsrunde anbieten, das Drittel eines Römermonats zu bezahlen, wenn alle anderen Punkte der Capitulation fallen gelassen würden. Falls das nicht reichen sollte, könnten sie zusätzlich freien Durchzug durch Biberacher Gebiet und den Verkauf von Proviant bewilligen. In dieser Art sollten die Gesandten fortfahren und nur scheibchenweise auf die Forderungen der Fürsten eingehen. Als ultima ratio erhielten die Delegierten Biberachs sogar die Erlaubnis, die Stadt für einen relativ hohen Geldbetrag von allen fürstlichen Forderungen freizukaufen. 61 57 A. V . D RUFFEL , Beiträge (Anm. 33), S. 464. 58 Ottheinrich von Pfalz-Neuburg wollte sogar noch Rechnungen aus dem Schmalkaldischen Krieg begleichen. Vgl. I. G RUND , Die Ehre (Anm. 23), Teil 2, S. 457f.; Nr. 111. Zur Diskussion um die Zahlungsmodalitäten s. PKMS 6 (Anm. 36), S. 78, Nr. 63. 59 Diese Einschätzung findet sich bereits sehr früh, z. B. bei K. W OLFART , Karl V. (Anm. 41), S. 11; oder L. F ÜRSTENWERTH , Verfassungsänderungen (Anm. 16), S. 103. Sie taucht aber auch noch in jüngsten Publikationen auf. Vgl. A XEL G OTTHARD , Das Alte Reich 1495-1806, 5. Aufl. Darmstadt 2013, S. 44; E IKE W OLGAST , Reformationszeit und Gegenreformation, in: M EINRAD S CHAAB / H ANSMARTIN S CHWARZMAIER (Hg.), Handbuch der Württembergischen Geschichte, Bd. I, 2, Stuttgart 2000, S. 145-308, hier 197; ähnlich auch PKMS 6 (Anm. 36), S. 30, Nr. 25. 60 KA Biberach, G 2 (L 4): Instruktion für die Biberacher Gesandten, den Bürgermeister Heinrich Pflumer und den Stadtschreiber Jörg Aschmann für den Tag in Augsburg 1552 IV 30. 61 KA Biberach, G 2 (L 4): Instruktion, 1552 IV 30 (Anm. 60). <?page no="115"?> P EER F R IE S S 116 So dann dero oder dergleichen mittel dhains erhalten werden möchte, vnd man je vff alle puncten, dem vßschreyben einuerleibt, mit ernnst tringen wöllt, vnnd die gesanndten der Erbern stett vff ain gelt suma zuhandlen bedacht würden, sollen die gesanndten, abermals hanndeln, ob man die sach mit ainer summa gelts abkauffen möchte, welcher suma sich die gesanndten biß vff 3 biß in 5 tausendt guldin bewilligen mögen. Ähnliche Strategien verfolgten auch die anderen Reichsstädte. 62 Die langwierigen Verhandlungen, bei denen wiederholt auf unzureichende Vollmachten verwiesen und neue Instruktionen von den heimischen Ratsgremien angefordert wurden, zogen sich drei Wochen lang hin. Die städtischen Gesandten nutzten dabei alle Formen des hinauszögernden ›Temporisierens‹. 63 Erst am 21. Mai 1552, als Moritz von Sachsen nach der spektakulären Erstürmung der Ehrenberger Klause bereits auf Innsbruck zumarschierte, beugte sich die Mehrheit der Städtegesandten in Augsburg dem fürstlichen Druck. Fast alle unterzeichneten die Capitulation und akzeptierten die Forderungen. 64 Selbst Überlingen, das seine Position als wichtigster Umschlagplatz für das in der Eidgenossenschaft dringend benötigte Getreide nutzen konnte und ein Schutzbündnis mit den fünf katholischen Kantonen geschlossen hatte, musste sich fügen. Es hatte in einer gesonderten Vereinbarung lediglich erreicht, dass es nicht zur Einführung der Confessio Augustana, zur Restitution der Zunftverfassung und zur Aufnahme von Besatzungstruppen verpflichtet war. 65 Neben Regensburg hatte sich nur die Reichsstadt Lindau noch nicht zum Einlenken bereit gefunden. Die Bodenseestadt stand in engstem Kontakt zu dem aus Lindau stammenden kaiserlichen Rat Sebastian Kurz, der Karl V. zu konkreten Hilfszusagen für seine Heimatstadt hatte überreden können. 66 Die städtischen Gesandten hatten darauf gestützt einen letzten siebentägigen Aufschub erwirkt. Danach - so das Ultimatum der Fürsten - würde die Stadt als Feind behandelt. Diesem Druck fügte sich die Bodenseestadt schließlich doch und willigte zum letztmöglichen Zeitpunkt in die Capitulation ein. Dies geschah nirgendwo nur pro forma. In den evangelischen Reichsstädten Oberschwabens wurde ab Juni 1552 tatsächlich mit der Beseitigung des Interims begonnen und auch die kaiserliche 62 Vgl. das Protokoll vnnd memorial was auf dem tag zuo Augspurg so durch die kriegs- Chur vnd Fürsten den obern stetten auf den letzten apprilis anno 52 anngesetzt vngeuarlich gehanndlet worden; HHStA Wien, Kriegsakten, Karton 12, fol. 602a-606b (Abschrift). 63 A LBRECHT P IUS L UTTENBERGER , Reichspolitik und Reichstag unter Karl V. Formen zentralen politischen Handelns, in: H EINRICH L UTZ / A LFRED K OHLER (Hg.), Aus der Arbeit an den Reichstagen unter Kaiser Karl V. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 26), Göttingen 1986, S. 18-68, hier 50. 64 PKMS 6 (Anm. 36), S. 77, Nr. 63. 65 PKMS 5 (Anm. 23), S. 861, Nr. 519. 66 H ERMANN K ELLENBENZ , Art. Kurtz, Sebastian, in: NDB 13, Berlin 1982, S. 327f. <?page no="116"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 117 Verfassungsänderung revidiert. Selbst im katholischen Wangen nahm eine Oppositionsgruppe die Einwilligung in die Capitulation zum Anlass, die Einführung der Reformation und die Rückkehr zum Zunftregiment zu fordern. 67 Als sich nur wenige Wochen nach dem Abschluss der Augsburger Verhandlungen eine Einigung zwischen Moritz von Sachsen und Karl V. abzeichnete, reagierten die oberschwäbischen Reichsstädte ebenfalls relativ homogen. Durch eine intensive interkommunale Korrespondenz verschaffte man sich zunächst Klarheit darüber, dass die Kriegsfürsten ihre Truppen tatsächlich abgezogen hatten und sich dem Kaiser, der in Süddeutschland einrückte, nicht in den Weg stellen würden. 68 Da noch unklar war, ob die Interessen der Städte im Passauer Vertrag berücksichtigt würden, bemühten sich alle noch vor der offiziellen Ratifikation um eine Aussöhnung mit dem Kaiser. Karl V. hatte ihnen dazu mit einem Schreiben vom 26. Juli 1552 aus Brixen den Weg geebnet. 69 Darin hatte er sie von allen Verpflichtungen frei gesprochen, die sie gegenüber den Kriegsfürsten eingegangen waren, und er hatte sie aufgefordert, die von ihm für nichtig erklärten Capitulationen an ihn zu senden. Dieser Aufforderung kamen alle Kommunen nach. Viele schickten dem anrückenden Kaiser Anfang August sogar eigene Delegationen entgegen, um ihr Verhalten in den zurückliegenden Monaten zu rechtfertigen. Mit dem Hinweis 67 Zu den Ereignissen in Wangen s. HStA Stuttgart, B 216, Bü 1: Memorial vnd bericht wie es A° 1551 vnd A° 52 allhie mit der Obrigkeit vnd burgerschaft sich zugetragen habe, fol. 1v (Abschrift aus dem 18. Jh.). Die Reaktion der evangelischen Städte auf die Einigung mit den Kriegsfürsten fiel insofern unterschiedlich aus, als man den Forderungen der Kriegsfürsten nicht überall im gleichen Tempo nachkam. Die Reichsstädte Kempten, Isny und Lindau setzten die Vorgaben der Capitulation bezüglich des Interims und der Verfassungsrevision sehr rasch um, Kaufbeuren und Leutkirch agierten deutlich zögerlicher. Memmingen musste von den Kriegsfürsten ausdrücklich zur Beseitigung des Interims aufgefordert werden; vgl. A. V . D RUFFEL , Beiträge (Anm. 33), S. 674f., Nr. 1648: Schreiben von Kurfürst Moritz, Herzog von Mecklenburg und Landgraf Wilhelm an Bürgermeister und Rath zu Memmingen, 1552 VII 12. Zur Intervention der Kriegsfürsten in Isny s. G EORG D OBLER , Gründlich und ausführlicher bericht alles dessen, waß sich entzwischen dem löbl. St. Georgen gotts hauß zu Isni und der statt daselbst von anno 1500 bis 1552 merckwürdiges verlauffen und begeben hat […] zusammengetragen von P Georgio Dobler […] 1767, Archiv der Fürsten von Quadt zu Wykradt und Isny, CB 419, S. 260; zur Besonderheit dieser Quelle vgl. A NDREAS B IHRER u. a., Die Reformation in der benediktinischen Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts. Das Abbatiat des Elias Frey in Isny (1538-1548) in Georg Doblers ›Grundlich und ausführlicher Bericht‹ von 1767: Edition, Kommentar und Einleitung, in: Ulm und Oberschwaben 57 (2011), S. 230-313. 68 Vgl. die Korrespondenz Lindaus mit Ravensburg, Konstanz, Biberach, Augsburg, Kempten und Isny im Juli 1552 in StadtA Lindau, A III, 35,8; s. a. StadtA Leutkirch, 474: Einnahmen und Ausgaben 1552. Die dokumentierten Ausgaben für die städtischen Boten zeigen, dass vor allem mit Memmingen Informationen ausgetauscht wurden. 69 Abschrift des kaiserlichen Briefes in StadtA Lindau, A III, 35,8: 1552 VII 26. <?page no="117"?> P EER F R IE S S 118 darauf, dass sie keine Möglichkeit gehabt hätten, sich den Kriegsfürsten zu widersetzen, also dem Argument eines massiv eingeschränkten Handlungsspielraumes, gelang ihnen das auch. 70 Damit schufen sie die Grundlage für die in den folgenden Monaten einsetzenden Verhandlungen mit dem Kaiser, die dem Ziel dienten, sowohl die kirchlichen Verhältnisse als auch die Gestaltung des städtischen Regiments so zu modifizieren, dass ein für alle tragbarer Interessenausgleich entstehen konnte. Dieser Prozess der nachträglichen Krisenbewältigung beschäftigte einige Reichsstädte bis in die 1560er Jahre hinein und führt damit über den zeitlichen Rahmen dieses Beitrages hinaus. 71 Für das unmittelbare Krisenmanagement kann an dieser Stelle dennoch als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass die oberschwäbischen Reichsstädte nicht, wie vielfach behauptet wurde, passiv, neutral oder gar fürstenfreundlich agierten. 72 Angesichts eines durch die Dominanz der Kriegsfürsten und der Schwäche von Kaiser und Reich stark eingeschränkten Handlungsspielraumes griffen sie auf ältere Verfahren der Krisenbewältigung zurück. Dazu zählten neben der Sicherstellung der städtischen Verteidigungsbereitschaft eine intensive interkommunale Kommunikation, das Eingehen von Schutzbündnissen, die Anlehnung an Fürsprecher und Mittelsmänner am kaiserlichen Hof sowie alle Varianten des hinhaltenden ›Temporisierens‹. 4. Strategien bürgerlichen Krisenmanagements Die Fragen, warum etwa Memmingen als größte und wirtschaftlich leistungsfähigste oberschwäbische Reichsstadt nicht dem Beispiel Ulms gefolgt ist und die Capitulation schlicht verweigerte oder warum die Lindauer sich nicht in den Schutz der Habsburger begaben, wie sie es im 15. Jahrhundert getan hatten, bleiben damit allerdings ebenso unbeantwortet wie die Fragen, warum sich auf der anderen Seite 70 Vgl. die Rechtfertigung Wangens StadtA Wangen, XIIa 5: 1552 VIII 3. Kempten, Wangen und Isny waren - ungeachtet ihrer konfessionellen Gegensätze - gemeinsam beim Kaiser; vgl. StadtA Kempten, B 31: Schwarzsche Chronik, fol. 138v. S. a. StaatsA Stade, Rep. 32, Nr. 443: Rechtfertigung Überlingens; KA Biberach D 13, 1552 VIII 16: Bericht der Biberacher Gesandtschaft; StadtA Lindau, A III 64,5, fol. 10-13: Instruktion für die Lindauer Gesandtschaft. 71 Die Bemühungen um eine Revision oder zumindest Modifikation der karolinischen Ratsreformation begannen noch während des Fürstenkrieges. Neben den bekannteren Konfliktfällen in Lindau, Isny und Biberach waren auch die Ratsgremien in Memmingen, Ravensburg, Leutkirch, Überlingen und Buchhorn darum bemüht, die als besondere Last empfundene Regimentsänderung zu korrigieren. Vgl. E. N AUJOKS (Hg.), Zunftverfassung (Anm. 16), S. 301-331; StaatsA Stade, Rep. 32, Nr. 432, 433, 436, 437, 440. 72 Vgl. Anm. 59. <?page no="118"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 119 keine einzige oberschwäbische Reichsstadt freiwillig auf das Bündnis mit den Kriegsfürsten einließ und warum einige Städte zur Beseitigung des Interim von den Kriegsfürsten nachdrücklich aufgefordert werden mussten. Die Handlungsspielräume dazu wären nämlich vorhanden gewesen. Antworten auf diese Fragen finden sich, wenn man in einem weiteren Analyseschritt die Intentionen, Grundüberzeugungen und Wertvorstellungen ermittelt, die den oberschwäbischen Kommunen in der Krise des Jahres 1552 als Richtschnur dienten. 73 Die im Folgenden dargelegten Ergebnisse basieren insbesondere auf der Sichtung der reichsstädtischen Korrespondenz, der Instruktionen für die städtischen Gesandtschaften und der innerstädtischen Verkündungen. Darin wurden in von Stadt zu Stadt wechselnder Intensität eine Reihe Motive angesprochen, die zu den Grundkonstanten reichsstädtischer Politik im 16. Jahrhundert gehörten, wie etwa die Sicherung und Erweiterung der städtischen Privilegien oder eine den lokalen Bedürfnissen entsprechende konfessionelle Ausgestaltung des städtischen Kirchenwesens. 74 Zwei Maximen, die von allen oberschwäbischen Reichsstädten verfolgt wurden, ragen aus dem Bündel feststellbarer Intentionen deutlich heraus, da sie stets an prominenter Stelle platziert und in großer Stetigkeit vorgebracht wurden. Die eine Maxime kommunaler Politik war die Reichs- und Kaisertreue. 75 Sie galt es, durch das konkrete politische Verhalten gegenüber anderen Ständen unter Beweis zu stellen. Die Normen des Reiches und das im Eid an den Kaiser gegebene Versprechen, sich mit Leib und Gut für das Wohl von Kaiser und Reich einzusetzen, boten gleichzeitig eine wichtige Orientierung für politische Entscheidungen. 76 73 Diese Erweiterung des von Vierhaus geprägten Begriffs des Handlungsspielraums (vgl. Anm. 50) hin zu einem auch Intentionen und Dispositionen der Akteure berücksichtigenden Handlungsraum folgt den theoretischen Überlegungen von Luttenberger; s. A. L UT - TENBERGER , Reichspolitik und Reichstag (Anm. 63), S. 18-68. 74 StadtA Ravensburg, Bü 162 d/ 2 nota: Erstlichs das die Religion biß zu ainem freyen christenlichen Concilio vnd endung desselben frey sein vnd kain theil den andern daran verhindern sölle. 75 Vgl. H EINRICH R ICHARD S CHMIDT , Reichsstädte, Reich und Reformation. Korporative Religionspolitik 1521-1529/ 30 (Veröff. des Instituts für Europäische Geschichte, Abt. Religionsgeschichte 122), Wiesbaden 1986, S. 23-26; G EORG S CHMIDT , Die Freien und Reichsstädte im Schmalkaldischen Bund, in: V OLKER P RESS / D IETER S TIEVERMANN , Martin Luther. Probleme einer Zeit (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 16), Stuttgart 1986, S. 177-218, hier 181; P. F RIESS , Außenpolitik (Anm. 8), S. 262. 76 Vgl. den dem Kaiser gegebenen Eid der Lindauer Bürgerschaft, abgedruckt bei A LBERT S CHULZE , Bekenntnisbildung und Politik Lindaus im Zeitalter der Reformation (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, Fotodruckreihe 3), Lindau 1971, S. 128f. Diese Bindung an Kaiser Karl V wird immer wieder als Argument verwendet, sei es in Verkündungen gegenüber der eigenen Bevölkerung, als Entschuldigung für die Zurückhaltung gegenüber den Kriegsfürsten oder als Orientierungspunkt für die Rechtfertigung gegenüber dem Kaiser. Vgl. anstelle einer Fülle von Einzelbelegen StadtA Lindau, A III, 64,5: Verkündung, 1552 IV 6, fol. 4-8; HHStA Wien, Kriegsakten, Karton 12, fol. 602a-606b: Pro- <?page no="119"?> P EER F R IE S S 120 Nicht die von den Kriegsfürsten propagierte teutsche Libertät, sondern ›Kaiser und Reich‹ galt es in den Augen bürgerlicher Führungskreise der oberschwäbischen Reichsstädte zu verteidigen. So verwies Memmingen auf der Augsburger Tagung zuallererst darauf, dass man sich mit den Fürsten gar nicht einlassen könne, weil man durch den dem Kaiser gegebenen Eid gebunden sei. Ähnlich argumentierten auch Biberach, Isny, Lindau und Kempten. 77 Aus dieser Haltung heraus ergab sich zum einen die Sorge, beim Kaiser allein durch die Kontaktaufnahme mit den Kriegsfürsten den Anschein zu erwecken, man sei vom Reich abgefallen. Um das zu vermeiden, riet Isny beispielsweise in einem Schreiben vom 16. April den Ravensburgern, zuuerhuetung allerlay nachtailigen vnd beschwerlichen verdachts 78 eine Delegation an Karl V. nach Innsbruck zu schicken. Zum anderen folgte aus der Orientierung am Leitmotiv der Reichs- und Kaisertreue die grundsätzliche Bereitschaft zum hinhaltenden Widerstand gegen die Kriegsfürsten. So wies Biberach beispielsweise in einem Schreiben vom 6. April 1552 darauf hin, dass ihnen der Schwenk des Fürstenheeres von Augsburg über den Lech Richtung Ulm die Atempause geben würde, damit man sich dester fruchtbarer zur gegen wör schicken vnnd gefaßt machen mag. 79 Zumindest zu diesem Zeitpunkt wollte sich diese Reichsstadt also gegen einen Angriff zur Wehr setzen. Die zweite Maxime war das Bemühen der reichsstädtischen Räte, die kriegsbedingten Belastungen für die Bürger so gering wie möglich zu halten und damit dem gemeinen Nutzen zu dienen. Die Orientierung der Politik am Paradigma des Gemeinen Nutzens war insbesondere für das innenpolitische Handeln der städtischen Obrigkeiten zentrales Charakteristikum und Legitimitätsanker. 80 So verwiesen die Lindauer Ratsherren wiederholt darauf, welche Nachteile den Bürgern der Stadt und der Bevölkerung auf dem Land drohten, wenn man sich auf ein Bündnis mit den Kriegsfürsten einließe. Neben einer lang anhaltenden Feindschaft zum Hause Österreich drohe vor allem eine Besetzung durch fremde Truppen und eine erhebliche Beeinträchtigung von Handel und Handwerk. Daher wurde die Bürgertokoll der Verhandlungen mit den Reichsstädten; StaatsA Stade, Rep. 32, Nr. 433: Rechtfertigung Kaufbeurens, 1552 VIII 8, fol. 6; Nr. 445: Rechtfertigung Wangens, 1552 VIII 3, fol. 1. 77 PKMS 6 (Anm. 36), S. 80, Nr. 63. Vgl. zur Propaganda der Kriegsfürsten G EORG S CHMIDT , »Teutsche Libertät« oder »Hispanische Servitut«. Deutungsstrategien im Kampf um den evangelischen Glauben und die Reichsverfassung (1546-1552), in: L. S CHORN - S CHÜTTE (Hg.), Das Interim 1548/ 50, S. 166-191. 78 StadtA Ravensburg, Bü 162, 1552 IV 16. 79 StadtA Ravensburg, Bü 162, 1552 IV 6: Bürgermeister und Rat der Stadt Biberach an Bürgermeister und Rat der Stadt Ravensburg. 80 J ÖRG R OGGE , Für den Gemeinen Nutzen. Politisches Handeln und Politikverständnis von Rat und Bürgerschaft in Augsburg im Spätmittelalter (Studia Augustana 6), Tübingen 1996, S. 284-289. <?page no="120"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 121 schaft anlässlich diverser Bürgerversammlungen mehrfach eindringlich dazu aufgefordert, gemainer statt Ehre/ nutz/ vnd wolfarth zu bedenken. 81 Die beiden zentralen Maximen reichsstädtischer Politik standen in der Krise des Jahres 1552 allerdings in einem nur schwer auflösbaren Spannungsverhältnis. Eine Obrigkeit, die die Reichs- und Kaisertreue in den Vordergrund stellte, wie etwa Ulm, musste zwangsläufig das Ideal des Gemeinwohls hintanstellen, massive Brandschatzungen und Plünderungen in Kauf nehmen sowie Leib und Leben der Mitbürger riskieren. Die Augsburger sind einen anderen Weg gegangen. Sie haben mit den Fürsten kooperiert und auf diese Weise den unmittelbaren Schaden für die Bürger gering gehalten. Ihr Ansehen als treue Anhänger des Kaisers und verlässliche Partner im Verbund der Reichsstädte war aber dadurch erheblich beschädigt. 82 Die oberschwäbischen Reichsstädte wurden durch den Vorstoß der Kriegsfürsten demnach nicht nur unmittelbar bedroht, sondern gleichzeitig in einen politischen Zielbzw. Wertekonflikt gestürzt. Angesichts der bereits geschilderten Rahmenbedingungen galt es für jede Obrigkeit, selbstständig und eigenverantwortlich abzuwägen. Dieses Abwägen gestaltete sich bei Reichsstädten allerdings um einiges schwieriger als bei autonom handelnden Fürsten oder den ebenfalls von den Kriegsfürsten zum Beitritt aufgeforderten Reichsrittern. 83 Während Grafen, Prälaten oder eben auch Reichsritter eine persönliche Entscheidung für sich und ihre Herrschaft treffen konnten, ging das in den Städten nicht. Die oberschwäbischen Reichsstädte bildeten hier keine Ausnahme. Sie waren ebenso wie alle anderen vielschichtige kommunale Gebilde mit unterschiedlich einflussreichen Akteuren, die vielfältigen Zielen folgten und zahlreichen Einflussfaktoren ausgesetzt waren. Wie komplex diese städtischen Systeme 84 sein konnten, soll am Beispiel der Reichsstadt Lindau erläutert werden. 81 StadtA Lindau, A III 64,5 fol. 244v: Verkündung des Rats an die Bürgerschaft o. D. (wohl 1552 V 14). 82 Das lag zum einen daran, dass die aus Augsburg geflohenen Patrizier ein entsprechend negatives Bild am kaiserlichen Hof verbreiteten. Vgl. F. R OTH , Reformationsgeschichte (Anm. 28), S. 451f. Zum anderen nahm man den Augsburgern übel, dass sie im Verbund mit den Kriegsfürsten die Kapitulation Ulms zu fördern versuchten; StadtA Ulm, H (Handschriften und Nachlässe) Schmid, Nr. 29, fol. 15f.; ebd. A 3530, Nr. 21: Ratsprotokolle, fol. 59f., 1552 IV 15 und 1552 IV 18. 83 I. G RUND , Die Ehre (Anm. 23), Teil 2, S. 510-512. 84 Der folgenden Analyse der Ereignisse in der Reichsstadt Lindau liegt die Theorie der komplexen adaptiven Systeme zugrunde. Diese ermöglicht es, das politische Handeln einer Reichsstadt als Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlicher Akteure zu beschreiben, die innerhalb der als System verstandenen Stadtgemeinde miteinander interagieren und auf externe Impulse reagieren. Zur theoretischen Fundierung s. J ÜRGEN J OST / E CKEHARD O LBRICH , Luhmanns Gesellschaftstheorie: Anregungen und Herausforderungen für eine allgemeine Theorie komplexer Systeme, in: Soziale Systeme 13 (2007) Heft 1 und 2, S. 46- <?page no="121"?> P EER F R IE S S 122 Die etwa 3.000 Einwohner zählende evangelische Reichsstadt im Bodensee sah sich Ende April 1552 unmittelbar bedroht, als sich die Kriegsfürsten bei ihrem Vorstoß an den Bodensee bis auf wenige Meilen der Stadt näherten. 85 Neben dieser real existierenden Gefahr einer Belagerung oder zumindest einer Plünderung und Verwüstung des städtischen Landgebietes kursierten diverse Gerüchte über einen bevorstehenden Vormarsch des französischen Königs über Basel und durch den Hegau nach Oberschwaben. 86 Da in der unmittelbaren Nähe der Reichsstadt jedoch Amtsträger der habsburgischen Vorlande, wie der Bregenzer Landvogt Laux von Reischach, der Konstanzer Hauptmann Nikolaus von Pollweiler und der in Ravensburg residierende Landvogt von Schwaben Georg von Ilsung saßen, war die Sorge groß, als grenzstadt zwischen die Fronten zu geraten, zumal Kaiser Karl V. von Innsbruck aus die Stadt wiederholt zu standhaftem Widerstand aufforderte. 87 Zum regionalen Szenario der externen Einflussfaktoren auf die reichsstädtische Politik zählte außerdem die Nähe einflussreicher und gegenüber der Reichsstadt Lindau eher kritisch eingestellter Fürsten und Herren aus dem habsburgischen Klientelverband, wie Graf Hugo XVI. von Montfort-Tettnang und Abt Gerwig Blarer im nahen Kloster Weingarten sowie Fürstäbtissin Katharina II. von Bodman auf der Lindauer Insel selbst. 88 Vervollständigt wird das Bild durch die benachbarten, allerdings überwiegend katholischen Reichsstädte der Bodenseeregion, den eidgenössischen Ort Appenzell und die der Eidgenossenschaft zugewandten 57; M ICHAEL B ATTY , Cities as Complex Systems: Scaling, Interaction, Networks, Dynamics and Urban Morphologies, in: R OBERT A. M EYERS (Hg.), Encyclopedia of Complexity and Systems Science, Berlin 2009, S. 1041-1071; J OHN H. M ILLER / S COTT E. P AGE , Complex Adaptive Systems. An Introduction to Computational Models of Social Life, Princeton- Oxford 2007. 85 Eine knappe Darstellung dieser Episode der Lindauer Geschichte findet sich bei K ARL W OLFART (Hg.), Geschichte der Stadt Lindau im Bodensee, 2 Bde., Lindau 1909, hier Bd. 1, S. 375-379; und bei A. S CHULZE , Bekenntnisbildung (Anm. 76), S. 153-162. 86 StadtA Ravensburg, Bü 162b/ 2: Schreiben von Buchhorn, Lindau und Überlingen an Ravensburg, 1552 IV 3. 87 StadtA Lindau, A III 64,5: Schreiben Karls V. an Lindau, 1552 IV 11 und 1552 V 23; in seinen Schreiben an die Heimatstadt Lindau übermittelte der kaiserliche Rat Sebastian Kurz wiederholt die kaiserlichen Aufforderungen, sich den Kriegsfürsten nicht zu beugen; s. K. W OLFART , Karl V. (Anm. 41), S. 22-25. Zur Bedeutung der Habsburger für die Bodenseeregion s. a. F RANZ Q UARTHAL , Österreichs Verankerung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Die historische Bedeutung der österreichischen Vorlande, in: F RANZ Q UARTHAL / G ERHARD F AIX (Hg.), Die Habsburger im deutschen Südwesten, Stuttgart 2000, S. 9-26; A LOIS N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 1, Innsbruck 2015, S. 83-117. 88 Mit all diesen Nachbarn hatte die Reichsstadt Lindau in den zurückliegenden Jahren lokale Konflikte ausgetragen, in denen um Nutzungsrechte im Raum zwischen Argen und Bregenzer Ach gestritten wurde; StaatsA Augsburg, Reichsstadt Lindau, Akten 33, 83, 86. <?page no="122"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 123 Herrschaften Stadt und Fürstabtei St. Gallen sowie die eidgenössische Herrschaft Thurgau. 89 Bei den Beratungen über die Frage, wie auf die aktuelle Krise zu reagieren sei, musste der Rat neben diesen regionalen Mächten zusätzlich eine große Anzahl interner Faktoren berücksichtigen. Da war zunächst eine evangelische Geistlichkeit, die wortreich geführt von Matthias Roth im Vorstoß der Reichsfürsten die große Chance sah, das Interim abzuschütteln. 90 Dem stand der von der Fürstäbtissin des Lindauer Damenstifts eingesetzte Pfarrer Tornoander gegenüber, der sich um die kleine katholische Minderheit in Lindau kümmerte. 91 Da gab es außerdem die Handwerksmeister, die durch die wenige Monate vorher erfolgte Einführung der karolinischen Verfassungsreform an Einfluss verloren hatten und damit ein gewisses Unruhepotenzial darstellten. 92 Auf der anderen Seite stand die patrizische Gesellschaft zum Sünfzen, die vordergründig Gewinnerin dieser Verfassungsänderung war. 93 Neben den städtischen Bürgern galt es bei den Entscheidungen des Rates immer auch, die Interessen der Bewohner der Dörfer im Umland der Stadt zu berücksichtigen, über die der Rat die niedere Gerichtsbarkeit ausübte. 94 Die Situation wurde noch dadurch erschwert, dass die Gruppe der Ratsmitglieder ebenso gespalten war wie die Bevölkerung selbst. Neben erklärten Anhängern des Kaisers, so etwa Matthias Kurz, dem Bruder des kaiserlichen Rates Sebastian Kurz, gab es überregional bekannte Gegner des Kaisers, wie etwa Jakob Hünlein, und sogar erklärte Parteigänger der Fürsten, wie den Ammann Hans Nagel und den Vorsitzenden des Stadtgerichts, Hieronymus Pappus. 95 89 Einen ersten Überblick über die Region bietet K ARL H EINZ B URMEISTER , Der Bodensee im 16. Jahrhundert, in: Montfort 57/ 3 (2005), S. 228-262. 90 F RAUKE B ECKER , Die Geschichte des Interims in der Reichsstadt Lindau, Konstanz 1992 (Staatsexamensarbeit bei Horst Rabe); P EER F RIESS , Wider Papst und Kaiser - Lindau im Zeitalter der Reformation, in: Neujahrsblatt des Museumsvereins Lindau 47 (2007), 17-42. 91 K. W OLFART , Geschichte (Anm. 85), S. 370. 92 P ETER E ITEL , Die oberschwäbischen Reichsstädte im Zeitalter der Zunftherrschaft. Untersuchungen zu ihrer politischen und sozialen Struktur unter besonderer Berücksichtigung der Städte Lindau, Memmingen, Ravensburg und Überlingen (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 8), Stuttgart 1970, S. 149-161. 93 A LBERT S TOLZE , Der Sünfzen zu Lindau. Das Patriziat einer schwäbischen Reichsstadt, Lindau-Konstanz 1956. 94 M ANFRED O TT , Lindau (HAB Teil Schwaben 5), München 1968, S. 124-181. 95 Schertlin von Burtenbach glaubte sogar, durch seine persönlichen Beziehungen zu Hans Nagel die Öffnung Lindaus für die Kriegsfürsten erlangen zu können; PKMS 5 (Anm. 23), S. 493-496, Nr. 257. <?page no="123"?> P EER F R IE S S 124 Die latenten Spannungen und tiefen Bruchlinien innerhalb der Lindauer Bevölkerung wurden im Frühjahr und Sommer des Jahres 1552 in unterschiedlichen Konflikten sichtbar. So kam es immer wieder zu Verunglimpfungen der Fürstäbtissin und ihres katholischen Gefolges durch gewaltbereite Anhänger des evangelischen Geistlichen Matthias Roth, der in seinen Predigten regelmäßig gegen die Papisten polemisierte. 96 Die Stimmung in der Stadt war so aggressiv, dass dem einzigen katholischen Ratsherrn Dr. Johannes Mürgel, der ohnehin schon Beschimpfungen und Verleumdungen erdulden musste, auch noch die Weingärten verwüstet wurden. Der ehemalige Stadtamman und langjährige Ratsherr Hans Kramer befürchtete sogar gezielte Mordanschläge. 97 Gleichzeitig kam es wiederholt zu Reibereien mit den zum Haus Österreich gehörenden Bregenzern und Konstanzern. Mitte Mai fuhren z. B. habsburgische Söldner von Bregenz kommend auf dem Weg nach Konstanz dicht an den Stangen vor dem Lindauer Hafen vorbei und gaben einige Schüsse auf die Stadt ab. Sie richteten zwar kaum einen Schaden an, boten aber dem Lindauer Amman Hans Nagel den Anlass, sofort mit einem Schnellboot die Verfolgung aufzunehmen und die Besatzung des Konstanzer Bootes gefangen zu nehmen. 98 Nicht alle Lindauer waren gegenüber dem Kaiser und seinen Anhängern allerdings vollkommen feindlich eingestellt. Im privaten Kreis berichtete etwa Felix Hünlin davon, dass man in Bregenz von den Lindauern als Meineidige sprach, was seiner Ansicht nach nicht so falsch war. Seine Positionierung gegen die damals vollzogene Annäherung an die Kriegsfürsten führte sofort zu einem obrigkeitlichen Ermittlungsverfahren gegen ihn. 99 Wie stark gleichzeitig das Misstrauen der einfachen Landbevölkerung gegenüber den wohlhabenden Ratsherren war, von denen sie sich im Stich gelassen fühlten, zeigt eine Petition der 96 Der wohl sehr aufbrausende und polemische Prediger Matthias Roth spaltete die Lindauer Bürgerschaft. Seine Gegner erwirkten mehrfach seine Suspendierung, nötigten ihn ins Exil und trachteten ihm nach dem Leben, während seine Förderer ihn jedesmal wieder rehabilitieren und zurückholen konnten. Dabei schreckten auch sie nicht vor Gewalt zurück; StadtA Lindau, Lit. 25: Neukomsche Chronik, S. 183. Die Agitation Roths führte während des Fürstenkrieges dazu, dass der interimistische Gottesdienst in der Stadtpfarrkirche behindert, die Stühle der katholischen Geistlichen verschmiert und die Fenster der benachbarten katholischen Stiftskirche eingeschlagen wurden. Vgl. StadtA Lindau, A IV 6,54: notarielle Abschrift des Schreibens der Äbtissin Katharina von Bodmann an Herrn von Ramschwag, 1552 V 16. 97 Stadt A Lindau, N° 6,15: Zeugenverhör des Matthias Rot (o. D., nach 1552 VII 8). 98 Die Datierung in der chronikalischen Überlieferung ist nicht einheitlich; vgl. StadtA Lindau, Lit. 29: Schnellsche Chronik, S. 193 (1552 V 11); Lit. 19: Bertlinsche Chronik, S. 517 (1552 V 20). 99 Stadt A Lindau, N° 6,15: Hans Hiltprannd und Hans Schenk sagen unter Eid aus, dass Felix Hünlein anlässlich eines gemeinsamen Abendessens am 7. Juli 1552 gesagt habe, die von Bregenz schelten die von Lindau Mainaid beswicht vnd sie thund jne nit so vnrecht. <?page no="124"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 125 Lindauer Bauern, in der sie ausdrücklich um Schutz vor Plünderung und Brandschatzung baten. 100 Ihnen war im Mai 1552, anders als noch Anfang April, nicht erlaubt worden, sich auf die Lindauer Insel in Sicherheit zu bringen. Wilhelm d. Ä. Truchsess von Waldburg-Trauchburg wurde das aber zusammen mit seiner ganzen Familie sehr wohl gestattet. 101 Der Ärger der Bauern war so groß, dass sie sich in Aeschach versammelten, einen Ausschuss bildeten und bewaffnet vor die Tore der Stadt zogen. 102 Diese Konflikte machen deutlich, dass die verschiedenen aufgezeigten Faktoren nicht isoliert betrachtet werden können, da sie in engen Wechselbeziehungen zueinander standen. Jede politische Entscheidung hatte vielfältige Auswirkungen auf unterschiedlichen Feldern. So führte die anfangs pro-kaiserliche Politik des Rates zu Unruhen in der Bürgerschaft, die eine Rekatholisierung befürchtete. 103 Die Ende Mai erfolgte Hinwendung zu den Kriegsfürsten provozierte dann sofort Konflikte mit Bregenz und Konstanz. Gleichzeitig führte dieser politische Richtungswechsel dazu, dass wohlhabende Bürger die Stadt verließen und ihre Wertsachen über den See in Sicherheit brachten. 104 Umgekehrt übten die genannten externen und internen Faktoren alle einen direkten Einfluss auf die Lindauer Obrigkeit aus, sei es durch schriftliche Ermahnungen und Aufforderungen von außen, sei es durch Beschwerden und Proteste im Inneren. Die Ratsherren der Bodenseestadt waren in einem Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten gefangen. Offenkundigen Ausdruck fand dies in dem wochenlangen Tauziehen zwischen den in Augsburg mit den Fürsten verhandelnden Gesandten der Stadt und dem heimischen Rat um die Frage der Einwilligung in die Capitulation. 105 Die moderne Soziologie versucht, das Verhalten von Einzelpersonen oder Personengruppen in vergleichbar komplexen Strukturen mit dem Modell der doppelten Kontingenz zu interpretieren. 106 Damit sollen Situationen analysiert werden, 100 StadtA Lindau, A III 64,5, fol. 142r-145v. 101 StadtA Lindau, Lit. 19: Bertlinsche Chronik, S. 516, 1552 V 17. 102 StadtA Lindau, Lit. 25: Neukomsche Chronik, S. 283. 103 StadtA Lindau, A IV 6,45: Schreiben der Äbtissin Katharina von Bodman an Herrn von Ramschwag, 1552 V 16. Darin erklärt sie, das gemain statt alhie mit Jnen [d. h. den Kriegsfürsten] in kein Pündts eingan, sondern diese stat der Röm Kay Mt vnd dem heiligen Reich erhalten vnnd darbey guot vnnd bluot lassen wöllten […] deshalben das gemain volckh alhie ganz vnruwig sey. Das Gerücht kursiere, man wolle die Stadt vom Evangelium abbringen. 104 PKMS 6 (Anm. 36), S. 404, Nr. 262: Bericht des Amtmanns und des Vogts von Bregenz an die Regierung in Innsbruck, 1552 VIII 2. 105 StadtA Lindau, A III 64,5, fol. 152, 167, 191: Briefwechsel zwischen Bürgermeister und Rat einerseits und den Gesandten in Augsburg andererseits 1552 V 2, 1552 V 11, 1552 V 14. 106 N IKLAS L UHMANN , Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg 2008, S. 315-343; J URIT K ÄRTNER , Das Problem der doppelten Kontingenz als Ausgangsproblem des Sozialen und der soziologischen Theorie. Vorschlag zu einer Systematisierung der soziologischen <?page no="125"?> P EER F R IE S S 126 die einerseits uneindeutig und ergebnisoffen sind, in denen es also verschiedene annähernd gleichwertige Handlungs- und Ereignisoptionen gibt, und in denen andererseits die handelnden Akteure stets vom Verhalten oder Nicht-Verhalten des jeweils anderen anhängig sind. Diese Merkmale beschreiben in abstrahierender Weise die Situation recht genau, in der sich die Reichsstadt Lindau im Sommer des Jahres 1552 befunden hat. Die große Zahl der Kontingenzbeziehungen legt es allerdings nahe, im Folgenden in leichter Abwandlung des soziologischen Fachterminus von ›multiplen Kontingenzen‹ zu sprechen. Folgt man dem soziologischen Modell, dann führen komplexe Kontingenzerfahrungen zu verstärkten Diskussionen innerhalb des betrachteten Systems und zu Lösungsversuchen im Stile von Versuch und Irrtum, die alle dem Ziel dienen, die als belastend und lähmend erlebten Kontingenzen zu reduzieren oder abzumildern. 107 Und genau das lässt sich in Lindau feststellen. Anders als es sonst im politischen Alltag üblich war, wurden in der Krise des Fürstenkrieges zahlreiche Entscheidungen offen debattiert und nicht im engen Zirkel des Geheimen Rates beschlossen. Von Beginn der Krise an suchten die führenden Politiker der Stadt den Diskurs mit allen reichsstädtischen Gremien und allen involvierten externen Parteien, um gangbare Handlungsoptionen zu ermitteln. Solange die Krise unentschieden war, solange nicht erkennbar war, wer sich am Ende durchsetzen würde oder welcher Kompromiss etwa in Passau gefunden würde, bemühte sich der Rat um eine breite Zustimmung zu seinen einzelnen Schritten. Dazu wurde wiederholt der Große Rat einberufen, um Verkündungen oder Instruktionen durch Mehrheitsbeschlüsse zu sanktionieren. 108 Auf dem Höhepunkt der Krise im Mai 1552 ließ man sogar alle Bürger in ihren jeweiligen Zunfthäusern zusammenrufen, wo ihnen die drei Bürgermeister und die beiden eben aus Augsburg zurückgekehrten Gesandten die aktuelle Situation darlegten. 109 Sind die zunfftgenossen in alln Zünfften zusamen beruffen worden, da dann die burgermeister neben den abgesandten in die zünfte komen vnd fürgetragen, es begeren die fürsten ein offne statt vnd dieselbe mit Volck zu besetzen vnd nach ansehung der statt ihr ein suma gelts zu bezalen. Systemtheorie Niklas Luhmanns, in: Zeitschrift für theoretische Soziologie 4/ 1 (2015), S. 60-88. 107 N IKLAS L UHMANN , Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1993, S. 156f. 108 StadtA Lindau, A III, 64/ 5: Verkündungen für 1552 IV 7, V 16, V 24/ 25. Vgl. allgemein zum soziologischen Hintergrund: N IKLAS L UHMANN , Legitimation durch Verfahren, 9. Aufl. Frankfurt am Main 2013, S. 9-53. 109 Die Verkündung des Rates in StadtA Lindau, A III, 64,5, fol. 17-21 (Entwurf), fol. 242- 244 (Reinschrift); das folgende Zitat aus StadtA Lindau, Lit. 25: Neukomsche Chronik, S. 517. <?page no="126"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 127 Der Rat griff damit auf Verfahren zurück, die vor der karolinischen Verfassungsänderung üblich gewesen waren, denn die politische Mitwirkung der Zünfte, die es offiziell noch nicht einmal mehr als Begriff gab, war seit dem Herbst des vergangenen Jahres ebenso wenig zulässig wie die Versammlung von Handwerkern in den eigentlich abgeschafften Zunfthäusern. Mit diesem Rekurs auf die Zunftverfassung kam die Lindauer Obrigkeit der Stimmung weiter Kreise der Handwerkerschaft entgegen. In der Sache blieb man aber auf Kurs und erklärte, man wolle kaiserlich bleiben. Danach wurden alle anwesenden Handwerksmeister, die dem Rat auf diesem Weg folgen wollten, aufgefordert, die Schwurhand zu heben. Wer dazu nicht bereit war, sollte in drei Tagen mit Familie, Hab und Gut aus der Stadt ziehen. Das Ergebnis war ganz im Sinne der am Kaiser orientierten Ratsherren: Also war ermehrt, das man kaiserisch bleiben woll. 110 Durch dieses Verfahren wurde - soziologisch gesprochen - der Versuch unternommen, die Unbestimmtheit der ›multiplen Kontingenzen‹ so weit zu reduzieren, dass ein ausreichendes Maß an Handlungsfähigkeit entstand. Gleichzeitig bewirkte dieser Rückgriff auf traditionelle republikanische bzw. kommunalistische Verfahren eine belastbare Legitimation der obrigkeitlichen Politik. 111 Ob es wenige Tage später die Nachricht vom erfolgreichen Vorstoß der Kriegsfürsten nach Innsbruck war, das nahende Ende des in Augsburg verkündeten Ultimatums oder ob tatsächlich Hieronymus Pappus die Bauern zu ihrem drohenden Aufmarsch bewegt und die Bürgerschaft mobilisiert hatte, wie es Sebastian Kurz später behauptete, lässt sich nicht eindeutig belegen. 112 Offenkundig haben die Ereignisse aber die Stimmung in der Stadt so verändert, dass der Rat sich der Unterstützung der Bürgerschaft für seine bisherige Politik nicht mehr sicher war und am 24. Mai 1552 eine Abstimmung in den Zünften durchführen ließ. Einmal mehr ging es um Reduktion multipler Kontingenzen innerhalb des komplexen Systems, das die Lindauer Kommune darstellte. Das Ergebnis war erneut eindeutig. Mit klarer Mehrheit stimmten die Zunftbürger diesmal jedoch dafür, den Fürsten zu huldigen. 113 110 StadtA Lindau, Lit. 25: Neukomsche Chronik, S. 517. 111 Damit sind Verfahren der politischen Entscheidungsfindung gemeint, die durch eine breitere Beteiligung der Gemeindemitglieder gekennzeichnet sind. Vgl. P ETER B LICKLE , Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, 2 Bde., München 2000; R OLF K IESSLING , Städtischer Republikanismus. Regimentsformen des Bürgertums in oberschwäbischen Stadtstaaten im ausgehenden Mittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit, in: P ETER B LICKLE (Hg.), Politische Kultur in Oberschwaben, Tübingen 1993, S. 175-205. 112 StaatsA Stade, Rep. 32, Nr. 436, fol. 9: Vnd sein die principal Redlfuerer Jeronimus papus, hans nagl, anthoni rem der jung Simon stocker vnd sebastian nöschl, die alle posen pratiggen alda […? ] treiben vnd noch teglichen jm werkh haben vnd veben. 113 StadtA Lindau, A III, 64,5, fol. 15. <?page no="127"?> P EER F R IE S S 128 Am letzten Tag der von den Fürsten gewährten Frist, dem 28. Mai 1552, fertigte man Simon Stocker und Sebastian Urscheln ab, um den Kriegsfürsten in Augsburg die Einwilligung der Reichsstadt Lindau in die Capitulation mitzuteilen. 114 Interessant ist, dass ab diesem Moment jegliche Form der Bürgerbeteiligung bei den folgenden politischen Richtungsentscheidungen unterblieb. Sowohl die Restitution der Zunftverfassung am 6. Juni 1552 als auch die endgültige Beseitigung des Interims wurden einfach durchgeführt. 115 Offenbar war nach der Entscheidung für die Unterzeichnung der Capitulation der Weg so eindeutig vorgezeichnet und der Rat so sicher legitimiert, dass man keine weiteren Sondermaßnahmen mehr brauchte. Die komplexe Vielfalt multipler Kontingenzen war so weit reduziert worden, dass die Obrigkeit auch dann noch völlig autonom aus dem engen Kreis des Geheimen Rates heraus handeln konnte, als sich die Machtverhältnisse in Oberschwaben umgekehrt hatten. Ohne lange Diskussion im Großen Rat lehnte Lindau Ende Juli eine Vermittlungsofferte des Bregenzer Vogtes Laux von Reischach ab, der angeboten hatte, zwischen der Stadt und dem Kaiser zu vermitteln. 116 Und auch die Entscheidung, eine Delegation zu Karl V. zu schicken, die den Auftrag hatte, das Verhalten der Stadt zu erklären und den Kaiser gnädig zu stimmen, wurde im kleinen Kreis getroffen. 117 Die Überlieferungslage ist zwar in den anderen oberschwäbischen Reichsstädten nicht ganz so gut wie in Lindau. Es finden sich aber zahlreiche Hinweise darauf, dass die Prozesse ähnlich abliefen. Fast alle Obrigkeiten standen mit dem Kaiser und den Kriegsfürsten in parallelen Kontakten. 118 Überall beteiligten die Ratsherren die Handwerksmeister bei den zentralen Entscheidungen im Vorfeld der Capitulation. 119 Stets wurden von den städtischen Führungskreisen in der Phase 114 StadtA Lindau, A III, 64,5: Credenzschreiben Lindaus an die Kriegsfürsten für Simon Stocker und Sebastian Urscheln, 1552 V 28. 115 F. B ECKER , Interim (Anm. 90), S. 113; K. W OLFART , Geschichte (Anm. 85), S. 382f. 116 StadtA Lindau, A III, 64,5, fol. 111-114: Memorial des Laux von Reischach; fol. 95-99: Instruktion für die Lindauer Gesandten mit der Begründung der Ablehnung des Vermittlungsangebots. 117 StadtA Lindau, A III, 64,5, fol. 10-13. 118 StadtA Memmingen, A RP 1552 IV 6: Relation Wilhelm Vogts über seine Mission zum Kaiser. Vgl. die chronikalische Notiz über eine Verehrung für die Kriegsfürsten, die sie davon abhalten sollte, von Ulm aus nach Memmingen zu ziehen; Stadtbibliothek Memmingen, 2,19 2°: Kimpelsche Chronik, fol. 270. Kempten schickte während der Verhandlungen in Augsburg eine Gesandtschaft zum Kaiser nach Innsbruck; StadtA Kempten, B 31: Schwarzsche Chronik, fol. 134r-135r. 119 Die Reichsstadt Memmingen wandte sich nicht nur wiederholt mit diversen Verkündungen an die gesamte Bevölkerung, sondern bezog mehrfach den Großen Rat in die Diskussionen mit ein; StadtA Memmingen, A RP 1552 V 30; 267/ 1: Verkündung in den Zünften, 1552 VII 17. Ganz ähnlich agierte die Obrigkeit in Kempten: StadtA Kempten, <?page no="128"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 129 bis in den Juni hinein lokale Gegebenheiten berücksichtigt, um die internen Spannungen und externen Einflussfaktoren im Griff zu behalten. 120 Und wie in Lindau kehrten sie nach der Entscheidung für ein Arrangement mit den Fürsten zu einer obrigkeitlich geprägten Politik zurück, die ohne aktive Bürgerbeteiligung auskam. 121 Dass sich Ende Mai tatsächlich alle oberschwäbischen Reichsstädte für ein Nachgeben gegenüber den Kriegsfürsten entschieden hatten und sich keine einzige offen gegen Moritz von Sachsen und seine Verbündeten stellte, lag dabei möglicherweise daran, dass sie entsprechende Signale vom kaiserlichen Hof erhalten hatten, sich nicht um jeden Preis gegen die fürstliche Übermacht zu stemmen. So teilte Isny den Nachbarstädten Mitte April mit, ihr Gesandter habe in Innsbruck mit dem Bischof von Arras gesprochen. Dieser habe auf die Bitte der Reichsstadt um Unterstützung die Ratsherren der Stadt zwar einerseits angewiesen, den Feind zu behindern und sich zu verteidigen so gut es ginge, bis der Kaiser zu Hilfe kommen könne. Gleichzeitig sagte er aber auch: 122 Dabei welte aber auch Ir Mt. nit das man deshalb das stettlin zerbrechen oder schlaiffen lassen sollte, sondern so es je anderst nit gesein mechte, sich wie man weg finden mechte zuuerthädingen vnd zuergeben. Damit war den oberschwäbischen Reichsstädten die Möglichkeit gegeben, ihre Reichstreue dadurch zu beweisen, dass sie sich den Kriegsfürsten so lange widersetzten, wie es jeder einzelnen vertretbar erschien. Das dürfte auch die Erklärung dafür sein, dass die oberschwäbischen Reichsstädte unterschiedlich rasch auf die Forderungen der Fürsten reagierten, manche früher und manche später die Capitu- B 31: Schwarzsche Chronik, fol. 135v: zum Verlesen der fürstlichen Forderung an die Gemeinde, 1552 V 14. 120 So galt es in Ravensburg, Biberach und Kaufbeuren, auf katholische Minderheiten Rücksicht zu nehmen. Ähnlich wie Lindau mussten auch Isny, Leutkirch und Memmingen trotz eindeutiger Dominanz der evangelischen Lehre unter der Bürgerschaft auf die Interessen der wie geistliche Enklaven in ihren Stadtgebieten liegenden Klöster achten. Und Kempten hatte die Sondersituation der Koexistenz mit der Stiftsstadt und die unmittelbare Nähe Tirols zu berücksichtigen. Vgl. StadtA Kempten, B 31: Schwarzsche Chronik, fol. 134r, 136r. 121 Auch Kempten setzte wieder die alte Zunftverfassung in Kraft, beseitigte das Interim und unterwarf sich Anfang August dem Kaiser ohne erneut die Bürgerschaft zu befragen; StadtA Kempten, B 31: Schwarzsche Chronik, fol. 137r-137v. 122 StadtA Ravensburg, Bü 163c/ 2: Schreiben von Isny an Ravensburg, 1552 IV 16. Bischof von Arras war Kardinal Antoine Perrenot de Granvelle (1517-1586); s. F RIEDRICH W IL - HELM B AUTZ , Antoine Perrenot de Granvelle, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 2, Hamm 1990, Sp. 286-287. Einen ähnlichen Hinweis hat auch Wangen erhalten; vgl. StaatsA Stade, Rep. 32, Nr. 445: Rechtfertigungsschreiben Wangens an Karl V., 1552 VIII 3. <?page no="129"?> P EER F R IE S S 130 lation unterzeichneten, einzelne sofort das Interim abschafften, andere von den Fürsten dazu erst eindringlich aufgefordert werden mussten. Gleichzeitig ließ es diese Haltung des kaiserlichen Hofes zu, die Ausrichtung der städtischen Politik am Ideal des Gemeinen Nutzens beizubehalten, da keine existenziellen Opfer verlangt wurden. So konnte am Ende jede Kommune ihren eigenen Weg durch die Krise des Fürstenkrieges gehen. 5. Resümee und Ausblick Während das Modell der Handlungsspielräume von Vierhaus dabei geholfen hat, die äußerlich erkennbaren politischen Schritte plausibel in ein Raster der Möglichkeiten zu verorten, und Luttenbergers Modell des Handlungsraumes durch die zusätzliche Berücksichtigung der handlungsleitenden Intentionen die Aporien reichsstädtischer Politik deutlich werden ließ, konnten mit der Theorie der multiplen Kontingenzen die Entscheidungsprozesse nachvollziehbar gemacht werden, die innerhalb der als komplexe Systeme verstandenen oberschwäbischen Kommunen abliefen und die das jeweilige Krisenmanagement während des Fürstenkrieges 1552 bestimmten. Dabei wurde deutlich, dass sich die oberschwäbischen Reichsstädte keineswegs so passiv oder gar fürstenfreundlich verhalten hatten, wie man das lange Zeit annahm. Durch die Aktivierung des traditionellen interkommunalen Netzwerks reagierten sie vielmehr rasch auf den Ausfall des Kaisers als Schutzmacht, auf die gleichzeitige Blockade der politischen Handlungsfähigkeit der regionalen Führungsstädte Ulm und Augsburg sowie auf das Fehlen eines wirksamen korporativen Instruments zur Sicherung des Landfriedens. Dadurch gelang es ihnen zumindest, ihr politisches Vorgehen in der Krise des Jahres 1552 zu harmonisieren. Mit der Anlehnung an mächtige Schirmherrn und einflussreiche Fürsprecher bei Hofe, der prophylaktischen Sicherung ihrer Verteidigungsbereitschaft und der Taktik des hinhaltenden ›Temporisierens‹ in den Verhandlungen mit den Kriegsfürsten griffen sie auf Strategien zurück, die sich im 15. Jahrhundert bewährt hatten. Diese vom Leitmotiv der demonstrativen Reichstreue getragene Politik wurde so lange verfolgt, wie es möglich war, das übergeordnete Ziel der Wahrung und Förderung des Gemeinen Nutzens nicht zu gefährden. Die Sicherung dieses politischen Kurses und seine hinreichende Legitimation erfolgten in der kritischen Phase von Ende März bis Ende Mai 1552 durch wiederholte Rückgriffe auf republikanische bzw. kommunalistische Mechanismen der direkten Bürgerbeteiligung, wie z. B. Bürgerbefragungen, Gemeindeversammlungen oder Abstimmungen. Dadurch konnten die Ratsgremien gleichzeitig die von multiplen Kontingenzen geprägten innerstädtischen Spannungen abmildern, die konkurrierenden Kräfte <?page no="130"?> D IE OBER S C HWÄBI S C HEN R EIC HS S TÄDTE IM F ÜR S TENKRIE G VON 1552 131 ausbalancieren und eine Komplexitätsreduktion herbeiführen, die gezieltes politisches Handeln möglich machte. Nach der Entscheidung für die Annahme der Capitulation waren die Verhältnisse in allen oberschwäbischen Reichsstädten dann soweit geklärt, dass die weiteren Schritte wieder im Stil einer weitgehend autonom handelnden Obrigkeit vollzogen werden konnten. Den Ratsherren kam es dabei zugute, dass Karl V. offenbar nicht daran interessiert war, das Verhalten der oberschwäbischen Reichsstädte ernsthaft zu bestrafen. So ließ er etwa die Lindauer Abgesandten nur wissen: Die Rö Kai Mt ist der werbung vnnd instruction berichtet, auch welchermassen es vmb die sach gestellet vnnd hetten sich die von Lynndaw wol auffhalten vnnd erweren mögen, wann sy ir Mayt zu gehorsamen lust gehapt, dann sie fur anndere bedacht vnnd darzu vest an ir selbst, aber wie dem allen so wills jr Mt jnen jn vngnaden nit vermerckhen. 123 Viel wichtiger war es Karl V., möglichst rasch die an Heinrich II. verlorene Stadt Metz zurückzuerobern. Nach seinem Abmarsch Richtung Frankreich gingen die Ratsherren der oberschwäbischen Reichsstädte allerdings nicht wieder zum Alltagsgeschäft über. Sie stellten auch nicht den Status quo ante wieder her. Die eindeutig evangelischen Kommunen, wie z. B. Kempten, Memmingen oder Lindau, nahmen vielmehr den Ausbau eines evangelischen Kirchenwesens wieder auf, der durch das Interim unterbrochen worden war. 124 In den oberschwäbischen Reichsstädten mit stärkeren altgläubigen Minderheiten, wie z. B. Ravensburg oder Biberach, wurde zwar der kurzzeitig ausgesetzte katholische Ritus wieder erlaubt, die protestantische Mehrheit folgte aber ebenfalls nicht mehr den Regeln des Interim. In beiden Fällen wurde damit ein Problemfeld beseitigt, das den innerstädtischen Frieden zwischen 1547 und 1552 erheblich belastet hatte. Ähnliches gilt auch für die Verfassungsverhältnisse. Es war Moritz von Sachsen in den Passauer Verhandlungen zwar nicht gelungen, die Zustimmung des Kaisers zur Wiedereinführung der Zunftverfassung zu erlangen. 125 Das bedeutete jedoch nicht, dass die oberschwäbischen Reichsstädte die kaiserliche Regimentsordnung automatisch wieder einführten. Karl V. musste sie ausdrücklich einzeln dazu auffordern. In den meisten Reichsstädten erfolgte der Rücktritt der im Juni neu gewählten Amtsinhaber dann aber ohne innerstädtische Konflikte. Anders als bei der Einführung der karolinischen Wahlordnung durch eine kaiserliche Kommission erfolgte nach dem 123 StadtA Lindau, A III 64,5: Relation der Gesandten (unfoliiert, undatiert). 124 In den meisten Kommunen begann nun allerdings eine schrittweise, wenn auch langsame Abkehr von der oberdeutsch-zwinglianischen Ausrichtung und eine Annäherung an die entstehende lutherische Orthodoxie; vgl. P EER F RIESS , Lutherische Konfessionalisierung in den oberschwäbischen Reichsstädte, in: D ERS ./ R OLF K IESSLING , Konfessionalisierung und Region (Forum Suevicum 3), Konstanz 1999, S. 71-97. 125 V OLKER H ENNING D RECOLL , Der Passauer Vertrag (1552). Einleitung und Edition, Berlin-New York 2000. <?page no="131"?> P EER F R IE S S 132 Fürstenkrieg allerdings kein neuerlicher Oktroi. Es kam vielmehr zu Verhandlungen zwischen den kaiserlichen Räten und den einzelnen Städten, die letztlich erfolgreich eine Akzeptanz der kaiserlichen Ordnung durch kleinere Modifikationen und Anpassungen an örtliche Gegebenheiten erreichten. Möglicherweise als später Lohn für die erwiesene konfessionelle und politische Reichstreue konnten Überlingen und Pfullendorf sogar eine fast vollständige Rücknahme aller Änderungen erreichen. 126 Auch hier ging es letztlich darum, innerstädtische Konfliktherde zu entschärfen. Die Entscheidungsträger der oberschwäbischen Reichsstädte haben es offensichtlich unter den gegebenen Umständen verstanden, ihren politischen Maximen treu zu bleiben, die Bürger ihrer Städte in der Krise des Fürstenkrieges vor Schaden zu bewahren, die innerstädtische Balance zwischen obrigkeitlichen und republikanischen Strömungen wiederherzustellen und die konfessionellen Konflikte zu reduzieren. Das bürgerliche Krisenmanagement erwies sich demnach als ebenso erfolgreich wie die Neutralitätspolitik der vermittelnden Fürsten. 126 E BERHARD N AUJOKS , Latente Zunfttraditionen in den schwäbischen Reichsstädten, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 50 (1962), S. 171-194, hier 188, Anm. 33; J OHANN S CHUPP , Die ehemals freie Reichsstadt Pfullendorf, Pfullendorf 1964, S. 14. <?page no="132"?> 133 R EINHARD B AUMANN Auswärtige Kriegsprobleme nach Schwaben hereintragen. Die Auseinandersetzungen zwischen dem Obristen Georg II. von Frundsberg und der Interessenvertretung seines Regiments in den Niederlanden 1576-1585 1. Gewaltsamer Protest: das Scharmützel bei Pfaffenhausen Am 28. Mai 1578 rückten 50 Memminger Hakenschützen unter dem Befehl des Einspännigen Hans Lutz aus der Stadt. 1 Der Schwäbische Reichskreis hatte um Hilfe gebeten, um dem Memminger Nachbarn Georg von Frundsberg 2 (Abb. 1) aus bedrohlicher Lage zu helfen und den Frieden in Mittelschwaben zu erhalten. In Memmingen wusste man, dass Landsknechte in großer Anzahl auf Mindelheim zuzogen. Sie hatten unter dem Befehl Frundsbergs dem spanischen König in den Niederlanden gedient und wollten nun nach ihrer Entlassung wegen erheblicher Soldrückstände von ihrem ehemaligen Obristen bezahlt werden. Doch als das Memminger Aufgebot das Dorf Kammlach nahe Mindelheim erreicht hatte, wurde es zurückbeordert, denn man war benachrichtigt worden, dass ein berittenes Aufgebot des Schwäbischen Reichskreises unter Albrecht von Leonstein und frundsbergische Bauern die Landsknechte auseinandergetrieben hätten. Es habe einige Tote gegeben, etwa 150 Landsknechte seien gefangen worden. 3 Ebenfalls am 28. Mai 1578 kehrte ein Münchner Bürger von einer Reise zurück und berichtete sogleich am herzoglichen Hof über beunruhigende Ereignisse im mittleren Schwaben. Vom Zoller an der Wertach - es handelt sich um die noch heute ›Zollhaus‹ genannte ehemalige Zollstation an der Wertachbrücke - habe er erfahren, dass die freundsbergischen aufrührerischen knecht mit frundsbergischen Reuttern 1 Ein Einspänniger ist ein mit einem Pferd im Dienst der Stadt stehender Soldreiter. 2 Freiherr Georg II. von Frundsberg (1533-1586), Herr der Herrschaften Mindelheim, Straßberg-Sterzing und St. Petersberg, Söldnerunternehmer und Obrist in spanischen Diensten, verheiratet mit Barbara, geb. Gräfin Montfort, Enkel des Georg I. von Frundsberg (1473-1528). Vgl. F RIEDRICH Z OEPFL , Geschichte der Stadt Mindelheim in Schwaben (Reprint der 1. Aufl. von 1948), Regensburg 1995, S. 41. 3 Die Ereignisse aus Memminger Sicht sind festgehalten in den Chroniken von Wintergerst-Löhlin-Greiter (Wiss. Stadtbibliothek Memmingen, 4°2, 20), 1578, fol. 176, und Wintergerst-Kimpel (Wiss. Stadtbibliothek Memmingen 4°2, 19), 1578, fol. 277. <?page no="133"?> R EINHAR D B AU MANN 134 ein Treffen getan hätten und einander wol umb das maul geschmirt haben sollen. 4 Mehr und Genaueres wusste der Reisende nicht. Herzog Albrecht V. schrieb deshalb an seinen Pfleger Graf Schweikhart von Helfenstein (1539-1599) in Landsberg und beauftragte ihn, weiterhin Erkundigungen einzuziehen, denn über Kriegsknechte in der Herrschaft Mindelheim ließ er sich seit einigen Tagen berichten. Wenn der Münchener Bürger mit diesen Worten ein Treffen meldete, dann ist davon auszugehen, dass es zu einem Scharmützel oder gar zu einem Gefecht zwischen den erwähnten Knechten und den frundsbergischen Soldreitern gekommen war. Ein solches Ereignis musste natürlich den Herzog und seine Amtsträger an der Lechgrenze beunruhigen, denn die Herrschaft Mindelheim grenzte unmittelbar an die baierische Herrschaft Schwabegg, außerdem vollzog sich solche Unruhe in geringer Entfernung von der Lechgrenze überhaupt. Man erkannte eine Gefährdung des allgemeinen Landfriedens. Man holte Informationen ein am herzoglichen Hof in München. Kundschafter wurden ausgeschickt, herzogliche Pfleger und Richter entlang der Lechgrenze schickten Berichte. 5 Allmählich sah man klarer: In der Herrschaft Mindelheim hatten sich bei Krumbach etwa 600 Landsknechte versammelt, die sich wegen nicht erfolgter Bezahlung an ihren ehemaligen Obristen, Freiherr Georg II. von Frundsberg, gewandt hatten und von ihm ihren Sold forderten. Ihr Versammeln wurde sowohl von Frundsberg selbst als auch vom herzoglichen Pfleger in Landsberg und von Herzog Albrecht V. als rottieren und vergardern [sic], also als unberechtigtes, den Frieden bedrohendes Zusammenschließen eingeschätzt. 6 Immerhin registrierte man ein wenig erleichtert in München, dass sich die Landsknechte nur auf frundsbergischem Gebiet aufhielten, also weder Schwabegg noch die Lechgrenze bedrohten. 7 Leidtragende waren nur frundsbergische Bauern, bei denen sich die Knechte Lebensmittel beschafften und in deren Höfen sie ›Kisten fegten‹. 8 Geschädigt war außerdem der Herr der Herrschaft, Georg II. von Frundsberg. Am Monatsende hatte man in München auch nähere Erkenntnisse über das Treffen, von dem der Münchner Schwabenreisende berichtet hatte. Seit etwa Mitte Mai 1578 hatten sich die Knechte in und um Krumbach versammelt und waren mit ihrem ehemaligen Obristen Georg von Frundsberg in Kontakt getreten. 4 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 26: Herzog Albrecht V. an Pfleger zu Landsberg, 28. Mai 1578. 5 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 21-27: Briefwechsel Graf Ludwig von Helfenstein, Pfleger zu Landsberg mit Albrecht V., 19.-26. Mai 1578. 6 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 23: Albrecht V. an Helfenstein, 21. Mai 1578. 7 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 28: Helfenstein an Albrecht V., 28. Mai 1578. 8 Kisten fegen ist landsknechtischer Sprachgebrauch: euphemistisch für Stehlen und Rauben. <?page no="134"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 135 Abb. 1: Freiherr Georg II. von Frundsberg, Herr zu Mindelheim, Straßberg-Sterzing und St. Petersberg (1533-1586). Porträtmedaille mit der Umschrift: Georg Baro a Freundtsperg D in Mindelhaim (Georg Freiherr von Freundtsperg Herr in Mindelheim). Dieser habe sich angeboten, wie Graf Helfenstein in Erfahrung brachte, mit ihnen erneut in die Niederlande zu ziehen und sich dort dafür einzusetzen, dass ihr ehemaliger Kriegsherr, König Philipp von Spanien, sie besolde und zufriedenstelle. Frundsberg habe nämlich ein weiteres spanisches Mandat, mehrere Fähnlein Landsknechte anzuwerben, sie in die Niederlande zu führen und sich dort dem Oberbefehl des königlichen Generalstatthalters Don Juan d’Austria zu unterstellen. Andererseits habe Frundsberg das Angebot der Grafen von Oettingen angenommen, dass er ihm mit 500 Reitern zu Hilfe käme. 9 9 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 28v: Helfenstein an Albrecht V., 28. Mai 1578. <?page no="135"?> R EINHAR D B AU MANN 136 Damit zog die zunächst rein frundsbergische Angelegenheit weite Kreise in Süddeutschland. Während von München aus herzogliche Pfleger, Richter und Kastner entlang der Lechgrenze - von Wemding bis Schongau, von Friedberg bis Hohenschwangau - zu erhöhter Wachsamkeit und ständiger Bereitschaft aufgerufen wurden, waren nicht nur die Grafen von Oettingen, sondern auch Herzog Ludwig von Württemberg 10 als Obrist des Schwäbischen Reichskreises und Graf Albrecht von Leonstein 11 als sein Locotenent aktiv geworden. Leonstein begab sich mit einer Reiterabteilung in die Herrschaft Mindelheim und traf beim Dorf Pfaffenhausen auf etwa 300 Landsknechte. 12 Mit ihnen verhandelte er erfolgreich, sodass sie schließlich zum Abzug bereit waren. Weitere Knechte in großer Zahl, einige Hundert, dagegen waren im Wald versteckt. Plötzlich waren Trommeln zu hören, Schüsse fielen und trafen einige frundsbergische Bauern, die sich auf den Wiesen vor dem Wald versammelt hatten. Daraufhin griff Leonstein mit seinen Reitern die Knechte an, die offensichtlich keine Langspieße hatten und die Flucht ergriffen. Etwa zwanzig von ihnen seien verwundet oder niedergemacht worden. Dieses Scharmützel bei Pfaffenhausen war jenes Treffen, von dem der Münchner Schwabenreisende berichtet hatte. Frundsberg selbst hoffte, dass die Sache damit ausgestanden sei. Sollte das wider Erwarten nicht so sein, so wollte er sich an Graf Helfenstein in Landsberg wenden und den bayerischen Herzog um Hilfe bitten. Graf Helfenstein hatte in Landsberg die Nachricht seines jungen Vetters Graf Ulrich von Helfenstein, der sich auf der Mindelburg aufhielt, erhalten, dass Frundsberg wohl noch im Juni einige Fähnlein Landsknechte in die Niederlande losschicken und dann selbst dorthin aufbrechen wolle. Dass damit Frundsberg nicht mehr in Schwaben sein würde, löste bei Helfenstein keine Befürchtungen aus, wohl aber, dass damit eine weitere Ansammlung von Kriegsvolk in Schwaben verbunden sein könnte. 13 An der bayerischen Lechgrenze blieb man den ganzen Sommer vorsichtig und wachsam. Der Herzog hatte ausdrücklich befohlen, keine frundsbergischen aufrührerischen Knechte nach Bayern hereinzulassen - weder als Haufen, noch als Rotten, 10 Herzog Ludwig von Württemberg (1554-1593), genannt der Fromme. Vgl. O TTO VON A LBERTI , Ludwig III, in: ADB 19 (1884), S. 597-598. 11 Graf Albrecht von Leonstein (auch Löwenstein) (1536-1597), württembergischer Söldnerunternehmer und Diplomat. Vgl. www. landesarchiv-bw.de/ web/ 59800 (aufgerufen am 12.5.2017). 12 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 30: Georg II. von Frundsberg an Helfenstein, 26. Mai 1578: Schilderung des Scharmützels bei Pfaffenhausen, in Kopie an Albrecht V. weitergeleitet. 13 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 28v: Helfenstein an Albrecht V., 28. Mai 1578. <?page no="136"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 137 noch einzeln. Baierische Untertanen sollten auf gar keinen Fall bedrückt oder bedrängt werden. 14 2. Institutionalisierte Interessenvertretung: der Ausschuss der Kriegsknechte in Nördlingen Mit dem Treffen bei Pfaffenhausen hatte die Sache keineswegs ihr Bewenden. Die Landsknechte verließen zwar die frundsbergische Herrschaft und gingen auseinander, gaben aber ihre Ansprüche und Forderungen nicht auf. Vielmehr: Sie organisierten sich dauerhaft und wählten eine ständige Vertretung, die sich Der Ausschuß von den sechs Fenndlin Kriegsknecht zu Bredaw nannte und in der Reichsstadt Nördlingen fest niederließ. 15 Warum gerade Nördlingen als Tagungsort gewählt wurde, ist nicht sicher erschließbar. Es gibt aber Hinweise, dass Georg von Frundsberg 1571 im Raum Nördlingen und Dinkelsbühl schwerpunktmäßig angeworben hatte und dass Ausschussmitglieder wohl aus diesen Städten stammten. Neben diesen waren aber auch andere Landsknechte der frundsbergischen Fähnlein mit dem Ausschuss nach Nördlingen gekommen oder hatten sich nach Etablierung des Ausschusses nach dorthin begeben. Ein unglückseliger Vorfall belastete den Aufenthalt und die Tätigkeit des Ausschusses in der Reichsstadt. Am Abend des 7. September 1578 kam es aus unbekannten Gründen zu einem Zusammenlaufen der sich in der Stadt aufhaltenden Landsknechte. Der Ratsschreiber weiß von einem Lermen. 16 Dabei sei ein Nördlinger niedergestochen worden und bald darauf gestorben. Man fand einen blutigen Dolch, der Täter war geständig und wurde gefangen gesetzt. Für den Inhaftierten setzte sich der Ausschuss beim Rat ein. Dieser ließ ihm mitteilen, dass er alle Knechte zu instruieren habe, dass sie sich in der Stadt friedlich und der Bürgerschaft gegenüber nicht schädlich verhalten müssten. Der Ausschuss sicherte das offensichtlich zu und verhandelte mit der Frau des Niedergestochenen, ob eine Einigung möglich sei. Den Rat bat er um Gnade und war mit 14 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 32-39: 4 Schreiben Herzog Albrechts V. an baierische Pfleger, Richter und Kastner an der baierischen Westgrenze, 30. Mai 1578. 15 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 43: Schreiben des Ausschusses an Georg II. von Frundsberg, 9. Dez. 1578. Mit ›Bredaw‹ ist die niederländische Stadt Breda gemeint, Einsatzort der frundsbergischen Knechte 1577. 16 StadtA Nördlingen, Ratsprotokolle (RP) 1578/ VIII-1580/ VII, fol 12r, 8. Sept. 1578. ›Lermen‹ bedeutet normalerweise ein Zusammenlaufen durch einen Alarm, kann aber auch die Bedeutung eines lauten Zusammenkommens, eines Auflaufs haben. <?page no="137"?> R EINHAR D B AU MANN 138 dieser Bitte schließlich erfolgreich. 17 Am 13. Oktober konnte man dem Rat anzeigen, dass man sich mit der Witwe gütlich vertragen habe und diese (wohl durch eine Geldentschädigung) nun nichts mehr gegen den Täter unternehmen wolle. Der Rat ließ dann Gnade walten, wahrscheinlich auch, um diesen Konflikt aus der Welt zu schaffen. 18 Am 9. Dezember 1578 schrieben die Mitglieder des Ausschusses einen Brief an den Freiherrn Georg von Frundsberg als dem ehemaligen Obristen der sechs Fähnlein. 19 Sie hatten wohl schon erfahren, dass er erneut ein spanisches Mandat für den Einsatz eines Landsknechtsregiments in den Niederlanden hatte und richteten deshalb ihren Brief bei schon erfolgtem Abritt des Adressaten an seinen Stellvertreter in Abwesenheit. Mit einem Boten schickten sie das Schreiben auf die Mindelburg. Die Herrin von Burg und Herrschaft Mindelheim, Freiin Barbara von Frundsberg, versetzte dieser Brief in Angst und Besorgnis. So wandte sie sich an Herzog Albrecht V. von Bayern, der den Brief und das Schreiben des Ausschusses über seinen Pfleger in Landsberg erhielt. 20 In ihrem Schreiben beriefen sich die Mitglieder des Ausschusses auf eine mündliche Zusage Frundsbergs und auf eine schriftliche Assecuration und Obligation, in der er zusicherte, allen in Breda vom spanischen Generalgubernator Don Juan d’Austria und von ihm selbst abgedankten Knechten den Rest ihrer ehrlich verdienten und noch ausstehenden Besoldung frey guettwillig zu erstatten. 21 Doch dies sei nicht eingehalten worden, der Termin sei vielmehr verstrichen. Auch ihnen sei nichts an einer Ausweitung der Sache gelegen. Doch seien sie in einer elenden Lage: Man behandle sie gleich ainem verachten hund, viele von ihnen seien verarmt und verschuldet, einige schon verstorben. Weil er, Frundsberg, ihnen schon mancherlei Zusagen gemacht und sie immer wieder vertröstet habe, müssten sie nun darauf bestehen, die Hälfte des Soldrests am kommenden Weihnachtsfest, die andere Hälfte ein Jahr später ausgezahlt zu bekommen. Sie wollten nur wissen, wo und durch wen sie bezahlt würden. Dies habe nun ohne Verschieben und Verlängern zu geschehen. Würden sie erneut vertröstet, so müssten sie nach Mitteln suchen, zu ihrem Geld zu kommen. Der Ausschuss erwarte seine Antwort. 17 StadtA Nördlingen, RP 1578/ VIII-1580/ VII, fol. 18v, 22. Sept. 1578. 18 StadtA Nördlingen, RP 1578/ VIII-1580/ VII, fol. 27v, 13. Okt. 1578. 19 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 43: Ausschuss an Georg von Frundsberg, 9. Dez. 1578. 20 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 47: Barbara von Frundsberg an Albrecht V., 16. Dez. 1578. 21 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 43: Ausschuss an Georg von Frundsberg, 9. Dez. 1578. <?page no="138"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 139 Für Frau Barbara auf der Mindelburg klang das sehr bedrohlich. 22 Sie befürchtete einen zweiten Einfall in die Herrschaft Mindelheim und wies alle Zuständigkeit für die Soldforderungen von sich. Der spanische Generalgubernator Don Juan d’Austria sei der richtige Ansprechpartner, doch der sei ja inzwischen verstorben. 23 Ihr Gemahl habe sich vor seinem Abritt mit dem vorgesehenen ordentlichen Rechtsweg einverstanden erklärt oder wollte sich mit den Knechten für eine Bezahlung durch den spanischen Kriegsherrn einsetzen. Das Schreiben des Ausschusses lasse befürchten, dass die Knechte nochmals in die Herrschaft Mindelheim einfallen und die Untertanen bedrücken wollten. Dabei müsse sie befürchten, dass die Knechte die Abwesenheit ihres Mannes ausnützten und hofften, dann leichter etwas zu erreichen. Als eine bedrückte Weibsperson wende sie sich an ihn, den Herzog von Bayern. Bei Herzog Ludwig I. von Württemberg als dem Obristen des Schwäbischen Reichskreises habe sie schon um Hilfe gebeten. Man müsse dem Ausschuss schreiben, dass seine Adresse der ehemalige Kriegsherr, also der spanische König, oder der nun amtierende spanische Gubernator in den Niederlanden sei, nicht der ehemalige Obrist, und dass von den Knechten keinesfalls gegen die Reichsordnung gehandelt werden dürfte. 24 Mitte Dezember hatte der landsbergische Pfleger Graf Schweikhart von Helfenstein auf dem Rückweg aus dem Württembergischen die Freiin von Frundsberg auf der Mindelburg besucht und sich von der besorgten und verängstigten Frau berichten lassen. 25 Dabei erfuhr er nicht nur Details, sondern auch von bedrohlichen Entwicklungen für das baierische Herzogtum. Der Ausschuss der sechs Fähnlein habe sich fest eingerichtet, 17 Beauftragte seien in Nördlingen beisammen. Die Forderungen der Knechte hätten sich allerdings im Land herumgesprochen, nun schlössen sich auch Knechte den frundsbergischen an, die gar nicht unter Frundsberg in den Niederlanden gedient hätten. Würde nun der Beschluss wahrgemacht, sich nach Weihnachten gewaltsam den ausstehenden Sold zu holen, so sei in Mittelschwaben mit bis zu tausend aufrührerischen Knechten zu rechnen. Herzog Albrecht V. von Bayern war beunruhigt, reagierte aber besonnen. Er ergriff keine direkten Maßnahmen, denn die Frundsberg hatten den Handel ja an den Schwäbischen Reichskreis übertragen, dort werde man gemäß den Reichsconstitutionen verfahren und Mittel und Wege finden, die frundsbergischen Knechte zur 22 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 47: Barbara von Frundsberg an Albrecht V., 16. Dez. 1578. 23 Don Juan d’Austria starb am 1. Oktober 1578 im spanischen Feldlager bei dem Dorf Bouges nahe Namur, wahrscheinlich an einer Lagerseuche. Vgl. M ARITA A. P ANZER , Don Juan de Austria, 1547-1578. Karriere eines Bastards, Regensburg 2004, S. 182. 24 Der Nachfolger Don Juans d’Austria als spanischer Generalstatthalter in den Niederlanden war Alexander Farnese (1578-1592). 25 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 49: Schweikhart von Helfenstein an Albrecht V., 18. Dez. 1578. <?page no="139"?> R EINHAR D B AU MANN 140 Ordnung zu rufen. 26 Die Pfleger, Richter und Kastner an der Westgrenze des Herzogtums wies er an, weiterhin wachsam zu sein. 27 Graf Helfenstein in Landsberg erhielt den Auftrag, die Frau von Frundsberg auf ihre Bitte hin mit ihrem wichtigsten Besitz im herzoglichen Schloss in Landsberg unterzubringen, wenn tatsächlich Gefahr durch die Knechte bestehen sollte. 28 Der Schwäbische Reichskreis handelte nun. Herzog Ludwig von Württemberg informierte die Frau von Frundsberg, dass dem Ausschuss, der inzwischen auch in der Reichsstadt Dinkelsbühl tagte, durch den Kreis schriftlich und mündlich die Festlegungen eines kaiserlichen Dekretes mitgeteilt worden seien. 29 Danach verstießen sie sowohl gegen den kaiserlichen Landfrieden als auch gegen die schwäbische Kreisverfassung. Möglicherweise betroffene Stände des Kreises seien in Kenntnis gesetzt und zu erhöhter Wachsamkeit aufgerufen. 30 Es handelte sich um Stände, aus deren Gebiet jeweils mehrere frundsbergische Knechte stammten, so das Hochstift Augsburg, die Reichsstädte Augsburg, Ulm, Esslingen, die Markgrafschaft Baden und die Grafen von Oettingen, Fürstenberg und Zollern. Weitere Schreiben gingen an Nördlingen und Dinkelsbühl. 31 Bürgermeister und Rat der beiden Reichsstädte wurden darin aufgefordert, das Tagen des Ausschusses innerhalb ihrer Mauern nicht mehr zu dulden, da daraus gefährliche Unruhen im Schwäbischen Kreis entstehen könnten. Die Ausschussmitglieder seien auf Landfrieden und Kreisverfassung zu verweisen, außerdem sollten sie sich an den neuen spanischen Gubernator, Alexander Farnese, Herzog von Parma (1545-1592) wenden. Ihr ehemaliger Obrist in den Niederlanden, Georg von Frundsberg, werde ihnen dabei behilflich sein. Ein Schreiben mit ähnlichem Inhalt erreichte den Ausschuss aus Mindelheim. 32 Darin findet sich zudem der ausdrückliche Hinweis der frundsbergischen Amtsleute, sie wüssten nichts davon, dass ihr Herr, der sich wieder in spanischen Diensten in den Niederlanden befinde, versprochen habe, ihnen 26 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 45: Albrecht V. an Helfenstein, 18. Dez. 1578. 27 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 51: Albrecht V. an Pfleger zu Aichach, Rain, Schongau und Weilheim und an Richter zu Friedberg und Schongau, 18. Dez. 1578. 28 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 52: Albrecht V. an Helfenstein, 26. Dez. 1578. 29 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 58: Ludwig von Württemberg an Barbara von Frundsberg, 17. Dez. 1578. 30 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 60: Ludwig von Württemberg an nachfolgend genannte Kreisstände, 15. Dez. 1578. 31 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 62: Ludwig von Württemberg an Nördlingen und Dinkelsbühl, 15. Dez. 1578. 32 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 65: frundsbergische Amtsleute an den Ausschuss in Nördlingen, 21. Dez. 1578. <?page no="140"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 141 ihre ausstehende Besoldung aus eigener Tasche zu bezahlen. Dafür gebe es auch keinen Grund. Wut und Enttäuschung der Knechte waren groß. Die Frau von Frundsberg (und durch sie auch der Herzog von Bayern) erfuhr das von Conrad von Bemelberg. Der schwäbische Adelige war der Sohn ›des kleinen Hessen‹, der dem berühmten Großvater des Freiherrn von Frundsberg auf dem Romzug 1526/ 27 als Locotenent gedient hatte und seither ein treuer Freund der Familie Frundsberg gewesen war. 33 Für ihn hatte sich ein gewisser Berlin in Nördlingen umgehört und in Erfahrung gebracht, dass viele ehemalige Knechte dort an Weihnachten 1578 zusammenströmten, um dann in gemainem hauffen ihren Restsold einzufordern. 34 Der Nördlinger Rat, ohnehin beunruhigt durch die ständige Anwesenheit der Kriegsknechte in der Stadt und im Wissen um die Erwartungen des Schwäbischen Reichskreises, traf am 20. Dezember eine Entscheidung. 35 Er verbot dem Ausschuss der fronspergischen unbezalten knecht jegliche Conventualia in der Stadt. Daraufhin hätten die Knechte Nördlingen verlassen, berichtete Berlin. Wo sie sich nun aufhielten, sei unbekannt. Wirte hätten allerdings erzählt, die Landsknechte wollten auf Weihnachten auf Heller und Pfennig wie versprochen bezahlt sein, oder es müess ein annders daraus werden. 36 Möglicherweise war das eine Gewaltandrohung. Wahrscheinlich aber war ein bisher nicht eingeschlagener Weg gemeint, den die Knechte nun gehen wollten. Tatsächlich wandten sie sich ans Reichskammergericht. 3. Die Kontrahenten in Schwaben Zwei Kontrahenten waren da 1578 in Schwaben entstanden: Da waren die Vertreter der althergebrachten Ordnung, die argwöhnisch jegliche Unruhe als Angriff auf diese Ordnung betrachteten und dagegen vorgingen. Sie verkörperten die Obrigkeit: in der schwäbischen Herrschaft Mindelheim Freiherr Georg II. von Frundsberg, seine Gemahlin, die Freiin Barbara, die frundsbergischen Amtsleute in Vertretung ihres Herrn. Im schwäbischen Raum waren die dortigen Reichsstände die Obrigkeit: die adeligen Herren, die Reichsäbte und Bischöfe, der von Augsburg 33 Zu Conrad von Bemelberg, dem Locotenenten (Stellvertreter) Georgs I. von Frundsberg vgl. W ALDEMAR K ÜTHER , Konrad von Bemelberg. Ein Soldatenleben (Schelklinger Hefte 19), Schelklingen 1994. 34 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 64: Georg Berlin an Conrad von Bemelberg, 18. Dez. 1578. 35 StadtA Nördlingen RP 1578/ VIII-1580/ VII, fol. 57v-58r: Versammlungsverbot für den Ausschuss durch den Nördlinger Rat, 20. Dez. 1578. (Dass Dinkelsbühl ähnlich entschied, wird angenommen.) 36 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 64: G. Berlin an C. von Bemelberg, 18. Dez. 1578. <?page no="141"?> R EINHAR D B AU MANN 142 vor allem, die Reichsstädte und der Herzog von Württemberg als der Oberste des Schwäbischen Reichskreises. Dieser Obrigkeit standen die frundsbergischen Landsknechte gegenüber. Aus Sicht der Obrigkeit waren sie Aufrührer, die sich ohne Berechtigung und gegen Landfrieden und Kreisverfassung zusamen gerott vnd vergadert hatten. 37 Die Frau von Frundsberg sah in ihnen nur Unruhestifter und Meuterer. Die Knechte hingegen verstanden sich als ehrliche Kriegsknechte, mit denen man schändlich umging: wir arme Kriegsleut oder wir arme Knecht ist die Bezeichnung, die der Ausschuss in seinem Brief mehrfach als Eigenbezeichnung verwendet. 38 Dieser Konflikt ist besonders dadurch geprägt, dass kein Vertreter der Obrigkeit den Kern des Konflikts - nämlich den berechtigten Anspruch der Knechte auf vollständige Besoldung - bezweifelt. Man gesteht ihnen allerdings nicht zu, Forderungen an ihren Obristen Georg II. von Frundsberg zu stellen und schon gar nicht, sich zu versammeln, um mit Druck und Drohung ihre Bezahlung zu erreichen. Jegliche Form der Organisation wird argwöhnisch beobachtet. Dabei waren die Knechte in erprobten und anerkannten Formen des Landsknechtwesens organisiert. In ihrer Dienstzeit hatten sie verschiedene Formen der Mitsprache und Selbstverwaltung kennengelernt und erlernt: Sie hatten in Gerichtsprozessen mitgewirkt, ihre Vertreter gewählt, über diese Vertreter bei sie betreffenden Entscheidungen der Obrigkeit, also ihres Obristen, mitgewirkt oder zumindest auf sie einzuwirken versucht. Ihre gewählten Vertreter waren die Gemeinwaibel, die Führer und Furiere. Für besondere Konflikte mit der Obrigkeit gab es die ›Amissaten‹ oder ›Ringfertigten‹ (die aus dem Ring, aus der Versammlung der Landsknechtsgemeinde Abgesandten), wohl großteils identisch mit den monatlich gewählten Vertretern. 39 Blieben diese Amissaten über einige Zeit die Vertreter der Landsknechte eines Regiments, waren sie ein Ausschuss. Die Mitglieder eines Ausschusses nahmen die Interessen des gemeinen Haufens, also aller Knechte des Haufens bzw. Regiments wahr. Der Ausschuss der sechs frundsbergischen Fähnlein von 1578 wurde von der Obrigkeit durchaus als Verhandlungspartner anerkannt. Man versuchte zwar, ihn durch die Hinweise auf Landfrieden und Kreisverfassung einzuengen und ihm durch die Versammlungsverbote der Reichsstädte Nördlingen und Dinkelsbühl 37 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 28: Helfenstein an Albrecht V., 28. Mai 1578. Ähnliche Formulierungen in der Korrespondenz der Obrigkeit, die frundsbergischen Landsknechte betreffend, finden sich mehrfach. 38 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 43: Ausschuss an Frundsberg, 9. Dez. 1578. 39 Der Begriff ›Ringfertigte‹ für Abgesandte aus dem Ring (Vollversammlung der Landsknechte) wird von Georg I. von Frundsberg gebraucht, z. B. in einem Brief an kaiserliche Kommissäre, 28.11.1526; vgl. die Quellenedition Zug nach Rom, Karl V. und seine Helden, in: Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst 3 (1812), S. 425-456, hier 426. <?page no="142"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 143 sein Dasein zu erschweren, doch wird die Berechtigung seiner Existenz nicht in Abrede gestellt. Man verhandelte mit ihm, die frundsbergischen Amtleute bezeichneten sie in der Anrede ihres Schreibens sogar als Liebe Kriegsleutt. 40 Dies war eine Anrede, wie sie von Landsknechtobristen bei Reden vor ihrem Regiment durchaus formelhaft, aber ehrend und respektvoll üblicherweise verwendet wurde. 4. In den Niederlanden: Unbesoldet von der Fahne gelaufen Die Ursache des Konflikts - der geleistete Solddienst und die unvollständige Besoldung - hatte mit Schwaben nichts zu tun. Sie lag außerhalb, in den fernen Niederlanden. Sie hatte eigentlich auch mit dem Reich nichts zu tun, denn Sold- und Kriegsherr war König Philipp II. von Spanien, in den Niederlanden vertreten durch seinen Generalgubernator. Bis 1551 hatte es einen kaiserlichen Statthalter bzw. eine Statthalterin gegeben (Maria, die Schwester Kaiser Karls V.), dann wurden die Niederlande an die spanische Krone und damit an Karls V. Sohn Philipp übergeben. Auf Maria (1505-1558) als Generalgubernatorin folgte 1559 Margarethe von Parma (1522-1586), die uneheliche Tochter Karls V. Der breiten reformatorischen Bewegung gegenüber war sie kompromissbereit, im Vorgehen gegen radikale Bilderstürmer fand sie Unterstützung des gemäßigt-reformatorischen niederländischen Hochadels. Philipp II. allerdings wollte keine Zugeständnisse. So schickte er den ›eisernen‹ Herzog Alba (1507-1582) mit einer Armee als Generalgubernator (1567-1573). Seine Mittel waren Waffengewalt, verschärfte Inquisition und Blutgericht. 41 Albas Armee bestand aus landfremden Söldnern, vor allem aus spanischen und deutschen Regimentern. Bereits 1571, dann nochmals im Juni 1572 liefen groß angelegte Werbungen in Oberitalien und Süddeutschland. Damals erhielt auch der schwäbische Freiherr Georg II. von Frundsberg sein erstes spanisches Werbe- und Regimentspatent für den Krieg in den Niederlanden. 42 40 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 797/ fasz. 2, fol. 65: frundsbergische Amtsleute an den Ausschuss, 21. Dez. 1578 41 Zur spanischen Herrschaft in den Niederlanden vgl. G EOFFREY P ARKER , Imprudent King. A New Life of Philip II., New Haven-London 2014, S. 228-246; H ORST L ADE - MACHER , Die Niederlande. Politische Kultur zwischen Individualität und Anpassung, Berlin 1993, S. 152-131; D ERS ., Geschichte der Niederlande, Darmstadt 1983, S. 70-73; M ICHAEL N ORTH , Geschichte der Niederlande, 2. Aufl. München 2003, S. 28-32. 42 F RIEDRICH E DELMAYER , Söldner und Pensionäre. Das Netzwerk Philipps II. im Heiligen Römischen Reich (Studien zur Geschichte und Kultur der iberischen und iberoamerikanischen Länder 7), Wien-München 2002, S. 249. Vgl. auch D AVID P ARROTT , The Business of War. Military Enterprise and Military Revolution in Early Modern Europe, Cambridge 2012, S. 89-93. <?page no="143"?> R EINHAR D B AU MANN 144 Seit 1572 waren also frundsbergische Fähnlein in den Niederlanden im Einsatz und gehörten zu jenen Fußvolkregimentern, mit denen Alba die Niederländer Gehorsam gegenüber Spanien lehren und das Land befrieden wollte. Die Rigorosität, mit der er vorging, trug allerdings nicht zur Befriedung bei, sondern verschärfte die Situation. Spanische Truppeneinquartierungen verbitterten auch gemäßigte Teile der Bevölkerung. Die niederländischen Stände, die sog. Generalstaaten, wollten den Konflikt entschärfen und suchten den Ausgleich mit Spanien. Ihre Chancen erhöhten sich, als der Herzog von Alba 1573 durch Don Luis de Requeséns (1526-1576), einen Jugendfreund Philipps II., ersetzt wurde. Doch 1575 kam der spanische Kriegsherr in immer größere Geldnöte. Die gesamte Armee war praktisch ohne Sold. Als Requeséns im März 1576 an einem Fieber erkrankte und wenige Tage später starb, stand es übel um die spanische Herrschaft in den Niederlanden. Der spanische Soldherr war bankrott, vielfach streikten die Kriegsknechte. 43 Sie besetzten mehrere Städte, auch die Zitadelle von Antwerpen. 44 In der Stadt Antwerpen streikte und meuterte das spanische Kriegsvolk im August 1576. Am spanischen Hof wusste man um die höchst gefährliche Situation. Vom Fuggerfaktor Thomas Müller wurde verlangt, er solle 200.000 Kronen in die Niederlande schicken, sonst seien diese für Spanien verloren. 45 Das Haus Fugger trage dann daran große Schuld. Der Faktor tat unter höchsten Bedenken wie ihm geheißen, konnte allerdings Ausschreitungen in der Stadt nicht mehr verhindern. Der spanische Obrist Alvarez Juan Giron besetzte das Antwerpener Fuggerhaus und erpresste 11.000 Kronen, weitere 2.000 wurden von Kriegsknechten geraubt. Dann kam auch noch der Obrist Carl Fugger (1543-1580), der mit seinem im Augsburger Raum angeworbenen Regiment seit 1573 in den Niederlanden eingesetzt war. Er forderte 50.000 Kronen, um die Ansprüche seines Fußvolks zu befriedigen, sonst könne er die Befehlsgewalt nicht mehr aufrechterhalten. Er müsse 43 Zu den drei sog. Staatsbankrotten (1557, 1560, 1575) vgl. E RICH H ASSINGER , Das Werden des neuzeitlichen Europa, 1300-1600, 2. Aufl. Braunschweig 1964, S. 283; F ERDI - NAND K RAMER , Philipp II. (1556-1598), in: W ALTHER L. B ERNECKER / C ARLOS C OLLADO S EIDEL / P AUL H OSER (Hg.), Die spanischen Könige. 18 historische Porträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1997, S. 61-78, hier 74f. 44 P ETER P IERSON , Philipp II. Vom Scheitern der Macht, Graz 1985, S. 57. 45 Thomas Müller (auch Miller) ist seit 1548 in Diensten der Fugger nachgewiesen, seit 1558 Hauptfaktor in Madrid, gestorben 1582. Vgl. H ERMANN K ELLENBENZ / R ALF W AL - TER (Hg.), Oberdeutsche Kaufleute in Sevilla und Cadiz (1525-1560). Eine Edition von Notariatsakten aus den dortigen Archiven (Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit XXI), Stuttgart 2001, S. 49-51. <?page no="144"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 145 dann das Fuggerhaus zum Plündern freigeben. Mitgliedern des Staatsrates gelang es dann, ihn etwas zu besänftigen. 46 Juan d’Austria, der uneheliche Sohn des ›niederländischen‹ Kaisers Karl V. und der Regensburgerin Barbara Blomberg, wurde schließlich von seinem Halbbruder Philipp II. beauftragt, die spanische Herrschaft wieder zu festigen und die Niederlande dem spanischen Weltreich zu erhalten. (Abb. 2) Im September 1576 kam der neue Generalgubernator und ruhmreiche Sieger von Lepanto in den Niederlanden an. 47 Damals lagen sechs frundsbergische Fähnlein in Valenciennes und Tournai (niederländisch Doornik), das siebte Fähnlein des Regiments war in der kleinen Stadt Diest (zwischen Maastricht und Brüssel) einquartiert. 48 Dem Regiment wurde, da der spanische Sold ausblieb, vom Generalgubernator genehmigt, sich fähnleinweise in Städtchen, Dörfer und Flecken einzuquartieren, um sich zu verpflegen. Die Einquartierungsorte waren den Knechten dabei als Unterpfand gegeben, bis sie vom spanischen König bezahlt wären. Das Fähnlein zu Diest geriet allerdings in die Hände überlegener Truppen der Generalstaaten. Der Hauptmann wurde gefangen nach Brüssel gebracht, die Knechte hingegen schickten die niederländischen Anführer aus Diest weg und über die Maas. Die solchermaßen von den Generalstaaten (aber nicht von ihrem Kriegsherrn und ihrem Obristen) entlassenen Knechte machten sich einschließlich ihrer Befehlsleute auf den Heimweg. Gegen alle Zusagen und Versprechen der Brüsseler niederländischen Räte wurden dann wenig später auch die anderen sechs Fähnlein zu Tournai und Valenciennes des Landes verwiesen. Auch dieser Anweisung scheinen zahlreiche Knechte und Befehlsleute nachgekommen zu sein. Dies alles schätzte jedoch Frundsberg als gegen ehr vnnd ayd ein. Er hatte zwar viel Verständnis für den Unmut seiner nun im fünften Jahr teils nicht ordentlich, teils gar nicht bezahlten Knechte, hatte ja auch durch die Übergabe der Einquartierungsorte als Unterpfand den schlimmsten Versorgungsmängeln abzuhelfen versucht. Ohne königlichen Befehl könne aber kein ehrlicher Kriegsmann von seinem Regiment und Obristen ziehen. So erging mit den in mehreren Exemplaren ausgesandten Patenten an alle Haupt- und Befehlsleute der sieben Fähnlein der Befehl, bej verlierung Irer ehr, laib, hab vnd guet zum Regimentsstab nach Antwerpen zu kommen, die gemeinen Knechte hingegen sollten sich auf den ihnen in den beglaubigten Patenten angewiesenen blatz (Versammlungs- und Musterort) verfügen. 46 Zu den Ereignissen in der Antwerpener Fuggerniederlassung vgl. R ICHARD E HRENBERG , Das Zeitalter der Fugger - Geldkapital und Kreditverkehr im 16. Jahrhundert, 1. Bd.: Die Geldmächte des 16. Jahrhunderts, Jena 1922 (Nachdruck Hildesheim u. a. 1990), S. 180f. 47 Zu Don Juan d’Austria vgl. C HARLES P ETRIE , Don Juan d’Austria, Stuttgart u. a. 1968; M. P ANZER , Don Juan de Austria (Anm. 23). 48 Zu den Ereignissen im frundsbergischen Regiment im Herbst 1576 vgl. StadtA Nördlingen, R 29, F 7, Nr. 55: frundsbergisches Patent 1576 (ohne Paginierung). <?page no="145"?> R EINHAR D B AU MANN 146 Abb. 2: Don Juan d’Austria (1547-1578), Sieger von Lepanto, als spanischer Generalstatthalter der Niederlande (zeitgenössischer Kupferstich). <?page no="146"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 147 Jeder Knecht habe sich dort bei den vom Obristen Verordneten zu melden und dann sein fendlein widerumb richten helffen. Zusätzlich würden vom Obristen Kommissäre geschickt. An Harnisch und an Wehren werde es nicht mangeln (man ging offensichtlich davon aus, dass die Knechte auf dem Heimweg schon Rüstungen und Waffen verkauft hatten). Wer auf dieses Mandat hin nicht erscheine, dem werde noch eine letzte Frist am 12. Januar 1577 eingeräumt. Dann müsse er vor Regimentsschultheiß und Feldgericht erscheinen und dort sein Ausbleiben erklären. Wer allerdings gar nicht zurückkomme, über den urteile das Regimentsgericht und dieses Urteil werde öffentlich bekannt gemacht. Welche Folgen das habe, könne wohl jeder Knecht ermessen. Das Patent sollte allenhalben (wohl in Städten und Dörfern jenseits der Schelde, im Luxemburgischen und eben auch in den Hauptanwerbegebieten in Schwaben) angeschlagen, die Botschaft unter Trommelschlag bekannt gegeben werden. Ob diese Maßnahmen schließlich wirksam waren, ist nicht bekannt. Frundsberg hoffte, damit seine sieben Fähnlein wieder mit genügend Knechten zur Verfügung zu haben. Er hoffte aber noch mehr, dass die Fähnlein wieder ehrlich aufgerichtet werden könnten. Denn da so viele Knechte von den Fahnen gelaufen waren, waren die Fähnlein nach dem Verständnis damaliger Kriegsleute entehrt. Die Rückkehr möglichst vieler Knechte wäre die Voraussetzung gewesen, dass die Fähnlein (wohl durch Feldgericht, Schultheiß und Obrist) wieder ehrlich gemacht werden konnten. 5. Korrektes, hartes Verhandeln oder Meuterei? Dies war nach all den Besoldungsschwierigkeiten in den letzten fünf Jahren eine erste Katastrophe für das Regiment Frundsberg bei diesem Einsatz in den Niederlanden. Es war allerdings eine kleine Katastrophe. Die große folgte im Sommer 1577. Damals lagen drei unbesoldete frundsbergische Fähnlein in Antwerpen, zusammen mit einem ebenfalls nicht besoldeten Fähnlein des Obristen Carl Fugger. Drei weitere Fähnlein Frundsbergs verteidigten die Stadt Breda und das dortige Kastell gegen Truppen der niederländischen Stände unter Graf Philipp von Hohenlohe. 49 Ein siebtes Fähnlein wird nun nicht mehr erwähnt - vielleicht deshalb, weil nicht mehr alle Knechte zu ihrem Regiment zurückgekommen und nun für ein siebtes Fähnlein nicht mehr ausreichend Knechte vorhanden waren. 49 Graf Philipp von Hohenlohe (1750-1606) trat 1575 als erster aus dem deutschen Hochadel in niederländische Dienste und wurde von Wilhelm von Oranien mit der Verteidigung der Südgrenze betraut. Vgl. P IETER L ODEWIJK M ULLER , Hohenlohe, Philipp, Graf von, in: ADB 12 (1880), S. 693f. <?page no="147"?> R EINHAR D B AU MANN 148 Im Juli 1577 eskalierte die Lage. Während Don Juan und die spanischen Kriegskommissäre in Mecheln mit Vertretern der Generalstaaten auf der Grundlage der Genter Pazifikation, dem gegenseitigen Hilfsvertrag zwischen Holland, Zeeland und den südlichen Provinzen vom 8.11.1576 zur Vertreibung der spanischen Truppen aus dem Land, verhandelten, wurde der Unmut der deutschen Knechte immer größer. 50 Die Vertreter der 17 niederländischen Provinzen forderten den Abzug aller spanischen Soldtruppen. Don Juan war bereit, diese Forderung zu erfüllen, doch mussten sie erst besoldet werden. Da er von König Philipp kein Geld bekam, lieh er es sich von Papst Gregor XIII. Weil dies bei Weitem nicht reichte, übernahmen die Generalstaaten einen Teil der ausstehenden Besoldung, um das Land von den Besatzungstruppen zu befreien. 51 Über die nun folgenden Ereignisse und Entwicklungen in Antwerpen und Breda gehen die Darstellungen und Einschätzungen weit auseinander. Die frundsbergischen Knechte und ihr Obrist bzw. deren jeweilige Vertreter vor dem Reichskammergericht, erzählten später zwei ziemlich unterschiedliche Versionen. 5.1 Die Sicht der Knechte Nach Darstellung der Knechte wurden die Fähnlein in Breda von Truppen der niederländischen Stände unter Hohenlohes Befehl belagert. 52 Am 2. August zog Georg von Frundsberg mit den drei Antwerpener Fähnlein in Breda ein. Während die Belagerung andauerte, erließ der Generalgubernator Juan d’Austria den Knechten Pflicht und Dienst und verwies sie wegen ihrer Bezahlung an die niederländischen Stände. Mit Hohenlohe einigten sie sich nun darauf, einerseits von den Generalständen drei Monate Sold bezahlt zu bekommen, andererseits Breda zu räumen und ihren Obristen Frundsberg zurückzulassen. Dem stimmte Frundsberg zu. Nun fehlte allerdings noch ein erheblicher Teil der Besoldung, deren Auszahlung der spanische König schuldig war. Diese wollten die Knechte bei Juan d’Austria und damit bei Philipp II. durch eine Delegation einfordern. Hohenlohe hatte ihnen auch schon freies Geleit zugesichert. Da erklärte sich Frundsberg freiwillig bereit, ihnen für ihre Besoldung einzustehen und in Schwaben an bestimmten Terminen auszuzahlen. Sie allerdings antworteten ihm, er möge sie mit Versprechungen verschonen, die er nicht halten könne, er solle lieber bei ihrem Kriegsherrn ihre Besoldung einfordern, denn dies sei er ihnen durch sein Obristenamt schuldig. Frundsberg beschied sie daraufhin, wie er für ihre Besoldung sorgen 50 P. P IERSON , Philipp II. (Anm. 44), S. 184. 51 C. P ETRIE , Don Juan (Anm. 47), S. 218. 52 Die Darstellung folgt dem Libellus Articulatus des Ausschusses der sechs Fähnlein zu Breda, der am 24. März 1580 dem Reichskammergericht vorgelegt wurde. Vgl. BayHStA, RKG 3547 (ohne Paginierung, Artikel nummeriert). <?page no="148"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 149 werde, sollten sie ihm überlassen und fragte, ob er ihnen denn zur Bezahlung nicht gut genug wäre. Darauf nahmen sie sein Angebot an. Abb. 3: Landsknecht Claus Wintergrün, mit Muskete, begleitet von seinem Sohn Heintz, 1568. Frundsberg verschrieb sich nun - aus freiem Willen, wie die Knechte betonten - für sich und seine Erben den Knechten zur Begleichung der Schuld auf Grundlage der Restzettel, die erste Hälfte an Pfingsten 1578, die zweite an Pfingsten 1579. Die Verschreibung ließ er in sechs Ausfertigungen anlegen und sie jedem Fähnlein zustellen, sie wurden von ihm und von seinen Hauptleuten mit eigener Hand unterschrieben, sie wurden petschiert und von einem Anwalt als rechtlich korrekt bestätigt. In der Verschreibung ist die Bezahlung auf jeglichen Besitz Frundsbergs zugesichert, erfolgt sie nicht, soll den Knechten erlaubt sein, allenthalben darumb <?page no="149"?> R EINHAR D B AU MANN 150 anzugreiffen, zu verganten, zu versetzen und zu verkauffen, so lange, bis jeder vollständig bezahlt ist. 53 Auf diese Abmachungen hin zogen die Fähnlein aus Breda ab mit der Erwartung, drei Monatssolde an einem vereinbarten Ort von den Generalständen ausgezahlt zu bekommen. Ihren Obristen ließen sie zurück, er begab sich in die Gefangenschaft Hohenlohes und der Generalstände. Die Knechte bezogen beim Dorf Hilvarenbeek, in dem die Regimentsführung mit dem Locotenenten lag, ein Lager. Etwa drei Wochen später wurden die Restzettel ausgestellt. Dort erreichte das Regiment dann auch die Nachricht Frundsbergs, dass er von den Generalstaaten freigelassen würde, wenn seine Knechte auf einen der drei Monatssolde verzichteten. Damit waren die Knechte einverstanden, Frundsberg kehrte daraufhin zum Haufen zurück. Zehn Wochen nach dem Abzug aus Breda zahlten dann die Generalstaaten tatsächlich zwei Monate Sold aus, diese Summe ist auch auf den Restzetteln von der Gesamtschuld abgezogen. Den dritten Monat Sold erwarteten die Knechte nun von Frundsberg zu bekommen, denn nach altem Kriegsbrauch müsse derjenige, der aus Feindts henden mit Geld gelöst worden sei, dem Geldgeber das Lösegeld wieder erstatten. 54 Solange er aber das Geld nicht erstattet habe, sei er den Geldgebern mit seinem Leib verhafft. 55 Nun wurden den Knechten ihre Passporten ausgehändigt, man sicherte ihnen nochmals die Auszahlung ihres Restsolds zu und schließlich dankte Frundsberg sie durch seinen Locotenenten Hans Jacob von Castell ab. 56 Dabei versicherte Castell in seiner Abdankungsrede noch einmal, dass der Obrist seine Zusagen einhalten werde. Als nun aber die Knechte ein Jahr später in Mindelheim ihre Restzettel einlösen wollten, wurden sie von frundsbergischen, wohlgerüsteten Reitern und Bauern überfallen, niedergeschossen und -gestochen, ein besonders schändliches Vorgehen, da sie ihren Angaben zufolge damals weder bereits frundsbergisches Gebiet erreicht hätten noch ausreichend bewaffnet gewesen seien, sondern, wie auf Reisen üblich, lediglich mit der Seitenwehr versehen. 57 53 BayHStA, RKG 3547: Libellus Articulatus des Ausschusses, Artikel 17. 54 BayHStA, RKG 3547: Libellus Articulatus des Ausschusses, Artikel 23. 55 BayHStA, RKG 3547: Libellus Articulatus des Ausschusses, Artikel 24. 56 Passporten sind die (meist sehr einfachen und aus einem Zettel bestehenden) Entlassungspapiere der Kriegsknechte. 57 BayHStA, RKG 3547: Libellus Articulatus des Ausschusses, Artikel 40-42. <?page no="150"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 151 5.2 Die Sicht des Obristen Dieser Darstellung setzte der frundsbergische Anwalt eine ganz andere Sicht der Dinge entgegen: 58 Auch er bestätigte, dass es 1577 bei den Regimentern deutschen und spanischen Kriegsvolks Besoldungsmängel gegeben habe. Im Juni 1577 wurden deshalb die kaiserlichen Kriegskommissäre in den Niederlanden, Philipp I. von Winnenburg-Beilstein und Andreas Gail, in Mecheln vorstellig und verhandelten mit Don Juan d’Austria und niederländischen Ständevertretern. 59 Weil dabei aber nichts Endgültiges erreicht wurde, schrieben sie an die Gemein der Kriegsleute der vier Fähnlein unter frundsbergischem und fuggerischem Befehl in Antwerpen und rieten ihr, sich nach Brüssel an die Generalstaaten zu wenden, um dort ihre Besoldung zu erlangen. In dem Brief ermahnten sie auch die Gemein wollmaynenden gemüts, sich bei den Verhandlungen fridsamblich, still vnd In gepürender Kriegszucht zu verhallten, damit ihre Sache nicht Schaden nehme. 60 Am 8. Juli antwortete Don Juan auf die Bittschrift der Knechte hin aus Mecheln, ein weiteres Schreiben wurde am 20. Juli aus Namur abgeschickt. In beiden Briefen versicherte er den Knechten, sich um ihre Besoldung zu bemühen, ermahnte sie aber auch friedlich abzuwarten. Er äußerte sich dann verärgert darüber, dass sie gantz empörig vnd mit solcher vnbefugter vngestimmigkhait sich gegen ihre Obristen verhalten hätten, daß bey euch [ = den Knechten, Anm. R. B.] wenig Folge, noch gehorsamb zue spüren. Als ihr vorgesetzter Obrist Feldhauptmann sei er darüber höchst befremdet, es gebe keinen Grund zu solcher Empörung. Er forderte sie auf, alle Unruhen zu unterlassen, Dienst und Wacht wie sich gebürt ohn einigen Rumor zu versehen und den Obristen und Befehlsleuten gehorsam zu sein. 61 Auch die kaiserlichen Kommissäre Philipp von Winnenburg, Andreas Gail, Niclaus von Werstenstadt und Werner von Gymnich waren äußerst beunruhigt, als sie ein Brief der Landsknechtgemein zu Antwerpen vom 20. Juli erreichte, aus dem sie erfuhren, dass die Knechte sich im Konflikt mit ihren Obristen Georg von Frundsberg und Carl Fugger befanden, Frundsberg in seiner Herberge überfallen 58 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos …: Anwalt des Georg von Frundsberg contra Ausschuss, 20. April 1581. 59 Philipp I. von Winnenburg (auch Winnenberg) und Beilstein (um 1525-1583), Reichshofratspräsident 1563-1576; vgl. O SWALD VON G SCHLIESSER , Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559- 1806, Wien 1942 (Reprint Nendeln/ Liechtenstein 1970), S. 97, 110, 114. Andreas Gail (1526-1587), kurkölnischer Kanzler, Richter am Reichskammergericht, Mitglied des Reichshofrats; vgl. L EONHARD E NNEN / R ODERICH VON S TINTZING , Gail, Andreas von, in: ADB 8 (1878), S. 307-311. 60 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artikel 7. 61 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artikel 12-14. <?page no="151"?> R EINHAR D B AU MANN 152 und heftige Reden gegen ihn geführt hatten. 62 Die Kommissäre rieten daraufhin der Gemein dringlich davon ab, weiter tätliche Handlungen gegen ihre Obristen Frundsberg und Fugger zu unternehmen. Diese hätten sich redlich und aufrichtig um die Bezahlung ihres Kriegsvolks bei Don Juan und den Generalstaaten bemüht und dabei kein Blatt furs maull genohmmen. 63 Am 21. Juli hielt Don Juan abermals von Namur aus die Knechte zur Ruhe an und forderte sie auf, ihrer vorgesetzten Obrigkeit gehorsam zu sein. Auch bei den drei in Breda liegenden Fähnlein unter dem frundsbergischen Locotenenten Hans Jacob von Castell und den Hauptleuten Wolf Heinrich vom Stain und Georg Höfler war nun Meuterei ausgebrochen. Die Knechte hatten ihre Haupt- und Befehlsleute unter freiem Himmel gefangen gesetzt und sie auch bei Regen schutzlos gelassen. Am 2. August kamen dann die drei anderen Fähnlein des Regiments mit dem Obristen aus Antwerpen nach Breda. Frundsberg sicherte der Gemein zu, wenn sie nach seinem und der Hauptleute Rat handeln wolle, so werde er Leib und Leben für sie einsetzen, bis sie ihre verdiente Bezahlung erhalten habe. 64 Am 12. September kam frühmorgens ein Bote Don Juans an mit zwei Briefen an den Obristen. Knechte am Tor nahmen sie ihm ab, und der Ausschuss erklärte dem Obristen nachmittags, er übergebe die Briefe nur, wenn sie im Beisein der Ausschussmitglieder geöffnet und vorgelesen würden. Frundsberg wies sie darauf hin, dass Briefe des Obrist Feldhauptmanns an seinen Obristen nicht Knechten eröffnet werden könnten, da ja möglicherweise der Inhalt geheim sei. Dabei erinnerte er sie an ihre Pflicht gegenüber dem König von Spanien und an den Eid, den sie diesem geschworen hätten. Sollten die Schreiben nicht geheim sein und lediglich das Kriegsvolk betreffen, wolle er ihnen die Briefinhalte nicht vorenthalten. Nach langer Beratung händigten die Knechte Frundsberg die Briefe aus. Der Inhalt war allerdings nicht von hohem Informationswert: Don Juan wollte sich mit den Generalstaaten vergleichen und so eine Bezahlung des Regiments erreichen. Am nächsten Morgen erschien der Ausschuss bei Frundsberg und eröffnete ihm unmissverständlich: Die Knechte wollten nun Klarheit, wer sie bezahle. Der Obrist wies daraufhin, sie wüssten wohl, wem sie geschworen hätten und in wessen Bestallung sie ständen. Sie erinnerten sich wohl auch an die Aussagen Don Juans. Dieser habe sie auf ihren Kriegsherrn, den spanischen König verwiesen, derselbe werde sie bezahlen. 65 62 Niclaus von Werstenstadt (heute ein Stadtteil im Süden von Düsseldorf); Werner von Bimsfeld und Weiler, Herr zu Gymnich, Landdrost und Marschall von Jülich. BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artikel 16. 63 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artikel 18. 64 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artikel 19-25. 65 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artikel 26-32. <?page no="152"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 153 Abb. 4: Landsknecht im Harnisch, mit Langspieß, bei einer Exerzierübung, um 1600. Die Knechte wurden nun endgültig rebellisch. Sie beschuldigten den Obristen und die Haupt- und Befehlsleute, sie hätten ihnen zustehendes Geld, das Lechengelldt (Lehengeld, Anm. R. B.), einbehalten, nach Hause geschickt und dort stattliche Güter gekauft. Wenn aber die Knechte aufbegehrten und forderten, so beschimpfe man sie als Meuttermacher. 66 Der Ausschuss forderte jetzt die Bezahlung durch den Obristen. Aus der Stadt zögen sie vorher nicht ab. Die Knechte griffen nun zu immer radikaleren Maßnahmen. Der Obrist und seine Befehlsleute mussten beisammen bleiben. Die Knechte drohten ihnen, sie seien die ersten, die man totschlagen werde. In der Nacht hatten sie selbstständig, d. h. ohne Wissen des Obristen und vor allem des 66 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artikel 33. Die Herkunft des Lehengelds ist unklar. Es handelt sich wohl um eine Kasse jedes Fähnleins, aus der die Knechte Geld entleihen konnten. <?page no="153"?> R EINHAR D B AU MANN 154 Wachtmeisters, die Wachen im Kastell und in der Stadt verstärkt und nach ihren Vorstellungen besetzt. In einigen Gassen riefen sie den Alarm aus, schrien und schossen sogar, sodass die Belagerer das mitbekamen. 67 Abends um 9 Uhr fielen Knechte aus der Stadt ins Kastell ein, holten den Locotenenten und die Hauptleute aus ihren Quartieren, führten sie ins Rathaus und setzen sie dort gefangen. Zwei Stunden später zogen etwa hundert Knechte abermals ins Kastell ein, holten auch den erkrankten Obristen aus dem Bett und setzten ihn auf einen Sessel, weil er nicht gehen konnte. Der Bitte Frundsbergs, ihn doch wegen seiner Krankheit in seinem Quartier bleiben zu lassen und ihn dort zu bewachen, kamen sie nicht nach. Auch er wurde im Rathaus festgesetzt und von einer Schildwache, zudem von Rotten aus allen Fähnlein, bei offener Zimmertür bewacht. Mehrere Knechte erstürmten das Gefängnis und befreiten alle dort Inhaftierten, darunter einige zum Tod Verurteilte. Den Feldschreibern der einzelnen Fähnlein nahmen sie das Lehengeld weg und teilten dieses unter den Knechten auf. Aus den Soldlisten wurde abgerechnet und darüber Restzettel (auf denen die unbezahlte Soldsumme verzeichnet war) ausgestellt. Der Ausschuss schickte zwei Knechte mit einem Schreiben zu Don Juan d’Austria, ohne dass der Obrist und die Haupt- und Befehlsleute davon wussten oder dies genehmigt hätten. Darin führten sie Beschwerde und Klage über ihren Obristen. 68 Im Rathaus hielten sie den Obristen und seine Haupt- und Befehlsleute vier Tage lang fest. Niemand wurde zu Frundsberg vorgelassen, nur drei Diener durften ihn betreuen. Das Essen der Haupt- und Befehlsleute war rationiert: nicht mehr als ein Pfund Fleisch, einen Pott Bier und für einen Stüber Gerstenbrot. Als die beiden Amissaten mit der schriftlichen Antwort Don Juans von Antwerpen zurückkehrten und die Antwort nicht den Erwartungen entsprach, ließen die Knechte ihrer Wut und Enttäuschung freien Lauf. Sie zerrten Haupt- und Befehlsleute und den Obristen auf den Marktplatz vor dem Rathaus. Die Hauptleute wurden ins Eisen geschlagen und an eine Brunnensäule gefesselt, den Obristen stellte man an den Pranger. Die Gefangenen blieben unter freiem Himmel und durften sich nicht einmal mit einem Tuch oder einer Decke schützen. Die Knechte führten ehrverletzende Reden gegen ihre Vorgesetzten und wollten sie nicht freilassen, bevor jeder Knecht auf Heller und Pfennig bezahlt wäre. Würden sie nicht besoldet, wollten sie ihren Obristen so klain als die Schuh Riemen zerhawen. 69 67 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artikel 33-34. 68 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artikel 35-45. 69 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artkel 44-53. Ein Pott ist ein Trinkgefäß, etwa ein Krug. Stüber ist eine flämische Münze (1 niederländischer Gulden zu 20 Stüber, 1 Schilling zu 6 Stüber). <?page no="154"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 155 Erst am nächsten Morgen befreiten sie den Obristen vom Pranger und brachten ihn ins Wirtshaus ›Zum Schwanen‹, zwei Tage später wurden auch die Haupt- und Befehlsleute aus dem Eisen gelassen. Inzwischen lag das Angebot der Generalstaaten vor: Sie wollten den Knechten nur zwei Monate Sold bezahlen, davon einen in Tuch, wenn sie dann aus dem Land zögen. 70 Damit aber waren die Knechte nicht zufrieden. Wütend liefen sie dann vor das Quartier des Obristen, schickten den Ausschuss hinein und verlangten, dass Frundsberg den Rest des Soldes auf seine Güter versichere. Kurz entschlossen wurden Frundsberg und seine Haupt- und Befehlsleute erneut auf den Marktplatz geschleppt und dort schwer bedroht: Sie wollten sie zu stücken hauen. 71 Nun wandten sich Haupt- und Befehlsleute vnd andere ehrlich Kriegsleut von Adell vnd sonst an den Obristen und beschworen ihn, vmb Gottes willen den Forderungen nachzukommen. 72 Um das Leben seiner Haupt- und Befehlsleute zu retten, verschrieb sich Frundsberg, der Gemein seines Regiments die Hälfte des ausstehenden Soldes auf Pfingsten 1578, die andere Hälfte ein Jahr später auszuzahlen. 73 6. Anwaltsfinten vor dem Reichskammergericht Daraus folgerte der frundsbergische Anwalt Doktor Bernhardt Küehorn, dass diese Verschreibung nichtig sei, denn sie sei ja unter Zwang und keineswegs so erfolgt, wie die Kläger das dargestellt hatten. Er wies auch darauf hin, dass in Ober- und Niederdeutschland bei hohen und niederen Ständen ein gemain geschray, sag vnd rueff entstanden sei, meinte also wohl, dass die Gerüchteküche über das Geschehen im frundsbergischen Regiment brodelte. Am 20. April 1581 bat er das Reichskammergericht, den Beklagten zu absolvieren und aller Zahlungsverpflichtungen ledig zu sprechen. 74 Die Replicae eines Erbarrn ausschuß der sechs fendlin fronnßbergischer teutscher knecht ließen nicht lange auf sich warten. Jakob Erhardt, der Anwalt des Ausschusses, antwortete am 10. September 1581 auf die einzelnen, gegen die Kläger vorgebrachten Artikel und wies sie in allen Punkten zurück. Vor allem verwahrte er sich dagegen, die Berechtigung der Knechte abzustreiten, mit ihrem Anliegen vor das Reichs- 70 Landsknechte ganz oder teilweise mit Tuch (Stoffballen) zu bezahlen, war ein durchaus üblicher Versuch der Kriegsherren, Geld zu sparen. Die Knechte versuchten gewöhnlich auf den Artikelsbrief zu verweisen, der ihnen eine Bezahlung in Reichswährung oder in entsprechender Landeswährung zusicherte. Besoldung mit Tuch zwang die Knechte meist, das Tuch auf dem Lagermarkt mit Verlust zu verkaufen. 71 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artikel 55-58. 72 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artikel 59. 73 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artikel 60. 74 BayHStA, RKG 3547: Responsiones ad Articulos, Artikel 61-64. <?page no="155"?> R EINHAR D B AU MANN 156 kammergericht zu gehen und das Mandat des Auschusses dafür in Zweifel zu ziehen. Dass einige Knechte ihre Restzettel mit den darauf verzeichneten Summen der Soldrückstände an Freunde oder Wirte verkauft hätten, ebenso dass viele nur durch die Hauptleute, nicht durch den Obristen ausgefertigt seien, sei kein Hinderungsgrund in der Sache, vor das Reichskammergericht zu ziehen. Ganz besonders wies der Anwalt Jakob Erhardt es ab, die Ehrbarkeit zweier Ausschussmitglieder, Caspar Eckenstainer und Peter Kleinweck, abzustreiten. Der frundsbergische Anwalt, Dr. Bernhardt Küehorn, behauptete, Eckenstainer sei ein meineidiger Knecht und Musterungsbetrüger. Er habe vom Obristen Graf Ulrich von Helfenstein Laufgeld angenommen und sei nicht auf dem Musterplatz erschienen, habe vielmehr noch etliche Knechte mit sich weggeführt und dem Regiment des Helfensteiners entzogen, sei dann aber unter Frundsbergs Fahnen und Befehl geeilt. Auch gegen Kleinweck könne er Beweismittel vorlegen, dass er in Rechtsangelegenheiten nicht zugelassen sei. Jakob Erhardt hingegen führte aus, dass Eckenstainer beweisen könne, sich zu den ihm genannten Musterplätzen Remich an der Mosel, St. Veit, Biberich und Bastenaken (französisch Bastogne) begeben und dort etwa 20 Wochen auf die Musterung gewartet zu haben. Eine solche habe aber an keinem dieser Orte stattgefunden. Deshalb habe er sich beim Helfensteiner beschwert und von ihm verlangt, seinen Namen aus der Anwerbeliste zu streichen. Mit Wissen des Obristen sei er weggezogen und keineswegs desertiert. Man habe ihn damals nicht gemustert, er habe keinen Eid geleistet und auch keinen Sold gehabt, er sei ein freier Mann gewesen. Wie oft in solchen Fällen ging es neben Argumenten und Gegenargumenten auch um Geld. Jakob Erhardt plädierte dafür, dem Beklagten Frundsberg alle durch weitere Verzögerungen und Winkelzüge seines Anwalts zusätzlich auflaufenden Gerichtskosten aufzubürden. Bernhard Küehorn wies das selbstverständlich zurück. Die Anwälte kämpften unnachgiebig um ihre Positionen. Nachgeben und Kompromiss schien nicht mehr möglich. Erhardt legte dem Gericht 450 Kopien von Restzetteln mit den dort bestätigten Soldrückständen vor, Küehorn wollte weder diese Zettel noch die Berechtigung der Ausschussbevollmächtigten anerkennen. Vor allem argumentierte er damit, dass viele Knechte der sechs Fähnlein inzwischen wieder unter Georgs von Frundsberg Befehl in den Niederlanden ständen, einige auch hier im Reich. Sie dächten gar nicht daran, sich auf einen Rechtsstreit mit ihrem ehemaligen Obristen einzulassen. Viele seien auch nach Italien hinabgezogen, einige seien gestorben. Etwa 750 Knechte, deren Namen man bei Bedarf nennen könne, hätten versprochen, sich um die Auszahlung ihres Soldes durch den spanischen König zu bemühen. Also sei die Klage vom Gericht zu verwerfen. <?page no="156"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 157 7. Der Prozessverlauf Wie die frundsbergische Anwaltsvollmachten für Doktor Bernhard Küehorn und für den Advokaten am Reichskammergericht, Doktor Paulus Haffner, ausweisen, rechnete der Obrist seit dem 16. Januar 1577, also nach dem ersten großen Konflikt mit seinem Regiment, mit einer gerichtlichen Auseinandersetzung. 75 Der Ausschuss der Landsknechte entschied sich nach seiner Vertreibung aus Nördlingen, also im Laufe des Jahres 1579, für den Gang vor Gericht. Tilmann Brandt, der geschworene Kammerbote des Reichskammergerichts, übergab die kaiserliche Citation des Reichskammergerichts am 11. Januar 1580 auf Schloss Mindelheim. Da Georg von Frundsberg als spanischer Obrist sich in den Niederlanden befand, nahmen der Hausvogt Laurent Köglin und der Obervogt Doktor Wilhelm im Namen des Hausherrn das Schreiben an und bestätigten, der Citation nachzukommen. 76 Wenige Tage später, am 17. Januar 1580, erschienen vor dem Notar, Rechtslizenziaten und Kammeradvokaten Jakob Erhardt im Wirtshaus zum Roten Ochsen in Nürnberg die Ausschussmitglieder Barthlme Reißner von Dinkelsbühl, Cunz Holzschuer von Nürnberg, Matteß Rapp von Hechingen, Hans Capfer von Burgkunstadt, Hans Steinlein von Oettingen und Hans Kopp von Nürnberg als Vertreter der sechs Fähnlein, die unter dem Obristen Georg von Frundsberg, dem Obristleutnant Hanns Jacob von Castell und den Hauptleuten Adam vom Stain, Wolf Heinrich vom Stain, Hans Anthonj Zinn von Zinnenberg und dem Hauptmann und Profoß Georg Höfler von Füssen in den Niederlanden in spanischem Sold gedient hatten. 77 Die Mitglieder des Ausschusses erklärten ausdrücklich, auch für alle ihre Kriegsmitverwandten, d. h. für alle Knechte der sechs Fähnlein zu handeln. Sie hätten ihre Restzettel dem Anwalt übergeben und sie beharrten darauf, dass ihre Sache gegen ihren ehemaligen Obristen gerichtlich zu klären sei. Bereits vorher hätten sie ihren Kriegsverwandten, den ehrsamen und vornehmen Caspar Eckensteiner von Leipzig und Peter Kleinweck von St. Avold (in Lothringen) vollkommene Gewalt gegeben, mit Frundsberg vor Gericht oder außerhalb über die ausstehende Besoldung zu verhandeln. Da dies erfolglos geblieben sei, zögen sie nun vor das Reichskammergericht und hätten den Kammeradvokaten Jakob Erhardt 75 BayHStA, RKG 3547: Copey gemainen gewalts cum ratificatione …, 16. Jan. 1577. 76 BayHStA, RKG 3547: Bekenntnis des Tilmann Brandt. 77 Frundsbergs Befehlsleute stammten zumeist aus dem süddeutschen Raum: Hans Jacob von Castell war 1585 baierischer Pfleger von Kehlheim, Wolf Heinrich und Hans Adam vom Stain sind wohl aus schwäbischen Adel: Stain zu Jettingen und Stain zu Eberstall- Jettingen-Scheppach, lediglich Hans Anthonj Zinn von Zinnenberg dürfte dem mährischen Adel zuzurechnen sein. Georg Höfler, Hauptmann und Profoß - und damit Inhaber der obersten Polizeigewalt im Regiment - kam aus Füssen. <?page no="157"?> R EINHAR D B AU MANN 158 mit ihrer Sache beauftragt. Am 24. März 1580 wurde die Gewaltübertragung auch durch den beim Reichskammergericht immatrikulierten Notar Paulus Wirsching bestätigt. 78 Nun nahm der Prozess vor dem Reichskammergericht seinen Verlauf, langsam und schwerfällig, dennoch unbeirrbar. Zunächst sah es, glaubt man den Gerichtsakten, für die Landsknechte gar nicht aussichtslos aus. In der an den Beklagten Frundsberg gerichteten Citation des Gerichts hieß es als Begründung für die Ladung: Weil aber niemand besonders den Kriegsleuten, so ohne das in rechten höchlich privilegyret, ihre ihnen zustehende Besoldung vorenthalten darf, müssten sie nun gegen ihn und seine verpfändeten Güter ordentliche Klage führen. Formuliert wurde das so im Auftrag von Kaiser und Reich vom Anwalt Cunradt Pfyster und vom Richter Johannes Syfrid in Speyer am 12. Dezember 1579. Dass der Prozess sich aber Monat um Monat, Jahr um Jahr hinzog, erwies sich für die Kläger als großes Problem. Wesentlich zur Verzögerung beigetragen hat der Grundsatz der Schriftlichkeit bei Zitationsprozessen, durch den jedes Argument und jeder Antrag als Brief an das Gericht gesandt werden musste. Zudem dürften sich die Landsknechte der sechs Fähnlein als die Basis des Ausschusses seit 1578 in alle Winde verstreut haben: wegen neuer Soldverpflichtungen und Feldzügen, Krankheiten, Verwundungen, Tod. Das Warten auf den ausstehenden Sold und das zähe, über lange Zeit Vertreten der eigenen Interessen vor Gericht war nicht die Sache von Kriegsleuten. Die Dauer verteuerte außerdem die Prozesskosten der Knechte. Ein gewichtiges Beweismittel führte schließlich die frundsbergische Seite am 20. April 1581 an. Am 15. Dezember 1580 nämlich, so in der von dem luxemburgischen Notar Niclaus Ras unterschriebenen und gesiegelten Urkunde, seien im ›Goldenen Löwen‹ in Luxemburg um 11 Uhr vormittags der frundsbergische Anwalt Christoff Reitter mit drei ›Führern‹ als Zeugen erschienen, die er aus dem jetzigen Regiment Frundsbergs, das mit 13 Fähnlein in den Niederlanden stehe, zusammengerufen habe. 79 Er berichtete und die ›Führer‹ bestätigten, dass vor dem versammelten Regiment kaiserliches Malefizrecht abgehalten worden war. 80 In Anwesenheit des Regimentsschultheißen und seines gesamten Gerichtspersonals und dem ›Umstand‹, d. h. der ganzen Landsknechtgemeinde des Regiments, sei kund getan worden, dass alle Haupt- und Befehlsleute und alle gemeinen Knechte, die 78 BayHStA, RKG 3547: Gewaltübertragung des Ausschusses, 17. Jan. 1580. 79 BayHStA, RKG 3547: Urkundt In sachen Frondsberg geg. Ausschuß der 6 Fendlin Predauisch teutsch knecht, 20. April 1581. Der ›Führer‹ ist ein von der Landsknechtgemeinde gewählter Inhaber eines Gemeinamts, er war vor allem Vertreter der Gemeinde bei Gericht. 80 Es handelt sich um die Strafgerichtsform des Schultheißengerichts; vgl. R EINHARD B AUMANN , Landsknechte. Ihre Geschichte und Kultur vom späten Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg, München 1994, S. 103-107. <?page no="158"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 159 damals zu Breda gelegen seien und nun wieder unter Frundsbergs Befehl sich in den Niederlanden befänden, keinen Grund sähen, mit ihrem Obristen einen Rechtsstreit zu führen. 81 Vielmehr vertrauten sie ihrem Obristen, wären sie doch sonst nicht mit ihm wieder in die Niederlande gezogen. Sie wollten treu ihren Dienst versehen, hofften aber vom spanischen König ihren von damals ausstehenden Sold zu bekommen. Frundsberg wolle sie dabei, soviel ihm möglich sei, unterstützen. Der Gerichtsschreiber habe die Bekanntgabe dann bestätigt, die drei Führer hätten diese Aussage ebenso ratifiziert wie drei Hauptleute, der Schultheiß und sechs Geschworene des Gerichts. Bezeugt wurde dieser Bericht im ›Goldenen Löwen‹ schließlich durch den Wirt Georg Pletscher und zwei Luxemburger Bürger. Wie dieses Beweismittel von den Richtern des Reichskammergerichts eingeschätzt wurde, ist nicht überliefert. Jedenfalls erhielt die Aussage der ehemaligen, nun unter Frundsberg erneut in den Niederlanden der spanischen Krone dienenden Knechte durch das zum Malefizrecht zusammengetretene Regiment einen hohen Wahrheitsanspruch. Der Ausschuss wurde so in ein schlechtes Licht gerückt: eben doch nur eine Vertretung von Aufrührern und Meuterern zu sein. Nach dem 23. August 1582 sind keine weiteren Prozessakten erhalten, auch keine Hinweise darauf. Die Urteilsbücher des Reichskammergerichts in Speyer wurden 1689 im Pfälzischen Erbfolgekrieg durch Brand zerstört, in den neu erschlossenen Richternotizen ist nichts über den Fall Ausschuss der sechs Fähnlein zu Breda gegen Georg II. von Frundsberg zu finden. Möglicherweise war der Prozess auch im Januar 1585 noch nicht zu Ende, also eine Prozessdauer über fünf Jahre hinaus, die beim Reichskammergericht nicht ungewöhnlich war. Dass der Beklagte, Freiherr Georg von Frundsberg, dann am 1. November 1586 starb, beendete die Aussichten der Landsknechte, ihre ausstehende Besoldung zu erhalten, ohnehin. Jetzt begann ein dreißigjähriger Erbstreit um die frundsbergische Besitz- und Rechtsnachfolge, bei dem Ansprüche der Knechte in den Prozessakten nicht mehr auftauchen. 82 Dass sie den Prozess gewonnen hätten, etwa 1585, ist doch eher unwahrscheinlich. Denkbar wäre aber eine außergerichtliche Einigung, doch sind keine Hinweise auf die eine oder andere Lösung des Konflikts erhalten. 81 Von den Hauptleuten zu Breda war wieder mit dabei: Hans Jacob von Castell. BayHStA, RKG 3547: Urkundt In sachen Fronsberg geg. Ausschuss, 20. April 1581. 82 Zum frundsbergischen Erbstreit noch immer grundlegend: F. Z OEPFL , Geschichte (Anm. 2), S. 55-61. <?page no="159"?> R EINHAR D B AU MANN 160 8. Ergebnisse und Folgerungen Der Fall ›Knechte zu Breda gegen Frundsberg‹ mit den damit verbundenen Ereignissen in den Niederlanden und in Schwaben und dem daraus hervorgehenden Prozess vor dem Reichskammergericht ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zunächst zeigt er, dass die zum Landsknechtwesen gehörigen Formen von Selbstverwaltung, frühdemokratischer Mitsprache und Interessenvertretung auch in den 1570er Jahren wahrgenommen wurden und funktionierten. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil solche Formen ja selten im Sinne des Kriegsherrn und des Söldnerunternehmers und Obristen waren. Seit den hohen Zeiten des Landsknechtwesens, also seit dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts, waren Kriegsherrn und Obristen bemüht, diese Formen einzuschränken und abzubauen. Die Vereinheitlichung und Verschärfung der Kriegsartikel durch den Speyerer Reichstag 1570 bedeutete einen erheblichen Eingriff in die Substanz landsknechtischer Selbstverwaltung und Mitsprache. Was bisher zwischen Obrist und Landsknechtgemeinde ausgehandelt und dann beschlossen wurde, war nun als verbindliches Muster vorgegeben. Nicht Mitsprache der Knechte war gefragt, sondern Gehorsam. Der Konflikt von Breda zeigt, ungeachtet der unterschiedlichen Berichte über den Ablauf durch Obrist und Ausschuss, dass hier die Gemeinde sich gegen den geforderten Gehorsam gegenüber dem spanischen König, seinem Gubernator und Feldherrn Don Juan d’Austria und gegenüber dem Obristen Frundsberg und seinen Hauptleuten wehrte. Selbstbewusst agierten ihre Amissaten, selbstbewusst wählte die noch verbliebene Gemeinde dann in der schwäbischen Heimat einen Aus.schuss, selbstbewusst zog dieser Ausschuss schließlich vors Reichskammergericht. 83 Der Fall ›Knechte zu Breda gegen Frundsberg‹ gewährt aber auch Einblicke in das Selbstverständnis dieser Kriegsleute, des Obristen ebenso wie der Landsknechte. Da ist z. B. die Bedeutung der Fahne. Wandervogelbewegung, Bündische Jugend und ganz besonders die Jugendorganisationen der NSDAP haben die Landsknechtfahne mystifiziert und glorifiziert. Die Forschung des späten 20. Jahrhunderts hat die Bedeutung von Fahne und Fähnrich eher ausgeblendet. Die Ereignisse des 83 Zu landsknechtischer Mitsprache und Interessenvertretung und zu frühdemokratischen Formen im Landsknechtheer vgl. H ANS -M ICHAEL M ÖLLER , Das Regiment der Landsknechte. Untersuchungen zu Verfassung, Recht und Selbstverständnis in deutschen Söldnerheeren des 16. Jahrhunderts (Frankfurter Historische Abhandlungen 12), Wiesbaden 1976, S. 114-177, 183-260; R. B AUMANN , Landsknechte (Anm. 80), S. 72-130; P ETER B URSCHEL , Söldner in Nordwestdeutschland des 16. und 17. Jahrhunderts. Sozialgeschichtliche Studien (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 113), Göttingen 1994, S. 129-145; J AN W ILLEM H UNTEBRINKER , »Fromme Knechte« und »Garteteufel«. Söldner als soziale Gruppe im 16. und 17. Jahrhundert (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven 22), S. 201-236. <?page no="160"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 161 Jahres 1576 im Raum Valenciennes und Tournai zeigen, welche Bedeutung das Fähnlein hatte. Es war eben nicht nur Steuerungsinstrument für die zu ihm gehörigen Knechte in Paraden und Schlachten, sondern Identifikationssymbol, das entehrt wurde, wenn Knechte es unehrenhaft verließen. Dann bedurfte es des Feldschultheißen und des Feldgerichts, um Knechte wieder ins Fähnlein aufzunehmen oder eben zu verurteilen. Nur so konnte die Fähnleinsehre wiederhergestellt, das Fähnlein wiederum aufgerichtet, d. h. ehrbar gemacht werden. Dies war nicht nur die Sicht des Obristen, der damit seine Knechte wieder unter die Fahnen holen wollte. Auch die einfachen Knechte dürften diese Vorstellung in sich getragen haben. Die angedrohte Veröffentlichung der Namen Fahnenflüchtiger hätte sonst keinen Sinn gemacht. Das Aushängen und Bekanntmachen von Listen mit Namen (und Herkunftsort, denn der war in der Musterliste festgehalten) kam einem Steckbrief gleich, zumindest in Kriegsknechtkreisen. Der frundsbergische Anwalt nutzte solche Vorstellungen und bezichtigte vor dem Reichskammergericht den Gewaltinhaber des Ausschusses, Caspar Eckensteiner, fahnenflüchtig und damit unehrlich zu sein, um ihn so vor Gericht auszuschalten. 84 Während der Fall ›Knechte zu Breda gegen Frundsberg‹ über die Bühne des niederländischen Kriegsschauplatzes und Schwabens ging, schrieb der nach langen Jahren als Landsknecht in kaiserlichen und spanischen Diensten ins heimatliche Nürnberg zurückgekehrte Patrizier Hans Rieter von Kornburg (1522-1584) 1578 an den ebenfalls längst im Ruhestand befindlichen ehemaligen Obristen Lazarus von Schwendi (1522-1583). Er machte sich in diesem Brief Gedanken über das Kriegswesen allgemein und über die Landsknechte in spanischen Diensten. Sie brächten wenig Ruhm aus den Niederlanden nach Hause, man müsse sich schämen, sich einen Landsknecht nennen zu lassen. Als Ursachen nennt er die durch unvollständige oder gar nicht erfolgte Bezahlung demoralisierten Knechte. Sie hielten sich dann an der Zivilbevölkerung, Bürgern und Bauern, mit Diebstahl und Raub schadlos, ein Verhalten, das Rieter als ruhm- und ehrlos bezeichnet. Andererseits beobachtet er, dass es zu immer stärkeren Spannungen zwischen Befehlsleuten und gemeinen Knechten komme. 85 Rieters Brief liest sich in einigen Passagen wie ein Bericht über die Ereignisse im frundsbergischen Regiment, besonders was die Versorgung der Fähnlein im Raum Valenciennes-Tournai betrifft, aber 84 Zu Fahnenmythos und Fähnleinsehre vgl. H. M ÖLLER , Regiment (Anm. 83), S. 63-67; R. B AUMANN , Landsknechte (Anm. 80), S. 97f. Zur Bedeutung der Fahne vgl. auch den Beitrag von Michael Kaiser in diesem Band. 85 Zu Hans Rieters Biographie vgl. R EINHARD B AUMANN , Landsknechte. Von Helden und Schwartenhälsen, Mindelheim 1991, S. 84-91; zu Rieters Einschätzung der Landsknechte auf dem niederländischen Kriegsschauplatz vgl. R. B AUMANN , Landsknechte (Anm. 80), S. 207-209. <?page no="161"?> R EINHAR D B AU MANN 162 auch das Vorgehen der gemeinen Knechte gegen ihren Obristen und dessen Befehlsleute. Dabei ist es bezeichnend, dass unter den sechs Hauptleuten (Obrist und Obristleutnant mit eingerechnet) nur einer aus dem Bürgertum kommt, nämlich Georg Höfler von Füssen. 86 Das war beim Großvater des Obristen, Georg I. von Frundsberg, noch ganz anders. Bei seinem letzten Feldzug 1526 waren von 35 Hauptleuten 22 bürgerlicher bzw. sogar unterbürgerlicher Herkunft. 87 Dass es erhebliche Spannungen zwischen den Befehlsleuten und den gemeinen Knechten im frundsbergischen Regiment in den Niederlanden gab, beweist die Klage der Knechte darüber, dass die Befehlsleute das Lehengeld veruntreuten, so Besitz erwarben und sich also auf Kosten gemeiner Knechte bereicherten. Der Vorwurf musste gerade in einer Situation schwer wiegen, in der der spanische Soldherr über Jahre hinweg unregelmäßig, unvollständig und oft gar nicht bezahlte. Der Fall ›Knechte zu Breda gegen Frundsberg‹ ist auch aussagekräftig über das Funktionieren der Landsknechtgemeinde als Ganzes. Eigentlich war sie ja eine gewerkschaftsähnliche Einrichtung mit Zwangscharakter für den einzelnen Knecht. 88 Indem er Laufgeld angenommen hatte, gemustert und vereidigt worden war, gehörte er zur Gemeinde. Ihre Mehrheitsentscheidungen betrafen ihn unmittelbar, ebenso die Tätigkeit ihrer Vertretungs- und Selbstverwaltungsorgane. Hatte also die Gemeinde - d. h. die Vollversammlung des frundsbergischen Regiments - einen Ausschuss zur Durchsetzung ihrer Interessen gewählt, so war dieser Ausschuss Vertreter jeden Knechts. Je länger aber sein Wirken dauerte, umso mehr wurde die Unterstützung durch die Knechte fragwürdig. Die Basis des Ausschusses war in alle Winde verstreut. Die Erreichbarkeit der Knechte durch ihre Vertreter war nur sehr bedingt gegeben. Die Interessen der Knechte, die zunächst gleichgerichtet waren - nämlich die vollständige Besoldung zu erreichen - divergierten im Laufe der Zeit. Es gab wohl welche, die unnachgiebig am ursprünglichen Ziel festhielten, andere schrieben den Feldzug als großes Verlustgeschäft ab, wieder andere suchten auf einem neuen Feldzug, mehrere erneut unter dem Obristen Frundsberg, Unterhalt und Glück. Die Landsknechtgemeinde hatte also nur eine momentane, aber keine anhaltend gemeinsame Interessenlage. Dass sich die Gemeinde auch nach der Entlassung als handlungsfähig und als grundsätzlich existent verstand, ist nicht selbstverständlich, bedeutete die Entlassung doch eigentlich die Auflösung des Kriegsverbandes Regiment und so auch 86 Es war üblich, dass es im Regiment ein vom Obristen und ein vom Obristleutnant geführtes Fähnlein gab, de facto befehligt von einem ›Leutinger‹ (Leutnant, Stellvertreter). 87 R EINHARD B AUMANN , Georg von Frundsberg. Vater der Landsknechte, Feldhauptmann von Tirol, 2. Aufl. München 1991, S. 261f. 88 R. B AUMANN , Landsknechte (Anm. 80), S. 79-86, 109-112. Zur Gemeindeorganisation von Kriegsknechten siehe auch den Beitrag von Michael Kaiser in diesem Band. <?page no="162"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 163 der Gemeinde. Die Knechte sahen sich aber nach wie vor dieser Gemeinde zugehörig. Dies wurde auch von der Obrigkeit - den frundsbergischen Amtleuten in Mindelheim, dem baierischen Herzog, den Repräsentanten des Schwäbischen Reichskreises, dem Rat der Reichsstadt Nördlingen - nicht in Frage gestellt. Man gestand der Gemeinde bzw. ihren Vertretern jedoch keine feste Etablierung und keine Aktivitäten zu. Abb. 5: Obrist und Landsknechtgemeinde, die sich im Ring versammelt hat (aus: Fronspergers Kriegsregiment, 1555. Titelbild von Virgil Solis). <?page no="163"?> R EINHAR D B AU MANN 164 Der Konflikt zwischen den Knechten zu Breda und Frundsberg spielte sich vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise des spanischen Weltreichs ab. Die Geldnöte Spaniens bekamen die Kriegsknechte in den Niederlanden unmittelbar zu spüren. Sold erhielten sie unregelmäßig und oft unvollständig. Das summierte sich zu beachtlichen Schulden des Kriegsherrn bei seinen Söldnern. Als der Staatsbankrott dann schließlich vorübergehend zur Einstellung der Besoldung führte, eskalierte die Situation, wie gerade der Fall der Breda-Fähnlein zeigt. Die Wut der Knechte wird verständlich, wenn man die dem Reichskammergericht vom Ausschuss vorgelegten Restzettel berücksichtigt. Da geht es nämlich nicht nur um die Monatssolde in den letzten drei Dienstmonaten, an denen sich ja die Auseinandersetzungen im Sommer 1577 entzündet hatten. Schon in den Jahren vorher, also seit 1572 waren Soldrückstände aufgelaufen. So lag ein Restzettel, wie die Knechte ihre Schuldscheine nannten, (von insgesamt 450 solchen Zetteln) des Hans Fischer von Wembding im Fähnlein Castell über 464 Gulden und einen Stüber vor, der allerdings auch den Vermerk aufwies, dass bei der Abdankung 20 Gulden ausbezahlt worden seien. Hans von Hagnau, der auch als Gerichtsmann tätig gewesen war, konnte laut Unterschrift des Obristleutnants sogar 903 Gulden und 11 Stüber beanspruchen. Anderen Knechten waren nur geringere Summen bestätigt. Jörg Keller von Ulm z. B. standen nur 56 Gulden und 3 Stüber zu. 89 Viele hatten Ansprüche im dreistelligen Bereich, alle mehr als die letzten drei Monatssolde. Man kann erahnen, welche Summe der spanische Kriegsherr hätte ausbezahlen müssen, man kann verstehen, dass die Knechte alle Möglichkeiten (und eben auch den Gang zum Reichskammergericht) ausschöpften, um ihren Sold zu erhalten. Schließlich zeigt der Fall ›Knechte zu Breda gegen Frundsberg‹ geradezu beispielhaft, wie ein Krieg, der mit Schwaben nichts zu tun hatte, die schwäbischen Lande in mehrfacher Hinsicht betraf. Es war der Krieg der spanischen Krone gegen die Niederlande, und dabei vor allem gegen selbstbewusste niederländische Stände und gegen eine in Religionsangelegenheiten eigene Wege gehende Provinz. Eigentlich hatte dieser Krieg nichts mit dem Reich zu tun. Dadurch aber, dass der Kaiser aus dem Haus Habsburg kam und die österreichischen Habsburger damals noch sehr eng mit den spanischen Habsburgern verflochten waren, gab es Vernetzungen zwischen Spanien und dem Reich, wie das in der Zuständigkeit von Reichskommissären für das spanische Kriegsvolk im Falle der Knechte zu Breda deutlich wird. Indem Spanien seinen Krieg mit einer Söldnerarmee führte, war das Reich in zwei weiteren Aspekten miteinbezogen: Landsknechtregimenter brachten ihr eigenes kaiserliches Reichsrecht mit in ausländischen Dienst, unabhängig von Gerichtsrechten des Kriegsherrn. So wurde, wie dann in der Argumentation des 89 BayHStA, RKG 3547: Copey 450 Restzettel In Sachen der sechs Fendlin teutscher fronspergischer Knecht Clegere gegen den Wollgebornen Herrn Georg vonn Fronsberg Beclagten, 24. März 1580; die hier genannten Beispiele sind die Restzettel Nr. 2, 10, 21. <?page no="164"?> A U S WÄR TIGE K R IE GS P R O B LE ME NACH S C HW A BEN HER EINTR A GEN 165 frundsbergischen Anwalts ersichtlich, kaiserlich-landsknechtisches Malefizrecht im frundsbergischen Regiment in spanischem Sold praktiziert. 90 Zudem wurden nicht nur die Knechte im Reich angeworben, auch die anwerbenden Söldnerunternehmer und Obristen stammten aus dem Reich, Hauptwerbegebiet war Süddeutschland, besonders Schwaben. Als Söldnerunternehmer und Obristen standen schwäbische Adelige in spanischem Dienst: z. B. die Grafen Jakob Hannibal von Hohenems und Ulrich von Helfenstein, Carl Fugger und Georg II. von Frundsberg. Auch deren Haupt- und Befehlsleute kamen vielfach aus Schwaben. Schließlich lagen auch die mit den Hauptleuten ausgehandelten und noch in den Niederlanden bekannt gegebenen Auszahlungsorte des Restsolds alle in Schwaben: Der Obristleutnant Hans Jacob von Castell sollte seine Knechte in Mindelheim und in der Reichsstadt Esslingen auszahlen, Hauptmann Adam vom Stain ebenfalls in Mindelheim, Jörg Höfler in Rottenburg am Neckar, Wolf Heinrich vom Stain in Ehingen und Hans Anthoni Zinn von Zinnenberg in Riedlingen. Diese Städte lagen auch in den Hauptanwerbegebieten für das frundsbergische Regiment. Betrachtet man das Söldnertum des späten 16. Jahrhunderts als eine Form der Arbeitsmigration, wie das Benjamin Hitz mit überzeugenden Argumenten getan hat, so sind die Ereignisse von Antwerpen, Breda, in der Herrschaft Mindelheim, in Nördlingen und der Gerichtsprozess vor dem Reichskammergericht nichts anderes als ein besonders harter und zäher Arbeitskampf. 91 Dass Landsknechtgemeinden häufig mit ihrem Kriegs- und Soldherrn und somit auch mit ihrem Obristen um die Besoldung Konflikte austrugen, ist bekannt, dass aber Landsknechte als Gemeinde vor das Reichskammergericht zogen, ist ein außergewöhnlicher, vielleicht einzigartiger Fall. 90 Zur Anwendung des Malefizverfahrens in Landsknechtregimentern bei Prozessen um Ehre, Leib und Leben vgl. H. M ÖLLER , Regiment (Anm. 83), S. 189-197; R. B AUMANN , Landsknechte (Anm. 80), S. 103-107. 91 B ENJAMIN H ITZ , Kämpfen um Sold. Eine Alltags- und Sozialgeschichte schweizerischer Söldner in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2015, S. 362. <?page no="166"?> 167 G ERHARD I MMLER Zweimal Memmingen im Brennpunkt des Dreißigjährigen Krieges: 1630 und 1647 1. Das Jahr 1630: Wallenstein in Memmingen Am 19. Juli 1629 schrieb der kaiserliche Generalissimus Albrecht von Wallenstein, Herzog von Mecklenburg und Friedland, aus seiner mecklenburgischen Residenz Güstrow an seinen Oberstfeldzeugmeister von Schaumberg, Kaiser Ferdinand II. habe befohlen, die kaiserlichen Truppen aus Jütland und Schleswig-Holstein nicht, wie bisher geplant, nach dem zu den Niederlanden gehörigen Westfriesland, sondern nach Schwaben in Marsch zu setzen. Der Feldzeugmeister solle sich zur Vorbereitung dieses Marsches mit dem Obersten Ossa in Memmingen treffen. 1 Dies ist die erste Andeutung der Rolle, die Wallenstein, einer der bedeutendsten und sicher der umstrittenste Feldherr des Dreißigjährigen Krieges, im folgenden Jahr für Memmingen erlangen sollte. Der kurbayerische Geheime Rat Paul Andreas Graf von Wolkenstein erfuhr wenig später von Ossa, dass Wallenstein selbst in Memmingen Quartier nehmen und Truppen in der Umgebung einlagern wolle. Auf die Nachfrage, ob das bedeute, dass Wallenstein persönlich nach Italien ziehen werde, habe Ossa jedoch ausweichend geantwortet. Da aber - so Wolkenstein - ein rascher Zug nach Italien jedenfalls unmöglich sei, würden die Truppen längere Zeit in Schwaben bleiben. Der Graf argwöhnte, dass es Wallensteins Absicht sei, durch Durchmärsche die Territorien der Stände der katholischen Liga und die Quartiere der Ligaarmee zu schädigen und letztlich die Truppen in die Franche-Comté zu führen, um die Franzosen von Italien abzulenken. Jedenfalls würden die schwäbischen Reichsstände stark belastet werden. 2 Auch Kurfürst Maximilian von Bayern nahm an, Wallenstein habe wenig Lust, Truppen nach Italien zu senden, und sein 1 J OSEF K OLLMANN u. a. (Hg.), Documenta Bohemica bellum tricennale illustrantia IV: Der Dänisch-Niederdeutsche Krieg und der Aufstieg Wallensteins. Quellen zur Geschichte der Kriegsereignisse der Jahre 1625-1630, Prag u. a. 1974, Nr. 803, S. 310f. 2 Wolkenstein an Kurfürst Maximilian I. von Bayern, Zeil, 1629 Aug. 1, in: D IETER A LBRECHT (Bearb.), Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges NF: Die Politik Maximilians I. und seiner Verbündeten 1618-1651, Bd. II,5: Juli 1629-Dezember 1630, München-Wien 1964, Nr. 9, S. 15f. <?page no="167"?> G E RHAR D I M ML ER 168 Zug sei vor allem zur Schädigung des von ihm als unliebsame Konkurrenz empfundenen Heeres der katholischen Liga gedacht. 3 Die beiden erwähnten Briefe beleuchten schlaglichtartig die politisch-militärische Lage im Hochsommer 1629: Seit der Schlacht am Weißen Berg 1620 vor Prag war die kaiserlich-katholische Seite stets siegreich gewesen. Zuletzt hatten deren beide Feldherren Wallenstein und Tilly zusammen den König von Dänemark geschlagen und im Frieden von Lübeck vom 22. Mai 1629 gezwungen, mit Ausnahme des angestammten Herzogtums Holstein auf jede Einflusszone im Reich zu verzichten. Zwar wusste man in Wien und München über die drohende Intervention des Königs Gustav Adolf von Schweden Bescheid, aber dennoch glaubte der Kaiser, jetzt sei endlich die Zeit gekommen, seine Truppen nach Süden zu werfen, um dem habsburgischen Vetter in Madrid im Mantuanischen Erbfolgekrieg beiseitezustehen, in dem Spanien und Frankreich um die Vormacht in Oberitalien kämpften. Das war dem Wiener Hof auch wichtiger als ein älterer Plan, einige wallensteinische Regimenter gegen die anderen Feinde der Spanier, die Niederländer, zum Einsatz zu bringen. 4 Die deutschen Verbündeten des Kaisers aber, die katholischen Reichsstände, wollten mit diesen auswärtigen Kriegen, die im Interesse nicht des Reiches, sondern des Hauses Habsburg geführt wurden, nichts zu tun haben. Ihre Unzufriedenheit mit dem machtvollen Auftreten Wallensteins und mit seiner Methode, durch Erpressung von Kontributionen in den besetzten Gebieten den Krieg zu finanzieren, war seit Jahren im Wachsen. Sie wollten finanzielle Entlastung und Frieden und misstrauten den unabsehbaren Ambitionen des kaiserlichen Feldherrn, der sich eben erst in Mecklenburg das Land eines alten Fürstenhauses angeeignet hatte und aus seiner Abneigung gegen die Kurfürsten und ihren Anspruch, zusammen mit dem Kaiser das Reich zu repräsentieren, keinen Hehl machte. 5 Am Sonntag, den 30. Mai/ 9. Juni 1630 um drei Uhr nachmittags, zog Wallenstein von Ulm her in Memmingen ein - mit mehr als hundert Wagen und 700 Pferden. 6 Seine Quartiermacher waren schon am 25. Mai/ 4. Juni in Memmingen eingetroffen, und die Bürger am 26. Mai/ 6. Juni aufgefordert worden, Ruhe und Ordnung zu bewahren. Das ging so weit, dass beim Einzug nach dem Bericht des Chronisten Dochtermann kein Bürger auf der Straße stand und alles in großer Stille vor 3 D. A LBRECHT , Briefe und Akten II,5 (Anm. 2), S. 9, Anm. 1. 4 Vgl. W ALTER P LATZHOFF , Geschichte des europäischen Staatensystems 1559-1660, München-Berlin 1928 (ND Darmstadt1967), S. 180f. u. 185f.; u. G OLO M ANN , Wallenstein, Frankfurt am Main 1971, S. 535-550. 5 G. M ANN , Wallenstein (Anm. 4), S. 567-570. 6 Bei Daten, die aus Memminger städtischen Quellen entnommen wurden, wird sowohl das Datum nach dem bis 1699 in Memmingen verwendeten julianischen Kalender wie nach dem gregorianischen Kalender, der im katholischen Umland bereits gültig war, angegeben. Ist nur ein Datum genannt, so ist es das des gregorianischen Kalenders. <?page no="168"?> Z WEIMAL M E MMINGEN IM B R ENNP U NKT DE S D R EIS S IG JÄHR IGEN K R IE GE S 169 sich ging. 7 Weitere Truppen kamen später nach, so dass die Truppenstärke am Ende 1.300 Mann und 1.100 Pferde betrug. 8 Dies spricht für einen ganz ungewohnt hohen Anteil Kavallerie, berücksichtigt aber sicher nur die in der Stadt selbst untergebrachten Truppen, nicht die im Umland, von denen sehr wahrscheinlich viele Söldner tagsüber in die Stadt kamen, um einzukaufen. Denn das Heer sorgte zwar mittels Kontributionen, Requirierungen und Einquartierungen für Verpflegung und Obdach, aber ansonsten musste sich der Soldat selbst versorgen, etwa, was seine Bekleidung betraf. Vermutlich unter den 1.300 Mann nicht mitgezählt sind auch die zahlreichen Zivilpersonen, die die damaligen Heere begleiteten, denn viele der Soldaten waren verheiratet oder hatten mehr oder weniger feste Partnerinnen; ihre Frauen und Kinder zählten zum Tross, von dem die eigentliche Truppe umgeben war. Es war nicht Wallensteins Absicht, in den inneren Verhältnissen der Reichsstadt Memmingen irgendetwas zu bewirken; dass er hier Quartier bezog, hat vielmehr mit den bereits dargestellten Entwicklungen der europäischen Politik und des ›Kriegstheaters‹, wie man damals sagte, zu tun. In Memmingen war Wallenstein nahe an Italien, wo der Kaiser ihn und seine Soldaten gerne gesehen hätte, nahe auch an Frankreich, falls es militärstrategisch geraten erscheinen sollte, indirekt gegen die Franzosen vorzugehen, indem man sie durch einen Scheinangriff oder auch durch bloße Truppenkonzentrationen an ihrer Ostgrenze zwang, ihrerseits Heeresverbände aus Italien abzuziehen. Schließlich war der Feldherr in der schwäbischen Reichstadt auch nicht allzu weit entfernt von Regensburg. Dorthin war ein Kurfürstentag einberufen worden, auf dem die Kurfürsten ihre Beschwerden gegen den Generalissimus vorbringen wollten. Der Kurfürst von Mainz als Ranghöchster und somit Sprecher des Kollegs aber hatte gefordert, Wallenstein solle keinesfalls persönlich in Regensburg erscheinen. 9 Dieser fügte sich in Kenntnis der ihm entgegenschlagenden Opposition und beschloss, den Kurfürstentag zu meiden. Durch Eilkuriere aber war binnen 24 Stunden eine Nachrichtenübermittlung von Regensburg nach Memmingen möglich. 10 Übertrieben waren die Befürchtungen Kurfürst Maximilians, Wallenstein könnte mit seinem Zug nach Memmingen und den damit verbundenen Stationierungen zahlreicher Regimenter in Oberdeutschland nebenbei auch beabsichtigen, die Kurfürsten zu entmutigen, ihre Länder zu 7 T HOMAS W OLF , Memmingen im 17. Jahrhundert, in: J OACHIM J AHN (†) (Hg.), Die Geschichte der Stadt Memmingen. Von den Anfängen bis zum Ende der Reichstadt, fortgeführt von Hans-Wolfgang Bayer in Verbindung mit Uli Braun, Stuttgart 1997, S. 541- 677, hier 543. S EBASTIAN D OCHTERMANN , Chronik (StBib Memmingen 2° 2,22, S. 178f.) 8 M ICHAEL F RETSCHER , Chronik (StBib Memmingen 4° 2,47), S. 157f. 9 A NTON G INDELY , Waldstein während seines ersten Generalats im Lichte der gleichzeitigen Quellen 1625-1630, 1. Bd., Prag-Leipzig 1886 (ND Wien 1972), S. 244; G. M ANN , Wallenstein (Anm. 4), S. 578f. 10 A. G INDELY , Waldstein (Anm. 9), S. 264. <?page no="169"?> G E RHAR D I M ML ER 170 verlassen, um auf diesem Wege den Kurfürstentag zu sabotieren. 11 Vielmehr bat der Generalissimus bald nach seiner Ankunft in Memmingen den kaiserlichen Minister Fürst Eggenberg brieflich, sich bei Ferdinand II. dafür einzusetzen, dass der General Collalto zum Kurfürstentag entsandt werden dürfe, um dort die Angelegenheiten der Armee zu vertreten. 12 Obwohl es also ganz und gar nicht um Memmingen ging, war natürlich die Anwesenheit des mächtigen Söldnerführers und seiner Truppen in der Stadt sehr spürbar. So musste sofort das Läuten zum Torschluss und zu den Ratssitzungen eingestellt werden und ebenso das Stundenausrufen der Nachtwächter, denn Wallenstein war lärmempfindlich. 13 Ein Nachtwächter, der den entsprechenden Befehl vergaß, wurde vom Rat auf der Stelle entlassen. 14 Ansonsten scheint der Feldherr die Bürger nicht belastet zu haben; was an seine eigene Hofhaltung geliefert wurde, hat er bezahlt, und manche Bürger, aber auch das Spital, das aus seinen landwirtschaftlichen Betrieben an den wallensteinischen Oberkommissar lieferte, machten gute Geschäfte. Die Wein- und Bierwirte suchten die Konjunktur zu kräftigen Preiserhöhungen auszunutzen, was der Rat aber durch Festsetzung von Höchstpreisen abstellte. 15 Über die Memminger beiden Postillione beschwerte sich Wallensteins Kommissar Wolfstirn, dass sie teils ihre Dienste verweigerten, teils zu viel dafür nähmen, woraufhin ebenfalls der Rat eingriff, was in diesem Falle allerdings nicht so einfach war: Um dem gesteigerten Bedarf nach Postdienstleistungen nachzukommen, wurde den Metzgern befohlen, bei Bedarf Pferde an die Postillione auszuleihen und diesen auf Kosten der Stadt Hafer ausgegeben. 16 Allerdings musste die Stadt dem Feldherrn auch monatlich 2.500 Gulden Kontribution zahlen. Dafür stiftete er im Laufe seines Aufenthalts 410 Gulden 57 Kreuzer für wohltätige Zwecke, so dass fast ein Fünftel der Kontribution in Memminger öffentliche Haushalte zurückfloss. Allerdings scheint Memmingen einfach Glück gehabt zu haben: Einmal weil Wallenstein eben nur kam, um sich an einem für die politisch- 11 Kurfürst Maximilian an Kurfürst von Mainz, München, 1630 April 2, in: D. A LBRECHT , Briefe und Akten II,5 (Anm. 2), Nr. 138, S. 354f. 12 Wallenstein an Eggenberg, Memmingen, 1630 Juni 13, in: J. K OLLMANN , Documenta Bohemica IV (Anm. 1), Nr. 1015, S. 389. 13 T H . W OLF , Memmingen (Anm. 7), S. 543. 14 StadtA Memmingen, A RP 1630-1632, fol. 19’: Protokoll des Kleinen Rats, 1630 Juni 2/ 12. Zitiert bei B ERNHARD B AUER , Beiträge zur Geschichte der Reichsstadt Memmingen vom Beginne des Dreißigjährigen Krieges bis zur Besetzung der Stadt durch die Schweden, Augsburg 1892, S. 69. 15 StadtA Memmingen, A RP 1630-1632, fol. 19’-20: Protokoll des Kleinen Rats, 1630 Juni 4/ 14. 16 StadtA Memmingen, A RP 1630-1632, fol. 20’-21: Protokoll des Kleinen Rats, 1630 Juni 16/ 26. <?page no="170"?> Z WEIMAL M E MMINGEN IM B R ENNP U NKT DE S D R EIS S IG JÄHR IGEN K R IE GE S 171 militärische Lage verkehrsgeographisch günstigen Ort einzuquartieren, zum anderen weil 1630 die Ernte im ganzen südostschwäbischen Raum sehr gut ausgefallen war. 17 Wallenstein hielt im Memminger Fuggerhaus wie ein Fürst Hof und sorgte für Festivitäten, die in einer Reichsstadt eher ungewöhnlich waren: Gleich nach seinem Einzug machten ihm die Fürsten und Grafen der Umgebung Aufwartung, so dass niemall die zeitt her so vill fürsten und graufen auf ein mall zusamen komen in der statt Memingen. 18 Am 23. Juni/ 2. Juli kam Prinz Ulrich von Dänemark mit einem Gefolge von lediglich neun Reitern in Memmingen an, während Wallenstein gerade abwesend war, doch wurde nach der Rückkehr des Herzogs zu seinen Ehren am 30. Juni/ 9. Juli ein Ritterspiel mit Ringelstechen veranstaltet. Nachdem der Prinz am 21./ 31. Juli abgereist war, kam er am 11./ 21. August nochmals zurück. Am 5./ 15. September gab er auf dem Kochschen Haus auf dem Ried ein Bankett für adelige Gäste mit anschließendem Vagetleschießen (Vogelschießen), das aber durch einen Anschlag oder einen Unfall gestört wurde, als durch einen Schuss eines unentdeckt gebliebenen Täters ein Gast verwundet wurde. 19 Das übliche gesellschaftliche Leben der Stadt wurde allerdings beeinträchtigt: Den Jahrmarkt zu St. Ulrich sagte man wegen der ohnehin schon bestehenden Überfüllung der Stadt ab, 20 und den Büchsenschützen wurde ihr Preisschießen für dieses Jahr verboten. 21 Dass Bürgerschaft und Soldaten dennoch keine voneinander isolierten sozialen Gemeinschaften bildeten, beweist die Anfrage eines Trabanten, d. h. Soldaten der Leibgarde Wallensteins, unter welchen Bedingungen er nach Heirat mit einer Memmingerin in das Bürgerrecht aufgenommen werden könne. 22 Diese ehrlichen Heiratsabsichten dürften allerdings nicht die Regel gewesen sein; einige Memminger Bürgerstöchter, die sich mit Soldaten in intime Beziehungen eingelassen hatten, 17 T H . W OLF , Memmingen (Anm. 7), S. 544f. 18 S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 181. 19 S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 185, lässt eher an einen sich versehentlich lösenden Schuss denken, während die Formulierung von C HRISTOPH S CHORER , Memminger Chronick oder Kurtze Erzehlung vieler denckwürdigen Sachen …, Memmingen 1660, S. 136, einen absichtlichen Mordanschlag nahelegt. Zum Prinzen Ulrich vgl. auch B. B AUER , Beiträge (Anm. 14), S. 78f. 20 StadtA Memmingen, A RP 1630-1632, fol. 22: Protokoll des Kleinen Rats, 1630 Juni 23/ Juli 3; B. B AUER , Beiträge (Anm. 14), S. 70. 21 StadtA Memmingen, A RP 1630-1632, fol. 28: Protokoll des Kleinen Rats, 1630 Aug. 20/ 30. 22 StadtA Memmingen, A RP 1630-1632, fol. 29: Protokoll des Kleinen Rats, 1630 Sept. 8/ 18. Bei dem Betreffenden handelte es sich um einen Mann aus Pommern. Da er damit höchstwahrscheinlich lutherischer Konfession war, nannte der Ratsbescheid nur 150 fl. Vermögen und den Nachweis ehelicher Geburt und ledigen Standes als Voraussetzung. Zitiert bei B. B AUER , Beiträge (Anm. 14), S. 84. Der dort erwähnte angebliche zweite Fall ist wohl mit dem des Trabanten identisch. <?page no="171"?> G E RHAR D I M ML ER 172 wurden nach Wallensteins Abzug der Stadt verwiesen. 23 Unerbaulich muss auch ein Kontakt des Dieners von Wallensteins Leibarzt mit einem Memminger Bürger verlaufen sein, denn dieser schoss dem aus Böhmen stammenden Mann eine Schrotladung in Arme und Leib, wofür der Bürger in einem gerichtlichen Vergleich 200 Gulden Schadenersatz und Schmerzensgeld zu zahlen versprach. 24 Wallenstein war in eine protestantische Familie hineingeboren worden, war aber als junger Mann zur katholischen Kirche konvertiert, vielleicht nicht ganz ohne religiöse Überzeugung, aber durchaus auch aus Opportunitätsgründen. 25 Jedenfalls ging ihm die Konvertiten häufig kennzeichnende Abneigung gegen seine frühere Konfession völlig ab. Von der am 5./ 15. Juni erfolgten Übergabe eines kaiserlichen Mandats wegen des zwischen den Konfessionen strittigen Gebrauchs der Frauenkirche 26 wird Wallenstein vielleicht gar nicht erfahren haben. Am 27. Juni/ 6. Juli konnte in Memmingen ungestört das 100-jährige Jubiläum der Confessio Augustana gefeiert werden, nur hat offenbar der Memminger Rat von sich aus in vorauseilendem Gehorsam die Feierlichkeiten auf einen Tag beschränkt, während diese an anderen protestantischen Orten drei Tage dauerten - nicht aber in Ulm und Kempten, wo man ebenso wie in Memmingen verfuhr. 27 Auch in den Streit um die Restitution der Memminger Antoniterpräzeptorei 28 mischte Wallenstein sich offenkundig nicht ein, jedenfalls war dies kein Gesprächsthema beim Empfang des auf der Durchreise von der Schweiz nach Regensburg befindlichen päpstlichen Nuntius Rocci durch Wallenstein am 5./ 15. Juli 1630. 29 Weitere wichtige Gäste, die dieser in Memmingen empfing, waren die französischen Gesandten Charles Brulart de Léon und P. Joseph, die am 13./ 23. Juli eintrafen; der ausschlaggebende davon war nicht der offizielle Legationschef Brulart, sondern der Kapuzinerpater Joseph, als Berater Richelieus bekannt als ›Graue Eminenz‹. Mit ihm hatte Wallenstein zwei Gespräche unter vier Augen, ehe die Gesandten am 15./ 25. weiterreisten. Über den Inhalt der Gespräche gibt es mangels Quellen nur Vermutungen, doch ist anzunehmen, dass Wallenstein versuchte, 23 B. B AUER , Beiträge (Anm. 14), S. 70. 24 StadtA Memmingen, A RP 1630-1632, fol. 30: Protokoll des Kleinen Rats, 1630 Sept. 13/ 23. 25 G. M ANN , Wallenstein (Anm. 4), S. 82-84. 26 M ARTIN S ONTHEIMER , Die Geistlichkeit des Kapitels Ottobeuren, 5. Bd.: Die Pfarreien und Benefizien des Kreuzherrenklosters Memmingen, Memmingen 1920, S. 162-164. 27 S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 185; B. B AUER , Beiträge (Anm. 14), S. 74f. 28 A DALBERT M ISCHLEWSKI , Die Gegenreformation in Memmingen. Kräfte und Gegenkräfte, in: ZBLG 40 (1977), S. 57-73, hier 71. 29 Rocci an Barbarini, Memmingen, 1630 Juli 15, in: R OTRAUD B ECKER (Bearb.), Nuntiaturberichte aus Deutschland nebst ergänzenden Aktenstücken. Vierte Abt.: Siebzehntes Jahrhundert, 4. Bd.: Nuntiaturen des Giovanni Battista Pallotto und des Ciriaco Rocci (1630-1631), Tübingen 2009, Nr. 62, S. 212f. <?page no="172"?> Z WEIMAL M E MMINGEN IM B R ENNP U NKT DE S D R EIS S IG JÄHR IGEN K R IE GE S 173 Möglichkeiten für eine Verständigung mit Frankreich über die italienischen Angelegenheiten auszuloten, da ihm nach dem Eindruck seiner Gesprächspartner am dortigen Krieg im Grunde wenig lag. 30 Andererseits hat er noch bis gegen Ende Juli durch von Memmingen aus erteilte Befehle gegenüber seinen Untergebenen den Eindruck aufrechterhalten, sein Abmarsch nach Italien sei nur eine Frage der Zeit. So wurde am 25. Juni dem Grafen Wolfgang von Mansfeld befohlen, die ihm unterstellten Regimenter nach Schwaben zu führen, wobei Wallenstein ankündigte, selbst mit 40.000 Mann über die Alpen ziehen zu wollen. 31 Weitere Befehle zur Vorbereitung eines italienischen Feldzugs ergingen am 9. Juli, 32 und am 22. Juli erhielt der Generalwachtmeister Virmond eine Bestallung als Oberbefehlshaber der nach Italien ziehenden Truppen, 33 womit immerhin klargestellt war, das der Generalissimus zumindest zunächst diesen Feldzug nicht selbst anführen würde. Dass er noch sechs Tage später dem Fürsten Philipp von Salm schrieb, sein Aufbruch nach Italien stehe unmittelbar bevor, 34 diente offenbar nur noch der Täuschung des Adressaten. Die Memminger Bürger haben von dem Verwirrspiel des Generalissimus, das schon hochrangige Diplomaten und Offiziere nicht zu deuten wussten, sicher gar nichts erfahren. Wallenstein hielt sich nicht ununterbrochen in Memmingen auf, sondern machte auch seinerseits von dort aus Besuche in der Umgebung, um mit wichtigen Persönlichkeiten zusammenzutreffen: Vom 7./ 17. bis 12./ 22. Juni reiste er nach Kempten, um dort mit Erzherzog Leopold von Österreich zu konferieren, 35 und vom 22. bis 27. Juni/ 2. bis 7. Juli zog er vorübergehend nach Ulm, um dort, wie der Stadtchronist Dochtermann schreibt, den Landkomtur zu treffen. Gemeint ist 30 G USTAVE F AGNIEZ , La mission du Père Joseph a Ratisbonne, in: Revue historique 27 (1885), S. 38-67, 241-299, hier 42-44. Auch Rocci hatte, wie er nach Rom berichtete (s. Anm. 29), den Eindruck gewonnen, Wallenstein wolle nicht wirklich nach Italien aufbrechen, sondern strebe eher danach, den Mantuanischen Krieg durch einen raschen Frieden mit Frankreich zu beenden. S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 189, hebt die Pracht des Empfangs und der Bewirtung der Gesandten durch Wallenstein hervor; dass der Herzog den Gesandten ein Stück weit vor die Stadt entgegen zog, galt als Erweisung besonderer Reverenz und hatte durchaus politische Signalwirkung. 31 Wallenstein an Mansfeld, Memmingen, 1630 Juni 25, in: J. K OLLMANN , Documenta Bohemica IV (Anm. 1), Nr. 1025, S. 392. 32 Wallenstein an Graf Merode, Memmingen, 1630 Juli 9, u. Wallenstein an Generalwachtmeister Virmond, Memmingen, 1630 Juli 9, in: J. K OLLMANN , Documenta Bohemica IV (Anm. 1), Nr. 1031, S. 393, u. Nr. 1032, S. 394. 33 Bestallung für Virmond, in: J. K OLLMANN , Documenta Bohemica IV (Anm. 1), Nr. 1036, S. 395. 34 Wallenstein an Fürst Salm, Memmingen, 1630 Juli 28, in: J. K OLLMANN , Documenta Bohemica IV (Anm. 1), Nr. 1040, S. 396. 35 S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S.182. <?page no="173"?> G E RHAR D I M ML ER 174 Johann Kaspar von Stadion, ehemals Landkomtur des Deutschen Ordens in Altshausen, aber schon seit 1627 Deutschmeister, außerdem kaiserlicher Geheimer Rat. 36 Nach diesen Gesprächen hat Wallenstein bezüglich der weiteren Kriegführung dann ganz offenkundig umdisponiert. Virmond, der eben erst bestallte Oberkommandierende für den Italienzug, wurde ins Erzstift Magdeburg beordert, um dieses gegen die Schweden zu sichern. 37 Da der Generalwachtmeister natürlich Truppen in erheblicher Zahl mit sich nach Norden geführt haben wird, kann diese Änderung der Kriegslage auch den Memmingern nicht ganz verborgen geblieben sein. Am 13. August versprach in Regensburg der Kaiser den Kurfürsten die Entlassung Wallensteins. 38 Sie wurde diesem von den kaiserlichen Räten Werdenberg und Questenberg am 6. oder 7. September mitgeteilt, was von den beiden Emissären aber offenbar in solcher Stille erledigt wurde, dass es sich in den Memminger Chroniken nicht niedergeschlagen hat. 39 Am 14. schrieb der jetzt ehemalige Generalissimus seinem Verwandten Graf Berthold von Waldstein, er werde in Kürze nach Böhmen aufbrechen, 40 und am 30. erhielt der Reiterführer Graf von Pappenheim auf einen Antrag von Wallenstein die Antwort, nichts mehr tun zu können, da er auf das Generalat verzichtet habe. 41 Am 23. September/ 2. Oktober verließ Wallenstein Memmingen. Der Chronist Dochtermann vermerkte abschließend: […] und der herzig stattlich regimentt gehalten und der statt Memmingen nix geschehen vom herzig Albertus […] Ist glikh und heill gewest. 42 36 S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 184 u. 187. Zur Person Stadions vgl. C ARL VON D UNCKER , Stadion, Johann Kaspar von, in: Allgemeine Deutsche Biographie 35 (1893), S. 368-371. Dass Dochtermann Stadion als ehemaliger Landkomtur im oberschwäbischen Altshausen vertraut, dessen zwischenzeitliche Karrieresprünge aber unbekannt geblieben waren, spricht für den regional begrenzten Gesichtskreis des Chronisten. 37 Wallenstein an Oberst Peckher, Memmingen, 1630 Aug. 18, in: J. K OLLMANN , Documenta Bohemica IV (Anm. 1), Nr. 1062, S. 402. 38 G. M ANN , Wallenstein (Anm. 4), S. 598. 39 G. M ANN , Wallenstein (Anm. 4), S. 599-601. B. B AUER , Beiträge (Anm. 14), S. 81f., erschloss die Datierung des Ereignisses aus Ulmer Quellen, wobei die Angabe 24.-29. August sich auf den auch in Ulm damals noch geltenden julianischen Kalender bezieht. 40 Wallenstein an Graf Berthold von Waldstein, Memmingen, 1630 Sept. 14, in: J. K OLL - MANN , Documenta Bohemica IV (Anm. 1), Nr. 1091, S. 413. 41 Wallenstein an Pappenheim, Memmingen, 1630 Sept. 30, in: M IROSLAV T OEGEL u. a. (Hg.), Documenta Bohemica bellum tricennale illustratia V: Der schwedische Krieg und Wallensteins Ende. Quellen zur Geschichte der Kriegsereignisse der Jahre 1630-1635, Prag u. a. 1977, Nr. 20, S. 27. 42 S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 195. <?page no="174"?> Z WEIMAL M E MMINGEN IM B R ENNP U NKT DE S D R EIS S IG JÄHR IGEN K R IE GE S 175 2. Das Jahr 1647: Von den Bayern zu den Schweden und zurück zu den Bayern Nach 1630 geriet Memmingen noch einmal in den Brennpunkt der Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges: Seit 1635 war die Stadt von Truppen des Kurfürsten von Bayern besetzt, denen es bis zum Jahr 1646 gelang, die Schweden und vor allem die seit Ende 1639 immer wieder über den Rhein drängenden Franzosen 43 von Oberschwaben fernzuhalten. Dieser relative Friede im Krieg änderte sich, als im Sommer 1646 schwedische und französische Truppen sich vereinigten und Bayern bis zur Isar verwüsteten, ehe sie schließlich bei einbrechendem Winter in der Gegend zwischen Donau, Iller, Bodensee und Schwarzwald Quartier bezogen. 44 Eine Wiederholung des Angriffs auf Bayern im nächsten Jahr stand zu erwarten und so entschloss sich der Kurfürst, eine französische Anregung aufzugreifen 45 und über einen Waffenstillstand verhandeln zu lassen. Aufgrund kaiserlichen Unwillens wurden aus den Ende Januar 1647 in Ulm eröffneten Verhandlungen alsbald solche über einen separaten Waffenstillstand Bayerns mit Franzosen und Schweden. Die Schweden forderten als Preis dafür die Abtretung Memmingens, und tatsachlich ging Kurfürst Maximilian nach langem Sträuben am 19. März auf diese Forderung ein, die seine Unterhändler zunächst noch eigenmächtig in den am 14. März abgeschlossenen Vertrag aufgenommen hatten. 46 Dass durch die Verhandlungen in Ulm für Memmingen einschneidende Veränderungen bevorstanden, erfuhr der Rat erst am 17. März durch eine vertrauliche Mitteilung des bayerischen Stadtkommandanten Oberst Winterscheid, 47 der aber offenbar auch nicht genau Bescheid wusste, denn er meinte, die Stadt solle sich überlegen, ob sie anstelle der abziehenden Bayern lieber Schweden oder Franzosen aufnehme, die Schweden werden vielleicht angenemer sein wegen der sprach und daß sie der [gleichen] religion. 48 In Memmingen empfand man sich nach Auskunft des Chronisten Schorer als ein subjectum passivum, das die Entschlüsse anderer, mächtigerer 43 W. P LATZHOFF , Geschichte (Anm. 4), S. 211. 44 Zu den militärischen Ereignissen und ihren politischen Implikationen s. G ERHARD I MM - LER , Kurfürst Maximilian I. und der Westfälische Friedenskongreß. Die bayerische auswärtige Politik von 1644 bis zum Ulmer Waffenstillstand (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte 20), Münster 1992, S. 312-322. 45 G. I MMLER , Kurfürst Maximilian (Anm. 44), S. 398. 46 G. I MMLER , Kurfürst Maximilian (Anm. 44), S. 408, 418-431, 451, 456, 458. 47 Dieser war erst am 9. März zum Stadtkommandanten ernannt worden (s. BayHStA, Kasten schwarz 2780, fol. 526: Kurfürst Maximilian an Winterscheid, Wasserburg am Inn, 1645 März 9), nachdem sein Vorgänger Hans Jakob von Edlinstetten am 5. März nachts zwischen ein und zwei Uhr gestorben war (BayHStA, Kasten schwarz 2780, fol. 522: Johann von Winterscheid an Kurfürst Maximilian, Memmingen, 1647 März 5). 48 StadtA Memmingen, A 29, fol. 251-251’: Protokoll des Geheimen Rats, 1647 März 8/ 18. <?page no="175"?> G E RHAR D I M ML ER 176 Akteure über sich ergehen lassen müsse. 49 Nach Zugang der Mitteilungen Winterscheids entschloss sich der Geheime Rat am 8./ 18. März, die Ratsherren Joseph Jenisch und Lutz Hans von Freyburg nach Ulm zu schicken. 50 Diese berichteten nach ersten Gesprächen mit den bayerischen Unterhändlern Rauschenberg und Schäffer, dass derzeit noch nichts gewiss sei, da deren Kollege Küttner vom kurfürstlichen Hof zurück erwartet werde und man erst dann wissen könne, ob der Vertrag von Maximilian ratifiziert worden sei, was Rauschenberg skeptisch, Schäffer aber zuversichtlich betrachtete. Über die Aktivitäten der kaiserlichen Unterhändler brachten die Memminger Emissäre unter Leitung des Ratsherrn Jenisch in Erfahrung, dass diese sich bemühten, dem Kurfürsten seine Offiziere abspenstig zu machen, was aber wenig Aussicht auf Erfolg habe, da die Befehlshaber dem gehorchten, dem sie Treue gelobt hätten und der sie bezahle. 51 Jenisch sah der Zukunft verhalten optimistisch entgegen in der Hoffnung, die Schweden würden sich mit einer kleinen Garnison - 100 bis 150 Mann - begnügen, und zeigte sich befriedigt darüber, nicht an die Franzosen zu fallen, was aber offenbar keinen konfessionellen Hintergrund hatte, denn ein Vertreter der katholischen Reichsstadt Überlingen habe sich ebenso geäußert. 52 In Vollzug der Ulmer Vereinbarungen kam am 17./ 27. März der schwedische General Douglas in die Stadt, um sich mit Winterscheid wegen des Abzugs zu vergleichen. Am 19./ 29. März trafen die ersten schwedischen Truppen unter dem Kommando des Obersten Przyemsky in Memmingen ein; am folgenden Tag zogen 1.700 bayerische Fußknechte und Reiter zuzüglich Tross in Richtung der Herrschaft Mindelheim ab und dafür zwölf Fähnlein Schweden, 395 Mann zu Fuß und 49 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 153, gibt an, gemäß den Waffenstillstandsbestimmungen hätten die Bayern den Schweden neben Memmingen vier Städte einräumen müssen; S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 495, nennt drei insgesamt (Memmingen, Überlingen, Heilbronn). Tatsächlich hatte sich Bayern aber verpflichtet, Memmingen und Überlingen zugunsten der Schweden und Heilbronn zugunsten der Franzosen zu räumen und diesen außerdem Tübingen zu überlassen. Vgl. G. I MMLER , Kurfürst Maximilian I. (Anm. 44), S. 448, 451, 509 u. 512f. Zumindest der Memminger Ratsschreiber scheint sich aber über die Neuigkeiten gefreut zu haben, denn er schrieb an den Rand des Protokolls vom 8./ 18. März: Gloria in excelsis Deo et in terra pax hominibus etc. neben den Passus vom bevorstehenden Abzug der Bayern (wie Anm. 48). 50 StadtA Memmingen, A 377b: Konzept für ein Kreditiv vom 8./ 18. und für einen Passbrief vom 9./ 19. März 1647. 51 StadtA Memmingen, A 377b: Jenisch an Rat, Ulm, 1647 März 11/ 21. 52 StadtA Memmingen, A 377b: Jenisch an Rat, Ulm, 1647 März 17/ 27: Der her Dr. von Überlingen, so auch alhero beschriben worden, bekennt ingenue, ob schon die Franzosen ihrer religion, dankhen sie doch Gott, daß sie an die Schweden kommen, begeren der Franzosen nicht. Dagegen habe man allenthalben Mitleid mit Heilbronn, weil es den Franzosen eingeräumt werde. Die Gründe dieses Verhaltens werden nicht erwähnt; vermutlich war der Ruf der französischen Truppen schlechter als der der schwedischen. <?page no="176"?> Z WEIMAL M E MMINGEN IM B R ENNP U NKT DE S D R EIS S IG JÄHR IGEN K R IE GE S 177 55 Reiter, 53 ein. Schweden im ethnischen Sinne waren das freilich nicht, denn Przyemsky war Pole und die Namen der übrigen Offiziere, die Schorer nennt, sind alle deutsch. 54 In einem Schreiben an die Beamten des Fürststifts Kempten, das er von Memmingen aus wegen Requirierung von Schanzarbeitern erließ, nannte sich der Kommandant selbst Obrister über ein Regiment hochteutscher Soldaten. 55 Dass man es also quasi mit Landsleuten zu tun hatte, machte die Situation erträglicher und dürfte, wie ja auch Winterscheid angedeutet hatte, ein Grund gewesen sein, die Schweden den Franzosen vorzuziehen. Ein Schreiben Kaiser Ferdinands III. aus Preßburg vom 21. März, das die Memminger vor einer neutralitet warnte, traf dort erst am 30. ein. Der Rat entschuldigte sich, dass in Ulm alles ohne sein Wissen im Geheimen abgemacht worden sei und er sich einfach den bayerischen Entschlüssen habe fügen müssen, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Stadt durch die ihr kraft kaiserlicher Mandate in den letzten Jahren auferlegten Winterquartiere völlig überlastet worden sei. 56 Die Schweden benutzen den Stützpunkt Memmingen auch dazu, im weiten Umkreis Kontributionen einzutreiben, etwa vom Hochstift Augsburg 1.200, vom Fürststift Kempten 600, vom Kloster Ottobeuren 360 und von den Fuggerischen Herrschaften und dem Reichsritterkanton Donau jeweils 800 Reichstaler, so dass die Stadt Memmingen selbst nur 300 Taler beisteuern musste. 57 Bis nach Füssen, Oberstdorf, Bregenz, Meersburg, Heiligenberg, Schussenried, Munderkingen an der Donau und Wettenhausen hin verlangten die Schweden von den Obrigkeiten Auskunft über die steuerliche Leistungsfähigkeit ihrer Untertanen, 58 was darauf hindeutet, dass sich in Memmingen eine Art Zentralkasse für das gesamte oberschwäbische Besatzungsgebiet befand, aus der auch andere Garnisonen finanziert wurden. Am 25. Juni/ 5. Juli traf vom bayerischen Kriegsrat Küttner eine Warnung ein, bisher bayerische Kavallerieregimenter, die von dem in kaiserliche Dienste über- 53 StadtA Memmingen, A 377b: Liste vom 16. Apr. 1647; BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2780, fol. 542-542’: Winterscheid an Kurfürst Maximilian, Oberauerbach, 1647 März 30. 54 S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 496; C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 154. 55 StadtA Memmingen, A 377b: Przyemsky an Beamte des Stifts Kempten, 1647 März 27/ April 6. 56 StadtA Memmingen, A 377b: Ferdinand III. an Rat, Preßburg, 1647 März 22, und Rat an Ferdinand III., 1647 März 9 u. 16. Ein ebensolches vergebliches Abmahnungsschreiben schickte der Kaiser an den Kommandanten Winterscheid; BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2780, fol. 543 (Kopie). 57 StadtA Memmingen, A 378a: Verzeichnus derer örter, welche in die königl. Schwedische cassam nacher Memmingen contribuiren sollen. 58 Vgl. entsprechende, oft detallierte Listen in: StadtA Memmingen, A 378a. <?page no="177"?> G E RHAR D I M ML ER 178 getretenen Reitergeneral Jan von Werth zum Abfall von ihrem Kriegsherrn aufgewiegelt worden seien, könnten die Absicht haben, Memmingen anzugreifen. 59 Der Chronist Dochtermann kommentierte die Nachricht, dass das alles wider ein beß ansehen gehapt, dan der keiser nit will frid halten. Die offene Kritik am Reichsoberhaupt ist für den Bürger einer Reichsstadt ungewöhnlich; der Friedenswille wird zum Maßstab des Urteils des Chronisten. Tatsächlich entsprach dieses der politischen Konstellation dieser Tage: Bei den Verhandlungen in Westfalen war man dem Frieden für das Reich greifbar nahe gekommen, aber Ferdinand III. weigerte sich, auf die letzte Bedingung der Franzosen einzugehen: die Trennung von Spanien, dessen Friedensverhandlungen mit Frankreich feststeckten. 60 Am 8./ 18. Juli unternahm die schwedische Besatzung Schanzarbeiten, was auf eine unsichere militärische Lage schließen lässt. Tatsächlich war diese dadurch gegeben, dass vom südlichen Vorarlberg aus kaiserliche Verbände die Quartiergebiete, die die Schweden sich durch den Ulmer Waffenstillstand hatten sichern wollen, bedrohten. 61 Mitte August kam es zu einem Zwischenfall, indem Dragoner des kaiserlichen Regiments Schoch eine städtische Viehherde samt hundert Pferden raubten. Nacheilende Schweden und Bürger konnten ihnen das Vieh wieder abnehmen, aber die Pferde blieben als Beute. 62 Der Memminger Rat wandte sich an Schoch mit der Bitte, den betroffenen Bürgern zu erlauben, ihre Pferde gegen Lösegeld zurückzuerwerben. 63 In den folgenden Tagen kam es erneut zu Einfällen von Detachements dieses Dragonerregiments, die das Dorf Hausen (Dickenreishausen? ) plünderten. 64 Diese schwedisch-kaiserlichen Geplänkel standen in Zusammenhang 59 StadtA Memmingen, A 277b: Küttner an Przyemsky, München, 1647 Juli 4 (Abschrift); S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 501. Zur Affäre um den Übertritt Werths in kaiserliche Dienste und seinen Versuchen, die bayerische Kavallerie mit sich zu ziehen s. S IGMUND R IEZLER , Die Meuterei Johann’s v. Werth 1647, in: Historische Zeitschrift 82 (1899), S. 38-97, 193-239. Vgl. dazu auch M ICHAEL K AISER , »… mir armen Soldaten, der sein Proth mit dem Degen gewünen mueß …«: Die Karriere des Kriegsunternehmers Jan von Werth, in: Geschichte in Köln 49 (2002), S. 131-170, hier 167-169. 60 M ARK H ENGERER , Kaiser Ferdinand III. (1608-1657). Eine Biographie, Wien u. a. 2012, S. 248-250 u. 257. 61 E RNST H ÖFER , Das Ende des Dreißigjährigen Krieges. Strategie und Kriegsbild, Köln u. a. 1997, S. 108-114. 62 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 154, datiert das Ereignis auf den 6./ 16., S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 509, mit Datierung auf den 8./ 18. August. 63 StadtA Memmingen, A 378b: Bürgermeister und Rat an Schoch, 1647 Aug. 6/ 16. Das Gesuch blieb erfolglos, weil Schoch gleich tags darauf antwortete, an dem Überfall seien auch Soldaten anderer Regimenter beteiligt gewesen, auf die er keinen Einfluss habe; StadtA Memmingen, A 378b. 64 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 154, nennt die Soldaten Casparische Tragoner und bayerische Tragoner, aber damit zeigt er sich erneut über die überlokalen Ereignisse schlecht informiert, denn das Dragonerregiment des Obersten Caspar Schoch war im <?page no="178"?> Z WEIMAL M E MMINGEN IM B R ENNP U NKT DE S D R EIS S IG JÄHR IGEN K R IE GE S 179 mit einer strategischen Lage, die sich für die Schweden in Oberschwaben im Spätsommer 1647 insgesamt ungünstig entwickelte. Im Laufe des Septembers verloren sie Ravensburg und Biberach an die Kaiserlichen und damit die Verbindung zwischen Memmingen und Überlingen. 65 Eine weitere Folge waren Einbußen an dem unter Kontribution gesetzten Gebiet und somit weniger Geld in der Kasse der Memminger Garnison. Schon kurz nach Mitte August waren beim Rat Kontributionsforderungen der kaiserlichen Besatzung von Lindau sowie des kaiserlichen Generals Enkevoirt eingetroffen, verbunden mit der Drohung militarischer execution bei Nichtbezahlung. 66 Der Rat rechtfertigte sich damit, dass ihm vom Kaiser keine Kriegssteuerforderung zugegangen sei, sowie mit dem bayerischen Verhalten. Zudem verwies er auf seine Verdienste, den Handel zwischen Memmingen und Lindau offen zu halten, was man aber nicht durchhalten könne, wenn das Regiment Schoch weiter in diesem Gebiet herumstreife. 67 Noch allerdings scheint die Zuge der insgesamt fehlgeschlagenen Meuterei des bayerischen Reitergenerals Jan von Werth (vgl. Anm. 59) in kaiserliche Dienste übergetreten, was auch in den Memminger Ratsakten dokumentiert ist. Vgl. E. H ÖFER , Ende des Dreißigjährigen Krieges (Anm. 61), S. 108. Schoch war Leibeigener des Klosters Isny gewesen und hatte sich vom Hundejungen zum Obersten eines Regiments hochgedient; s. E. H ÖFER , Ende des Dreißigjährigen Krieges (Anm. 61), S. 108, Anm. 285. In den Ratsakten (StadtA Memmingen, A 377b) finden sich Abschriften von zwei Schreiben Kurfürst Maximilians an Schoch vom 10. Juni 1647, in dem er diesen zur Rückkehr aus Tirol nach Bayern auffordert, und an Przyemsky vom 11. Juni, in dem dieser davon informiert wird. Ob Schoch in die Verschwörung Werths verwickelt war oder gutgläubig aufgrund von dessen Befehlen nach Tirol marschierte, ist unklar. Jedenfalls trat er mit seinen Soldaten, nachdem er sich schon einmal auf habsburgischem Boden befand, in kaiserliche Dienste über. Kurfürst Maximilian scheint Schoch seine Handlungsweise nachgesehen zu haben und wollte sein Regiment, das ebenfalls zur Belagerungsarmee zählte, aber zu deren Absicherung gegen die schwedischen Besatzungen von Überlingen und Hohentwiel in Oberschwaben eingesetzt wurde (vgl. BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943: verschiedene Berichte des Oberkommandos der Belagerungsarmee), als bayerisches angerechnet wissen (BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 616-316’: Maximilian an die Kriegskommissäre Sigershofen und Lerchenfeld, München, 1647 Okt. 1). Tatsächlich taucht es dann in einer Proviantliste des bayerischen Generalkriegskommissariats auf (BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 337-338). Am 9. Oktober wurde es auf Befehl des Kurfürsten nach Donauwörth in Marsch gesetzt, um die feindliche Besatzung von Nördlingen im Auge zu behalten (BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 367-368: Sigershofen und Lerchenfeld an Kurfürst Maximilian, Buxheim, 1646 Okt. 8). 65 E. H ÖFER , Ende des Dreißigjährigen Krieges (Anm. 61), S. 111f. 66 StadtA Memmingen, A 378b: Oberkommissar Ferdinand Handl von und zu Leiblachsberg an Bürgermeister und Rat, Lindau, 1647 Aug. 16; u. Enkevoirt an Bürgermeister und Rat, Isny, 1647 Aug. 21. 67 StadtA Memmingen, A 378b: Bürgermeister und Rat an Handl, Memmingen, 1645 Aug. 25. <?page no="179"?> G E RHAR D I M ML ER 180 schwedische Besatzung in Memmingen ein recht ruhiges Leben geführt zu haben. Schwedische Offiziere ließen bei den Wirten für ihre Zechgelage den Wein fässerweise abholen, was dem Rat insofern Sorgen machte, weil dafür kein Ungeld bezahlt und dadurch die beste Einnahmequelle der Stadt geschwächt werde. 68 Übrigens hatten Przyemsky und seine Soldaten es nicht allein auf die Weinvorräte der Memminger Wirte abgesehen. Im Dezember 1647 sah der Rat sich genötigt, sich bei Kurfürst Maximilian gegen Ansprüche eines Augsburger Kaufmanns zu verteidigen, dessen im Memminger Waaghaus liegende Fässer der Kommandant hatte öffnen lassen; waß nun in den eröffneten Faßen gewesen oder waß darauß genommen, davon wißen wir nichts. 69 Offen bleibt hier also, ob der Kommandant sich an fremdem Wein vergriff, um den zweifellos großen Durst seiner Söldner zu befriedigen, oder ob er in den Fässern etwas anderes vermutete, was damals üblicherweise in solchen transportiert wurde, etwa Schießpulver. Am 14. September 1647 kündigte Kurfürst Maximilian den Ulmer Vertrag gegenüber den Schweden auf, nicht zuletzt wohl deshalb, weil bewaffnete Neutralität ohne auswärtige Quartiergebiete sich auf Dauer für das Kurfürstentum als finanziell untragbar erwiesen hatte. 70 Schon einige Tage zuvor hatte Maximilian seinen Stadtkommandanten von Augsburg aufgefordert, in geheimb mitzuteilen, was an Geschützen, welche zu beschiessung eines plazs zu gebrauchen, im dortigen Zeughaus vorhanden sei und wie man dieselben etlich meil wegs führen khönde. 71 Den östlich von München im Quartier liegenden Regimentern der Generalwachtmeister de la Pierre und Winterscheid wurde am 17. September Befehl erteilt, über Fürstenfeldbruck, Landsberg und Mindelheim nach Memmingen zu marschieren. 72 Ferner gab der Kurfürst Befehl, in Mindelheim ein Magazin zur Verpflegung der Truppen anzulegen. 73 Erste in Memmingen spürbare Konsequenz des beendeten Waffenstillstands war, dass am 10./ 20. September bayerische Reiter vor der Stadt auftauchten. 74 Offenbar handelte es sich um zur Rekognoszierung ausgeschickte Patrouillen. 68 StadtA Memmingen, A 29, fol. 287’: Protokoll des Geheimen Rats, 1647 Aug. 18/ 28. 69 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950, fol. 105-106: Bürgermeister und Rat an Winterscheid, 1647 Dez. 4/ 14. 70 G ERHARD I MMLER , Finanzielle Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Bayern zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: H ERMANN K ELLENBENZ - P AOLO P RODI (Hg.), Fiskus, Kirche und Staat im konfessionellen Zeitalter (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 7), Berlin 1994, S. 141-163, hier 154f. 71 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2898, fol. 244-244’: Kurfürst Maximilian an Oberst Franz Royer, München, 1647 Sept. 7. 72 BayHStA, Kasten schwarz 2943, fol. 23-25: Memorial für de la Pierre und Winterscheid, 1647 Sept. 17. 73 BayHStA, Kurbayern, Äußeres Archiv 2943, fol. 19-20: Kurfürst Maximilian an de la Pierre und Winterscheid, München, 1647 Sept. 19. 74 S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 503. <?page no="180"?> Z WEIMAL M E MMINGEN IM B R ENNP U NKT DE S D R EIS S IG JÄHR IGEN K R IE GE S 181 Gemäß einem von Kurfürst Maximilian an den Kastner zu Mindelheim erteilten Befehl 75 überbrachte der Wirt von Daxberg in der bayerischen Herrschaft Mindelheim dem Memminger Rat ein Schreiben seines Landesherrn mit der Aufforderung, sich den als des Heyl. Reichs Waffen deklarierten bayerischen Truppen nicht zu widersetzen, die Schweden nicht zu unterstützen und sich vielmehr zu bemühen, diese zum freiwilligen Abzug zu bewegen. 76 Der Stadtkommandant erhielt von de la Pierre einen Brief, in dem freier Abzug bei Übergabe der Stadt angeboten wurde. 77 Przyemsky aber weigerte sich und verbot dem Rat, der auch die Mitglieder des Stadtgerichts und den Großen Rat zu seinen Beratungen hinzugezogen hatte, 78 das bayerische Schreiben auf irgendwelche Art substanziell zu beantworten. 79 Den Boten ließ er auf dem Heimweg aufhalten und gefangen wieder in die Stadt bringen. 80 Dennoch gelang es dem Rat, noch am selben Tag einen auf ungewöhnlich kleinem Papierformat geschriebenen Brief an Kurfürst Maximilian hinauszuschmuggeln, in dem er darstellte, dass die Memminger ihrer selb nicht mechtig seien, sondern sich den Drohungen des Kommandanten fügen müssten. Der Kurfürst 75 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 14-14’: Kurfürst Maximilian an Kastner zu Mindelheim, 1647 Sept. 18. 76 Kurfürst Maximilian an Bürgermeister und Rat, München, 1647 Sept. 19. Das Schreiben wurde in zweifacher Ausfertigung sowie in einer zusätzlichen unbeglaubigten Abschrift auf kleine Papierstücke eng geschrieben und auf sehr kleines Format gefaltet. Alle drei Versionen kamen beim Empfänger an; StadtA Memmingen, A 378b. Diese Beförderungsart entsprach dem Befehl an den Kastner (s. Anm. 75), indem dieser beauftragt worden war, eine Stunde nach dem ersten noch einen zweiten Boten loszuschicken, der eine Zweitausfertigung des kurfürstlichen Schreibens, getarnt als Brief des Salzbeamten zu Landsberg an den Bürgermeister Koch, bei sich tragen sollte. Identifizierung des Boten als der Taxbergische underthon, so die würtschafft allda hat, durch BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 41-41’: Schreiben des Kastners Benedikt Hochenleitner zu Mindelheim an Kurfürst Maximilian, Mindelheim, 1646 Sept. 23. 77 StadtA Memmingen, A 378b: De la Pierre an Przyemsky, o. D. Przyemsky beantwortete den Brief am 14./ 24. September, indem er darauf verwies, dass er sich als Soldat um die rationes status großer potentaten nicht zu kümmern, sondern gemäß seinen Befehlen die ihm anvertraute Stadt zu verteidigen habe; BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943 fol. 57-57’. 78 StadtA Memmingen, A 29, fol. 289’-291: Protokoll des Geheimen Rats, 1647 Sept. 10/ 20. 79 Ein solches Schreiben, in dem der Rat sich mit seiner Machtlosigkeit gegenüber dem Kommandanten entschuldigen und um Unterlassung des Angriffs bitten wollte, war bereits aufgesetzt, wurde aber zunächst nicht abgesandt. Stattdessen erhielt Maximilian dieweilen uns aber solches zu beantwortten nicht gestattet werden will, zunächst nur eine Empfangsbestätigung. Erlaubt wurde dem Rat nur, sich an die Reichsstadt Ulm um Vermittlung zu wenden (Konzepte in StadtA Memmingen, A 378b; die Empfangsbestätigung im Original in BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 37-38’). 80 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 28-29’: Benedikt Hochenleitner an Kurfürst Maximilian, Mindelheim, 1647 Sept. 21. <?page no="181"?> G E RHAR D I M ML ER 182 möge daher die Stadt verschonen und sich bemühen, dem Krieg mit friedlichen Mitteln ein Ende zu machen. 81 Die Beförderung dieses Briefes gestaltet sich nach einem Bericht des bayerischen Kastners zu Mindelheim dramatisch: Auf Fürbitte mit ihm bekannter Memminger Bürger ließ der Kommandant den Wirt von Daxberg nämlich zwei Tage später wieder frei, ihn aber sicherheitshalber durch den Profossen, also einen Amtsträger der militärischen Polizeigewalt, bis vor das Tor führen. Zufälligerweise war jedoch auch die Frau des Wirts in der Stadt gewesen und in deren Haar verborgen wurde der Brief des Rats aus der Stadt gebracht. 82 Während diese Geheimaktion im Hintergrund erfolgten waren die vor den Augen der Memminger Bürger sich abspielenden Ereignisse dramatisch genug: Noch am Nachmittag des 20. September waren weitere Truppen vor der Stadt eingetroffen und begannen, die Zufahrtswege zu blockieren. Przyemsky forderte tags darauf die Zünfte auf, sich an der Seite seiner Soldaten an der Verteidigung zu beteiligen, diese weigerten sich aber. 83 Die Besatzungsmacht schritt daraufhin zu härteren Maßnahmen und zwang am folgenden Sonntag, den 12./ 22. September, die ganze Bürgerschaft, sich auf dem Markt zu versammeln, wo der Oberst selbst eine Rede hielt, in der er drohte, alle, die nicht kämpfen wollten, durch den Scharfrichter, also auf schimpfliche Weise, der Stadt verweisen zu lassen. Nachdem nun die Burger solchen Ernst und Gewalt gesehen, haben sie in sein Begehren gezwungen einwilligen müssen. 84 Ein Vorschlag des Rats, 200 ausgewählte Handwerksburschen zu bewaffnen, die Bürger aber nur zu Lösch- und Schanzarbeiten heranzuziehen, wurde von Przyemsky mit den Worten abgelehnt, er könne sich als Kommandant keine Vor- 81 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 38c-38c’: Bürgermeister und Rat an Kurfürst Maximilian, 1646 Sept. 10/ 20. Aus den Ratsakten geht nicht hervor, dass die Absendung schließlich doch noch gelang. Offenbar musste dies gegenüber dem schwedischen Kommandanten geheim gehalten werden und wurde darum auch nicht dokumentiert. 82 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 41-41’: Benedikt Hochenleitner an Kurfürst Maximilian, Mindelheim, 1646 Sept. 23. 83 Bei den Ratsakten (StadtA Memmingen, A 378b) liegt ein Konzept eines Fürhalt, in dem der Rat auß ernstlichem bevelch des herrn obersten und commandanten (dies nachträglich eingefügt) die Bürger auffordert, sich mit ihren Gewehren viertelsweise zu versammeln und zur Feuerwacht sowie als Mauerbesatzung verwenden zu lassen. Das Ratsprotokoll vom 11./ 21.9. stellt aber klar, dass der Inhalt dieses Aufrufs nicht den Intentionen des Rats, sondern ausschließlich denen des Kommandanten entsprach, der gedroht hatte, widerspenstige Bürger der Stadt zu verweisen und ihre Häuser plündern zu lassen; StadtA Memmingen, A 29, fol. 292. 84 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 156. Siehe auch StadtA Memmingen, A 29, fol. 294: Protokoll des Geheimen Rats, 1647 Sept. 12/ 22. Laut einer schriftlichen Bekanntmachung, die der Rat in Abschrift einem am 22. September ebenfalls hinausgeschmuggelten Brief an Kurfürst Maximilian (s. unten Anm. 86) beilegte, fügte Przyemsky noch die Drohung hinzu, die Güter Widerspenstiger zu konfiszieren und ihre Häuser abreißen zu lassen; BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 38b. <?page no="182"?> Z WEIMAL M E MMINGEN IM B R ENNP U NKT DE S D R EIS S IG JÄHR IGEN K R IE GE S 183 schriften machen lassen. Die Stadt befand sich in einem Zwiespalt zwischen ihrer Treue gegenüber Kaiser und Reich und der unmittelbar wirksamen Gewalt der schwedischen Besatzer, was noch besonders zugespitzt wurde durch ein kaiserliches Schreiben, das am 15./ 25. September - adressiert an den Rat - eintraf, diesem aber vom Kommandanten abgefordert und den bayerischen Belagerern zurückgeben wurde. 85 Immerhin war es dem Rat anlässlich der Freilassung des Wirts von Daxberg gelungen, an Kurfürst Maximilian heimlich noch ein zweites Schreiben abgehen zu lassen, in dem unter Verweis darauf, die Stadt könne sich dem gewaltthetigen tyrannischen procedere Przyemskys nicht widersetzen, um Abbruch der Belagerungsvorbereitungen gebeten wurde. 86 Bemerkenswert ist, dass bei den Beratungen von Rat und Bürgerschaft die Frage der Konfession des jeweiligen Kriegsherrn offenbar nur mehr sehr vage und im quasi Atmosphärischen eine Rolle spielte, aber kein ausschlaggebendes Argument für die Verteilung von Sympathie und Antipathie mehr war. 87 Zwar hat der Stadtkommandant in der großen Ratssitzung vom 10./ 20. September mehrfach an die konfessionelle Solidarität der Memminger appelliert, aber er hatte auch gedroht, Schweden könne die Stadt Memmingen aus dem künftigen Friedensvertrag ausschließen, was wohl bedeuten sollte, der Stadt darin zugunsten der Protestanten enthaltene Bestimmungen nicht angedeihen zu lassen. Die Beratungen der städtischen Gremien aber zeigten, dass das konfessionelle Argument nicht recht zog, denn auf der anderen Seite schien es verschiedenen Sprechern wichtig, es sich mit dem Kaiser nicht zu verderben; die Stadt habe sich schon genug Hass und Neid von den Nachbarn zugezogen, weil sie die 85 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 157. Eine Abschrift des Schreibens, d. d. Pilsen, 1647 Sept. 18, findet sich noch bei den Ratsakten; StadtA Memmingen, A 378b. 86 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 38-38b: Bürgermeister und Rat an Maximilian, 1647 Sept. 12/ 22. Przyemsky scheint vom Vorwurf ›tyrannischen‹ Verhaltens erfahren zu haben, denn er erklärte dem Rat, er werde die Theologen fragen, ob er tyrannisch handle. Vgl. StadtA Memmingen, A 29, fol. 295: Protokoll des Geheimen Rats, 1647 Sept. 14/ 24. Die Bezeichnung als Tyrann bedeutete einen religiös-moralischen Makel, denn üblicherweise galt dieser Vorwurf den Türken, daher Przyemskys Appell an das Urteil der Theologen. 87 Symptomatisch ist, dass S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 494, die schwedischen Truppen scharf kritisiert, weil sie bei einem Einfall in Ochsenhausen am 13./ 23. März 1647 die Bauern misshandelt hätten mit allerley schwehren sünden. Als Ende März die schwedische Besatzung die bayerische in Memmingen ablöste, meinte er aber doch, die Schweden seien eingezogen als freindt, darum Gott alles wunderbarlich allein wenden und enden kann; die Bemerkung scheint allerdings vorwiegend von der Hoffnung getragen zu sein, dem Waffenstillstand werde bald der Friede folgen; StadtA Memmingen, A 29, S. 495-497. Wenig später fand Dochtermann Anlass, Bürger zu kritisieren, die den schwedischen Soldaten Pferde und andere Sachen abkauften, die diese vorher den Bauern gestohlen hatten; guotherzige Burger, die Gott und sein wort glauben, haben keine solche gestollne sachen kaufft; StadtA Memmingen, A 29, S. 498. <?page no="183"?> G E RHAR D I M ML ER 184 Schweden eingenommen habe, obwohl dafür doch Bayern verantwortlich gewesen sei. Bei insgesamt bestehender Ratlosigkeit über konkret zu ergreifende Schritte ging die allgemeine Meinung dahin, sich möglichst passiv zu verhalten und zu hoffen, dass irgendwie alles nicht zu schlimm werde. 88 Die Oberbefehlshaber der gegen Memmingen aufgebotenen bayerischen Truppen erfuhren von dieser Haltung der Bürgerschaft überdies zu deren Unglück nichts. Sei es aufgrund einer von den Schweden betriebenen Desinformation, sei es aus eigener Fehleinschätzung, jedenfalls berichteten sie dem Kurfürsten, die Memminger hätten dem Stadtkommandanten geschworen, sich mit ihme zu wehren und bey ihme zu halten. 89 Kurfürst Maximilian allerdings scheint die Lage richtiger eingeschätzt zu haben, denn er befahl seinen Heerführern, den Kommandanten von solchen extremiteten ‒ nämlich einer Verteidigung bis zum Sturm ‒ abzuhalten, bevorab auch, wan die burgerschafft ime nit assistirn sollte; in diesem Falle sollten sie dafür sorgen, dass den Bürgern und nach Memmingen geflüchteten Zivilisten von den Soldaten kein Leid angetan und die Stadt auch nicht geplündert werde. 90 Przyemsky hat den Vorschlag des Rats, die Bürger vom Dienst mit der Waffe zu verschonen und nur 200 ledige Handwerksgesellen zu bewaffnen, dann doch umgesetzt, wohl weil er sich von unwilligen Verteidigern militärisch wenig erwarten konnte; den bewaffneten Gesellen aber versprach er zur Steigerung ihrer Motivation 1 Gulden Sold pro Woche - auf Kosten der Stadt. 91 Wirklich ernst wurde es mit der Belagerung, nachdem am 17./ 27. und 18./ 28. September neben den bisher eingesetzten Reitern auch Infanterie und Artillerie eintrafen, so dass nun insgesamt neun Regimenter Infanterie, vier Regimenter Kavallerie und 26 schwere und dazu »etliche« leichte Geschütze um Memmingen aufgeboten waren. Das Hauptquartier der Belagerungsarmee war in Buxheim, wo der Reichsprior seine Klosterzelle für den Generalwachtmeister Johann von Winterscheid räumen musste; da der General seine Frau bei sich hatte, sicher für die Kartäuser eine peinliche Situation. Am 19./ 29. September traf der kaiserliche Generalfeldzeugmeister von Enkevoirt mit zwei weiteren Regimentern Infanterie ein. 92 88 StadtA Memmingen, A 29, fol. 290-291: Ratsprotokoll, 1647 Sept. 10/ 20. Der erwähnte Hass und Neid der (katholischen) Nachbarn mag daher gerührt haben, dass die Schweden möglichst diese mit Kontributionen belasteten und Memmingen schonten. 89 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 47-47’: De la Pierre und Winterscheid an Kurfürst Maximilian, Buxheim, 1646 Sept. 26. 90 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 52-52’: Kurfürst Maximilian an de la Pierre, Winterscheid und Royer, München, 1645 Sept. 26. 91 StadtA Memmingen, A 29, fol. 296 u. 299: Protokoll des Geheimen Rats, 1647 Sept. 14/ 24 u. 15/ 25; S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 507. 92 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 158; E. H ÖFER , Ende des Dreißigjährigen Krieges (Anm. 61), S. 115. <?page no="184"?> Z WEIMAL M E MMINGEN IM B R ENNP U NKT DE S D R EIS S IG JÄHR IGEN K R IE GE S 185 Die schwedische Besatzung bestand trotz der zwischenzeitlich zum Unwillen der Memminger vorgenommenen Verstärkungen 93 nur aus 400 bis 500 Mann, darunter etwa 70 Reiter. 94 Bürger und Bauern wurden von den Schweden zu Schanzarbeiten gezwungen; Personen, die von dieser Zwangsarbeit entliefen, durch Ausstellen am Pranger bestraft. Am 21. September/ 1. Oktober begann die Beschießung der Stadt mit schwerer Artillerie, wodurch sogleich die St. Martinskirche beschädigt wurde, so dass die Gottesdienste und Predigten in die Frauenkirche und Dreikönigskapelle verlegt werden mussten. 95 Am 25. September/ 5. Oktober war das erste Todesopfer unter den Bürgern, ein beim Schanzen eingesetztes Mädchen, zu beklagen; in der Nacht verursachten Brandgeschosse mehrere Feuer in Getreidelagern, die sich auch auf umliegende Häuser ausbreiteten, und am folgenden Tag richteten Steinkugeln schwere Schäden an verschiedenen Häusern an. 96 Frauen und Kinder begannen, sich in der Frauenkirche, im Franziskanerinnenkloster und im Kreuzherrenkloster in Sicherheit zu bringen und darin Wertgegenstände zu verstecken. 97 Offenbar war die Einschätzung der Lage der schwedischen Besatzung durch die Bürger pessimistisch; der von dieser propagierten Deutung des Krieges als Konfrontation der Konfessionen entzogen sie sich. Die lutherischen Memminger hatten, wenn es um die Sicherheit von Familienangehörigen und Eigentum ging, keine Berührungsängste vor der typisch katholischen Institution Kloster; sie scheinen vielmehr darauf gehofft zu haben, dass Soldaten eines katholischen Kriegsherrn Ordensniederlassungen im Ernstfall möglichst schonen würden. Am 4./ 14. Oktober wurde das Westertor schwer beschädigt und auch das Krugstor beschossen, was auf die Absicht der Belagerer hindeutet, gezielt die Verteidigungswerke der Stadt zu schwächen. Am folgenden Tag wurde dies auf weitere Abschnitte des Mauerrings ausgedehnt. Trotz verschiedener nächtlicher Ausfälle der Schweden wurde das Artilleriefeuer weiter intensiviert; es verursachte am 9./ 19. Oktober an drei Orten in der Stadt Brände. Nachdem dabei eine achtköpfige Familie mit zwei Mägden nur knapp dem Tode entkommen war, weil eine Granate, die in ihr Haus fiel, nicht explodierte, kam am 11./ 21. Oktober erneut eine Schanzarbeiterin ums Leben. 98 Offensichtlich wurden in erheblichem Umfang Frauen für diese Arbeit eingesetzt. 99 Am 15./ 25. Oktober gab es erstmals ein ziviles 93 StadtA Memmingen, A 377b: Memorial für den schwedischen Residenten Snoilski in Benfeld, o. D. [Mai 1647]. 94 E. H ÖFER , Ende des Dreißigjähigen Krieges (Anm. 61), S. 118. 95 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 159. 96 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 160f. 97 S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 510. 98 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 163-165. 99 Der Rat hatte am 22.9./ 2.10. beschlossen, bei Przyemsky einen Vorstoß zu unternehmen, v. a. die Soldatinen, also die Ehefrauen der Soldaten, schanzen zu lassen, die die Stadt dafür bezahlen werde; StadtA Memmingen, A 29, fol. 299’. <?page no="185"?> G E RHAR D I M ML ER 186 Opfer in der Stadt selbst, indem ein Müllerknecht durch Splitter eines Artilleriegeschosses tödlich getroffen wurde; am 19./ 29. wurde ein Bierwirt von herabfallenden Trümmern getötet. Am selben Tag unternahmen die Bayern den ersten Versuch eines Sturms bei der Westerschanze, der aber abgewiesen wurde. 100 Durch Sprengungen von Minen in unter den Stadtmauern gegrabenen Stollen kam es am 26. und 27. Oktober/ 5. und 6. November zu drei Toten unter den Bürgern, und weitere Opfer gab es in den folgenden Tagen, so dass die Stadt schließlich elf tote Zivilisten zu beklagen hatte. 101 Am 30. Oktober/ 9. November bot Przyemsky den Bürgern, die sich bewaffnet an der Verteidigung beteiligen wollten, an, sie von der Zwangsarbeit beim Schanzenbau freizustellen, aber nur wenige wollten darauf eingehen, obwohl auch die Schanzarbeit wegen der Minen gefährlich war. 102 Eine Übergabeaufforderung Enkevoirts wies der Kommandant am 2./ 12. November ab. 103 Am 10./ 20. November erhängten die Belagerer demonstrativ einen Dickenreishausener, der Briefe in die Stadt hatte schmuggeln wollen, und am selben Tag entschloss sich der Kommandant aufgrund Munitionsmangels sowie der Tatsache, dass er neben fünfzig Gefallenen auch zahlreiche verletzte und nicht mehr kampffähige Soldaten hatte, zur Aufnahme von Kapitulationsverhandlungen, während derer Waffenruhe gehalten wurde. 104 Die Verhandlungen scheiterten aber am folgenden Tag, woraufhin die Beschießung wieder anfing und erheblichen Schaden anrichtete, was den Rat veranlasste, am 12./ 22. den Kommandanten aufzufordern, den Widerstand aufzugeben, was dieser aber mit harten Worten abwies. Stattdessen ließ er seine Reiter in den Gassen patroullieren, damit von den Bürgern und Inwohnern nichts wider sie practicirt werde. Doch schon am Tag darauf nahm Przyemsky ein bayerisches Angebot ehrenvoller Kapi- 100 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 166f. 101 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 169-171; E. H ÖFER , Ende des Dreißigjährigen Krieges (Anm. 61), S. 126. 102 S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 515. Der Geheime Rat hatte zuvor eingewilligt, dazu Przyemsky eine Liste der ledigen und der möglicherweise wehrwilligen Bürger zu übergeben, und war nun insgesamt mehr als bisher pro-schwedisch gesinnt und über die Belagerer aufgebracht, was aber von den Mitgliedern des Stadtgerichts und des Großen Rats nicht recht geteilt wurde, die Wert darauf legten, nur Freiwillige heranzuziehen. Vgl. StadtA Memmingen, A 29, fol. 314 u. 317-318: Ratsprotokolle, 1647 Okt. 27/ Nov. 6 u. 1647 Okt. 29/ Nov. 8. 103 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 172. 104 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 175. Der Geheime Rat hatte eben beschlossen, den Kommandanten zu Verhandlungen aufzufordern, als ihm mitgeteilt wurde, dieser habe sich selbst dazu entschlossen. Die demonstrative Hinrichtung hatte offensichtlich insofern Bedeutung, als man in Memmingen einen nach Ulm ausgeschickten Boten vermisste. Vgl. StadtA Memmingen, A 29, fol. 321: Protokoll, 1647 Nov. 10/ 20. <?page no="186"?> Z WEIMAL M E MMINGEN IM B R ENNP U NKT DE S D R EIS S IG JÄHR IGEN K R IE GE S 187 tulation an, 105 das am 14./ 24. unterschrieben wurde, und zog am 15./ 25. mit seinen verbliebenen Soldaten unter bayerischem Konvoi nach Erfurt ab. 106 Der Grund für die im erstem Ansatz trotz grundsätzlicher Kapitulationsbereitschaft gescheiterte Übergabe der Stadt erhellt der Bericht der bayerischen Kriegskommissare an Kurfürst Maximilian: Przyemsky hatte zunächst darauf bestanden, bei seinem Abzug auch Soldaten mitnehmen zu dürfen, die früher einmal dem Kaiser oder Bayern gedient hatten, und dies war seitens der Generäle der Belagerungsarmee abgelehnt worden. Diese setzten daraufhin ihrerseits einen Entwurf eines Accords auf und ließen diesen in der Nacht vom 22. auf den 23. November in die Stadt hineinrufen ‒ in der Erwartung, dass daraufhin die Bürger den Kommandanten bestürmen würden, ihn anzunehmen. 107 Insgesamt gab der städtische Chronist Schorer dem Kommandanten das Zeugnis, dass er ein sehr tüchtiger Kriegsmann und ein strenger und gegenüber bürgerlichen Forderungen, auf die Schonung der Stadt bedacht zu sein, unbarmherziger, aber immerhin ein gerechter Stadtherr gewesen sei; Vorwürfe gegen die Bürgerschaft, sich den Schweden nicht widersetzt zu haben, dagegen seien ungerecht, da es gegenüber einer professionellen Truppe an der Möglichkeit dazu gefehlt habe. 108 Dochtermann wiederum machte ihm zum Vorwurf, dass er 15 Häuser und Städel in der Stadt nur dazu habe abbrechen lassen, um das darin verbaute Holz zum Schanzen verwenden zu können. 109 Der Hintergrund der Handlungsweise Przyemskys, den Widerstand so lange aufrechtzuerhalten, bis ihm fast die Munition ausgegangen war, ist darin zu sehen, dass die Belagerung von Memmingen die kaiserlich-bayerische Seite daran hinderte, alle Kräfte auf die Verfolgung der im Rückzug 105 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 581-581’: Sigershofen und Lerchenfeld an Kurfürst Maximilian, Buxheim, 1647 Nov. 23. 106 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 176f. J AN P ETERS (Hg.), Ein Söldnerleben im Dreißigjährigen Krieg. Eine Quelle zur Sozialgeschichte, Berlin 1993, S. 186. Der Verfasser der hier edierten Autobiographie eines Söldners war trotz vermutlich protestantischer Konfession (vgl. S. 23) Söldner im bayerischen Heer und machte selbst die Belagerung von Memmingen mit. 107 BayHStA, Kurbayern, Äußeres Atrchiv 2943, fol. 575-576: Sigershofen und Lerchenfeld an Kurfürst Maximilian, Buxheim, 1647 Nov. 22. 108 C H . S CHORER , Memminger Chronick (Anm. 19), S. 179-181. Zur organisatorischen und psychologischen Leistung Przyemskys s. auch E. H ÖFER , Ende des Dreißigjährigen Krieges (Anm. 61), S. 123f. Der Geheime Rat beschloss am 11./ 21. November, ihm beim vorauszusehenden Abzug eine verehrung zu geben, solche wohl meritirt worden (StadtA Memmingen, A 9, fol. 325) - ein bemerkenswerter Stimmungsumschwung gegenüber den anfänglichen Vorwürfen ›tyrannischen‹ Verhaltens. 109 S. D OCHTERMANN , Chronik (Anm. 7), S. 520. <?page no="187"?> G E RHAR D I M ML ER 188 aus Böhmen an die Weser begriffenen schwedischen Hauptarmee zu konzentrieren. 110 Der Stadt Memmingen war im Accord über die Übergabe der Stadt seitens der kaiserlichen und bayerischen Befehlshaber zugesichert, dass diese und ihre Soldaten nichts gegen deren Immunitäten und Privilegien unternehmen würden, allerdings mit dem Zusatz, die Stadt würde sich beim Kaiser und an gehörigen ortten, womit wohl Kurfürst Maximilian gemeint war, schon zu rechtfertigen wissen. 111 Der Rat hätte gern eine weit umfassendere Garantie erreicht, insbesondere auch für die Einwohner, die sich an der Verteidigung beteiligt hatten, 112 aber die Militärs wollten offenbar nicht in politische Kompetenzen ihrer Kriegsherren eingreifen. Nicht gescheut haben sie sich allerdings, der Stadt Memmingen 7.000 Gulden für Ranzion der Glocken abzupressen. 113 Memmingen versuchte dagegen, von den ehemaligen Kontributionsgebieten der Schweden nachträglich noch deren Anteile an der während der Belagerung allein von der Stadt aufgebrachten Löhnung der schwedischen Garnison einzutreiben und berechnete eine Forderung von 8.497 Gulden 37 Kreuzer 4 Heller. 114 Erfolg dürfte die Stadt dabei kaum gehabt haben. Immerhin konnte sie durch eine Gesandtschaft nach München erreichen, dass Kurfürst Maximilian 110 E. H ÖFER , Ende des Dreißigjährigen Krieges (Anm. 61), S. 128. Zum Munitionsmangel ebd., S. 125: Die Eroberer fanden fast nichts an Blei und Kupfer mehr vor, obwohl die Schweden das Zinngeschirr der Bürger als Bleiersatz eingeschmolzen hatten. Ob allerdings Höfers Urteil zutrifft, die Belagerung von Memmingen sei ein schwerer strategischer Fehler v. a. des Kurfürsten Maximilian gewesen, sei dahingestellt. Maximilian musste damit rechnen, dass der Waffenstillstand mit Frankreich, den er von sich aus nicht kündigen wollte, nicht halten würde; in diesem Falle musste er darauf bedacht sein, die Westgrenze Bayerns zu sichern. 111 StadtA Memmingen, A 378b: Abschrift der von den kaiserlich-bayerischen Befehlshabern vorgelegten Accordspuncten vom 13./ 23. Nov. 1647. 112 Ein entsprechender Ratsbeschluss vom 10./ 20. November war dem Kommandanten zugestellt und von diesem in einen von ihm noch am selben Tag aufgesetzten Entwurf eines Übergabeakkords aufgenommen worden; StadtA Memmingen, A 378b. Der Hauptunterschied zwischen diesem von den Belagerern abgelehnten und dem schließlich angenommenen Abkommen lag jedoch in der Behandlung von Überläufern (vgl. Anm. 107), auf deren Herausgabe die Belagerer am Ende erfolgreich bestanden - nicht um sie zu bestrafen (Massen ihnen nichts arges auch nicht widerfahren solle) -, sondern um sie wieder in die eigenen Regimenter einzureihen. Dasselbe bei den damaligen Söldnerheeren beliebte und als »Unterstecken« bezeichnete Verfahren schlugen die bayerischen Kriegskommissare in ihrem Schreiben vom 23. November (s. Anm. 105) bezüglich der jungen Handwerksburschen vor, die sich an der Verteidigung beteiligt hatten. 113 StadtA Memmingen, A 379a: Bürgermeister und Rat zu Memmingen an Ältere und Geheime zu Ulm, 1647 Dez. 1/ 10. 114 StadtA Memmingen, A 379a: Verzeichnis der lehnung, so die statt Memmingen der Schwedischen guarnision in wehrender belegerung hergeschossen. <?page no="188"?> Z WEIMAL M E MMINGEN IM B R ENNP U NKT DE S D R EIS S IG JÄHR IGEN K R IE GE S 189 anordnete, nur das Infanterieregiment Winterscheid als Besatzung in der Stadt zu belassen und dass Fürststift und Reichsstadt Kempten, die Klöster Buxheim und Ottobeuren und die Herrschaft Mindelheim ebenfalls zu dessen Unterhalt beitragen mussten. 115 Während der Belagerung waren noch mehrere der umliegenden geistlichen und weltlichen Herrschaften zu Brotlieferungen herangezogen worden. 116 Glück und Heil wie im Jahr 1630 hat Memmingen, als es 1647 zum zweiten Mal zum Brennpunkt des Dreißigjährigen Krieges wurde, ganz und gar nicht gehabt und die Stadt durfte froh sein, dass sie im letzten Kriegsjahr im Windschatten der nur knapp weiter nördlich - aus Württemberg Richtung Augsburg - nochmals vorüberziehenden Kriegsfurie blieb, 117 ehe am 24. Oktober 1648 in Münster und Osnabrück endlich der Friede geschlossen wurde. 3. Handlungsspielräume und Mentalitäten von Rat und Bürgerschaft im Zeichen von Krieg und Krise 1630 und 1647 Deutlich geworden ist, dass die Situationen von 1630 und 1647 sich grundlegend unterschieden. Im Jahr 1630 spürte man trotz der Gegenwart des scheinbar übermächtigen (und dann doch so sang- und klanglos abgesetzten) kaiserlichen Generalissimus und vieler Soldaten wenig vom Krieg, der schon seit zwölf Jahren tobte - allerdings anderswo. Abgesehen von Rücksichtnahmen auf persönliche Befindlichkeiten Wallensteins - etwa seine Lärmempfindlichkeit, wegen der das nächtliche Stundenausrufen abgeschafft wurde - war die Stadt im Normalmodus. Die Bürgerschaft gehorchte fraglos dem Rat, und wo es aus obrigkeitlicher Sicht Disziplinlosigkeit gab, wurden nach dem Abzug Wallensteins die Zügel gleich wieder angezogen, wie man an der Stadtverweisung der Memmingerinnen, die sexuelle Beziehungen zu Soldaten aufgenommen hatten, sieht. Ganz anders 1647: Dieses Schicksalsjahr folgte auf eines, in dem Oberschwaben bereits Kriegsschauplatz gewesen war. Der Geheime Rat war über den politischen Kurs höchst verunsichert. In dieser Krise bezog er breitere Kreise in den Prozess der Entscheidungsfindung mit ein: Man berief den Großen Rat, um die Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen, was die bestehende Ratlosigkeit aber auch nicht auflösen konnte. Dieselbe breite Abstützung suchte auch der schwedische Kommandant - unter Einsatz von Zwang, aber auch des Versuchs der 115 StadtA Memmingen, A 379a: Kurfürstliche Resolution, München, 1647 Dez. 17; u. Schäffer an Bürgermeister und Rat zu Memmingen, Aschendorf, 1647 Dez. 18. 116 Verzeichnis in BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943, fol. 400-402’. 117 Zum Feldzug der Schweden und Franzosen von Franken über die obere Donau zum Lech im Sommer 1648 s. E. H ÖFER , Ende des Dreißigjähriger Kriegs (Anm. 61), S. 179- 203. <?page no="189"?> G E RHAR D I M ML ER 190 Überzeugung. Tatsächlich gelang es ihm, sich zwar nicht Zustimmung, wohl aber Gehorsam zu erzwingen und sich am Ende des Respekts wenigstens eines Teils der Memminger Bürgerschaft vor seiner professionellen Leistung zu versichern. Dass er sich zunächst darauf berufen hatte, als Soldat dem ›Primat der Politik‹ zu unterstehen, während der wochenlangen Belagerung Ausschreitungen seiner sicher unter schwerem Stress stehenden Soldaten vermieden und am Ende in einer Situation, die nach üblichem Kriegsbrauch eine ehrenvolle Kapitulation rechtfertigte, nämlich Munitionsmangel, diesen Schritt vollzogen und damit der Stadt einen verheerenden Sturm der Belagerer erspart hatte, trug ihm Anerkennung ein. Keinen Erfolg hatte Przyemsky dagegen mit dem Versuch gehabt, die Memminger mit dem Appell an die gemeinsame protestantische Konfession zur engagierten Teilnahme an der Verteidigung der Stadt gegen Bayern und Kaiserliche aufzurufen. Dies lenkt den Blick auf die mentale Bedeutung der Religion in einem Krieg, der 1618 zumindest vordergründig als konfessioneller Konflikt in den böhmischen Ländern begonnen hatte. 118 Wie die durchaus als Zeugnisse des ›gemeinen Mannes‹ zu wertenden städtischen Chroniken zeigen, waren religiös motivierte Werturteile allgegenwärtig. Sie waren aber auffälligerweise bei den Memminger Lutheranern von keiner Frontstellung geprägt, weder gegen Wallenstein, dessen Rolle als Konvertit vom Protestantismus zum Katholizismus nicht einmal thematisiert wird, noch gegen die Bayern, deren Kurfürst doch einer der herausragenden Exponenten der Gegenreformation war. Vielmehr wurden religiöse Maßstäbe herangezogen, um das sittliche Verhalten von Soldaten und Bürgern zu beurteilen. So charakterisierte der Chronist Dochtermann schwedische Söldner, die im März 1647 katholische Ochsenhausener Bauern misshandelten und ausplünderten, als ›schwere Sünder‹ und lobte Memminger Bürger, die sich Gewissens halber geweigert hätten, Plünderungsgut zu kaufen. 119 Mehrfach begegnen 1647 in den Chroniken und einmal selbst als Randbemerkung in einem Ratsprotokoll 120 Äußerungen, die den Frieden als spezifisch christliches Anliegen kennzeichnen. Dieses Ergebnis ist für eine lutherische Reichsstadt in einem überwiegend katholisch, teilweise auch reformiert 121 geprägten Umland, die zudem in ihren Mauern drei Klöster als konfessionelle Fremdkörper aufwies, durchaus bemerkenswert. Gerade diese katholischen Enklaven innerhalb der Stadtmauern wurden nämlich in der akuten Krise von 1647 nicht zu Steinen des Anstoßes, sondern zu Orten der Zuflucht. Dieser 118 Dass es sich, untrennbar damit verknüpft, zugleich um einen Machtkampf zwischen habsburgischer Landesherrschaft und den von protestantischen Adeligen beherrschten Ständen gehandelt hat, ist unstrittig. 119 Vgl. Anm. 87. 120 Vgl. Anm. 49. 121 Vgl. P AUL H OSER , Die reformierten Gemeinden in den Herrschaften Grönenbach, Rotenstein und Theinselberg im Allgäu, in: P EER F RIESS / R OLF K IESSLING (Hg.), Konfessionalisierung und Region (Forum Suevicum 3), Konstanz 1999, S. 161-188. <?page no="190"?> Z WEIMAL M E MMINGEN IM B R ENNP U NKT DE S D R EIS S IG JÄHR IGEN K R IE GE S 191 Befund ist für das konfessionelle Zeitalter, das sich freilich seit dem Beginn der Friedensverhandlungen in Westfalen deutlich dem Ende zuneigte, von echter Bedeutung. 122 Offenbar hat die Not von Krieg und Krise in der Bevölkerung nicht zu einer Verhärtung der konfessionellen Konfrontation, sondern zu einer Besinnung auf den friedenstiftenden Charakter der christlichen Botschaft beigetragen. 122 Hier nicht behandelt werden kann die Frage, ob gerade die spezifische Situation Memmingens als Reichsstadt mit einem relativ geräumigen Herrschaftsgebiet in einem territorial und konfessionell zersplitterten Umland irenische Stimmungen gefördert haben mag, im Gegensatz etwa zur ebenfalls lutherischen Reichsstadt Kempten, die in ihrer Umzingelung durch das übermächtige katholische Fürststift Kempten in den Jahren bis 1630 mit dem Prediger Georg Zeämann einen leidenschaftlichen konfessionellen Polemiker beheimatete; vgl. P AUL W ARMBRUNN , Evangelische Kirche und Kultur in der Reichsstadt, in: V OLKER D OTTERWEICH u. a. (Hg.), Geschichte der Stadt Kempten, Kempten 1989, S. 273-289, hier 282f. <?page no="192"?> 193 M ICHAEL K AISER Das schwierige Ende des Krieges. Die Abdankung des Regiments Winterscheid in Memmingen 1649 1. Das Kriegsende im Reich und das Problem der Abdankungen Als am 24. Oktober 1648 in Münster mit der Unterzeichnung der Instrumenta Pacis Westphalicae der Westfälische Friede geschlossen wurde, ging ein Krieg zu Ende, der seit dreißig Jahren im Reich und in weiten Teilen Europas gewütet hatte. Denn zunächst einmal stellte das Westfälische Friedenswerk nur einen diplomatischen Erfolg dar, dessen praktische Umsetzung neue Herausforderungen mit sich brachte. Zwar wurden nun, als sich die Nachricht vom Friedensschluss verbreitete, die Kampfhandlungen allerorten eingestellt. Doch war dies schon Frieden? Bei aller Erleichterung, ja Freude über den vereinbarten Frieden gab es durchaus Skepsis, ob sich die ausgehandelten Verträge würden durchsetzen lassen. Damit wurde nicht allein der Friedenswille der Kriegsparteien in Zweifel gezogen. Vor allem gab es einen Faktor, der das Westfälische Friedenswerk schnell hätte Makulatur werden lassen: das Militär. Allenthalben im Reich hatten die verschiedenen Kriegsparteien ihre Truppen stationiert, die jederzeit die Kämpfe wieder aufnehmen konnten. Solange Kriegsknechte präsent waren, würde auch der Frieden brüchig sein. Ein entscheidender Faktor für die Stabilisierung des Friedens war also, das Militär abzudanken. 1 Diese Erkenntnis kam nicht überraschend, und die Zeitgenossen waren sich über die Herausforderungen, die nach dem Westfälischen Friedensschluss immer noch bestanden, durchaus im Klaren. So hatte Schweden zwar von Anfang an den Krieg mit der Maßgabe geführt, dass es am Ende des Krieges die Kosten würde erstattet bekommen. Doch die Summe von fünf Millionen Reichstalern, die der schwedischen Seite bei den Verhandlungen zugesichert wurde, würde nicht ausreichen, um die Forderungen der schwedischen Militärs zu befriedigen. Damit konnte - 1 Viele Studien zum Dreißigjährigen Krieg und Westfälischen Frieden beenden ihre Darstellung gemeinhin mit der Unterzeichnung der Friedensverträge im Oktober 1648. Grundlegend für die unmittelbar darauf folgende Phase ist die Studie von A NTJE O SCHMANN , Der Nürnberger Exekutionstag 1649-1650. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte 17), Münster 1991. <?page no="193"?> M IC HAEL K AIS E R 194 also selbst die Kriegspartei, die sich als Sieger in diesem Krieg sehen konnte und die die Satisfaction der Armee, also die Abgeltung aller finanziellen Forderungen, als Kriegsziel ausgewiesen hatte, nicht sicher sein, dass die eigenen Truppen das Ergebnis der Friedensverhandlungen akzeptieren würden. 2 Ohnehin war über die Ausführung der Friedensbestimmungen vieles unklar geblieben. Dazu gehörte eben auch die konkrete Frage, wie die Gelder für die Abdankung der Truppen aufzubringen sein würden. Für dieses Thema und überhaupt all die übriggebliebenen wurden neue Verhandlungen angesetzt, die ab Mai 1649 in Nürnberg stattfanden. Dieser Executionstag, der also die Ausführungsbestimmungen für den Westfälischen Frieden klären sollte, fand nun Regelungen für die Abdankungen der Truppen. Während eine Lösung mit der französischen Seite erst im Juli 1650 zustande kommen sollte, gelang ein Abkommen mit den Schweden bereits im Frühsommer 1649; am 26. Juni wurde der schwedisch-kaiserliche Hauptrezess unterzeichnet. 3 Zu dem Zeitpunkt hatte Maximilian von Bayern längst mit der Demobilisierung der kurbayerischen Armee begonnen. Andere katholische Reichsfürsten wie die Kurfürsten von Mainz und Köln hielten eine überstürzte Abdankung für riskant - zu groß waren die Bedenken, sich aller Verteidigungsmöglichkeiten zu begeben, wenn die Gegner noch kampfbereite Truppen unterhielten. 4 Ungeachtet dieses tiefverwurzelten Misstrauens hatte der bayerische Kurfürst aber selbst ein großes Interesse daran, sich des Militärapparats zu entledigen. 5 Der Grund dafür lag in der desolaten Finanzlage, die bereits in den vergangenen Kriegsjahren durch die sich militärisch immer weiter verschlechternde Lage ständig schwieriger geworden war; eine zügige Abdankung bedeutete also Kostenersparnis. 6 Für die Finanzierung sollte der Bayerische Reichskreis aufkommen. 7 Die Kreisstände tagten bereits seit Ende 1648, vermochten aber erst Mitte April 1649, ihre - 2 Siehe A. O SCHMANN , Exekutionstag (Anm. 1), S. 41-46. 3 A. O SCHMANN , Exekutionstag (Anm. 1), S. 400-417. - Kurbayern selbst unterzeichnete am 9.9.1649 den sog. Interimsrezess zwischen Schweden und dem Kaiser, siehe die Übersicht ebd., S. 668f. 4 Siehe dazu J OACHIM F. F OERSTER , Kurfürst Ferdinand von Köln. Die Politik seiner Stifter in den Jahren 1634-1650 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte 6), Münster 1976, S. 364-379, bes. S. 367. 5 D IETER A LBRECHT , Maximilian I. von Bayern 1573-1651, München-Wien 1998, S. 1087f. 6 C ORDULA K APSER , Die bayerische Kriegsorganisation in der zweiten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges 1635-1648/ 49 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte 25), Münster 1997, S. 196f. mit Anm. 72. 7 Dies war bereits im Westfälischen Friedensvertrag so festgelegt worden, siehe Art. XVI § 11 IPO; zum Kontext A. O SCHMANN , Exekutionstag (Anm. 1), S. 76f. <?page no="194"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 195 Beratungen abzuschließen. 8 Hintergrund für die langwierigen Verhandlungen waren die als exorbitant empfundenen Geldforderungen der Militärs, die mit den erschöpften Mitteln der Kreisstände nicht zu befriedigen waren. Anstelle der geforderten fünf Monatssolde als Abfindung einigte man sich auf drei. Doch selbst hier zeigte sich bald, dass die Kreisstände diese Gelder kaum aufzubringen imstande waren. Damit es mit den Abdankungen aber überhaupt vorangehen konnte, schoss Maximilian von Bayern Gelder vor: Für die Anteile einzelner Kreisstände streckte der Kurfürst erhebliche Summen vor, die er aus der propria cassa, dem Bargeldvorrat des Fürsten selbst, und der Hofzahlamtskasse nahm. 9 Ebenso mussten die Landstände, die den kurbayerischen Anteil für den Bayerischen Kreis aufzubringen hatten, bei Maximilian Kredite aufnehmen. 10 Die Demobilisierung stellte also zum Ende des Kriegs noch einmal einen außerordentlichen Kraftakt dar, der alle finanziellen Reserven beanspruchte. Immerhin ging es darum, eine Armee im Umfang von ca. 20.000 Mann zu demobilisieren. Diese bestand Ende 1648, also kurz nach Abschluss der Friedensverträge, aus 14 Infanterie-, zwölf Kavallerieregimentern und einem Dragonerregiment. 11 Doch als der Kreistag am 15. April 1649 endlich seine Beschlüsse verabschiedete, waren bereits fünf Kavallerieregimenter abgedankt - ein deutliches Zeichen, wie sehr Maximilian darauf drängte, das kostspielige Militär loszuwerden. 12 Die anderen Regimenter sollten dann in den Folgemonaten an die Reihe kommen. 13 Ein Teil dieser Truppen war in festen Plätzen stationiert; bayerische Garnisonen gab es in Heidelberg, Freiburg i. Br., Donauwörth, Rain am Lech, Hochstätt, Augsburg und Memmingen. 14 In letzterer, zum Schwäbischen Reichskreis gehörenden Reichsstadt, war das Regiment zu Fuß des kurbayerischen Generalwachtmeisters Johann von Winterscheid einquartiert. 15 Es hatte im Februar 1648 eine Stärke - 8 Kreisabschied zu Wasserburg vom 15.4.1649 bei J OHANN G EORG VON L ORI , Sammlung des baierischen Kreisrechts, o. O. 1764, S. 333-340. 9 C. K APSER , Kriegsorganisation (Anm. 6), S. 163f. 10 Siehe den Hinweis bei D. A LBRECHT , Maximilian (Anm. 5), S. 1088. 11 C. K APSER , Kriegsorganisation (Anm. 6), S. 248f. 12 J OHANN H EILMANN , Kriegsgeschichte von Bayern, Franken, Pfalz und Schwaben von 1506 bis 1651, Bd. 2: Kriegsgeschichte und Kriegswesen von 1598-1651, München 1868, S. 929 nach einem Bericht des kurbayerischen Generalkommissars Schäffer. 13 Siehe allgemein dazu die Angaben bei J. H EILMANN , Kriegsgeschichte (Anm. 12), S. 901- 908, 929-931. 14 Eine Übersicht über die von kurbayerischen und kaiserlichen Truppen gehaltenen festen Plätze bei A. O SCHMANN , Exekutionstag (Anm. 1), S. 518f., sowie J. H EILMANN , Kriegsgeschichte (Anm. 12), S. 902. 15 Johann von Winterscheid wurde am 17.4.1641 zum Oberst ernannt und übernahm das Infanterieregiment Günther, das ursprünglich 1622 von Oberst Ernst von Sprintzenstein errichtet worden war und in den Jahren 1626-1632 Pappenheim unterstand; mit der <?page no="195"?> M IC HAEL K AIS E R 196 von 711 Mann, im November desselben Jahres umfasste es 699 Mann, verteilt auf 8 Kompanien. 16 2. Das Regiment Winterscheid in Memmingen Im Folgenden steht die Abdankung dieser Soldaten im Mittelpunkt. Mit dieser Spezialuntersuchung wird erstmalig die Abdankung eines Regiments der kurbayerischen Truppen zum Ende des Dreißigjährigen Kriegs genauer untersucht. Die Vorgänge der kurbayerischen Demobilisierung sind nur in Grundzügen bekannt, gerade auch im Kontext der allgemeinen Implementierung dessen, was der Westfälische Frieden bedeutete. Auf dieser Ebene dominierten, wie oben bereits in Grundzügen sichtbar, vor allem Fragen der Gesamtfinanzierung der Abdankung und des Friedenswerkes insgesamt; verbunden damit war auch das Ansinnen, den Frieden an sich zu festigen - eben weil hier Kriegsparteien, die sich jahrelang erbittert bekämpft hatten, ihn nun erst wieder lernen mussten. Der Wechsel auf die Ebene eines einzelnen Regiments verschiebt die Wahrnehmung. Neben den Interessen der Potentaten - hier konkret eben des Kurfürsten von Bayern - spielten vor allem diejenigen der Militärs eine Rolle, also des Obersten als Regimentschef, seiner Offiziere und der Mannschaften, dazu kamen die Anliegen der Militärverwaltung, vertreten durch die Kriegskommissare, und nicht zuletzt das Interesse der Stadt Memmingen selbst. Alle diese verschiedenen Akteure mit ihren durchaus divergenten Interessen trugen dazu bei, dass die Abdankung des Regiments so schwierig war, zumindest schwieriger als erwartet. Dies lag insbesondere an den Söldnern selbst, die prinzipiell eine ganz andere Sichtweise auf den Friedensschluss hatten. Denn für sie brach nun eine schwierige Zeit an, war doch mit dem Friedensschluss klar, dass der Militärapparat nun nicht mehr gebraucht werden würde. Da die Vorstellung einer zu Friedenszeiten unterhaltenen Truppe unbekannt war, 17 stellte der Friede eine Zäsur für das Militär dar: - Ernennung zum Generalwachtmeister 1647 gehörte Winterscheid zur damals zwölfköpfigen kurbayerischen Generalität; J. H EILMANN , Kriegsgeschichte (Anm. 12), S. 903f., 977, 1129. Zu den familiären Hintergründen Winterscheids ist nichts weiter bekannt; vgl. auch C. K APSER , Kriegsorganisation (Anm. 6), S. 88-94, die zu ihm offenbar keine weiteren Angaben machen kann. Allerdings sind andere Familienmitglieder fassbar, so kämpften bei Jankau ein Fähnrich Bellon von Winterscheid und ein Kapitänleutnant Ferdinand Stotzing von Winterscheid; J. H EILMANN , Kriegsgeschichte (Anm. 12), S. 680. 16 C. K APSER , Kriegsorganisation (Anm. 6), S. 246, 248. 17 Dies gilt insbesondere auch für die These des ›stehengebliebenen Heeres‹, die Johannes Burkhardt 1992 aufgebracht, Bernhard Kroener aber widerlegt hat: »Der Krieg hat ein Loch …«. Überlegungen zum Schicksal demobilisierter Söldner nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: H EINZ D UCHHARDT (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie - politische Zäsur <?page no="196"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 197 Die Truppen würden nun abgedankt, ganze Einheiten einfach aufgelöst werden. Dies bedeutete für tausende Männer, die sich entschieden hatten, im Krieg ihren Lebensunterhalt zu verdienen, den Verlust des Arbeitsplatzes. Mehr noch: Bedingt durch die Dauer des Kriegs hatten viele Söldner nur diese eine biographische Option - sie waren in jungen Jahren zur Armee gekommen und hatten dort ihr ganzes Leben verbracht. Sie kannten allein diese Lebenswelt, die ihnen jetzt abhanden kommen sollte. Das musste nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Truppen kriegsbegeistert waren. Wohl aber hatten die Söldner ein waches Bewusstsein dafür, dass sie sich würden umorientieren müssen. Wahrscheinlich war auch, dass eine Phase sozialer Unsicherheit vor ihnen lag. 18 Umso wichtiger würde also für sie sein, so gut wie möglich abgefunden zu werden. Mit einem gut bemessenen Abfindungssold würden die Söldner bessere Chancen haben, die anstehende Zeit einer Beschäftigungslosigkeit zu überbrücken und eine neue Lebensperspektive zu suchen. Anders stellte sich die bevorstehende Abdankung für die Reichsstadt Memmingen dar. Sie war nicht im eigentlichen Sinn an diesen Vorgängen beteiligt, und doch war sie unmittelbar von ihnen betroffen. Eine Besatzung hatte die Stadt in ihren Mauern schon länger gehabt; zuerst eine schwedische, die dann von einer kurbayerischen Garnison abgelöst wurde, seit am 25. November 1647 die schwedische Besatzung Memmingen nach einer rund zweimonatigen Belagerung verlassen hatte. 19 Dass die Söldner des einlogierten Regiments abgedankt und damit die Besatzung der Stadt beendet werden würde, war in Memmingens ureigenem Interesse. Denn die Aufnahme von rund 700 Soldaten mitsamt ihren Familien bedeutete eine hohe Belastung für die Stadt. 20 Zwar sollte die Versorgung und Bezahlung der Garnison vor allem durch Kontributionen aus umliegenden Orten und von anderen Reichsständen geleistet werden, doch blieb eine gewisse Last, für die die Reichsstadt selbst aufzukommen hatte. Auch Befestigungsarbeiten verlangte das Militär, und so klagte die Stadt bei Kurfürst Maximilian über die vnauß- - - kulturelles Umfeld - Rezeptionsgeschichte (HZ Beiheft 26), München 1998, S. 599-630, bes. S. 607-619. 18 Siehe P ETER B URSCHEL , Söldner im Nordwestdeutschland des 16. und 17. Jahrhunderts. Sozialgeschichtliche Studien (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 113), Göttingen 1994, S. 273-280. 19 Siehe zu den Kämpfen C HRISTOPH S CHORER , Memminger Chronik, Ulm (Balthasar Kühnen) 1660, S. 155-180, und E RNST H ÖFER , Das Ende des Dreißigjährigen Krieges. Strategie und Kriegsbild, Köln u. a. 1997, S. 115-128. Umfängliches Material in BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2943. 20 Im Februar 1648 wurden im Tross des Regiments 758 Frauen, Kinder und Gesinde gezählt; E. H ÖFER , Ende (Anm. 19), S. 128. <?page no="197"?> M IC HAEL K AIS E R 198 stehlichen Frohnen vnd Schantzen […], daß einen stein erbarmen möchte. 21 Die Anwesenheit der Söldner bescherte Memmingen außerdem gehöriges soziales Konfliktpotential: Zusammenstöße und Ausschreitungen mit den Bürgern der Stadt waren immer wieder zu befürchten. Auch belasteten die Kriegsknechte, von denen einige ein Handwerk beherrschten und die im Garnisonsalltag immer wieder Freizeit hatten, die Wirtschaft der Stadt, indem sie außerhalb der Zünfte ihre Dienste anboten. 22 Hinzu kam noch eine militärisch-politische Komponente. Mit der Übergabe Memmingens an die kurbayerische Armee im Herbst 1647 hatte die Stadt auch ihr Waffenarsenal an das Regiment Winterscheid abgeben müssen - eine normale und übliche Vorsichtsmaßnahme, die aus Sicht der Garnison eine militärische Opposition innerhalb der Mauern ausschließen sollte. Mit dem Ende der Besatzungszeit erwartete der Magistrat nun die Rückerstattung dieses Kriegsgeräts. 23 Immerhin war die Reichsstadt mit dem eingekehrten Frieden wieder selbst für ihre Sicherheit zuständig und musste in der Lage sein, sich zu verteidigen. Kurfürst Maximilian bestritt dies zwar nicht, reklamierte die Waffen aus dem Memminger Zeughaus allerdings als kurbayerische Kriegsbeute für sich: Zurückerstatten wollte er nur die Kanonen, aber nicht an Memmingen, sondern an die Reichsstädte und -stände, denen sie im Laufe des Kriegs abhanden gekommen waren - die Musketen hingegen wollte er für sich selbst behalten; die Memminger sollten also komplett leer ausgehen. 24 Für die Reichsstadt drohte an der Stelle, kaum dass der Krieg vorbei war, der klassische Konflikt zwischen einer reichsunmittelbaren Stadt und einem starken Territorialherrn auszubrechen. Bereits lange Jahre vor dem Krieg hatte der Fall Donauwörth gezeigt, wie wenig der bayerische Fürst eine reichsstädtische Autonomie zu achten bereit war. 25 Parallel zur eskalierenden Situation um die Abdankung des Regiments Winterscheid gab es nun auch Spannungen zwischen Kurbayern und der Reichsstadt im Allgäu. Sie stehen nicht im Mittelpunkt der weiteren Ausführungen, und am Ende willigte Maximilian sogar ein, dass der Reichsstadt - 21 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2590: Reichsstadt Memmingen an Kurfürst Maximilian, 16.6.1648, fol. 413-415’ Ausfertigung. 22 Eine oft beobachtete Konstellation, hier mit der klevischen Stadt Wesel ein Beispiel aus dem 17. Jahrhundert: H ERBERT K IPP , Wesel unter niederländischer Besatzung (1629- 1672), in: J UTTA P RIEUR (Hg.), Geschichte der Stadt Wesel, Düsseldorf 1991, S. 213-250, bes. S. 231. 23 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2590: Reichsstadt Memmingen an Kurfürst Maximilian, 22.9.1649, fol. 407-408 Ausfertigung, und noch einmal ausführlicher am 29.9.1649: BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3015, fol. 156-157’ Ausfertigung. 24 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3040: Kurfürst Maximilian an Oberkommissar Forstenhäuser, 25.9.1649, fol. 256-259’, bes. 258 Konzept. 25 Zu Donauwörth im größeren Kontext siehe D. A LBRECHT , Maximilian (Anm. 5), S. 391- 418. <?page no="198"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 199 die Musketen zu überlassen wären. 26 Doch insgesamt macht auch dieser parallel laufende Streit deutlich, wie komplex die Situation im Herbst 1649 in Memmingen tatsächlich war. Die Vorgänge in Memmingen sind im Rahmen der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges wie auch der bayerischen Geschichte in der Epoche Maximilians I. durch die einschlägige Literatur verortet, aber nicht näher dargestellt worden. 27 Auch in der Stadtgeschichte spielt die Episode bislang keine besondere Rolle. 28 Erstaunlich ist aber, dass Abdankungen innerhalb der frühneuzeitlichen Militärgeschichte keinerlei besondere Aufmerksamkeit erfahren haben. Weder die organisatorisch-strukturgeschichtlichen Aspekte hinsichtlich der Abdankung als Verwaltungsakt noch die sozialhistorischen Bezüge mit Blick auf das Schicksal der betroffenen Militärs haben bislang kaum die Aufmerksamkeit der Forschung geweckt. Für die Erarbeitung der Abdankung in Memmingen waren deshalb archivalische Studien unentbehrlich. Die meisten Zeugnisse beleuchten die Vorgänge aus obrigkeitlicher Sicht. Vor allem Material kurbayerischer Provenienz ist hier zu nennen; einschlägige Faszikel dokumentieren den Briefwechsel des Kurfürsten mit der Militärverwaltung, Generalwachtmeister Winterscheid als Oberst des Regiments (Regimentschef) und dem Rat der Stadt Memmingen. 29 Hinzu kommt die reichsstädtische Überlieferung, die vor allem in Protokollen wichtige Hinweise zu den Vorgängen im Herbst 1649 liefert. 30 Von Söldnern gibt es nur wenige Zeugnisse; einschlägig sind einige Zeugenaussagen, die Monate später aufgenommen wurden. 31 Vor allem aber gibt es ein Tagebuch eines Söldners der Memminger Garnison. - 26 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2590: Kurfürst Maximilian an die Reichsstadt Memmingen, 1.10.1649, fol. 411-411’ Konzept, und BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3040: Befehl Kurfürst Maximilians an Oberkommissar Forstenhäuser, 1.10.1649, fol. 275- 276’, bes. fol. 276’ Konzept. 27 Hier sei nur auf die schon genannten Werke von D. Albrecht, J. Heilmann, E. Höfer und A. Oschmann verwiesen. 28 Vgl. C. S CHORER , Memminger Chronik (Anm. 19), siehe dazu weiter unten. Nicht erwähnt ist die Episode in J AKOB F RIEDRICH U NOLD , Geschichte der Stadt Memmingen im dreissigjährigen Kriege, Memmingen 1818, 2 Bde., hier Bd. 2, S. 172; auch der quellengesättigte Beitrag von B ERNHARD B AUER , Beiträge zur Geschichte der Reichsstadt Memmingen vom Beginne des dreissigjährigen Krieges bis zur Besetzung der Stadt durch die Schweden, in: ZHVS 18 (1891), S. 111-234, reicht nur bis in die frühen 1630er Jahre. 29 Ausgewertet wurden vor allem folgende Bestände im BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2590, 2950, 3039, 3040. 30 Zu nennen sind die beiden Protokollserien der Reichsstadt Memmingen, nämlich neben den Ratsprotokollen die sog. Geheimen Ratsprotokolle. - Mein großer Dank gilt dem Stadtarchivar von Memmingen, Christoph Engelhard, der mir die einschlägige Überlieferung in den Memminger Beständen zugänglich gemacht hat. 31 Vgl. BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3039: Güettliche Aussag des Winterscheidschen Korporals Georg Wunderer, Braunau 26.3.1650, fol. 148-149’. <?page no="199"?> M IC HAEL K AIS E R 200 Sein Verfasser war Peter Hagendorf, der seit 1625 seinen Weg durch den Krieg in autobiographischen Notizen festgehalten und damit eines der ganz wenigen Selbstzeugnisse geschrieben hat, das Licht in die Lebenswahrnehmung eines Soldaten im 17. Jahrhundert bringt. 32 Hagendorf diente zuletzt im Regiment Winterscheid, nahm 1647 an der Belagerung Memmingens teil und war dort Teil der Besatzung bis zur Abdankung im Jahr 1649. Wie diese aber vonstatten ging, hat er nicht beschrieben. Möglicherweise lag es an den zwei Unfällen, die der Söldner im August erlitten hatte und die ihn daran gehindert haben, sich bei der Auseinandersetzung um den Abschied zu engagieren. Doch dies ist letztlich Spekulation. Hagendorf vermerkte also lediglich den 25. September 1649 (nach dem alten Kalender) als das Datum der Abdankung und die Summe der Abdankungszahlung. 33 Mit der Erwähnung der Orte, die er nach seinem Aufbruch von Memmingen erreichte, bricht das Tagebuch ab. Ähnlich harmlos war auch der Bericht des Memminger Chronisten Schorer geraten. Dort heißt es ganz lapidar: Den 25. Septemb. wurden die Winterscheidische hier abgedanckt / auff offenem Marckt / nach dem sie auff die 22 Monat lang hier gelegen. Darauff zogen sie hin / jeder wo er wolte. Den 29. darauff zog auch Herr General Winterscheid sampt andern Officierern hinweg / vnd wurde die Statt nach so lang außgestandenem Kriegslast / von Soldaten befreyet. Aber Gelts halber war man noch sehr betrangt. 34 Tatsächlich blendet eine solche Darstellung vollkommen die Dramatik dieser Tage aus. Was sich nun genau im September und Anfang Oktober in der Reichsstadt Memmingen zugetragen hat, soll daher im Folgenden eingehend untersucht werden. - 32 J AN P ETERS (Hg.), Peter Hagendorf - Tagebuch eines Söldners aus dem Dreißigjährigen Krieg (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 14), Göttingen 2012. 33 Ich fur meine perschohn bekam 3 Monat soldt, des monats 13f. J. P ETERS , Hagendorf (Anm. 32), S. 97. 34 C. S CHORER , Memminger Chronik (Anm. 19), S. 184. - Schorer datiert nach dem altem Kalender! <?page no="200"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 201 3. Vor der Abdankung: Die Ansprüche der Söldner Die Geschichte der Abdankungen in Memmingen begann, als Kurfürst Maximilian seine Kriegskommissare damit beauftragte. 35 Kurfürst Maximilian hatte diese Behörden schon zu Beginn des Krieges eingesetzt, um den obrigkeitlichen Zugriff auf die Truppen zu gewährleisten. Kommissare bildeten die entscheidende Stütze in der Armeeverwaltung; sie kümmerten sich während der Feldzüge um die Verproviantierung und die Versorgung mit Kriegsgerät, waren aber auch für die Soldauszahlungen zuständig. Eine wichtige Aufgabe war es, den Unterschleif durch Offiziere wie einfache Soldaten zu unterbinden. Noch kurz vor der Abdankung gab es einen solchen Fall in Memmingen, als einige Soldaten zu der Officir Priuatdiensten herangezogen worden waren - diesem Phänomen, dass bei den Befehlshabern private und dienstliche Aufgaben vermischt wurden, konnte der Kurfürst nur durch die Kriegskommissare auf die Spur kommen. 36 Besonders gefordert waren die Kommissare bei der Aufstellung von neuen Einheiten wie auch bei der Auflösung derselben. In Kriegszeiten waren komplette Abdankungen selten, häufiger waren hier sog. Reformationen, also die Neugliederung von Regimentern, die verkleinert und manchmal auch zusammengelegt wurden. Faktisch beinhaltete eine Reformation eine Abdankung, der Begriff stellte also eine beschönigende Formulierung dar - und eine solche euphemistische Herangehensweise war auch nötig, um das Verfahren für die Betroffenen akzeptabel zu machen. Denn Befehlsleute wie Kriegsknechte waren Leidtragende einer jeden Reformation, verloren Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten oder gleich ganz ihren Arbeitsplatz. Die vollständige Abdankung von Regimentern war im Laufe der Kriegsjahre jedoch nur sehr selten vorgekommen. Nun, nach dem Friedensschluss, stand genau dies bevor. Und so wie bereits Reformationen den Widerstand der betroffenen Militärs hervorgerufen hatten, war auch bei Abdankungen damit zu rechnen. - 35 Klassisch dazu O TTO H INTZE , Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verwaltungsgeschichte, in: D ERS ., Beamtentum und Bürokratie, hg. und eingeleitet von K ERSTEN K RÜGER , Göttingen 1981, S. 78-112; für das bayerische Beispiel siehe C. K AP - SER , Kriegsorganisation (Anm. 6), S. 109-116, und M ICHAEL K AISER , Politik und Kriegführung. Maximilian von Bayern, Tilly und die Katholische Liga im Dreißigjährigen Krieg (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte 28), Münster 1999, S. 31-36. 36 Maximilian wies in dem Fall den Regimentschef an, dass die betroffenen Kriegsknechte weder weiter Verpflegung noch bei der Abdankung einen Abschiedssold erhalten sollten; sie waren ja nun privat beschäftigt; siehe BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Generalwachtmeister Winterscheid an Kurfürst Maximilian, Memmingen 7.9.1649, fol. 651 Ausfertigung. <?page no="201"?> M IC HAEL K AIS E R 202 Zuständig für die Abdankungen des Regiments Winterscheid war Anton Otto Forstenhäuser im Rang eines Oberkommissars. Er war in den frühen 1630er Jahren im kurbayerischen Hofrat tätig gewesen. Nach der Auflösung der bayerischen Armada wurde auch er aus dieser Funktion entlassen, fungierte dann aber bis zu seinem Tod als Pfleger in Mindelheim. 37 Am 11. September 1649 hatte der Kurfürst dem Generalwachtmeister die Ankunft des Oberkommissars angezeigt. 38 Forstenhäuser kam dann auch Mitte September in der Reichsstadt an, 39 sandte tags darauf einen ersten Bericht an den Hof nach München wegen abfertigung deß Winterscheidischen R[e]g[imen]ts. 40 Maximilian von Bayern schickte daraufhin seinem Oberkommissar am 25. September entsprechende Instruktionen. Der Kurfürst ging davon aus, dass es sich um einen rein administrativen Vorgang handelte, der vor allem Rechenarbeit bereiten würde: Forstenhäuser hatte die zu veranschlagenden Monate im Auge zu behalten, wobei es Sonderregelungen für die Rekruten und die Büchsenmeister geben sollte - erstere sollten in die Abdankungsabrechnung nicht einbezogen werden, sollten vielmehr ohne besonderen Abschlag entlassen werden, während für letztere als Spezialisten ein erhöhter Monatsbetrag zugrunde zu legen war. 41 Allerdings wies Maximilian seinen Oberkommissar schon hier darauf hin, dass er sich bei Schwierigkeiten an den Obersten Zeugmeister Royer wenden könne, der ebenfalls in Memmingen zugegen wäre. 42 Dies kam nicht von ungefähr, denn zu dem Zeitpunkt hatte der Kurfürst schon Post von Generalwachtmeister Winterscheid erhalten. Dieser hatte sich mit Forstenhäuser, als dieser in Memmingen angekommen war, sofort zusammengesetzt und von ihm die kurfürstlichen Anweisungen erhalten. Gleichzeitig aber war dem Regimentschef ein Vnderthänig vnd Nothgetrungenes Memoriale des gesambten Lobl[ichen] Winterscheidischen reg[imen]ts officirj betr[effend] übergeben worden, unterschrieben von Sammentliche[n] gehorsambe[n] - 37 Zu Forstenhäusers Werdegang siehe R EINHARD H EYDENREUTER , Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1598-1651) (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 72), München 1981, S. 328; auch C. K APSER , Kriegsorganisation (Anm. 6), S. 112f. 38 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Kurfürst Maximilian an Generalwachtmeister Winterscheid, München 11.9.1649, fol. 653 Konzept: Creditiu vf den ober Commissar Forstenhauser (fol. 653’). 39 Siehe BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3040: Oberkommissar Forstenhäuser an Kurfürst Maximilian, Memmingen 16.9.1649, fol. 248 Ausfertigung. 40 So BayHStA: Kurbayern Äußeres Archiv 3040: Regest zu Oberkommissar Forstenhäuser an Kurfürst Maximilian, Memmingen 17.9.1649, fol. 250-251’ Ausfertigung. 41 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3040: Kurfürst Maximilian an Oberkommissar Forstenhäuser, 25.9.1649, fol. 256-259’ Konzept. 42 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3040: Kurfürst Maximilian an Oberkommissar Forstenhäuser, 25.9.1649, fol. 256-259’ Konzept, hier fol. 257. <?page no="202"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 203 officirj vnd diener[n]: Neben dem Oberstleutnant Albert Schyrle und dem Oberstwachtmeister Ulrich Christoph Forstenhäuser waren es fünf Hauptleute und ein Leutnant, offenbar also tatsächlich alle Kompanieführer des Regiments. 43 Dieses Memorial versammelte, in acht Unterpunkte gegliedert, eine Fülle von Beschwerden, die die Soldaten bedrückten. Eines wurde durch dieses Dokument von vornherein klar - die Abdankung des Regiments Winterscheid würde keinesfalls, wie Maximilian anfangs noch gedacht hatte, ein unaufgeregter Verwaltungsakt werden. Winterscheid hatte das Memorial am 18. September an den Kurfürsten expediert, der darauf am 22. September reagierte, hier allerdings noch mit einer eher hinhaltenden Bemerkung (waryber woll man sich weiter ercleren). 44 Auch wenn die Brisanz des Memorials kaum Zweifel über die angespannte Lage in Memmingen offen ließ, wartete man in München doch erst einmal die weitere Entwicklung ab. Es sollte noch bis zum 1. Oktober dauern, bis der Kurfürst gegenüber seinem Kommandeur in Memmingen mit konkreten Handlungsanweisungen reagierte - durchaus bemerkenswert für einen Regenten, bei dem nach langen Jahrzehnten Regierungspraxis gerade auf dieser eher mittleren Ebene kaum Entscheidungszweifel zu vermuten gewesen sind. Das Memorial entpuppte sich als ein Dokument, das die Kriegsstrapazen und gleichzeitig die unzureichende Entlohnung der Söldner bezeugte. 45 Insgesamt wurde hier ein Bild der Regimentsgeschichte entworfen, das in bemerkenswertem Gegensatz zur kurfürstlichen Aussage stand. Maximilian hatte gegenüber Oberkommissar Forstenhäuser erklärt, dass sich das Winterscheidische Regiment mit einem Monatssold zufrieden geben solle, in ansehung selbiges numehr in so geraumer zeit in garnison gelegen, vnd darin sein richtige verpflegung vnd gegen dem vnderdessen im veldt gestandenen R[e]g[imen]tern guette gelegenheit gehabt. 46 Den Garnisonsort Memmingen - 43 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Vnderthänig vnd Nothgetrungenes Memoriale des gesambten Lobl: Winterscheidischen regts officirj betr. (fol. 658’) an Kurfürst Maximilian von Winterscheid überschickt am 18.9.1649, fol. 656-657’ Kopie. - Inwieweit der Oberstwachtmeister Forstenhäuser mit dem gleichnamigen Oberkommissar verwandt war, lässt sich nicht nachvollziehen. 44 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Kurfürst Maximilian an Generalwachtmeister Winterscheid, München 22.9.1649, fol. 662-663 Konzept. 45 Wie unregelmäßig Sold ausgezahlt wurde, zeigte auch der Umstand, dass selbst Generalwachtmeister Winterscheid noch zwei nicht ausgezahlte Monatssolde zu erwarten hatte. Am 22. September wies der Kurfürst den Generalkommissar Schäffer an, die entsprechende Summe Winterscheid zukommen zu lassen; siehe dazu BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Kurfürst Maximilian an Generalwachtmeister Winterscheid, München 22.9.1649, fol. 662-663 Konzept, so im Postscriptum fol. 663; fol. 663’ auch ein entsprechender Vermerk bezüglich Generalkommissar Schäffer. 46 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3040: Kurfürst Maximilian an Oberkommissar Forstenhäuser, 25.9.1649, fol. 254-254’ Konzept. <?page no="203"?> M IC HAEL K AIS E R 204 deklarierte der Kurfürst also per se zu einem geldwerten Standortvorteil, der eine großzügigere Abdankungssumme ausschloss. 47 Von diesen Vorstellungen hatte jedoch das Regiment, wie eingangs in diesem Dokument erwähnt wurde, vermittelt durch Forstenhäusers Bericht an Winterscheid, erfahren; das Memorial las sich also als direkte Replik auf die kurfürstliche Sicht der Dinge. Hier wurden nämlich einige Kürzungen an Sold und anderen Vergütungen festgehalten, sei es die niedriger bemessene sog. Wünter Gage, seien es ein Soldabzug von 21 Tagen, Kürzungen bei Proviantleistungen oder die bislang unbezahlt gebliebenen Schanzarbeiten, die nach dem Fall Memmingens sechs Wochen lang gedauert hatten. Bemängelt wurde auch das Ausbleiben der für die Kompanie des Hauptmanns Lucas Adam Nothafft bestimmten Kontributionen, die die Markgrafschaft Burgau nicht geliefert habe, was aber den Offizieren (fälschlicherweise) zur Last gelegt worden sei. Neben diesen materiellen Einbußen sprach das Memorial auch den Kriegsdienst im engeren Sinn an: So habe in all den Jahren entweder das gesamte Regiment oder es hätten doch Commandirte stets ihre Schuldigkeit getan; falls bei Kampfhandlungen Soldaten gefangen genommen wurden, hätten sie sich stets aus eigenen Mitteln (de proprijs) wieder freikaufen müssen, und genauso hätten verwundete Kriegsknechte vff ihre spesa sich curriern lassen miessen. Diese Punkte waren an sich schon dazu angetan, die kurfürstliche Argumentation für einen niedrig angesetzten Abdankungssold zu konterkarieren. Doch am Ende setzte der achte und letzte Punkt im Memorial noch einmal bei der nur auf einem Monatssold angesetzten Satisfaction an, was, wie es explizit hieß, die Söldner bestürzen thuet. Konkret verwies das Memorial auf andere Regimenter wie die von Reuschenberg, Puecher und Holz. Ersteres habe 15 Jahre lang in Garnison gelegen, das zweite drei Jahre lang und das letzte sei überhaupt erst seit fünf Jahren in kurfürstlichen Diensten: Gleichwohl seien alle diese Einheiten mit drei Monatssolden abgedankt worden. Für das eigene Regiment rechnete man eine 23-jährige Dienstzeit an, ausser den allten 4 Compag[nien] so 5 Jahr zuuor in esse gewesst. Warum dann all den redlichen Lanndtßkhnecht nur ein Monatssold ausgezahlt werden sollte, könne man nicht verstehen. Am Ende dieser Ausführungen wurde dann noch ein Appell an die Fürsorge des Kriegsherrn gerichtet: Es ginge doch auf den Winter zu, viele Kriegsknechte seien nur schlecht ausgerüstet (ganz übel gekhlaidt), viele hätten aber noch ihre Frauen und Kinder dabei; das Geld reiche einfach nicht. Das Memorial war eindeutig nicht als Aufruf zur Rebellion gehalten. Im Dokument wurde noch nicht einmal von Beschwerden, Gravamina oder dergleichen gesprochen, erwähnt wurden allein vnsere nothwendige motiua - also ein recht schwacher, - 47 Man kann eine gewisse Bestätigung der kurfürstlichen Sichtweise in der Einschätzung des Söldners Hagendorf sehen, der in seinem Tagebuch berichtete, wie schön die Stadt gelegen und wie schön und fruchtbar das Land doch sei; J. P ETERS , Hagendorf (Anm. 32), S. 96 (Abschnitt Nr. 172). <?page no="204"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 205 offenbar deutlich deeskalierend gemeinter Ausdruck für die im Kern doch starken Forderungen. Dazu passte am Ende auch das Angebot zu weiteren redlichen Kriegsdiensten für den Kurfürsten - ausgedrückt in der Versicherung, dass die Söldner des Regiments, wenn nur ihrem Anliegen stattgegeben würde (nach abstattung der Billicheit) und der Kurfürst dann noch weiterhin auf ihre Kriegsdienste zurückgreifen wolle, vnsere Ehr, Guett, vnd Bluett, beyzusezen vnß sammentlich vnderthenigst resoluirt wollen haben. Dabei wandten sich die Angehörigen des Regiments mit ihrem Memorial zunächst gar nicht selbst an den Kurfürsten als den eigentlichen Kriegsherrn, sondern, wie die Anrede zu Beginn des Memorials ausweist, an Johann von Winterscheid; erst in einem zweiten Schritt gingen sie auf den Kurfürsten zu. 48 Die Hinwendung an Winterscheid war durchaus typisch für die militärische Struktur der Zeit, derzufolge die Kriegsknechte vor allem ihren Obersten als die Autorität ansahen, der sie sich verpflichtet fühlten und an die sie sich wenden konnten. Auf Winterscheid richteten sie die Hoffnung, dass er sich für ihre Anliegen Jntercedendo (so der Begriff im Memorial) 49 beim Kurfürsten verwenden würde. Dies hatte der Oberst auch getan, doch die Antwort des Kriegsherrn in München zeigte, dass er damit kein Verständnis gewinnen konnte. Die im Einzelnen aufgeführten Beschwerden stellten aber nicht einfach nur den Gegenentwurf zu der Sichtweise Maximilians von Bayern dar. Vor allem spiegelte das Memorial durchaus die Problemlage der einfachen Kriegsknechte. Dass ein solches Dokument aber von den Offizieren unterzeichnet worden war, machte deutlich, wie sehr sie die Anliegen ihrer Knechte teilten. Aus Sicht des Kriegsherrn machten die Befehlshaber hiermit deutlich, dass sie den Standpunkt der Söldner keineswegs aus obrigkeitlicher Perspektive sahen; denn anstatt deren Aufbegehren disziplinarisch entgegenzutreten, machten sich die Offiziere die Auffassung der Söldner zu eigen, sie standen zusammen. Allein dieser Umstand wird den bayerischen Kurfürsten gleichermaßen alarmiert wie auch erbost haben. Vom 1. Oktober datierte die Reaktion Maximilians auf das von Winterscheid weitergeleitete Memorial des Regiments. 50 Im Kern ging es ums Geld: Die Söldner verlangten, bei ihrem Abschied drei Monatssolde ausgezahlt zu bekommen, die angebotenen zwei Monatssolde hielten sie für inakzeptabel. Für den Kurfürsten war dies ein so vnbilliches begern, dass es ihn befremdete. Sein - 48 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Vnderthenig Gehorsambstes Memoriale Deß gesambt Winterscheidische Regts: betr. (Indorsat fol. 671’), o. O. o. D., fol. 671. 49 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Vnderthänig vnd Nothgetrungenes Memoriale des gesambten Lobl: Winterscheidischen regts officirj betr. an Kurfürst Maximilian, von Winterscheid überschickt am 18.9.1649, fol. 656-657’, hier 657’ Kopie. 50 Das Folgende nach BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Kurfürst Maximilian an Generalwachtmeister Winterscheid, 1.10.1649, fol. 670-670’ Konzept. <?page no="205"?> M IC HAEL K AIS E R 206 Ärger richtete sich aber in dem Moment weniger gegen die aufbegehrenden Soldknechte, sondern gegen ihren Obersten Winterscheid. Ihm warf Maximilian vor, dass er dem priuatum den Vorzug gegeben hätte und er wie auch andere Offiziere in dieser Situation offenbar wenig Engagement an den Tag gelegt hätten (darbei nit interessirt weren). Der Kurfürst fasste die Vorwürfe im Begriff der kaltsinigkeit zusammen, also mangelndem Diensteifer, und verhehlte auch nicht seine Enttäuschung über Winterscheids Verhalten: hetten dir auch ein anders vnd bössers zugetraut. An dem Punkt setzte der bayerische Kurfürst dann weiter an und befahl ihm als Regimentschef, seinen pflichtschuldigen Dienst zu tun und seine Autorität einzusetzen, damit die Soldaten die angebotenen zwei Monatssolde ohne machung einiger weitterer difficultet akzeptierten. Eine andere Wahl ließ Maximilian ihm auch gar nicht, Jnmassen wür ohne dz ein mehrers nit volgen zlassen resoluirt sein. Damit war die Sache für Winterscheid aber noch nicht ausgestanden; der Kurfürst nahm ihn nicht nur in die Pflicht, sondern leitete aus der Alternativlosigkeit seines Wegs eine handfeste Drohung ab: dann Sollte hierüber einige vnglegenheit entstehen, So wurden wür allen daraus eruolgenden schaden ohne mitel bei dir suchen. Sicher spielten bei dieser harschen Replik des Kurfürsten die finanziellen Folgen der Forderungen des Regiments Winterscheid eine wichtige Rolle. Dies war nicht überraschend, denn Maximilian schätzte seit geraumer Zeit die finanzielle Leistungsfähigkeit Bayerns als so erschöpft ein, dass er unbedingt den Friedensschluss herbeiführen wollte. Mit der Abdankung der Armee würde ein enormer Kostenfaktor entfallen, doch die Forderung des Regiments trieb die Belastungen noch einmal in die Höhe - der bayerische Kurfürst war immer schon ein zu finanzbewusster Herrscher gewesen, als dass er darüber hätte hinwegsehen können. Über die neuen, aus Maximilians Sicht überraschenden Geldausgaben hinaus war es vor allem das Aufbegehren der Söldner selbst, das den Kurfürsten verärgerte. Schlimm genug, dass auch noch zum Ende des Kriegs wieder einmal eine Einheit den Gehorsam verweigerte (so hat es Maximilian sicherlich empfunden). Mindestens genauso schlimm war aber die Untätigkeit des Obersten, der diesem rebellischen Gebaren offenkundig nicht energisch genug entgegentrat - wenn er es denn überhaupt tat. Dieses Fehlverhalten an sich wollte der Kurfürst korrigiert sehen. Nun hatte er im Laufe langer Kriegsjahre viele unterschiedliche Gelegenheiten erlebt, in denen sich das Militär schwierig erzeigt hatte (das war ein oft verwandter Ausdruck dafür). 51 In solchen Situationen war ihm dabei wichtig gewesen, dass die Kriegs- - 51 Beispiele, auch im weiteren Kontext, bei M ICHAEL K AISER , Ausreißer und Meuterer im Dreißigjährigen Krieg, in: U LRICH B RÖCKLING / M ICHAEL S IKORA (Hg.), Armeen und ihre Deserteure, vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1998, S. 49-71, hier 56-59. - Aus dem Rahmen fällt die sog. Meuterei Jan von Werths im Jahr 1647, da hier ein politischer Dissens über die Frage vorlag, ob sich ein kurbayerischer Separatfrieden mit der Loyalität gegenüber dem Kaiser vertrage; siehe dazu M ICHAEL K AISER , <?page no="206"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 207 kommissare involviert waren und die kurfürstliche Position vertraten, auch wenn die Offiziere dies nicht mehr taten oder meinten tun zu können. Allerdings musste der Kurfürst parallel zu dem Schreiben an Winterscheid auch gegenüber seinem Oberkommissar feststellen, dass dessen bisheriges Agieren ihm zu kheinem gefallen gereicht habe; entsprechend wies er Forstenhäuser an, dass er sowohl den Oberst wie die anderen Offiziere dazu bringen solle, die Abdankungsgelder für maximal zwei Monate zu akzeptieren. 52 4. Der 5. Oktober 1649 in Memmingen: Meuterei statt Abdankung? Was den eigentlichen Fortgang der Abdankung anging, hatte Kurfürst Maximilian bereits am 25. September als neuen Termin den 5. Oktober festgelegt; an diesem Tag sollte nicht nur die Abdankung vollzogen werden, sondern auch der Abzug der Truppen (euacuation) aus Memmingen selbst. Winterscheid beteuerte daraufhin, dass er dies so durchführen wolle und dass dabei guett Regiment vnd disciplin gehalten werden solle. 53 Zunächst waren die Rekruten abzudanken, also die Söldner, die tatsächlich erst binnen Jahresfrist neu geworben worden waren. Ihre Entlassung war stets als separater Vorgang von der Auflösung des Kernregiments betrachtet worden - eine Einschätzung, die der Kriegsherr mit den Söldnern selbst teilte. Um die Rekruten - es handelte sich um 159 Mann - kümmerte sich Winterscheid nun zuerst und ließ ihnen, wie vom Kurfürsten angeordnet, 54 einen Reichstaler auszahlen. Gleichzeitig ließ er ihnen, wie Winterscheid nach München berichtete, noch bis zum 25. September Verpflegung zukommen, womit er sich über die kurfürstliche Anweisung hinwegsetzte. Doch Winterscheid begründete dies mit ausstehenden Kontributionsleistungen der Reichsstadt Kempten und wies auch darauf hin, dass ihnen damit nit mehr als ein gulden ausstendig verbleiben sollte - der Oberst mutete also dem Kriegsherrn wie den Rekruten Einbußen zu. Als die Rekruten auf diese Lösung mit Widerwillen reagierten, ließ Oberst Winterscheid von denen die vornembste gleich nemmen, vnd an gehöriges orth sezen, um sie dann der gebür nach abzustrafen. 55 - Jan von Werth (1591-1652). Ein Rheinländer im Dreißigjährigen Krieg, in: Das Rheinland - Wiege Europas? Eine Spurensuche von Agrippina bis Adenauer, hg. von K ARLHEINZ G IERDEN , unter Mitarbeit von M ARION G IERDEN -J ÜLICH , Köln 2011, S. 153-177, hier 175. 52 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3040: Kurfürst Maximilian an Oberkommissar Forstenhäuser, 1.10.1649, fol. 273-274 Konzept. 53 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Generalwachtmeister Winterscheid an Kurfürst Maximilian, Memmingen 29.9.1649, fol. 665 Ausfertigung. 54 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Kurfürst Maximilian an Generalwachtmeister Winterscheid, München 22.9.1649, fol. 662-663 Konzept. 55 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Generalwachtmeister Winterscheid an Kurfürst Maximilian, Memmingen 28.9.1649, fol. 664 Ausfertigung. <?page no="207"?> M IC HAEL K AIS E R 208 Bereits der Auftakt der Abdankung verlief also nicht ohne disziplinarische Auseinandersetzung. Die eigentliche Auflösung des Regiments Winterscheid sollte dann aber eine weitere Stufe der Eskalation mit sich bringen. Tatsächlich fand die Abdankung am 5. Oktober 1649 unter dramatischen Umständen statt. Zu den bereits in der Stadt sich befindenden Militärs und kurbayerischen Amtsträgern war am Tag zuvor auch noch Franz von Royer, Oberster Zeugmeister, kurbayerischer Kriegsrat und dazu selbst Oberst eines Infanterieregiments, gestoßen. 56 Er war aus Nürnberg gekommen, wo Ende August die meisten Reichsstände und am 9. September Kurbayern den Hauptrezess unterzeichnet hatten, 57 und hatte sich auf Maximilians Befehl aufgemacht, gemäß der Nürnberger Abmachungen die ersten Demobilisierungen durchzuführen. Über Donauwörth und Augsburg hatte er schließlich am späten Vormittag des 4. Oktobers Memmingen erreicht. Von ihm stammt ein ausführlicher Bericht über den Ablauf der Abdankung des Regiments Winterscheid. 58 Darin zeichnet Royer von sich das Bild eines routinierten Militärs und Verwaltungsfachmanns gleichermaßen, der sehr genau wusste, was der bayerische Kurfürst von ihm erwartete. Gleich bei der ersten Zusammenkunft mit dem Rat der Stadt Memmingen forderte Royer die Stadtoberen auf, dass sie die Bürgerwehr in guter bereitschafft halten und zudem ein Stadttor besetzen sollten. Denn er, Royer, ganz in der Rolle des vorausschauenden Spezialisten für Abdankungen, hatte Sorge, es möchte sich vielleicht bei der abdanckhung eine vngelegenheit eraignen. Tatsächlich wurde ein Tor besetzt, doch die Memminger selbst ließen sich nicht in diese Affäre einspannen; eine Mobilisierung der Bürgerwehr erfolgte nicht. Royer wollte nun so rasch wie möglich mit den Abdankungen beginnen, noch bis zum Abend des 4. Oktober wollte er etlich Compagnia aus dem Dienst entlassen. Doch sowohl Oberst Winterscheid als auch Oberkommissar Forstenhäuser widerrieten: Die Kriegsknechte hätten zu dem Zeitpunkt wohl zuviel getrunken, wären für das Abdankungsverfahren einfach nicht mehr zu gebrauchen. Es blieb also dabei, die Demobilisierung erst am 5. Oktober durchzuführen. Doch der folgende Tag begann für Royer, Winterscheid und Forstenhäuser mit einer Überraschung. Bereits um 6 Uhr in der Früh hatten die gemeine knecht alle Stadttore besetzt, eine Schildwache auf den Turm postiert, während die übrigen Söldner in voller Montur und kampfbereit auf dem Marktplatz in Memmingen - 56 Zur Person des Lothringers Franz von Royer siehe J. H EILMANN , Kriegsgeschichte (Anm. 12), S. 1129, und C. K APSER , Kriegsorganisation (Anm. 6), S. 88-92, 116. 57 Zu den Ereignissen siehe bes. den Überblick bei A. O SCHMANN , Exekutionstag (Anm. 1), S. 660-681, hier 668f. 58 Das Folgende gemäß BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3015: Relation des Obristzeugmeisters Royer wegen der Abdankung des Regiments Winterscheid und der Evacuation Memmingens am 5.10.1649, fol. 209-214 Ausfertigung. <?page no="208"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 209 Aufstellung genommen hatten. Dies war ohne jeden Befehl der Offiziere geschehen, lediglich Feldwebel und Korporale waren bei ihnen. Als Winterscheid auf den Markt kam, die Söldner zur Rede stellte und sie fragte, warum sie sich hier wider der officir beuelch versammelt hätten, wichen sie einer offenen Antwort aus. In dem Moment kamen die Fähnriche hinzu - von ihnen verlangten die Söldner sofort, dass sie umgehend die Fahnen herbeiholen sollten. Doch die Fähnriche lehnten dies ab: Es stünde den einfachen Kriegsknechten nicht zu, die Fahnen an sich zu nehmen. Dies hielt die Söldner aber nicht ab, nun ihrerseits loszuziehen und die Fahnen wider daß g[ene]ral wachtmeisters von windterscheidt willen vnnd verbott, gleichsamb per forza auß sein deß g[ene]ral wachtmeisters quartir hinweeg zu holen. Mittlerweile waren auch die Hauptleute eingetroffen, jedoch ohne sich aktiv einzumischen; auch Royer war hinzugekommen. Er hörte nun das eigentliche Anliegen des Regiments: Man wollte drei Monate Abschiedssold bekommen und verwies dabei auf das Beispiel anderer Regimenter. Die Situation auf dem Marktplatz wurde nun unübersichtlich. Der Oberst Zeugmeister berichtet vom ständigen Skandieren 3 monath soldt, dazu lautes Durcheinanderrufen. Dabei wurde Pappenheim als vormaliger Oberst dieses Regiments beschworen, der solche Betrügereien an den Kriegsknechten nie hätte durchgehen lassen; vor allem der Oberkommissar Forstenhäuser wurde als Schuldiger ausgemacht, der den Soldaten den ihnen zuständigen Lohn verweigerte, den sie zuletzt durch die verlustreiche Eroberung Memmingens sich verdient hätten. In dieser sich aufheizenden Stimmung mischte sich Royer unter die Söldner und versuchte sie zu beruhigen. Dabei machte er ihnen auch ein neues Angebot: Er versprach ihnen, mein Credit zu interponiren, und ihnen zu den zwei zugesandten Monatssolden einen weiteren halben Monat zu geben. Doch damit richtete der Oberst Zeugmeister nichts aus, im Gegenteil. Die Zeiten hätten sich geändert: ich - so Royer - wehre vor diesem in den aprochen vnnd lauff gräben Jr Vatter vnnd bruder gewest, iezundt aber wehre ich auch einer, der Sie vmb dz ihrige wolte bringen helffen. Und wieder verlangten sie ihren dritten Monatssold; einige setzten gar eine Frist von einer halben Stunde dafür, während andere den Schelm den commissari ausgeliefert haben wollten. Ja ein paar verstiegen sich zur Behauptung, wann Sie nur den Commissari todtschlagen dörfften, wolten Sie hernach auch gehrn sterben vnd ihre 3 Monath dahinden lassen. Darauf sagte der Oberst Zeugmeister Royer in seinem Bemühen, die Wogen zu glätten: Sie sollten doch ihren guten Namen bedenken und ihn nicht auf die lezte mit dem Makel einer Revolte und Meuterei beflecken - doch genau diese Worte riefen noch einmal empörte Widerworte hervor: mir rebelliren nit, sondern begehren andern Regimentern gleich gehalten zue sein. Die Stimmung drohte nun völlig zu kippen, die Drohungen wurden lauter und heftiger, dazu kamen nun auch Unterstellungen, dass er, Royer, aber auch Winterscheid und Oberkommissar Forstenhäuser die Gelder, die ja doch vorhanden seien, für sich behalten wollten. In diesem Moment sah Royer ein, dass er die harte Linie nicht würde durchhalten können, zumal er keine Machtmittel an der Hand hatte; auch die Memminger <?page no="209"?> M IC HAEL K AIS E R 210 hielten sich ja, wie er an der Stelle gegenüber dem Kurfürsten nochmals betonte, aus dem Konflikt heraus. Royer entschloss sich daher nachzugeben und den Kriegsknechten die Auszahlung von drei Monaten Abschiedssold zuzubilligen. Doch längst war der Moment überschritten, an dem dieses Zugeständnis das Regiment hätte beruhigen können. Nun verlangten die Söldner auch noch die ausstehenden Schanzgelder und Proviantgelder, auch hier wieder mit unverhohlenen Drohungen: dieses wehre ihr schweiß vnd bluet, der ober Commissari hette es eingenohmmen, khönden nit zuegeben, dz es von ihnen ihnen solte abgestollen werden, diese gelter müesten da sein, eines ohne dz ander wolten Sie nit annehmmen, man solte nit vill darauß machen, Sie wolten den Commissari suechen vnd nach gehents mit ihme auf dem plaz woll abrechnen. Aber hier verwahrte sich Forstenhäuser, weil die Berechnungen der Kriegsknechte unzutreffend wären, und schickte einen Proviantverwalter zu ihnen, dass er es ihnen korrekt vorrechne - dieser wurde jedoch übel traktiert und mit Steinwürfen verjagt. Mit diesem Gewaltausbruch schien die Eskalation aber ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Winterscheid und Royer schalteten sich nun wieder in die Verhandlungen ein - und tatsächlich konnten sie einen Kompromiss aushandeln: Die Proviantgelder für 26 Tage sollten noch ausgezahlt werden, die Forderung nach den Schanzgeldern ließen die Söldner aber fallen. So begann dann doch die ordnungsgemäße Abdankung, indem bei dem Musterschreiber einer jeden Kompanie die Auszahlung der ausgehandelten Sold- und Proviantgelder vorgenommen wurde. 59 Anschließend gab es ein weiteres Verfahren, in dem sie ihre Waffen abgaben. Am Ende haben dann die Kriegsknechte einhellig überlauth gerufen, Sie wehren nun zue friden, vnnd hetten contento. Nachdem es vormittags noch sehr turbulent zugegangen war, konnte ab 2 Uhr nachmittags mit der Auszahlung der Restgelder begonnen werden; um 7 Uhr am Abend war dann die Abdankung des Regiments Winterscheid nach einem sehr ungestümen Beginn doch noch zu einem gütlichen Ende gekommen. - 59 Wegen der zusätzlich bewilligten Abfindungen wurde mehr Geld benötigt als zunächst vorgesehen. Woher es kam, wurde aber in keinem der hier benutzten Berichte erwähnt. Ob Winterscheid oder Royer aus eigenen Mitteln etwas vorschossen in der Hoffnung, der Kurfürst würde es ihnen erstatten? Möglicherweise konnte Forstenhäuser auf Geld zurückgreifen, das für Garnisonen vorgesehen war, deren Abdankung nach Memmingen anstand. Für diesen selbstständigen Umgang mit den kurbayerischen Finanzen hätte sich der Oberkommissar allerdings gegenüber dem Kurfürsten verantworten müssen. Insgesamt lässt sich dieser Punkt derzeit nicht befriedigend erklären. <?page no="210"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 211 5. Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen Am Abend des 5. Oktober war das Regiment Winterscheid tatsächlich aufgelöst worden. Doch war nicht zu übersehen, dass der Vorgang zwar termingerecht an diesem Tag vollzogen worden, doch keineswegs so verlaufen war wie ursprünglich geplant. Denn mitten in die Abdankung hinein war es zu einem Aufruhr, ja einer Meuterei gekommen, angezettelt von den Söldnern des Regiments in den letzten Stunden seines Bestehens. Jedenfalls musste die Obrigkeit das so sehen. Und so sahen es wohl auch die Memminger. Allen Beteiligten war bewusst, dass sie dazu Position beziehen, ihr Handeln erklären und rechtfertigen mussten, und entsprechend entstand noch eine Reihe von Berichten über die Vorgänge am 5. Oktober in Memmingen. So muss man auch den Rapport einordnen, den Royer über die Memminger Geschehnisse angefertigt hat. Hinzu kommt der Bericht, den Oberkommissar Forstenhäuser dem Kurfürsten über die Abdankung zugesandt hat. Zu nennen sind schließlich auch die einschlägigen Aufzeichnungen in der Überlieferung der Stadt Memmingen, konkret die im Ratsprotokoll und im Geheimen Ratsprotokoll. Vor allem der bayerische Kurfürst forderte von den beteiligten Offizieren und Beamten entsprechende Rapporte. In diesem Sinne hatte Royer in seinem Bericht nicht nur ein durchweg stimmiges Bild gezeichnet, sondern auch eines, das von einer deutlich obrigkeitlich geprägten Sichtweise bestimmt war. Wie sehr auch beim Oberst Zeugmeister apologetische Tendenzen eine Rolle spielten, zeigten seine Bemerkungen über das Verhalten der Winterscheidischen Offiziere. So nahm Royer für sich in Anspruch, sowohl Winterscheid als auch Oberstleutnant Schyrle aufgefordert zu haben, dz Sie doch diesen ihren Soldaten, welche noch vnder ihrem gehorsamb vnnd Jrer pflicht noch nit entlassen, zue sprechen, Sie von dieser vngebühr abmahnen vnnd zur raison bringen wolten. 60 Allerdings hätten sich beide mit dem Hinweis entschuldigt, sie wehren der knecht nun nit mehr mächtig und würden ihr Leben riskieren, wenn sie in dieser Situation ihnen noch etwas befehlen wollten. Royer hatte mit diesen Hinweisen zum einen verdeutlicht, wie sehr er den Chef des Regiments und seinen Stellvertreter auf ihre Pflichten gegenüber den Kriegsknechten hingewiesen habe. Zum anderen war der Oberst Zeugmeister auch bemüht, Verständnis für Oberst Winterscheid und seinen Oberstleutnant zu wecken. Denn beide scheiterten bei ihren Bemühungen, den Gehorsam der Söldner zu erzwingen. Doch Royer machte auch eindeutig klar, dass die Offiziere faktisch keine Chance hatten, Sintemal Sie [ = die Söldner] vorhero troheten, wan ein officir ihnen in ihrem begehren zue wider sein würde, Sie ihme den halß brechen wolten. Man kann in dieser Schilderung durchaus noch - 60 Dies nach BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3015: Relation des Obristzeugmeisters Royer wegen der Abdankung des Regiments Winterscheid und der Evacuation Memmingens am 5.10.1649, fol. 209-214 Ausfertigung, hier 213’. <?page no="211"?> M IC HAEL K AIS E R 212 soldatische Solidarität erkennen, die Royer zumindest gegenüber seinen Offizierskollegen zu üben bemüht war. Unübersehbar ist allerdings auch sein Bemühen, vor allem sich selbst von allen potentiellen Vorwürfen reinwaschen zu wollen. Dies wird erst recht deutlich, wenn man dazu den Bericht Forstenhäusers berücksichtigt. 61 Der Oberkommissar sah überhaupt keinen Anlass, die Offiziere von ihrem Versagen reinzuwaschen. In seiner Schilderung fällt dazu auf, dass er Personen konkret benennt, die er für den katastrophalen Ablauf der Abdankung verantwortlich macht. Forstenhäuser zufolge war die Eskalation der Gewalt auch nicht absehbar gewesen, denn als er die Auflösung des Regiments auf der Grundlage kurfürstlicher Befehle vorbereitete, sei er nur auf Zustimmung gestoßen: Die Stimmung sei aber gekippt und alle guten intentiones […] vmbkhert worden, als Oberstleutnant Schyrl, der kurz zuvor abwesend gewesen war, nach Memmingen zurückgekehrt war. Es sei auch Schyrl am Tag der Abdankung, also am 5. Oktober, als erster auf dem Marktplatz erschienen, und ebenso sei seine Kompanie beim Aufruhr führend gewesen. Vor allem der Feldwebel und der Musterschreiber der Schyrleschen Kompanie hätten eine führende Rolle gespielt, und es sei ein Freischütz dieser Einheit gewesen, 62 der den Proviantverwalter angefallen hätte - wenn dieser sich nicht fluchtartig davongemacht hätte, wäre er vnfehlbarlich zue todt von disen leichtfertigen sal[vo] hon[ore] Schelmen, gehawt worden. Doch nicht nur der Proviantverwalter sah sein Leben bedroht, vor allem Forstenhäuser selbst stand unter Druck. Ihm warfen die Söldner vor, er habe absichtlich Gelder zurückgehalten - so den dritten Monatssold, die Proviantgelder sowie die Schanzgelder -, die er selbst einstreichen wollte: klassische Vorwürfe in Zeiten des Dreißigjährigen Krieges, die Offizieren und Kommissaren immer wieder gemacht wurden, dass ihre aus purer Habgier motivierte Hinterziehung von Geld und Gütern die eigentliche Ursache für die Not der Söldner gewesen sei. Der Oberkommissar indes wies gegenüber dem Kurfürsten solche Anwürfe mit aller Entschiedenheit zurück. Ja Forstenhäuser verstieg sich zur Behauptung, dass er nicht nur alles korrekt abgerechnet, sondern sogar noch aus seiner eigenen Tasche mehr als 300 Reichstaler hätte dazutun müssen, um die Offiziere und Soldaten zu beruhigen - dies nicht nur ein Hinweis darauf, dass er sich vom Kurfürsten eine Erstattung für diese Auskosten erbat, sondern vor allem ein Indiz für die extrem angespannte Situation auf dem Memminger Marktplatz. Auffällig an Forstenhäusers Bericht ist aber vor allem, dass er mit Oberstleutnant Schyrl sowie dem Feldwebel und dem Musterschreiber aus dessen Kompanie - 61 Das Folgende nach BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3015: Oberkommissar Forstenhäuser an Kurfürst Maximilian, nach 5.10.1649, fol. 270-271’ Ausfertigung. 62 Bei einem Freischützen handelte es sich um einen Söldner, der nur auf Beutebasis Dienst tat, aber keinen festen Soldanspruch hatte. <?page no="212"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 213 drei Schuldige für den Aufruhr identifiziert. 63 Darüber hinaus fällt jedoch auf, dass er das Memorial des Regiments komplett außer Acht lässt, in dem die Beschwerden der Kriegsknechte formuliert wurden. Immerhin hatten hier alle Hauptleute des Regiments unterzeichnet, letztlich beanspruchte das Dokument, für alle Söldner dieser Einheit zu sprechen. Dass der Oberkommissar dies nicht so sehen wollte, erscheint eher als Schwachpunkt in seiner Schilderung. Doch ist gut möglich, dass er damit vor allem der Erwartung des Kurfürsten genügen wollte, der sehr daran interessiert war, konkret die Namen derer zu erfahren, die den Aufruhr im Regiment angezettelt hatten. Forstenhäuser berief sich noch darauf, dass die Memminger Bürgerschaft zur Stützung seiner Schilderung gnugsame zeugnus geben wirdt. 64 Doch ist es fraglich, ob seine Sicht auf die Geschehnisse am 5. Oktober seitens der Reichsstadt unterstützt wurde. Der Eintrag im Geheimen Ratsprotokoll von Memmingen zum 5. Oktober bestätigt jedenfalls nur bedingt die Version Forstenhäusers. 65 Die Memminger Sicht schildert grundsätzlich den Verlauf der Abdankung: die Weigerung der Söldner, mit nur zwei Monatssoldzahlung entlassen zu werden, ihr eigenmächtiger Zugriff auf die Regimentsfahnen, die sie aus dem Quartier des Obersten holten, mit der Ankündigung, das gewehr nicht eher auß handen zu legen biß ihnen drey Monat geld bezahlt. Die Gewalt gegen den Proviantverwalter wurde nur knapp und nebenher angesprochen; im Mittelpunkt der Kritik stand vielmehr der kurbayerische Oberkommissar, der sich komplett zurückziehen musste, so dass die Verhandlungen bei den beiden Generales lag - gemeint waren Franz von Royer und Winterscheid. Gerade letzterem - und dies war der neue Aspekt in dieser Schilderung - schrieben die Memminger die entscheidende Rolle dafür zu, dass es einen gütlichen Ausgang der Affäre gab. Seinem Verhandlungsgeschick war es zu danken, dass die Söldner, die ja auch noch Proviant- und Schanzgelder forderten, zumindest auf letztere verzichteten: allein dem General von Winterscheidt zu Ehren, wie das Memminger Protokoll eigens hervorhob. Oberst Winterscheid hatte also sehr wohl Einfluss auf sein Regiment und konnte die Söldner noch steuern. Er wusste, wie er mit ihnen umzugehen hatte: So dankte er ihnen für ihre getrewe[.] assistentz und forderte sie sogar auf, wer etwas mehr zu fordern, daß Er es annoch in gegenwart deß gantzen Regiements verrichten sollte. - 63 Der Musterschreiber zählte zu den Unteroffizieren einer Kompanie; er führte die Musterlisten, verwaltete also den Personalbestand der Einheit; siehe C. K APSER , Kriegsorganisation (Anm. 6), S. 76 Anm. 85. 64 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3015: Oberkommissar Forstenhäuser an Kurfürst Maximilian, nach 5.10.1649, fol. 270-271’ Ausfertigung. 65 StadtA Memmingen, A RP, Bd. 23: Protokoll der Sitzung des reichsstädtischen Rates zum 25. September 1649 a. St. [5.10.1649], fol. 77’-78’. <?page no="213"?> M IC HAEL K AIS E R 214 Winterscheid verhielt sich also in diesem kritischen Moment als sorgender Patron seiner Kriegsknechte, und die Reaktion der Söldner zeigte, wie gut dieser soziale Mechanismus noch funktionierte: Sie nannten ihn ihren treuen Oberst und General, dem sie Dank und Ehre erweisen wollten, küssten ihm die Hände und legten schließlich mit guten content die Waffen nieder. Besonders wichtig aus Memminger Sicht war, dass die nun schon abgedankten Söldner auch in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober, ihrer letzten Nacht in Memmingen also, sich mit den burgern fr[eundlich] vnd wolgehalten: ungeachtet der brisanten Situation zuvor hatte Winterscheid seine Truppe nachhaltig beruhigen können und somit Ausschreitungen in der Stadt verhindert. Aus Memminger Sicht war zweifelsohne General Winterscheid der eigentliche Held der Abdankung, der tatsächlich ein friedvolles Ende des Kriegs zuwege gebracht hatte. 6. Kurbayerisches Nachspiel: Die Suche nach den Schuldigen Wenn die Memminger in Winterscheid die Schlüsselfigur für die geglückte Abdankung sahen, fiel die Reaktion des bayerischen Kurfürsten anders aus. Bereits am Tag danach, also am 6. Oktober, berichtete der Generalwachtmeister seinem Dienstherrn, dass er die Abdankung des ihm unterstellten Regiments und die euacuation Memmingens vollzogen habe. 66 Winterscheid verwies ansonsten darauf, dass der Oberst Zeugmeister, also Royer, ausführlicher berichten werde, Waß sich aber dabey durch die Soldaten eraignet. 67 Als Regimentsinhaber überließ er also seinem Generalskollegen die eigentliche Darstellung der Ereignisse und begab sich damit der Chance, seine Sicht der Dinge darzulegen. Royer nutzte diese Leerstelle und vermochte durchaus, sich als vorausschauender Offizier zu stilisieren, der alles versucht hatte, die riskante Situation in den Griff zu bekommen. 68 Ähnliches hatte auch schon Winterscheid versucht, nur deutlich lakonischer. Immerhin wies er, so kurz die Nachricht des Regimentschefs vom 6. Oktober auch ausfiel, darauf hin, dass es ihm, wiewohlen ich zwar mein eüsserstes gethan, unmöglich gewesen sei, die Soldaten mit den vorhero gidst bewilligten 2 Monath Solden zuersättigen, vnd dahin bewegen zulassen. Als Regimentschef war er sich schon bewusst, dass er mit diesem Befund wenig Beifall finden würde und fügte gleich die Bitte an, mir dardurch kheine vngnad beyzumessen, - 66 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Generalwachtmeister Winterscheid an Kurfürst Maximilian, Memmingen 6.10.1649, fol. 674 Ausfertigung. 67 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Generalwachtmeister Winterscheid an Kurfürst Maximilian, Memmingen 6.10.1649, fol. 674 Ausfertigung. 68 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3015: Relation des Obristzeugmeisters Royer wegen der Abdankung des Regiments Winterscheid und der Evacuation Memmingens am 5.10.1649, fol. 209-214 Ausfertigung. <?page no="214"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 215 sondern in Churfr Hulden mich deroselben vnderthenigist befohlen sein zulassen - eine durchaus formalhafte Wendung, wie sie so oft in zeitgenössischer Korrespondenz auftaucht, hier aber aus einem sehr triftigen Anlass. Die Korrespondenz zwischen dem Kurfürsten und dem Regimentschef wird genau an diesem Punkt lückenhaft; es ist nur noch ein weiterer kurfürstlicher Brief an Winterscheid überliefert. Dieses erst vom 3. November datierte Schreiben lässt aber deutlich den Unmut Maximilians erkennen. 69 Aufschlussreich ist dabei, wie sehr sich die Aufmerksamkeit, die der Kriegsherr den Vorgängen zollte, nun verschoben hatte: Während sich der Streit bei der Abdankung vornehmlich um die Höhe des Abschiedssoldes drehte, ging es Maximilian von Bayern nun um das Verhalten der Söldner und der Offiziere. Im Kern interessierte er sich vor allem dafür, wie es zu dieser Meutination gekommen war - das Briefkonzept hatte der Kurfürst selbst überarbeitet und an zwei Stellen genau dieses Wort eingesetzt, das für ihn der Schlüsselbegriff war. Genau deswegen forderte er Winterscheid auf, ihm einen ausführlichen Bericht zu vnnserer nottwendigen nachricht vorzulegen. Ob der Generalwachtmeister und Oberst dies getan hat, lässt sich nicht sicher ermitteln; auch Briefe von ihm an den Kurfürsten sind aus dieser Phase nicht mehr vorhanden. Unabhängig von dieser schwierigen Quellenlage soll den für Maximilian von Bayern kritischen Punkten nachgegangen werden: Was genau ließ die Vorgänge in Memmingen aus der Perspektive des Kurfürsten als möglicherweise herrschaftsbedrohend erscheinen? Zunächst einmal bot das Verhalten der Soldaten genügend Ansatzpunkte dafür. Wenn Söldner in die Quartiere der Offiziere eindrangen, sich dort der Regimentsfahnen bemächtigten und dann unter Waffen eigenmächtig versammelten, erfüllte dies den Tatbestand einer Meuterei. 70 Beide Aktionen waren aber nicht einfach nur Ausdruck eines Ungehorsams, wie es Maximilian vorkommen musste, sondern verwiesen auf ältere Phänomene landsknechtischer Selbstorganisation. 71 Der Griff - 69 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Kurfürst Maximilian an Generalwachtmeister Winterscheid, 3.11.1649, fol. 676 Konzept. 70 Meutereien in frühneuzeitlichem Militär sind gelegentlich untersucht worden; vgl. L ISA K ATTENBERG , Military Rebellion and Reason of State. Pacification of Mutinies in the Habsburg Army of Flanders, 1599-1601, in: BMGN - Low Countries Historical Review 131/ 2 (2016), S. 3-21; H ELFRIED V ALENTINITSCH , Die Meuterei der kaiserlichen Söldner in Kärnten und Steiermark 1656 (Militärhistorische Schriftenreihe 29), Wien 1975; und P ETER H. W ILSON , Violence and the Rejection of Authority in Eighteenth-Century Germany: The Case of the Swabian Mutinies in 1757, in: German History 12 (1994), S. 1-26. 71 Grundlegend dazu R EINHARD B AUMANN , Landsknechte. Ihre Geschichte und Kultur vom späten Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg, München 1994; und H ANS -M ICHA - EL M ÖLLER , Das Regiment der Landsknechte. Untersuchungen zu Verfassung, Recht und Selbstverständnis in deutschen Söldnerheeren des 16. Jahrhunderts (Frankfurter Historische Abhandlungen 12), Wiesbaden 1976; sowie auch R EINHARD B AUMANN , Befehlsleut <?page no="215"?> M IC HAEL K AIS E R 216 nach der Fahne markierte das Selbstverständnis der Söldner, dass sie die Kontrolle über das Regiment hatten, ja das sie selbst das Regiment seien - nicht der Oberst oder gar der Kriegsherr. 72 Und die Selbstversammlung erinnerte deutlich an die Gemein der Landsknechte, die sich vor allem im 16. Jahrhundert in dieser Weise versammelten, um eigene Vorstellungen und Forderungen etwa hinsichtlich der konkreten Feldzugsplanung oder bezüglich des Soldes zu formulieren. 73 Dass derartige Phänomene auch noch in der Phase des Dreißigjährigen Kriegs auftauchten, war nicht so ungewöhnlich und zeigt vor allem, wie lange sich Vorstellungen einer autonomen und kommunalistischen Verwaltung bei den Söldnern hielten. Außerdem gab es weitere Indizien, die einen Kriegsherrn wie Maximilian aufhorchen lassen mussten. Die Soldaten der Memminger Garnison waren gut orientiert und hatten sehr wohl mitbekommen, wie die Abdankungen andernorts gehandhabt worden waren. So wussten sie sogar, was im weit entfernten Wolfenbüttel geschehen war: Dort war das Regiment Reuschenberg stationiert gewesen - und hatte drei Monatssolde zum Abschied erhalten! 74 Für den Kurfürsten war leicht zu ermessen, dass es sich hier um keinen zufälligen Informationssplitter handelte. Vielmehr waren die Regimenter untereinander offenbar sehr gut vernetzt, was bedeutete, dass auch die Vorgänge in Memmingen rasch in anderen Standorten bekannt werden würden. Abgesehen davon, dass eine offene Meuterei, der der kurfürstliche Kriegsherr nur mit Mühe Herr wurde, ein Desaster für das Prestige und damit in direkter Folge auch eine politische Schwächung Kurbayerns bedeutet hätte! Vor allem war der Gedanke, dass sich soldatischer Unmut zu einem Flächenbrand entwickelte, alles andere als abwegig: Denn auch in anderen Garnisonen rumorte es, und eine solche, mehrere Garnisonen mitreißende Militärrevolte war das Letzte, was Kurbayern, dem sein Landesherr nach all den Kriegsstrapazen unbedingt Ruhe gönnen wollte, gebrauchen konnte. 75 - und gemeine Knecht - Entstehung und Aufbau von Führungs- und Organisationsstrukturen im Landsknechtsheer des 16. Jahrhunderts, in: C ARL A. H OFFMANN / R OLF K IESS - LING (Hg.), Kommunikation und Region (Forum Suevicum 4), Konstanz 2001, S. 359-379, bes. S. 366-373. 72 Zur Bedeutung der Fahne siehe H.-M. M ÖLLER , Regiment (Anm. 71), S. 63-67, bes. S. 64; M. K AISER , Ausreißer (Anm. 51), S. 58. 73 Zur Gemein R. B AUMANN , Landsknechte (Anm. 71), S. 98-103. 74 Siehe BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 2950: Vnderthänig vnd Nothgetrungenes Memoriale des gesambten Lobl: Winterscheidischen regts officirj betr. (fol. 658’) an Kurfürst Maximilian von Winterscheid überschickt am 18.9.1649, fol. 656-657’ Kopie, hier 657, Nr. 8. - Zum Infanterieregiment Reuschenberg siehe C. K APSER , Kriegsorganisation (Anm. 6), S. 230- 246. 75 Auch in der Literatur bekannt ist die Meuterei des Dragonerregiments Bartl (Bartel), die gewaltsam niedergeschlagen wurde; J. H EILMANN , Kriegsgeschichte (Anm. 12), S. 1049f.; und S IGMUND R IEZLER , Geschichte Baierns, Bd. 5, Gotha 1903, S. 658. An der Stelle ist <?page no="216"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 217 Spätestens an der Stelle rückte das Verhalten der Offiziere im Regiment in den Mittelpunkt. Ihnen kam naturgemäß eine Schlüsselposition zu; die Führung der Einheit und die Wahrung der Disziplin gehörten zu ihren Kernaufgaben. Wenn sich nun die rebellischen Söldner augenscheinlich problemlos der Fahnen bemächtigen konnten, warf dies die Frage auf, ob die Offiziere dem Gebaren der Kriegsknechte tatenlos, wenn nicht sogar verständnisvoll begegnet waren - beide Versionen konnten aus kriegsherrlicher Perspektive nicht hinnehmbar sein. Schwer wog auch der Umstand, dass sowohl Hauptleute als auch der Oberstleutnant als Stellvertreter Winterscheids in die Proteste der Söldner verstrickt waren. Vor dem Hintergrund waren die Hinweise des Kommissars Forstenhäuser umso wichtiger, dass sich die Kriegsknechte gerade auch gegen die Offiziere gewandt hätten und ihnen mit Hass begegnet seien. Seine Erklärung dafür war, dass die Offiziere zuvor den Söldnern auf die Finger geschaut und die Exorbitantien unterbunden hätten. 76 Diese Aussage ist bemerkenswert, da es in all den Kriegsjahren die immer wiederkehrende Klage war, dass die Offiziere gemeinsam mit den einfachen Soldaten die Bevölkerung drangsaliert und beraubt hätten. 77 Wenn der kurbayerische Kommissar hier auf die geübte Verantwortung der Befehlshaber verweist, war dies auch ein deutliches Zeichen, dass sich Maximilian über die Gewissenhaftigkeit und Loyalität der Offiziere wenig Sorgen zu machen brauchte. Zumindest war Forstenhäusers beschwichtigende Aussage ein Gegengewicht zu der unleugbaren Involvierung der Hauptleute in die Meuterei; für den Kurfürsten blieb ein Verdacht bestehen. Angesichts der zumindest nicht eindeutigen Positionierung der Offiziere war es für Maximilian umso irritierender, dass Generalwachtmeister Winterscheid sich nicht machtvoll gegen diesen soldatischen Ungehorsam eingesetzt hatte. Wem gegenüber wollte er als Kommandeur eigentlich loyal sein? Es war erkennbar, dass sich Winterscheid von der breiten Front des Konsenses, der den Protest über alle Ränge vom einfachen Kriegsknecht bis hin zum Oberstleutnant trug, beeindruckt zeigte und nicht wirklich aktiv dagegen vorging. Und wenn er eine Zeit lang zwischen den kurfürstlichen und soldatischen Positionen lavierte, entschied er sich am Ende doch dafür, dass den Söldnern ihr Recht zukommen sollte. Wie sehr er deren Belange ernst genommen hat, verdeutlicht auch seine Aufforderung an die Kriegs- - auch die Behauptung bei E. H ÖFER , Ende (Anm. 19), S. 128, zu korrigieren, dass das Regiment Winterscheid als eines der letzten der bayerischen Reichsarmada aufgelöst wurde. Vgl. dazu die Übersicht bei J. H EILMANN , Kriegsgeschichte (Anm. 12), S. 905-908. 76 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3015: Oberkommissar Forstenhäuser an Kurfürst Maximilian, nach 5.10.1649, fol. 270-271’, hier 270’ Ausfertigung. 77 Im Kontext der sozialen Lebenswelt des Militärs M ICHAEL K AISER , Die Söldner und die Bevölkerung. Überlegungen zu Konstituierung und Überwindung eines lebensweltlichen Antagonismus, in: S TEFAN K ROLL / K ERSTEN K RÜGER (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 1), Münster u. a. 2000, S. 79-120, hier 112. <?page no="217"?> M IC HAEL K AIS E R 218 knechte, dass sie, wenn sie noch weitere Ansprüche geltend zu machen hätten, dies jetzt tun sollten. Mit diesem Verhalten hat Winterscheid nicht nur die krisenhaft zugespitzte Lage in der Reichsstadt entspannen können - was ihm die Memminger dankten, wie es sich im städtischen Protokoll niedergeschlagen hat -, auch die Soldaten haben es ihrem Oberst hoch angerechnet, wie ihre herzliche Verabschiedung von Winterscheid belegte. 78 Bei den Söldnern und den Memmingern mochte sich Winterscheid mit seinem Verhalten Respekt erworben haben. Für den Kurfürsten jedoch hatte er sich nachhaltig diskreditiert: Hier erschien er als unfähiger Kommandeur, der sein Regiment nicht im Griff hatte. Für eine weitere Verwendung in kurbayerischen Diensten konnte er kaum noch in Frage kommen. Offenbar ist Winterscheid kurz nach der Abdankung seines Regiments aus dem kurbayerischen Dienst ausgeschieden; im Umfeld des bayerischen Hofes tauchte er jedenfalls nicht mehr auf. Ganz im Gegensatz übrigens zu Franz von Royer, der - aus kurfürstlicher Sicht - eine deutlich bessere Figur in dieser Affäre abgegeben hatte. Royer wurde nach dem Krieg Kommandeur der Stadtgarde in München und gehörte somit zu den Militärs, die ihre Karriere im Fürstendienst auch nach 1648 erfolgreich fortzusetzen vermochten. 79 Kurfürst Maximilian mag im Licht dieser Ausführungen als hartherziger Fürst erscheinen, der berechtigte Belange der Söldner übersah und für seine Prinzipien wohl auch eine gewalttätige Eskalation in Kauf zu nehmen bereit gewesen wäre - zumindest hat er die Position seines Kommandeurs in Memmingen kaum nachvollziehen können. Allerdings wird man dem bayerischen Kurfürsten auch zubilligen müssen, dass er in den langen Kriegsjahren zuvor hinreichende Erfahrung mit Ungehorsam, Aufständen und Rebellionen gemacht hatte, angefangen mit dem oberösterreichischen Bauernaufstand 1626 bis hin zu den Bauernrebellionen 1633/ 34 und der Meuterei Jan von Werths. 80 In allen Fällen sah er eine Bedrohung seines Herrschaftsanspruches, der entgegenzutreten er als seine Regentenpflicht ansah. Auch hatte er anfangs durchaus Entgegenkommen gezeigt: Dass die Söldner nur anderthalb Monate Abschiedssold nicht akzeptieren würden, hat er rasch eingesehen und die Quote auf zwei Monate erhöht: mit erinderung dz sye ihren ausgang nemmen sollen vnd mans Jnen weiter nichts zuwillen sein wurde - für seine Verhältnisse war das Maß an Kompromissbereitschaft erreicht. 81 Als aber die Söldner ihre immer noch weitergehenden Forderungen gegen die kurfürstlichen Autoritäten mit Ge- - 78 Siehe den Bericht im StadtA Memmingen, A RP (Ratsprotokolle), Bd. 23, fol. 78-78’. 79 C. K APSER , Kriegsorganisation (Anm. 6), S. 93. 80 Speziell zum Bauernaufstand 1633/ 34 vgl. D. A LBRECHT , Maximilian (Anm. 5), S. 859- 865. 81 Siehe BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3040: Kurfürst Maximilian an Oberkommissar Forstenhäuser, 25.9.1649, fol. 254-254’ Konzept, hier die eigene Nachschrift. <?page no="218"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 219 walt durchsetzen wollten, hatte die Auseinandersetzung einen völlig anderen Anstrich bekommen. War es zunächst ein Streit und ein Feilschen um Geld, war es am 5. Oktober ein Konflikt darum, wer die Kontrolle über das Militär haben würde. Daher überrascht es auch nicht, dass die Geschichte der Abdankung des Regiments Winterscheid den Kurfürsten auch noch Wochen und Monate später beschäftigte; er war jedenfalls entschlossen, die Vorgänge vom Oktober 1649 aufzuklären. Ende 1649 bot ein ehemaliger Söldner des Regiments seine Version der Ereignisse in Memmingen an, doch ist an der hier deutlich apologetischen Tendenz der Darstellung erkennbar, sich von Vorwürfen des Ungehorsams reinzuwaschen - immerhin ein Indiz dafür, wie groß der Druck auf ehemalige Söldner des Regiments war, sich zu erklären. 82 Und noch ein halbes Jahr nach der Demobilisierung wurde Georg Wunderer, ehemals Korporal im Winterscheidischen Regiment, von kurbayerischen Behörden aufgegriffen. Sie konfrontierten ihn mit Fragen, anhand derer er über die Vorgänge bei der Abdankung in Memmingen Auskunft geben sollte. Die kurbayerische Obrigkeit hatte insgesamt 19 Fragen, die sie ehemaligen Angehörigen des Regiments, soweit man ihrer noch auf kurbayerischem Territorium habhaft werden sollte, vorzulegen hatten. 83 Die Fragen zielten darauf ab, die Rädelsführer der Meuterei - so sah ja die Obrigkeit die Vorgänge in Memmingen - zu identifizieren. Besonders wichtig war dem Kurfürsten auch, die Rolle der Offiziere zu bestimmen: Was hatten sie gewusst, und inwieweit waren sie hinreichend dagegen eingeschritten? Oder hatten sie sich gar an dem Aufruhr beteiligt? In diesem Verhörprotokoll ist wohl weniger die Rachsucht eines Fürsten zu sehen, der jedes Infragestellen seiner Autorität unbarmherzig verfolgte. Vielmehr war das Verfahren auch Ausdruck einer Unsicherheit, die die Memminger Ereignisse ausgelöst hatten. Und nicht zuletzt scheint die allgemeine obrigkeitliche Tendenz dieser Epoche durch, die es eben nicht mehr duldete, dass das Militär ein eigenständiger Faktor sein sollte, mit dem sich der Fürst als Kriegsherr im Zweifel auf gleicher Ebene zu arrangieren hatte: Der Wille zur ›Verobrigkeitlichung‹ des Militärs wird deutlich greifbar. 84 - 82 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3015: Ein Hauptmann (? ) des Regiments Winterscheid an Kurfürst Maximilian, Küechheim [wohl Kühham/ Küham in Oberbayern, westlich von Mühldorf am Inn] 17.12.1649, fol. 240-241 Ausfertigung. Das Dokument ist nur schwer lesbar, erst recht der Name des Verfassers. 83 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3039: Fragstuckh Darauf die iehnige Winterschaidische Beuelchshaber, vnnd Khnecht, welche sich im Lanndt betretten lassen zu examiniren, fol. 146-147 Ausfertigung. 84 Siehe zu diesem Prozess allgemein P ETER B URSCHEL , Krieg, Staat, Disziplin. Die Entstehung eines neuen Söldnertypus im 17. Jahrhundert, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), S. 640-652. <?page no="219"?> M IC HAEL K AIS E R 220 Georg Wunderer reagierte auf die Befragung, die der Pfleger von Braunau durchführte, höchst abgeklärt. 85 Er, der über 20 Jahre lang in diesem Regiment Kriegsdienst geleistet hatte, wusste, wie er sich in einer solchen Situation zu verhalten hatte: Er spielte den Unwissenden, der nichts mitbekommen hatte und einfach keine qualifizierte Auskunft geben konnte. Natürlich war dies kaum glaubhaft, denn er wäre ein schlechter Korporal gewesen, hätte er derartiges Rumoren unter den Söldnern dieses Regiments so gar nicht mitbekommen. Doch auch der Pfleger von Braunau wusste dem alten Korporal nicht beizukommen und verwies, als er die Aussagen Wunderers an den Kurfürsten überschickte, auf dessen vnwüssenhait. 86 Maximilian von Bayern hat sich mit diesen Antworten wohl oder übel abfinden müssen. Am Ende noch einmal ein Blick auf Memmingen! Bereits 1648 hatte die Reichsstadt den Friedensschluss begangen: Am 16. November dieses Jahres feierten die Bürger, Als wan es ostern, oder pfinsten gewessen were. 87 Am 6. Oktober 1649 gab es dann erneut Anlass zu feiern. Mit dem Abzug der abgedankten Söldner an diesem Tag hörte die Besatzungszeit für Memmingen endgültig auf. Am selben Tag gingen die beiden kurbayerischen Generale Royer und Winterscheid mit Ratsvertretern ins Zeughaus und regelten die Übergabe des dort eingelagerten Kriegsgeräts. Vor allem aber übergaben die Militärs dem Magistrat die Schlüssel zur Stadt: 88 Nun hatte Memmingen auch seine Freiheit wiedererlangt und konnte sein politisches Schicksal als Reichsstadt erneut selbst in die Hand nehmen. Einige Tage später, am 21. Oktober 1649, wurde deswegen ein Dankfest gehalten wegen Befreyung der Statt vom Kriegsvolck, und am Tag darauf gab es weitere Feierlichkeiten, die in einer schöne[n] Friedens-Comoedia gipfelten. 89 Erst jetzt war der Dreißigjährige Krieg auch für Memmingen vorbei. Die Erinnerung an diese Zeit wird in der Stadt heute noch wachgehalten. Auch Winterscheid ist im Stadtbild präsent; auf ihn verweist eine Waldmalerei am Lindauer Tor. Auf der der Stadt zugewandten Seite ist mittig eine Vignette aufgemalt, - 85 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3039: Güettliche Aussag des Winterscheidischen Korporals Georg Wunderer, Braunau 26.3.1650, fol. 148-149’. 86 Siehe BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3039: Anwäldt vnnd Rhäte zu Burghausen, 2.4.1650, fol. 144 Ausfertigung, sowie ebd.: Pfleger zu Braunau an Regierung zu Burghausen, 26.3.1650, fol. 145 Kopie, praes. 2.4.1650. - Ähnlich wird man auch den negativen Befund im Tagebuch Hagendorfs einschätzen müssen, der die Abdankung ohne Hinweis auf die Meuterei erwähnt; siehe J. P ETERS , Hagendorf (Anm. 32), S. 96. 87 So war es jedenfalls dem Söldner Hagendorf vorgekommen; J. P ETERS , Hagendorf (Anm. 32), S. 96. 88 BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv 3015: Relation des Obristzeugmeisters Royer wegen der Abdankung des Regiments Winterscheid und der Evacuation Memmingens am 5.10.1649, fol. 209-214 Ausfertigung, hier fol. 213’. 89 C. S CHORER , Memminger Chronik (Anm. 19), S. 184. <?page no="220"?> D AS SCHWIERIGE E NDE DES K RIEGES - 221 in der im unteren Teil folgende Worte zu lesen sind: »Der Röm. Kay: May: Churf. Durchl. in Bayern General Wachtmeister Obrister zu Fuß und der Zeit Commandant alhie JOHANN von WINTERSCHEIT«. Durchaus dem Stil des 17. Jahrhunderts nachempfunden, hat der Memminger Erich Marschner diese Malerei 1979 im Rahmen einer historischen Stadtverschönerung und eines Erinnerungsprogramms unter Beratung des Stadtheimatpflegers Uli Braun angefertigt. Das Lindauer Tor ist ein sehr passender Ort für diese Malerei, denn in der Torwohnung befand sich Winterscheids Kommandantur. Zu Recht wird an diesen Militär erinnert, dessen Verdienst es vor allem war, dass die Stadt ein glimpfliches Kriegsende erlebte. 90 Abb. 1: Malerei auf der der Stadt zugewandten Seite des Lindauer Tores in Memmingen mit einer Vignette zu Winterscheid. - 90 Mein Dank gilt Reinhard Baumann und Christoph Engelhard für die Angaben zum Lindauer Tor und die dazugehörigen Fotos. <?page no="221"?> M IC HAEL K AIS E R 222 Abb. 2: Das Lindauer Tor in Memmingen. <?page no="222"?> 223 W OLFGANG W ÜST Krieg, Kummer und Krisen - Turbulente Zeitläufe vor der Säkularisation im Spiegel der Elchinger Klosterchronik 1. Tagebuch und Kriegsläufe Das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war für die Kirche als Verfassungs- und Herrschaftsinstitution eine Krisenzeit. Während Teile der Forschung mit Blick auf die Bildungs- und Kulturgeschichte dieser Endzeit, zumindest für Weimar, noch ein »furioses Finale« 1 erkennen wollten, ging in Wirklichkeit, spätestens seit der Aufklärung, die Sorge vor einer sich zunehmend radikalisierenden Kirchenkritik um. 2 Genährt wurde die Sorge ferner von den sich nach der Französischen Revolution 3 ankündigenden Vermögens- und Herrschaftssäkularisationen und von dem sich abzeichnenden Ende des Frieden und Recht 1 G EORG S CHMIDT , »Deutscher Geist« oder »Ereignis Weimar-Jena«? Geschichtswissenschaftliche und mythische Erzählungen, in: S TEFAN G ERBER / W ERNER G REILING / T OBIAS K AISER / K LAUS R IES (Hg.), Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland. Hans-Werner Hahn zum 65. Geburtstag, Göttingen 2014, S. 283-297. Vgl. ferner den Vortrag von Prof. Dr. Georg Schmidt am Historischen Kolleg in München vom 7. Juli 2008: »Weimar - Jena. Das furiose Finale des Alten Reiches«. 2 J EAN M ONDOT (Hg.), Les Lumières et leur combat = Der Kampf der Aufklärung. Kirchenkritik und Religionskritik zur Aufklärungszeit (Concepts & Symbols du Dix-Huitième Siècle Européen, 2004), Berlin 2004. Als Fallstudien: W OLFGANG W ÜST , Die geistlichen Staaten im Südwesten des Alten Reichs am Vorabend der Säkularisation, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 139/ 140 (2003/ 04) (2006), S. 45-71; F RANZ Q UARTHAL , Aufklärung und Säkularisation, in: W OLFGANG Z IMMERMANN (Hg.), Württembergisches Klosterbuch. Klöster, Stifte und Ordensgemeinschaften von den Anfängen bis in die Gegenwart, Ostfildern 2003, S. 125-138. 3 D EREK B EALES , Europäische Klöster im Zeitalter der Revolution 1650-1815. Superiorenkonferenz der Männlichen Ordensgemeinschaften Österreichs, Wien u. a. 2008. Als englischsprachige Veröffentlichung: D ERS ., Prosperity and plunder. European catholic monasteries in the age of revolution, 1650-1815, Cambridge 2003. Für ein Hochstift untersucht bei: W INFRIED R OMBERG , Die Französische Revolution und die politisch-militärische Vorgeschichte der Säkularisation Fuldas (1789-1802/ 03), in: Die Säkularisation vor 200 Jahren. Ursprung und Auswirkungen (39. Kulturtagung des Rhönklubs), Fulda 2003, S. 22-27. <?page no="223"?> W OLF GANG W ÜS T 224 sichernden Reichsverbandes. Auch der jeweilige Reichskreis als regionaler Fix- und Bezugspunkt, 4 schien zu verblassen. An vielen Brennpunkten herrschte in der Germania Sacra Entsetzen vor den keineswegs nur in ökonomischer Sicht existenzbedrohenden Begleiterscheinungen europäischer Koalitionskriege zwischen 1792 und 1806. Am Neujahrstag des Jahres 1797 notierte der Benediktinerpater Benedict Baader (1751-1819) als Klosterchronist zu Elchingen (Abb. 1): [E]s ist noch immer alles traurig, weil man noch von Kehl aus schiessen hört: man besorgt, der Franzos komme abermahl zu uns, um das liebe Schwaben vollends auszurauben. 5 Noch konkreter erfahren wir es aus der Korrespondenz eines ostschwäbischen Kaplans am Ende des Kriegsjahres 1800: Der krieg bringt gar verschiedene menschen in das land: Nur in einem hundert die betrüger, die beutelschneider, die aus zuchthäusern freÿgelassenen, oder entlaufenen, die wohlüstigen, die sich alle darinnen vereinigen, dem unschuldigen, arbeitsamen bürger das mark aus dem gebeine zu saugen, wer zählet sie? 6 Doch begründete die Angst vor den gottlosen Libertins der Revolutionszeit - vielfach war sie bei Bürgern wie Bauern eher als Ergebnis enttäuschter Erwartungen aus der Zeit der ersten Begegnung mit den französischen Revolutionsgarden entstanden, als dass sie Ergebnis konservativer Propaganda gewesen wäre - wirklich wiederum einen ›Religionskrieg‹ 7 in Zeiten wachsender 4 Zum Schwäbischen Reichskreis vgl.: W INFRIED D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (1383-1806). Geschichte und Aktenedition, Stuttgart 1998, S. 142-179; A DOLF L AUFS , Der Schwäbische Kreis. Studien über Einungswesen und Reichsverfassung im deutschen Südwesten zu Beginn der Neuzeit (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 16), Aalen 1971; W OLFGANG W ÜST (Hg.), Reichskreis und Territorium: die Herrschaft über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 7), Stuttgart 2000, S. 123-138, 153-231; N ICOLA S CHÜMANN , Der Schwäbische Kreiskonvent und der Augsburger Konfessionsfrieden: Eine Debatte aus den Jahren 1559 bis 1562, in: ZHVS 98 (2005), S. 107-141; B ERND W UNDER , Der Schwäbische Kreis, in: Peter Claus H ARTMANN (Hg.), Regionen in der Frühen Neuzeit. Reichskreise im deutschen Raum, Provinzen in Frankreich, Regionen unter polnischer Oberhoheit. Ein Vergleich ihrer Strukturen, Funktionen und ihrer Bedeutung, Berlin 1994, S. 23-39. 5 StadtA Augsburg, Historischer Verein 150 ½, Bd. 4, S. 1, Eintrag vom 2.1.1797. Das Tagebuch ist ferner wie folgt eingeteilt: Bd. 1 (1785-1789), Bd. 2 (1789-1792), Bd. 3 (1793- 1797), Bd. 4 (1797-1801) und Bd. 5 (1801-1818). 6 G EORG K REUZER (Hg.), Johann Nepomuk Kriehofer (1770-1836). Die autobiographischen Aufzeichnungen des Pfarrers (Heimatkundliche Schriftenreihe für den Landkreis Günzburg 28), Günzburg 2005, S. 63. 7 K ONRAD R EPGEN , Was ist ein Religionskrieg? , in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 97 (1986), S. 334-349; J OHANNES B URKHARDT , Religionskrieg, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 28, Berlin-New York 1997, S. 681-687; U TE P LANERT , Wessen Krieg? Welche Erfahrung? : Oder wie national war der »Nationalkrieg« gegen Napoleon? , in: D IETRICH B EYRAU (Hg.), Der Krieg in religiösen und nationalen Deutungen der Neuzeit, Tübingen 2001, S. 111-139. <?page no="224"?> K R IE G , K U MM ER UND K RI S EN 225 Abb. 1: Die Reichsabtei Elchingen im 18. Jahrhundert. nationaler Empfindungen? Sie wurde tatsächlich geschürt durch die zunehmende und vielfach als Bedrohung empfundene Rezeption jakobinischer Umtriebe und Souveränitätsexperimente 8 in den neuen, nun regelmäßig erscheinenden Zeitungen und Intelligenzblättern 9 vor der Jahrhundertwende. In schwäbischen Klöstern sprach 8 O LIVER L AMPRECHT , Das Streben nach Demokratie, Volkssouveränität und Menschenrechten in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts: Zum Staats- und Verfassungsverständnis der deutschen Jakobiner (Schriften zur Verfassungsgeschichte 63), Berlin 2001; S IEGLINDE G RAF , Bayerische Jakobiner? Kritische Untersuchung sog. »jakobinischer Flugschriften« aus Bayern Ende des 18. Jahrhunderts, in: ZBLG 41 (1978), S. 117-171; R OLF - U LRICH K UNZE , Franz Seraph Ritter von Spaun (1753-1826). Ein österreichischer Jakobiner und aufklärerischer Intellektueller in Bayern. Eine werkbiographische Notiz, in: ZBLG 64 (2001), S. 401-429. 9 Exemplarisch für die Intelligenzblätter: T OBIAS R IEDL , Kleine Welten. Einblicke in süddeutsche Intelligenzblätter, in: P ETER F ASSL / W ILHELM L IEBHART / W OLFGANG W ÜST (Hg.), Groß im Kleinen - Klein im Großen. Beiträge zur Mikro- und Landesgeschichte. Gedenkschrift für Pankraz Fried (Irseer Schrift, NF 10), Konstanz 2014, S. 41-65; H OL - GER B ÖNING , Die Bedeutung von Periodika, insbesondere von Intelligenzblättern, für die Verbreitung der Aufklärung, in: C LAUDIA B RINKER - VON DER H EYDE / J ÜRGEN W OLF (Hg.), Repräsentation, Wissen, Öffentlichkeit: Bibliotheken zwischen Barock und Aufklärung. Tagungsband zum interdisziplinären Workshop. Bad Arolsen, 30. September bis 1. Ok- <?page no="225"?> W OLF GANG W ÜS T 226 man 1793 diesbezüglich vom französischen freÿheits taumel, der die geistlichen Reichsfürsten in der anstehenden Säkularisation nur um ihr Eigentum bringen sollte. 10 Kriegsangst und Freiheitsträume waren nicht unbedingt ein Widerspruch. Wie eng Patriotismus, Vaterlandsliebe und religiöses Handeln beieinander liegen konnten, erfährt man im Kriegsjahr 1793 erneut aus der Abtei Elchingen: Da seine Churfürstliche Durchlaucht, unser gnädigster fürst und herr ordinarius [Clemens Wenzeslaus von Sachsen 11 ] in ansicht des beÿnahe allgemein ausbreitenden kriegsfeürs und des unser vatterland tober 2010, Kassel 2011, S. 37-45; A STRID B LOME , Vom Adressbüro zum Intelligenzblatt: Ein Beitrag zur Genese der Wissensgesellschaft, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 8 (2006), S. 3-29; H OLGER B ÖNING , Das Intelligenzblatt als literarisch-publizistische Gattung, in: R ICHARD F ISHER (Hg.), Ethik und Ästhetik: Werke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. FS für Wolfgang Wittkowski zum 70. Geburtstag, Frankfurt/ Main 1995, S. 121-134; L OTHAR S CHILLING , Policey und Druckmedien im 18. Jahrhundert: Das Intelligenzblatt als Medium policeylicher Kommunikation, in: K ARL H ÄRTER (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt/ Main 2000, S. 413- 452; S ABINE D OERING -M ANTEUFFEL / J OSEF M ANČAL / W OLFGANG W ÜST (Hg.), Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich (Colloquia Augustana 16), Berlin 2001. 10 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 3, S. 3, Eintrag vom 6. Jan. 1793. Neuere Veröffentlichungen zur Säkularisation im Untersuchungsraum: M ANFRED W EITLAUFF , Die Säkularisation in Altbayern und Schwaben: Resümee des Gedenkjahres 2003, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 40 (2006), S. 417-475; W OLFGANG W ÜST , Vorboten der Säkularisation in ostschwäbischen Stifts- und Klosterstaaten: Sicherung, Flucht und Ausverkauf der Werte vor der Säkularisation. Schwabens Klöster und Hochstifte im Vergleich, in: H ANS U LRICH R UDOLF (Hg.), Alte Klöster, neue Herren: Die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803. Große Landesausstellung Baden-Württemberg 2003 in Bad Schussenried vom 12. April bis 5. Oktober 2003, Aufsätze, Teil 1, Ostfildern 2003, S. 129- 144; V OLKER D OTTERWEICH , »Sparpfennige unserer großen weltlichen Fürsten …«: Zur Vermögenssäkularisation der ostschwäbischen Stifter und Reichsklöster, in: H. U. R UDOLF (Hg.), Alte Klöster, neue Herren, S. 1395-1412; W ERNER S CHIEDERMAIR (Hg.), Klosterland Bayerisch Schwaben: Zur Erinnerung an die Säkularisation der Jahre 1802/ 1803, Lindenberg 2003. 11 G ABRIELE B. C LEMENS , Clemens Wenzeslaus von Sachsen (1739-1812), in: E LISABETH D ÜHR (Hg.), Unter der Trikolore = Sous le drapeau tricolore: Trier in Frankreich, Napoleon in Trier, 1794-1814. Ausstellung 6. Juni-31. Oktober 2004, Katalog-Handbuch, Trier 2004, S. 95-103; T HEODOR R OLLE , Fürstbischof Clemens Wenzeslaus und Kurfürst Max IV./ König Max I. Joseph von Bayern: Zu den Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Kirche und Staat in Bayern in den Jahren 1802-1806; in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 25 (1991), S. 109-142; P ETER R UMMEL , Kurfürst Klemens Wenzeslaus und sein Augsburger Generalvikar Franz Heinrich Beck, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 22 (1988), S. 75-104; W OLFGANG W ÜST , Fürstbischöfliche Amts- und Staatsführung im Hochstift Augsburg unter Clemens Wenzeslaus (1768- <?page no="226"?> K R IE G , K U MM ER UND K RI S EN 227 von daher drohenden gefahr gnädigst zu befehlen geruhet, das um abwendung solcher gefahr und der mit iedem krieg verknüpften drangsaalen in hiesiger dioeces ein allgemeines gebett angeordnet werden soll. So hat der herr decan seinen hochwürdigen kapitularen sogleich nach empfang gegenwärtigen decrets zu bedeüten, das sie während solchem krieg täglich 7 Vaterunser, und 7 Ave Maria nebst dem Christlichen Glauben, und nach diesem die gebette: Deus qui culpa offenderis etc. et pro pace etc. in teütscher sprache nebst den 3 theologischen tugendten vor oder nach der pfarrmesse exposito sanctissimo abbethen. Beÿ verkündung dieses allgemeinen gebethes aber ihre pfarrsangehörigen mittels einer den umständen angemessenen rede zur eifrigen verrichtung desselben nachdrücklichst ermahnen sollen. 12 Und an einem anderen ebenfalls bald bayerisch werdenden Bischofssitz, in ›Freising‹, ängstigte man sich schon zu Friedenszeiten. Dort wurden mit Sorge zunehmende ›republikanische Umtriebe‹ in Politik und Zeitgeschehen registriert. 13 Man sah, wie in Altbayern, Schwaben und Franken französische agenten durch die wirtsstuben gingen, und selbst in München […] leute […] von der süddeutschen volksrepublik schwärmten und noch dem letzten schrannenbauern ihre flugschriften in die joppentasche steckten. 14 2. Krisen-Chronologie Die Krisenzeit im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert ist minutiös in der tagebuchgleichen Chronik aus dem Kloster Elchingen bei Ulm dokumentiert. Dieser Chronik wollen wir uns anvertrauen, zumal sie auch das nach der Säkularisation weitgehend verlorene Klosterareal rekonstruieren hilft (Abb. 2). Stellen wir aber zunächst noch ihren Verfasser Pater Benedict Baader (1751-1819) vor. Zu Beginn des Jahres 1785 berief Abt Robert I. Kolb (1766-1793) in der benediktinischen Reichsabtei Elchingen den Chronisten in das wichtige Amt des Klosterarchivars. Es sollte nicht seine einzige Aufgabe bleiben. Baader wurde 1751 als Sohn eines Lebzelters in Rottenburg am Neckar geboren, beging vor dem neu errichteten Hochaltar in der Klosterkirche 1774 seine feierliche Primiz 15 und wirkte danach als 1803), in: P ANKRAZ F RIED (Hg.), Miscellanea Suevica Augustana: Der Stadt Augsburg dargebracht zur 2000-Jahrfeier 1985, Sigmaringen 1985, S. 129-146. 12 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 3, S. 16f. 13 A XEL K UHN , Republikvorstellungen deutscher Jakobiner, in: H ELMUT R EINALTER (Hg.), Republikbegriff und Republiken seit dem 18. Jahrhundert im europäischen Vergleich: Internationales Symposium zum Österreichischen Millennium, Frankfurt/ Main 1999, S. 83-99. 14 J OSEF O STLER / M ICHAEL H ENKER / S USANNE B ÄUMLER (Hg.), Grafschaft Werdenfels 1294-1802. Katalog zur Ausstellung vom 30.7-4.9.1994 im Kurhaus Garmisch (Beiträge zur Geschichte des Landkreises Garmisch-Partenkirchen 2), Garmisch-Partenkirchen 1994, S. 153. 15 M ICHEL R EISTLE , Reste der alten romanischen Abteikirche, in: Geschichte im Landkreis Neu-Ulm 9 (2003), S. 33-40, hier 40. <?page no="227"?> W OLF GANG W ÜS T 228 Prior, Theologe und Katechet in- und außerhalb des Elchinger Konvents. Pfarrdienste versah er in der örtlichen Bruderschaft zu den Sieben Schmerzen. Er musizierte, insbesondere sonntags, an der großen Kirchenorgel. 16 Baader war ein sehr engagierter Geistlicher seiner Zeit, doch als Archivar leistete er Nachhaltiges. Im Januar 1785 begann er sein neues Amt mit guetem Willen und Eyfer 17 , um sich vorrangig der chronikalischen Aufzeichnung in seiner Abtei zu widmen. Seine mehrbändige, gelehrte und doch deutlich als Selbstzeugnis 18 angelegte Chronik betitelte er ganz unprätentiös als Merkwürdige Begebenheiten, die sonderheitlich zu Elchingen sich zugetragen haben. 19 Diese Merkwürdigkeiten aus Elchingen wurden Dank der Sammlungstätigkeit des Historischen Vereins für Schwaben vor Vernichtung und Verkauf bewahrt. Heute sind sie dem Stadtarchiv Augsburg als Deposita anvertraut. In Baaders handschriftlichem Auftaktband - mit Nachträgen und Register umfasst er 454 Seiten - finden sich bereits ausführliche Kommentare zur Kirchen-, Kloster-, Orts- und Landesgeschichte (Abb. 3). Das erste Zeitfenster ›1785-1788‹ erscheint in Friedenszeiten vor den Koalitionskriegen, doch kündigten sich längst die allgemeinen Krisensymptome an. Sie betrafen insbesondere den ökonomischen Abstieg und die steigende Schuldenlast. Baader sprach immer wieder die hohen Schulden an. Unser Closter ist immer mit vihlen Schulden belastet gewesen, besonders im vorigen Jahrhundert wegen dem Schwedenkrieg, auch in diesem Jahrhundert hat es die schulden niemahl gänzlich abgeleget; man bauet und man braucht Geldt, es waren abermahls kriegszeiten, wür hatten anfälle von Vihseüch, von wetterschlägen, man kauft auch güetter ein, einige äbt waren nit die besten oeconomi. 20 (Abb. 4) 16 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 1, S. 380. 17 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 1, Titelseite. 18 Zur neueren Forschung zu frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen: B IRGIT E. K LEIN / R OT - RAUD R IES (Hg.), Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente frühneuzeitlicher Juden in Aschkenas: Beispiele, Methoden und Konzepte (Minima Judaica 10), Berlin 2011; K ASPAR VON G REYERZ (Hg.), Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit: Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 68), München 2007; M ARTIN S CHEUTZ / H ARALD T ERSCH , Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit: Der lange Weg der schriftlichen Selbstvergewisserung, in: P ETER E IGNER / C HRISTA H ÄMMER - LE / G ÜNTER M ÜLLER (Hg.), Briefe, Tagebücher, Autobiographien: Studien und Quellen für den Unterricht (Konzepte und Kontroversen 4), Innsbruck u. a. 2006, S. 10-27; S TE - FAN E LIT / S TEPHAN K RAFT / A NDREAS R UTZ (Hg.), Das ›Ich‹ in der Frühen Neuzeit: Autobiographien, Selbstzeugnisse, Ego-Dokumente in geschichts- und literaturwissenschaftlicher Perspektive (Zeitenblicke 1,2), Köln 2002; S ABINE S CHMOLINSKY , Selbstzeugnisse im Mittelalter, in: K LAUS A RNOLD / S ABINE S CHMOLINSKY / U RS M ARTIN Z AHND (Hg.), Das dargestellte Ich: Studien zu Selbstzeugnissen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit 1), Bochum 1999, S. 19-28. 19 StadtA Augsburg (Anm. 5), 5 Bände: »Merkwürdigkeiten« des Reichsstiftes Elchingen von 1785-1818 von Benedict Baader, Archivar und Prior. 20 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 1, S. 373. <?page no="228"?> K R IE G , K U MM ER UND K RI S EN 229 Abb. 2: Titelseite des Tagebuchs für das Jahr 1785. <?page no="229"?> W OLF GANG W ÜS T 230 Abb. 3: Textprobe des Tagebuchs vom 12. März 1789. <?page no="230"?> K R IE G , K U MM ER UND K RI S EN 231 Abb. 4: Textprobe des Tagebuchs vom 9. Februar 1797. <?page no="231"?> W OLF GANG W ÜS T 232 Symbolisch sprachen auch die Wetterbeobachtungen Baaders für kommende unruhige Zeiten. Waren es Himmelszeichen für die drohende Säkularisation? 1788, am 24. Dezember, ausgerechnet an Weihnachten, trug er unter den acta domestica folgende Sturmnotiz ein: Heüt um 9 Uhr in der frühe überfiel uns ein ausserordentlicher Sturm, ein so heftige kälte und wündt, dessen kein Mann sich gedenket, alle Strassen wurden verdeckt, so das man nit fortkommen konnte, unser Ulmer bott kam nit 100 schritt vor das dorf hinaus und er musste zurück kehren, ein mann reißte von Nersingen bis Leibi, und sein Naß gefror ihm ein […]. Dem Distriktbader bot sich dabei ein grausames Bild: zu Gnöringen [Oberknöringen bei Burgau] verfrohr[en] 2 kinder im bett, zu Hochwang fand man 5 vor kälte gestorben leüt; item zu Günzburg, zu Ulm, zu Leipheim haben wür nachricht erhalten, das mehren Personen verfrohren; es war ein ganz ausserordentliche kälte und Sturm der fast den ganzen Tag hindurch angehalten, man konnte mit keinem beladenen waagen auf der Strasse mehr fortkommen. 21 Und bezeichnenderweise gleich zu Beginn des epocheverändernden Revolutionsjahres 1789 zog eine sibirische Kälte über das Elchinger Klosterland. 1. Jenner, große kälte. Als ich heüt das hochambt wie gewöhnlich absange, ist mir der Wein vor der consecration schon in dem Kelch zugefroren. So, das ich längere Zeit zubringen mußt, das gefrorne fließend zu machen beÿ Empfangung des Hl. bluts war abermal fast alles gefroren: es war überhaubts diser Tagen eine unerhörte kälte, man schreibet in öfentlichen blätteren, in denen sogenannten Zeitung, das in disem Jahrhundert noch niemahl solche kälte gewesen, in den Jahren 1709 und 1740 als denen bekanten kalten Wintern war die Kält nit so groß, als wie in disem Jahr, auch lage der Schnee sehr tief, wenn er auch einige Zeit vergangen, kam abermahl vihl Schnee, noch im Merzen war die Erdt mit 2 Schuh hohen Schnee bedeckt. 22 Die hier dokumentierten Wetterphänomene kann man sicher auch als Krisenmetapher für die sich ankündigenden Klostersäkularisationen und kriegsbedingten Veränderungen in der Reichskirche deuten. 3. Krieg und Säkularisation Das Ende des Alten Reiches war also für die Kirche als Verfassungs- und Herrschaftsinstitution eine Krisenzeit. Die Abtei Elchingen stand im Oktober 1805 mit einer, vor ihren Mauern ausgetragenen, entscheidenden Schlacht paradigmatisch für die Krisen- und Kriegsjahre. 23 Die europäischen Kriegsgegner Frankreich und Österreich maßen ihre Kräfte ausgerechnet an der Donaubrücke vor Elchingen. Da fiel im Vorfeld der Kriegsereignisse auch schon mal eine schwäbische Kirch- 21 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 1, S. 376. 22 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 2, S. 1. 23 F RANZ W ILLBOLD , Napoleons Feldzug um Ulm: Die Schlacht von Elchingen 14. Oktober 1805 mit der Belagerung und Kapitulation von Ulm, 2. Aufl. Ulm 2005. <?page no="232"?> K R IE G , K U MM ER UND K RI S EN 233 weih aus, weil man sich moralisch zu rüsten und das prognostizierte Ende mit Gottes Hilfe abwenden wollte. Auch in Elchingen kannte man aus der Korrespondenz und den Zeitungen der Aufklärungszeit die Säkularisationspläne der europäischen Großmächte. Im benachbarten Bayern tauschten sich die Stifte und Klöster darüber offen aus. Am 16. April 1798 berichtete der im evangelischen Sündersbühl bei Nürnberg geborene Fürstabt Coelestin II. Steiglehner (1738-1819) 24 aus dem Regensburger Kloster zu St. Emmeram an den Abt in Benediktbeuren Jahre vor der tatsächlichen Säkularisation über das nahe Ende: Das ganze Publicum deutet nun mit Fingern auf die Klöster, und erwartet unsre Saecularisation, vorzüglich stehet dieses große Unglück den Reichsstiftern bevor. 25 Die Säkularisation der Jahre 1802 und 1803 - rechtlich stützte sie sich auf den territorialen Ausgleich im Frieden von Lunéville 1801 und den Reichsdeputationshauptschluss 26 vom 25. Februar 1803 - zog auch in Süddeutschland nicht überraschend ins Land. Weltliche Fürsten hatten sich mit Säkularisationsplänen seit dem späteren Mittelalter vertraut gemacht; planvoll ausgeführt, zogen diese nach der Reformation auch in den evangelischen Landesterritorien und Reichsstädten Frankens und Schwabens eine grundlegende Revision der historischen Landkarte nach sich. Dies war bereits ein Vorgeschmack auf die kommende napoleonische ›Flurbereinigung‹ in Bayern und der Pfalz während der Jahre 1802 bis 1816. Säkularisationsdrohungen und Kriegsangst waren so auch in Elchingen stets ein Thema gewesen. Das zeitigte Folgen, und es galt die Zurückhaltung gegenüber barocken Lebensfreuden. Benedict Baader notierte im Herbst 1788. Zue unser kirchweih wurden keine Gäst eingeladen, und es kamen auch keine: Geprediget hat P. Joseph als profess […] ein moral Predig abgetheilt in 3 theil. 27 Zu kämpfen hatte man in Krisenzeiten natürlich auch mit den Folgen zunehmender Verelendung breiter Gesellschaftsschichten in Stadt und Land. Die Obrigkeit reagierte im 18. Jahrhundert mit rigiden Bettelverboten und Armenordnungen. Das Kloster Elchingen war ebenfalls betroffen, doch konnte das Problem allenfalls grenzüberschreitend gelöst werden. Baader trug am 28. Dezember 1785 jedenfalls in seine Chronik ein: Da ein neüe Bettelordnung einzuführen schon das Conclusum in Schwaben - gemeint ist der Schwäbische Reichskreis - gemacht worden, und da man nun immer 24 R OBERT K NOTT , Steiglehner, Cölestin, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 35, Leipzig 1893, S. 593-595. 25 W INFRIED M ÜLLER (Hg.), Im Vorfeld der Säkularisation. Briefe aus bayerischen Klöstern 1794-1803 (1812) (Archiv für Kulturgeschichte, Beihefte 30), Köln u. a. 1989, Nr. 84. 26 K LAUS D IETER H ÖMIG , Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803 und seine Bedeutung für Staat und Kirche: unter besonderer Berücksichtigung württembergischer Verhältnisse (Juristische Studien 14), Tübingen 1969; H ERIBERT R AAB , Geistige Entwicklungen und historische Ereignisse im Vorfeld der Säkularisation, in: A NTON R AU - SCHER (Hg.), Säkularisierung und Säkularisation vor 1800, München 1976, S. 9-41. 27 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 1, S. 339. <?page no="233"?> W OLF GANG W ÜS T 234 Trohung, morden und Brennens von denen Bettelleüth höret, so ist beÿ uns angeordnet worden, das nun bis über das neü angehende Jahr zu nacht doppelte Wach sollen gehalten werden, eine in dem Closter herinnen, die andere in dem neuen Hofgebäu, dis welches auch würcklich alle Nacht geschiht. 28 4. Kommunikation und Krisenbewältigung Wir müssen den Erfahrungsraum und den Erwartungshorizont der Betroffenen ausloten, um spezifische Formen geistlicher Krisenbewältigung zu erkennen. 29 Wie stand es mit Patriotismus und Vaterlandsliebe vor dem Zeitalter des Nationalstaats in einer Landschaft, in der gerade die Reichskirche existenzbedroht erschien? Welch düstere und wolkige Zukunft brach an und wie dornig waren die Wege dorthin? Und welchen Halt boten noch die Konfessionsgemeinschaften, die sich trotz einzelner Stimmen der Gegenaufklärung 30 und einem sich auch für die schwäbischen Prälaten und Pfarrer verdichtenden Kommunikationsraum im Rückzug befanden? 31 Kriege förderten dabei eher den ordensspezifischen Zusammenhalt, auch intensivierte sich der Nachrichten- und Informationsaustausch nicht unerheblich in der Krise. 1797 sandte man aus Elchingen bezeichnenderweise einen expresse botten 32 bis nach Aalen, um mit der k. k. Heeresleitung wegen anstehender Güterexekutionen Kontakt aufzunehmen. Auch frühere Krisen meisterte 28 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 1, S. 49; W OLFGANG W ÜST , Die gezüchtigte Armut. Sozialer Disziplinierungsanspruch in den Arbeits- und Armenanstalten der »vorderen« Reichskreise, in: ZHVS 89 (1996), S. 95-124. 29 R EINHART K OSELLECK , »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« - Zwei historische Kategorien, in: D ERS . (Hg.), Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/ Main 1989, S. 349-375. 30 W ILHELM S CHMIDT -B IGGEMANN , Politische Theologie der Gegenaufklärung: Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader, Berlin 2004; H ANS -C HRISTOF K RAUS , Gegenaufklärung, Spätromantik, Konservatismus: Zu einigen neueren Veröffentlichungen, in: HZ 269 (1999), S. 371-413; J OCHEN S CHMIDT , Aufklärung, Gegenaufklärung, Dialektik der Aufklärung, in: D ERS . (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, S. 1-31. 31 Vgl. dazu auch: A RMGARD VON R EDEN -D OHNA , Prestige und Politik. Ein Konfliktfall zwischen Reichsverfassung und Territorialinteresse, in: Deutschland und Europa in der Neuzeit. FS für Karl Otmar Frhr. von Aretin zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1988, S. 259- 276; D IES ., Reichsstandschaft und Klosterherrschaft. Die Schwäbischen Reichsprälaten im Zeitalter des Barock (Institut für europäische Geschichte Mainz, Vorträge 78), Wiesbaden 1982; K ONSTANTIN M AIER , Die Diskussion um Kirche und Reform im Schwäbischen Reichsprälatenkollegium zur Zeit der Aufklärung (Beiträge zur Geschichte der Reichskirche in der Neuzeit 7), Wiesbaden 1978. 32 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 4, S. 8. <?page no="234"?> K R IE G , K U MM ER UND K RI S EN 235 man in der Tradition ordensübergreifender Kommunikation und in enger Absprache zu den süddeutschen Prälatenkollegien. 33 Im März 1793 wurden, nachdem man die ganze Nacht für den Fortbestand des Klosters gebetet hatte, Boten mit hilfesuchenden Briefen an folgende clöster geschickt: nach Ulm zu den Wengen, nach Wiblingen, nach Roggenburg, nach Wettenhausen, nach Neresheim, nach Deggingen; item an die pfründschaft, nach Reichenau an unsere 2 confratres. 34 Der Kreis konsultierender Abteien und Pfarreien wurde immer weitläufiger, je stärker der politische und ökonomische Druck in den Abteien anstieg. An den Tagen nach Jahresbeginn war es üblich, sich in der Region wechselseitig nicht nur aus gebotener Höflichkeit zu besuchen, sondern sich für das neue Jahr zu beraten und gemeinsame Ziele festzuschreiben. 1787 notierte Baader für den 2. Januar: Das neüe Jahr anzuwünschen kamen heüt Chorherren aus dem Ulmer Wengenstift, 35 H. Hauptmann Izo Graf, H. Baron Osterberg, Pfarrherrn von Autenried, von Waldstätten, Straß, Fahlheim, einige Beneficiat etc., H. Decan von UnterElchingen. Folgende täg kamen auch H. Oberamtmann von UnterElchingen, H. Beneficiat von carletshofen, item Pfarrer von Westerstetten. Hochrangige Reichsfürsten wie der Herzog von Württemberg kamen zwar nicht persönlich, schickten aber Neujahrsschreiben. Und für den 18. Januar lesen wir: Wegen Anwünschung eines neüen beglückten Jahres kamen dieser tagen zu uns P. Guardian der franciscaner von Ehingen mit einem socio, H. Pfarrer von Ichenhausen, Baron und Baronessin von Bühl Osterberg, Baron Denzel, H. Hegele CanzleÿVerwalter von Günzburg. 36 Letzterer vertrat vor Ort die vorderösterreichischen Interessen. 37 Die Zahl der Diplomaten und Neujahrsgäste setzte sich im Klostertagebuch wie in jedem Jahr bis Ende Januar und Anfang Februar fort. Gastfreundschaft und Kommunikationsbereitschaft zeichneten die Prälatenorden aber auch quer über das Kalenderjahr aus. Das half, die gemeinsame Sorge um die nicht verstummende zeitgenössische Kritik an der Reichskirche, an der Verweltlichung der Orden und alle daraus resultierenden Säkularisationsstimmen besser zu ertragen. In gemeinsamer Beratung und Unterstützung lag die Kraft monastischer Stand- und Wehrhaftigkeit. So erfahren wir für Elchingen beispielsweise für den 33 W OLFGANG W ÜST , Netzwerke in Franken. Zwischenstaatliche Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: E RICH S CHNEIDER (Hg.), Nachdenken über fränkische Geschichte. Vorträge aus Anlaß des 100. Gründungsjubiläums der Gesellschaft für fränkische Geschichte vom 16.-19. September 2004 (Veröff. der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX/ 50), Neustadt/ Aisch 2005, S. 107-128. 34 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 3, S. 26, Eintrag vom 26. März 1793. 35 U LRICH S CHEINHAMMER -S CHMID , »… consummatae eruditionis lumina diffundere … - Das Licht der vollendeten Bildung ausbreiten …«: Chorherren aus Bayerisch-Schwaben im Ulmer Wengenstift als Mittelsmänner der Aufklärung, in: ZHVS 104 (2012), S. 169-199. 36 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 1, S. 147f. 37 W OLFGANG W ÜST , Günzburg (HAB, Teil Schwaben I/ 13), München 1982, S. 93f.; D ERS ., Historische Einleitung, in: K LAUS K RAFT , Landkreis Günzburg, Bd. 1: Stadt Günzburg (Die Kunstdenkmäler von Bayern, Teil Schwaben IX), München 1993, S. 1-49. <?page no="235"?> W OLF GANG W ÜS T 236 1. Oktober 1788: P. Prior von Roth [an der Rot] nebst noch 3 Herren von diesem Reichsgotteshaus sindt zu uns kommen, haben bej uns auf einen tag vacanz gemacht, man hat sich auch guet aufgewarthet. 38 Sicher war es eine der Leitlinien im Kommunikationsverhalten Elchingens, die katholische Position im Alten Reich zu stärken. Doch die Klosterchronik berichtet auch von konfessionsübergreifenden Begegnungen und Kontakten. 1787 wurde beispielsweise der lutherische Hofprediger aus Stuttgart auf dem Elchinger Klosterberg empfangen. Um 5 uhr kam dieser Gast [Hofprediger von Halem] an mit H. OberAmtmann von Söfli[ng]en in Ulm; ich warthete ihn auf mögliche Art auf, gab zulezt auch Rheinwein her, nächsten tag wurde er von unsern pferdten bis Neresheim geführt, es begleiteten ihn P. Roman dorthin. 39 Versagten alle anderen diplomatischen Felder, um die für den Fortbestand der Klöster der wichtigen Befriedung der europäischen Konflikte näherzukommen, so machte man gute Miene zum bösen Spiel. In Elchingen investierte man hohe Summen in die Verpflegung und Versorgung durchziehender und einquartierter Soldaten und Truppenkontingente. So geschah es auch im Klosterort Fahlheim bei Ulm, wo sich im Dezember 1785 Teile des kaiserlichen Regiments Tillie aufhielten. In Fahlheim wurdten 145 Soldaten […] über Mittag einquartiert, wie auch über nacht behalten: auch waren der Staab da, so in 7 Officiren, einen Obristen bestandt, welchen unser gnädiger H[err Abt] freÿ hielten sowohl in Speiß als getrank: dise liessen es sich wohl geschmacken, sie tranken nur Neckarwein von 1 maas á 36 x [Kreuzer] 28 maas, 8 boutellin Burgunders, 4 boutellin Campagnier etc. 40 5. Quellenergebnisse Mit der Klosterchronik aus der Feder des Elchinger Priors und Archivars Benedict Baader liegt uns ein regional herausragendes Egodokument für die Umbruchs- und Krisenzeit um 1800 vor. Diese Quelle, die dank der aktiven Sammlungstätigkeit des Historischen Vereins für Schwaben - er wurde am 11. September 1834 gegründet - überliefert ist, harrt noch einer kritischen Edition. Angesichts der überwältigenden Faktenfülle der fünf Bände, die sich zeitlich über die Säkularisation hinaus von 1785 bis 1818 dehnen, wird dies ein sehr ambitioniertes Unternehmen. An seine Realisierung ist somit nur mittel- und langfristig zu denken. In den ausführlich kommentierten und beschriebenen Schriftteilen geht es zwar in erster Linie um den Alltag vor Ort, doch stand die Reichsabtei Elchingen über Nachbarschaftskontakte, über die geographische Nähe zur Handels- und Reichsstadt Ulm, 38 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 1, S. 339. 39 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 1, S. 177. 40 StadtA Augsburg (Anm. 5), Bd. 1, S. 49, Eintrag vom 27. Dez. 1785. <?page no="236"?> K R IE G , K U MM ER UND K RI S EN 237 über die Gremien im Schwäbischen Prälatenkollegium, 41 über den Schwäbischen Reichskreis, über Vorderösterreich und schließlich über die Institution Reichskirche als Ganzes in einem weit gespannten europäischen Kommunikationsnetz. Wir erleben mit Benedict Baader eine Zeit, in der die Einhaltung der Klosterklausur mehrfach gefährdet wurde und in der an ein kontemplatives Leben hinter Klostermauern schwerlich zu denken war. Die Kriegsläufe des ausgehenden 18. Jahrhunderts belasteten die von den ökonomischen Krisen des Dreißigjährigen Kriegs gut erholte Abtei erneut schwer. Soldateneinquartierungen und Flüchtlingsbeherbergung veränderten zunehmend das monastische Leben. Dennoch blieb vor allem zu Beginn der Chronik immer ein Stück Normalität erhalten. Gerade diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen machte die krisenhaften Merkwürdigkeiten zu einer spannenden Lektüre, in der subjektive und objektive Elemente, Kriegs-, Kirchen-, Kommunikations- und Kapitalgeschichte zu einer Einheit verschmolzen. Krisenzeiten waren so stets neben sich verändernden sozialen, ökonomischen und politisch(-objektiven) Kriterien individuell geprägt. Subjektiv war die zeitgenössische Krisenerfahrung. Tagebücher und Journale sind in diesem Kontext vorrangige Zeitzeugnisse. 41 A RMGARD VON R EDEN -D OHNA , Reichsstandschaft und Klosterherrschaft. Die schwäbischen Reichsprälaten im Zeitalter des Barock (Institut für Europäische Geschichte, Vorträge 82), Wiesbaden 1982; E RNST B ÖHME , Das Kollegium der Schwäbischen Reichsprälaten im 16. und 17. Jahrhundert. Untersuchungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der korporativen Politik der mindermächtigen Reichsstände, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 6 (1987), S. 267-300. <?page no="238"?> 239 G ERHARD H ETZER Kreuz und Helm. Militärseelsorge und Militärgeistliche in Armeen des 19. Jahrhunderts Ende Oktober 1833 richtete das Kriegsministerium in München eine Weisung an das Kommando der bayerischen Expeditionstruppen in Griechenland. Man habe vernommen, dass am Standort Nauplia Geburtstag und Namensfest des regierenden Königs - beide Feste fielen auf den 25. August - kirchlich auf besondere Weise begangen worden seien. Das Hochamt habe der katholische Priester gehalten, gepredigt habe dann der protestantische Geistliche. Da eine Mischung des Kultus der Konfessionen nicht stattfinden solle, habe das Kommando dafür zu sorgen, dass sich Derartiges nicht wiederhole. Die Kirchenfeste seien in Griechenland und auch sonst wo in der Weise zu feiern, wie es zu Hause geschehe - also nach Bekenntnissen getrennt. 1 Der in Nauplia zu Tage getretene Pragmatismus war ein häufiger Wegbegleiter der religiösen Betreuung der bewaffneten Macht. Dies galt auch für den Dienst in der Heimat. So fasste das Kommando des in Ansbach stationierten 2. Chevauleger-Regiments anlässlich seines 100-jährigen Stiftungsfestes 1847 für die Einheit einen gemeinsamen Gottesdienst ins Auge. Gemäß den verfassungsmäßigen Bestimmungen musste für diese außerordentliche religiöse Feierlichkeit eine Genehmigung des Königs erwirkt werden. Die Antwort Ludwigs I. lautete, dass doppelter Gottesdienst stattzufinden habe oder gar keiner. 2 Im Übrigen scheiterten die von örtlichen Kommandanturen vorgeschlagenen simultanen Nutzungen von Sakralgebäuden in militärischen Anlagen an den Einsprüchen der zuständigen katholischen Ordinariate, etwa bei den Kapellen auf der Festung Oberhaus bei Passau (1835) und auf der Burg Rosenberg bei Kronach (1870) oder aber in den Militärkrankenhäusern in Amberg (1868) und auf dem Oberwiesenfeld bei München (1872). Großzügiges Hinwegsehen über konfessionelle Unterschiede kam mehr noch in den Zeiten vor, in denen ein bekenntnismäßig gemischtes Heer in den Krieg zog. 1 BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, A XVII/ 4/ 1: K. b. Kriegsministerium an Brigade-Kommando in Griechenland, 31.10.1833 (Abschrift). 2 Signat vom 16.1.1847, in: A NDREAS K RAUS (Hg.), Signate König Ludwigs I., Bd. 6: 1845- 1848 (Materialien zur Bayerischen Landesgeschichte 6), München 1994, S. 375. Ein ähnlicher Vorgang ergab sich anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des 11. Infanterie-Regiments in Regensburg 1855. Siehe die Verweise in BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, A XVII/ 4/ 1 und / 2. <?page no="239"?> G E RHAR D H E TZER 240 Ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen protestantischen und katholischen Geistlichen, zumal eben im Felde, sei durchaus möglich, resümierte 1870 in einer Abhandlung ein protestantischer Pfarrer und späterer Superintendent in Berlin, der Divisionsprediger in der preußischen Armee gewesen war. Freilich hänge dies von der jeweiligen Persönlichkeit ab, und man dürfe nicht vergessen, »dass es etwas Anderes ist, Soldat zu sein und Militärgeistlicher zu sein.« Diesen Satz wiederum griff in einer Buchbesprechung ein katholischer Pfarrer im Württembergischen auf, der soeben den Entwurf einer Pastoral-Instruktion für katholische Feldgeistliche vorgestellt hatte. Er nahm ihn als einen Beleg für eine konfessionell verengte Sicht des betreffenden Verfassers. 3 Als das 19. Jahrhundert zu Ende ging, hatten auch die Armeen der süddeutschen Staaten, die ihren Territorialbestand in den Umbrüchen der napoleonischen Zeit erhalten hatten, bereits seit langem mit Konfessionsverschiedenheiten bei Offizieren und Soldaten umgehen müssen. 1901 sollte der Fall des Generalstabschefs der bayerischen Armee, Generalleutnant Karl Ritter von Lobenhoffer, erhebliches Aufsehen hervorrufen. Diesem wurde seitens des Erzbischöflichen Ordinariats in München wegen seiner Ehe mit einer Protestantin und vor allem der protestantischen Erziehung seiner Kinder eine katholische Beerdigung verweigert. 4 Das Ordinariat argumentierte mit kirchenrechtlichen Vorschriften, die für Personen hohen und niederen Standes gleichermaßen gültig seien. Man konnte diese Haltung aber auch als Schlag gegen einen Interkonfessionalismus ansehen, der in den Streitkräften verbreitet gesehen wurde. Das vom irenischen Klima des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts bestimmte Nebeneinander der Konfessionen war strengeren Auslegungen der Lehrmeinungen und stärker reglementierter Kirchenzucht gewichen. Eine Publikation wie das 1820 bei Jakob Friedrich Ebner in Ulm erschienene ›Gebetbuch für Soldaten, ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses‹ wäre 30 Jahre später nicht so einfach vorstellbar gewesen und hätte schwerlich Eingang in die organisierte Militärseelsorge gefunden. 1. Zu den Grundlagen und Rahmenbedingungen Schon die Heere der vorchristlichen Zeit waren von Priestern begleitet worden. Das Concilium Germanicum von 742 und die Kapitulare Karls des Großen hatten Bestimmungen für das Amt von Geistlichen auf Feldzügen getroffen. Regelungen für eine Militärseelsorge zu Friedenszeiten wurden naturgemäß erst mit dem Auf- 3 Johann Evangelist Göser in der Rezension des Werks von O TTO S TRAUSS , Die evangelische Seelsorge bei dem Kriegsheere, Berlin 1870 (der entsprechende Satz S. 98), in: Theologische Quartalschrift 53 (1871), S. 681-690, hier 685. 4 Vorgänge im Akt BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, MKr 10774. <?page no="240"?> Kreuz und Helm. Militärs eels org e und Militärg eistliche in Arme en des 19. J ahrhund erts 241 kommen der stehenden Heere notwendig. Bei der Betreuung der Zielgruppe der Soldaten ergaben sich Schnittstellen zwischen den Interessen von Staat und Kirchen. Die Armeen in den süddeutschen Staaten fußten seit den napoleonischen Kriegen auf der allgemeinen Wehrpflicht, die freilich viele Lücken aufwies und nicht konsequent durchgesetzt wurde. Österreich-Ungarn führte die allgemeine Wehrpflicht hingegen erst 1868, nach seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bund, ein. Persönliche Erfahrungen aus Militärzeiten waren gleichwohl um 1850 viel verbreiteter als noch 50 Jahre zuvor. Das 19. Jahrhundert brachte einen Wandel der Stellung des Militärs in der gesamtgesellschaftlichen Rangordnung. Gleichzeitig war es eine Zeit interessanter theologischer und organisatorischer Entwicklungen in den großen Kirchen und in den kleinen Religionsgemeinschaften. Die Literatur zur Militärseelsorge in diesem Zeitraum ist überschaubar. Es liegen allerdings einzelne umfassende ältere und auch neuere Überblicksarbeiten vor. 5 Bedarf gibt es für regionale und lokale Untersuchungen, in denen Aussagen zu den Wechselbeziehungen zwischen Kirchengemeinschaften und Militär und damit zu den Komponenten des kulturellen Klimas in den Garnisonsstädten getroffen werden. Eine Grundfrage war die Stellung der Militärseelsorge zur allgemeinen Seelsorge. Ein größeres stehendes Heer schien schon zu Friedenszeiten eine straff organisierte Militärseelsorge zu erfordern. Gleichzeitig war die Betreuung von Soldaten und Soldatenfamilien durch die ›zivile‹ Welt- und Ordensgeistlichkeit vor Ort eine geläufige Erscheinung. Gegen die Einrichtung einer eigenständigen Militärseelsorge konnten Kostengründe, aber auch Einwendungen aus religiöser und kirchenorganisatorischer Sicht - zum Beispiel die Förderung eines eher dem Staat als der Kirche verpflichteten, theologisch oft wenig gefestigten Funktionärstums - 5 J OSEPH F REISEN , Das Militär-Kirchenrecht in Heer und Marine des Deutschen Reiches nebst Darstellung des außerdeutschen Militärkirchenwesens. Beiträge zur staatlichen und kirchlichen Rechtsgeschichte, Paderborn 1913. Der Verfasser hat seinerzeit bereits einschlägige Unterlagen des Würzburger Ordinariats ausgewertet. A RNOLD V OGT , Religion im Militär. Seelsorge zwischen Kriegsverherrlichung und Humanität. Eine militärgeschichtliche Studie (Europäische Hochschulschriften 253), Frankfurt am Main 1984. Dieser Autor hat für die Zeitschrift ›Militärseelsorge‹ eigene Beiträge zur Seelsorge in der bayerischen und württembergischen Armee verfasst (Nrr. 28/ 1986, 31/ 1989). Vor allem auf Studien von Freisen und Vogt fußen die einführenden Kapitel zu den Streitkräften der einzelnen deutschen Staaten in dem verdienstvollen Werk von H ANS J ÜRGEN B RANDT / P ETER H ÄGER (Hg.), Biographisches Lexikon der Katholischen Militärseelsorge Deutschlands 1848-1945, Paderborn 2002, S. XXXII-LVII. Ein Überblick u. a. über die bayerische Entwicklung bei W ERNER T ROLP , Die Militärseelsorge in der hannoverschen Armee. Betreuung innerhalb der allgemeinen Strukturen der Kirche unter Berücksichtigung von Besonderheiten der Armee, Göttingen 2012, S. 43-54. <?page no="241"?> G E RHAR D H E TZER 242 vorgebracht werden. 6 In Österreich waren während des Dreißigjährigen Krieges und dann in den Jahren nach 1648 Weichenstellungen für eine exemte Stellung der Militärgeistlichkeit erfolgt. Seit 1773 amtierte ein Apostolisches Feldvikariat, 7 das bis zum Ende der k. u. k. Armee fortbestehen sollte. Hingegen kam es zum Beispiel im schweizerischen Milizsystem erst nach 1870 zu Regelungen für die bei den Einheiten eingeteilten Feldprediger durch den Bundesrat in Bern. Im Königreich Preußen war eine Struktur hauptberuflicher Militärgeistlichkeit entstanden, mit eigenen Militärgemeinden, an deren Spitze ein vom König bestellter Feldpropst stand. Fundament dieses an militärischen Kommandoebenen, an Armeekorps, Divisionen und militärischen Anstalten, orientierten Gebäudes war eine Militärkirchenordnung von 1832. Daneben gab es auch in Preußen stets zahlreiche zivile Geistliche, die im Nebenamt militärgeistliche Funktionen versahen. Für die katholische Seelsorge wurde seit den 1830er Jahren eine eigene Gliederung entwickelt. Hierbei wurden auch die Verhältnisse in anderen deutschen Bundesstaaten in den Blick genommen. 8 Es gab seit 1868 einen exemten katholischen Feldpropst, dessen Funktion allerdings von 1873 bis 1888 aufgehoben war, dem Kulturkampf im jungen Kaiserreich geschuldet. In Württemberg bestanden zwar protestantische und katholische Garnisonskirchengemeinden mit eigenen Kirchenbüchern sowie einige eigens für die Garnison bestimmte Kirchen, aber keine selbständige Organisation der Militärgeistlichkeit. Die Garnisonspfarrer waren zumeist im Hauptamt örtliche zivile Geistliche und unterstanden ihren jeweiligen kirchlichen Oberbehörden, also dem Konsistorium in Stuttgart und dem Ordinariat Rottenburg. Zum unmittelbaren Vorgesetzten der protestantischen Garnisonspfarrer war allerdings ein hoher Hofgeistlicher mit der ständigen, auch im Frieden zu versehenden Aufgabe des Feldpropstes bestimmt worden. Im Falle eines Krieges sollten, wie schon in den napoleonischen Kriegen, eigene Feldgeistliche mit ausrücken. Wenn das preußische Beispiel, obwohl umstritten, bereits in manchem in den 1830er Jahren wirkte - so bei Differenzen zwischen dem Kriegsministerium und den kirchlichen Leitungsebenen um die Auswahl von geeigneten Bewerbern -, 9 so erfolgte in Württemberg doch auch längerfristig 6 Zur Schrift des Bischofs W ILHELM E MMANUEL VON K ETTELER , Die Gefahren der exemten Militär-Seelsorge, Mainz 1869, siehe A. V OGT , Religion (Anm. 5), S. 92-95. 7 Zum Hintergrund und zu den Anfängen E MERICH B IELIK , Geschichte der K. u. K. Militär-Seelsorge und des Apostolischen Feld-Vicariates, Wien 1901, S. 1-25. 8 Ergebnisse der Umfrage des preußischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten von 1842 bei: H EINRICH P OHL , Die katholische Militärseelsorge Preussens 1797-1888. Studien zur Geschichte des deutschen Militärkirchenrechts (Kirchenrechtliche Abhandlungen 102, 103), Stuttgart 1926, S. 129-134. 9 HStA Stuttgart, E 271c/ 1439: Bericht der zur Regulierung der kirchlichen Verhältnisse des Militärs eingesetzten Kommission des Kriegsministeriums bei Besetzung erledigter Garnisonspfarreien, 2.2.1836. <?page no="242"?> Kreuz und Helm. Militärs eels org e und Militärg eistliche in Arme en des 19. J ahrhund erts 243 keine Übernahme des preußischen Modells. Im Gegensatz dazu stand die Entwicklung in den Großherzogtümern Baden und Hessen-Darmstadt, deren Kontingente nach den Militärkonventionen in den Jahren 1870 und 1871 Teile der preußischen Armee wurden und deren Militärseelsorge teils mit und teils ohne förmliche Vereinbarung angeglichen wurde. In Baden hatte es zuvor in Friedenszeiten keine Militärgeistlichkeit gegeben. Erst im Kriegsfall sollten besondere Geistliche für die Truppenverbände namhaft gemacht werden. Auch das Kurfürstentum Pfalz-Bayern bzw. das Königreich Bayern war ein Staat, der die Mehrkonfessionalität der Untertanen zu berücksichtigen hatte. Im Oktober 1802 war vor den Toren Würzburgs ein Gottesdienst für Protestanten abgehalten worden, die in den kurbayerischen Truppen dienten. Zuletzt hatte in der Bischofsstadt am Main protestantischer Gottesdienst zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges stattgefunden. 10 Im Kurstaat hatte es durchaus Ansätze für eine exemte Militärgeistlichkeit gegeben, etwa mit der päpstlichen Bevollmächtigung von 1789 für den Hofkaplan und Theatiner-Propst Cajetan Maria von Reisach zu einem Großkaplan der bayerischen Armee, ob nun im Frieden oder Krieg. In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts zeigten sich gegenläufige Entwicklungen. Dies war mit der Kostenfrage verbunden, vor allem aber war es eine Reaktion auf das Ende der Monokonfessionalität. Gemäß einer kurfürstlichen Kabinettsordre vom Oktober 1803 waren die bestehenden Garnisonspfarreien abzuschaffen. Zu Friedenszeiten sollten die Militärpersonen von zivilen Geistlichen im jeweiligen - katholischen oder protestantischen - Pfarrverband betreut werden. Dies sollte im Grundsatz bis zum Ende der bayerischen Armee so bleiben, die also keine eigenen Militärkirchengemeinden kannte. Als letzte im Königreich wurde im Mai 1812 die seit 1779 bestandene und mit der so genannten unteren Stadtpfarrei bei St. Moritz verbundene Garnisonspfarrei Ingolstadt aufgehoben. Dem Ingolstädter Militär wurde die Wahl der Kirche bei besonderen Feierlichkeiten freigestellt. Danach gab es nur noch in dem erst seit 1814 wieder bayerischen Würzburg noch eigene Garnisonspfarreien, die 1822 in eine durch Zusammenlegung zweier Benefizien dotierte Stelle eines ›Festungs- und Militärspitalkaplans‹ mündeten. Im Februar 1825 dehnte ein Reskript des Kriegsministeriums die bisher nur für die Namens- und Geburtstage von König und Königin vorgesehenen Kirchenparaden des Militärs auf alle Sonn- und Festtage sowie weitere angeordnete Feiertage aus. 11 Die Präsenz der Soldaten in den Gottesdiensten der jeweils dafür bestimmten Kirchen wurde augenfälliger, lag auch sicher in der Absicht des Kron- 10 A LBRECHT S CHÜBEL , 300 Jahre Evangelische Soldatenseelsorge, München 1964, S. 60. 11 Reskript des Kriegsministeriums an das Armeekommando vom 10.2.1825, abgedruckt bei G EORG F ERDINAND D ÖLLINGER , Sammlung der im Gebiete der inneren Staats-Verwaltung des Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen, Bd. VIII, München 1838, S. 1067f. <?page no="243"?> G E RHAR D H E TZER 244 prinzen Ludwig und des Fürsten Wrede als Chef des Armeekommandos. Ein Zwang zum Besuch des Gottesdienstes einer anderen Konfession sollte dabei nicht ausgeübt werden. Bei der Zuteilung der Rekruten zu den Garnisonen und Einheiten wurden die konfessionellen Verhältnisse zumindest ein Stück weit für einige Jahrzehnte berücksichtigt, soweit die militärischen Sachzwecke dies zuließen und noch keine entsprechende protestantische oder katholische Seelsorgestelle vor Ort bestand. 12 Ein Breve Papst Gregors XVI. von 1841 hätte auch in Bayern die Einrichtung einer exemten Militärseelsorge nach österreichischem Vorbild ermöglicht, und zwar mit dem jeweiligen Erzbischof von München und Freising als ›cappellanus maior‹ der bayerischen Armee. 13 Doch von dieser Genehmigung wurde kein Gebrauch gemacht. 1852 erfolgte nach längeren Erörterungen eine päpstliche Bestätigung der Vollmachten des Münchener Erzbischofs im Kriegsfall, nämlich als Feldpropst regelmäßig die geistliche Iurisdiktion über die Armee und über die Feldgeistlichen auszuüben. Noch im Ersten Weltkrieg galt die durch das Breve von 1841 geschaffene Rechtslage als ungeklärt, als nämlich die Frage zu beantworten war, ob die Auslagen, die bei einer Reise des Münchener Erzbischofs Franz von Bettinger an die Westfront im Herbst 1916 erwachsen waren, den Erben des mittlerweile verstorbenen Kardinals aus Militärmitteln ersetzt werden könnten. 14 Die von König Max II. Joseph Anfang 1851 gewünschte Ausarbeitung einer Vorschrift über die Organisierung des Institutes des Militärklerus 15 schleppte sich gut zehn Jahre hin und mündete nach Sach- und Terminzwängen der Verhandlungen über den Militäretat im Landtag in der Verordnung, die Militär-Seelsorge betr[effend] vom 8. August 1863. 16 Es war kein großer Wurf, vielmehr ein Kompromissgebilde, das zählebig war. Die dortigen Bestimmungen unterstrichen die Zugehörigkeit der Militärpersonen zu den zivilen Pfarrsprengeln. Doch konnten die Kirchen eigene Militärkuraten außerhalb der Pfarrgeistlichkeit mit der Seelsorge bei Unteroffizieren 12 Hierzu die Bemerkung bei E UGEN VON F RAUENHOLZ , Geschichte des Königlich Bayerischen Heeres von 1867 bis 1914 (Geschichte des Bayerischen Heeres 8), München 1931, S. 221f. Zum Vorschlag des bayerischen Innenministeriums vom Januar 1840, protestantische Rekruten aus der Umgebung von Amberg nach Nürnberg, Bayreuth oder Regensburg einzuberufen, BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, A XVII 1/ 7. 13 Zu diesem Breve ausführlich J. F REISEN , Militär-Kirchenrecht (Anm. 5), S. 158-167. Siehe auch A RNOLD V OGT , Militärseelsorge in den königlich bayerischen Streitkräften bis 1918, in: Militärseelsorge 28 (1986), S. 126-164, hier 129f. 14 Siehe die Vorgänge von 1917 in BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, MKr 10778. Auch Bettinger wurde bei seinem Amtsantritt vom Papst als Feldpropst der bayerischen Armee im Kriegsfall bevollmächtigt, desgleichen dessen Nachfolger Michael Faulhaber. 15 BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, MKr 10778: König an den Kriegsminister, 23.1.1851 (Abschrift). 16 Verordnungs-Blatt des k. b. Kriegsministeriums Nr. 23 vom 10.8.1863 <?page no="244"?> Kreuz und Helm. Militärs eels org e und Militärg eistliche in Arme en des 19. J ahrhund erts 245 und Soldaten beauftragen. Zu den Kritikpunkten gehörte neben einer Reihe von rechtlichen Unschärfen die Tatsache, dass Offiziere von der Betreuung durch diese Militärgeistlichen, die in den Folgejahren nach und nach in einigen größeren Städten aufgestellt wurden, ausgenommen waren. Diese Regelung ist auf eine gleichsam erzieherische Absicht gegenüber den Mannschaften zurückgeführt worden, 17 sie dürfte jedoch zumindest im gleichen Umfang dem Standesgefühl von Offizieren geschuldet gewesen sein, die entweder lieber unter einer elevierten Pfarrgeistlichkeit standen oder als Protestanten teilweise die freie Pfarrerwahl genossen. Das Militärärar stellte dem Kultusministerium eine jährliche Pauschalsumme für den Bedarf der Militärseelsorge zur Verfügung und befreite sich dadurch von einer Reihe von in den vorhergegangenen Jahrzehnten übernommenen Verpflichtungen. Für die Seelsorge vor Ort waren in Abstimmung mit den Kommandanturen Instruktionen zu erstellen, die die Aufgaben der mit der Militärseelsorge betrauten Geistlichen regeln sollten. Abb. 1: Dankgottesdienst des k. b. 2. Kürassier-Regiments auf dem Hof der Kavallerie-Kaserne in Landshut nach der Rückkehr aus dem Feldzug, 1866. 17 A. V OGT , Militärseelsorge (Anm. 13), S. 132. <?page no="245"?> G E RHAR D H E TZER 246 2. Militärseelsorge in den Standorten, Konfessionsfragen 1826 wurde in der Münchener Hofkirche St. Michael ein gemeinsamer Gottesdienst für die gesamte Garnison eingeführt. Erster Prediger war Domvikar Thosso Roth, von dem rühmend erwähnt wurde, dass er bereits im russischen Feldzug und in den Zügen gegen Frankreich der Armee gefolgt sei und sich in den Spitälern von Polozk um die verwundeten und kranken Soldaten Verdienste erworben habe. 18 Roth stammte aus Mittelschwaben. Er hatte als Benediktiner dem Konvent von St. Ulrich und Afra in Augsburg angehört und sich nach Aufhebung des Klosters in der allgemeinen Seelsorge betätigt. Bis Frühjahr 1816 war er Feldkaplan gewesen, bevor ihm zunächst eine Pfarrstelle in Oberbayern zugewiesen worden war. In den folgenden Jahrzehnten fand ein häufiger Wechsel der Garnisonsprediger statt, teils wegen der nicht vorhandenen oder geringen Dotierung von deren Aufgaben, teils auch, weil Predigten Anstoß erregt hatten. Dies betraf etwa einen freiresignierten Pfarrer, dessen Kanzelvorträge laut eigenen Angaben neben dem Militär von den achtbarsten und gebildetsten Personen […] von verschiedenen Konfessionen und Ständen besucht wurden. Er wurde im Juli 1838 nach gut drei Jahren vom Ordinariat seines Amtes enthoben, nachdem dort Mitteilungen eingetroffen waren, der Geistliche habe dem Indifferentismus das Wort geredet und Grundsätze vertreten, die mit der Lehre der katholischen Kirche nicht im Einklang stünden. Der Betroffene brachte diese Anschwärzung freilich mit den 200 Gulden in Verbindung, die das Militärärar auf Weisung des Königs ihm für seine Person gewährt habe. Erst dies habe die giftige Hydra des Neides und der Habsucht frei gelassen. 19 1844 unterstützte das für Kultusangelegenheiten zuständige Innenministerium den Antrag des Ordinariats, bei St. Michael eine Militärkaplanei mit entsprechender Fundierung durch den Militäretat zu errichten, auch um qualifizierte Geistliche zu gewinnen. Dies wurde vom Kriegsministerium unter Verweis auf die vorgeschriebene Eingliederung des Militärs in die allgemeine Seelsorge abgewiesen, eine Haltung, die beim König auf Zustimmung stieß, der im Alltag meist für Sparmodelle zu gewinnen war. Eigene katholische Militärgeistliche wurden in diesen Jahren seitens der zuständigen Ordinariate auch für Bamberg und Ingolstadt gefordert. Zumal Ingolstadt mit seiner starken Garnison zeigte die Veränderungen der konfessionellen Landschaft wie in einem Brennglas. 1822 wurde in der Konviktkaserne, einstmals Sitz des Jesuiten-Kollegs, ein protestantischer Betsaal eingerichtet. Dies geschah in Regie der örtlichen Kommandantur, und zwar nach längerem Zaudern im Armeeministerium und bei den oberen Kommandobehörden, die auch hier neue Kosten für gottesdienstliche Zwecke scheuten und Präzedenzfälle befürchteten. Für den 18 BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, A XVII 1/ 14: K. b. Armeekommando an Kriegsministerium, 8.1.1828. 19 Vorgänge in BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, A XVII/ 1/ 18. <?page no="246"?> Kreuz und Helm. Militärs eels org e und Militärg eistliche in Arme en des 19. J ahrhund erts 247 protestantischen Kultus flossen nun Mittel aus dem Vermächtnis eines in Ansbach verstorbenen preußischen Generals. Viele Soldaten in Ingolstadt und Neuburg an der Donau stammten aus den früher markgräflichen Gebieten des Rezat-Kreises und waren evangelisch-lutherischen Bekenntnisses. Zunächst oblag dem lutherischen Pfarrer aus dem annähernd 30 Kilometer entfernten Untermaxfeld, dreimal pro Jahr Militärgottesdienst zu halten und Kranke zu besuchen. Dafür erhielt er tatsächlich einen Zuschuss aus dem Militäretat. Zähe Bemühungen um einen eigenen Geistlichen hatten schließlich Erfolg: 1824 wurde die protestantische Pfarrei Ingolstadt gegründet. Drei von vier Pfarrangehörigen waren zu diesem Zeitpunkt dem Militärstand zuzuzählen, das verbleibende Viertel stellten die reformierten Bewohner der rheinischen Siedlerkolonie Brunnenreuth. 20 Tatsächlich nahm einige Jahre später ein Antrag, in Passau mit Beteiligung des Militärärars protestantischen Gottesdienst einzurichten, auf das Vorbild Ingolstadt Bezug. 21 Dort erhielten die Protestanten nach wiederholten, von der Kommandantur unterstützten Anträgen 1835 die ehemalige Malteser-Kirche eingeräumt. Das Festungsgouvernement bewirkte im September 1869 auch, dass die als katholische Militärkirche neu geweihte ehemalige Franziskaner-Kirche neben dem Gottesdienst für die katholischen Mannschaften vorübergehend an Sonn- und Festtagen den protestantischen Hauptgottesdienst aufnahm, als in der Malteser-Kirche Baureparaturen anstanden. Das Generalvikariat Eichstätt nahm unter Wahrung des kirchenrechtlichen Standpunktes die Nutzung hin, nachdem der Gouverneur ( = der Festungskommandant) diese zur unabweislichen Notwendigkeit erklärt hatte - obwohl seitens des Kultusministeriums an sich der ablehnende Standpunkt des Ordinariats gestützt worden war und auch das Kriegsministerium für die Ingolstädter Protestanten nicht mehr hatte tun wollen. 22 Auch an anderen Orten wurden Militäreinrichtungen Haltepunkte für die protestantische Diaspora insgesamt. So kamen in den für die protestantischen Veteranen im Invalidenhaus Fürstenfeld in einem Saal des ehemaligen Klostergebäudes abgehaltenen Ostergottesdienst 1835/ 36 einige Dutzend verstreut in der Umgebung wohnende Zivilpersonen. Für einen häufigeren protestantischen Gottesdienst fanden sich vorläufig nicht genügend Mittel. Seit 1869 konnten Zivilisten an den Gottesdiensten im protestantischen Betsaal des Invalidenhauses Benediktbeuren teilnehmen. 23 20 LAELKB, OKM 4298: Fragekatalog der evangelischen Gemeinde in Ingolstadt für das Konsistorium Bayreuth, 17.7.1823. Siehe auch die Vorgänge in BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, A XVII 1/ 7. 21 Der Vorgang von 1833 in BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, A XVII 1/ 9. 22 Vorgänge in DAEI, BOE 480, und BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, A XVII/ 4/ 2. 23 Vorgänge in StaatsA München, Regierungsakten 11511 (Fürstenfeld), und BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, A XVII 4/ 2 (Benediktbeuren). <?page no="247"?> G E RHAR D H E TZER 248 Ingolstadt war auch der Schauplatz mehrerer Streitfälle um die kirchliche Weihe militärischer Fahnen, die seitens der Ordinariate dann abgelehnt wurden, wenn sie als gemeinschaftliche religiöse Akte zusammen mit Nicht-Katholiken angesehen werden konnten. So verlangte im September 1848 ein Regimentskommando von einem Ingolstädter Pfarrer in durchaus drängender Weise eine Fahnenweihe unter Beteiligung des protestantischen Geistlichen. Die Zeitstimmung kam Handlungen entgegen, in denen das Trennende fallen sollte, das den Gedanken der in Freiheit geeinten Nation störte. Auch von verschiedenen Freikorps und Bürgergarden im Lande wurden gemeinsame Fahnenweihen gefordert. Das Erzbischöfliche Ordinariat München und Freising lehnte gegenüber dem Kultusministerium derartige Veranstaltungen ab. Religiöser Friede sei nicht dadurch aufrecht zu erhalten, daß man von indifferentistischen Principien ausgehend [eine] gegenseitige Theilnahme an gottesdienstlichen Handlungen veranstalte. Ansonsten würden die Fahnenweihen zum bloßen Schaugepränge. 24 Auf Ministerialebene fand diese Haltung zunächst Rückendeckung, auch als in den folgenden Jahren immer wieder seitens militärischer Einheiten entsprechende Anträge einkamen. 1857 lehnte das Ordinariat Eichstätt Feldmessen ab, an denen an getrennten Altären katholische und protestantische Weihehandlungen nacheinander erfolgen sollten. 1864 wurde der beim Ingolstädter Pfarramt Zur Schönen Unserer Lieben Frau angesiedelte Militärkaplan vom Ordinariat gerüffelt: Er hatte nicht gemeldet, dass im zeitlichen Anschluss an die katholische Weihe von Fahnen des 10. Infanterie-Regiments eine protestantische Weihe beabsichtigt war. Den katholischen Weiheakt hatte er vorgenommen und dann in Zivil der protestantischen Handlung beigewohnt. Dem Ordinariat gab dies auch Anlass, gegenüber dem Kultusministerium förmlich zu erklären, dass es sich um das Fehlverhalten eines Einzelnen, nicht um ein Abrücken von seiner kirchenrechtlich gebotenen Linie handle. Die katholischen Oberbehörden beriefen sich in ihrer Haltung auf eine Weisung des Kriegsministeriums vom Oktober 1844, in der ein genauer Ablauf bei Fahnenweihen - an deren Form Ludwig I. besonderen Anteil nahm - festgelegt worden war, und zwar nach katholischem Ritus. Auch in den späten 1870er Jahren wollten sie daran nicht rütteln lassen. Dass zu nicht-katholischen Weihehandlungen keine Aussage getroffen wurde, war vermutlich der Tendenz geschuldet, nach den seit Jahren hochgehenden Wogen des Kniebeuge-Streites keine neuen Konfliktfelder entstehen zu lassen. Die Anordnung des Kriegsministeriums vom August 1838, dass der ausgesetzten katholischen Monstranz von den Soldaten jeder Konfession durch Niederknien Reverenz erwiesen werden müsse, hatte eine Welle der Erregung in den protestantischen Landesteilen und im Parlament hervorgerufen, auch einige bemerkenswerte 24 DAEI, BOE 496: Erzbischöfliches Ordinariat München und Freising an Ministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten, 29.9.1848 (Abschrift). <?page no="248"?> Kreuz und Helm. Militärs eels org e und Militärg eistliche in Arme en des 19. J ahrhund erts 249 Fälle von Befehlverweigerung im Heer - darunter von hohen Offizieren - und in der Landwehr. Für den ehemaligen Offizier, Militärhistoriker und Kriegsarchivar Oskar Bezzel, Sohn eines evangelisch-lutherischen Pfarrers, war es noch fast hundert Jahre danach ein »stark empörendes Ereignis«, das seit 1840 schrittweise geheilt werden sollte. 25 3. Feldgeistliche - Motive und Handeln Erstmals seit den napoleonischen Kriegen wurden im Sommer 1831 für das bayerische Heer Anwärter für eine Tätigkeit als Feldgeistliche gesucht, und zwar im Falle einer Mobilmachung des bayerischen Kontingents für die Exekutionstruppen des Deutschen Bundes. Als im November 1832 das bayerische Hilfskorps für das Königreich Griechenland abmarschierte, wurde es von zwei katholischen und einem protestantischen Feldprediger begleitet, denen das Kriegsministerium eine Dienstinstruktion nach Vorlage aus früheren Kriegszeiten mitgegeben hatte. 1835 wurden für das griechische Heer, und zwar für die dort dienenden bayerischen Freiwilligen, neuerlich Geistliche gesucht. Jener protestantische Feldprediger, der in Nauplia gesprochen hatte, war zuvor Pfarramtskandidat in Bayreuth gewesen. Für seine berufliche Laufbahn sollte der Aufenthalt in Griechenland keinen Knick bedeuten, im Gegenteil. Nachdem er im Sommer 1835 mit den letzten Einheiten des bayerischen Hilfskorps heimgekehrt war, 26 erhielt er den Ausdruck allerhöchster Zufriedenheit, und das Oberkonsistorium wurde aufgefordert, für seine angemessene berufliche Verwendung zu sorgen. 1837 ging er als Hofprediger der Königin Amalie wieder nach Griechenland. Weitere Gelegenheiten, sich nach Aufrufen der geistlichen Oberbehörden zum vorübergehenden Dienst als Feldgeistlicher zu melden, ergaben sich in den Jahren 1848 bis 1850 - bei den Truppenzügen gegen revolutionäre Bewegungen in Südwestdeutschland und in Bayern selbst, beim Bundesfeldzug gegen Dänemark sowie beim Einmarsch und bei der Besatzung in Kurhessen - oder bei den Mobilmachungen von 1859, 1866 und 1870. Bei gebotener quellenkritischer Vorsicht stellen diese Bewerbungen Ego-Zeugnisse dar, die sich ansonsten in diesen Jahren selten finden. Die Bewerbung eines Pfarrers aus der Nähe des oberpfälzischen Neumarkt wies im Frühjahr 1848 auf Vorzüge hin, die auch von anderen Interes- 25 O SKAR B EZZEL , Geschichte des Königlich Bayerischen Heeres von 1825 mit 1866 (Geschichte des Bayerischen Heeres 7), München 1931, S. 109. Zu den Stationen dieses Konflikts der geraffte Überblick bei M AX VON S EYDEL , Bayerisches Staatsrecht, Bd. 6, Freiburg im Breisgau 1892, S. 105, Anm. 1. 26 Zu seinen Erfahrungen in Griechenland LAELKB, OKM 2339: Bericht des Feldpredigers Julius Meyer vom 10.9.1835. <?page no="249"?> G E RHAR D H E TZER 250 senten angeführt wurden. Er erwähnte eine lang gehegte persönliche Sympathie für das Militärische, die bereits im Gymnasium durch eine freiwillige Teilnahme an Exerzierübungen betätigt worden sei. Hinzu kämen die Fähigkeit, sich auch in gehobener Gesellschaft zu bewegen, eine friedfertige Haltung gegenüber anderen Konfessionen, praktische Erfahrung in der Seelsorge sowie Rednergabe, dokumentierte wissenschaftliche Weiterbildung und literarische Tätigkeit - mit pädagogischen, katechetischen und regionalgeschichtlichen Veröffentlichungen und Manuskripten - und schließlich genug an körperlicher Gesundheit und Bereitschaft, um an Feldzügen in fremde Länder teilzunehmen, dabei den Donner des Krieges nicht zu fürchten und selbst unter dem Waffengeklirr die Würde des Priesterstandes zu wahren. 27 Andere Bewerber unterstrichen ihre Bereitschaft zur Krankenpflege, auch bei ansteckenden Krankheiten, oder ihre Fähigkeiten in der französischen und italienischen Sprache. Manche wiesen darauf hin, dass bereits ihre Väter in den napoleonischen Kriegen mit dabei gewesen seien oder dass sie selbst Militärdienst geleistet hätten. Es fehlten nicht die Hinweise auf historische Kenntnisse und eine loyale Haltung in den jetzigen politisch unruhigen Zeiten. Es gab aber auch die klare Aussage, dass man sich als Feldgeistlicher eine materielle Verbesserung erwarte, nachdem die anstehenden Gesetze bei einer Ablösung der geistlichen Zehntbezüge deutliche Einbußen für den Pfarrklerus befürchten ließen. Ein Pfarrer aus der Südpfalz führte andererseits an, dass er sich als Feldprediger keine Beförderung oder Erleichterung erwarte: Denn ohne der Strapatzen des Krieges zu gedenken, kann es unmöglich Vergnügen gewähren, unter dem Donner der Kanonen und dem Sausen der Kugeln Verwundeten und Sterbenden den letzten Trost der Religion zu spenden oder gar selbst gefangen, getödet oder als Krüppel nach Hause gesandt zu werden. 28 Das zuständige Landgericht als Verwaltungsbehörde der Unterstufe unterstützte das Gesuch mit der Feststellung, dass der betreffende Geistliche einige Wochen zuvor einen in dessen Pfarrsprengel über Nacht errichteten Freiheitsbaum am nächsten Morgen habe niederlegen lassen. Auf die besondere Stimmungslage in den linksrheinischen Gebieten spielte der Antrag des protestantischen Konsistoriums in Speyer an, dass man für einen meistens aus Pfälzern bestehenden Truppenteil als Feldprediger doch den einzigen in der Pfalz geborenen Kandidaten nehmen solle. 29 Die Erfahrungsberichte des protestantischen Feldpredigers Karl Putz, Pfarrvikar in Solnhofen, der ab April 1849 die nach Schleswig-Holstein beorderten bayerischen Bundestruppen begleitete 30 und sich auch im Spätherbst 1850 für den 27 DAEI, BOE 475: Pfarrer Leonhard Graf, Günching, an Ordinariat Eichstätt, 19.5.1848. 28 BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, A XVII/ 17: Pfarrer Johann Schwartz, Ramberg, an Regierung der Pfalz, Kammer des Innern, 18.6.1848. 29 LAELKB, OKM 2334: Konsistorium Speyer an Oberkonsistorium, 8.6.1848. 30 Aus Sonderburg (6.6.1849) und München (25.8.1849), jeweils an das Oberkonsistorium gerichtet; LAELKB, OKM 2334. <?page no="250"?> Kreuz und Helm. Militärs eels org e und Militärg eistliche in Arme en des 19. J ahrhund erts 251 Einsatz in Kurhessen bewarb, gehörten zur Genese einer erneuerten Dienstinstruktion für protestantische Feldgeistliche vom November 1850. 31 Sie ersetzte die Instruktion von 1812 und enthielt liturgische Vorschriften, die für die noch von historischer Vielfalt gekennzeichnete protestantische Landeskirche rechts des Rheins einheitlich waren. Als die für Kurhessen vorgesehenen Feldgeistlichen zwar benannt, nicht aber einberufen worden waren, gab dies Anlass zu Erörterungen in der Presse. Der Kommandeur der bei der Besatzung Kurhessens eingesetzten Infanteriebrigade ersuchte um die Entsendung zweier katholischer Feldgeistlicher, um eine geistliche Betreuung sicherzustellen, die das Wirken der militärischen Vorgesetzten unterstütze. Er selbst habe bei der Truppenbelegung in der Pfalz [1849] den heilsamen Einfluss der für einen Besuch stets offenen katholischen Kirchen erlebt, desgleichen die Wirkung der an die Soldaten gerichteten Ansprachen von Geistlichen auf die aus Altbayern stammenden Soldaten. Veredelnde religiöse Betreuung sei ein Gebot der Pflicht - bei einer Mannschaft, die - nicht zuletzt durch das Einsteherwesen 32 - beinahe in ihrer Gesammtzahl der niedern oder doch ärmern Volks- Klasse entnommen sei. 33 Im März 1851 wurden zwei katholische Feldprediger nach Kurhessen entsandt, die Betreuung der protestantischen Soldaten blieb hingegen ansässigen hessischen Pfarrern überlassen. Als der Brigadekommandeur schließlich das Gedächtnis der auf diesem Feldzug verstorbenen bayerischen Soldaten und der 1813 und in früheren Kriegen Gefallenen durch die Stiftung einer ewigen Seelenmesse oder durch Schenkung je eines Messgewandes für die katholischen Kirchen in Kassel und Hanau ehren wollte, lehnte der Kriegsminister ab, nicht zuletzt in Hinblick auf eine mögliche Kränkung der protestantischen Seite. Fast gleichzeitig konnte Kriegsminister Ludwig von Lüder in der in Augsburg erscheinenden ›Allgemeinen Zeitung‹ lesen, dass Ende Juli 1851 an historischer Stätte, nämlich im Lamboy-Wald bei Hanau und damit auf dem Schlachtfeld vom 30. und 31. Oktober 1813, ein Militärgottesdienst stattgefunden habe. Zelebrant war einer der beiden nach Kurhessen entsandten Feldprediger, im zivilen Leben Benefiziat an der Münchener Domkirche. Über den Verlauf berichtete der Zeitungsberichterstatter, der Feldgeistliche habe unter anderem ausgeführt, dass seinerzeit unter Graf Wrede meist junge, im Waffengebrauch noch wenig geübte bayerische Krieger […] einer 31 LEELKB, OKM 2320: Amts-Anweisung für die protestantischen Feldgeistlichen bey den Königlich Bayerischen Truppen, 26.11.1850. Siehe auch J. FREISEN, Militär-Kirchenrecht (Anm. 5), S. 163f. 1866 erfolgte eine erneuerte Version. 32 Auch die bayerische Armee kannte bis zur Heeresreform von 1868 die Möglichkeit der Stellvertretung eines Wehrpflichtigen durch einen sogenannten Einsteher, der gegen eine mit dem Wehrpflichtigen vereinbarte Geldsumme dessen Dienstzeit (nach dem Konskriptionsgesetz von 1812 sechs Jahre, die allerdings überwiegend im Beurlaubtenstatus verbracht werden konnten) ableistete. 33 BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, A XVII/ 17: Generalmajor Heinrich Graf Guiot du Ponteil an Kommando der k. b. 3. Division, 12.2.1851. <?page no="251"?> G E RHAR D H E TZER 252 überlegenen Mehrzahl alter, kriegserfahrener französischer Kerntruppen gegenüber gestanden hätten und von diesen bei aller angeborener Tapferkeit […] zermalmt worden seyen. 34 Dies wollte der Minister zunächst nicht so stehen lassen. In der Erinnerung an die Kriege der Jahre 1805 bis 1815 35 kam dem Gedenken an die Schlacht bei Hanau vom Oktober 1813 eine besondere Rolle zu. Der Versuch, den wenige Wochen zuvor noch verbündeten napoleonischen Truppen den Rückzug über den Rhein zu verlegen, war die erste markante Kampfhandlung der bayerischen Truppen nach dem Bündniswechsel von Ried gewesen. Befehligt hatte diese Graf Wrede, als Truppenführer 1814/ 15 hoch geehrt und in den folgenden Jahrzehnten auch politisch ein einflussreicher Mann. Seine Dispositionen vor dem Treffen und seine Gefechtstaktik waren bereits 1814 in Zeitungen und Broschüren kritisiert worden. 1818 hatte ein Major im Münchener Generalstab hierzu eine Verteidigungsschrift veröffentlicht. Das Thema war also mit Empfindlichkeiten belastet. Zugleich war das Gedächtnis der bei Hanau gefallenen Angehörigen in der nach der Katastrophe des Russland-Feldzuges neu aufgebauten bayerischen Armee besonders gepflegt worden. Mit Cölestin Weinzierl hatte ein bekannter Kanzelredner in der Stiftskirche zur Alten Kapelle in Regensburg, die auch dem Militärgottesdienst diente, zum ersten Jahrestag der Schlacht gepredigt. Seit 1824 war Weinzierl, wie Thosso Roth ehemals Angehöriger des Benediktiner-Ordens, Hofprediger bei St. Michael in München gewesen und als solcher einer der Redner beim Trauergottesdienst für König Max I. Joseph. Auf Weisung Lüders, 1813 selbst ein jugendlicher Kriegsteilnehmer, ging eine Untersuchung der Wortwahl des Feldpredigers im Lamboy-Wald nach. Im Ministerium wurde eine Richtigstellung dahingehend entworfen, daß ungeachtet der Jugend und kurzen Übung der bayerischen Krieger diese dennoch mit hohem Mute ein Nachspiel zum 18. Oktober 1813 zu liefern gewagt hätten und wie dort in der Völkerschlacht bei Leipzig Teutschlands gesamte Jugend Blut und Leben für die Befreiung des Vaterlandes eingesetzt, so hätten auch die bayerischen Krieger ihr Opfer auf dem Altar des Vaterlandes niederlegen […] wollen. Einvernommene Zeugen wollten freilich die fraglichen Ausführungen des Predigers nicht so gehört haben, wie in der ›Allgemeinen Zeitung‹ wiedergegeben. Schließlich unterblieb auf Weisung des Ministers die Einsendung der Stellungnahme an die Zeitung nach dem Verstreichen zweier Monate, da er keinen weiteren Anstoß für eine öffentliche Debatte geben wollte. 36 34 Allgemeine Zeitung Nr. 213 vom 1.8.1851: Bericht aus Hanau vom 26.7.1851. 35 Hierzu die interessanten Ausführungen bei G UNDULA G AHLEN , Friedens- und Kriegserfahrung im bayerischen Offizierskorps 1815-1866, in: A XEL D RÖBER (Hg.), Kriegs- und Gewalterfahrungen im 19. Jahrhundert in Deutschland und Frankreich (Portal Militärgeschichte, 27. Januar 2014, URL: http: / / portal-militaergeschichte.de/ gahlen_kriegserfahrung, aufgerufen am 23.7.2017). 36 BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, A XVII/ 17: K. b. Kriegsministerium an Redaktion Allgemeine Zeitung (Entwurf August 1851, z. A. 19.10.1851). <?page no="252"?> Kreuz und Helm. Militärs eels org e und Militärg eistliche in Arme en des 19. J ahrhund erts 253 Erfahrungen aus den Feldzügen von 1866 und 1870/ 71 wurden auf Aufforderung der kirchlichen Oberbehörden von Feldpredigern beider Konfessionen mitgeteilt und gaben Anlass, bisherige Strukturen zu überdenken. Bemerkenswert sind etwa die Mängelberichte und Vorschläge von Johann Ruck, Reiseprediger in der protestantischen Diaspora in Oberbayern, später Militärgeistlicher in Nürnberg, der an beiden Kriegen teilnahm. 37 Er beklagte neben den Gehaltsverhältnissen die unklare Stellung der Militärgeistlichen zu Friedenszeiten im Verhältnis zum Offiziers- und Militärbeamtenkorps oder zu den Soldatenfamilien. Im Kriege setze sich dies mit der Verkennung der Aufgaben der Geistlichen seitens der militärischen Vorgesetzten fort. Im Übrigen fehle es an Mobilität, an Pferden und Wagen, eine häufige Klage schon in älteren Berichten. Dass Feldgeistliche von Offizieren durch Befehle, auf ihren Posten bei den Stäben zu bleiben, daran gehindert worden seien, vor Ort in Lazaretten tätig zu sein, hatte bereits im Laufe des Herbstfeldzuges von 1870 für Beschwerden gesorgt. Allerdings hatte etwa die seit Juni 1866 geltende Dienstinstruktion für protestantische Feldgeistliche unter anderem einen ständigen Aufenthalt beim Stab des zugewiesenen Truppenteils vorgeschrieben, damit [ein Prediger] stets zu finden sei. 38 Dies traf sich mit Erlebnissen württembergischer Geistlicher rund um die Kämpfe des VIII. Bundeskorps gegen die preußische Main-Armee im Sommer 1866. Klagen über die Einschränkung der Betätigungsmöglichkeiten vor Ort durch das Hauptquartier der eigenen Felddivision gab es ebenso wie Beschwerden über das respektlose Verhalten von Sanitätsmannschaften. Überwiegend positiv gestalteten sich die Erfahrungen bei den Besuchen am Krankenlager der Verwundeten aus den verschiedenen Truppenkontingenten und Konfessionen. 39 Der katholische Pfarrer Johannes Evangelist Göser 40 aus Sontheim bei Heilbronn, nachmals Stadtpfarrer in Saulgau und Abgeordneter des württembergischen Zentrums im Reichstag, hatte diesen Feldzug mitgemacht. Seine Beobachtungen 41 flossen in den Entwurf einer Pastoral-Instruktion für katholische Feldgeistliche ein, die dem württembergischen Kriegsministerium im März 1868 zugeleitet wurden. Über die Verhältnisse in Preußen und Bayern wurden Erkundigungen auf dem Dienstweg eingeholt. Wie 37 LAELKB, OKM 2334, 2335: Berichte Ruck vom 23.7.1866 und 30.1.1872 an das Oberkonsistorium. 38 § 5 der Instruktion. Text in LAELKB, OKM 2335. 39 HStA Stuttgart, E 271 c/ 570: Ev. Konsistorium an k. w. Ministerium des Kultus und Schulwesens, 19.11.1866; Berichte des Feldpredigers Volz und des Feldvikars Hörle vom 21.8.1866 bzw. 20.9.1866. 40 Göser war bereits Feldgeistlicher bei der Mobilmachung von 1859 gewesen und nahm auch am Krieg von 1870/ 71 teil; H. J. B RANDT / P. H ÄGER (Hg.), Biographisches Lexikon (Anm. 5), S. 253. 41 Übersandt als Anlage zum Schreiben des Ordinariats Rottenburg an das k. w. Kriegsministerium vom 27.11.1866; HStA Stuttgart, E 271 c/ 570. <?page no="253"?> G E RHAR D H E TZER 254 Ruck sah Göser die Vorteile der klar definierten Stellung der preußischen Militärgeistlichen. Konkrete Anpassungen an dieses Modell mit entsprechenden Bestimmungen ergaben sich in der katholischen Militärseelsorge Württembergs aber erst 1904/ 05 bei der Neuorganisation der Militärpfarrei in der Festung Ulm. 42 Die mit den Erfahrungen von 1870/ 71 begründeten Reformvorschläge für Bayern, die vom Ordinariat München-Freising und vom protestantischen Oberkonsistorium über das Kultusministerium an das Kriegsministerium gelangten, wurden dort mit der Begründung zurückgewiesen, dass im Kriegsfall ohnehin eine völlige Gleichstellung mit Preußen in Aussicht genommen sei. Was die Friedensverhältnisse betreffe, so vertrage sich das preußische Modell nicht mit dem bayerischen System. Die Angelegenheiten der Armee im Frieden zu regeln, liege aber in bayerischer Landeshoheit. 43 Damit war eine Linie beschrieben, wie sie bis zum Ende der bayerischen Armee aufrechterhalten wurde. 4. Schriftenwerk Johannes Evangelist Göser hatte beklagt, dass einer bis in das 17. Jahrhundert zurückreichenden literarischen Fundierung der protestantischen Militärseelsorge auf katholischer Seite wenig gegenüberstehe. Die ehrwürdige Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche sollte in ihrer vom Beginn des 20. Jahrhunderts stammenden dritten Auflage bei der Militärseelsorge, dieser »Spezies der prophylaktischen Seelsorge«, weiterhin die Verteilung von Bibeln, Gesangbüchern und Traktaten besonders im Blick haben. 44 Die Warnungen vor Gefahren des Soldatenlebens, vor Maßlosigkeiten und Ausschweifungen, blieben ein Kontinuum in der Botschaft dieser Literatur. So hatte Mitte der 1830er Jahre Dr. Gottfried Angelikus Fischer, Stadtpfarrer von Mindelheim und ehedem Angehöriger des Augustiner-Ordens sowie Gymnasiallehrer, in der Neubearbeitung eines seit der Jahrhundertwende in zahlreichen Wiener Auflagen erschienenen ›Lese- und [Ge]bethbuches für junge Christen‹ speziell den jungen Kriegern auf den Weg gegeben: Soldaten wagen ihr Leben zur Erhaltung des Staates und der Religion. - Wirst du Soldat, so suche als Christ in deinem Stande zu leben. Man kann das, wenn man nur will. Du mußt aber in dieser Stunde umso vorsichtiger seyn, da es so viele böse 42 Der Entwurf der Instruktion wurde in der Theologischen Quartalsschrift 52 (1870), S. 474-495, veröffentlicht, stieß allerdings auf Kritik und blieb ohne konkrete Umsetzung. A. V OGT , Religion (Anm. 5), S. 166, 307-309. 43 LAELKB, OKM 2322: Kultusministerium an Oberkonsistorium, 23.11.1872. 44 A LBERT H AUCK (Hg.), Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 18, 3. Aufl. Leipzig 1906, S. 142. <?page no="254"?> Kreuz und Helm. Militärs eels org e und Militärg eistliche in Arme en des 19. J ahrhund erts 255 Beispiele gibt, so viel Gelegenheit zur Sünde. Waren denn die heiligen Moritz, Sebastian, Theodor, Viktor und mehrere andere nicht auch Soldaten? Sieh deinen Vorgesetzten als deinen Vater und deine Kammeraden als deine Brüder an. Fürchtest du, als Soldat, Gott, so wirst du weder das Getümmel der Schlacht noch den Tod fürchten. Hüte dich aber vor dem Müßiggange und bösen Kammeraden. Trage auch immer ein Andachtsbuch bei dir. 45 An diesen Andachtsbüchern herrschte allerdings über Jahrzehnte hinweg Mangel. Ein 1800 in München im Bücherverlag des kurfürstlichen Geistlichen Rates erschienenes ›Lese- und Gebethbuch für Soldaten‹ scheint schon aus Kostengründen geringe Verbreitung gefunden zu haben. Selbst ein mehrfach verwundeter und hoch dekorierter Veteran der napoleonischen Kriege versuchte sich an einem offenbar ungedruckt gebliebenen Gebetbuch für Soldaten, nicht zuletzt zur Aufbesserung seiner kärglichen Bezüge. In den 1830er Jahren erschienen dann einige seiner Kleinschriften über Beispiele vorbildlichen soldatischen Verhaltens. 46 In den Quartieren und Spitälern der Feldzüge von 1848/ 51 stellten Feldgeistliche fest, dass Gebets- und Gesangbücher fehlten, desgleichen erbauliche Schriften. So stellte ein katholischer Feldgeistlicher beim badischen Kontingent in Schleswig- Holstein nach seiner Rückkehr ein Gebetbuch zusammen. 47 Karl Putz hatte sich als Feldprediger der bayerischen Truppen mit einigen Exemplaren der Gebetbücher von Johann Habermann behelfen müssen, die auf das 18. Jahrhundert zurückgingen. Im Februar 1851 ordnete das Kriegsministerium die Einführung von Soldaten-Gebetbüchern an. Auf katholischer Seite unterstützte der Zentralausschuss des katholischen Büchervereins die Beschaffung. Für protestantische Soldaten erschien noch im gleichen Jahr in erster Auflage ein Gesang- und Gebetbuch, das für sechs Kreuzer pro Stück abgegeben werden konnte. Es handelte sich um das bei Christian Kaiser in München verlegte ›Gebetbuch für Soldaten evangelischen Glaubens‹ mit Liedern, Gebeten, dem Katechismus, Bibelsprüchen und Psalmen, das 1859 in zweiter und 1866 in dritter Auflage erschien und noch im Krieg von 1870/ 71 im Gebrauch war. 45 G OTTFRIED F ISCHER , Lese- und Gebethbuch für junge katholische Christen, 2., verb. Aufl., Augsburg 1835, S. 97f. Zu Fischer, der sich in Schriften u. a. für den Tierschutz einsetzte: G ERHARD H ETZER , Mensch und Tier im Schlachthaus. Über Zustände und Wandlungen im 19. Jahrhundert, in: R OLF K IESSLING / W OLFGANG S CHEFFKNECHT (Hg.), Umweltgeschichte in der Region (Forum Suevicum 9), Konstanz 2011, S. 353-378, hier 359f. 46 Zum Feldwebel Alois Schmid die Unterlagen in BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, UP 19584. Zum Gebetbuch den Vorgang von 1826 in StaatsA München, Regierungsakten 11392. 47 J[ OHANN ] H[ ERMANN ] T HOMMES , Im Kreuze der Sieg. Gebetbuch für katholische Soldaten in Deutschlands Heere, Rastatt 1851. <?page no="255"?> G E RHAR D H E TZER 256 Abb. 2a: Andenkenbild zur Verteilung an Soldaten, ca. 1917. Vorderseite mit einer Darstellung des Heiligen Georg nach einem Gemälde von Gebhard Fugel (geb. 1863 Oberklöcken bei Ravensburg, verst. 1939 München). <?page no="256"?> Kreuz und Helm. Militärs eels org e und Militärg eistliche in Arme en des 19. J ahrhund erts 257 Abb. 2b: Rückseite mit einem Auszug aus dem 1906 im Druck erschienenen Tagebuch des ehemaligen bayerischen Offiziers Dietrich von Laßberg aus dem Feldzug von 1870/ 71. <?page no="257"?> G E RHAR D H E TZER 258 5. Ein Blick nach Augsburg Augsburg war seit 1806 bayerische Garnisonsstadt mit Infanterie-, Kavallerie- und Artillerie-Einheiten, zeitweilig auch mit technischen Truppen, und beherbergte seit 1807 Kommandobehörden auf Divisions- und Brigade-Ebene. Für Militärgottesdienste und Kirchenparaden dienten zunächst die Kirche des ehemaligen Augustiner-Chorherrenstifts Heilig Kreuz, Ziel zahlreicher Wallfahrer, und die benachbarte protestantische Heilig-Kreuz-Kirche, zeitweilig nur Filial-Kirche von St. Anna - beide unweit der damaligen Infanterie-Kasernen gelegen. Die jeweils zuständige Pfarrgeistlichkeit besorgte auch die militärischen Begräbnisse und besuchte das Militärspital. Unter den Geistlichen, die im Juli 1870 im Rahmen der Mobilmachung in Bayern für die Stäbe von zwei Armeekorps und vier Divisionen sowie vier Hauptfeldspitäler aufgeboten wurden, befand sich Georg Koneberg (1837-1891). 48 Geboren in Bedernau bei Mindelheim, war er nach Kaplansjahren unter anderem in Babenhausen, Memmingen und Augsburg-St. Ulrich und Afra 1867 in das Benediktinerkloster bei St. Stephan in Augsburg eingetreten. Er hatte den Ordensnamen Hermannus Contractus - oder einfacher: Hermann - angenommen. In den Jahren 1870/ 71 gehörte er dem in Augsburg aufgestellten Hauptfeldspital II an, das schließlich in Nancy tätig wurde (Barackenlager). Nach dem Krieg war er Pfarrer in Ottobeuren, bevor er 1889 nach St. Stephan zurückberufen wurde, wo er als Novizenmeister und Infirmar tätig war. Neben seiner Mitarbeit in der katholischen Presse summierte sich die Zahl von Konebergs Veröffentlichungen im Bereich der Erbauungs-, Jugend- und Kinderliteratur schließlich auf rund 50 Titel, von denen etliche erst posthum erschienen. Bei den Bänden der von Kösel in Kempten verlegten Katholischen Jugendbibliothek gehörte er zu den produktivsten Verfassern. In etlichen seiner Schriften kehrten selbst gewonnene oder von anderen mitgeteilte Eindrücke aus den Kriegszeiten wieder. Für die Leser des Wochenblattes des Vereins katholischer Geistlicher der Diözese Augsburg, dem ›Wahrheitsfreund‹, gab er bald nach 1871 eine Darstellung der Kriegsereignisse, in der er an einigen Stellen die Aufgaben eines Feldgeistlichen reflektierte. Das Erscheinen des Büchleins fiel in die Zeit heftigen Kulturkampfes, der auch in Augsburg Wellen schlug. So war Anfang August 1873, am Vortag des Einzuges der Garnisonstruppen, die zunächst als Besatzung in Frankreich zurückgeblieben waren, die kirchliche Weihe einer neuen Fahne des Augsburger Veteranen- und Kriegervereins in den Heilig-Kreuz- 48 H. J. B RANDT / P. H ÄGER (Hg.), Biographisches Lexikon (Anm. 5), S. 422; Landkreis Unterallgäu (Hg.), Red. A EGIDIUS K OLB , Landkreis Unterallgäu, Bd. II, Mindelheim 1987, S. 838f. Mit Konzentration auf Konebergs pädagogisches Schrifttum: H ANS P ÖRNBACHER , Schwäbische Literaturgeschichte. Tausend Jahre Literatur aus Bayerisch Schwaben (Veröff. SFG, Sonderpublikation), Weißenhorn 2002, S. 242, 244f. <?page no="258"?> Kreuz und Helm. Militärs eels org e und Militärg eistliche in Arme en des 19. J ahrhund erts 259 Kirchen gescheitert. Der Bischof von Augsburg hatte kurz vor der Feier den zwischen den katholischen und protestantischen Dekanen vereinbarten Ablauf und damit die Reihenfolge bei Erteilung des kirchlichen Segens beanstandet. 49 Bei der Übergabe der Fahne vor dem Rathaus hatte der nationalliberal orientierte Erste Bürgermeister die versammelten Veteranen dann dazu aufgerufen, ihre Aufmerksamkeit jetzt den Reichsfeinden im Inneren zuzuwenden. Einen Monat zuvor hatte die auch aus der weiteren Umgebung von Augsburg stark besuchte Prozession anlässlich des neunhundertsten Todestages des Heiligen Ulrich trotz vielerlei Bemühungen ohne offizielle militärische Beteiligung stattgefunden. Das Kriegsministerium wollte hier keine Ausnahme, wie etwa bei der Fronleichnamsprozession, sehen. Es hatte der Kommandantur vor Ort lediglich anheim gestellt, Mannschaften zur üblichen Kirchenparade in den Hauptgottesdienst nach St. Ulrich und Afra abzuordnen, 50 wohin die unmittelbar benachbart kasernierten Chevaulegers ohnehin sonntags befohlen wurden. An den Schluss seiner Ausführungen über den wenige Jahre zurückliegenden Krieg setzte nun Koneberg einen maßvollen Akzent politischer Aktualität: Wohl bedauere er Vieles, was sich seit der Rückkehr der Truppen aus Frankreich zugetragen habe. Doch habe dies die Liebe zum engeren [Bayern] und weiteren [Deutschland] Vaterland nicht erschüttert. Endlich wird auch nach diesem Geisteskampfe der Friede kommen. Zu einem ehrlichen Frieden etwas beizutragen, soll auch unsere [der Kriegsteilnehmer] Aufgabe sein. 51 Hieran knüpfte auch der Nachruhm des einstigen Lazarettgeistlichen an. In den Kulturkampfjahren trat [Koneberg] mit seiner ganzen Manneskraft ein für Kirche und Vaterland; denn er war durchdrungen von der Überzeugung, daß durch den unseligen Kampf gegen die katholische Kirche der Kampf eröffnet sei gegen die Religion überhaupt und daß damit das kaum geeinigte deutsche Vaterland und dessen mit so viel Opfern von Blut und Leben erfochtene schöne Siege aufs höchste gefährdet seien. 52 Seine Beerdigung in Augsburg erfolgte mit militärischen Ehren und nach dem Abflauen der Spannungen zwischen katholischer Kirche und liberal regiertem Staat ohne Missklang. In der Trauerversammlung auf dem Herman-Friedhof befand sich mit Generalleutnant von Orff der Kommandeur der in Augsburg stationierten Division. Es spielte die Kapelle des 3. Infanterie-Regiments Prinz Karl, Kanonenschüsse wurden abgefeuert. 49 StaatsA Augsburg, Regierung 9608: Wochenberichte des Regierungspräsidenten von Schwaben und Neuburg vom 5.8.1873 und des Magistrats Augsburg vom 10.8.1873. 50 Vorgang in BayHStA, Abt IV Kriegsarchiv, A XVII/ 4/ 2. 51 H ERM [ ANN ] K ONEBERG , Der deutsch-französische Krieg in den Jahren 1870-71. Kurz geschildert, Augsburg [1875], S. 62. 52 [O. V.], Hermann Koneberg. Ein kurzes Bild seines Lebens und Wirkens. Seinen Freunden und zahlreichen Verehrern gewidmet, Augsburg [1892], S. 6. <?page no="259"?> G E RHAR D H E TZER 260 Aussagen über die Härten des Krieges hatten bei Hermann Koneberg nicht gefehlt, so etwa: So ein Schlachtfeld ist die traurige Kehrseite der Ehrenzeichen, die geprägt werden für all die Braven, die eine so schreckliche Zeit überleben! 53 Auch seine Darstellung der Ereignisse von 1870/ 71 hatte er mit einer Sicht auf den Krieg als die auf einen grundsätzlichen Kulturbruch eingeleitet und im Anschluss daran die Ursache dieses Krieges allerdings als das unvermeidliche Ergebnis französischer Herrschsucht und Eitelkeit erklärt. Abb. 3: Georg (Hermann) Koneberg als Pfarrer in Ottobeuren, ca. 1885; Abbildung vom Titelblatt der Gedenkschrift ›P. Hermann Koneberg O.S.B. Ein kurzes Bild seines Lebens und Wirkens‹, erschienen 1892 in Augsburg. 53 Das Wiedersehen im Felde. Eine Erzählung für die Jugend, Kempten 1876, S. 108. <?page no="260"?> Kreuz und Helm. Militärs eels org e und Militärg eistliche in Arme en des 19. J ahrhund erts 261 1896 nun, anlässlich der 25-jährigen Wiederkehr des Frankfurter Vertragsabschlusses mit Frankreich, predigte Joseph Schärfl, Militärpfarrer der 2. Division mit Standort Augsburg, vor den in der Kirche St. Ulrich und Afra versammelten Soldaten: Ihr Krieger aber, was ist an Euch, das zum Frieden dienen soll? Ihr wisset’s ja, es kann der Beste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt […]. Sehet, Ihr seid die feste Mauer, die den Frieden wahrt, das Vaterland schützt, jeder aus Euch ein Stein darinnen. 54 Joseph Schärfl (1853-1935) 55 stammte aus Schongau. Nach Kaplansjahren in Kempten und Augsburg-St. Moritz hatte er 1884 die neu errichtete Militärkuratie in Augsburg angetreten, angesiedelt bei der Pfarrei St. Ulrich und Afra, in deren Sprengel auch die neuen Kasernen im Süden der Stadt lagen. Annähernd 30 Friedensjahre lang sollte er für den Mobilmachungsfall als Feldgeistlicher der Division vorgesehen sein. 1893 war er zum k. b. Militärpfarrer berufen worden. Auch Schärfl war lange und durchaus erfolgreich schriftstellerisch tätig. Eine Reihe seiner Predigten und Ansprachen erschien im Druck und erreichte teilweise mehrere Auflagen, so ›Der Fahneneid‹ (1892), ›St. Ulrich, Augsburgs Kriegsheld im Bischofsgewande‹ (1893) oder der ›Weihe-Gruß den Königs-Chevaulegers‹ (1895). Entsprechende Verbreitung fanden die zum Teil illustrierten Schriften, die Beratung geben sollten oder als Andenken gedacht waren, darunter der mit über 170 Seiten relativ umfangreiche Ratgeber ›Parole? Esto vir! Sei ein Mann! Ausgegeben im Gotteshaus am Tage der Vereidigung‹, der 1897 bei Schärfls Stammverlag Kranzfelder in Augsburg erschien und mindestens viermal neu aufgelegt wurde, oder ›In die Kaserne‹ (1904; bis 1913 mindestens 18 Auflagen). Seit 1909 stellte Schärfl den Kalender ›Der neue Soldatenfreund‹ zusammen, der bis 1919 erschien und den seit 1886 bei Auer in Donauwörth verlegten ›Soldatenfreund. Kalender für katholische Soldaten‹ fortsetzte. Die nachhaltigste Wirkung dürfte freilich Schärfls ›Taschenbüchlein des Soldaten und des Veteranen‹ erzielt haben, das erstmals 1904 erschien, wie später der Soldatenkalender auch von Kranzfelder in Kommission vertrieben und vom bayerischen Kriegsministerium zur Anschaffung für Mannschaften empfohlen wurde. Es gliederte sich in die Abschnitte ›Lehren‹, ›Leben‹, ›Gebete‹ und ›Gesänge‹ und erreichte bis 1915 42 Auflagen. Im August 1914 ging er mit dem Stab der 2. Infanterie-Division an die Westfront, wo er eine Reihe von bayerischen, preußischen und sächsischen Auszeichnungen erhielt. Anlässlich seines 80. Geburtstages wurde darauf hingewiesen, er habe bei den Kämpfen vor Verdun, an 54 Zitiert aus: J OSEPH S CHÄRFL , Ein frisches Reis auf Eure Helme! Militär-Predigt zur 25. Jubelfeier des Friedensschlusses 1870/ 71, gehalten am 10. Mai 1896 in der katholischen Garnisonskirche St. Ulrich zu Augsburg, Augsburg 1896, S. 22. 55 H. J. B RANDT / P. H ÄGER (Hg.), Biographisches Lexikon (Anm. 5), S. 695. <?page no="261"?> G E RHAR D H E TZER 262 Somme und Aisne und bei Vesle auf den Verbandsplätzen oft im schwersten Artilleriefeuer ausgeharrt. 56 Abb. 4: Titelblatt des ›Taschenbüchleins des Soldaten und des Veteranen‹ von Joseph Schärfl, in 3. Auflage 1905 in Augsburg erschienen. Joseph Schärfl hatte somit eine Lebensgeschichte, die vom Königreich Bayern bis in das Dritte Reich reichte und in deren Verlauf er an zehntausende von Soldaten die Botschaft gerichtet hatte, dass ihr Tun und Handeln ein Gott gefälliges Werk sei. Seine berufliche Biographie spannte sich von den Zeiten, als in Bayern insgesamt rund ein Dutzend hauptamtlicher Militärgeistlicher ihres Amtes walteten, bis in die letzten Monate des Ersten Weltkrieges. 56 Neue Nationalzeitung, Augsburg Nr. 238 vom 14.10.1933. Ausschnitt in BayHStA, Abt. IV Kriegsarchiv, OP 71495. <?page no="262"?> Kreuz und Helm. Militärs eels org e und Militärg eistliche in Arme en des 19. J ahrhund erts 263 Abb. 5: Joseph Schärfl (rechts) als Feldgeistlicher der k. b. 2. Infanterie-Division, zusammen mit dem protestantischen Divisionsgeistlichen Julius Reissinger, vor dem Krieg Militärhilfsgeistlicher in Fürth, 1918. <?page no="263"?> G E RHAR D H E TZER 264 1918 unterstanden dem Erzbischof von München und Freising als Feldpropst der bayerischen Armee rund 570 Welt- und Ordensgeistliche bei den Front- und Etappenformationen sowie in den Lazaretten. 57 Im Bereich der protestantischen Landeskirchen in Bayern rechts und links des Rheins arbeiteten um diese Zeit rund 280 Geistliche in der Kriegsseelsorge. Im Vergleich dazu waren im Deutsch- Französischen Krieg von 1870/ 71 rund 30 katholische Priester aus bayerischen Diözesen und Ordensniederlassungen bei den Truppen, in den Lazaretten oder in Kriegsgefangenenlagern tätig gewesen. Die Mobilmachung von 1870 hatte aus dem Bereich der bayerischen protestantischen Landeskirchen zunächst zehn Geistliche einrücken lassen, so, wie es seit der Heeresreform von 1867 vorgesehen war. Bei den zähen Bemühungen von Militärgeistlichen in den folgenden Jahrzehnten, ihrerseits die Bestimmungen der Verordnung vom August 1863 zu reformieren, um den eigenen Stand klarer zu definieren, zu kräftigen und zu einheitlichen sowie möglichst exemten Militärkirchengemeinden zu kommen, hatte Schärfl übrigens zu den bremsenden Beteiligten gehört. Der Weltkrieg mit seinen Erfordernissen an Improvisation hatte dann neue Regelungen für spätere Friedenszeiten hintangestellt und schließlich obsolet werden lassen. Die Geschichte der Militärseelsorge gehört zu den spannendsten Kapiteln der Militärgeschichte, und zwar für alle Epochen. Ihr Handeln bildet eine Gelenkstelle zwischen Militär und ziviler Gesellschaft, zwischen Theologie und nicht-theologisch fundierten Wertesystemen, in ihrer legitimierenden Agenda ist sie erfrischend umstritten. Es ist eine Gedankenwelt zwischen Kanonen und Glocken, die zur Erforschung einlädt. 57 A. V OGT , Religion (Anm. 5), S. 457. <?page no="264"?> 265 P AUL H OSER Die Ernährungslage im Ersten Weltkrieg im Spiegel ausgewählter Zeitungen in Bayerisch-Schwaben I. Struktur und Probleme der Presse in Bayerisch-Schwaben im Ersten Weltkrieg 1. Charakterisierung der ausgewählten Zeitungen Wie in ganz Deutschland war auch in der Region Bayerisch-Schwaben die Presse weitgehend zersplittert. Die Auflage der 75 Zeitungen 1 lässt sich für 1914 auf gut 200.000 schätzen, das sind 12,5 % der Gesamtauflage der bayerischen Zeitungen, die etwa 1,6 Millionen betrug. 2 Zeitungen, die sich in der Auflagenhöhe mit den beiden großen Münchner Blättern (›Münchner Neueste Nachrichten‹ und ›Münchener Zeitung‹) hätten messen können, konnten weder die Provinzhauptstadt Augsburg noch die anderen Orte Schwabens aufweisen. 3 Natürlich musste hier unter den Zeitungen Schwabens eine Auswahl getroffen werden. Untersucht wurden für Augsburg die ›Neue Augsburger Zeitung‹, 4 die ›Augsburger Neuesten Nachrichten‹, 5 1 Gezählt nach Zeitung Katalog Annocen-Expedition Rudolf Mosse, 47. Aufl. München 1914, S. 5-11, (einschließlich Amts- und Anzeigenblättern). Das Handbuch deutscher Zeitungen 1917, Berlin 1917, S. 21-54, führt 55 an. Es ist aber lückenhaft. So sind etwa die beiden Zeitungen in Neuburg an der Donau nicht enthalten. 2 Schwaben zählte 1910 789.853 Einwohner, das entspricht 11,5 % der bayerischen Bevölkerung; Historisches Gemeindeverzeichnis. Die Einwohnerzahlen der Gemeinden Bayerns in der Zeit von 1840 bis 1952 (Heft 192 der Beiträge zur Statistik Bayerns), München 1953, S. 11 und 219. Zur Geschichte der bayerischen Presse im 20. Jahrhundert: P AUL H OSER , Presse (20. Jahrhundert), publiziert am 12.2.2007, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http: / / www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/ Presse (20. Jahrhundert) (aufgerufen am 21.5.2017). 3 Zur Augsburger Presse: G ERHARD H ETZER , Presse und Politik - 1890-1945. Beobachtungen des lokalen Kraftfeldes, in: H ELMUT G IER / J OHANNES J ANOTA (Hg.), Augsburger Druck- und Verlagswesen, Wiesbaden 1997, S. 1135-1158; M ANUELA R APP , Nationalsozialistische Publizistik zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich am Beispiel der Augsburger ›Neuen National-Zeitung‹ und ihrer Vorgängerorgane unter besonderer Berücksichtigung der Jahre bis 1939, Marburg 2004, S. 35-48. Die Auflage der Augsburger Zeitungen lässt sich für 1914 auf rund 72.000 schätzen, über ein Drittel der Gesamtauflage der Zeitungen in Bayerisch-Schwaben. 4 Zur ›Neuen Augsburger Zeitung‹: G ÜNTHER G RÜNSTEUDEL / B RIGITTE S CHÜRMANN , <?page no="265"?> P AUL H O S ER 266 die ›Schwäbische Volkszeitung‹ 6 und die ›München-Augsburger Abendzeitung‹. 7 Dazu kamen die beiden Zeitungen der größten Stadt des Allgäus, das ›Tag- und Anzeigeblatt für Kempten und das Allgäu‹ und die ›Allgäuer Zeitung‹ und als Ergänzung die Zeitung eines Allgäuer Orts mit Dorfcharakter, der ›Nesselwanger Anzeiger‹. 8 Die untersuchten Zeitungen hatten immerhin einen Anteil von rund 42 % an der Auflage der schwäbischen Presse. 9 Die ›Neue Augsburger Zeitung‹ war mit einer geschätzten Auflage von 45.000 die größte Zeitung Bayerisch-Schwabens überhaupt. Sie war ausgeprägt katholisch und stand der Zentrumspartei nahe. Der Verlag, das ›Literarische Institut von Haas & Grabherr in Augsburg GmbH‹, wurde von Paul Haas kontrolliert. 10 Neben der Neue Augsburger Zeitung, in: G ÜNTHER G RÜNSTEUDEL / G ÜNTER H ÄGELE / R UDOLF F RANKENBERGER (Hg.), Augsburger Stadtlexikon, 2. Aufl. Augsburg 1998, S. 682. 5 Zu den ›Augsburger Neuesten Nachrichten‹: I NGEBORG S ALZBRUNN / B RIGITTE S CHÜR - MANN , Art. Augsburger Neueste Nachrichten, in: Augsburger Stadtlexikon (Anm. 4), S. 255. 6 Zur Vorgeschichte der ›Schwäbischen Volkszeitung‹ (SVZ): SVZ vom 30.9.1916, Nr. 228 [zum 25-jährigen Bestehen]. 7 Zur ›München-Augsburger Abendzeitung‹: J OSEF M ANČAL , München-Augsburger Abendzeitung, publiziert am 30.1.2009, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http: / / www. historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/ München-Augsburger Abendzeitung (aufgerufen am 20.4.2017). 8 Leider ist der Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek für die Zeitungen Bayerisch- Schwabens sowie Bayerns überhaupt, wohl durch Kriegsverluste bedingt, sehr lückenhaft. Von 2003 bis 2007 lief dort ein Projekt, das alle in der Zeitschriftendatenbank der Berliner Staatsbibliothek noch nicht erfassten bayerischen Zeitungen aufnehmen, und an dessen Ende die Erstellung einer Gesamtbibliographie der bayerischen Zeitungen und ihrer Standorte bis 1945 und ein Digitalisierungs- und Verfilmungsprojekt stehen sollte. Herausgekommen ist aber nur eine Liste der in der Bayerischen Staatsbibliothek nicht vorhandenen Zeitungen ohne Angabe der Standorte; R ICHARD M AI / H ILDEGARD S CHÄFFLER , Bayerische Zeitungen und Amtsblätter von den Anfängen bis Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein Projekt der Bayerischen Staatsbibliothek mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in: ZBLG 67 (2004), S. 103-120; https: / / www.bayerische-landesbibliothek-online. de/ zeitungen-amtsblaetter (aufgerufen am 31.5.2017). 9 Die verwendeten Zeitungen im Folgenden in den Anmerkungen abgekürzt als NAZ, ANN, SVZ, MAA, TuA, AZ und NA. Zu den Auflagen der hier untersuchten Zeitungen: BayHStA IV, Stellvertretendes Generalkommando I. Armeekorps (Stv. Gkdo. I. AK) 1706: Stv. Gkdo. I. AK an Bezirksamt Kempten, 26.12.1914; an Bezirksamt Füssen, 27.12.1914; SVZ an Stv. Gkdo. I. AK, 24.12.1914; Haas & Grabherr (NAZ) an Stv. Gkdo. I. AK, 23.12.1914; Verlag Gebr. Reichel (ANN) an Stv. Gkdo. I. AK, 23.12.1914; Handbuch deutscher Zeitungen 1917 (Anm. 1), S. 23, 33 und 41. 10 Chefredakteur war Karl Schregle, geb. 26.7.1878 in Buch (Bezirksamt Illertissen); BayHStA IV, MKr 14006/ 2: Verlag der NAZ an MKr, 21.9.1918 [MKr = Bayerisches <?page no="266"?> D IE E RNÄHR U NGS LAGE IM E R S TEN W E L TKR IE G 267 für ein breites Publikum gemachten ›Neuen Augsburger Zeitung‹ erschien in dem Verlag auch noch die ›Augsburger Postzeitung‹ mit einer wesentlich geringeren Auflage von 9.000 Stück. Als ein Flaggschiff des politischen Katholizismus war sie aber von großem Gewicht, wurde überregional gelesen und hatte intellektuell ein höheres Niveau. 11 Den demokratisch orientierten Liberalen waren die ›Augsburger Neuesten Nachrichten‹ verbunden. Sie gehörten den Brüdern Dr. Otto und Dr. Wilhelm Reichel. 12 Ihre Auflage bewegte sich um die 10.000 Stück. Die älteste Augsburger Zeitung, die ›Augsburger Abendzeitung‹ war 1904 vom Münchner Bruckmann-Verlag erworben und 1912 als ›München-Augsburger Abendzeitung‹ nach München verlegt worden. 13 Sie besaß noch eine eigene Augsburger Redaktion, doch dürften von den 45.000 Stück der Gesamtauflage nur noch etwa 2.500 auf Augsburg entfallen sein. Sie verfolgte einen ausgeprägt nationalliberalen Trend. Als sogenanntes ›Beamtenevangelium‹ hatte sie eine große Bedeutung gehabt, doch wurde ihr eben diese durch die seit 1913 erscheinende ›Bayerische Staatszeitung‹ strittig gemacht. 14 Sie war der dem Zentrum nahestehenden Regierung des Grafen Hertling verpflichtet. Die sozialdemokratische ›Schwäbische Volkszeitung‹ war das einzige Blatt der Partei im bayerischen Schwaben. 15 Zu Anfang des Krieges lag die Auflage noch bei der bescheidenen Zahl von 5.200 und wuchs erst nach dem Krieg stark an. Kriegsministerium]. Zu Paul Haas: M ARITA K RAUSS (Hg.), Die bayerischen Kommerzienräte. Eine deutsche Wirtschaftselite von 1880-1928, München 2016, S. 472f. 11 Sie wurde hier nicht ausgewertet. Für den rein regionalen und lokalen Bezug ist sie wenig ergiebig. Ihre politische Haltung während des Ersten Weltkriegs wird behandelt in: P AUL H OSER : Die ›Augsburger Postzeitung‹ und der ›Bayerische Kurier‹ als leitende Zeitungen des politischen Katholizismus in Bayern und ihre Position während des Ersten Weltkriegs, in: ZBLG 80 (2017), S. 179-212. 12 Chefredakteur war Franz Huber. Zu seinem Werdegang: Franz Huber, Zum letzten Male! , in: ANN vom 22.9.1917, Nr. 221. Im Juli 1913 war er leitender Redakteur des Blattes geworden. Im September 1917 schied er aus und übernahm eine von ihm nicht näher präzisierte Tätigkeit in Sachsen. Hubers Nachfolger wurde der am 21.11.1860 in Osijek in Ungarn geborene deutsch-kroatische Schriftsteller Victor von Reisner; BayHStA IV, MKr 14006/ 2: Verlag der ANN an MKr, 21.9.1918. 13 Chefredakteur war von 1914 bis 1917 Cajetan Freund, danach Dr. Friedrich Möhl; P AUL H OSER , Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hintergründe der Münchner Tagespresse zwischen 1914 und 1934 (Europäische Hochschulschriften III/ 447), 2 Bde., Frankfurt am Main u. a. 1990, hier 2, S. 1096f. 14 Zur ›Bayerischen Staatzeitung‹: G ERHARD H ETZER , Stürmischer Beginn, in: K ARIN D ÜTSCH (Hg.), 100 Jahre Bayerische Staatszeitung 1912-2012, München 2012, S. 19-48. 15 Chefredakteur war der Vorsitzende der Augsburger SPD, Georg Simon. Handbuch deutscher Zeitungen 1917 (Anm. 1), S. 23, und SVZ-Impressum; zu Simon: H EINZ M ÜNZEN - RIEDER / G ERHARD H ETZER , Art. Georg Simon, in: Augsburger Stadtlexikon (Anm. 4), S. 821. <?page no="267"?> P AUL H O S ER 268 Kempten wurde von zwei Zeitungen bedient. Die ›Allgäuer Zeitung‹ hatte als Nebenausgaben die ›Lindauer Volkszeitung‹ und die ›Kaufbeurer Volkszeitung und Tagblatt‹ mit eigenen Lokalredaktionen und erreichte damit wichtige Orte des Allgäus. 16 Sie war dezidiert katholisch und der Zentrumspartei verbunden. Besitzer des Kösel-Verlags waren Hermann Huber, der auch die Leitung hatte, sowie seine Schwägerin Cornelie und seine Nichte Pia Huber. 17 Hermann Huber wurde am 22. Dezember 1914 überdies Mitglied des Kollegiums der Gemeindebevollmächtigten in Kempten. 18 In der Stadt hatte die Zeitung eine Auflage von 10.000 und lag in etwa gleich mit der liberalen Konkurrenz des ›Tag- und Anzeigeblatts‹. Dessen Besitzerin war Emma Oechelhäuser, Witwe des 1914 verstorbenen Ferdinand Oechelhäuser. 19 Der kleine ›Nesselwanger Anzeiger‹ mit 900-1.050 Stück Auflage war 1906 durch Jakob Gimber gegründet worden, der Verleger und Redakteur in einem war. 20 2. Die wirtschaftliche Lage der Presse im Krieg Der Krieg brachte der Presse zwar eine gesteigerte Bedeutung, hatte aber während seines anfangs nicht erwarteten längeren Andauerns Schwierigkeiten bei der Zeitungsproduktion zur Folge. Angesichts des Mangels an Rohmaterialien, von denen der Krieg sehr viel verschlang, wurde das Druckpapier knapp. Durch die Einberufung vieler Männer fehlten auch Arbeitskräfte. Die Löhne stiegen dementsprechend. Die Maschinen der Druckereien nutzten sich laufend ab, ohne dass dem durch Ersatzteile abgeholfen werden konnte. Auch die Einnahmen aus Anzeigen gingen mit der Einschränkung des freien Markts zurück. 21 Die Einnahmensteigerungen, die dem Informationshunger zu verdanken waren, konnten dies nicht ausgleichen. Aus Sparsamkeitsgründen verfügte die Reichsregierung den öffentlichen Aushang von Zeitungen, was das Ende der Extrablätter bedeutete. 22 Auch schrieb die Verordnung eine Reduzierung des Umfangs der Zeitungen vor. 23 Im Dezember 16 Dazu auch die Angaben des Kösel-Verlags vom 21.9.1918; BayHStA IV, MKr 14006/ 2. 17 400 Jahre Kösel-Verlag. 1593-1993, München 1993, S. 218, 220. Chefredakteur war Franz Josef Meier, geb. am 6.9.1874 in Ellwangen; BayHStA IV, MKr 14006/ 2: Verlag der AZ an MKr, 21.9.1918. 18 SVZ vom 19.1.1916, Nr. 15. 19 Chefredakteur waren nach dem Tod von Karl Pfisterer am 3. Juli 1914 F. A. Meyer, später W. Gedigk und dann 1915 Max Klemm; TuA vom 4.7.1914, Nr. 151; Handbuch deutscher Zeitungen 1917 (Anm. 4), S. 33. 20 J ÜRGEN W AGNER , Die moderne Gemeinde seit 1803, in: W ILHELM L IEBHART (Hg.), Nesselwang. Ein historischer Markt im Allgäu, Sigmaringen 1990, S. 113-166, hier 146. 21 P. H OSER , Münchner Tagespresse (Anm. 13), Bd. 2, S. 797-801. 22 Ausgenommen waren nur die Verkaufsstellen. 23 AZ vom 4.6.1917, Nr. 127. <?page no="268"?> D IE E RNÄHR U NGS LAGE IM E R S TEN W E L TKR IE G 269 1917 kündigten dann überdies alle schwäbischen Zeitungen an, ihre Bezugspreise zu erhöhen. 24 Im September 1918 wiederholte sich dies: Die mißliche Lage des Zeitungsgewerbes hat in letzter Zeit eine nicht unbedenkliche Verschärfung erfahren. Abgesehen von der fortgesetzten Verteuerung aller zur Herstellung der Zeitung erforderlichen Rohstoffe und Gebrauchsartikel, sowie der allgemeinen Betriebskosten ist durch Beschluß des Tarifausschusses der Deutschen Buchdrucker mit Wirkung vom 1. August ab eine ganz bedeutende Erhöhung der an die Gehilfenschaft zu zahlenden Teuerungszulagen eingetreten, der eine weitere ab 1. Dezember ds. Js. folgen wird. Diese neue Belastung und die dadurch bedingte Erhöhung der Löhne für die übrigen Arbeiter und der Gehälter für die Angestellten der Zeitungsbetriebe machen es dringend notwendig, daß die Einnahmen der Zeitungen mit den Kosten für ihre Herstellung wiederum, einigermaßen wenigstens, in Einklang gebracht werden. 25 Daher sollten die Preise ab 1. Oktober erneut geringfügig steigen. 3. Presse und Zensur in Bayern Die Pressezensur wurde relativ liberal gehandhabt, wobei aber ohnehin kaum rechtliche Voraussetzungen für ein scharfes Vorgehen gegeben waren. 26 Dem Pressereferat des Kriegsministeriums in München war die Überwachung der Münchner Presse vorbehalten, die über die übrigen Zeitungen übten die drei stellvertretenden Generalkommandos unter dessen Oberaufsicht aus, im südlichen Bayern also das wie das Ministerium in München angesiedelte stellvertretende Generalkommando beim I. Armeekorps. Eine wirklich einheitliche, widerspruchsfreie Überwachung gelang nie. Des Öfteren widersprachen sich Anweisungen von Kriegsministerium und stellvertretenden Generalkommandos, die sich nicht immer an die Verpflichtung hielten, vorher im Ministerium rückzufragen. 27 Auch verhielten sie sich selbst oft widersprüchlich. So beschwerten sich z. B. die ›Augsburger Neuesten Nachrichten‹, dass das stellvertretende Generalkommando beim I. Armeekorps in München ihrem Chefredakteur Franz Huber einen Besuch des Kriegsgefangenenlagers Lechfeld streng verboten hatte, während man einem Vertreter der ›München-Augsburger Abendzeitung‹ den Zutritt erlaubt hatte. 28 24 NAZ vom 22.12.1917, Nr. 296. 25 ANN vom 14.9.1918, Nr. 215; NAZ vom 14.9.1918, Nr. 213. 26 D ORIS F ISCHER , Die Münchner Zensurstelle während des Ersten Weltkrieges. Alfons Falkner von Sonnenburg als Pressereferent im bayerischen Kriegsministerium in den Jahren 1914 bis 1918/ 19, Diss. Phil., München 1973, S. 110. 27 P. H OSER , Münchner Tagespresse (Anm. 13), Bd. 2, S. 799, Anm. 32. 28 BayHStA IV, Stv. Gkdo. I. AK 1705: Huber an stv. Gkd. I. AK, 11.9.1914. Im März 1916 gestattete das Kriegsministerium Münchner und Augsburger Pressevertretern einen Besuch; s. dazu J UL . C. B RUNNER , Bei den Kriegsgefangenen auf Lager Lechfeld, in: SVZ vom 18.4.1916. <?page no="269"?> P AUL H O S ER 270 Nahezu jede der untersuchten Zeitungen fing sich hin und wieder eine Rüge ein, die aber in allen Fällen folgenlos blieb. 29 Dabei gingen die Beanstandungen nicht immer vom Militär, sondern gelegentlich auch von Bezirksämtern und Magistraten aus. Die ›München-Augsburger Abendzeitung‹ brachte am 15. November 1914 einen Beitrag mit der Überschrift Humanität ist Schwäche! 30 Da die feindlichen Mächte die deutschen Kriegsgefangenen so brutal als möglich behandeln wollten, müsse sofort etwas geschehen, eventuell auch eine Erschießung der Angehörigen zweier prominenter Politiker in England und Frankreich angedroht werden. Dies empörte einen Leser der Zeitung, der sich beim Pressereferat des bayerischen Kriegsministeriums beschwerte. Die grauenhafte Lage deutscher Gefangener würde sich noch verschlechtern, wenn solche Artikel im Ausland wahrgenommen würden. 31 Eine Woche später verwarnte das Pressereferat die Zeitung und drohte ihr mit einer möglichen Vorzensur. Diese im Vormärz übliche Praxis war für Zeitungen sehr schmerzlich, da die für sie maßgebende Aktualität nicht mehr gewährleistet war, wenn sämtliche Artikel vor dem Druck eigens geprüft werden mussten. 32 Trotzdem erregte das Blatt schon bald darauf wieder wegen eines Beitrags Anstoß. Diesmal war es allerdings die Verwaltung in Gestalt der Regierung von Schwaben und nicht das Pressereferat selbst, der ein Artikel nicht passte. Dem Blatt blieb aber weiter die Vorzensur erspart, die ja auch zusätzlich Arbeit gemacht hätte. Das Pressereferat entschuldigte sich beinahe für die Beanstandung: Es ist dem Kriegsministerium außerordentlich peinlich, eine von so unzweifelhaft vaterländischer Gesinnung geleitete Zeitung immer wieder auf grobe Versehen und Verstöße gegen die Zensurbestimmungen aufmerksam machen zu müssen. 33 Nur im Fall der ›Augsburger Postzeitung‹ griff das stellvertretende Generalkommando zum äußersten Mittel: einem dreitätigen Verbot, da das Blatt durch den Abdruck der Rezension eines Buchs über Luther den religiösen Frieden gefährdet 29 BayHStA IV, Stv. Gkdo. I. AK 1705: Stv. Gkdo. I. AK an AZ, 13.8.1914; BayHStA IV, Stv. Gkdo. I. AK 1706: Stv. Gkdo. I. AK an MAA, 22.12.1914; BayHStA IV, Stv. Gkdo. I. AK 1747: Stv. Gkdo. I. AK an SVZ, 11.4.1915; BayHStA IV, Stv. Gkdo. I. AK 1807: Stv. Gkdo. I. AK an ANN, 19.2.1916, 4.12.1916; an SVZ, 13.11.1915, 18.12.1917; BayHStA IV, Stv. Gkdo. I. AK 1811: Stv. Gkdo. I. AK an Bezirksamt Kempten, 16.10.1915 (betr. TuA), 8.3.1917; Bezirksamt Kempten an Stv. Gkdo. I. AK, 8.3.1917. 30 MAA vom 15.11.1914, Nr. 318. Gemäßigter waren die weniger rechts stehenden ANN, die der Ansicht waren: Wir haben keine Veranlassung, den Gefangenen mehr zu tun, als das, wozu wir völkerrechtlich verpflichtet sind, […]. Frauen, die sich nicht daran hielten, sollten gesellschaftlich geächtet werden; ANN vom 18.8.1914, Nr. 192. 31 P. H OSER , Münchner Tagespresse (Anm. 13), Bd. 1, S. 50. 32 Erst in der Zeit der Revolution wurde sie in Augsburg zeitweise vom Arbeiterrat über die NAZ verhängt; NAZ vom 9.11.1918, Nr. 261. 33 BayHStA IV, Stv. Gkdo. I. AK 1706: Pressereferat an MAA, 3.12.1914. <?page no="270"?> D IE E RNÄHR U NGS LAGE IM E R S TEN W E L TKR IE G 271 habe. Redaktion und Verlag entschuldigten sich damit, dass es sich um ein Versehen gehandelt habe. 34 Der Redakteur Richard Scholz 35 von der ›Neuen Augsburger Zeitung‹ bot dem stellvertretenden Generalkommando sogar an, von sich aus bei der Überwachung kleiner Provinzblätter mitzuhelfen und diesem in dessen Namen Hinweise zu geben. Doch lehnte man es dort grundsätzlich ab, Privatpersonen mit Aufgaben der Pressezensur zu beauftragen. 36 Er geriet dann schließlich selbst in Bedrängnis, weil der Magistrat der Stadt Kempten wegen eines unerwünschten Artikels seine Entlassung forderte und mit Sanktionen gegen die Zeitung drohte, falls er auf seinem Posten verbleiben würde. 37 Befürchtungen, das Reich werde unter dem Vorwand der Papiereinsparung Zeitungen zusammenlegen und so eine Einheitspresse mit einer Einheitsmeinung schaffen, 38 waren nicht mehr als ein bloßes Schreckgespenst. Das Pressereferat des Ministeriums in München nahm aber durchaus Einfluss und erreichte immerhin 1917 eine Auswechslung der Chefredakteure der ›München-Augsburger Abendzeitung‹ und der ›Münchener Zeitung‹, die einen der Politik der Reichsregierung zuwiderlaufenden extrem alldeutsch-annexionistischen Kurs steuerten. 39 Dagegen musste das stellvertretende Generalkommando beim I. Armeekorps hinnehmen, dass nach dem Weggang des leitenden Redakteurs der ›Augsburger Neuesten Nachrichten‹, Franz Huber, mit Victor von Reisner 40 ein Mann nachfolgte, der seiner Ansicht nach erheblich kritischer eingestellt war. 41 34 Ausführliche Darstellung in: P. H OSER , Augsburger Postzeitung (Anm. 11). 35 Richard Scholz, geb. am 19.12.1882 in Dittersbach (Schlesien), Lokalredakteur der NAZ; BayHStA IV, MKr 14006/ 2: Angabe des Verlags der NAZ vom 21.9.1918. 36 BayHStA IV, Stv. Gkdo. I. AK 1747: Scholz an Stv. Gkdo. I. AK, 9.2.1917. 37 BayHStA IV, Stv. Gkdo. I. AK 1807: Scholz an Ludwig III., 20.10.1917. 38 MAA vom 29.8.1917, Nr. 460. 39 P. H OSER , Münchner Tagespresse (Anm. 13), Bd. 1, S. 50-60; zu den Presselenkungsmaßnahmen ebd., S. 195-204. 40 Zu Victor von Reisner: http: / / viaf.org/ viaf/ 8139403/ (aufgerufen am 25.4.2017). 41 BayHStA IV, Stv. Gkdo. I. AK 1807: Vermerk von der Tanns vom 10.5.1918. <?page no="271"?> P AUL H O S ER 272 II. Die bayerisch-schwäbische Presse und die Ernährungslage in Bayern während des Kriegs 42 1. Mängel in der Organisation der Lebensmittelverteilung als Ursache der schlechten Ernährungslage Bei der Durchsicht der Presse Schwabens in der Zeit des Ersten Weltkriegs stößt man durchaus auf Überraschendes. So tauchten damals schon Begriffe auf, die dann alle in der Zeit des Nationalsozialismus akut wurden: Das Schlagwort von der Lügenpresse, 43 die Einrichtung der Schutzhaft für Verdächtige 44 und der Glaube an den Endsieg. 45 Dies wäre durchaus eine eigene Untersuchung wert. Diese Studie konzentriert sich auf eines der wichtigsten Probleme im Inneren, das der Krieg mit sich brachte und das spürbare Auswirkungen für die Lage der Bevölkerung hatte, nämlich deren Ernährung und Versorgung mit lebenswichtigen Gütern. 46 Der Augsburger Oberbürgermeister Georg von Wolfram 47 versicherte am 31. Juli 1914 vor dem Magistrat, dass keinerlei Anlass zur Unruhe wegen der Lebensmittelversorgung bestehe. Die Vertreter der Industrie hätten ausgiebige Vorsorge getroffen, um ihren Arbeitern zu entsprechenden Preisen Lebensmittel geben zu können. Großbäckereien hätten zugesagt, nicht nur für die eigenen Arbeiter, sondern auch für andere Brot abzugeben. Man müsse an den Patriotismus des Einzelnen appellieren, keine wucherische Ausbeutung zu betreiben, um sich Vorteile zu verschaffen. Die vorübergehenden Vorteile, die sich jemand auf diesem Weg verschaffe, würden ohnehin bald wieder dahin sein, weil sich die Bevölkerung dies merken und in künftigen Friedenszeiten nicht mehr bei ihm kaufen würde. Man 42 Zum Problem der Ernährung im Ersten Weltkrieg allgemein: G USTAVO C ORNI , Ernährung, in: G ERHARD H IRSCHFELD / G ERD K RUMEICH / I RINA R ENZ (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn u. a. 2003, S. 461-465; B ELINDA D AVIS , Food and Nutrition (Germany), in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, ed. by U TE D ANIEL u. a., issued by Freie Universität Berlin, Berlin 2014-10-08. DOI: 10.15463/ ie1418.10034. 43 TuA vom 17.1.1916, Nr. 12. 44 SVZ vom 12.10.1916, Nr. 238; ANN vom 30.10.1916, Nr. 253. 45 NA vom 30.3.1918, Nr. 38. 46 Zum Zusammenhang von Versorgung und Stimmung der Bevölkerung: K ARL -L UDWIG A Y , Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern während des Ersten Weltkrieges (Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter 1), Berlin 1968, S. 69-73, 94-97, 101, 109-122, 125-127, 130, 159-177; B ENJAMIN Z IEMANN , Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923 (Veröff. des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung, Schriftenreihe A 8), Essen 1997, S. 308-328, 340-346. 47 Zu Georg von Wolfram: G ERHARD H ETZER , Art. Georg Ritter von Wolfram, in: Augsburger Stadtlexikon (Anm. 4), S. 938. <?page no="272"?> D IE E RNÄHR U NGS LAGE IM E R S TEN W E L TKR IE G 273 müsse allerdings die Vorgänge genau im Auge behalten. Würden unhaltbare Zustände eintreten, müsse der Magistrat die Lebensmittelversorgung der Stadt selbst in die Hand nehmen. Er könne dann wucherische Geschäftsleute ausschalten. Man habe auch schon in Friedenszeiten mit der Kriegsverwaltung Vereinbarungen getroffen, dass auch beim Ausbruch eines Kriegs die Lebensmittelzufuhr gesichert sei. Diese Erklärung wurde von der ›Neuen Augsburger Zeitung‹ in einer Extranummer veröffentlicht. 48 Bald zeigte sich aber angesichts des laufenden Steigens der Preise, dass nicht alles so einfach war, wie es der Augsburger Oberbürgermeister hinstellte. Die ›Schwäbische Volkszeitung‹ verfocht konsequent den Standpunkt der SPD und die Interessen der Konsumenten. Sie hielt eine staatliche Regelung unbedingt für erforderlich und verlangte, dass Höchstpreise festgesetzt werden müssten: Schnelles Handeln ist nötig, denn je länger der entsprechende Beschluß hinausgeschoben wird, desto größer werden die Schwierigkeiten. Da die Preise fortgesetzt steigen, so bedeutet spätere Festsetzung entweder höhere Festsetzung oder aber eine bedeutende Schädigung von Privatinteressen, zu der man sich nicht so leicht entschließen wird. Wenn einem Händler zugemutet wird, Getreide billiger zu verkaufen, als er es gekauft hat, wenn der Müller Mehl zu Preisen hergeben soll, die hinter dem Getreidepreis plus den eigenen Geschäftskosten zurückbleiben, so ist das eine kleine oder unter Umständen auch eine große Expropriation. 49 Selbstverständlich darf man vor einer solchen Schädigung von Privatinteressen nicht zurückschrecken, wo es sich um eine Existenzfrage des ganzen Volkes handelt. Aber je größer dieser Kreis von Privatinteressenten wird und je größer der Schaden wird, der ihm aus einer angemessenen, für die Allgemeinheit erträglichen Preisfestsetzung erwachsen würde, desto stärker wird die Neigung sein, die Höchstpreise hinaufzuschrauben […] Die verbrauchenden Massen werden sich damit abfinden müssen, daß sie für ihr tägliches Brot verhältnismäßig hohe Preise zu zahlen haben werden. Sie dürfen aber Beruhigung darüber verlangen, daß man sie nicht zu Opfern einer fortgesetzten Preistreiberei machen wird. […] Die kleinen Landwirte, Müller und Bäcker, die aus ihrer Tätigkeit ein reines Arbeitseinkommen beziehen, werden durch diese Maßregel nicht getroffen. Die Großen aber werden kein Interesse daran haben, Brotwucher zu treiben, wenn sie den dadurch erzielten Vermögenszuwachs wieder herauszahlen müssen. 50 Die bürgerlich-demokratischen ›Augsburger Neuesten Nachrichten‹ gingen in der Forderung nach staatlicher Regelung sogar noch einen Schritt weiter. Sie wiesen darauf hin, dass einer der ersten Führer der bäuerlichen Bewegung, Dr. Georg 48 Extraausgabe der NAZ vom 2.8.1914. Zur Lage Augsburg im Ersten Weltkrieg: G ER - HARD H ETZER , Von der Reichsgründung bis zum Ende der Weimarer Republik 1871- 1933, in: Geschichte der Stadt Augsburg. 2000 Jahre von der Römerzeit bis zur Gegenwart, hg. von G UNTHER G OTTLIEB u. a., Stuttgart 1984, S. 568-592, hier 576-580; zu den Ernährungsverhältnissen speziell 578f. 49 Im Original: Exprogination. 50 SVZ vom 8.10.1914, Nr. 234. <?page no="273"?> P AUL H O S ER 274 Heim, 51 klar gesagt habe, mit den Höchstpreisvorschriften sei gar nichts getan, wenn nicht auch die Vorräte geregelt würden: Wir können es verstehen, warum manche meinten, und das war nicht die Regierung, man dürfe die Lebensmittel nicht verstaatlichen. Sie hatten Angst vor diesem Sozialismus, der den Staat zum Herrn von allem macht, was nötig ist. Ab sie übersehen dabei, daß dieser Sozialismus in diesen Tagen das einzig richtige, das durch die Verhältnisse Bedungene ist. […] Fürchten wir uns nicht vor diesem Sozialismus […] Er ist ein nationaler Sozialismus, endlich das was wir schon lange erstrebten. […] So werden wir durchhalten, werden wir nicht nur das Wort reden vom Durchhalten, werden wir auch alle tatkräftig unser Wort beweisen. 52 Am 12. Mai 1916 erschien in dem Blatt sogar ein noch weitergehender Artikel des damaligen Ersten Beigeordneten der Stadt Köln, Konrad Adenauer. 53 Er plädierte dafür, dass der Staat nicht nur die Verteilung regeln, sondern auch ein Programm für die landwirtschaftliche Produktion aufstellen solle. 54 Dies lief auf eine umfassende Planwirtschaft hinaus. Schon Anfang 1915 hatte die ›Schwäbische Volkszeitung‹ prophezeit, der Krieg werde die Entwicklung im Sinne des Sozialismus vorantreiben: Der Weltkrieg schafft […] auf diese Weise eine ganz merkwürdige, vorher kaum geahnte Uebereinstimmung zwischen nationalem und wirtschaftlichem Interesse. Um sich im Daseinskampf des Weltkriegs behaupten zu können, braucht die Nation nicht bloß die Hilfe der sozialdemokratischen Partei, sondern auch die der sozialistischen Ideen. 55 Der Münchner Journalist Fritz Endres 56 sah 1916 die Entwicklung in der ›München-Augsburger Abendzeitung‹ ganz ähnlich: […] die Kontingentierung fast aller Gebrauchsgegenstände hat unser Alltagsleben von Grund auf verändert und läßt uns stündlich spüren, daß unser Dasein anderen Gesetzen folgt als denen, die wir ihm einst selbst zu geben glaubten. Es ist vereinfacht und vereinheitlicht. Der Staatsozialismus, der sich schon in Bismarcks sozialer Gesetzgebung angekündigt und den die Sozialdemokratie von Anfang an energisch verfochten hat, hat uns alle erfaßt. […] die Interessen der Gesamtheit haben Eigentum und Freiheit des Einzelnen fast beseitigt; der Staat, der beide schafft, verteidigt und verbürgt, hat sich entschließen müssen, beide aufzuheben, so oft es seine höheren Zwecke erforderten. […] Fast 51 Zu Heims Vorstellungen: F RIEDRICH M ÜNCH , Die agitatorische Tätigkeit des Bauernführers Heim. Zur Volksernährungsfrage aus der Sicht des Pressereferates des bayerischen Kriegsministeriums währen des Ersten Weltkrieges, in: K ARL B OSL (Hg.), Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen, München-Wien 1969, S. 301-344. 52 ANN vom 28.1.1915, Nr. 21. 53 Adenauer war in dieser Funktion u. a. für das Lebensmittelamt der Stadt Köln zuständig; H ANS -P ETER S CHWARZ , Adenauer, Bd. 1, Stuttgart 1986, S. 152f. 54 ANN vom 12.5.1916, Nr. 111. 55 SVZ vom 28.1.1915, Nr. 23. 56 Zu Dr. Fritz Endres: Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1925, 42. Jg, Berlin-Leipzig 1925, S. 179. Er schrieb laufend Kommentare in der MAA. <?page no="274"?> D IE E RNÄHR U NGS LAGE IM E R S TEN W E L TKR IE G 275 ohne es zu wissen und ohne es bewußt zu wollen, sind wir wirtschaftlich in eine neue Zeit hineingeraten. 57 Die Einführung des Reichsgetreidemonopols am 25. Januar 1915 war für die ›Schwäbische Volkszeitung‹ die Verwirklichung einer Forderung, die die SPD und die freien Gewerkschaften seit Kriegsbeginn erhoben hatten. Es hob den freien Handel mit Mehl auf und übertrug seine Verteilung an die Bäcker den Gemeinden und Kommunalverbänden: Damit ist ein tiefer Eingriff in das bestehende System der Privatwirtschaft vorgenommen worden, es ist aber auch damit die Sicherheit geschaffen worden, daß der vorhandene Brotvorrat nach wirklich rationellen Gesichtspunkten zur Verteilung kommen wird. Der entscheidende Schritt zur Sicherung Deutschlands gegen die englische Aushungerungspolitik ist getan. 58 Auch die ›Allgäuer Zeitung‹ in Kempten war mit der Rationierung zufrieden. 59 Sie meldete im Februar 1915, dass der Magistrat ein halbes Pfund Mehl als täglichen Durchschnittsverbrauch für eine Person bestimmt habe: Diese Menge dürfte im allgemeinen hinreichen, um den normalen Bedarf ohne empfindliche Einschränkungen zu decken, zumal die sonst so beliebten Kraut- und Kässpatza seit der Einführung des Kriegsmehls so wie so in Güte und daher auch im Massenkonsum stark gelitten haben dürften. […] Da die Behörde an sich Garantie gewährt, daß auch die Preise in soliden Bahnen laufen dürften wir noch ziemlich weit von jenem Zeitpunkt entfernt sein, den die lieben Vettern überm Kanal so sehnsüchtig erstrebten. 60 Auf Grund der Brotrationierung konnte man dieses Grundnahrungsmittel nur mehr mit einer Brotkarte erhalten. Die ›Neue Augsburger Zeitung‹ pries die Ausgabe der Brotkarten geradezu: In der Brotkartenabgabe liegt durchwegs ein starkes Erziehungsmittel. Es heißt behutsam und umsichtig sein. 61 Allerdings waren von Anfang an administrative Mängel erkennbar: Man kann nur dringend wünschen, daß die organisatorischen Mängel bei der Abgabe der Brot- und Mehlkarten baldigst verschwinden. 62 Über das Auftreten solcher Mängel in Augsburg berichtete ohne Beschönigungen auch die ›Schwäbische Volkszeitung‹: Fast scheint es, als ob man durch verkehrte und unvollständige Maßnahmen die Erregung unter der Bevölkerung noch vermehren wollte, die nun einmal vorhanden ist. Die Verteilung der Brotkarten will nicht recht klappen. So wird uns aus Lechhausen berichtet, daß heute morgen um 8 Uhr schon hun- 57 MAA vom 5.11.1916, Nr. 609; vgl. die ANN vom 20.6.1918, Nr. 141, wonach nach dem Ende des Krieges unbedingt wieder ein freies Wirtschaftssystem die Zwangswirtschaft ersetzen müsse. 58 SVZ vom 28.1.1915, Nr. 23. 59 Zu Kempten im Ersten Weltkrieg: K ARL F ILSER , Industrialisierung und Urbanisierung. Kempten 1850 bis 1918, in: Geschichte der Stadt Kempten, hg. von V OLKER D OTTERWEICH u. a., Kempten 1989, S. 372-406, hier 402-404; zur Ernährungssituation insbesondere 404. 60 AZ vom 23.2.1915, Nr. 44. 61 NAZ vom 13.3.1915, Nr. 60. 62 NAZ vom 13.3.1915, Nr. 60. <?page no="275"?> P AUL H O S ER 276 derte von Frauen vor dem Polizeigebäude erschienen sind, um sich Brotkarten zu holen - erst gegen ½ 9 Uhr und erst dann konnte man mit der Ausstellung der Karten beginnen. Auch scheint die Zahl der Ausgabestellen viel zu klein, die Ausgabezeit zu kurz. 63 Die Kritik an der schlechten Organisation sowie der unzulänglichen Gesetzgebung und die polemische Anprangerung der Spekulanten, die die Knappheit ausnutzten, um daraus Profit zu ziehen, waren von nun an die beiden Grundzüge der Auseinandersetzung der schwäbischen Zeitungen mit dem Problem der unzureichenden Lebensmittelversorgung. So stellte die ›Schwäbische Volkszeitung‹ im Oktober 1915 fest, die Verordnung des Bundesrats zur Einführung fleischloser Tage sei ein Schlag ins Wasser. Das Verbot der Fleischabgabe an zwei Tagen in der Woche treffe Metzger und Gastwirte, der private Haushalt bleibe dagegen ohne Kontrolle: […] und wer die nötigen Moneten besitzt braucht sich durchaus nicht um die bundesrätliche Verordnung zu kümmern. […] Das Fleisch ist für breite Schichten der Bevölkerung schon längst eine Seltenheit geworden und hunderttausende von Familien sind schon seit Monaten gezwungen, die fleischlose Kost nicht bloß auf zwei Tage, sondern auf die ganze Woche auszudehnen; nicht weil sie etwa Gefallen am Vegetarismus gefunden haben, sondern weil sie nicht mehr in der Lage sind, Fleisch kaufen zu können. […] Wenn die Einführung der fleischlosen Tage wirklich einen Sinn haben soll, dann nur wenn der Verbrauch von Fleisch ebenso kontingentiert wird, wie dies bei Mehl und Brot mit gutem Erfolg zur Durchführung gelangt ist. 64 Auch die ›Augsburger Neuesten Nachrichten‹ kritisierten die Wirkungslosigkeit dieser Verordnung: Wer im vorigen Jahre glaubte, daß der Kuchen aus den deutschen Häusern verschwinden würde, wer erwartet hat, daß mit den fleischlosen Tagen der Fleischverbrauch wesentlich abnehmen werde, der scheint sich geirrt zu haben. 65 Die Zeitung wusste als Hilfsmittel nur den Appell an das Gebot freiwilliger Sparsamkeit anzubieten. Die ›Augsburger Neuesten Nachrichten‹ druckten im Januar 1916 einen Bericht, in dem zwar Mängel eingeräumt, diese aber nicht als grundsätzliches Problem gesehen wurden: Ein Besuch des Augsburger Wochenmarktes vermittelte mir klare Einblicke in die Sorgen und Nöte der heutigen Volksernährung. […] Die außerordentlich hohen Preise - das Bestehen solcher vor der Welt abzuleugnen, wäre lächerlich - bringen einen gedämpften, schleppenden Gang in den Marktverlauf. Hunderte von einkaufenden Frauen verraten schon durch ihr zaghaftes Benehmen an den Ständen, daß es ihnen schwer fällt, den unbedingt notwendigen Bedarf mit ihrer finanziellen Situation in Einklang zu bringen, und wie manche geht, mit tiefen Kummerfalten auf der Stirne, nur halbverrichteter Dinge wieder von dannen, noch unschlüssig, was und wieviel sie in einigen Stunden auf den Tisch bringen soll. 66 Doch auch wenn Fehler vorkämen, sei die Lage akzeptabel: Es ist uns zur Gewißheit geworden: unsere 63 SVZ vom 12.3.1915, Nr. 60. 64 SVZ vom 27.10.1915, Nr. 251. 65 ANN vom 11.1.1916, Nr. 8. 66 ANN vom 31.1.1916, Nr. 25. <?page no="276"?> D IE E RNÄHR U NGS LAGE IM E R S TEN W E L TKR IE G 277 Vorräte, unsere Produktion sind ausreichend, d. h., es braucht niemand im deutschen Vaterlande zu hungern, wenn die Verteilung der Produktion klug, zielsicher und energisch genug gehandhabt wird. Letzteres ist nun Sache unserer Behörden, zu denen wir das volle Vertrauen haben dürfen. 67 Ein Jahr später sahen die ›Augsburger Neuesten Nachrichten‹ sogar die Schuld teilweise auch bei den ärmeren Konsumenten. Die protestierenden ärmeren Leute sollten sich ihrerseits mit Kritik zurückhalten: Den Minderbemittelten darf es zur Pflicht gemacht werden, die Verordnungen der Behörden einigermaßen genau durchzulesen, bevor sie kritisieren möchten; wenn sie dann etwas bemerken, das ihnen falsch erscheint, so ist es richtiger, anstatt sich nutzlos aufzuregen, an passender Stelle darauf hinzuweisen. 68 Einen speziellen Angriff auf die Politik des Augsburger Magistrats hielt die ›Schwäbische Volkszeitung‹ im September 1917 für geboten. Dieser hatte die Einfuhr von Brot aus Landshut nach Augsburg verboten. Das sei ein echter, rechter Schwabenstreich zu dem zahlreiche Zuschriften eingegangen seien: In allen Fällen wird behauptet, daß das Landshuter Brot gegenüber dem Augsburger Durchschnittsbrot besser bekömmlicher und ausgiebiger und deshalb billiger ist und das Verbot der Einfuhr desselben somit eine Benachteiligung der Konsumenten darstellt. 69 Der Augsburger Magistrat treibe […] Mittelstandspolitik, wie sie engherziger und kurzsichtiger nicht betrieben werden kann, […] wenn die Herren glauben, mit solchen Mittelchen dem Mittelstand unter die Arme greifen zu können, so irren sie sich ganz gewaltig und selbst in den Kreisen der Bäckermeister, zu deren Nutz und Frommen der Antrag doch durchgedrückt wurde, hat man für diese Aktion nur ein mitleidiges Lächeln. 70 Der erwähnte Antrag war mit der bürgerlichen Mehrheit von Zentrum und Liberalen angenommen worden. Die ›Neue Augsburger Zeitung‹ stand dagegen in Fragen der Lebensmittelversorgung grundsätzlich hinter dem Augsburger Magistrat: Es soll und muß zugegeben sein, daß unsere Lebensmittelversorgung krankt von allem Anfang an und daß ihr so viel Eiterbeulen anhaften, daß jeder, der eine solche aufsucht, das heißt für die Beseitigung dieses oder jenes Mißstandes sorgt, sich unschätzbare Verdienste erwirbt. […] Man ist nur zu leicht geneigt, dem Magistrate, nur weil er als Unterbehörde in ständiger Fühlung mit der Einwohnerschaft bleibt und die eigentlichen Verordner sich weit vom Schuß halten, für alles verantwortlich zu machen. Nun kommt er aber im großen und ganzen nicht für die Lebensmittelbeschaffung als solche, sondern nur als Verteiler überwiesener Lebensmittel in Betracht. Es ist ihm unmöglich gemacht, für die Bevölkerung so zu sorgen, wie er für sie sorgen würde, wenn die Rationierung nicht sein würde. […] Bei einem sehr wichtigen Lebensmittel, der Kartoffel, die der öffentlichen Bewirtschaftung unterliegt, darf der Magistrat nicht einmal kaufen, wenn er auch wollte. Und dennoch sind es die 67 ANN vom 31.1.1916, Nr. 25. 68 ANN vom 11.12.1916, Nr. 288. 69 SVZ vom 20.9.1917, Nr. 219. 70 SVZ vom 20.9.1917, Nr. 219. <?page no="277"?> P AUL H O S ER 278 Gemeinden, die für ihre Steuerzahler durch dick und dünn gehen, die sich täglich mit den Abteilungen der Landesverteilungsstelle und den Produzenten herumschinden […]. 71 Im Juli 1915 griff die ›Schwäbische Volkszeitung‹ auch den Kemptener Magistrat an, weil er dem Konsumverein die Zuteilung von Mehl für dessen Verkaufsstelle verweigert hatte. 72 Es habe sich um eine einseitige Entscheidung zugunsten der Müller, Bäcker und Mehlhändler gehandelt. Den Vorwurf an den Kemptener Magistrat, Maßnahmen zum Vorteil bestimmter Gruppen zu treffen, wiederholte ein sozialdemokratisches Mitglied des dortigen Kollegiums der Gemeindebevollmächtigten in dessen Sitzung vom 12. Oktober 1915. 73 Der stellvertretende Vorsitzende des Kollegiums hatte die Sitzung geschlossen, bevor die Sozialdemokraten eine Interpellation einbringen konnten, in der sie kritisierten, dass der Magistrat zwei seiner Mitglieder eine Vermittlungsgebühr für die Lieferung von Eierteigwaren und Hülsenfrüchten an die Kleinhändler bewilligt habe, obwohl ein wesentlich günstigeres Angebot eines Großhändlers vorgelegen habe. 74 Das ›Tag- und Anzeigeblatt‹ druckte diesen Vorwurf nach, worauf sich der Magistrat zu einer Erwiderung genötigt sah. Sie wirkte recht lahm. Demnach waren keine Hülsenfrüchte bezogen worden und auch keine Eierteigwaren, sondern nur andere Teigwaren und Gries. Die Abgabe an jeden einzelnen Abnehmer sei nicht durchführbar gewesen, weshalb man den Groß- und den Kleinhandel als Verteiler eingeschaltet habe. Nur eine der herangezogenen Handelsfirmen sei im Besitz eines Magistratsmitglieds gewesen, der andere habe gar kein Geschäft mehr. Der am Geschäft Beteiligte hatte nach Angaben des Bürgermeisters Adolf Horchler nicht in eigener Sache mit abgestimmt: Es ist ein geradezu gemeingefährliches Beginnen, solchen Herren ihre Aufopferung durch gehässige, böswillige Anfeindungen zu verleiden. 75 Das ›Tag- und Anzeigeblatt‹ schlug sich jetzt auf die Seite des Magistrats und der bürgerlichen Mehrheit im Gemeindekollegium und warf der ›Schwäbischen Volkszeitung‹ vor, parteiisch zu berichten. Diese reagierte prompt und teilte auch noch einen Seitenhieb gegen die ›Allgäuer Zeitung‹ aus: Wenn wir eben unseren prinzipiellen Standpunkt darlegen, so können wir weder für liberale, noch für ultramontane Blätter passend schreiben, sowenig wir auch den Ton unserer Kritik so abtönen können, daß sie jedem bürgerlichen Herrn gefällt. Die Allgäuer Zeitung hat sich bis heute ausgeschwiegen; wahrscheinlich um den guten Eindruck, den sie bis jetzt beim hiesigen Magistrat für Knebelung der freien Meinungsäußerung gemacht hat, nicht zu verderben. 76 Die Rechtfertigung des Kemptener Magist- 71 NAZ vom 4.4.1917, Nr. 80. 72 SVZ vom 28.7.1915, Nr. 173. 73 SVZ vom 18.10.1915, Nr. 243. 74 SVZ vom 18.10.1915, Nr. 243. 75 AZ vom 23.10.1915, Nr. 246. 76 SVZ vom 25.10.1915, Nr. 249. Am 2.11.1915 brachte auch die ›Allgäuer Zeitung‹ die ganze Debatte im Kollegium über den Vorgang. <?page no="278"?> D IE E RNÄHR U NGS LAGE IM E R S TEN W E L TKR IE G 279 rats lasse erkennen, dass er sich ganz und gar auf die Seite der Besitzenden gestellt habe: Wer sich seine Dienste bezahlen läßt und zwar so, daß es von Amtswegen als ›angemessen‹ anerkannt werden muß, hat sich jeden Anspruchs auf ›Dank‹ begeben. Man stelle doch die Tatsache nicht auf den Kopf: Ergebnis der Bundesratsverordnung soll sein, die Bevölkerung möglichst mit billigen Lebensmitteln zu versorgen und nicht dafür besorgt zu sein, daß sie durch den Umsatz angemessen verteuert werden. […] Die Konsumenten möchte uns doch der Magistrat zeigen, die für diese Art der Warenvermittlung noch dankbar sein möchten. Das gibt’s, daß die Kälber sich ihren Metzger selbst wählen, aber daß sie sich fürs metzgen bedanken, hat man noch nicht erlebt. […] Wir sind die letzten, die der Stadtverwaltung Widrigkeiten in den Weg legen, bei Einrichtungen, die den Minderbemittelten wirklich zugute kommen, aber wir haben es satt, bei unseren Wählern noch mehr in den Verdacht zu kommen, die Interessen der Besitzlosen weniger energisch zu vertreten; angesichts der aufreizenden Art, wie von Amtswegen die Interessen der Besitzenden gehütet und beschützt werden, hier in Kempten und nicht bloß durch den Magistrat. 77 Im Landkreis Kempten trugen am 29. Juli 1916 Frauen von Arbeitern aus dem von einer Textilfabrik dominierten Dorf Kottern, die die Polizei nicht in die Stadt hineinließ, in einem Nachbardorf einem Vertreter des Bezirksamts ihre Unzufriedenheit mit der Lebensmittelzuteilung vor. Die ›Schwäbische Volkszeitung‹ bemerkte dazu: Unsere Behörden, besonders auch der Stadtmagistrat Kempten möge[n] […] diese Zeichen allgemeiner Unzufriedenheit über ihre Bureaukratiewirtschaft beherzigen und nicht bei der bisherigen Wurstigkeit verharren. 78 1917 äußerte sogar die ›Allgäuer Zeitung‹ ihre Unzufriedenheit über den Kemptener Magistrat. So hatten sich am 23. April 1917 beim städtischen Kartoffelverkauf die Zustände schlimmer als je zuvor erwiesen. Die Wartenden, die noch nichts bekommen hatten, drängten und schubsten sich. Sechs Soldaten war es nicht gelungen, die Ruhe herzustellen. Gegen dreiviertel sechs abends war nichts mehr vorhanden, und der Ausgaberaum wurde geschlossen. Diejenigen, die nichts mehr bekommen hatten, schimpften und drohten. Auch am nächsten Tag konnten keine Kartoffeln an Minderbemittelte mehr ausgegeben werden, weil keine eingetroffen waren: Es ist in höchstem Grade zu bedauern, daß nach all den Beschwerden in der Presse, und im Gemeindekollegium die Zustände sich auch gestern nicht gebessert haben, im Gegenteile so schlimm waren wie überhaupt noch nie beim städtischen Verkaufe. 79 Im ›Tag- und Anzeigenblatt‹ kam ein Bauer aus der Kemptener Gegend zu Wort: Man hat jetzt am Bauern so ziemlich alle erdenklichen Gesetze, Verordnungen und Strafen angewandt, um von ihm die Herausgabe seiner Erzeugnisse zu erzwingen. Wie rigoros und verkehrt dadurch mit oft sinnwidrigen Verordnungen vorgegangen und was damit erreicht wurde, das sollten jetzt endlich die Herren Verordnungsmacher selbst einsehen gelernt haben. Es wäre höchste Zeit, solche unbeliebte und böses Blut machende Verordnungen und Bestimmungen, 77 SVZ vom 26.10.1915, Nr. 250. 78 SVZ vom 3.8.1916, Nr. 179. 79 AZ vom 24.4.1917, Nr. 92. <?page no="279"?> P AUL H O S ER 280 die oft das Gegenteil erreichen, von Grund aus umzuändern und, wenn solche Umänderungen stattfinden, dann auch wirklich uneigennützige, praktisch erfahrene Bauern zu Rate zu ziehen. 80 Der Schriftsteller Ludwig Thoma, der sich gelegentlich in der ›München-Augsburger Abendzeitung‹ zu Wort meldete, hieb ebenfalls in diese Kerbe. Auch er suchte im Juni 1918 die oft als Schuldige angeprangerten Bauern zu entschuldigen und die Probleme einer inflexiblen staatlichen Verwaltung anzulasten: Die Uebelstände kann niemand ableugnen; man muß ihre Ursache aber nicht in der besonderen Habsucht der Bauern suchen, denn einmal wär’s sehr ungerecht und dann führt es nicht zur Hoffnung auf Besserung. […] Viel besser wäre es, wenn die Befehlshaber und Verordnungsgewaltigen einmal nachdenken würden, wie die Fehler der letzten vier Jahre gut gemacht werden könnten. […] Ganz allgemein möchte ich sagen: Man soll endlich aufhören, den Bauern als willenlosen Hintersassen im Stile von des Landrichters Gnaden regieren, leiten, lenken zu wollen. Es gelingt doch nicht. Man soll glauben, daß Getreide auf freien Fluren, nicht aus Statistik-Bündeln wächst, man soll sich zu der schwierigen, bescheidenen Ansicht zwingen, daß der Bauer über die Möglichkeit seiner Produktion gefragt werden muß, daß er mitreden soll. Ein guter Rat hilft mehr wie eine dumme Verordnung. Damit wäre heute noch was zu machen. Sonst hilft nichts mehr. […] Die Regierung muß erst wieder Autorität erwerben; die frühere hat sie verloren durch eigene Schuld. […] Laßt die Gemeinde mitregieren und alles wird viel besser werden. 81 Im gleichen Monat erweckte Georg Heim sogar die Illusion, als sei die Problematik der Lebensversorgung relativ einfach in den Griff zu bekommen: Das deutsche Volk, das so vieles ertragen, geduldet, entbehrt und überstanden hat, wird stark genug sein, rasch vorübergehende Schwierigkeiten zu überwinden. 82 Der ›Nesselwanger Anzeiger‹ hatte dagegen im Juni 1917 vorausgesagt, die Lebensmittelknappheit werde auch in Zeit nach dem Krieg noch einige Zeit andauern: Es ist zu hoffen, daß uns das neue Jahr den Frieden bringen wird. Am Stande unserer Volksernährung wird aber dadurch nicht das Geringste geändert. Bis die Volksernährung wieder in normale Bahnen kommen wird, dürften wohl ungefähr zwei Jahre vergehen, wenn auch nach dem Kriegsende mit Erleichterungen zu rechnen ist und manche Entbehrungen sowie die bisherige Knappheit in Wegfall kommen werden. 83 Noch 1918 behaupteten die ANN, die Ernährungslage sei im Wesentlichen gut gelöst: […] nur im einzelnen wurden größere Wuchergeschäfte gemacht, während die Landwirtschaft im allgemeinen bestrebt war, mit zwar höheren, aber doch relativ mäßigen Gewinnen ihrer Vaterländischen Aufgaben gerecht zu werden, und zu beweisen, daß es [sic] mit der Hauptsache 80 TuA vom 10.7.1918, Nr. 156. 81 MAA vom 29.6.1918, Nr. 324. 82 MAA vom 17.6.1918, Nr. 291. Es handelte es sich um einen aus dem ›Bayerischen Kurier‹ nachgedruckten Artikel. 83 NA vom 12.6.1917, Nr. 67. Diese Voraussage sollte sich ganz und gar bewahrheiten. Dazu s. Berichte Schwäbischer Regierungspräsidenten aus den Jahren 1918 und 1919, bearb. von K ARL F ILSER / R UDOLF V OGEL (†) (Veröff. SFG 12/ 1), Augsburg 2006, und die Folgebände für 1920 (12/ 2), Augsburg 2009, und 1921 bis 1923 (12/ 3), Augsburg 2015. <?page no="280"?> D IE E RNÄHR U NGS LAGE IM E R S TEN W E L TKR IE G 281 mit der Ernährung des Volkes allein fertig wird. […] Gibt es auch in der Ernährung Deutschlands manche dunkle Punkte, so muß man doch auch gelten lassen, daß man vor einer außerordentlich schweren Aufgabe stand und die deutsche Landwirtschaft es verstanden hat, dafür zu sorgen, daß die Ernährung des deutschen Volkes, wenn auch verteuert, so doch befriedigend durchgeführt werden konnte. 84 In dem von der Zeitung Ende Januar 1916 gedruckten Bericht hieß es: […] wir wissen, daß, wenn wir einen uns heute möglichen Vergleich mit den weitaus traurigeren Ernährungsverhältnissen in den meisten Staaten unserer Gegner anstellen, es uns Deutschen noch verhältnismäßig am besten geht. 85 Der ›Nesselwanger Anzeiger‹ war sogar noch im Sommer 1918 dieser Meinung: Gerade auf dem Gebiete der Ernährung ist die Teuerung in anderen Staaten viel nachhaltiger als in Deutschland. 86 Trotz aller Mängel blieben in Augsburg, der größten Stadt Bayerisch-Schwabens, Hungerkrawalle aus, wie sie in der Landeshauptstadt München und in Nürnberg auftraten. Dagegen traten sie in den kleinen ländlichen Orten Füssen und Sonthofen auf, beides allerdings Orte, an denen Industrie angesiedelt war. 87 2. Andere Ursachen der Misere in der Ernährungsfrage in der Sicht der bayerisch-schwäbischen Presse Im Mai 1915 lobte sich die sozialdemokratische Zeitung in Augsburg selbst. Man habe ihr aus den Kreisen kleiner Kaufleute mit Geschäften geschrieben: Von allen hiesigen Zeitungen ist es nur die ›Schwäbische Volkszeitung‹, welche mit Recht und energisch gegen den Wucher mit Lebensmitteln Stellung genommen hat. […] Weil […] nun der Krieg erklärt wurde, da werden die alten Waren, die in den Lagern liegen, derart im Preise erhöht, daß es ein Skandal ist. Vom Patriotismus ist bei diesen Leuten aus dem Großhandel nichts zu spüren; […] diese Leute führen einen Krieg gegen die Mehrheit des eigenen Volkes, sie unterstützen bewußt die Aushungerungspolitik unserer Feinde und müssen daher als Feinde des deutschen Volkes bezeichnet werden. 88 84 ANN vom 19.9.1918, Nr. 218. 85 ANN vom 31.1.1916, Nr. 25. In der bisherigen Forschung findet sich kein Beleg dafür, dass dies den Tatsachen entsprach und keine reine Propagandabehauptung war. 86 NA vom 27.6.1918, Nr. 74. 87 G. H ETZER , Von der Reichsgründung bis zum Ende der Weimarer Republik (Anm. 48), S. 579; M ARTINA B AUERNFEIND , Marsch in eine dunkle Zukunft - »Mangelverwaltung« in Nürnberg, in: Der Sprung ins Dunkle. Die Region Nürnberg im Ersten Weltkrieg 1914- 1918, Redaktion: S TEVEN M. Z AHLAUS u. a. (Ausstellungskatalog des Stadtarchivs Nürnberg 22), Nürnberg 2014, S. 207-230, hier 219; W ILFRIED R UDLOFF , Notjahre - Stadtpolitik in Krieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise 1914 bis 1933, in: R ICHARD B AUER (Hg.), Geschichte der Stadt München, München 1991, S. 336-368, hier 341. 88 SVZ vom 28.5.1915, Nr. 122. <?page no="281"?> P AUL H O S ER 282 Die ›München-Augsburger Abendzeitung‹ brachte noch im September 1918 einen in altväterlichem Ton gehaltenen Beitrag, demzufolge an allem Übel die Schlemmer und Prasser schuld waren: Endlich ermannt euch, ihr deutschen Regierungen, geht ohne Bedenken gegen die inneren Feinde vor, die Verrat am Volksheile treiben und machet sie unschädlich! 89 Auch die katholische ›Allgäuer Zeitung‹ folgte dem gleichen Argumentationsmuster: Die beträchtliche Steigerung einer Reihe der wichtigsten Konsumartikel hat in allen Volkskreisen großen Unwillen erregt. Nicht wegen der Steigerung an sich. Jeder vernünftige Mensch weiß, daß in der Kriegszeit die Preise gewisser Lebensmittel steigen müssen. […] Was im Volke Entrüstung hervorruft, ist die unbestreitbare Tatsache, daß manche Preissteigerung nicht auf natürliche Gründe, sondern lediglich oder zum großen Teil auf wucherische Spekulationen und Händlerkniffe zurückzuführen ist und von diesem Gesichtspunkt aus erhoben sich die Bitten an die maßgebenden Behörden, einer weiteren Preissteigerung durch geeignete Maßnahmen entgegen zu wirken. 90 Das ›Tag- und Anzeigeblatt‹ in Kempten sah im November 1916 ebenfalls den Wucher als Wurzel allen Übels: Trotz der Tätigkeit alter und neuer Behörden, trotz unzähliger Verordnungen nimmt der schändliche Wucher ruhig seinen Fortgang. Die Gier nach dem Gelde kennt bei gewissen Leuten noch immer kein Ende. […] Und das alles, weil es noch immer an wirklich durchgreifenden Maßnahmen gegen diese Schädlinge an unserm Volkstum fehlt. […] Eine Besserung kann nur eintreten, wenn die in Frage kommenden Behörden, vor allem die Kriegswucherämter den ganzen zweifelhaften Handel einer viel strengeren Kontrolle unterwerfen und sich hiezu der Mithilfe der ganzen Bevölkerung bedienen. […] Zwingende Notwendigkeit ist vor allem aber eine größere Strenge der Gesetzgebung. 91 Es müssten strengste Freiheitsstrafen verhängt werden. Die sozialdemokratische ›Schwäbische Volkszeitung‹ sah in erster Linie die Konsumenten als ihre Klientel, während die bäuerlichen Produzenten in ihren Augen eher Profiteure waren. Sie erkannte im August 1917 zwar an, dass die Lage der Landwirtschaft schwierig sei, fand aber die Steuerung des Getreidepreises um über 33 % nicht gerechtfertigt. 92 Sogar die ›München-Augsburger Abendzeitung‹ nannte im Juni 1918 die Bauern als Mitschuldige: Bauern hört auf, euere Erzeugnisse, die Ihr nicht unbedingt selber braucht, zurückzuhalten oder sie dem Schleichhändler zu unerhörten Wucherpreisen zuzustecken! Die Not kann zum großen Teil behoben werden, wenn Ihr diese euere Pflicht und Schuldigkeit ehrlich erfüllt! 93 89 MAA vom 4.9.1918, Nr. 447. Zum Verfasser, Prof. Dr. Arthur Kleinschmidt, Historiker und Bibliothekar a. D. an der herzoglichen Hofbibliothek in Dessau: Wer ist’s, 3. Ausgabe, Leipzig 1908, S. 693. 90 AZ vom 7.7.1915, Nr. 153. 91 TuA vom 17.11.1916, Nr. 266. 92 SVZ vom 7.8.1917, Nr. 182. 93 MAA vom 17.6.1918, Nr. 291. <?page no="282"?> D IE E RNÄHR U NGS LAGE IM E R S TEN W E L TKR IE G 283 In den städtischen Zeitungen Schwabens fand sich kein Hinweis auf die beliebte Verknüpfung von Wucherern und Juden. Die ›Allgäuer Zeitung‹ brachte zwar den Bericht über einen Fall eines Kriegswucherers vor dem Landgericht Kempten, der offensichtlich Jude und Teilhaber einer jüdischen Firma war. Sie versah dies aber mit keinerlei antisemitischen Kommentaren und stellte fest: An großstädtischen Aufkäufern, Schiebern und Wucherern gemessen, war der Angeklagte […] nur ein armseliger Stümper. 94 Ein einziger Beleg für unverhüllten Antisemitismus fand sich in dem relativ bedeutungslosen Ortsblatt von Nesselwang, das ein sehr bösartiges Gedicht, Die Juden im Weltkriege abdruckte: Wo soviele Helden bluten Drücken sich jetzt nur die Juden Ueberall grinst ihr Gesicht, Nur im Schützengraben nicht. […] Judengeld ist’s das den großen Weltbrand hat entfacht zum Tosen; […] 95 Die ›Neue Augsburger Zeitung‹ hatte auch für die Sorgen der Produzenten Verständnis. Sie klagte im Dezember 1914 darüber, dass die Viehpreise für Schweine seit Monaten auf tiefem Stand stagnierten: Der Verschleuderung der Ferkel und unreifen Schweine kann am besten dadurch vorgebeugt werden, daß den Landwirten angemessene, den erhöhten Futterkosten entsprechende Preise in Aussicht gestellt werden. Dies kann nur durch Lieferungsverträge herbeigeführt werden. 96 Die von der ›Neuen Augsburger Zeitung‹ zitierte Zentrumskorrespondenz behauptete: Man kann heute selbst in Kreisen, die dem Zentrum fernstehen, die Ansicht hören, daß wir längst über alle Schwierigkeiten hinweg wären, wenn man den Weg beschritten hätte, den der christliche Gesamtbauernverein unter Dr. Heims Führung in seinen zahlreichen Entschließungen empfohlen hat. Dann wäre ebenso den Konsumenten wie den Produzenten gedient, und es würde Zufriedenheit herrschen in den weitesten Kreisen. 97 Heim war aber tatsächlich in erster Linie Vertreter der bäuerlichen Interessen und der Auffassung, die Landwirtschaft sei der Berufsstand, der am meisten unter der Kriegslage zu leiden hätte. Er 94 AZ vom 8.9.1917, Nr. 207. 95 NA vom 10.8.1918, Nr. 92. Im oberbayerischen Raum waren entsprechend auch Zeitungen kleinerer Orte sehr schnell bereit, die allgemein für alles Übel verantwortlich gemachten Wucherer pauschal mit den Juden gleichzusetzen. So stand etwa am 19. Januar 1918 im Dachauer ›Amperboten‹: Ja du liebes dummes Stadtbäschen, weißt du nicht, daß der Bauer den Preis nicht macht, sondern der Jud, […]; Amperbote vom 19.1.1918, Nr. 6. Diese Argumentation war beim ›Amperboten‹ kein einmaliger Ausrutscher, sondern System. Amperbote vom 9.2.1918, Nr. 12; 11.12.1918, Nr. 99. In ähnlichem Sinn agitierte der ›Miesbacher Anzeiger‹. 96 NAZ vom 18.12.1914, Nr. 295. 97 NAZ vom 20.6.1916, Nr. 141. <?page no="283"?> P AUL H O S ER 284 glaubte, für die Bauern günstige Preise würden die Produktion fördern, wogegen die Verbraucherseite nur die Wirkung einer Verteuerung für die Konsumenten sah. 98 Heims Standpunkt war nicht nur konträr zu dem des bayerischen Innenministeriums. Für die ›Schwäbische Volkzeitung‹, die für die Interessen der Konsumenten eintrat, war einzig die hemmungslose Gewinnsucht der Landwirtschaft verantwortlich, der gegenüber das Kriegsernährungsamt in Berlin versagte: Es fehlt im Kriegsernährungsamt der Widerstand gegen die immer rücksichtsloser auftretenden Anforderungen aus landwirtschaftlichen Kreisen, es gibt keine Grenze für das Begehren, kaum ist eine höhere Preisstufe erklommen, so setzt die Bewegung schon wieder ein für ein weiteres Aufwärts, schließlich wird die Bevölkerung nur noch zum Ausbeutungsobjekt der Kriegswirtschaft, der größten wirtschaftlichen Interessengruppen. 99 Doch auch die liberalen ›Augsburger Neuesten Nachrichten‹ sahen die Landwirtschaft als Profiteur: War die deutsche Landwirtschaft bereits längst vor dem Weltkrieg ein durch die Gesetzgebung und die allgemeinen Verhältnisse sehr bevorzugter Erwerb, so hat der Weltkrieg naturgemäß die günstige Konjunktur der Landwirtschaft in Nord- und Süddeutschland in so erheblicher Weise gesteigert, daß man heute beinahe feststellen darf, daß kein Besitz und kein Erwerb wie der landwirtschaftliche so wesentlich gewonnen hat, ob es sich dabei um Groß- und Kleingrundbesitz handelt. Teils die großen Lieferungen für die Armee, teils der Zwischenhandel und dann besonders die Hamsterei haben zu dieser Wandlung beigetragen. Ohne die Hamsterei hätten die Preise für Butter, Eier und andere landwirtschaftliche Produkte kaum solche Preise erzielt, wie sie in den letzten Monaten durch die Tagepresse oft bekannt geworden sind. Auch die Sommerfrischen haben in dieser Richtung einen sehr üblen Einfluß ausgeübt, so daß die Behörden oft einschreiten mußten, um diesem Uebel zu steuern. Infolge der steigenden Preise auch für die notwendigsten Lebensmittel entstanden in vielen Gegenden schroffe Gegensätze. Wurden doch zum Teil Preise verlangt, die in Friedenszeiten ganz undenkbar schienen und die auch für den Mittelstand ganz unerschwinglich waren. 100 Die Einerseits-Andererseits-Formel, die die ›Neue Augsburger Zeitung‹ anbot, war keine wirkliche Lösung: Einerseits sind die Lebensmittel in der Stadt leider Gottes zu knapp und zu teuer, anderseits aber hat der Bauer ohne Zweifel recht, der sagt: Die Gewinne der Bauern sind im Vergleich zu denen der Großfirmen und Großhändler wie ein Tropfen im Eimer. Liegt es somit im allgemeinen wie im eigenen Interesse des städtischen Konsumenten, daß der 98 Dazu F. M ÜNCH , Heim (Anm. 51), passim. Zur Kriegswirtschafts- und Versorgungspolitik in Bayern 1914 s. M ICHAEL U NGER , Zu den Anfängen der Kriegswirtschaft in Bayern, in: Krieg! Bayern im Sommer 1914 (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 56), München 2014, S. 53-72; zur Ernährungslage in Bayern im Krieg auch W ILLY A LBRECHT , Landtag und Regierung in Bayern am Vorabend der Revolution von 1918. Studien zur gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung Deutschlands von 1912-1918 (Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter 2), Berlin 1968, S. 147-153, 238-242, 343-348, 326-331. 99 SVZ vom 6.3.1918, Nr. 55. 100 ANN vom 19.9.1918, Nr. 218. <?page no="284"?> D IE E RNÄHR U NGS LAGE IM E R S TEN W E L TKR IE G 285 Gegensatz zwischen Stadt und Land nicht unnötig verschärft werde und daß dem Bauern nicht Vorwürfe gemacht werden, die einer anderen Adresse gelten, so ist es auf der andern Seite wiederum heiligste Pflicht der Landbevölkerung, an Nahrungsmitteln abzugeben, was sie nur immer entbehren kann, um den schwergeprüften Stadtbewohnern das Aushalten zu ermöglichen. 101 Die ›Augsburger Neuesten Nachrichten‹ wandten sich nicht nur gegen die Wucherer und die Landwirtschaft, sondern auch gegen die Konsumentenkreise, die diesen ihr Vorgehen erst ermöglichten: Nicht allein die Bauern und die Händler, auch die rücksichtslosen Käufer sind an den unerhörten Preisen schuld. 102 3. Der Gegensatz von Stadt und Land In einem grundsätzlichen Artikel beschrieb die ›München-Augsburger Abendzeitung‹ Anfang 1917 das mit der Lebensmittelversorgung zusammenhängende gewandelte Verhältnis von Stadt und Land: Die Spannung zwischen Stadt und Land war kaum je größer als jetzt. Der Städter merkt täglich mehr, wie nah ihn der Bauer angeht und seine Arbeit, die er beide nur sehr oberflächlich kennt von Sommerfrischen und Sonntagsausflügen her. Jetzt, wo ihn täglich die Lebensmittelknappheit an seine intimen Beziehungen zum Bauern erinnert, wird sein Denken an ihn nicht im guten Sinne beeinflußt. Die unzureichende Lebensmittelzufuhr vom Lande, die ungeheuren Preise, werden auf das Schuldkonto des Bauern gebucht […] Der Bauer aber, der ab und zu in die Stadt kommt und das Leben sieht, die gut gekleideten Menschen und die schönen Auslagen, stellt sich die Verhältnisse in der Stadt viel rosiger vor, als sie sind. Er hat gar keine Ahnung von der Bescheidenheit, die in Wirklichkeit auf den Tischen der allermeisten Familien herrscht, […]. So fehlt es beiderseits an dem richtigen Einblick in die völlig verschiedenen Lebensbedingungen, […], 103 Allerdings gebe es auf beiden Seiten schwarze Schafe: […] unter einem Teile der Kaufmannschaft ist die gewissenlose, am Volkskörper schmarotzende Gewinnsucht mindestens so beherrschend als beim Bauern, in dieser Beziehung hat böses Beispiel viel Unheil angerichtet. 104 Die Fremden, die man gerade in den ländlichen Gegenden des Allgäus als zahlende Gäste geschätzt hatte, wurden mit der zunehmend bedrängten Lage spätestens 1918 nur mehr als lästig empfunden, ebenso wie die städtische Bevölkerung, die auf dem Land Lebensmittel zu ergattern suchte. Die ›Allgäuer Zeitung‹ stellte im Juni 1918 die Frage: Darf es geschehen, daß in den Kurorten und Sommeraufenthaltsgegenden die Fremden weiter eine solche Bevorzugung in der Ernährung genießen wie sie tatsächlich jetzt der Fall ist? Insbesondere aus den Gebirgsgegenden kommen Schilderungen der Fremdenversorgung in den Gasthöfen, die sich nicht viel von jener in Friedenszeiten unterscheide. Fleischgerichte in reicher Auswahl stehen auf den Speisekarten, zum Nachtisch gibt es immer noch Süßspeisen, der Kaffee wird in Portionen mit Vollmilch getrunken, von den sonstigen Zuta- 101 NAZ vom 7.11.1916, Nr. 256. 102 ANN vom 11.12.1916, Nr. 288. 103 MAA vom 27.1.1917, Nr. 48. 104 MAA vom 27.1.1917, Nr. 48. <?page no="285"?> P AUL H O S ER 286 ten, die mehr Gaumenkitzel sind, nicht zu reden. Man muß sich fragen, wie es möglich ist, daß die Sommergäste für ihre 10 Wochenanteile jeden Tag zweimal Fleischspeisen genießen können während für den gewöhnlichen Sterblichen, der auf seinen häuslichen Tisch angewiesen ist, beim gleichen Markenquantum einmal in der Woche eine kärgliche Fleischration herausschaut. Da muß etwas faul sein. […] Es wird sich denn doch fragen, ob unter solchen Umständen keine Maßnahmen getroffen werden müssen, um den Fremdenverkehr einzudämmen, der obendrein auch deswegen eine Gefahr ist, weil es sich da meist um begüterte Leute handelt, die sich auch trotz aller Abmahnungen und Warnungen nicht scheuen, den Sommeraufenthalt in Bayern auch dazu zu benützen, gegen unsinnige Geldanerbieten ihre heimischen Vorratskammer zu füllen und auf diese Weise unser Land auszuplündern. 105 Die Sommergäste seien nachgerade eine Landplage, das Allgäu leide darunter ganz besonders: Der bayerische Bauer hat keinen Grund, auf diese Herrschaften Rücksicht zu nehmen und darum jage er sie, wo sie ihn belästigen, rücksichtslos von seiner Tür! 106 Besondere Aufmerksamkeit widmete der ›Nesselwanger Anzeiger‹ dem Problem. In dem kleinen Ort, der immerhin einen Eisenbahnanschluss hatte, war der Fremdenverkehr schon vor dem Ersten Weltkrieg eine Einnahmequelle. 107 Für das lokale Blatt hatte die neue Versorgungslage auch einen allgemeinen Sittenverfall zur Folge: Es wird viel geklagt, daß auf dem Lande die gute alte Sitte verschwinde, daß die sprichwörtlich gewordene ländliche Einfachheit, Ehrlichkeit und Zufriedenheit so selten mehr anzutreffen sei. […] Es wäre bald ein Wunder, wenn es anders wäre. Die Ortschaften sind vielfach von Städtern überschwemmt, die mit allen möglichen Mitteln und unter Zahlung von verlockenden Phantasiepreisen die Leute zur Unehrlichkeit verleiten. Kommt das Landvolk in die Stadt und will dort die allernotwendigsten Bedarfsartikel kaufen, dann werden Preise verlangt, die der alte Geldbeutel nicht mehr verträgt. […] Darum helft alle zusammen, Stadt und Land, um all denen, die die Kriegskonjunktur zum Schaden der Allgemeinheit ausnützen das Handwerk zu legen! Stellt die Kriegswucherer rücksichtslos an den Pranger! 108 Ein Teil der bayerischen Bevölkerung mache sich schuldig, weil er […] trotz aller Mahnungen und Warnungen immer wieder an die Fremden und Händler aus anderen Staaten Lebensmittel abgibt. […] Bayern verträgt keine weitere wirtschaftliche Schädigung mehr und der bayerische Staatsangehörige, der ihr trotzdem Vorschub leistet, begeht ein Verbrechen am eigenen Volke. 109 Bei der ländlichen Bevölkerung im Gebirge kamen viele Fälle von Schwarzschlachtungen vor, die es den Wirten ermöglichten, Fremde gut zu beköstigen: Noch besser rentieren sich […] die Geschäfte des Schleichhändlers, wenn er direkte Beziehungen zu ›Sommerfrischlern‹ hat, die den Aufenthalt in Bayern benützen, alles Mögliche aufzukaufen, 105 AZ vom 17.6.1918, Nr. 138. 106 AZ vom 17.6.1918, Nr. 138. 107 F RANZ B ERTHOLD -F ACKLER , Luftkurort und Wintersportplatz, in: W. L IEBHART (Hg.), Nesselwang (Anm. 20), S. 201-216, hier 201f. 108 NA vom 10.1.1918, Nr. 5. 109 NA vom 12.1.1918, Nr. 6. <?page no="286"?> D IE E RNÄHR U NGS LAGE IM E R S TEN W E L TKR IE G 287 um entweder ihre häuslichen Hamsterbauten zu füllen oder weiter Geschäfte mit den unerlaubt erworbenen Lebensmitteln zu betreiben. Wenn das Uebel weiterwuchert […], dann kann es bei der ohnehin nicht aussichtsreichen Ernte dahinkommen daß Bayern in kurzer Zeit ausgesogen ist. 110 Der ›Nesselwanger Anzeiger‹ behauptete, die hamsternden Sommerfrischler würden sich, wenn sie wieder zuhause in Norddeutschland seien, auch noch über die dummen Schwaben mokieren. 111 Anders als die übrigen Zeitungen, die zwar auch das Land mit abdeckten, aber doch stark auf die städtische Leserschaft und damit die Konsumenten ausgerichtet waren, interessierten deren Probleme dieses kleine, in einer rein ländlichen Umgebung erscheinende Blatt überhaupt nicht. Die immer wieder geäußerten Hoffnungen, man könne das Ernährungsproblem bewältigen, waren ähnliche Selbsttäuschungen, wie die bis in den September ständig wiederholten Beschwörungen eines siegreichen Endes des Krieges. Zu einer nüchternen Analyse war die Presse nicht imstande, sie war ebenso gefühlsgesteuert wie der größte Teil der Bevölkerung. Es fehlte an der Einsicht, dass es gerade die wegen des im Krieg nicht möglichen freien Handels mit entsprechenden Lebensmitteleinfuhren unumgängliche Zwangswirtschaft war, die Wucherei und Schieberei boomen ließ: »Bereits im Verlauf des Krieges hatte die Zwangswirtschaft die traditionelle moralische Ordnung der ländlichen Gesellschaft teilweise untergraben, indem sie ein um moralische Normen unbekümmertes Verhalten belohnte und die Beachtung der Gesetze bestrafte.« 112 Sucht man nach regionalen Besonderheiten in der Frage der Ernährung im Krieg, wird man nicht allzu viele finden. Die Probleme glichen, wenn man einmal vom erzwungenen Verzicht auf die geliebten Kässpatzen im Allgäu absieht, weitgehend denen in anderen Regionen. 113 110 NA vom 16.7.1918, Nr. 81. 111 NA vom 18.7.1918, Nr. 82. 112 B. Z IEMANN , Front und Heimat (Anm. 47), S. 325. 113 Neuere Arbeiten zu süddeutschen Regionen: z. B. P ETER E ITEL , Der Erste Weltkrieg in Oberschwaben - ein Überblick, in: J ÜRGEN K NIEP (Hg.), »Eine Donau voll Blut ein Bodensee voll Tränen«. Oberschwaben im Ersten Weltkrieg, Biberach 2015, S. 45-70, hier 46f., 51-55; I NA S ZYMAU , Im Zeichen des Kriege. Der Erste Weltkrieg und Ravensburg 1914-1918, Konstanz-München 2014, S. 57-70; V ALESKA M ARTIN , Ernährungs- und Kriegswirtschaft in Schwäbisch Hall während des Ersten Weltkriegs, in: Schwäbisch Hall 1914-1918. Eine Stadt und ihre Region im Ersten Weltkrieg, S. 313-330; M. B AUERN - FEIND , Marsch in eine dunkle Zukunft (Anm. 87), S. 207-229. Ältere Arbeiten: P AUL H OSER , Die Geschichte der Stadt Memmingen. Vom Neubeginn im Königreich Bayern bis 1945 (Geschichte der Stadt Memmingen 2), Stuttgart 2001, S. 93-100; L OTHAR B UR - CHARDT , Konstanz im Ersten Weltkrieg, in: L OTHAR B URCHARDT / D IETER S CHOTT / W ER - NER T RAPP , Konstanz im 20. Jahrhundert. Die Jahre 1914 bis 1945, Konstanz 1990, S. 11- 66, hier 30-36; R OGER C HICKERING , Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914-1918, Paderborn 2009, S. 153-179, 229-237. <?page no="288"?> 289 C HRISTA H ÄMMERLE Ach das ist bitter einem Landsmann die Augen zuschliessen zu müssen. Kriegskrankenpflegerinnen im Ersten Weltkrieg als Brücke zur Region 1. Schmerz, Sterben und Tod im ›Großen Krieg‹ - ein Prolog Just zum Jahreswechsel 1917/ 18 musste die Krankenpflegerin Angelika Kresser aus Dornbirn an die Angehörigen des Lustenauer Kaiserjägers und Stickerei-Angestellten Franz Hollenstein ein trauriges Schreiben übermitteln. Adressiert mit Lieber Vater und Geschwister! enthielt es den Abschiedsbrief des beinamputierten Soldaten, dessen ersten Teil er ihr noch selbst hatte diktieren können. Darin berichtete Franz Hollenstein über seine schwere Verwundung am 25. Dezember 1917 und die Schmerzen, die er ertragen musste, bis er im Feldspital Elble auf den Operationstisch kam. Er hoffte auf ein Wiedersehen mit seinen Lieben, denn die Schwester habe ihm gesagt, er komme nach Wien in die Prothesenabteilung, wo mir dann mein lieber Fuss ersetzt wird. Werde doch wieder so weit hergestellt, dass ich gehen kann. Habe die Schwester gebeten euch zu besuchen, wir freuten uns sehr, als wir uns am Silvester-Abend als Vorarlberger gefunden und sogar die Schwester in Dornbirn zu hause, ihr Vater ein gebürtiger Lustenauer ist, und sagte mir danach sogleich, dass sie in Urlaub gehe diese Woche. Nach dieser Passage setzte die Dornbirner Krankenschwester den Brief fort. Sie schilderte, dass Franz Hollenstein am Silvesterabend mit einem Schlaftrunk, den sie ihm gegeben hatte, wenigstens einige Stunden die Schmerzen vergessen und einschlafen konnte. Am frühen Neujahrsmorgen wurde jedoch klar, dass er sehr wahrscheinlich sterben wird, da bei der Operation das Gas schon in der Hüfte war. Daraufhin habe er sie gebeten, ich möchte so gut sein und zu seiner lieben Braut gehen und ihr sagen, sie möchte brav bleiben und ihn nicht vergessen, es giebt ja noch einmal ein Wiedersehen dort oben. Dann berichtete Angelika Kresser über das auch auf seinen Wunsch hin von ihr betend begleitete Sterben, an dessen Ende dieser Soldat - vorbildlich im Sinne der katholischen Religion - mit dem Vaterunser auf den Lippen noch Gott angerufen habe. Sie selbst war voller Trauer, wie das Ende des Briefes zeigt: Aber meine Lieben, was ich geweint unter alldem, ach Gott ob seinem Kopfe kollerten die Tränen auf sein Haar, denn ich konnte mich nicht mehr halten, ach das ist bitter einem Landsmann die Augen zuschliessen zu müssen und dabei zu denken, dass auch von mir schon 2 Brüder im Felde draussen ruhen. Er hat auch noch von seinem Oblt. 100 Kr bekommen, denn er hatte ihn sehr gern, auch trug er drei Ringe, die ich ihm abgenommen habe, zwei Kriegsringe und einen goldenen, musste sie aber in die <?page no="289"?> C HRI S TA H ÄMMER LE 290 Kanzlei tragen, es wird euch gesandt. Bin bis zu seiner Beerdigung schon im Urlaub. Er möge ruhen der gute Franz. Mein innigstes Beileid [handschriftlich gezeichnet mit: ] Angelika Kresser k. u. k. Feldspital. 1 Dieses eindringliche Beispiel der inneren Anteilnahme einer Rotkreuzschwester mit einem Soldaten ihrer Region, für den sie angesichts des nahenden Todes den Kontakt hin zu seiner Heimat, seinen Lieben führte, deutet auf mehrere Aspekte hin, um die es im Folgenden gehen wird. Es zeigt, wie intensiv Krankenpflegerinnen vielfach in das Erleiden von kriegsbedingtem Schmerz, Sterben und Tod involviert waren, worauf erst neuere Forschungen hingewiesen haben, auch in Hinblick auf langfristige, oft traumatisierende Folgen eines solchen Kriegserlebnisses nichtkombattanter Mitglieder des Sanitätsapparats. 2 Damit rückt dieses in die Nähe zu den Erfahrungen vieler Soldaten, mit deren Verletzungen (Hilfs-)Schwestern, Pfleger und Ärzte ja unmittelbar konfrontiert waren - sei es ganz nahe dem Kampfgeschehen, an den Hilfsplätzen und in den vielen mobilen Feldlazaretten, wo nach einem nur kurz aufrecht zu erhaltenden Verbot auch Frauen arbeiteten, 3 oder sei 1 Ich verdanke das Beispiel Wolfgang Scheffknecht, dem Leiter des Historischen Archivs der Marktgemeinde Lustenau. Er hat gemeinsam mit Vanessa Hämmerle und Oliver Heinzle die umfassende Ausstellung ›Lustenau 1914-1918. Eine Gemeinde im Ersten Weltkrieg‹ kuratiert, in deren Katalog aus 2014, S. 27f., sich der Brief vollständig transkribiert findet. 2 Darauf hat v. a. die angloamerikanische Forschung aufmerksam gemacht. Vgl. u. a. A NGELA K. S MITH , The second battlefield. Women, modernism and the First World War, Manchester-New York 2000, bes. S. 70-101; M ARGARET R. H IGONNET (Hg.), Nurses at the Front. Writing the Wounds of the Great War, Boston 2001; D IES ., Authenticity and Art in Trauma Narratives of World War I, in: Modernism/ modernity 9.1 (2002), S. 91-107; S AN - TANU D AS , Touch and Intimicy in First World War Literature, Cambridge u. a. 2005, S. 175-228; C HRISTINE E. H ALLETT , Containing Trauma. Nursing work in the First World War, Manchester-New York 2009; D IES ., Portrayals of Suffering: Perceptions of Trauma in the Writings of First World War Nurses and Volunteers, in: Canadian Bulletin of Medical History/ Bulletin canadien d’histoire de la medicine 27.1 (2010), S. 65-84; für Österreich- Ungarn erstmals C HRISTA H ÄMMERLE , Seelisch gebrochen, körperlich ein Wrack. Gewalterfahrungen von Kriegskrankenschwestern, in: D IES ., Heimat/ Front. Geschlechtergeschichte/ n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn, Wien u. a. 2014, S. 27-53, 210-219 (Anmerkungen); sowie daran anknüpfend H EIDRUN Z ETTELBAUER , Krankenschwestern im Ersten Weltkrieg. Zwischen gesellschaftlichen Normvorstellungen und Gewalterfahrungen, in: D IETHARD L EOPOLD / S TEPHAN P UMBERGER / B IRGIT S UMMERAUER (Hg.), Wally Neuzil - Ihr Leben mit Egon Schiele, Wien 2015, S. 131-154. 3 Wie in anderen Staaten, wurde ein zu Kriegsbeginn bestehendes diesbezügliches Verbot aufgrund des dringenden Bedarfs von auch im Frontraum arbeitenden (Hilfs-)Pflegerinnen allerorts rasch aufgehoben. Vgl. B RIGITTE B IWALD , Von Helden und Krüppeln. Das österreichisch-ungarische Militärsanitätswesen im Ersten Weltkrieg, Wien 2000, S. 91; D ANIELA C. A NGETTER , Dem Tod geweiht und doch gerettet. Die Sanitätsversorgung am Isonzo <?page no="290"?> K R IE GS KR ANKENP F LE GE RINNEN IM E R S TEN W ELTKR IE G AL S B RÜCKE ZU R R EGION 291 es in den Kriegsspitälern der weiter davon entlegenen Etappe und des ›Hinterlandes‹. Das veranschaulicht, dass die daraus resultierenden Begegnungen zwischen am Krieg je unterschiedlich teilhabenden Männern und Frauen die gängige, von der Weltkriegsforschung lange perpetuierte Grenzziehung zwischen einer ausschließlich männlich konnotierten ›Front‹ und der ›Heimat‹ oder ›Heimatfront‹ als einem Ort der Frauen und Kinder aufheben. Beide Sphären blieben realiter den ganzen Krieg über ineinander verschränkt und aufeinander angewiesen, was die Frauen- und Geschlechtergeschichte des Ersten Weltkriegs, 4 aber auch gesellschaftsgeschichtliche Ansätze 5 mittlerweile an vielen Themen exemplifiziert haben. Gerade Kriegskrankenpflegerinnen hatten diesbezüglich eine Scharnierfunktion inne; sie standen in unzähligen Fällen gewissermaßen vermittelnd zwischen den (Herkunfts-)Familien der Soldaten, ihrem Dorf, ihrer Region einerseits, und dem gewaltförmigen, nicht selten auch für sie selbst gefährlichen Geschehen an den Kriegsschauplätzen andererseits. Das heißt auch, dass die Geschichte der Kriegskrankenpflegerinnen in den Kontext jener horrenden Opferzahlen des Ersten Weltkrieges zu stellen ist, die wir bereits annähernd kennen: Er brachte allein in Österreich-Ungarn, wo insgesamt rund 7,8 Millionen Männer mobilisiert wurden, für wenigstens 1,2, wenn nicht fast 1,5 Millionen Soldaten den Tod; die Angaben dazu schwanken in der Literatur stark. 6 Davon stammten beispielsweise aus Lustenau, woher Franz Hollenstein und in den Dolomiten 1915, S. 18, Frankfurt am Main u. a. 1995, S. 136. 4 Vgl. als Forschungsbilanz C HRISTA H ÄMMERLE , Traditionen, Trends und Perspektiven: Zur frauen- und geschlechtergeschichtlichen Forschung des Ersten Weltkriegs in Österreich, in: Geschichte und Region/ Storia e regione 23/ 2 (2014), Themenheft zu »Krieg und Geschlecht/ Guerra e genere«, hg. von S IGLINDE C LEMENTI / O SWALD Ü BEREGGER , S. 21- 49; C. H ÄMMERLE , Heimat/ Front (Anm. 2); S USAN R. G RAYZEL , Women and the First World War, London u. a. 2002. 5 Vgl. dazu nicht zuletzt einige im Kontext des Erinnerungsjahrs 2014 entstandene regionalgeschichtliche Publikationen, wie v. a. H ERMANN J. W. K UPRIAN / O SWALD Ü BEREGGER (Hg.), Katastrophenjahre. Der Erste Weltkrieg und Tirol, Innsbruck 2014; A LFRED P FO - SER / A NDREAS W EIGL (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, 2. Aufl. Wien 2014. 6 Die von G ERHARD H IRSCHFELD , G ERD K RUMEICH und I RINA R ENZ in Verbindung mit M ARKUS P ÖHLMANN herausgegebene Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2. Aufl. Paderborn u. a. 2009, verzeichnet in dem Beitrag von R ÜDIGER O VERMANN , Kriegsverluste, S. 663- 666, hier 664f., für Österreich-Ungarn geschätzte 1.460.000 militärische und zusätzlich mindestens 400.000 zivile Todesopfer - wobei letztere Zahl vermutlich viel zu niedrig gegriffen ist. Vgl. auch A NATOL S CHMIED -K OWARZIK , War Losses (Austria-Hungary), in: International Encyclopedia of the First World War, ed. by U TE D ANIEL u. a., issued by Freie Universität Berlin 2014ff., Berlin 2016-09-16. DOI: 10.15463/ ie1418.10964: Hier wird differenziert zwischen 1,1 bis 1,2 Millionen gefallenen Soldaten, 450.000 verstorbenen Kriegsgefangenen, rund 300.000 auch nach Kriegsende vermissten Soldaten, geschätzten <?page no="291"?> C HRI S TA H ÄMMER LE 292 kam, 236 gefallene Soldaten, 7 und aus Tirol und Vorarlberg schon bis Ende 1917, als er starb, einer offiziellen Statistik zufolge 27.934 Opfer. 8 Ein Teil von ihnen mag vorher schon einmal verwundet geworden sein; alles in allem gab es, wiederum allein in Österreich-Ungarn, während des Krieges geschätzte 4,5 Millionen nicht tödlich endende, das heißt im Militärjargon in den verschiedenen k. u. k. Sanitätsanstalten »geheilte« Verwundungen 9 - wobei viele Soldaten zwei- oder sogar dreimal verletzt wurden oder zuhauf und wiederum oft mit Todesfolge an einer Kriegsseuche, das heißt z. B. an Typhus, Cholera, Fleckfieber, Ruhr erkrankten. Besonders letzteres konnte auch Kriegskrankenpflegerinnen treffen, 10 die außerdem in jenen Einrichtungen, die nahe am Kampfgeschehen stationiert waren, mitunter unmittelbar unter Beschuss gerieten. Die Opferzahl unter diesen Frauen ist jedoch gänzlich unbekannt. 2. Zwischen Freiwilligkeit und Verpflichtung - ›Weibliche‹ Kriegskrankenpflege als Massenphänomen Die gerade angesprochenen Dimensionen des millionenfachen Verletzens und Tötens im industrialisierten Krieg verlangten einen umfassenden Sanitätsapparat. Sie konnten mit den militäreigenen Personalressourcen keinesfalls bewältigt werden. Insbesondere das Rote Kreuz, der Deutsche Ritterorden und der Souveräne Malteser-Ritterorden gehörten in Österreich-Ungarn zu den Hauptstützen des staatlich-militärischen Sanitätsapparats und setzten ihrerseits im Laufe des Krieges tausende und abertausende Pfleger und Pflegerinnen ein. Im Zuge dessen wurde die ›weibliche‹ Kriegskrankenpflege, nach ersten Vorläufern in den Krimkriegen 1853-1856 und ihrer daraufhin in den europäischen Staaten zeitlich ungleich erfolgten Institutionalisierung, ab 1914 nicht nur unentbehrlich, sondern ein wahres Massenphänomen. 460.000 an indirekten Kriegsfolgen (Hunger, Kälte, Epidemien) und 250.000 an der Spanischen Grippe gestorbenen Opfern. 7 Katalog Lustenau 1914-1918 (Anm. 1), Vorwort, S. 5. 8 H ELMUT R UMPLER / A NATOL S CHMIED -K OWARZIK (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848- 1918, Bd. 11/ 2: Weltkriegsstatistik Österreich-Ungarn 1914-1918. Bevölkerungsbewegung, Kriegstote, Kriegswirtschaft, Wien 2013, S. 170f. 9 Vgl. D. A NGETTER , Dem Tod geweiht (Anm. 3), S. 186; B. B IWALD , Von Helden (Anm. 3), S. 626. Zusätzlich gab es hier ungefähr 350.000 verwundete Kriegsgefangene. 10 Für Deutschland vgl. den Hinweis bei A STRID S TÖLZLE , Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg. Das Pflegepersonal der freiwilligen Krankenpflege in den Etappen des Deutschen Kaiserreichs, Stuttgart 2013, S. 120, wo erwähnt wird, dass im dritten Kriegsjahr 140 Pfleger und 90 Pflegerinnen gezählt wurden, die »in der Pflichterfüllung ihres Dienstes« in den Lazaretten gestorben waren. <?page no="292"?> K R IE GS KR ANKENP F LE GE RINNEN IM E R S TEN W ELTKR IE G AL S B RÜCKE ZU R R EGION 293 Das können einige Zahlen veranschaulichen, etwa für Großbritannien, wo »military nursing« in der zum Mythos gewordenen Arbeit von Florence Nightingale in den gerade erwähnten Krimkriegen eine besonders wirkmächtige Tradition hatte. Daher standen hier schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs als Teil des 1909 gegründeten ›Voluntary Aid Detachment‹ (VAD) insgesamt 47.197 diplomierte Krankenschwestern zur Verfügung, deren Zahl bis 1920 auf 82.857 anstieg; 11 daneben gab es in Großbritannien u. a. mehr als 23.500 im Rahmen des ›Queen Alexandra’s Imperial Military Nursing Service‹ und der ›Territorial Force Nursing Services‹ tätige Frauen. 12 Einer anderen Angabe zufolge sollen es 120.000 professionelle Krankenschwestern oder Hilfsschwestern gewesen sein, die 1918 für Großbritannien arbeiteten; eine ebensolche Schätzung findet sich für Frankreich. 13 Zudem kamen im Laufe des Krieges rund 2.500 Schwestern oder Pflegerinnen aus Australien und 650 aus Neuseeland 14 sowie 25.000 Frauen aus den USA nach Europa, 15 um hier in der Kriegskrankenpflege tätig zu werden. Für das Deutsche Reich wiederum führt die einschlägige Literatur unterschiedliche Zahlen für all jene Frauen an, die dort unter dem Dach geistlicher wie weltlicher Organisationen - vom Roten Kreuz über die Malteser und den Deutschen Ritterorden bis hin zu den Diakonissen - gearbeitet haben; zu Kriegsende sollen rund 112.000 (Hilfs-)Schwestern im Einsatz gewesen sein. 16 In Österreich-Ungarn war es im Vergleich zu anderen Staaten erst spät, das heißt im Prinzip erst nach den Balkankriegen 1912/ 13 zur staatlich umfassend und 11 S. D AS , Touch and Intimacy (Anm. 2), S. 185. 12 S. R. G RAYZEL , Women and the First World War (Anm. 4), S. 39. 13 Angaben der Ausstellung zu Gender & War 1914-18 im Belvue Museum in Brüssel 2015, mit Verweis auf J AY W INTER / A NETTE B ECKER , La Première Guerre Mondiale, Vol. 3 (Sociétés) 2014, S. 153f.; J ANET S. K. W ATSON , Wars in the Wards: The Social Construction of Medical Work in the First World War Britain, in: Journal of British Studies 41/ 4 (2002), S. 484-510, hier 510. Für Frankreich differenzierter auch M ARGARET H. D ARROW , French Women and The First World War. War Stories of the Home Front, Oxford-New York 2000, S. 140f., 163, mit der Angabe, dass es hier zur Zeit der stärksten Dichte allein 63.000 bei den drei Zweigen des Roten Kreuzes eingesetzte, voll ausgebildete Krankenschwestern gab, die ab 1916 durch eine neue Kategorie ergänzt wurden; diese zielte insbesondere auf Frauen der Unterschichten, die eigens bezahlt wurden, und umfasste noch einmal rund 30.000 neue Schwestern. 14 S. R. G RAYZEL , Women and the First World War (Anm. 4), S. 39. 15 M. R. H IGONNET (Hg.), Nurses at the Front (Anm. 2), S. viii. 16 Vgl. R EGINA S CHULTE , Die Schwester des kranken Kriegers. Verwundetenpflege im Ersten Weltkrieg, in: D IES ., Die verkehrte Welt des Krieges. Studien zu Geschlecht, Religion und Tod, Frankfurt-New York 1998, S. 95-126, hier 99, wo sich eine niedrigere Gesamtzahl von insgesamt 92.000 Frauen (zwei Fünftel des gesamten Sanitätsapparats) findet; sowie A. S TÖLZLE , Kriegskrankenpflege (Anm. 10), S. 19, mit der höheren Zahl von insgesamt 112.000 Schwestern und Helferinnen für die Zeit des Kriegsendes. <?page no="293"?> C HRI S TA H ÄMMER LE 294 einheitlich geregelten Ausbildung weiblicher Pflegerinnen - und damit auch von potentiellen Kriegskrankenschwestern - gekommen. Vorher gab es nur vereinzelte Einrichtungen, die sich dem historisch neuen Frauenberuf widmeten, 17 wie die 1874 gegründete, nur sieben Jahre währende Krankenpflegeschule in Prag 18 oder die erste private Krankenpflegerinnenschule im Wiener Rudolfinerhaus seit 1882 19 und eine von 1909 bis 1913 bestehende einjährige Pflegerinnenschule im städtischen Krankenhaus in Graz. 20 Erst ab 1913 erfolgte ein solcher Aufbau auch im Allgemeinen Krankenhaus in Wien und seitens des Roten Kreuzes als der größten freiwilligen Hilfsorganisation. 21 Und erst im Juni 1914 regelte ein Ministerialerlass übergreifend für das ganze damalige Österreich die auf zwei Ausbildungsjahre (ein Lehr- und ein Probejahr) angelegte berufsmässige Krankenpflege der Frauen - explizit auch für den Fall eines Krieges, der damals schon von vielen erwartet wurde. Entsprechend hieß es im Paragraph 11 der Verordnung des Ministers des Innern vom 25. Juni 1914: Den diplomierten Krankenpflegerinnen ist freigestellt, bei der politischen Behörde schriftlich das Gelöbnis abzulegen, daß sie sich innerhalb einer bestimmten Zeit von wenigstens drei Jahren im Kriege dem militärischen Sanitätsdienste […] zur Verfügung stellen und bei Versehung dieser Dienste den Befehlen der Militärbehörde […] unterwerfen wollen. Im Gegenzug sollten die betreffenden Frauen das Recht bekommen, während der Zeit des aufrechten Gelöbnisses die von der politischen Landesbehörde auszustellende Ehrendekoration für diplomierte Krankenpflegerinnen zu tragen. Außerdem stand ihnen im aus ihrer Verpflichtung resultierenden Einsatz Verpflegung, Unterkunft, Reisekosten und - soweit nicht der Fortbezug des bisherigen Gehaltes sichergestellt ist - eine Bargeldentlohnung zu. 22 17 Vgl. auch B IRGIT B OLOGNESE -L EUCHTENMÜLLER , Imagination »Schwester«. Zur Entwicklung des Berufsbildes der Krankenschwester in Österreich seit dem 19. Jahrhundert, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenchaft 8/ 1 (1997), S. 155-177. 18 Vgl. I LSEMARIE W ALTER , Zur Entstehung der beruflichen Krankenpflege in Österreich, in: Historicum, Frühling 2003, S. 22-29, hier 25. 19 Vgl. v. a. E LISABETH M ALLEIER , Ju ̈ dische Krankenpflegerinnen im Rudolfinerhaus 1882-1906. Eine In(tro)spektion, in: E LISABETH S EIDL / I LSEMARIE W ALTER (Hg.), Ru ̈ ckblicke fu ̈ r die Zukunft. Beiträge zur historischen Pflegeforschung, Wien 1998, S. 180-207. 20 E LKE H AMMER -L UZA , »An den Schmerzenslagern unserer verwundeten Krieger.« Die Krankenschwester im Ersten Weltkrieg - Ideal und Realität, in: J OSEF R IEGLER (Hg.), »Ihr lebt in einer großen Zeit …« Propaganda und Wirklichkeit im Ersten Weltkrieg, Graz 1914, S. 171-186, hier 174. 21 I. W ALTER , Zur Entstehung (Anm. 18), S. 26; sowie D IES ./ E LISABETH S EIDL / V LASTI - MIL K OZON (Hg.), Wider die Geschichtslosigkeit der Pflege, Wien 2004. 22 Reichsgesetzblatt für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder. LX. Stück. Nr. 139 - Ausgegeben und versendet am 2. Juli 1914, §§ 11-13. Das in der Beilage I zu diesem Gesetz abgedruckte Gelöbnis galt zudem für den Fall von Epidemien sowie bei sonstigem Auftreten von Krankheiten in großem Umfange. Vgl. auch E. H AMMER -L UZA , »An den <?page no="294"?> K R IE GS KR ANKENP F LE GE RINNEN IM E R S TEN W ELTKR IE G AL S B RÜCKE ZU R R EGION 295 Solche Maßnahmen in Richtung einer Militarisierung des Berufs der Krankenpflegerin konnten jedoch nicht mehr verhindern, dass es kurz darauf, als der Erste Weltkrieg tatsächlich ausbrach, in Österreich-Ungarn noch einen eklatanten Mangel an diplomierten Schwestern gab, der nur durch die zusätzliche Anwerbung ausländischer Frauen und rasch organisierte (Hilfs-)Pflegerinnenkurse etwas abgemildert werden konnte. 23 Daneben wurde nun auch eine zweite Entwicklung schlagend, die ebenfalls ins späte 19. Jahrhundert zurückgeht. Sie war vom nach dem Krieg gegen Preußen 1866 institutionalisierten ›Patriotischen Frauenhilfsverein des Roten Kreuzes‹ vorangetrieben worden, der in den Jahren vor 1914 in vielen Regionen der Monarchie damit begonnen hatte, Krankenpflegekurse für Frauen anzubieten - ebenfalls mit dem Fokus auf die Eventualität eines Krieges. Zumindest ein Teil dieser Frauen verpflichtete sich daher nach der Absolvierung eines solchen Kurses dazu, in diesem Fall zur Verfügung zu stehen - was auch zu jenen Prozessen der sozialen Militarisierung gehört, welche die Katastrophenjahre von 1914/ 18 gewissermaßen vorbereiteten. 24 Davon betroffen war auch Agathe Fessler aus Bregenz, geboren 1870, die von Meinrad Pichler in die Forschung eingeführte Begründerin der modernen Sozialarbeit in Vorarlberg, 25 deren Beispiel im Folgenden ausführlich behandelt werden wird. Als alleinstehende Frau hatte sie 1905 nach Schweizer Vorbild und mit eigenen Finanzen aus dem Erbe ihrer damals noch lebenden Eltern das katholische Marien- Schmerzenslagern« (Anm. 20), S. 174; G ABRIELE D ORFFNER / V LASTIMIR K OZON , Meilenstein oder Notlösung? Die »Verordnung des Ministeriums des Innern vom 25. Juni 1914, betreffend die berufsmäßige Krankenpflege«, in: I. W ALTER / E. S EIDL / V. K OZON , Geschichtslosigkeit der Pflege (Anm. 21), S. 45-66, hier 53. 23 Laut E. H AMMER -L UZA , »An den Schmerzenslagern« (Anm. 20), S. 175, waren dies sechsmonatige, aber auch nur sechswöchige Kurse. 24 Vgl. das Beispiel der Einrichtung solcher vom ›Landes- und Frauen-Hilfsverein vom Roten Kreuz fu ̈ r Steiermark‹ initiierten Kurse ab 1909, dargelegt in der umfassenden regionalgeschichtlichen Analyse von H EIDRUN Z ETTELBAUER , Sich der Nation verschreiben. Politiken von Geschlecht und nationaler Zugehörigkeit in autobiographischen Selbsterzählungen völkischer Akteurinnen, unveröff. Habilitationsschrift, Graz 2016, S. 158-165 (Kapitel »Militarisierung der Zivilgesellschaft. Geschlechtsspezifische Mobilisierung und Kriegsfürsorge«). Allgemeiner zur Entstehung und Geschichte der patriotischen Frauenhilfsvereine vgl. auch D ANIELA A NGETTER , »Durch die Kraft der Menschlichkeit das Schicksal der Verwundeten und Erkrankten lindern«. Die Frauenhilfsvereine des Roten Kreuzes in Österreich, in: W OLFGANG U. E CKART / P HILLIP O STEN (Hg.), Schlachtschrecken, Konventionen. Das Rote Kreuz und die Erfindung der Menschlichkeit im Kriege, Freiburg 2011, S. 122-152. 25 Vgl. M EINRAD P ICHLER , Selbstverwirklichung im Dienst an Anderen. Leben und Werk der Bregenzer Sozialarbeiterin Agathe Fessler (1870-1941), in: D ERS ., Quergänge, Vorarlberger Geschichte in Lebensläufen, Hohenems 2007, S. 160-187; sowie den Nachlass von Agathe Fessler im Stadtarchiv Bregenz. <?page no="295"?> C HRI S TA H ÄMMER LE 296 heim für unversorgte oder stellenlose Dienstmädchen und Fabrikarbeiterinnen eröffnet, 26 wo seit 1907 Sanitätskurse abgehalten wurden. Dass Agathe Fessler diese auch selbst absolvierte, thematisierte sie interessanterweise nicht in ihren kurz nach dem Krieg im Selbstverlag veröffentlichten Kriegserinnerungen, 27 sondern nur in den zeitnäher entstandenen diaristischen Aufzeichnungen. 28 In ihren eigenen Worten war das ein Heftchen, das eigentlich nur Notizen über das Heim gewidmet [ist] 29 - doch brach der Krieg, wie wir sehen werden, auch in dieses Schreiben ein. Im Rückblick auf das Jahr 1913 hielt sie darin fest: Wieder ist ein gut besuchter Sanitätskurs abgehalten worden. Habe selbst alle mitgemacht und mich selbst dem rothen Kreuze verpflichtet für den Kriegsfall. Gott bewahre uns davor. Es sind die Sturmeszeichen gar viele. 30 Und in Hinblick auf das Geschehen im Sommer 1914, als Agathe Fessler zudem mit der im Jahr zuvor begonnenen Brockensammlung beziehungsweise einem neu eröffneten und konzessionierten Brockenhaus 31 beschäftigt war, heißt es hier: 26 Vgl. StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler: handschriftliches Manuskript [ohne Angabe des Verfassers] zu ihrem Lebenslauf und Wirken, S. 2, wo festgehalten ist, dass das Marienheim am 18.10.1905 als humanitäre Anlage eingetragen und am 2.12. desselben Jahres eröffnet wurde; zur Betreuung stellten die Barmherzigen Schwestern des Ordenshauses Zams zwei Schwestern ab. Ab 1912 war es in der Gerberstraße 2 untergebracht. 27 A GATHE F ESSLER , Aus der Mappe einer ehemaligen Armeeschwester 1914-1918. Selbsterlebtes schlicht und wahrheitsgetreu erzählt von A. F., im Selbstverlag, Bregenz o. J. (1919), Manuskript, 64 Seiten. 28 Dieses heute im Stadtarchiv Bregenz zugängliche ›Tagebuch‹ ist nicht in Tageseinheiten strukturiert, sondern chronikartig, dem Ablauf der Jahre folgend angelegt; oft hat Agathe Fessler darin im Rückblick auf ein Jahr die wichtigsten Ereignisse rund um das Marienheim festgehalten. Das eher gleichbleibende Schriftbild lässt vermuten, dass die Aufzeichnungen in dieses Heft übertragen wurden. Die Quelle ist aber damit durchaus repräsentativ dafür, dass diaristische Aufzeichnungen oft Mischformen zwischen den Genres Tagebuch und Autobiografie darstellen oder zwischen anderen Formen des rückblickenden autobiografischen Erzählens, wie der Jahreschronik, fluktuieren. Vgl. dazu, am Beispiel von Frauen- und Mädchentagebüchern: C HRISTA H ÄMMERLE / L I G ERHALTER , Tagebuch - Geschlecht - Genre im 19. und 20. Jahrhundert, in: L I G ERHALTER / C HRISTA H ÄMMERLE (Hg.), Krieg - Politik - Schreiben. Tagebücher von Frauen (1918-1950), Wien u. a. 2015, S. 7-31. 29 StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, Tagebuch, S. 24. Vor allem Groß- oder Kleinschreibung, Interpunktion und mitunter auch Ortsangaben sind in diesen Aufzeichnungen oft beliebig gesetzt; der besseren Lesbarkeit halber wird diesbezüglich hier und in den folgenden Zitaten vereinheitlicht. 30 StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, Tagebuch, S. 16. Die erstmalige Erwähnung für 1907 findet sich ebd., S. 7: Im Heim wurde vom rothen Kreuz für die Mädchen ein Sanitätskurs veranstaltet […]. Und für 1909 heißt es eda., S. 9: Die Sanitätsprüfung erziehlte guten Erfolg. 31 Das ist eine Art Trödelladen, dessen Erlös (aus gesammelten Gegenständen, aus Versteigerungen) an Bedürftige geht. Vgl. zur Gründung und Einrichtung in ihrem Elternhaus im Jahr 1913 auch StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, Tagebuch, S. 15f., sowie HS-Manuskript, ebd., S. 3f. <?page no="296"?> K R IE GS KR ANKENP F LE GE RINNEN IM E R S TEN W ELTKR IE G AL S B RÜCKE ZU R R EGION 297 29 Juni Peter u. Paul Ermordung des Thronfolgerpaares in Serajevo [sic]. Ich fürchtete, wir werden unsere Sanitätskenntnisse jetzt brauchen sagte ich gelegentlich einer Begegnung des Leiters des Kurses: wird nicht so schlimm werden, entgegnet Er optimistisch. 32 Das sollte sich nicht bewahrheiten und sehr rasch wurden auch unzählige Frauen dringend benötigt. Viele von ihnen engagierten sich mit Kriegsbeginn einsetzend freiwillig in der »Frauenkriegshilfe«, 33 an der sich zunächst auch Agathe Fessler beteiligte. Sie wirkte einige Wochen lang in lokalen Initiativen für das Rote Kreuz und die Flüchtlingsfürsorge, die sie zusammen mit anderen Frauen sowohl im Marienheim als auch im Brockenhaus und an anderen Orten der Stadt Bregenz mitorganisierte und -betreute: 34 1. August v. Serbien Kriegserklärung unbeschreibliche Aufregung. Es folgen weitere v Rußland, Frankreich England. […] Mein erster Gedanke ist, die Verpflichtung dem rothen Kreuz. Der Ruf des Vaterlandes, dem jetzt alles gilt. […] Im Heim richtet die Frau des Hr Bezirkshauptmanns Gräfin Thun eine Nähstube v. rothen Kreuz ein, worin arbeitslose Mädchen Wäsche für Reservespitäler nähen, welche in fieberhafter Eile vom rothen Kreuz errichtet werden. Das Asyl im Brokenhaus nimmt die erschöpften Flüchtlinge auf. Es kommen v. Deutschland über 1 Million ausgewiesener Östreicher, Südtiroler u. Italienfamilien. Fr. Gräfin Thun richtet einen Bahnhofsdienst ein […]. Erschöpfte Mütter u. Kinder nehme ich heim auf einige Tage. 35 Doch schon Mitte Oktober 1914 wurde Agathe Fessler selbst vom Roten Kreuz einberufen und zog in den Krieg: Denn am Tag der Sammlung [für die Flüchtlingshilfe, C. H.], kam Einberufung zu Sanitätsdienst an die Front v. Galizien. 36 Damit gehört auch diese Bregenzerin zu jenen Frauen, die für Österreich-Ungarn Kriegskrankenpflege leisteten. Deren Geschichte ist im Unterschied zu jener in anderen damals kriegsführenden Staaten noch immer denkbar schlecht untersucht. Es fehlt vor allem Grundlagenforschung beziehungsweise eine über vereinzelte Detailstudien hinausreichende Zusammenschau, sodass wir auch über keine verlässlichen Zah- 32 StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, Tagebuch, S. 17f. Das Attentat in Sarajewo war am 28. Juni 1914. 33 Vgl. etwa C HRISTA H ÄMMERLE , Die »Frauenhilfsaktion im Kriege«. Weibliche (Selbst-) Mobilisierung und die Wiener Arbeitsstuben, in: D IES ., Heimat/ Front (Anm. 2), S. 85-103, 230-237 (Anmerkungen); für Linz G ABRIELLA H AUCH , Frauen. Leben. Linz. Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Linz 2013, S. 114-147; für Tirol G UNDA B ARTH -S CALMANI , Frauen, in: H. J. W. K UPRIAN / O. Ü BEREGGER (Hg.), Katastrophenjahre (Anm. 5), 98-101; für Vorarlberg M EINRAD P ICHLER , Das Land Vorarlberg 1861 bis 2015, Innsbruck 2015, S. 135-127; sowie weitere Literaturangaben zu anderen Regionen in C. H ÄMMERLE , Traditionen (Anm. 4), S. 28-30. 34 Wie vielerorts waren diesbezüglich auch in Bregenz adelige Frauen bzw. die Ehefrauen örtlicher Honoratioren sehr aktiv. 35 StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, Tagebuch, S. 18f. 36 StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, Tagebuch, S. 20. Sie reiste am 18. Oktober 1914 als Rotkreuz-Hilfsschwester aus Bregenz ab. <?page no="297"?> C HRI S TA H ÄMMER LE 298 lenangaben verfügen. Es müssen aber in der Habsburgermonarchie - davon ist auszugehen - ebenfalls zehntausende Frauen gewesen sein, die aus verschiedenen Regionen der Monarchie stammten, oder auch aus Deutschland und der Schweiz, da besonders in der ersten Kriegszeit ein großer Mangel an ausgebildeten Schwestern herrschte. 37 Diesem stand wie in anderen Ländern eine ausgesprochen hohe Bereitschaft vieler Frauen gegenüber, sich gerade der Verwundetenpflege zu widmen - was im öffentlichen Diskurs als Äquivalent zur männlichen Soldatenpflicht gewertet und entsprechend idealisiert wurde. In einer international vergleichenden Studie hat Christine E. Hallett daher davon gesprochen, dass die Kriegskrankenpflegerinnen, deren Zahl und Bedeutung sich dann im Zweiten Weltkrieg noch steigerte, zu einer »ikonischen Figur des 20. Jahrhunderts« wurden. 38 Obwohl der Ruf dieser Frauen gleichzeitig auch zwiespältig war, 39 förderte eine solche mit der angeblichen ›Natur der Frau‹ argumentierende Popularität die Bereitschaft, als Schwester oder Hilfspflegerin zu dienen, und zahlreiche Frauen meldeten sich auch freiwillig zum Einsatz an verschiedensten Orten. Vor allem ledige, aber durchaus auch verheiratete Frauen 40 arbeiteten dabei oft mehr oder weniger weit weg von ihrer engeren Heimat und reisten ungemein viel herum. Sie waren auch in Österreich-Ungarn nicht nur in Spitälern oder Lazaretten des ›Hinterlandes‹, sondern im Prinzip an allen Kriegsschauplätzen eingesetzt: an der Westwie an der Südwest- und der Ostfront beziehungsweise in Galizien und der Bukowina, in Serbien, Bulgarien, 37 Aus Deutschland sollen laut A. S TÖLZLE , Kriegskrankenpflege (Anm. 10), S. 199, rund 2.000 Schwestern in österreichisch-ungarischem ›Heeresdienst‹ gestanden sein. Aus der deutschsprachigen Ostschweiz kamen bis 1916, als Österreich-Ungarn allmählich genügend eigene Pflegerinnen verfügte, zudem rund 200 Schwestern; vgl. S ABINE B RAUNSCHWEIG , »Ohne Unterschied jedem verwundeten Krieger helfen«. Schweizer Krankenpflegerinnen in ausländischen Militärspitälern im Ersten Weltkrieg, in: D IES . (Hg.), »Als habe es die Frauen nicht gegeben«. Beiträge zur Frauen- und Geschlechtergeschichte, Zürich 2014, S. 145- 160, hier 151. 38 C. E. H ALLETT , Containing Trauma (Anm. 2), S. 1. 39 Das galt vor allem für jene Pflegerinnen, die fernab der Heimat dienten. Vgl. für Frankreich die Ausführungen von M. H. D ARROW , French Women and The First World War (Anm. 13), S. 133-168, bes. 142-151, wo die janusköpfige Dichotomie zwischen dem idealisierten Bild des mütterlichen, fürsorgenden, sich aufopfernden, religiösen oder sogar nonnenhaft agierenden ›weißen Engels‹ auf der einen Seite, und dem stark sexualisierten Bild der ›falschen‹, ›mondänen‹, abenteuerlustigen und unmoralischen Krankenschwester hervorgehoben wird. Vgl. auch C HRISTA H ÄMMERLE , Counter-Narratives of the Great War? War Accounts of Nurses in Austro-Hungarian Service, in: Inside World War One? The First World War and its Witnesses, ed. by R ICHARD B ESSEL / D OROTHEE W IERLING (erscheint bei Oxford University Press). 40 Als ein Beispiel dafür vgl. Ein Frauenschicksal im Kriege. Briefe und Tagebuch-Aufzeichnungen von Schwester Maria Sonnenthal-Scherer. Eingeleitet und nach den Handschriften herausgegeben von H ERMINE VON S ONNENTHAL , Berlin-Wien 1919. <?page no="298"?> K R IE GS KR ANKENP F LE GE RINNEN IM E R S TEN W ELTKR IE G AL S B RÜCKE ZU R R EGION 299 Rumänien und sogar in Ländern des Nahen Ostens. Allerorts wurden sie in mobilen wie stationären Feldspitälern, auf Sanitätszügen und -schiffen ebenso wie in den vielen Epidemiespitälern stationiert - wobei die Einsatzorte im Verlauf der Kriegsbiografie dieser Frauen oft abwechselten, wie wir noch sehen werden. Sie konnten sich auch melden, um versetzt zu werden, und ein Teil von ihnen hatte Verträge, die für einen längeren Zeitraum oder sogar über die ganze Zeit des Krieges hindurch verpflichteten. Alles in allem war das weibliche Sanitätspersonal demnach sehr heterogen zusammengesetzt. Es gab zahlreiche Unterschiede, etwa in Hinblick auf die zu Kriegsbeginn nur sehr beschränkt verfügbaren diplomierten Schwestern einerseits, und den in wenigen Kursmonaten oder -wochen eilig mit den wichtigsten Kenntnissen vertraut gemachten Pflegerinnen andererseits. Große Differenzen bestanden zudem, abgesehen von der Relevanz der ethnischen Herkunft, zwischen Frauen, die unbezahlt im karitativen Einsatz waren, was vor allem bei aus dem Adel 41 und dem lokalen Bürgertum stammenden Pflegerinnen sowie den vielen von ihrem Orden zur Kriegskrankenpflege abgestellten geistlichen Schwestern der Fall war, und jenen, die für ihre Arbeit - wenn auch wiederum unterschiedlich - bezahlt wurden. Sie waren teilweise mit verschieden langer Verpflichtung als ›Armeeschwester‹ angestellt, wie nach einer ersten Phase als Hilfskrankenpflegerin der Österreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuz 42 auch Agathe Fessler oder die junge Schweizerin Marie Pöll-Naepflin, deren Aufzeichnungen über ihren vierjährigen Kriegsdienst für Österreich-Ungarn im Folgenden ebenfalls etwas genauer vorgestellt werden. 43 Die Kriegsbiografien dieser zwei Schwestern stehen dabei auch für jene große Gruppe vorwiegend lediger Frauen, die fern ihrer Heimat im Einsatz waren und dort, nach der Definition von Margaret Higonett, auch »frontline nursing« 44 betrieben. Dadurch waren sie oft unmittelbar mit den so zerstörerischen Folgen des industrialisierten Massenkriegs, des Gemetzels, Tötens und Sterbens konfrontiert, das sie an verschiedenen Einsatzorten nahe der Kampflinien erleben mussten - mit allen 41 Besonders die freiwillige Pflegearbeit von Repräsentantinnen des höheren Adels in den Sanitätsanstalten des ›Hinterlandes‹ wurde publikumswirksam inszeniert. 42 Vgl. ihre Legitimations-Karte, ausgestellt am 23. Oktober 1914, in: StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler. 43 M ARIA P ÖLL -N AEPFLIN , Fortgerungen, durchgedrungen bis zum Kleinod hin! Ein erschütterndes Lebensbild einer Krankenschwester aus der Zeit des großen Krieges, der Revolution und der Arbeitslosigkeit. Einziges Werk einer Schweizer Krankenschwester aus dem Weltkrieg! Konstanz, Selbstverlag der Verfasserin 1934; bzw. die mir vorliegende 3. Auflage von 1935, die um einen Nachtrag: Politische Flucht erweitert wurde. Aus ihr wird im Folgenden zitiert. Erst in einer 4. Auflage 1938 erschien das Buch bei Leopthien in Meiringen. 44 M. R. H IGONNET (Hg.), Nurses at the Front (Anm. 2), S. x; vgl. auch M. H. D ARROW (Anm. 13), French Women, S. 139. <?page no="299"?> C HRI S TA H ÄMMER LE 300 Implikationen, die das in den von daher auch als ›zweites Schlachtfeld‹ bezeichneten dortigen Operations- und Krankensälen, den notdürftig eingerichteten Sanitätsanstalten mit massenweise Schwerstverwundeten bedeutete. 45 In ihren Erinnerungstexten haben Agathe Fessler und Maria Pöll-Naepflin nicht zuletzt davon berichtet. 3. ›Landsmannschaft‹ im Chaos des Krieges Wenden wir uns damit wieder jener Scharnierfunktion vieler Kriegskrankenpflegerinnen zu, die nun weiter veranschaulicht werden soll. Dass sie gewissermaßen zwischen ›Heimat‹ und ›Front‹ standen und in diesem Spannungsverhältnis unterschiedlicher Welten nicht nur mitunter schwer zu verarbeitende Kriegserfahrungen machten, sondern gleichzeitig zu vermitteln suchten, kann das Beispiel der Bregenzerin Agathe Fessler gut veranschaulichen. Sie war zuerst - ihren im Eigenverlag veröffentlichten Kriegserinnerungen zufolge - für die Tiroler Rote Kreuz-Kolonne bestimmt, die sie aber nach ihrer Ankunft im polnisch-galizischen Rzeszów zunächst nicht benötigte. Daraufhin wurden sie und ihre Mitreisende von der Feldabteilung 3/ 6 mit ungarischem Kommando engagiert, wo ebenfalls - wie sie betonte - einige Leute und Schwestern von der verteilten Tiroler Kolonne arbeiteten. 46 Schon nach kurzer Zeit musste jedoch das dortige Sanitätspersonal zusammen mit den Verwundeten des Feldspitals vor den vorrückenden Russen flüchten, was das erste besonders eindringliche Kriegserlebnis war, das Agathe Fessler in ihren Aufzeichnungen beschrieb; in ihrem Nachlass ist diesbezüglich sogar von ihrer Feuertaufe 47 die Rede. Ein letzter am Bahnhof abfahrender Zug brachte sie, schon begleitet von russischen Kugeln, 48 zunächst nach Oderberg/ Bogumín und dann zurück nach Skawina 45 Der Begriff des ›second battlefield‹ für das, was Chirurgen bzw. Ärzte wie Sanitäter und (Hilfs-)Schwestern in den mobilen Sanitätseinrichtungen nahe der Frontlinien erleben mussten, wurde in die anglo-amerikanische Forschung von A. K. S MITH , The second battlefield (Anm. 2) und M. R. H IGONNET (Hg.), Nurses at the Front (Anm. 2) eingeführt. Dort führten sie einen schier unaufhörlichen Kampf wegen die ›wahren Feinde‹ (»real enemies«) Tod und Schmerz und standen dabei allzu oft auf verlorenem Posten. Die Originalformulierung stammt von Mary Borden, aus Chicago stammend, die mit eigenem Geld ein mobiles chirurgisches Feldlazarett an der Westfront finanzierte und dort ab 1915 als Rotkreuzschwester arbeitete. Zu ihrer Publikation ›The Forbidden Zone‹ von 1929, in der sie im Text ›Blind‹ vom »second battlefield« schrieb, vgl. S. D AS , Touch (Anm. 2), S. 187, 204; M. R. H IGONNET (Hg.), Nurses at the Front (Anm. 2), S. vii-xxxviii, 79-161 (Reprint), Zitat 152: I thought: ›This is the second battlefield. The battle now is going on over the helpless bodies of these men. It is we who are doing the fighting now, with their real enemies.‹ 46 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 4. 47 StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, HS-Manuskript, S. 4. 48 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 8. <?page no="300"?> K R IE GS KR ANKENP F LE GE RINNEN IM E R S TEN W ELTKR IE G AL S B RÜCKE ZU R R EGION 301 im Umland von Krakau/ Kraków, wo sie eine Zeitlang am Bahnhof im Einsatz war. Der große Verwundetenandrang 49 dort sprengte jedoch rasch die Kapazitäten des Lazarettzuges, sodass Ersatzlager gefunden werden mussten. Das Feldleben 50 gestaltete sich daher schwierig, unter anderem musste Agathe Fessler mitansehen, dass an Kampftruppen vor deren Einsatz massenhaft Alkohol ausgegeben wurde: Gift, pures Gift gibt das Vaterland seinen Söhnen! Betäubung, daß sie blindlings in den Kugelregen stürmen. Die folgende Nacht war so grauenhaft, daß die Hölle nichts schrecklicheres bieten kann. Wieviele arme Menschen mit Nervenchock waren am Morgen am Hilfsplatz! 51 Wenig später reiste Agathe Fessler erstmals für eine kurze Zeit zurück in die Heimat, auch um bis Innsbruck eine kranke Mitschwester zu begleiten. Der Chefarzt hatte ihr zudem einen Brief an seine Schwiegermutter mitgegeben, die als Flüchtling in Lindau Unterkunft gefunden 52 hatte. Schon nach drei Tagen daheim ging es aber wieder zurück, unter anderem mit dem Kanonenzug der 30,5, der von Wien aus die Strecke fuhr. 53 Am Zielort wurde sie im k. u. k . Reservespital in Bielitz/ Bielsko, wohin die Verwundeten der Karpatenschlachten kamen, von der Chirurgengruppe Haberer und Eiselberg als nunmehr bezahlte ›Armeeschwester‹ engagiert und arbeitete nicht nur Tag für Tag, sondern oft auch in der Nacht bis zur äußersten Erschöpfung. Nach langen Wochen im Einsatz und einer sehr schlimmen Nachtwache, als ihr zum Sterben elend wurde, 54 erlitt Agathe Fessler einen Zusammenbruch und reiste daraufhin zum Krankenurlaub in die Heimat, um sich zu erholen und im Anschluss daran eine Zeitlang dort zu wirken. 55 Danach folgte erneut der Dienst in Galizien mit seinen weitgehend zerstörten Kasernen, Dörfern, Städten und Bahnhöfen; [e]in Ort der Schrecken 56 also, an dem die ›Feinde‹ in Form von unheimlichen surrenden schwarzen ›Raben‹ 57 mitunter sogar aus der Luft angriffen - und so wiederum auch das Sanitätspersonal bedrohten. Von Rzeszów ging es nach Kraśnik, dann kurz nach Trient und wieder nach Rzeszów 49 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 12. 50 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 12 51 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 13. 52 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 14. 53 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 14. 54 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 27. 55 Das wird in den Aufzeichnungen von A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 29, nur sehr kurz angesprochen, länger aber im Tagebuch, StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, thematisiert. Vgl. auch im Nachlass das Zeugnis des k. u. k. Reservespitals Bielitz, welches bestätigt, dass Agathe Fessler dort vom 17.12.1914 bis 10.4.1915 eingeteilt war, sowie HS-Manuskript, ebd., S. 5. 56 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 29. 57 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 32. <?page no="301"?> C HRI S TA H ÄMMER LE 302 und schließlich, nach einem offenbar längeren Heimataufenthalt, 58 nach Caracal in Rumänien, in das dortige Infektionsspital, wo Agathe Fessler Oberschwester wurde und erstmals keine Frontstelle 59 innehatte, wie sie selbst es definierte. 60 Erst gegen Ende des Krieges, nach dem Frieden von Bukarest vom 7. Mai 1918, wechselte sie über Wien und nach einigen Tagen in Bregenz erneut ins Frontgebiet gegen Italien, wohin sie ihrer Erinnerung zufolge mit der Begründung wollte, daß ich mich müßig sehr unglücklich fühle und ich lieber zu unseren Leuten an die Südfront ginge. 61 Aufgrund des Rückzugs der 11. Armee im Zuge der sich abzeichnenden Niederlage Österreich- Ungarns erlebte Agathe Fessler daraufhin das Kriegsende in einem Lazarett in Gossensaß am Brenner, wo sie mit einigen Mitschwestern und Patienten bis zur Besetzung durch italienische Truppen ausharrte. Wundert es angesichts einer solchen Kriegsbiografie, dass diese Krankenpflegerin für Menschen ihrer Heimat auch als Ansprechperson fungierte, um eine Brücke in die so fernen, so unüberwindbar scheinenden Räume zu schlagen, wo Soldaten litten, verletzt und getötet wurden? Wo vielleicht doch ein Grabkreuz von einem gefallenen oder an einer Kriegsseuche verstorbenen ›Landsmann‹ zu finden war? Wie in einem nur im Tagebuch von Agathe Fessler ausführlicher festgehaltenen Fall, dem zufolge sie vom Bezirkshauptmann Graf Thun in Bregenz gebeten wurde, in einer Gegend bei Gorlice nach dem Grab seines Kammerdieners zu suchen - was sie umgehend tat, auch um seinen Angehörigen getrocknete Blätter und Blumen von dort mitzubringen: 2 St. war Aufenthalt, den ich bei strömendem Regen benutzte, den Friedhof zu besuchen, in der zweitletzten Reihe fand ich seine Ruhestätte, an einer Blechtafel am Birkenkreuz ist zu lesen: Adolf Nagler v. Rieden b. Bregenz gestorben an Bauchtyphus 11. Mai 1915. Pflückte dann einige Blätter u. wilde Blumen, legte sie ins Buch für Seine Mutter u. Lieben in der Heimat. 62 Aus den Quellen wird auch ersichtlich, dass die fernab eingesetzten Kriegskrankenpflegerinnen - ähnlich wie viele Soldaten - ein Zusammensein mit Mitschwestern, Sanitätsgruppen, Ärzten und Pflegern bevorzugten, die aus derselben Region kamen oder zumindest deutschsprachig waren. Das ist tendenziell auch bei Agathe Fessler der Fall, die solche Begegnungen oder Arbeitskontexte mitunter eigens hervorhebt, wie in Bezug auf ihre erste Zeit in Galizien, als sie erwähnt, dass unter den 1.400 Verwundeten und Kranken der übervollen Station in Rzeszów auch einige 58 Vgl. v. a. StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, HS-Manuskript, S. 5f. Hier ist davon die Rede, dass A. Fessler im Einsatz in Tarnów und sogar für wenige Wochen in Trient war. 59 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 38. 60 Laut einem Zeugnis im StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, ausgestellt vom k. u. k. Feldspital Nr. 1411, war sie im rumänischen Caracal vom 21.11.1917 bis 5.10.1918 als Oberschwester in Verwendung. 61 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 49. 62 StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, Tagebuch, S. 35. <?page no="302"?> K R IE GS KR ANKENP F LE GE RINNEN IM E R S TEN W ELTKR IE G AL S B RÜCKE ZU R R EGION 303 Vorarlberger [waren] unter anderem der Torflieferant von Lauterach, für das Marienheim. 63 Auch in Bezug auf die Zeit in Bielitz unterstreicht sie, dass unter den Patienten Vorarlberger waren, die natürlich nicht vergessen werden dürfen. 64 Zudem suchte sie nach ihren Heimataufenthalten der ersten zwei Kriegsjahre in Galizien mehrfach die Tiroler Sanitätskolonne. Das alles heißt jedoch nicht, dass sich Agathe Fessler - von einigen antisemitischen Untertönen abgesehen - negativ gegen Angehörige anderer Ethnien oder Religionen beziehungsweise gegen erkrankte oder verwundete und daher von den Schwestern ebenfalls betreute Kriegsgefangene äußerte; ihre Verpflichtung zur Pflege aller Hilfsbedürftigen scheint dieser Frau ein inneres Anliegen gewesen zu sein. Gleichzeitig galt für sie jedoch ein Primat der verbindenden regionalen Herkunft, die in den Sanitätseinrichtungen, aber auch auf den oft langen, beschwerlichen Reisen dorthin immer wieder gesucht und - zumindest vorübergehend - gefunden wurde. Das steht im Spannungsverhältnis zu einer ›globalisierten‹ Kriegserfahrung, die ebenfalls viele Dimensionen hatte: etwa als Erfahrung der Multiethnizität der k. u. k. Armee und ihres Sanitätsapparats sowie ihrer ›Feinde‹, oder in Hinblick auf das Leben der Bevölkerung in den teilweise okkupierten Gebieten, in denen die (Hilfs-)Schwestern im Einsatz waren. Fesslers Kriegserlebnis ist demnach in einen für Frauen vor Kriegsbeginn alles in allem weit schwierigeren und selteneren Ausbruch aus der Region in überregionale Zusammenhänge und Kontexte einerseits, und den gleichzeitigen, steten Bezug zur Heimat, zur Herkunftsregion andererseits einzuordnen. 65 Noch stärker ausgeprägt finden wir eine Orientierung an ihr vertrauten, aus derselben Region stammenden Kameradinnen bei Maria Pöll-Naepflin, einer anderen Kriegskrankenschwester aus der weiteren Region rund um den Bodensee. Sie stammte aus der deutschsprachigen Schweiz und damit aus einem neutralen Land, was ein maßgeblicher Grund dafür gewesen sein mag. Ihren zunächst im Selbstverlag erschienenen Kriegserinnerungen zufolge, die schon im einleitenden Gedenkwort die Kameradschaftstreue unter den Schweizer Kriegsschwestern 66 betonten, kam Maria Pöll-Naepflin, gerade erst diplomiert und 20 Jahre alt geworden, im Oktober 1914 nach Österreich, zusammen mit elf anderen Schweizerschwestern, von denen sie die Jüngste, das Nesthöckerchen, war; mit allen schloss sie schon auf der Anreise gleich einen Freundschaftsbund. 67 Unterbrochen durch zwei Heimaturlaube und mehrere erschöpfungsbeziehungsweise krankheitsbedingte Ausfälle, arbeitete Maria Pöll- 63 StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, S. 23. 64 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 18. 65 Letzteres gilt selbstverständlich auch für Soldaten. 66 M. P ÖLL -N AEPFLIN , Fortgerungen (Anm. 43), S. 3. 67 M. P ÖLL -N AEPFLIN , Fortgerungen (Anm. 43), S. 11. Maria Pöll-Naepflin wurde im Mai 1894 in Beckenried am Vierwaldstättersee geboren und ist in Wollishofen am Zürchersee aufgewachsen. <?page no="303"?> C HRI S TA H ÄMMER LE 304 Naepflin daraufhin bis zum Ende des Krieges an verschiedenen Orten - von Šabac in Serbien, wo sie ihre Feuerprobe 68 hatte, über Bielitz und Krakau, Belgrad und Kolomyja/ Kolomea bis Pardubice/ Pardubitz, Sofia, Planá/ Plan, Časlau/ Czaslau und sogar Konstantinopel, wo sie sich im Auftrag des Roten Kreuzes ebenfalls kurz aufhielt. Dabei blieben ihre Schweizer Mitschwestern und die Vertretung des Schweizerischen Roten Kreuzes in Österreich, aber auch einige Schweizer Ärzte, die im Einsatz für Österreich-Ungarn waren, wichtige Bezugspersonen, was von ihr immer wieder erwähnt wird. 69 So zum Beispiel im Zuge der Erinnerungen an den erschöpfenden Dienst im Garnisonsspital Bielitz, wo Maria Pöll-Naepflin die erste Kriegsweihnacht verbrachte und schon darauf hoffte, dass das Morden nicht mehr allzulange dauert, unter anderem mit folgenden Überlegungen: Die Soldaten können es nicht länger mehr ertragen. Sie leben wie die Wilden; Entbehrung ist ihr tägliches Brot, Schmutz ihr Kleid, Tod und Wunden ihr Lohn! Auch wir Schwestern hatten schon genug des Elends; das Maß ist voll, wir sehnen uns zurück nach der Heimat. 70 Dessen ungeachtet konnten sie und ihre Schweizer Kolleginnen zusammen mit zwei ebenfalls im Bielitzer Garnisonsspital arbeitenden Ärzten aus ihrer Heimat gemütliche Schweizerabende 71 verbringen, was wohl tröstete und vorübergehende Erleichterung schuf. Jedenfalls vermisste Maria Pöll-Naepflin vor allem diesen Kreis sehr, als sie nach der Erkrankung an Typhus für einige Zeit nach Wien musste, worüber sie unter anderem festhielt: Fern von meinen Schweizer Kolleginnen fühlte ich schrecklich Heimweh […]. 72 Die Heimat scheint in diesen Kriegsmemoiren mehrfach auf. Maria Pöll-Naepflin hatte sie einerseits verlassen, weil [v]on allen kriegsführenden Staaten […] Schweizer Krankenschwestern angeworben [wurden] und sie persönlich Wien besonders lockte, und andererseits - was zentral für ihre Entscheidung gewesen zu sein scheint -, weil ihre Mutter ein Jahr zuvor verstorben war und sie im Erbstreit mit den Brüdern lag. Daher fasste sie den Entschluss, all mein Leid in Arbeit zu ersticken und als Samariterin in den Krieg zu ziehen. 73 Wie schon erwähnt, sollte sie dann vom Oktober 1914 bis Kriegsende zweimal auf Urlaub in die Schweiz fahren; den ersten im Jahr 1916 68 M. P ÖLL -N AEPFLIN , Fortgerungen (Anm. 43), S. 54. 69 Die Schweizer Schwestern waren mit Genehmigung des Schweizerischen Roten Kreuzes von Emmy Oser, der Vizepräsidentin des International Council of Nurses, vermittelt und betreut. In den kriegsführenden Ländern unterstanden sie der nationalen Rotkreuz-Gesellschaft oder mussten von einer anderen zivilen Behörde angestellt werden; vgl. S. B RAUN - SCHWEIG , »Ohne Unterschied« (Anm. 37), S. 150. 70 M. P ÖLL -N AEPFLIN , Fortgerungen (Anm. 43), S. 49f. 71 M. P ÖLL -N AEPFLIN , Fortgerungen (Anm. 43), S. 55. Vgl. auch ebd., S. 151, über Weihnachten 1917 in Wien, wo sie sich nach einem erneuten Zusammenbruch aufhielt: Wir Schwestern feierten mit dem gesamten Schweizer Verein einen schönen Weihnachtsabend […]. 72 M. P ÖLL -N AEPFLIN , Fortgerungen (Anm. 43), S. 60. 73 M. P ÖLL -N AEPFLIN , Fortgerungen(Anm. 43), S. 7f. <?page no="304"?> K R IE GS KR ANKENP F LE GE RINNEN IM E R S TEN W ELTKR IE G AL S B RÜCKE ZU R R EGION 305 benutzten sie und ihre Kameradinnen auch dazu, dort in Absprache mit dem Roten Kreuz ›Liebesgaben‹ zu sammeln, um diese nach Wien mitzubringen. 74 Die Frauen waren erfolgreich und reisten schließlich mit sechs großen Kisten, bepackt mit Hausschuhen, warmer Wäsche, Obst und Gemüse, Schokolade und sogar als Lourdes-Wasser deklariertem Likör, 75 wieder in den Kriegseinsatz. Zwar graute Maria Pöll- Naepflin ihren Erinnerungen zufolge davor, in diese fürchterliche Not zurückzukehren, doch wollte sie, wie sie ebenfalls festgehalten hat, meine Pflicht erfüllen bis zum letzten Augenblick. 76 So wurde die Heimat immer mehr zur der Situation Österreich-Ungarns und all dem Kriegsgräuel entgegengesetzten Welt, womit wohl auch eine Art von Entfremdung einher ging - umso mehr, da ihre Brüder und die Verwandtschaft immer wieder nörgelten, weil sie ihre Berufskenntnisse in fremdem Kriegsdienst verwerten müsse und das Erbteil ins Ausland trage. 77 Und über den Gegensatz zwischen der Schweiz und dem kriegsführenden Nachbarstaat schrieb Pöll-Naepflin unter anderem Folgendes: Krieg und Frieden! Dieser Kontrast wurde augenscheinlich, wenn man damals aus der Innerschweiz nach Oesterreich kam. In Zürich, Luzern, St. Gallen überall geruhiges, ziviles Leben. Ja, man sprach vom Krieg, man las vom Krieg; aber es war doch etwas, was weit weg sein mußte; etwas fuchtbares, das man selbst nicht kannte. Nein, die Schweizer kannten den Krieg nicht, wenigstens nicht jenen Krieg, der aus tausend Wunden blutete, der gesunde Männer zu Krüppel schlug, der stündlich soundso viele Frauen und Kinder zu Witwen und Waisen machte, der das tägliche Brot in kleinere und immer kleinere Rationen teilte, der mit Not und Elend das Volk immer tiefer und tiefer drückte. Gott sei Dank, daß mein Heimatland diesen Krieg nicht kennen lernte, denn Krieg ist etwas furchtbares. Und aus dieser Insel des Friedens kamen wir und betraten in Feldkirch das kriegsdurchwühlte Oesterreich. Armes Land, wir wollen dir helfen; wir verzichten auf Glück und goldenen Verdienst; wir haben jetzt gerastet, nun kommen wir wieder und dienen braven Soldaten, den Kranken und Verwundeten. 78 74 Vgl. zum populären ›Liebesgabenwesen‹ im Ersten Weltkrieg u. a. die einschlägigen Kapitel in: C. H ÄMMERLE , Heimat/ Front (Anm. 2), sowie D IES ., An der ›Schulfront‹. Kindheit - staatlich instrumentalisiert, in: H ANNES S TEKL / C HRISTA H ÄMMERLE / E RNST B RUCKMÜLLER (Hg.), Kindheit und Schule im Ersten Weltkrieg, Wien 2015, S. 112-136. 75 Vgl. M. P ÖLL -N AEPFLIN , Fortgerungen (Anm. 43), S. 117-130 (»Schweizer Liebesgaben«). 76 M. P ÖLL -N AEPFLIN , Fortgerungen (Anm. 43), S. 122. 77 M. P ÖLL -N AEPFLIN , Fortgerungen (Anm. 43), S. 117. In der Tat verbrauchte diese junge Frau im Laufe ihres Kriegseinsatzes alle ihre finanziellen Ressourcen, da die Entlohnung für ihre Arbeit offenbar nicht ausreichte. 78 M. P ÖLL -N AEPFLIN , Fortgerungen (Anm. 43), S. 125f. <?page no="305"?> C HRI S TA H ÄMMER LE 306 4. Distanz und ›Entfremdung‹ von der Region Interessant am obigen Zitat, das den Krieg brandmarkt, ist nicht nur die Selbststilisierung, in die Maria Pöll-Naepflin den Einsatz der Schweizer Krankenschwestern münden lässt. Es kann, so gesehen, als diesen Frauen abverlangte Legitimierung des Weggehens von daheim gelesen werden und drückt gleichzeitig zumindest implizit die Unmöglichkeit aus, dort das im Krieg Erlebte zu kommunizieren; zu groß war der Kontrast zwischen Krieg und Frieden, Heimat und militärischem Operationsgebiet, in dem viele Kriegskrankenpflegerinnen arbeiteten. Zudem war die öffentliche Meinung in der Deutschschweiz und der Romandie gespalten, für oder gegen die einzelnen kriegsführenden Mächte und jene, die diese unterstützten, gerichtet - auch wenn der Einsatz der Schwestern als humanitär definiert wurde. 79 Obwohl eine zunehmende ›Entfremdung‹ von ihrer Heimat in Maria Pöll- Naepflins Fall, wie wir gleich sehen werden, aus verschiedenen Gründen besonders deutlich wird, konnte es dazu auch bei Kriegskrankenpflegerinnen kommen, die aus der Habsburgermonarchie stammten. Vor allem jene, die der eingangs schon erwähnten Definition von Margaret Higonett zufolge ›frontline nursing‹ betrieben haben und dabei über längere Zeiträume hindurch bis zur äußersten Erschöpfung, zum körperlichen wie psychischen Zusammenbruch arbeiteten, hatten ebenfalls Probleme, das erlebte Grauen, ihre oftmalige Hilflosigkeit den schwerst Verwundeten gegenüber zu bewältigen; der Glaube an Gott oder ein eingeschworener Patriotismus halfen da oft nur begrenzt. Erschwerend kam hinzu, dass auch Krankenschwestern berufsmäßig Stillschweigen bewahren sollten über das, was sie im Kriegseinsatz erlebten. 80 Was in der Forschung zu Soldaten immer wieder konstatiert wurde, nämlich dass es bei ihnen im Laufe des Krieges vielfach zu einem ›Aufeinanderprallen‹, einer nicht mehr möglichen Kongruenz der unterschiedlichen Erfahrungswelten an der ›Front‹ und in der ›Heimat‹ kam, gilt demnach auch für so manche Pflegerinnen, deren Kriegserlebnisse ebenfalls immer schwerer in Einklang mit jenen der Daheimgebliebenen zu bringen waren. Maria Pöll-Naepflin, die im Laufe des Krieges morphiumabhängig wurde, weil sie nur so all das Grauen, die ständige Überbeanspruchung und Erschöpfung auszuhalten meinte, 81 war zudem zutiefst traumatisiert, so wie auch andere Kriegskrankenpflegerinnen. 82 Sie heiratete 79 Vgl. S. B RAUNSCHWEIG , »Ohne Unterschied« (Anm. 37), S. 145f. 80 Vgl. E. H AMMER -L UZA , »An den Schmerzenslagern« (Anm. 20), S. 181. In der Verordnung des Ministers des Innern vom 25. Juni 1914, betreffend die berufsmäßige Krankenpflege (Anm. 22), war ein solches Gebot in § 17 - Wahrung des Berufsgeheimnisses - geregelt: Wer berufsmäßig die Krankenpflege ausübt, ist zur Wahrung der Geheimnisse der Kranken verpflichtet, die seine Berufstätigkeit oder die Hilfe der Krankenanstalt in Anspruch nehmen, an der er beschäftigt ist. 81 Das ist bei ihr ausführlich thematisiert und keine Einzelerscheinung; auch viele Ärzte griffen im Ersten Weltkrieg zu Morphium. 82 Vgl. Anm. 2. <?page no="306"?> K R IE GS KR ANKENP F LE GE RINNEN IM E R S TEN W ELTKR IE G AL S B RÜCKE ZU R R EGION 307 nach dem Krieg einen Österreicher, wodurch sie ihre Schweizer Staatsbürgerschaft verlor und für Jahre zuerst in Innsbruck, später im nationalsozialistischen Deutschland lebte. 83 Dort fiel sie nicht zuletzt aufgrund der auch pazifistischen Äußerungen in ihren Kriegsmemoiren bald in Ungnade und wurde 1935 von der Schweiz, wenn auch als ›persona non grata‹, wieder aufgenommen. Erst 1938 folgte im Anschluss an eine Scheinehe ihre neuerliche Einbürgerung dorthin - bei anhaltend schlechtem Ruf und vielen Problemen, die ihr weiterhin in den Weg gelegt wurden. Dass Maria Pöll-Naepflin nicht nur ihre Morphiumsucht offen thematisiert hat, sondern sich gewissermaßen als Sprachrohr auch der anderen Schweizer Kriegskrankenschwestern sah, erschien wohl ebenso wenig opportun wie ihre offensichtliche Traumatisierung und ihre nun stark spiritistisch ausgeprägte Religiosität, ihr Pathos, ihr Engagement für das Blaue Kreuz. 84 Widmen wir uns hier jedoch noch einmal der im Vorarlberg der Vorkriegszeit hoch angesehenen, im Jahr 1910 für ihre außergewöhnliche Leistung mit der Elisabeth-Medaille ausgezeichneten Bregenzerin Agathe Fessler. 85 In ihren kurz nach ihrer Heimkehr im Eigenverlag veröffentlichten Aufzeichnungen, die im Unterschied zum Tagebuch dezidiert dem Thema Krieg gewidmet waren, wird ebenfalls deutlich, dass dieser ihr Verhältnis zur Herkunftsregion und den dortigen sozialen wie emotiven Bezügen massiv verändert hat - mit Folgen auch für ihr Leben danach. Agathe Fessler war demnach nicht nur eine Brücke in die Region und lehnte sich während ihres langen Kriegseinsatzes nicht nur an Soldaten und Kameradinnen an, die von dort kamen; das ist, wenn auch eine wichtige, so doch nur eine Tendenz ihrer verschriftlichten Kriegserinnerungen. Parallel dazu scheint ihr die Heimat im Laufe des Krieges auch zunehmend fremder geworden zu sein, und zwar aus verschiedenen Gründen, die m. E. weniger mit dem von ihr nur im Tagebuch genau registrierten ›Einbrechen‹ der Kriegsfolgen dorthin in Form von ankommenden Flüchtlingen, der zunächst auch unter ihrer Beteiligung betriebenen Frauenkriegsfürsorge, dem einsetzenden Mangel und den Lebensmittelkarten etc. zu tun haben. Oder damit, dass sie im Oktober 1917, bevor sie nach Rumänien einberufen wurde, aufgrund anhaltender finanzieller Sorgen ihr Marienheim gegen die Übernahme der Hypotheken an den Orden der Barmherzigen Schwestern in Zams überschrieb - was sie auch schmerzte, wie sie im Tagebuch genauer festgehalten hat: Welche Gefühle mich beschlichen kann ich nicht leicht beschreiben. Einmal das Gefühl der Sicherheit, das Heim in den besten Händen wissend. Bisher war es doch oft ein peinlicher Gedanke, in den gefahrvollen Stellungen, was dann, wenn ich falle? Wohl hatte ich ein 83 Da ihr Mann dorthin als in Österreich illegaler Nationalsozialist einreiste, wurde diese Staatsbürgerschaft wieder aberkannt. 84 Vgl. ausführlicher C. H ÄMMERLE , Counter-Narratives (Anm. 39). 85 Das war damals der höchste kaiserliche Orden, der an bürgerliche Frauen vergeben werden konnte. <?page no="307"?> C HRI S TA H ÄMMER LE 308 Testament gemacht, aber wie geht es oft denselben. Getrennt muß einmal sein, lebend oder todt. Dann aber beschleicht mich doch auch Wehmut. […] Fast erdrückte mich das Gefühl in Zukunft das alles missen zu müssen. Sechstausend Namen von Mädchen, die auf kurze oder längere Zeit im Heim gewohnt, stecken im Fremdenbuch [? ], wie viel liebe Erinnerungen! Die Zukunft liegt dunkel vor mir. 86 Es waren wohl in erster Linie die Kriegserfahrungen selbst, die Agathe Fessler innerlich zu schaffen machten. Sie scheinen ihre zunehmende Distanz zur ehedem so vertrauten Heimat beziehungsweise zu ihrem früheren Leben dort bewirkt zu haben. Eine solche Tendenz findet sich, bezogen auf einen ersten kurzen Aufenthalt in Bregenz, schon für den Spätherbst 1914 formuliert, als sie wie erwähnt eine kranke Mitschwester nach Innsbruck zu bringen hatte: Mit halber Militärfahrkarte kam ich dann auf kurze Zeit nachhause. Ach wie öde und leer! Auf alle Fragen, wie es am Kriegsschauplatz wäre, erzählte ich stets wahrheitsgemäß nur von Läusen, von den drei Arten: den russischen grauen, den polnischen gefürchteten Filzläusen und von den ungarischen Reiskörnern, welche die Soldaten mit den Reitstiefeln zerstampften, die knallten dann wie ein Kapsel. Weiter wurde dann meist nicht gefragt. Was hätte ich den armen, so schon verängstigten Frauen erzählen sollen von all dem furchtbaren da draußen? 87 Es folgten, wie wir schon wissen, die Rückkehr nach Bielitz und die Arbeit in der Chirurgengruppe Haberer und Eiselberg, zu der die schwersten Fälle 88 kamen. Fast Tag für Tag musste Agathe Fessler nun mit den Auswirkungen der brutalen Tötungsgewalt des industrialisierten Krieges zurechtkommen - oder auch nicht, da vieles von dem, was sie nun erlebte, wenn überhaupt wohl nur sehr schwer innerlich zu bewältigen war. Der Schmerz, das Sterben der Soldaten gingen ins Herz, ins Gemüt, auch ins Ohr, und selbstverständlich war das keinesfalls immer etwas, was im Sinne einer religiösen ›Ars Morendi‹, das heißt im Gebet und im Vertrauen auf Gott erfolgt ist, sondern auch von Agonie oder Schreien, Wehklagen, Verzweiflung und Fluchen begleitet war: Es gab Schmerz und Weh und Schreie, die alles übertönten, schrieb sie etwa über das qualvolle Sterben von Wundstarrkrampfergriffenen, 89 denen sie in der Not, auf Suggestion setzend, statt Morphium immer wieder Staubzucker gab. Oder sie erinnerte sich unter der Überschrift Fluch den Kriegsstiftern! folgendermaßen an das Sterben eines ungarischen Soldaten: Die von mir gefürchteten Stunden waren stets das Erwachen aus der Narkose nach Amputationen. […] Ungezählte Flüche und Verwünschungen stiegen aus tiefstem Herzensgrund über die Kriegsstifter. Gott hat 86 StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, Tagebuch, S. 43f. Vgl. auch ebd., MS-Manuskript, S. 6f. 87 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 14. 88 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 15. 89 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 20. Vgl. zum Thema Schmerz in den Aufzeichnungen der Kriegskrankenpflegerinnen ausführlicher C. H ÄMMERLE , Seelisch gebrochen (Anm. 2), S. 45-49. <?page no="308"?> K R IE GS KR ANKENP F LE GE RINNEN IM E R S TEN W ELTKR IE G AL S B RÜCKE ZU R R EGION 309 sie gehört. Wehe denen, denen sie gelten! Alle Schuld rächt sich auf Erden. 90 Zudem wurde ihr für die langen Nächte aufgetragen, nur dann Hilfe zu holen, wenn es Chancen auf Besserung gab, nicht aber, wenn ein Patient starb: Mein Chef sagte mir, daß Fälle, die sie als ex bezeichnen, unrettbar seien; für den Fall des Eintritts des Todes dürfe der Arzt von der Schwester nicht gerufen werden, denn die Kräfte des Arztes dürfen nicht unnötig verbraucht werden, soll er seine ruhige Hand bei den so wichtigen Eingriffen bewahren. 91 Auch das Beispiel von Agathe Fessler bestätigt zudem, dass vor allem die Frauen des Sanitätspersonals die Soldaten in den Tod begleiteten, sei es mit oder ohne Feldkurat, der auf Wunsch des Sterbenden geholt wurde. Es scheinen dennoch insbesondere die Pflegerinnen gewesen zu sein, die in solchen Situationen die Aufgabe übernahmen zu beruhigen und - wie eingangs am Beispiel von Angelika Kresser dargelegt - die Angehörigen zu benachrichtigen, ihnen zu schreiben, um von letzten Lebensminuten, letzten Worten und Gesichtsbewegungen zu berichten. Das war eine Aufgabe, die diese Frauen sicher zutiefst beschäftigte und prägte. Die gängige Rede vom ›Todesengel‹, die gerade im Kontext des ›frontline nursing‹ immer wieder auftaucht, erklärt sich nicht zuletzt aus einer solchen Zuständigkeit für Sterbende. Agathe Fessler hat das eindringlich schon für die erste Kriegsweihnacht 1914 thematisiert, als sie - wie ja auch Maria Pöll-Naepflin - in Bielitz arbeitete und in ihrem Spital Nachtdienst hatte: 500 Mann brachte ein langer Train- und Sanitätsautozug, von der heftigen Karpathenschlacht, von der nahen Front, schrieb sie darüber, und dass die ganze Stadt einem Heerlager glich, mit nunmehr 900 Verwundeten im Spital, wo die Liegestätten zusammengeschoben werden mussten. Dann wird die Erinnerung daran auch anklagend: In welchem Zustand die Armen waren, spottet jeder Beschreibung. Manche davon waren von den platzenden Geschossen verschüttet, ein Ungar war sechzehn Stunden unter Schutt begraben mit eingedrückten Rippen, anderen waren die Eisenstücke der platzenden Schrappnells in den Körper und - das schrecklichste - in die Augen gedrungen, die sogleich entfernt werden mußten. Blindgeschossen! Wißt ihr, was das heißt? Jung sein, das Leben vor sich, voll froher Hoffnung, fürs Vaterland ausgezogen und jetzt Blind! 92 Nach der Beschreibung einzelner Episoden dieses Grauens erfolgt in den Aufzeichnungen noch einmal eine Steigerung der Eindringlichkeit, mit der Agathe Fessler das Elend nach der Schlacht beschrieben hat - diesmal im Kontext der oftmaligen Zuständigkeit der Krankenschwester für die Kontaktführung mit den Angehörigen daheim 93 und in Form einer besonderen Erinnerung an zwei Soldaten, 90 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 27. 91 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 17. 92 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 22. 93 Vgl. dazu auch eine weitere Passage, diesmal über den Dienst in der Tuberkuloseabteilung des Epidemiespitals in Caracal/ Rumänien, A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 43: In Fällen, wo sich die Eltern oder Frauen beim Kommando erkundigten, baten die Aerzte mich immer, die Angehörigen schonend zu verständigen, bevor das schwarze, amtliche Siegel eintraf. So schrieb ich auch einen kurzen Trostbrief an diese Eltern. <?page no="309"?> C HRI S TA H ÄMMER LE 310 von denen der eine aus Tirol stammte: Ein junger, hübscher Mann aus Marburg erwacht ebenfalls langsam. Der Fuß ist ihm von der Hüfte weg abgenommen worden. Meine arme Mutter, ich bin ihre einzige Hoffnung. Wer wird ihr das mitteilen? Bitte Schwester, übernehmen Sie den harten Liebesdienst, ihr es so schonend wie möglich beizubringen. Schreibe mir die Adresse auf. Nicht sich bejammert der gute Sohn, nur seine arme Mutter. In dem Abteil sind fast lauter Amputierte. In der Ecke hat man noch eine Liegestätte für einen streifschußverwundeten Tiroler gemacht. Leichenblaß ist sein Gesicht. Immer wieder starrt er auf seinen Bettnachbar, dem schon vor acht Tagen beide Füße am Knie amputiert wurden. Das ist ja der Sepp, mein Bruder, schreit er plötzlich. O armes Mutterl! 94 Ist es demnach verwunderlich, wenn die Autorin dieses Kapitels ihrer Kriegserinnerungen festhielt, dass dies die schrecklichste Nacht - dazu Weihnacht! [war] - die ich je erlebt. Und weiter, dass sie auch formuliert hat, wie unvorstellbar all das ihr zuvor erschienen ist: Wer hätte im zwanzigsten Jahrhundert sowas auch für möglich gehalten? 95 Solche Passagen deuten wiederum auf jene Distanz, die Kriegserfahrungen wie diese zur ehedem vertrauten, gewohnten Welt schufen: Wie all das Grauen dort kommunizieren, wie die Erinnerung daran ›loswerden‹, wenn kaum darüber gesprochen werden konnte - aus einer Berufspflicht heraus und weil es von denjenigen, die nicht selbst erlebt hatten, was Kriegsgewalt bedeutet, kaum nachzuvollziehen gewesen wäre? Ein dadurch gespeistes Schweigegebot galt für Frauen, die ihre Heimat einst verlassen hatten, um ebenfalls ›in den Krieg zu ziehen‹, und nahe der Kampfgebiete Erfahrungen machten, die ihrer gesellschaftlich normierten Geschlechterrolle auch zuwiderliefen, wohl noch mehr als für Soldaten. Die Arbeit der Kriegsschwestern trennte sie somit auch von der Heimat, ihrer Region, was vermutlich mit ein Grund dafür war, dass Agathe Fessler in ihren kurz nach dem Krieg zusammengestellten Aufzeichnungen auf diese kaum einging, 96 während ihr Tagebuch, das vom Schreibzweck her vor allem dem Marienheim und ihrem dortigen karitativen Engagement gewidmet war, zu den Urlauben und Aufenthalten in Bregenz mehr Informationen enthält - wenn auch mit im Laufe des Krieges abnehmender Tendenz. 97 Und als dieser endlich aufhörte, schrieb sie in ihren Aufzeichnungen von einem rumlose[n] Ende einer vierjährigen Tätigkeit im Dienste des Vaterlandes, aus dem sie mit sehr gemischten Gefühlen aufbrach: Vorüber zieht vor meinen Augen der große, blutige Film. […] Oesterreichs Sargnägel waren gut geschmiedet. 98 Das Angebot vom Roten Kreuz, als Krankenschwester in ein Wiener Spital vermittelt zu 94 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 23. 95 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 24. 96 Vgl. A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 29, 37, 51. 97 Hingegen schrieb Agathe Fessler nun auch in ihrem Tagebuch seitenlang über die dramatischen Ereignisse gegen Kriegsende, als sie nahe bei Gossensaß am Brenner stationiert war und ausharrte, bis die italienischen Truppen das Lazarett besetzten; vgl. StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, Tagebuch, S. 51-63. 98 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 63. <?page no="310"?> K R IE GS KR ANKENP F LE GE RINNEN IM E R S TEN W ELTKR IE G AL S B RÜCKE ZU R R EGION 311 werden, lehnte sie mit folgenden Argumenten dankend ab: Es sind zu viele heimatlose Schwestern zu versorgen, will ihnen den Platz nicht wegnehmen. Habe noch ein Heim und gesunde Hände, werde mich schon weiter bringen. Zähle in Innsbruck meine Barschaft: es langt gerade noch zur Fahrtkarte nach Bregenz. […] Gott wird weiterhelfen. Für Betätigung ist ein weites Feld. 99 5. Die ›Heimkehr‹ - und ein Resümee Wie also, so muss am Ende eines primär anhand zweier Fallgeschichten argumentierenden Beitrages noch einmal gefragt werden, gestaltete sich die ›Heimkehr‹ dieser Frauen? Inwieweit konnten sie, nachdem sie den übermenschlichen Anstrengungen über Jahre doch standgehalten hatten 100 und dafür sogar dekoriert wurden, 101 die Folgen des Krieges überwinden, sich erneut einrichten in ihrer Region? Um das umfassender beantworten zu können und genauere Aussagen über die Demobilisierung der vielen Kriegskrankenpflegerinnen Ende 1918 treffen zu können, wäre noch viel Forschungsarbeit notwendig. 102 Dessen ungeachtet kann in Hinblick auf die in diesem Beitrag entfalteten Fallbeispiele ausgesagt werden, dass das spätere Leben von Frauen wie Agathe Fessler und Maria Pöll-Naepflin in einem besonderen und weiterhin krisenhaften Spannungsverhältnis verlaufen ist: Sie hatten einerseits im Zuge ihres so schweren Pflegedienstes an Brennpunkten des europäischen Gewaltgeschehens kaum zu bewältigende Kriegserfahrungen gemacht, die sie jedenfalls ihr ganzes Leben geprägt 103 haben. Andererseits durchliefen sie eine mit dem Aufbruch aus der Heimatregion verbundene Erweiterung von Handlungsräumen fernab des Gewohnten und Vertrauten, der Vorkriegsnormalität, was unbestreitbar Rollenüberschreitungen als ›Frau‹ und ein erhöhtes Maß an Selbstständigkeit auch in beruflicher Hinsicht nach sich zog. Beide Dimensionen wirkten jedoch auf lange Dauer hin ›entwurzelnd‹. Zudem hatte die Nachkriegsgesellschaft daran wenig Interesse und brachte kaum anerkennendes Verständnis auf für das, was Kriegskrankenpflegerinnen geleistet, mitgemacht und erduldet hatten. Deren Hoffnung und Verlangen, zumindest in das kollektive Gedächtnis, die hegemoniale 99 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 64. Mit dem »Heim« meinte sie hier das Brockenhaus. 100 A. F ESSLER , Mappe einer Armeeschwester (Anm. 27), S. 51. 101 Es kam im Kriegsverlauf zu einer Reihe von Auszeichnungen für Krankenpflegerinnen, denen seit November 1915 auch Tapferkeitsmedaillen verliehen werden durften. A. Fessler erhielt schon Anfang Juni 1915 die Silberne Ehrenmedaille vom Roten Kreuz; vgl. StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, HS-Manuskript, S. 5. 102 Für das neue Österreich fehlt dazu sowie in Hinblick auf andere Frauengruppen, die militärische Aufgaben übernommen hatten (wie insbes. die ›weiblichen Hilfskräfte der Armee im Felde‹), noch immer jegliche grundlegende Studie. 103 So explizit auch in: StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, MS-Manuskript, S. 5. <?page no="311"?> C HRI S TA H ÄMMER LE 312 Kriegserinnerungskultur aufgenommen zu werden, blieben lange unerfüllt - gerade auch in ihrer engeren Region. Von daher mag auch begründet sein, dass Agathe Fessler ihre Kriegserinnerungen hier nur im Eigenverlag publizieren konnte und dass ihre Versuche, in Bregenz wieder Fuß zu fassen, letztlich scheiterten, obwohl sie noch das Brockenhaus hatte, welches in der äußerst hart[en] 104 Nachkriegssituation jedoch nichts trug. So stand sie in der Heimat vor dem Nichts, und ihre selbstlose Arbeit blieb unbedankt, wie auch die Bestandsbeschreibung ihres Nachlasses im Bregenzer Stadtarchiv festhält. 105 Im November 1920 reiste Agathe Fessler daraufhin erstmals in die USA, um dort als private Krankenpflegerin zu arbeiten. Dann kehrte sie noch mehrmals mit neuen, auch aufgrund von ihr dort in den Weg gelegten Schwierigkeiten, nicht realisierbaren Plänen nach Bregenz zurück, 106 um schließlich im Januar 1929 nach dem Verkauf ihres letzten Besitzes definitiv nach Brasilien auszuwandern; in der Heimat, nach der sie sich immer so gesehnt hat, konnte sie sich nicht mehr zurecht finden. 107 Sie starb 1941 im Alter von 71 Jahren in der Fremde. Die Schweizerin Maria Pöll-Naepflin schaffte ebenfalls keine naht- und problemlose ›Heimkehr‹. Zwar lebte sie noch, anders als vier ihrer Mitschwestern, mit denen sie im Oktober 1914 nach Österreich gezogen war und über die sie schreiben musste: Wer hätte auch geahnt, daß von uns zwölf Schwestern nur acht ihre Heimat wiedersehen durften; die anderen raffte die übermenschliche Arbeit oder eine tückische Krankheit dahin, ein Los, das so vielen anderen Schweizer Schwestern auch in anderen Kriegsländern beschieden war. 108 Aber der Krieg hat diese Frau schwer gezeichnet, auf die große gesamtgesellschaftliche Krise folgte - in ihrem Fall besonders gut belegt - die Fortsetzung eines krisenhaft verlaufenden Lebens danach, begleitet auch von Heimatlosigkeit, die sie viele Jahre zwischen Österreich, dem nationalsozialistischen Deutschland und der Schweiz umtreiben sollte. Erst ab 1935 war es Maria Pöll- Naepflin beschieden, wieder dort zu leben - wenn auch wenig geschätzt, wie wir gesehen haben. Ein negatives Bild von ihr wurde sogar in der Forschung zur Geschichte der Pflegeberufe in der Schweiz perpetuiert. 109 Es bleibt somit nicht zuletzt regionalgeschichtlichen Initiativen vorbehalten, solche Frauen in die Geschichte zu integrieren 110 - was in den letzten Jahren, wie 104 StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, MS-Manuskript, S. 8. 105 StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, Bestandsbeschreibung. 106 StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, MS-Manuskript, S. 9-15. Zu diesen Plänen gehörte etwa die Idee, ein Heim für verarmte alte Menschen zu gründen; vgl. ebd., S. 9. 107 StadtA Bregenz, Nachlass A. Fessler, MS-Manuskript, S. 14. 108 M. P ÖLL -N AEPFLIN , Fortgerungen (Anm. 43), S. 18. 109 Vgl. A LFRED F RITSCHI , Schwesterntum. Zur Sozialgeschichte weiblicher Berufskrankenpflege in der Schweiz 1850-1930, Zürich 2006 (1. Auflage 1990), S. 147-151. 110 Umfassende Archivrecherchen könnten dabei u. a. vielleicht auch Zahlenangaben über die aus Vorarlberg oder der Bodenseeregion stammenden geistlichen wie weltlichen Kriegskrankenpflegerinnen zutage fördern. <?page no="312"?> K R IE GS KR ANKENP F LE GE RINNEN IM E R S TEN W ELTKR IE G AL S B RÜCKE ZU R R EGION 313 oben gezeigt, zumindest in ersten Ansätzen erfolgt ist; nach Agathe Fessler ist heute in Bregenz sogar eine Straße benannt. Dass es bei dieser Historisierung auch um Widersprüchlichkeiten und viele biografische Brüche oder ›Verwerfungen‹ geht, die ihre Leben prägten, ist letztlich in der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (George F. Kennan) begründet. Denn auch im Fall dieser Frauen werden, wie Volker Depkat es zunächst nur mit Blick auf männliche Erinnerungskonstruktionen formuliert hat, »Biographie und Zeitgeschichte […] auf komplexe Art und Weise miteinander verwoben, zugleich wird beides in der autobiographischen Erzählung erst hervorgebracht.« 111 Das Konzept der Krise scheint dabei zentral, und zwar in komplexer Art und Weise: Es war eben nicht nur eine gesamtgesellschaftliche, sich auch auf die Regionen abseits der eigentlichen Kriegsschauplätze auswirkende Krise, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte. Oft folgte darauf eine schier unaufhörliche Abfolge biografischer Krisen, die ebenfalls in den Blick zu nehmen sind. Diese mochten je nach Geschlecht, Stand, Kriegserfahrungen etc. unterschiedlich gewesen sein, stellen aber in dieser Vielfältigkeit einen wichtigen Bestandteil eines jeglichen historiografischen Narrativs einer Krise in der Region dar. Wie sonst, wenn nicht auch mit dem mikrogeschichtlichen Blick auf das Leben von Männern wie von Frauen im Verlauf des 20. Jahrhunderts, wäre deren Geschichte zu schreiben? 111 V OLKER D EPKAT , Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft 2003, S. 441-476, hier 442. <?page no="314"?> 315 E LISABETH P LÖSSL Zürnendes Leid Hedwig Lachmanns (1865-1918) Antikriegsgedichte 1. Eine jüdische Schwäbin aus Pommern gegen den Krieg Hedwig Lachmann gehörte im August 1914 zu den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die nicht der »Mobilisierungseuphorie« 1 erlagen. Die Lyrikerin, literarische Übersetzerin 2 und Essayistin war eine der wenigen pazifistisch Gesinnten, die nicht verstummten oder ins Exil gingen, sondern an der ›Heimatfront‹ ihre Stimme gegen den Krieg erhoben. In der 2002 erschienenen Schwäbischen Literaturgeschichte von Hans Pörnbacher sucht man vergeblich nach Hedwig Lachmann. Inzwischen hat Pörnbacher sie jedoch ›entdeckt‹ und angekündigt, sie in sein literarisches Klassifikationsschema unter »Gäste in Schwaben« aufnehmen zu wollen. 3 Freilich: Hedwig wurde 1865 als älteste Tochter von Wilhelmine und Isaak Lachmann nicht in Schwaben, sondern in Stolp in Pommern geboren. Auch waren mit ihrer anfänglichen Tätigkeit als Erzieherin beziehungsweise Sprachlehrerin zum Teil Auslandsaufenthalte verbunden. Und sie lebte seit 1902 mit ihrem - seit 1903 - Ehemann, dem Philosophen, Schriftsteller, libertären Sozialisten und Politiker Gustav Landauer (1870-1919) in Hermsdorf bei Berlin. Hedwig Lachmanns Eltern waren 1873 nach Hürben (1902 mit Krumbach zusammengeschlossen) gezogen, wo Isaak Lachmann als Kantor der jüdischen Ge- 1 S TEFFEN B RUENDEL , Zeitwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg, München 2014, S. 66; zur auch rauschhaften Stimmung zu Kriegsbeginn unter Literaten S. 62-75. 2 Als Lyrikerin war Hedwig Lachmann zu ihrer Zeit weniger bekannt als mit ihren ›Nachdichtungen‹ bzw. Übersetzungen. Mit ihren Übertragungen aus der Lyrik beispielsweise Verlaines oder Oscar Wildes gehörte sie zu den ersten, die Dichtungen des französischen und englischen Symbolismus in Deutschland vermittelten. Ihre bedeutendste Übersetzung, die Salome Wildes, nahm Richard Strauß zur Textgrundlage für seine gleichnamige Oper. 3 H ANS P ÖRNBACHER , »Ich muß doch noch so vieles sagen«. Die Dichterin Hedwig Lachmann - ein willkommener Gast in Schwaben, in: P ETER F ASSL u. a. (Hg.), Bayern, Schwaben und das Reich. FS für Pankraz Fried zum 75. Geburtstag (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 11), Augsburg 2007, S. 365-371. Seite 369 heißt es, ohne näheres Eingehen, dass »der Dichterin seit dem Sommer 1914 auch die Gedichte gegen den Krieg ein wichtiges Anliegen« gewesen seien. <?page no="315"?> E LIS A BE TH P LÖS S L 316 meinde und als Gelehrter wirkte, der süddeutsche Synagogengesänge sammelte und erforschte. 1887 schließlich hatte die Familie die bayerische Staatsbürgerschaft beantragt und erhalten. Bereits 1993 verwies ihre Biographin Annegret Walz darauf, dass Hedwig Lachmann Krumbach als ihre Heimat betrachtete und sich immer wieder dort aufhielt. 4 Als der »bedeutendste[n] Krumbacherin« widmete ihr 2006 das Mittelschwäbische Heimatmuseum eine Ausstellung. Im Begleitbuch stellt Heinrich Lindenmayr mit Nachdruck fest: »Hier war ihre eigentliche Heimat, Hedwig Lachmann war Krumbacherin«. 5 In Krumbach entstand 1915 während eines Sommeraufenthalts Hedwig Lachmanns heute bekanntestes Antikriegsgedicht Mit den Besiegten. 6 1917 schließlich zog Hedwig Lachmann mit ihrer Familie von Hermsdorf nach Krumbach um. Hier starb sie am 21. Februar 1918 mit 53 Jahren infolge einer Grippeinfektion mit Lungenentzündung. Sie wurde in Krumbach auf dem jüdischen Friedhof bestattet. Hedwig Lachmann hinterließ ein nur schmales Werk. Gustav Landauer konnte noch die erste Sammeledition der Gedichte und Übersetzungen zusammenstellen. 7 Unter 4 A NNEGRET W ALZ , »Ich will ja gar nicht auf der logischen Höhe meiner Zeit stehen.« Hedwig Lachmann. Eine Biographie, Flacht 1993, S. 21; vgl. auch 373. 5 T HOMAS H EITELE / H EINRICH L INDENMAYR , »… auf Erden schon enthoben …«. Hedwig Lachmann (Schriftenreihe des Mittelschwäbischen Heimatmuseums 1), Krumbach 2006, Zitate S. 7 (Heitele), 9 (Lindenmayr); H EINRICH L INDENMAYR , Hedwig Lachmann, eine Krumbacherin, in: ebd., S. 9-13: Hedwig Lachmann und Gustav Landauer über ihre Familie, über Krumbach (Hürben), über ihr Verhältnis zu Schwaben. Von den Publikationen in der Zeitschrift des Krumbacher Heimatvereins seien hier nur genannt: H ERBERT A UER , Vater und Tochter Lachmann, in: Krumbacher Heimatblätter 4/ 5 II/ III (1988), S. 98-109, und H EINRICH L INDENMAYR , Die Lyrikerin und der Sozialrevolutionär. Die Ehe von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer, in: Krumbacher Heimatblätter 19 (2012), S. 64-83; ferner auch: G ERNOT R ÖMER , Schwäbische Juden. Leben und Leistungen aus zwei Jahrhunderten in Selbstzeugnissen, Berichten und Bildern, Augsburg 1990, hier: Hedwig Lachmann und Gustav Landauer. Poesie und Politik in Krumbach, S. 223-230. 6 A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 371f. B IRGIT S EEMANN übernahm den Gedichttitel als Titel ihrer Lachmann-Biografie »Mit den Besiegten«. Hedwig Lachmann (1865-1918). Deutsch-Jüdische Schriftstellerin und Antimilitaristin, überarb. und aktualisierte Neuaufl. Lich/ Hessen 2013 (Gustav Landauer. Ausgewählte Schriften 9/ Widerständige Frauen 14). G ERHARD S ENFT (Hg.) nahm Mit den Besiegten in seinen anlässlich des Gedenkjahres 1914-2014 herausgegebenen Sammelband: Friedenskrieger des Hinterlandes. Der Erste Weltkrieg und der zeitgenössische Antimilitarismus, Wien 2014, S. 117f., auf. 7 G USTAV L ANDAUER (Hg.), Gesammelte Gedichte. Eigenes und Nachdichtungen, Potsdam 1919. Landauer, der am 2.5.1919 in Stadelheim von gegenrevolutionären Truppen ermordet wurde, erlebte das Erscheinen nicht mehr. Hedwig Lachmanns Gedichte werden hier zitiert nach A RMIN S TROHMEYR (Hg.), Hedwig Lachmann. Vertraut und fremd und immer noch ich. Gedichte, Nachdichtungen und Essays, Augsburg 2003 (im Folgenden zit.: Werkausgabe 2003). <?page no="316"?> Z ÜR NENDE S L EID . H EDWIG L AC HMANNS (1865-1918) A NTIK RIE GS GEDIC HTE 317 rund 90 Gedichten befinden sich sechs kriegskritische beziehungsweise Antikriegsgedichte. Hedwig Lachmann erhob ihre Stimme gegen den Krieg als Jüdin 8 und als Frau. Als Jüdin, so Julius Bab, in der die ganze Inbrunst der alten Propheten - das zürnende Leid um Gerechtigkeit und Menschlichkeit, das einst den Geist des Jesaia waffnete lebte. 9 Und als Frau, die ›männlich‹-soldatische Werte der Zeit wie etwa das Kriegerideal verabscheute. Am 25. Dezember 1915 schrieb sie an Anna Croissant-Rust: Das Kriegerideal ist ein abgelebtes, geistentblößtes, gespenstisches, das in die mythologische Rumpelkammer gehört, nicht in unser schönes, weltfreudiges, liebewarmes Leben. 10 2. Balkan - Killing Field Die Schlacht, Hedwig Lachmanns erstes Antikriegsgedicht, entstand unter dem Eindruck des ersten Balkankrieges, der im Oktober 1912 zwischen der sog. Balkanliga (Serbien, Bulgarien, Montenegro, Griechenland) und dem Osmanischen Reich ausgebrochen war. Das in streng gereimter Form gehaltene Gedicht - wie auch die während des Ersten Weltkrieges geschriebenen Gedichte - erschien im November 1912 in ›Der Sozialist‹, der Zeitschrift des ›Sozialistischen Bundes‹. 11 Der 1908 von Gustav Landauer mitgegründete ›Sozialistische Bund‹, eine Föderation autonomer basisdemokratischer Gruppen, sollte den Staat und die kapitalistische Wirtschaftsordnung ablösen und auf diese Weise die libertär-sozialistische Gesellschaft verwirklichen. Das Bundesorgan besaß ganz bewusst auch einen literarischen Anstrich; thematisch, so Landauer programmatisch 1911, berühre ›Der 8 Jüngst dazu A RMIN S TROHMEYR , Die Sozialethik von Altem und Neuem Bund im Werk Hedwig Lachmanns, in: P ETER F ASSL / F RIEDMANN H ARZER / B ERNDT H ERRMANN (Hg.), Jüdische Literaturgeschichte in Schwaben. Eine Spurensuche (Irseer Schriften NF 11), Konstanz-München 2016, S. 163-179. 9 J ULIUS B AB , Nachruf, in: ›Die Frau‹, 25. Jg., Mai 1918, zit. nach A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 9. 10 Zit. nach A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 371. 11 ›Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes‹, Nr. 22, 11.11.1912, S. 177. Neudruck des ›Sozialist‹ Vaduz/ Liechtenstein 1980, Bd. 2: 1911-1912; Bd. 3: 1913-1915. Zum ›Sozialistischen Bund‹ und seiner Publikation etwa U LRICH L INSE , Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich von 1871, Berlin 1969, S. 90, 275-301, 301 Anm. 4 zur Auflagenhöhe des ›Sozialist‹: im September 1910 2.000 Exemplare, davon in Deutschland 1.500 Exemplare (leider gibt es keine späteren Zahlenangaben). Auch C AROLIN K OSUCH , Missratene Söhne. Anarchismus und Sprachkritik im Fin de Siécle (Schriften des Simon- Dubnow-Instituts 23), Göttingen-Bristol 2015, S. 10, 267-277. Die Zwölf Artikel des ›Sozialistischen Bundes‹ in der Fassung Landauers, des unumstrittenen intellektuellen ›Kopfes‹ des Bundes, sind im ›Sozialist‹, Nr. 1, 1.1.1912, S. 2f. abgedruckt. <?page no="317"?> E LIS A BE TH P LÖS S L 318 Sozialist‹ die Gebiete und Stoffe des Lebens, der Sozialökonomie, der Politik, der Philosophie, der Kunst und Litteratur, die alle zu uns gehören. 12 Hedwig Lachmann war Mitglied im ›Sozialistischen Bund‹, und zwar in der Berliner Gruppe ›Gemeinschaft‹, politisch war sie aber nicht aktiv. 13 Der erste und beherrschende Eindruck, den die zurückgezogen und gleichsam nach innen gewandt lebende Schriftstellerin auf andere machte, war der der Stille und der Scheuheit. Gegenüber Margarethe Faas-Hardegger hatte sie sich 1909 brieflich als einsiedlerisch und passiv bezeichnet; sie könne nicht begreifen, wie man immer in Kampf und Bewegung sein könne. In einem weiteren Brief 1909 an Faas-Hardegger charakterisierte sie sich selbst: […] aber die Elemente des Leidens, Schwermut und Leidenschaft, liegen tief auf dem Grund meiner Natur […]. 14 Man darf annehmen, dass das Gedicht Die Schlacht auch eine Be- und Verarbeitung des Entsetzens darstellt, das Hedwig Lachmann angesichts des offenen Gewaltausbruchs in einem Krieg empfand, der mit extremer Härte und Grausamkeit geführt wurde. Zumindest versichert die Schriftstellerin Auguste Hauschner in ihrem Nachruf auf Hedwig Lachmann, dass deren Gedichte immer aus seelischer Erschütterung gewachsen und persönliche Bekenntnisse seien. 15 12 ›Der Sozialist‹, Nr. 1, 1.1.1911, S. 2. Siehe auch U. L INSE , Anarchismus (Anm. 11), S. 90: Landauer 1909 an Erich Mühsam, der ebenfalls Mitglied im ›Sozialistischen Bund‹ war, zum gewollten literarischen Anstrich des Blattes. Hedwig Lachmann veröffentlichte verschiedentlich Gedichte im ›Sozialist‹, 1909 beispielsweise Lied der Mutter. Auch E RNST L ISSAUER , 1914 Autor des berüchtigten Gedichts Haßgesang gegen England, war 1912 mit dem Gedicht Gesang der Bauern im ›Sozialist‹ vertreten. 13 A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 323; vgl. B. S EEMANN , »Mit den Besiegten« (Anm. 6), S. 70-74. Hedwig Lachmann wie bei P. F ASSL / F. H ARZER / B. H ERRMANN (Hg.), Jüdische Literaturgeschichte (Anm. 8), Einleitung, S. 20, unbesehen und vermutlich vom Ehemann Landauer her geschlossen, als »Sozialistin und Anarchistin« zu bezeichnen, ist zumindest schief. Im Beitrag von A. S TROHMEYR , Sozialethik (Anm. 8), S. 173, politisiert sich Lachmann - Kontext ist der Erste Weltkrieg - direkt »unter dem Einfluss ihres Mannes«. Die Herzensgemeinschaft (Hedwig Lachmann) des Ehepaares Lachmann-Landauer umfasste eine geistige und auch politische Gemeinschaft, Lachmann war aber durchaus zu eigenständigem Denken im Stande. 14 A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 328: Briefe vom 2.1. und vom 10.7.1909. Faas- Hardegger, Schweizer Schriftstellerin, Anarchistin, hatte zeitweise zusammen mit Landauer die Redaktion des ›Sozialist‹ inne. 15 Auguste Hauschner, die auch als ›Mäzenin‹ der Familie Lachmann-Landauer eng verbunden war, zit. nach A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 419. Zur Härte und Grausamkeit der Balkankriege 1912/ 13 etwa G ERHARD H IRSCHFELD / G ERD K RUMEICH , unter Mitarbeit von I RINA R ENZ , Deutschland im Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2013, S. 26. Eine weitere ›Bearbeitung‹ der Balkankriege in der deutschen Lyrik ist bisher meines Wissens nicht bekannt; eine künstlerische ›Bearbeitung‹ des zweiten Balkankrieges 1913 stellt <?page no="318"?> Z ÜR NENDE S L EID . H EDWIG L AC HMANNS (1865-1918) A NTIK RIE GS GEDIC HTE 319 Das Gedicht ist wohl auch vor dem Hintergrund der herrschenden Zeitstimmung zu sehen; immer häufigere Krisen, Kriege und Beinahe-Kriege prägten seit der Jahrhundertwende 1900 die Wahrnehmung gerade auch der Schriftstellerinnen und Schriftsteller und der Künstler. 16 Es gab ein wachsendes schriftstellerisches Kriegsgenre, 17 das von den Kriegsszenarien von Militärstrategen bis hin zu Kriegsfiktionen in Romanen reichte. Die Pazifistin Bertha von Suttner beispielsweise entwarf 1912 ein Schreckensszenario des modernen Luftkrieges. Vor allem die Avantgarde der Expressionisten verlieh einem apokalyptischen Bewusstsein Ausdruck in den Motivkomplexen ›Kampf‹ und ›Krieg‹. Unter dem Eindruck der zweiten Marokkokrise, als im Spätsommer und Herbst 1911 nur haarscharf ein europäischer Krieg abgewendet werden konnte, gingen die bis dahin eher diffusen literarischen Untergangsvisionen in die offene Kriegsthematik über - berühmtestes Beispiel ist das Gedicht Der Krieg von Georg Heym. Hedwig Lachmanns Die Schlacht, ihre fiktionale Kriegsdarstellung, hat keine identifizierbare Schlacht des ersten Balkankrieges zum Thema. Die Schlacht im Gedicht entsteht gleichsam aus dem Nichts, der Aufmarsch der Regimenter bricht herein wie eine Naturkatastrophe: Wie ausgetretne Ströme tosend nahn, / So überfluten sie den weiten Plan. 18 Und er erstarrt zur Front. Die Gegner bleiben anonym, gesichtslos, sie alle sind Opfer ohne Unterschied. Die Schlacht selbst ist ein Abschlachten, ein Gemetzel: Der Kugelregen streift die Männer weg wie eine Schur. Schur erinnert bewusst an Lämmer oder Schafe, die auf Kommandoruf willenlos zur Schlachtbank stürzen. Immer neue Bataillone stürmen vor. / / Stehn einen Augenblick wie eine Wand, / Und schon im nächsten liegen sie im Sand. 19 das Gemälde ›Die Wölfe (Balkankrieg)‹ von Franz Marc im Rahmen seiner Tierbilderserie dar; S. B RUENDEL , Zeitwende (Anm. 1), S. 31. 16 Auch für das Folgende: S. B RUENDEL , Zeitwende (Anm. 1), insbes. 32-43; M ANFRED K ÖPPEN , Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert (Probleme der Dichtung 35), S. 193-214; T HOMAS A NZ , Vitalismus und Kriegsdichtung, in: W OLFGANG J. M OMMSEN (Hg.), unter Mitarbeit von E LISABETH M ÜLLER -L UCKNER , Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquium 34), München 1996, S. 235- 247, hier 235-239. Ein Auszug aus Bertha von Suttners ›Die Barbarisierung der Luft‹ findet sich bei G. S ENFT , Friedenskrieger (Anm. 6), S. 83-95. 17 J ÖRN L EONHARD , Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 67, 69-74, 80, zu dem seit Ende des 19. Jahrhunderts anwachsenden Genre der Kriegsszenarien und Vorstellungen künftiger Kriege. 18 Zitate aus dem Gedicht nach A. S TROHMEYR (Hg.), Werkausgabe 2003 (Anm. 7), S. 78f. 19 Ob ungewollt oder gewollt hat die fiktionale Darstellung des Gemetzels eine reale Entsprechung in der zeitgenössischen Offensivstrategie, die die Wirkung der modernen Artillerie und der Maschinengewehre unterschätzte oder gleich missachtete: »[…] gingen oder liefen ganze Regimenter wie in den Zeiten der Kabinettkriege in dichten Schwarmlinien den <?page no="319"?> E LIS A BE TH P LÖS S L 320 Im Schlussteil wird das Gedicht endgültig und offen zum Klagelied. Die Schlacht hinterlässt eine Landschaft der Vernichtung, einen apokalyptischen Blutacker. Der bestellte, zur Ernte bereite Acker, eigentlich ein Symbol des Lebens, ist zum Toten-Acker mit vernichteter Menschenernte geworden. Angesichts des geschändeten, besudelten Ackers ruft einer, der wie ein Ackermann über das Leichenfeld geht, voll Schmerz und Pein, aber auch strafend aus und beschließt damit das Gedicht: O Ackerland, wer macht dich wieder rein! Die Schlacht wurde zusammen mit dem Gedicht Schreckbild in den ersten Kriegsmonaten 1914 in der Nummer 1 der ›Kulturgaben‹ des ›Sozialistischen Bundes‹ erneut publiziert. 20 Richard Dehmel, dem die Gedichte bereits bekannt waren, bevor sie ihm an die Front zugeschickt wurden, spöttelte über den in seinen Augen moralisierenden und predigenden Ton, sprach aber auch, in gewisser Weise anerkennend von diese[n] humanen Klagelieder[n]. Er übersah: Die Klagelieder waren zugleich Anklagen. 3. Alles Fürchterliche ist entfesselt 21 Gustav Landauer hatte schon seit längerem vor einem drohenden europäischen Krieg gewarnt. Das Vorhergesehene ist eingetreten, konstatierte er brieflich am 31. Juli 1914 - dem Tag der Generalmobilmachung Österreich-Ungarns und Belgiens - als die Familie Lachmann-Landauer von ihrer alljährlichen Sommerreise in Süddeutschland aufbrach, um nach Hermsdorf zurückzukehren: Es ist nichts mehr zu hoffen, und nichts mehr zu fürchten; es ist da. 22 Das ›Augusterlebnis‹ vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller, ihre kriegsbejahende, patriotisch-nationale bis chauvinistische Hochstimmung, hatten die entschiedenen Kriegsgegner Hedwig Lachmann und Gustav Landauer so aber wohl nicht vorhergesehen: Nichts (nicht einmal die Feldpost) hat in diesem Kriege so kläglich feindlichen Stellungen entgegen, aus denen ihnen ein Geschosshagel aller Kaliber entgegenschlug«; T HOMAS F LEMMING / B ERND U LRICH , Heimatfront. Zwischen Kriegsbegeisterung und Hungersnot - wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg erlebten, München 2014, S. 10. Inwieweit in den Anfängen des ersten Balkankrieges die bei G ERD K RUMEICH , Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen, 2. Aufl. München 2014, S. 22, angeführten Fotos von Schützengräben und »Leichenhaufen« (nach Angriffen auf Maschinengewehrstellungen) bereits bekannt bzw. auch in - nicht weiter benannten Zeitungen - veröffentlicht waren, geht aus dem Buch nicht hervor. 20 A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 360, 362 (Zitat von Richard Demel). 21 E RICH M ÜHSAM , Tagebucheintrag München, 3./ 4.8.1914, zit. nach C HRIS H IRTE (Hg.), Erich Mühsam. Tagebücher 1910-1924, 3. Aufl. München 2004, S. 101. 22 Zit. nach A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 357. <?page no="320"?> Z ÜR NENDE S L EID . H EDWIG L AC HMANNS (1865-1918) A NTIK RIE GS GEDIC HTE 321 versagt, wie der deutsche Geist. 23 Ihr ›Augusterlebnis‹ ähnelte wohl mehr dem der Münchner radikalen Frauenrechtlerinnen und Pazifistinnen Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg, wie es dramatisch Heymann in ihren Memoiren beschreibt. Zumindest auf Hedwig Lachmann, die unter dem Eindruck des Kriegsausbruchs und der ersten Kriegszeit das Gedicht Schreckbild verfasste, trifft dies zu: Die ersten Augusttage bedeuteten für alle, die glaubten, daß Krieg unter sogenannten Kulturvölkern eine überwundene Sache sei, einen völligen Zusammenbruch alles dessen, was Menschlichkeit, Vernunft und Schönheit umschlossen. 24 Die Situation der wenigen überzeugten Pazifistinnen und Pazifisten in Deutschland schildert Lida Gustava Heymann als qualvoll und einsam, verlassen von Freunden, Bekannten und Verwandten. 25 Im Fall von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer sei hier nur das befreundete Ehepaar Hedwig und Fritz Mauthner genannt, über dessen Kriegsbejahung und Kriegsrhetorik es zum Konflikt kam. 26 Das Versagen des deutschen Geistes und der schockierende Bellizismus vieler deutscher Literaten verkörperte sich für Gustav Landauer, noch mehr aber für Hedwig Lachmann, in dem bekannten Schriftsteller und Lyriker Richard Dehmel (1863-1920): Ja, sie sind fast alle umgefallen, die Dichter und Denker! Dehmel fast am schlimmsten von allen. 27 Für Hedwig Lachmann, die Dehmel persönlich und künstlerisch verbunden war, gehörten dessen Meldung im August 1914 - mit 51 Jahren - als Kriegsfreiwilliger und seine dröhnenden Auftritte als Kriegspoet (Da alles ruht in Gottes Hand / wir bluten gern fürs Vaterland) mit zu ihren bittersten Kriegserfahrungen. 28 Dehmels 23 Zit. nach E RNST P IPER , Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, Berlin 2014 (Taschenbuch), S. 343: Gustav Landauer am 2.11.1914 an Fritz Mauthner. 24 , L IDA G USTAVA H EYMANN , in Zusammenarbeit mit Dr. jur. A NITA A UGSPURG , Erlebtes, Erschautes. Deutsche Frauen kämpfen für Freiheit, Recht und Frieden 1850- 1940 [Meisenheim am Glan 1972], hg. von M ARGIT T WELLMANN , Frankfurt am Main 1992 S. 123, vgl. auch 124. 25 So auch A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 368: Lachmann und Landauer seien »fast ganz« auf sich allein gestellt gewesen. 26 Hedwig Mauthner, geb. Straub in Emmendingen bei Freiburg/ Breisgau (1872-1945), Ärztin und Schriftstellerin, leistete ›weiblichen‹ Kriegsdienst im Hospital in Konstanz bei der Pflege von Verwundeten; Fritz Mauthner (1849-1923), Schriftsteller, Philosoph, Sprachtheoretiker. Zu Fritz Mauthner bei Kriegsbeginn etwa C. K OSUCH , Missratene Söhne (Anm. 11), S. 307-314. 27 Gustav Landauer am 4.11.1914 an Hugo Warnstedt; zit. nach E. P IPER , Nacht (Anm. 23), S. 263. 28 Hedwig Lachmann war 1889 als Erzieherin bzw. Hauslehrerin nach Berlin gekommen, wo sie sich dem in den 1890er Jahren formierten Kreis um Richard und Paula Dehmel anschloss, in dem kulturelle Fragen und neue Formen der Kunst debattiert wurden. Der zu Lachmann in Leidenschaft entbrannte Dichter war dieser auch nicht gleichgültig. Sie entschied sich jedoch für ein freundschaftliches Verhältnis. Künstlerisch unterstellte sie sich seiner Kritik, bestand aber auf der weiblichen Eigenart ihres Stils. Zu der Beziehung Lach- <?page no="321"?> E LIS A BE TH P LÖS S L 322 schäumende Auslassungen über die eigene Nation und die gegnerischen Länder machten ihn in Hedwig Lachmanns Augen mitschuldig daran, dass die Menschen diesen Krieg auch geistig mittun können. Dieses verächtliche (geringe) Denken von einem ganzen Volk bezeichnete sie als nivellierenden brutalen Kriegsenthusiasmus. 29 Im ›Krieg der Worte‹ stand Dehmel natürlich nicht allein. Aus der Bevölkerung kamen zahllose lyrische Ergüsse, im »poetischen Furor« (Julius Bab) auch unbarmherzige Vernichtung des Feindes fordernd - Julius Bab schätzte 1920 im Rückblick, dass die deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen August bis Dezember 1914 pro Tag etwa 50.000 Kriegsgedichte erhielten. 30 Genauso wenig entzogen sich die meisten professionellen Schriftsteller und Schriftstellerinnen 31 der mann-Dehmel A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 54-137, und B. S EEMANN , »Mit den Besiegten« (Anm. 6), S. 26-44. Das preußische Kriegsministerium versprach sich von Dehmel als einem der ältesten Kriegsfreiwilligen eine auch moralische Wirkung auf die Öffentlichkeit und erteilte daher die entsprechende Sondergenehmigung für den populären Dichter; S. B RUENDEL , Zeitwende (Anm. 1), S. 64; auch, mit Dehmels Zweizeiler, E. P I - PER , Nacht (Anm. 23), S. 125f. 29 Am 17.8.1915 an Anna Croissant-Rust, zit. nach A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 369f. Vgl. C. H IRTE (Hg.), Erich Mühsam. Tagebücher (Anm. 21), Tagebucheintrag München, 21.10.1914, S. 126f. Mühsam und Heinrich Mann beurteilten den offenen Brief an seine Kinder, den Dehmel vor dem Einrücken an die Front verfasste, mit gleichem Widerwillen. Dehmel übertrug, so Mühsam, den allgemeinen schwachsinnigen Haß gegen die Engländer beispielsweise auch auf Shakespeare: Dann nimmt er sich jedes Feindesland einzeln vor und vermöbelt es in je fünf Zeilen so, daß kein kleinster Wert mehr übrig bleibt. Anna Croissant-Rust (1860- 1943), pfälzisch-bayerische Schriftstellerin, wurde mit Hedwig Lachmann auf Vermittlung Dehmels hin 1894 bekannt. Beide befreundeten sich, besuchten sich gegenseitig in München und Berlin und korrespondierten bis zum Tod Lachmanns miteinander. Ob Croissant-Rust, selbst Kriegsgegnerin, Verbindungen zu den Münchner Pazifistinnen hatte oder selbst Antikriegsgedichte oder -prosa verfasste, ist bisher nicht bekannt. Zu Anna Croissant-Rust und ihrem Münchner Kreis B. S EEMANN , »Mit den Besiegten« (Anm. 6), S. 50- 52. E DDA Z IEGLER , Nachwort zur Neuausgabe von A NNA C ROISSANT -R UST , Der Tod, München 2014, S. 80-87, geht nicht auf die Kriegsgegnerin Croissant-Rust ein. Vielleicht verstummte die Schriftstellerin, wie andere Kriegsgegner auch, angesichts der ›Mobilisierungseuphorie‹. 30 S. B RUENDEL , Zeitwende (Anm. 1), S. 78. Hier auch: Bab registrierte zwischen August und Ende 1914 235 Lyrikbände, davon 31 von Frauen. 31 Schriftstellerinnen, die in Lyrik und Prosa mobil machten, sind bisher kaum Thema der Forschung, erst recht nicht für Bayerisch-Schwaben. Bisher vor allem: H ANS -O TTO B IN - DER , Zum Opfern bereit: Kriegsliteratur von Frauen, in: G ERHARD H IRSCHFELD u. a. (Hg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte NF 5), 1. Aufl. Essen 1997, S. 107-128. Für Münchner Schriftstellerinnen H ILTRUD H ÄNTZSCHEL , »O Deutschland, o Mutter! « Münchner Schriftstellerinnen im Spannungsfeld von Frieden und Krieg, in: S YBILLE K RAFFT (Hg.), Zwischen den Fronten. Münchner Frauen in Krieg und Frieden 1900-1950, <?page no="322"?> Z ÜR NENDE S L EID . H EDWIG L AC HMANNS (1865-1918) A NTIK RIE GS GEDIC HTE 323 nationalen Begeisterung. Wie auch Intellektuelle und Künstler ließen sie sich in »ihrer positiven Wahrnehmung des ›Augusterlebnisses‹ von keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe übertreffen«. 32 Die kriegsbegeisterten Literaten bildeten jedoch keine homogene Gruppe. Auch kritische Geister wie der Anarchist, Kriegsgegner und Freund Gustav Landauers, Erich Mühsam, konnten sich nicht gänzlich der Suggestivkraft des nationalen Taumels entziehen: Und - ich, der Anarchist, der Antimilitarist, der Feind der nationalen Phrase, der Antipatriot und hassende Kritiker der Rüstungsfurie, ich ertappte mich irgendwie ergriffen von dem allgemeinen Taumel entfacht von zorniger Leidenschaft, wenn auch nicht gegen etwelche »Feinde«, aber erfüllt von dem glühend heißen Wunsch, daß »wir« uns vor ihnen retten! 33 Die poetische Kriegsbegeisterung erfasste arrivierte, kanonisierte Schriftsteller gleichermaßen wie eher erfolglose Literaten der expressionistischen Avantgarde. Zu den Arrivierten gehörte etwa der Literaturnobelpreisträger von 1912, Gerhart Hauptmann, der, allerdings schon zeitgenössisch verspottet, unter anderem reimte: Diesen Leib, den halt’ ich hin, / Flintenkugeln und Granaten: / eh’ ich nicht durchlöchert bin, / kann der Feldzug nicht geraten. 34 Unter den erfolgreichen Literaten befand sich auch der von Wilhelm II. als Unterhaltungsschriftsteller geschätzte, gebürtige Kaufbeurer Ludwig Ganghofer (1855-1920). Der 59-jährige wurde vom bayerischen Kriegsministerium als Kriegsfreiwilliger zunächst abgelehnt. 35 Abgesehen vom kraftmeierischen Ton verband mit Beiträgen von C HRISTINA B ÖCK u. a., München 1995, S. 123-145, hier 123-137. Eine Ausnahme stellt Lena Christ mit ihren »Kriegsbüchern« dar, die gleichsam wie eine teilnehmende Reporterin arbeitete. Zu Lena Christ vgl. M ARITA A. P ANZER , Lena Christ. Keine Überflüssige (kleine bayrische biografien), Regensburg 2011, zur »Militärschriftstellerin« S. 66-88, insbes. 73f. 32 G. H IRSCHFELD / G. K RUMEICH , Deutschland im Ersten Weltkrieg (Anm. 15), S. 59. 33 C. H IRTE (Hg.), Erich Mühsam. Tagebücher (Anm. 21), S. 101, Tagebucheintrag München, 3./ 4.8.1914. 34 Zit. nach T. F LEMMING / B. U LRICH , Heimatfront (Anm. 19), S. 29. 35 A STRID P ELLENGAHR / J ÜRGEN K RAUS (Hg.), unter Mitarbeit von Anne C ÉCILE -F OU - LAN / U LRICH H EISS , Kehrseite eines Klischees. Der Schriftsteller Ludwig Ganghofer (Kaufbeurer Schriftenreihe 6), Thalhofen 2005, S. 96-99, geht leider nur in erweiterten Bildunterschriften auf Ganghofer u. a. ab 1915 als Kriegsberichterstatter ein. Ansonsten verweist nur der Beitrag von C LAUDIA M ARIA P ECHER / M ARC S TEGHERR , Das »Hochland« im Weltbild Ganghofers und seiner Zeit. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung, in: Ebd., S. 70-83, hier 78-80, auf Hochlandromantik und Kriegserlebnis Ganghofers. Das Gedichtbändchen L UDWIG G ANGHOFER , Eiserne Zither. Kriegs-Lieder, Stuttgart 1914, enthält zwischen 28.7. und 21.9.1914 verfasste Kriegsgedichte: Erneuerung s. S. 21f., hier auch zum aufgezwungenen Krieg. Zum aufgezwungenen Krieg s. auch die Gedichte Heimfahrt, S. 13-21, hier 19, und 5. August 1914, S. 24-26, hier heißt es S. 25: Deutschtum! Dich will man erwürgen! <?page no="323"?> E LIS A BE TH P LÖS S L 324 ihn jedoch mit Literaten, die vor dem Krieg durchaus gesellschaftskritisch gewesen waren und im internationalen literarischen Austausch gestanden hatten, die Auffassung, dass Deutschland der Krieg aufgezwungen worden sei. Auch die Schriftstellerinnen, 36 die poetisch mobil gemacht hatten, bezweifelten nicht, dass der Krieg ein gerechter, ja heiliger Verteidigungskrieg gegen eine Welt von Feinden sei. 37 Wie auch Literaten der expressionistischen Avantgarde sah Ganghofer in dem Krieg eine gesellschaftliche Reinigung, einen Jungbrunnen, einen Neubeginn: O heiliger Krieg! Du schöpferische Macht! , heißt es in dem am 3. August verfassten Gedicht Erneuerung. Vor allem aber beschwor und bejubelte er in Erneuerung die Einheit der angegriffenen Nation: Wir sind ein Volk von Brüdern und Schwestern, […] Und jeder mäkelnde Zweifler von gestern, / Ist heut ein Deutscher, ein Mann, ein Held. Nachdem am 4. August Kaiser Wilhelm II. keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche kannte, schien es als ob alle gesellschaftlichen und politischen Unterschiede ausgeglichen seien. Damit entstand ein ungeheuerer Loyalitätsdruck, mit dem auch die wenigen Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner konfrontiert wurden. Auch war die pazifistische Bewegung - nicht anders als die sich damit teils überschneidende anarchistische - zersplittert und desorientiert. Angesichts der »Mobilisierungseuphorie« und der »Muß-Loyalität« (Wolfgang J. Mommsen) sahen die pazifistisch bzw. kriegskritisch gesinnten Schriftstellerinnen und Schriftsteller keine Möglichkeit, den Krieg öffentlich abzulehnen und zu verurteilen. 38 Ihre Verweigerung äußerte sich im Verstummen, so beispielsweise bei Heinrich Mann, oder sie wählten das Exil in der Schweiz, wie schließlich die kompromisslose Pazifistin und Europäerin Annette Kolb. Dem Kriegsgegner Franz Pfemfert gelang es, die von ihm herausgegebene Zeitschrift ›Die Aktion‹ über den August 1914 hinaus zu Dich! Im Gedicht Ablehnung (seines Gesuches als Kriegsfreiwilliger), datiert 18. August, S. 42f., gibt Ganghofer nun den Kriegsdichter: Und schmettre nun mit Wut und Feuer / Die hagenbüchene Leyer / Den Feinden um Maul und Ohr. 36 H.-O. B INDER , Zum Opfern bereit (Anm. 31), S. 112-120. 37 Vgl. etwa auch C. H IRTE (Hg.), Erich Mühsam. Tagebücher (Anm. 21), S. 102, Tagebucheintrag München, 3./ 4.8.1914: Aber doch ist die Einmütigkeit des Gefühls, eine gerechte Sache zu führen, bei aller Verblendung ergreifend. 38 L. G. H EYMANN , Erlebtes (Anm. 24), S. 124, in ihren Memoiren: Wer später gegen sie [Pazifist/ -innen] den Vorwurf erhob, daß bei ihrer Gesinnung Schweigen ein Verbrechen gewesen sei, bewies nur, daß er von dem in Deutschland bei Kriegsausbruch herrschenden Zustande auch nicht die geringste Ahnung hatte. Und: Wer es gewagt hätte, gegen diese Einheit [der angeblich ausgeglichenen Unterschiede in der angegriffenen Nation] aufzustehen, der wäre überrannt, erdrückt, gelyncht worden […]. Auch für das Folgende etwa W OLFGANG J. M OMMSEN , Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt am Main 2004, S. 138; D ERS ., Kultur und Krieg (Anm. 16), Einleitung, S. 7, 9-11; S. B RUENDEL , Zeitwende (Anm. 1), S. 833; T. A NZ , Vitalismus (Anm. 16), S. 245. <?page no="324"?> Z ÜR NENDE S L EID . H EDWIG L AC HMANNS (1865-1918) A NTIK RIE GS GEDIC HTE 325 retten und als Plattform für kriegskritische Literatur zu erhalten; aber auch hier gab es keinen - auch nicht verschlüsselten - Aufruf, den Krieg zu beenden. Pazifistinnen und Pazifisten wählten, so Lida Gustava Heymann, einen anderen Weg: Verantwortungserfüllte Menschen wußten, daß sie gerade um ihrer Gesinnung willen ihre Arbeitskraft in andere Richtung einzusetzen hätten. 39 Nämlich nicht in die öffentliche Verurteilung des Krieges, sondern in die Arbeit für die friedliche Verständigung zwischen den Völkern. Diesen Weg ging auch Gustav Landauer im bereits im Juni 1914 gegründeten ›Forte-Kreis‹, der bald scheiterte, und in dem im November 1914 gegründeten ›Bund Neues Vaterland‹, der Pazifistinnen und Pazifisten unterschiedlicher politischer Richtungen vereinte, aber ohne politischen Erfolg blieb und nicht zuletzt von den Zensurbehörden behindert und schließlich im Februar 1915 verboten wurde. 40 Insbesondere setzte sich Landauer nun für die Geist-Erneuerung 41 ein: Im Spätsommer oder Herbst 1914 erschienen die ›Kulturgaben‹ des ›Sozialistischen Bundes‹. 42 Nummer 1 enthielt zwei Gedichte: Die Schlacht und Schreckbild von Hedwig Lachmann. In einem Brief an Hugo Warnstedt, dem ein Exemplar des Faltblatts beigelegt war, verwies Landauer programmatisch auf unsere neueste Publikation, ein fliegendes Blatt zur brieflichen Verbreitung […], damit Du siehst, wie wir jetzt intim und zart in die Seelen der Menschen Keime des Schönen und Menschlichen pflanzen wollen. Dies wirkt im Hinblick auf Thematik und Motive der Lachmannschen Gedichte zunächst irritierend. Die Schlacht, entstanden unter dem Eindruck des ersten Balkankrieges, hatte angesichts der verheerenden Verluste schon in den ersten Kriegswochen schreckliche Aktualität gewonnen. 43 Sinnloses Massensterben und 39 L. G. H EYMANN , Erlebtes (Anm. 24), S. 124. 40 Nicht bekannt ist, ob auch Hedwig Lachmann Mitglied - wie z. B. Albert Einstein und Kurt Eisner - im ›Bund Neues Vaterland‹ war. 1916 unterzeichnete sie wie Landauer den Gründungsaufruf der ›Zentralstelle Völkerrecht‹. Zum ›Forte-Kreis‹ und zum ›Bund Neues Vaterland‹ etwa B. S EEMANN , »Mit den Besiegten« (Anm. 6), S. 77; C. K OSUCH , Missratene Söhne (Anm. 11), S. 307, vgl. 315-319; U. L INSE , Anarchismus (Anm. 11), S. 327f., der im übrigen bei Landauer die politisch-revolutionäre Aktion vermisst und sein Verhalten als Eskapismus charakterisiert. Vgl. U LRICH S IEG , Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001, S. 105, demnach hielt Landauer unbeirrbar an der universalen Gültigkeit humaner Werte fest. 41 U. L INSE , Anarchismus (Anm. 11), S. 326. 42 Zu den ›Kulturgaben‹ A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 360, Zit. aus Landauers Brief ebd., S. 362; auch U. L INSE , Anarchismus (Anm. 11), S. 326. Für Linse sind die ›Kulturgaben‹ Ausdruck für Landauers Flucht ins Geistige. Mutmaßlich entsprachen die ›Kulturgaben‹ den ›Flugblättern‹, mit denen ›Der Sozialist‹ u. a. die ideologische Verbindung unter den Gruppen des ›Sozialistischen Bundes‹ herstellte; vgl. ebd., S. 298, hier auch die Angabe von einer Auflage von 10.000 Stück je Flugblatt 1909/ 10. 43 Zu den Verlusten, dem auch der weiterhin verfolgten Offensivstrategie geschuldeten Blutzoll, J. L EONHARD , Büchse der Pandora (Anm. 17), S. 147-152. Vgl. aus den Reihen <?page no="325"?> E LIS A BE TH P LÖS S L 326 Massentöten als zentrales Thema des Gedichts sollten sicher Empörung gegen den Krieg wecken und emotional auf den Frieden lenken. Ob das Gedicht eine solche Wirkmächtigkeit entfalten konnte, gerade wenn es Feldpostbriefen an die Front beigelegt war - was ja wohl beabsichtigt war -, muss im Dunklen bleiben. Schreckbild 44 thematisiert den Zusammenbruch des universalen humanitären Ideals der Menschheit durch den Krieg. Noch gestern ein beseeltes Bündnis aller Zonen, eine Urmacht gleich der Ewigkeit, in deren Dienst viele standen, die für das Ideal auch zum Opfertod bereit waren, ist die Menschheit nun in wirre Völkerschaften zerfallen. In Bruderstämme, die in aus der Vorzeit - als Kain den Abel erschlug - aufsteigendem Blutrausch zum Schlag, / Einander zu vernichten und zu knebeln ausholen. Aus dem Ideal der Menschheit, des universalen Wir, ist ein Schreckbild geworden, eine wie durch den Anblick der Gorgo Medusa versteinerte Fratze: Gleich einer Larve, draus der Geist entwichen. Ein breiteres Lesepublikum verschaffte Julius Bab dem in der ersten Kriegszeit verfassten Schreckbild, indem er das Gedicht in Heft IV: Krieg auf Erden (1914), seiner schließlich 12 Hefte umfassenden Sammlung Der Deutsche Krieg im Deutschen Gedicht (1914-1918) aufnahm. Das Thema des sinnlosen Tötens und Getötetwerdens im Krieg, des massenhaft vergeudeten Blutes, griff Hedwig Lachmann im Gedicht Marcia Funebre [Trauermarsch, E. P.] wieder auf. Deutlicher als Die Schlacht Anklage, erschien es im ›Sozialist‹ am 1. Dezember 1914 auf der Titelseite. 45 Inzwischen war nicht mehr zu übersehen, dass der Krieg nicht, wie bei der Mobilmachung im Sommer verheißen, an Weihnachten siegreich beendet sein würder Schriftstellerinnen, die poetisch mobil gemacht hatten, die bei H. H ÄNTZSCHEL , »O Deutschland« (Anm. 31), S. 129f., zit. Frida Schanz mit dem Gedicht Die ersten Verlustlisten, das den Heldentod (Wie göttliche Helden leuchtet ihr - Erste Gefallne! ) als Opfer der Mütter, Frauen und Kinder feiert; vgl. auch zum zentralen Opfermotiv in diesem Sinn bei den Kriegsliteratinnen H.-O. B INDER , Zum Opfern bereit (Anm. 31), S. 125. 44 Zit. nach A. S TROHMEYR (Hg.), Werkausgabe 2003 (Anm. 7), S. 76f. 45 Gedicht zit. nach A. S TROHMEYR (Hg.), Werkausgabe 2003 (Anm. 7), S. 78. Zitierweise auch im Folgenden: Kursiv in der Zitiervorlage wird g e s p e r r t wiedergegeben. Erstpublikation in ›Der Sozialist‹, Nr. 19, 1.12.1914, S. 139. Julius Bab nahm Marcia Funebre in Heft V: Die lange Schlacht, Berlin 1915, seiner Sammlung Der Deutsche Krieg im Deutschen Gedicht auf. Beide Gedichte s. auch in der Ausgabe J ULIUS B AB (Hg.), 1914. Der Deutsche Krieg im Deutschen Gedicht, Bd. I: Umgearbeitete Gesamtausgabe von Heft 1-6 der Sammlung, Berlin o. J. [um 1915], hier S. 177: Schreckbild, S. 211: Marcia Funebre. Neben den Gedichten von Hedwig Lachmann nahm Bab Gedichte von 17 weiteren Schriftstellerinnen auf, darunter der kriegsbegeisterten Frida Schanz und Isolde Kurz. Vergeudet ist für mich dieses massenhafte Blut, heißt es in Hedwig Lachmanns Brief vom 19.12.1914 an Hedwig Mauthner, der mit Mauthners negativer Reaktion auf das Gedicht zu tun hat. Der Brief ist zitiert bei A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 363-365. <?page no="326"?> Z ÜR NENDE S L EID . H EDWIG L AC HMANNS (1865-1918) A NTIK RIE GS GEDIC HTE 327 de, und auch die extrem hohen Verluste an der Westfront durch die herrschende Offensivstrategie waren kein Geheimnis. Trauert über die Leichenfelder, fordert Marcia Funebre auf, beweint die massenhaft Getöteten: O traure, traure, Herz an den Gebeinen / Der Mannheit, die dem rohen Schwert erlag, / Zehntausend starben dir an einem Tag, / Beweine sie, als weintest du um e i n e n ! (2. Strophe) Auf fahlen Äckern stockt in breiten Spuren / Das frisch vergossene, noch warme Blut; / Vergeudet, wie ein allzu frühes Gut, / Verwest die Frucht der Mütter auf den Fluren. (3. Strophe) Das Gedicht beginnt und endet mit der als Imperativ vorgetragenen Aufforderung, den in den Schlachten Erschlagenen den Frieden zu geben: Begrabt die Männer, daß nicht das Getöse / Des Schlachtgemenges länger sie umschallt, / Und daß vom Todeskrampf, der sie umkrallt, / Die Erde ihre starren Glieder löse. (1.und 5. Strophe gleich) Das kann, im Subtext, auch als Aufforderung gelesen werden, den Krieg zu beenden. Hedwig Mauthner hatte, so der Religionsphilosoph Martin Buber - man kannte sich, Buber gehörte wie die Mauthners zum Freundes- und Bekanntenkreis der Familie Lachmann-Landauer - manches Aber zu Marcia Funebre zu sagen, was sie Hedwig Lachmann brieflich zur Kenntnis gab. 46 Zunächst antwortete jedoch Landauer, der Hedwig Mauthner vorwarf, dass ihr Brief nichts Eigenes enthalte, dass sie die Sprache der Zeitungen spräche. 47 46 Zur Zeit des Briefes war die studierte Ärztin Hedwig Mauthner im Konstanzer Lazarett tätig. Zu ihrem Brief und dem dabei auch eine Rolle spielenden Konflikt A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 362f.; C. K OSUCH , Missratene Söhne (Anm. 11), S. 308-314; B AR - BARA H AHN , Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen (ed. suhrkamp 1723, NF 723), Frankfurt am Main 1991, S. 84-87, insbes. 86f. Hahn zufolge ging der Konflikt, an dem sich beide Ehepaare brieflich beteiligten, auf einen 1913 erschienenen Aufsatz Landauers über das Judentum zurück. Hahn beachtet oder kennt nicht die für die Auseinandersetzung wesentlich wichtigere kriegszustimmende Haltung von Hedwig und Fritz Mauthner bei Kriegsausbruch. 47 Dies war ein harter Vorwurf, den Landauer auch schon Fritz Mauthner gemacht hatte. Der eifrige Zeitungsleser Erich Mühsam schrieb zum Thema Zeitungen und ihren nationalpatriotischen Tönen unter dem 21. Oktober 1914 in sein Tagebuch: Nur wir Deutschen! Nein, was sind wir für ein herrliches und unvergleichliches Volk! Es kotzt einen nachgrade an, das jeden Tag ein Dutzendmal zu lesen. Eine solche scham- und rücksichtslose Selbstbeweihräucherung war überhaupt noch nicht da. Was unsere Schmöcke […] im Lobe der deutschen Bescheidenheit, Tapferkeit, Biederkeit, Gottvertrauen, Schlichtheit, Gradheit und was für Tugenden noch bieten, stellt alle französische eitle Bespiegelung […] in den Schatten. Zit. nach T. F LEMMING / B. U LRICH , Heimatfront (Anm. 19), S. 57; S. 58: Die Zeitungen verstärkten und manipulierten die in der Öffentlichkeit dominanten <?page no="327"?> E LIS A BE TH P LÖS S L 328 Hedwig Lachmann selbst antwortete am 19. Dezember 1914. In ihrem Brief machte sie auch deutlich, warum sie keine national-patriotische Erhebung fühlen könne und warum von ihr kein anfeuerndes Vaterlands- und Heldengedicht zu erwarten sei. Und sie legte ihre Empfindungen und ihre Kriegsgegnerschaft dar. Der im Lazarett mit den furchtbaren Kriegsverletzungen der Soldaten konfrontierten Mauthner glaube sie gern, so Lachmann, dass diese täglich Erschütterndes erlebe, das Dir die Größe und Heldenhaftigkeit der Menschennatur zeigt und den Wert des deutschen Wesens. Doch nun sprach auch die literarische Übersetzerin, die Nachdichterin 48 englisch- und französischsprachiger Lyrik, die nicht das deutsche Wesen als aggressives Selbstbild gegen Feindbilder stellen mochte, sondern einen sehr viel differenzierteren Blick auf die ›Feinde‹ richtete. Sie betonte das Verbindende, das Gleichartige der Völker; kein Volk sei mehr wert als das andere.Vor allem seien sich die Völker gar nicht wirklich feind: Ja, ich kann es sagen, erst durch diesen Krieg ist mir die Nichtigkeit, das ganz und gar Künstliche, Gewollte von Völkerhaß und Völkerfeindschaft aufgegangen. Was den wohl von Mauthner in ihrem Brief ins Feld geführten Wert des deutschen Soldaten betreffe, habe dieser gewiß prachtvolle Eigenschaften, nur: Wenn ich aber sehe, wie bei allen Heeren gleichermaßen höchster Opfermut, Zähigkeit und Ausdauer herrscht (bei dem kleinen Serbenvolk beispiellos), muß mir das nicht zu denken geben! Gegen den aggressiven Nationalismus so vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller und indirekt wohl auch den »Kriegsnationalismus« (Jörn Leonhard) des Ehepaares Mauthner richtete sich: Ich bin deutsch und ich fühle deutsch. Nirgends anderswo fühle ich mich heimisch […]. Aber wenn andere jetzt in ihrer Wesensverwandtschaft und Stammeszugehörigkeit gestärkt sind, so ist es mir, als wäre ich herausgehoben und entwurzelt und angeschlossen an die große heimatlose Familie, die nur von einem Band zusammengehalten wird - der Menschheit! ! Auf Hedwig Mauthner als Anhängerin des Mythos vom aufgezwungenen Verteidigungskrieg ist die Bemerkung gemünzt, Mauthner werde sagen, dass es kein falsches Ideal sei, sein Vaterland zu verteidigen. Das sei auch gewiss kein falsches Ideal, stimme für diesen Verzweiflungskampf aber nicht. Dieser Krieg m u ß t e kommen, er sei gewollt, er sei herbeigeführt worden. Wie soll ich da Erhebung fühlen, fragt die kriegsbegeisterten Emotionen; ähnlich wie bei den meisten Intellektuellen, Künstlern und Literaten herrschte in den Zeitungsredaktionen »eine große Bereitschaft zur vorbehaltlosen Identifizierung mit der überfallen geglaubten Nation«. Dies traf sicher auch für das Ehepaar Mauthner zu. 48 Vielleicht nicht zufällig war Hedwig Lachmanns letztes Gedicht, am 13.2.1918 kurz vor ihrem Tod verfasst (noch nicht die autorisierte Endfassung), eine Übertragung aus dem Englischen, Das 43. Sonett, von William Shakespeare; A. S TROHMEYR (Hg.), Werkausgabe 2003 (Anm. 7), S. 85. Bezeichnend für Hedwig Lachmanns Haltung ist auch eine von der Tochter Brigitte Landauer überlieferte Episode: Bei der Heimreise von Karlsruhe nach Berlin bei Kriegsausbruch unterhielt sich Lachmann in englischer Sprache mit englischen Touristen im gleichen Wagen, mit nunmehrigen ›Feinden‹, was die deutschen Passagiere sehr verärgerte; A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 357. <?page no="328"?> Z ÜR NENDE S L EID . H EDWIG L AC HMANNS (1865-1918) A NTIK RIE GS GEDIC HTE 329 Pazifistin Hedwig Lachmann, wo ich doch weiß, mit welch unheimlichem Kaltsinn, mit welch schonungsloser Verachtung aller natürlichen menschlichen Lebensinteressen und mit welcher Spekulation auf die latenten ›idealen‹ Volksinstinkte auf diese Eruption hingearbeitet worden ist? Direkt auf ihr Gedicht Marcia Funebre und dessen zentrale Absicht bezogen ist schließlich der Satz: Vergeudet ist für mich dieses massenhafte Blut und o! hätte ich doch noch Worte und Töne in der Brust, auch den Andern d i e g a n z e V e r w e r f l i c h k e i t , d a s I r r s i n n i g e d i e s e s T u n s vor die Seele zu stellen! Gerade auch diejenigen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, die der »Mobilisierungseuphorie« bzw. dem »Kriegsnationalismus« erlegen waren, meinte Hedwig Lachmann, als sie am 6. Januar 1915 an ihre Freundin Anna Croissant-Rust schrieb: 49 Was ist doch die Welt so gewandelt! Ich denke oft: Sollten wir uns nicht noch verstehen können? Ist es denn möglich, daß Menschen, mit denen man sich in den Grundanschauungen des Lebens eins wußte, so ganz sich selbst entfremdet sind und eine unverständliche Sprache sprechen? Würde sie die Worte finden, dann könne sie, so schrieb sie weiter, Bände füllen über all den Widerspruch, den ich seit Ausbruch des Krieges täglich und stündlich gegen alles Geschriebene und Gesprochene fühle. Sie fand aber durchaus stärkere Worte für die national berauschten Dichter: Schöne Poeten, schöne Geistesgrößen sind mir das! Aus der geistigen Kinderstube scheinen sie alle zu kommen, auch abgesunken auf den primitiven Standpunkt unmündiger, dem Schuldenken nicht entwachsener Geister. Und: Das ganze Rüstzeug der poetischen Rumpelkammer ist blitzeblank aufpoliert worden und geht nun für neu, ja, für etwas unerhört Großartiges. 4. Widerwillen gegen Heroisches, Krieg und Siegestaumel Ihre Aversion gegenüber Dichtern, die national-patriotische und heroische Kriegsgedichte verfassten, steigerte sich schließlich bis zur Unduldsamkeit, bis zum auch physisch empfundenen Widerwillen, solche Hervorbringungen überhaupt noch zu lesen. 50 Ihr Widerwillen richtete sich vor allem auch gegen die Sprache der vom nationalen Furor ergriffenen Literaten. Die Formulierung Ich bin deutsch und ich fühle deutsch im Brief vom 19. Dezember 1914 an Hedwig Mauthner hat auch mit Sprache und Sprechen zu tun. Hedwig Lachmann, die personifizierte Sprachkritik, 51 war sehr empfindlich, was den Umgang mit ihrer, der deutschen Sprache betraf, sie schwieg lieber als leere und prätentiöse - oder patriotisch berauschte - Phrasen zu gebrauchen. Dies betonte und würdigte Julius Bab in seinem Nachruf in ›Die Frau‹ 49 Aus dem Brief zit. nach A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 368f. 50 Brief vom 6.11.1917 an Auguste Hauschner, zit. nach A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 388. 51 A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 218. <?page no="329"?> E LIS A BE TH P LÖS S L 330 (1918): Diese Jüdin, aus einer alten, schwäbischen Gemeinde stammend, war zugleich eine höchst vollkommene Deutsche - denn das innerste Leben des deutschen Volkes, wie es niedergelegt ist in seiner Sprache, kann nicht ehrfurchtsvoller, kräftiger und reiner gefasst werden, wie Hedwig Lachmann in ihren dichterischen Arbeiten es getan hat. 52 In Schreckbild hatte Hedwig Lachmann die Zerstörung humanitärer Werte und Ideale durch den Krieg thematisiert. In Melancholia machte sie den inzwischen global gewordenen Krieg selbst zum Gegenstand eines Gedichtes, das im ›Sozialist‹ vom 1. März 1915 auf der Titelseite erschien. 53 Der Krieg, das ist im Gedicht die Begegnung mit einem schon metaphysischen Grauen, mit einem abgründigen Entsetzen, das im Stupor erstarrt (1. und 2. Strophe): 54 Das Auge, das sich in dem Graus verliert, / Der langsam um den Erdball rast, / Wird vor Entsetzen irre und gefriert, / Wie wenn im Tod es brechend sich verglast. / / Weh ohne Maß, ins unbegrenzte All / Wie ein empörtes Meer hinausgeschnellt, / Wo es mit millionenfachem Prall / An starrer Luftschicht wesenlos zerschellt. Der Brudermord von Kain an Abel, begangen in verworrnem Urtrieb dumpf und jäh, die Blutschuld, die sich als Erbfluch des Menschengeschlechts durch die Zeit fortsetzt, gebiert den Krieg. Die beiden letzten Strophen stellen eine Vision des Krieges dar, der als Dämon aus der Hölle aufsteigt, der als ein vergotteter Götze, als Moloch, seine Anbeter unterschiedslos zermalmt: Aus euren Träumen wuchs der wilde Geist, / Von Höllenlicht umlodert und umqualmt, / Den mit verstörten Sinnen ihr umkreist, / Und den ihr Gott nennt, weil er euch zermalmt. / / Fühllos und ohne Ohr für euer Flehn, / Tut er mit Tod und Grauen euch Bescheid / Und läßt er ohne Ende blind geschehn, / Daß ihr die Opferer und Opfer seid. 52 Zit. nach B. S EEMANN , »Mit den Besiegten« (Anm. 6), S. 108. 53 ›Der Sozialist‹, Nr. 4, 1.3.1915, S. 25. Dies war die vorletzte Nummer des ›Sozialist‹. Eine auf Ende 1915/ Anfang 1916 geplante Neuausgabe unterblieb u. a. aufgrund von Zensur, Geldproblemen und der Ausweisung des Druckers; U. L INSE , Anarchismus (Anm. 11), S. 326. Damit entfiel auch eine Veröffentlichungsmöglichkeit für Hedwig Lachmann. 54 Zit. nach A. S TROHMEYR (Hg.), Werkausgabe 2003 (Anm. 7), S. 77. Vgl. E RNST B LOCH , Das Prinzip Hoffnung (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 3), Bd. 1, Frankfurt am Main 1973, S. 351, zu Dürers Blatt ›Melancholia‹. Hier ist die Rede von der »Angst als die Berührung mit einem möglichen Abgrund, der nicht einmal einen Boden hat, auf dem das Fallen zerschellt. […] Stupor, worin eine im dauernden Jetzt eröffnete Verzweiflung starrt […]«. Dies ähnelt zumindest Hedwig Lachmanns Empfinden, das sie in ihrem Gedicht Melancholia ausdrückt. <?page no="330"?> Z ÜR NENDE S L EID . H EDWIG L AC HMANNS (1865-1918) A NTIK RIE GS GEDIC HTE 331 Nach 17 Monaten Krieg brachte Hedwig Lachmann ihr Leiden am Krieg auch in einem Brief vom 25. Dezember 1915 an Anna Croissant-Rust zum Ausdruck: Mit Gewalt muß man seine Gedanken von all dem Unbeschreiblichen abwenden, sonst müßte man zergehen vor Weh und Abscheu. 55 1915 jedoch kam ein weiteres Element in ihrer Kriegserfahrung zum Tragen: Zum Leiden über das Massentöten und sinnlose Blutvergießen und die Zerstörung humanitärer Werte traten nun Zorn und Empörung, Abscheu und Verachtung gegenüber den Siegern und der von ihnen und ihrem Triumphgebraus dominierten Kriegsgesellschaft. Den Sommer verbrachte Hedwig Lachmann wie gewohnt in Krumbach bei ihrer Mutter Wilhelmine; ihr Vater war bereits im Jahr 1900 verstorben. Hier entstand nun ihr heute aufgrund seiner Einzigartigkeit bekanntestes Antikriegsgedicht Mit den Besiegten. Das lyrische Ich des Gedichts stellt sich auf die Seite der niedergemachten, verhöhnten und erniedrigten ›Feinde‹ und verweigert sich damit der (noch) siegreichen Kriegsgesellschaft, ja bricht mit deren aggressiv-militaristischen Werten. Aber nicht erst jetzt erhob die sonst so scheue Dichterin öffentlich ihre Stimme gegen Unrecht oder die Verfolgung Unschuldiger. Bereits 1911 hatte sie Partei für alle Erniedrigten in ihrem Gedicht Ewige Gegenwart ergriffen. 56 Und ihr Gedicht Empörung war ein flammender Protest gegen den 1913 in Kiew gegen Mendel Beilis wegen ›Ritualmord‹ eröffneten Prozess. 57 Das zürnende Leid um Gerechtigkeit und Menschlichkeit, von dem Julius Bab im Nachruf auf Hedwig Lachmann sprach, inspirierte 1915 Mit den Besiegten 58 : Preist ihr den Heldenlauf der Sieger, schmückt Sie mit dem Ruhmeskranz, euch dran zu weiden - Ich will indessen, in den Staub gebückt, Erniedrigung mit den Besiegten leiden. Geringstes Volk! verpönt, geschmäht, verheert Und bis zur Knechtschaft in die Knie gezwungen - Du bist vor jedem stolzeren mir wert, Als wär’ mit dir ich e i n e m Stamm entsprungen! 55 Zit. nach A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 370. 56 Ewige Gegenwart erschien in ›Der Sozialist‹, Nr. 23 vom 1.12.1911. In der letzten Strophe heißt es: Um die Erniedrigung von Geknechteten pocht / Mein Pulsschlag ungestüm, / Als wäre ich selbst unterjocht. Zum Gedicht A. S TROHMEYR , Sozialethik (Anm. 8), S. 170f., mit Abdruck des Gedichts. 57 Das Gedicht erschien auf der Titelseite von ›Der Sozialist‹, Nr. 20 vom 5.11.1913. Ausführlich zum Fall Beilis mit Abdruck des Gedichts, das Hedwig Lachmann unter dem Pseudonym ›Hadassa‹ veröffentlichte, A. S TROHMEYR , Sozialethik (Anm. 8), S. 171-173. 58 Zit. nach A. S TROHMEYR (Hg.), Werkausgabe 2003 (Anm. 7), S. 80. <?page no="331"?> E LIS A BE TH P LÖS S L 332 Heiß brennt mich Scham, wenn das Triumphgebraus Dem Feinde Fall und Untergang verkündet, Wenn über der Zerstörung tost Applaus Und wilder noch die Machtgier sich entzündet. Weit lieber doch besiegt sein, als verführt Von eitlem Glanz - und wenn auch am Verschmachten, Und ob man gleich den Fuß im Nacken spürt - Den Sieger und das Siegerglück verachten! Von Gustav Landauer, der von Hermsdorf aus die Entstehung des Gedichtes verfolgt hatte, stammte der Vorschlag, den ursprünglichen Titel Lob durch den Titel der Endfassung, Mit den Besiegten, zu ersetzen. 59 Am 1. August 1915 schrieb er nach Krumbach: Ich finde es wunderschön und bin innig gerührt, daß gerade dieses Gedicht in Dir nach dem vollendeten Ausdruck sucht. Ich danke Dir, Hedwig, Frau, Jüdin, Meine. Die Tochter Brigitte Landauer-Hausmann überliefert hingegen: Ich danke Dir, Hedwig, Du jüdische Tochter und meine teure Frau. Mit dem Geringsten Volk habe Hedwig Lachmann, so Gustav Landauer am 14. Oktober 1918 brieflich an Auguste Hauschner, die Serben vor Augen gehabt; auch habe sie sich nichts so sehr gewünscht, als dass Deutschland den Krieg verliere - d. h., die Niederlage hätte in ihrer Sicht den Krieg beendet und zum Frieden geführt, den sie ersehnte. Die Niederlage schien ihr wohl auch Bedingung und Chance für einen gesellschaftlich-geistigen Neubeginn zu sein. Serbien war demnach das aktuelle Modell der Besiegten, das gegenwärtige Inbild einer Opfernation. 60 Das Urmodell der Besiegten, Versklavten und Geschmähten waren für sie, die jüdische Tochter, jedoch die Juden. Hedwig Lachmann war in Hürben in einer Atmosphäre jüdischer Religiosität und Geistigkeit aufgewachsen, deren Repräsentant für sie ihr Vater Isaak Lachmann war. 61 In ihren Gedichten An meinen Vater, Abstammung und Bußtag setzte sie 59 Dazu, zum Folgenden und Zitate A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 371-373, S. 372 das Zitat nach Brigitte Landauer-Hausmann; B. S EEMANN , »Mit den Besiegten« (Anm. 5), S. 111. Das ausführliche Zitat aus Landauers Brief vom 1.8.1915 bei B. H AHN , Unter falschem Namen (Anm. 43), S. 77; ihre Deutung der Reihung ›Frau - Jüdin - Meine‹ erscheint allerdings bemüht. Erstaunlich ist, dass A. S TROHMEYR , Sozialethik (Anm. 8), Mit den Besiegten auch im Kapitel »Die politisierte Pazifistin und der Erste Weltkrieg« ignoriert. 60 Vgl. J. L EONHARD , Büchse der Pandora (Anm. 17), S. 187f., zu dem auch gegen die Zivilbevölkerung ab dem 11. August 1914 mit extremer Gewalt geführten Krieg gegen die Serben und das international verheerende Echo auf die Gräueltaten des österreichischungarischen Heeres hin. 61 Zu Isaak Lachmann, der aus einer Gelehrtenfamilie wohl in Dubno in Russland (heute Ukraine) stammte, A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 18f., s. auch 190: Hedwig Lachmann schrieb am 29.12.1912 an Anna Croissant-Rust, dass sie durch ihren Vater mit <?page no="332"?> Z ÜR NENDE S L EID . H EDWIG L AC HMANNS (1865-1918) A NTIK RIE GS GEDIC HTE 333 sich mit der jüdischen Tradition, die er verkörperte, auseinander, damit zugleich mit ihrer eigenen geistig-religiösen Herkunft. Hedwig Lachmann, die sich, ohne orthodox zu sein, zeitlebens als Jüdin und der jüdischen Gemeinschaft zugehörig fühlte, 62 waren die altisraelitischen Propheten und deren Friedenstraum vertraut - auch in diesem Sinn ist das Gedicht zu lesen und vor allem weiterzudenken. Die Prophetenpredigt (Jesajas 13,11) enthält eine Utopie der Befreiung: Gott wird als Rächer auftreten und dem Hochmut der Stolzen - der Sieger des Gedichts - ein Ende machen und er wird die Gewaltigen in ihrer Hoffart demütigen. 63 In der berühmten Utopie (Jesajas 2,4) vom messianischen Gottesreich der Wahrheit und des Friedens - Ernst Bloch spricht vom »Urmodell der pazifizierten Internationale« - werden die Völker ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und sie werden nie mehr das Kriegsschwert gegeneinander erheben. Aus dem Geist und der Tradition des messianisch orientierten Judentums gespeist, scheint so im Gedicht Mit den Besiegten die Utopie einer anderen gerechteren, menschlicheren und geistig erneuerten Gesellschaft auf. In der realen Kriegsgesellschaft zeigten sich 1915 inzwischen Risse. Der Mythos von der Einheit der angegriffenen Nation, die keine Unterschiede unter den Deutschen kannte, wurde zusehends brüchig. In der Bevölkerung zeichnete sich ein Stimmungsumschwung ab und aufgrund gegensätzlicher Kriegserfahrungen eine Spaltung in solche, die eine fanatische Durchhaltementalität vertraten, und in diejenigen, die immer offener ihre Friedenssehnsucht bekannten. Auch wurde der Antisemitismus im Verlauf des Krieges immer aggressiver. 64 Mit den Besiegten erschien im Erstdruck in der von Martin Buber herausgegebenen Zeitschrift ›Der Jude‹ 1917 im August/ September-Heft zusammen mit dem Gedicht Unter der Schwelle, dem letzten bekannten, d. i. gedruckten, Antikriegsgedicht von Hedwig Lachmann. 65 Wann genau sie Unter der Schwelle schrieb, ist dem russisch-jüdischen Wesen vertraut sei und sich mit diesem verwandt fühle. Zu Isaak Lachmann, einem streng gläubigen Juden, auch etwa H. A UER , Vater und Tochter (Anm. 5), S. 98-102; A. S TROHMEYR , Sozialethik (Anm. 8), S. 163-166. 62 Zum Beispiel B. S EEMANN , »Mit den Besiegten« (Anm. 6), S. 66f., 74, 100-109; A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 466, zufolge stand Hedwig Lachmann auch in einer Tradition messianischer Erwartung, in diesem Sinn zitiert Walz aus dem Nachruf von Julius Bab, der ihr eine messianische Leidenschaft zur Wahrheit, Gerechtigkeit und zur Menschheit bescheinigt. 63 Hierzu s. E. B LOCH , Das Prinzip Hoffnung (Anm. 53), Bd. 2, S. 575-579, insbes. 578. 64 J OACHIM R ADKAU , Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München-Wien 1998, S. 431. Auch J. L EONHARD , Büchse der Pandora (Anm. 17), S. 376, 383, zum Stimmungsumschwung und zur Entstehung eines großen Konfliktpotentials 1915. 65 ›Der Jude ‹ , 2. Jg., Nr. 5/ 6 August/ September 1917; A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 391, 511. Zu ›Der Jude‹, dessen 1. Heft im April 1916 erschien, U. S IEG , Jüdische Intel- <?page no="333"?> E LIS A BE TH P LÖS S L 334 unbekannt. Eine zeitliche Nähe zu Mit den Besiegten ist aufgrund motivischer Übereinstimmungen zu vermuten. Vielleicht verfasste sie Unter der Schwelle auch mit Blick auf die - nicht zustande gekommene - Anthologie mit Zeitgedichten, die Erich Mühsam mit ihr zusammen 1916 plante? 66 Das lyrische Ich des Gedichts 67 ist ein Weib, zag, furchtsam, feig wohl gar - / Geschreckt von dem Gewühl auf lautem Markt; / Kleinlaut vor jähem Männerzwist und bar / Der Kampflust, die am Widerstand erstarkt. (1. Strophe) Dieses ängstliche, friedfertige, eher passive, vor Blut und Auseinandersetzungen zurückschreckende Ich ist das Gegenbild zu einem männlichen ›Geschlechtscharakter‹, den Gewalttätigkeit und Kampflust kennzeichnen; eine Verwandtschaft mit den Siegern des Gedichts Mit den Besiegten ist unverkennbar. Ähnlich wendet auch in Unter der Schwelle sich der Sinn des weiblichen Ich fremd und feindlich […] Von Waffentaten noch so heldenhaft. Die Gegenfigur des lyrischen Ichs ist das Kriegerideal, das Hedwig Lachmann in ihrem Brief vom 25. Dezember 1915 an Anna Croissant-Rust in die mythologische Rumpelkammer verbannt sehen wollte. 68 Das soldatische Männerbild, Leitbild der Kriegsgesellschaft, hatte sich verstärkt in den Jahren vor dem Krieg entwickelt. 69 Diese harte, rationale, unsentimentale Männlichkeit durfte keine weiblichen ›weichen‹ Eigenschaften aufweisen. Weich schuf mich die Natur, charakterisiert sich im Gedicht hingegen das lyrische Ich und In Tränen bricht / Mein Unmut sich wohl leicht nach Frauenart. Dagegen steht eine alles durchdringende Verhärtung, die Hedwig Lachmann in ihrem Brief an Croissant-Rust als Grundübel unserer Weltbeschaffenheit beklagte; in diesem Kontext verurteilte sie das Kriegerideal. lektuelle (Anm. 48), S. 211f., 235, 240; die anspruchsvolle Kulturzeitschrift, die sich u. a. mit der ostjüdischen Kultur beschäftigte, wurde auch an der Front gelesen. 66 C. K OSUCH , Missratene Söhne (Anm. 11), S. 322. 67 Zit. nach A. S TROHMEYR (Hg.), Werkausgabe 2003 (Anm. 7), S. 80f. 68 Brief bei A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 370f. 69 J. R ADKAU , Zeitalter der Nervosität (Anm. 64), S. 389, führt für die wilhelminische Gesellschaft ein neues, hartes und unsentimentales Leitbild von Männlichkeit an, das bis in die Körpersprache hinein wirkte, jedoch erst dann im Krieg vielen Männern »unter die Haut« gegangen sei; auch ebd., S. 391, hier die »Verhärtung« des Männerideals als nicht nur deutscher Trend. R ENÉ S CHILLING , »Kriegshelden«. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813-1945 (Krieg in der Geschichte 15), Paderborn 2002, S. 170, charakterisiert den spätestens seit den 1890er Jahren und dann im Ersten Weltkrieg dominanten Idealtypus des »reichsnationalen Kriegshelden« als aggressiv-militaristisches Männlichkeitsbild auch antidemokratischer Einstellung, dessen Gegenbild die passive, friedfertige, intellektuell eher unbedarfte Frau sei; das zu diesem Kriegshelden-Typus gehörende polare Modell weiblicher (weich) und männlicher (hart, rational, im Krieg Erfüllung findend) Geschlechtscharaktere s. auch ebd., S. 380. Vgl. auch T HOMAS K ÜHNE , Der Soldat, in: U TE F REVERT / H EINZ -G ERHARD H AUPT (Hg.), Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Ausgabe Essen 2004, S. 344-372, hier 344-347. <?page no="334"?> Z ÜR NENDE S L EID . H EDWIG L AC HMANNS (1865-1918) A NTIK RIE GS GEDIC HTE 335 In der vierten Strophe des Gedichts schlägt Hedwig Lachmann schließlich das zentrale Motiv an: Im Ich lebt eine Kraft, / Mir selber kaum bewußt und unbewährt, / Die gegen herrische Gewalt sich strafft / Und eine Glut im Kerne nährt. Die herrische Gewalt, das ist auch die der Sieger gegen die unterworfenen ›Feinde‹, die das lyrische Ich im Gedicht Mit den Besiegten verachtet. Noch aber ist die weibliche Kraft, die sich gegen diese Gewalt erheben will, ihrer Eignerin kaum bewusst, geschweige denn von ihr schon angewendet worden - sie befindet sich, wie der Gedichttitel besagt, noch unter der Schwelle. Die Entfachung der Glut im Kerne der Kraft zur Flamme, die über die Schwelle schlägt und zum befreienden Brand wird, ist jedoch im Gedicht eine Sache der Zukunft. Ein kühneres Geschlecht, das jenseits der Machtbegehr und Ruhmsucht der Kriegsgesellschaft der Sieger steht und Freiheit fordert, wird diese Zukunft herbeiführen. Dann, befreit, wird auch das weibliche Herz fest und ungebeugt standhalten, so wie jetzt, in der Kriegsgesellschaft, trotz der Übermacht von Erz und Stahl, / Ein Mannesherz für reine Wahrheit zeugt. Bereits im Februar 1915 hatte die Pazifistin Lida Gustava Heymann in einem sofort beschlagnahmten Flugblatt gefragt: Frauen Europas, wo bleibt Eure Stimme? Seid ihr nur groß im Dulden und Leiden? Kann die von Menschenblut rauchende Erde, können die Millionen von zerschundenen Leibern und Seelen Euerer Gatten, Verlobten und Söhne, können die Greuel, die Eurem eigenen Geschlechte widerfahren, Euch nicht zu flammendem Protest erheben? 70 Was Heymann von den Frauen als ihre Pflicht als Frauen und Mütter und als Hüterinnen wahrer Kultur und Menschlichkeit einforderte, blieb bei den Schriftstellerinnen bis auf späte und vereinzelte Ausnahmen ohne Resonanz. 1916, im Jahr der großen ›Materialschlachten‹ von Verdun und an der Somme, war allerdings auch unter ihnen die anfängliche Kriegsbegeisterung und Kriegsbejahung nicht mehr selbstverständlich. 71 Nur die wenigsten aber gaben ihrem Protest in Lyrik oder Prosa Ausdruck, eher wählten sie ein beredtes Verstummen. Die Kriegserfahrung der ›Heimatfront‹, die immer mehr auch unter der katastrophalen Versorgungslage, Mangel, Kontrollen und Zwangsmaßnahmen litt, veranlasste aber Pazifistinnen und pazifistisch gesinnte Schriftstellerinnen und Schriftsteller auch, über die Mitverantwortung der Frauen am Krieg nachzudenken. 72 70 Zit. nach S YBILLE K RAFFT , »An der Heimatfront«. Frauenleben im Ersten Weltkrieg 1914-1918, in: S YBILLE K RAFFT / M ARITA A. P ANZER / E LISABETH P LÖSSL / K ARIN S OM - MER (Hg.), Frauenleben in Bayern von der Jahrhundertwende bis zur Trümmerzeit, hg. von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1993, S. 119-170, hier 166. 71 H.-O. B INDER , Zum Opfern bereit (Anm. 31), S. 112, 126. 72 Etwa die Münchner Lehrerin und Pazifistin Maria Zehetmaier in Flugblättern und Kettenbriefen 1916/ 17, Auszüge bei S. K RAFFT , »An der Heimatfront« (Anm. 70), S. 167. Vgl. auch T. F LEMMING / B. U LRICH , Heimatfront (Anm. 19), S. 227. Der hier angeführte Schriftsteller Andreas Latzko erhob in seiner Erzählung Abmarsch, die zusammen mit fünf <?page no="335"?> E LIS A BE TH P LÖS S L 336 1916 schrieb Berta Lask (1878-1967) ein Gedicht, das die Mitschuld der Frauen am Krieg thematisierte. 73 Erst nach dem Krieg veröffentlicht, ist dieses in seiner Art ebenso außergewöhnlich wie Hedwig Lachmanns Mit den Besiegten. Die erste und die zweite Strophe lauten: Ich habe mit getötet / Jeden der draußen fällt. / Ich habe mich inmitten / Des Meeres von Blut gestellt./ / Ich habe des Weibes Wissen / Aus Scheu vor der Mannmacht erstickt / Meine blanken, geweihten Schwerter / verborgen und nicht gezückt. Auch Hedwig Lachmanns Gedicht Unter der Schwelle gehört zu den - noch kaum erforschten - Stimmen an der ›Heimatfront‹, die sich mit literarischen Mitteln mit der Verantwortung der Frauen am Krieg und in der Kriegsgesellschaft auseinandersetzten. Sie spricht, wenn überhaupt, nur sehr leise eine Mitschuld der Frauen an, die im ›weichen‹ weiblichen ›Geschlechtscharakter‹ begründet liegt, etwa wenn der Unmut sich wohl leicht, nach Frauenart in Tränen bricht, privat bleibt und nicht beispielsweise in dem von Lida Gustava Heymann geforderten flammenden[m] Protest öffentlich wird. Den blanken, geweihten Schwerter[n] der Frauen, die verborgen und nicht gezückt sind bei Berta Lask entspricht bei Hedwig Lachmann die sich gegen die herrische Gewalt der männlich-militaristisch dominierten Kriegsgesellschaft sträubende weibliche Kraft. Auch diese bleibt aber verborgen, kaum bewusst, wird nicht erprobt. Verwirklicht wird sie erst durch ein anderes, freieres Geschlecht in der Zukunft. Dass aber durch den Krieg selbst wohl ein tiefgreifender Wandel in Gang gesetzt wird, sprach Hedwig Lachmann in ihrem Brief vom 25. Dezember 1915 an Anna Croissant-Rust an: So mag auch das Bisherige dieses Krieges nur ein Anfang kommender Ereignisse sein und wir stehen inmitten einer über eine weite Strecke von Jahren gebreiteten Umwälzung. 74 weiteren Erzählungen im 1917 in Zürich zunächst anonym, dann 1918 namentlich publizierten Antikriegsbuch: Menschen im Krieg, erschien, eine harsche Anklage gegen die Mitschuld der Frauen am Krieg, die einem Verwundeten in den Mund gelegt wird. Für ihr Stimmrecht, aber nicht für ihre Männer hätten die Frauen gekämpft: […] nicht eine hat uns verteidigt. Nicht eine hat sich gerührt in der ganzen Welt. […] Morden haben sie uns geschickt, sterben haben sie uns geschickt für ihre Eitelkeit. Zit. nach der Neuausgabe von A NDREAS L ATZKO , Menschen im Krieg, Wien 2014, S. 29. Zu Latzko s. auch H.-O. B INDER , Zum Opfern bereit (Anm. 31), S. 126, hier auch die Antwort der Schriftstellerin und Pazifistin Annette Kolb 1918 auf Latzko: Wenn die Frauen versagten, so habt ihr an ihnen die Saaten eurer Lügen geerntet. 73 Ohne Titel abgedruckt bei R UTH W OLF , Wandlungen und Verwandlungen. Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts, in: G ISELA B RINKER -G ABLER (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen, Bd. 2: 19. und 20. Jahrhundert, München 1988, S. 334-352, hier 340f., Gedicht 341. 74 Brief zit. bei A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 370. <?page no="336"?> Z ÜR NENDE S L EID . H EDWIG L AC HMANNS (1865-1918) A NTIK RIE GS GEDIC HTE 337 5. Vermächtnis Kann man denn dichten, wenn man die M e n s c h h e i t nicht liebt, sondern nur sein pures Selbst und sein ›erbärmliches Behagen‹? , fragte Hedwig Lachmann in einem Brief vom 9. Oktober 1899 an Anna Croissant-Rust. 75 Und im Gedicht An meinen Vater heißt es in der 3. Strophe: Das fühlende Umarmen / Der Welt in ihrem Sein, / Am Irdischen Erwarmen - / Wir hatten es gemein. 76 Diese Liebe zur Menschheit, diese Empathie gegenüber einem universalen Wir, beinhaltete für die Dichterin Hedwig Lachmann vor allem auch eine ethische Verpflichtung. Mit ihren lyrischen Mitteln solidarisierte sie sich und engagierte sich für die Opfer von Unterdrückung und Ungerechtigkeit und für die Angehörigen durch Verfolgung bedrängter Gruppen. 77 Schmerz über und Leiden an Gewalt - die bitterste Gewalterfahrung war der Krieg - und die zutiefst moralisch aufgefasste Verantwortung als Autorin, d i e g a n z e V e r w e r f l i c h k e i t , d a s I r r s i n n i g e d i e s e s T u n s, 78 nämlich des Massentötens und sinnlosen Blutvergießens, vor Augen zu führen, inspirierte ihre Antikriegsgedichte. In der Kriegsgesellschaft von 1915 erforderte es einigen Mut auch des Denkens, dem Zorn und der Verachtung gegenüber den Siegern, die im Triumphgebraus die Menschenrechte der besiegten ›Feinde‹ mit Füßen traten, dichterisch Ausdruck zu geben. Wenige Monate vor ihrem Tod hat Hedwig Lachmann in einem Brief vom 4. November 1917 an den Schriftsteller Wilhelm Schäfer unter anderem die Verantwortung der Intellektuellen, darunter vor allem auch der Schriftsteller, und ihr klägliches Versagen angesichts der Katastrophe des Weltkrieges angesprochen. 79 Nicht zuletzt empörte sie die Schuld derjenigen Geistigen, wie etwa Richard 75 A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 219. 76 A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 192, hier auch Abdruck des Gedichts, das im Erstdruck im Gedichtband Im Bilde 1902 erschien. 77 Vgl. etwa das Gedicht Die Pflicht, hier die 4. Strophe: Die Not der Tausende, die dich umgeben, / Und was verloren irrt verlaßne Bahnen, / Will sich mit dir verbrüdern, will dich mahnen, / Will Blutteil werden, Teil von deinem Leben. Zit nach A. S TROHMEYR (Hg.), Werkausgabe 2003 (Anm. 7), S. 72. Zu Hedwig Lachmann als Dichterin der Solidarität mit Opfern aus der Perspektive der Opfer B URKHARD M EYER -S IECKENDIEK , Lyrisches Gespür: Vom geheimen Sensorium moderner Poesie, München 2012, S. 368f. Ludwig Rubiner nahm von Lachmann als Dichterin, die mit Mut Verantwortung übernahm, fünf Gedichte, darunter die Antikriegsgedichte Schreckbild und Mit den Besiegten, in seine Anthologie L UDWIG R UBI - NER (Hg.), Kameraden der Menschheit. Dichtungen der Weltrevolution, Potsdam 1919, auf. Sie war als einzige Frau im Band vertreten. 78 Zit. aus dem Brief an Hedwig Mauthner vom 19.12.1914 nach A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 365. 79 A. W ALZ , Hedwig Lachmann (Anm. 4), S. 389-391, hier insbes. 390, Abdruck des Briefes, den Lachmann anlässlich eines Aufsatzes von Schäfer über Martin Luther schrieb. <?page no="337"?> E LIS A BE TH P LÖS S L 338 Dehmel, die Machtanforderungen und Gewaltprozeduren des Staats zu ihrer Sache gemacht hatten. Diejenigen, die sich zur geistigen Elite eines Volkes zählten bzw. gezählt wurden, hatten für Hedwig Lachmann auch eine politische Mission - politisch natürlich nicht im Sinne des Parteisinnes, sondern des aufklärenden Wirkens, der freiheitlichen Initiative, des herrischen Beispiels. Zur Verantwortung der Schriftsteller gehörten für sie weiter, die öffentlichen Einrichtungen und Zustände zu ihrer Angelegenheit zu machen und zumindest der Versuch, das Geschick ihres Volkes an entscheidenden Punkten zu beeinflussen. Dies und nichts anderes hat sie mit ihren Antikriegsgedichten beabsichtigt. <?page no="338"?> 339 T HOMAS A LBRICH Der Hubschrauber Focke-Achgelis 223 ›Drache‹: Entwicklung und Einsatz im Alpenraum 1944/ 1945 1. Einleitung Dr. Henrich Focke (1890-1979) gründete mit Georg Wulf, der bereits 1913 sein Mitarbeiter war, 1923 die ›Focke-Wulf Flugzeugbau AG‹, als deren technischer Direktor und Vorstandsmitglied er bis 1933 fungierte. 1 1933 schied Focke auf Druck der Nationalsozialisten aus der Leitung der Focke-Wulf AG aus, durfte aber den Bau von Drehflüglern, also Hubschraubern, weiter verfolgen. Das erste Modell, die Fw 61, hob am 26. Juni 1935 zu ihrem Erstflug ab. Durch die Gründung der neuen Firma in Hoykenkamp bei Delmenhorst im Jahre 1937 - der ›Focke, Achgelis & Co GmbH‹ - gemeinsam mit dem Kunstflieger Gerd Achgelis, kam Focke wirtschaftlich wieder auf eigene Füße. 2 Aufgabe der Firma sollte die Weiterentwicklung des Hubschraubers Fw 61 sein. In erster Linie ging es um die Entwicklung und Erprobung von Prototypen, für die dann Baulizenzen vergeben werden konnten. Zu diesem Unternehmen gehörten auch das Motorenwerk in Varel und die Firma ›Bramo-BMW‹, Berlin, später auch ein Zweigwerk in Laupheim bei Ulm. Getestet wurde in Hoykenkamp und auf dem Fliegerhorst Delmenhorst. Die Fw 61 wurde zu einer Art »fliegendem Laboratorium« umgebaut, aber nicht in Serie hergestellt. 3 Chefpilot war Carl Bode (1911-2002), der beim Deutschlandflug 1933 zur Siegermannschaft gehört hatte und zuvor für die Erprobungsstelle Rechlin sowie für die Firma Arado gearbeitet hatte. Bei der Entwicklung des Hubschraubers leistete er Pionierarbeit. Er stellte mit der Fw 61 Höhen- und Geschwindigkeitsrekorde auf und flog 1938, noch vor Hanna Reitsch, mit dem Hubschrauber in der Deutschlandhalle in Berlin. 4 1 Zu seinem Leben vgl. H ENRICH F OCKE , Mein Lebensweg, Köln 1977; weiter http: / / www.hubschraubermuseum.de/ archives/ persoenlichkeiten/ henrich-focke/ (aufgerufen am 12.7.2017). 2 U WE W. J ACK , Focke-Achgelis. Der erste eingesetzte Hubschrauber der Welt, in: Flieger Revue X43, 11. Jg. (Oktober 2013), S. 30-45, hier 32f. 3 F.-H ERBERT W ENZ , Chronik des Lemwerder Flugzeugwerkes 1935-1963, Bd. 1, Lemwerder 1995; U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 32f. 4 Flugzeugclassic 4 (April) 2017, S. 31. <?page no="339"?> T HOMA S A L BR IC H 340 2. Von den Anfängen der Fa 223 ›Drache‹ bis zur Serienreife 1942 Ende 1936 hatte Focke den Auftrag zur Entwicklung eines großen Hubschraubers erhalten, der Focke-Achgelis Fa 223. Die Maschine sollte Nahaufklärung fliegen können, zur U-Bootbekämpfung eingesetzt werden und Lastentransporte in unwegsamem Gelände durchführen. 5 Im August 1939 verließ der Prototyp dieses neuen Hubschraubers das Werk. Der Focke-Achgelis Fa 223 war ein Hubschrauber mit zwei seitlich angebrachten Dreiblatt-Rotoren. Die beiden gegensinnig laufenden Rotoren wurden nebeneinander auf einer Gitterrohrkonstruktion in einem Abstand von 12,50 m befestigt. Sie bestanden aus Stahlholmen und Holzrippen, mit Holzvorderkante und Stoffbespannung. Der Rumpf war eine geschweißte Stahlrohrkonstruktion, die fast überall mit Stoff bespannt war. Am Heck befand sich ein konventionelles Leitwerk mit einem oben montierten trimmbaren Höhenruder. Der mittlere Bereich mit dem Motor war mit Blech verkleidet. Die Besatzung von zwei Mann - Pilot und Beobacher - war nebeneinander in einer voll verglasten Kanzel mit sehr guter Rundumsicht untergebracht. In der Mitte, nahe dem Schwerpunkt, wurde die Motor-Getriebeeinheit mit einem Neunzylinder-Sternmotor BMW-Bramo 323 ›Fafnir‹ eingebaut. Zwischen dem Cockpit und der Antriebseinheit gab es einen Laderaum mit einer elektrischen Winde. Damit konnte entweder Fracht oder ein an einem Haken hängender Rettungskorb abgelassen und hochgezogen werden. Der Hubschrauber war zusätzlich noch mit einem 300 Liter fassenden Abwurftank zur Reichweitenvergrößerung ausrüstbar. 6 Am 8. März 1940 hob die Fa 223 V1 mit dem Kennzeichen D-OCEB und dem Werkspiloten Carl Bode erstmals frei vom Boden ab. 7 Erst am 18. Juni 1940 gelang Bode endlich ein 11-minütiger Flug, bei dem 300 m Höhe erreicht wurden. Bald wurden Lasten von bis zu 850 kg gehoben und eine Höhe von 5.200 m erreicht. Am 23. Oktober 1940 brachte Bode in Rechlin den Hubschrauber auf eine Geschwindigkeit von 183 km/ h und zwei Tage später mit einer Steigleistung von 8,80 m/ s auf eine Höhe von 7.100 m, eine Leistung, die erst 1954 überboten wurde. Die Fa 223 konnte auch Außenlasten bis zu 1.000 kg transportieren. 8 Am 28. Oktober 1940 erhielt die Maschine die Musterzulassung. 9 1940 entwickelte die Firma Flettner die wesentlich kleinere Fl 282 ›Kolibri‹. Mit ineinanderkämmenden, gegenläufigen Rotoren und einem Bugradfahrwerk darf die 5 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 33. 6 Y VES L E B EC , Die wahre Geschichte des Helikopters: von 1486-2005, Chavannes-près- Renens 2005, S. 10. 7 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 33. 8 M ANFRED G RIEHL / J OACHIM D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Waffen-Arsenal 128), Friedberg 1991, S. 7. 9 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 33. <?page no="340"?> D E R H U B S C HR AUBER F OC KE -A C HGELIS 223 ›D R AC HE ‹ 341 Fl 282 als modernster Hubschrauber der Kriegszeit angesprochen werden. Es wurden 24 Maschinen dieses Typs gebaut und auf Fahrzeugen der Marine eingesetzt. Am Ende dieser Erprobung verfügte man über den flugstabilsten Hubschrauber der Welt, ein Zeugnis, das amerikanische Piloten und Techniker nach dem Kriege ausstellten, nachdem diese Maschinen in den USA getestet worden waren. 10 Die Flettner Fl 282 ›Kolibri‹ und die Fa 223 ›Drache‹ waren ab 1941 die ersten Hubschrauber weltweit, die in Serie produziert wurden. 11 Beim Absturz der ersten Fa 223 V1 am 5. Februar 1941 bei Lemwerder an der Weser, bei dem sich der Pilot Carl Bode mit dem Fallschirm retten konnte, kam Dipl.-Ing. Heinz Baer ums Leben. Danach mussten eine Reihe von Verbesserungen durchgeführt werden. Über ein Jahr lang flog keine Fa 223. 12 Anfang 1942 war die Fa 223 dann vollkommen serienreif, und ein erster Auftrag für 100 Maschinen wurde erteilt. Wegen der Kriegsereignisse und laufender Bombardierungen wurde diese Zahl immer wieder verändert. Bis Kriegsende konnten schließlich nur 20 Maschinen fertiggestellt und nur zehn geflogen werden. 13 Focke-Achgelis nutzte den Flugplatz Delmenhorst-Adelheide rund sieben Kilometer südlich des Werkes Hoykenkamp, wo der Hubschrauber Fa 223 ›Drache‹ produziert wurde, zur Flugerprobung dieser Maschine. 14 In der Nacht auf den 4. Juni 1942 verursachte ein britischer Bombenangriff auf das Focke-Achgelis-Werk in Hoykenkamp größte Schäden. Nur der wichtige Windkanal überstand den Angriff unversehrt. Zerstört wurde die von V3 auf V2 umgebaute Fa 223 V2 mit dem Kennzeichen D-OGAW (ihr Erstflug erfolgte am 20. April 1940, ihr letzter am 30. Mai 1942 15 ) und weitere sieben im Bau befindliche Prototypen mit den Nummern V4 bis V10. Dies war ein großer Rückschlag. Daraufhin verlagerte Focke-Achgelis seine Produktionsstätte für die Hubschrauberentwicklung und -montage auf den Luftwaffenstützpunkt Laupheim im Landkreis Biberach im heutigen Baden-Württemberg. Dadurch trat eine erhebliche Verzögerung im gesamten Erprobungsprogramm ein. Erst Anfang 1943 war die kleine Produktionsstätte für die Fa 223 ›Drache‹ eingerichtet, und die Produktion konnte anlaufen. 10 http: / / www.hubschraubermuseum.de/ archives/ persoenlichkeiten/ anton-flettner/ (aufgerufen am 5.3.2017). 11 Y. L E B EC , Die wahre Geschichte des Helikopters (Anm. 6), S. 10. 12 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 45; auch C ARL B ODE , Lebenslauf der Focke-Hubschrauber FA 223, Manuskript, 23.8.1986 (Privatbesitz Wolfgang Falch, Pfaffenhofen). 13 http: / / www.hubschraubermuseum.de/ archives/ manufacturers/ focke-achgelis/ (aufgerufen am 5.3.2017). 14 http: / / www.relikte.com/ delmenhorst (aufgerufen am 2.4.2017); http: / / www.garnisons chronik-delmenhorst.de/ images/ Fliegerhorst.pdf (aufgerufen am 2.4.2017). 15 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 45; auch C. B ODE , Lebenslauf der Focke-Hubschrauber FA 223 (Anm. 12). <?page no="341"?> T HOMA S A L BR IC H 342 Neben der Wehrmacht zeigten auch Marine und Luftwaffe reges Interesse am Einsatz von Hubschraubern. Die Marine sah den Einsatz der Fa 223 als landgestützte Maschine für folgende Aufgaben vor: Aufklärung und Minensuche, Geleitsicherung und U-Boot-Abwehr, Lastentransport als »fliegender Kran«, Besatzungsschulung mit Doppelsteuerung, Seenotaufgaben und Krankentransport. 16 3. Das Jahr 1943: große Pläne Im Jahr 1943 wollte Focke-Achgelis den Durchbruch erzielen. Am 16. März 1943 wurde auf dem Werksflugplatz in Laupheim vor Vertretern des Reichsluftfahrtministeriums und des Heeres die Fa 223 V11 vorgeflogen. Als Folge davon wurde die Bestellung des Heeres am 15. April 1943 endgültig mit 22 Prototypen und 60 Serienmaschinen festgelegt. Im Mai bestellte auch die Seekriegsleitung 20 Maschinen. Die V11 baute man dann in Travemünde auf eine Doppelsteuerung um und verwendete sie in der Folge zur Pilotenausbildung. Bis November 1943 wurden drei Gruppen mit je drei Piloten geschult. Am 12. Juni 1943 stellte dann Professor Focke den Hubschrauber Fa 223 V12 mit dem Kennzeichen DM+SP Adolf Hitler auf dem Berghof vor. Dieser zeigte sich beeindruckt von den Einsatzmöglichkeiten der Maschine. 17 Die Serienproduktion lief trotzdem nicht an. Da 1943 die erforderlichen Kapazitäten für die Herstellung des Rumpfwerkes und des Getriebes fehlten, musste auch die stark reduzierte geplante Fertigung von nur noch 40 Hubschraubern monatlich mehrfach verschoben werden. 18 Im September 1943 wurde beim Werk in Laupheim um eine Fa 223 angefragt, die Otto Skorzeny für die geplante Befreiung von Benito Mussolini aus seiner Gefangenschaft am Gran Sasso d’ Italia in den Abruzzen einsetzen wollte. Da kein Hubschrauber zur Verfügung stand, wurde Mussolini mit einem Fieseler Storch vom Berg geflogen. 19 Im Herbst 1943 war die Serienfertigung der Fa 223 noch immer nicht angelaufen. Die beiden Prototypen V15 und V16 sollten nun mit speziellen Höhenversionen des BMW 323 ausgerüstet und für eine Erprobung im Gebirge genutzt werden. Der erste Versuch war noch mit der V12 in Chamonix am Montblanc vorgesehen. Beginnend am 2. Dezember 1943 wurde der Hubschrauber in mehreren Etappen nach Chamonix überstellt. Auf der letzten Etappe von Lyon aus brach am 4. Dezember der rechte Ausleger mit dem Rotor des vom Piloten Oberleutnant 16 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 7. 17 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 34f. 18 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 7f. 19 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 35. <?page no="342"?> D E R H U B S C HR AUBER F OC KE -A C HGELIS 223 ›D R AC HE ‹ 343 Klaus Brenneke gesteuerten Hubschraubers ab. Der Pilot und sein Fliegerstabsingenieur Klemens von Gottberg kamen beim Absturz des Fa223 V12 ums Leben und wurden mit militärischen Ehren in Chamonix beigesetzt. 20 4. 1944: Trotz fliegerischen Fortschritten keine Serienproduktion Im März 1944 übernahm die Weser-Flugzeugbau die finanziell angeschlagene Firma Focke-Achgelis. Die erste Serienfertigung von 30 Stück des Fa-223-Hubschraubers sollte nun in Berlin-Tempelhof anlaufen. 21 Im gleichen Monat wurde jedoch die Entwicklungsarbeit an der Fa 223 eingestellt, und im Flugzeugbauprogramm der Luftwaffe vom Mai 1944 scheint die Fa 223 nicht mehr auf. Verschiedene Ereignisse wirkten sich dann aber im Frühjahr 1944 sehr positiv im Hinblick auf die Einführung von Hubschraubern bei der Wehrmacht und für die Entscheidung aus, die Fertigung der Hubschrauber trotz widriger Umstände nochmals aufzunehmen. So waren in Münster zwischen April und Mai 1944 die beiden Fa 223 V11 und V14 stationiert worden, die von dort Teile bruchgelandeter Einsatzmaschinen der Luftwaffe aus den Ems-Mooren zu bergen hatten. Einmal gelang es, ein zerlegtes Jagdflugzeug abzutransportieren, das nur einen Tag später wieder im Einsatz war. 22 Am 5. Mai 1944 stürzte die Fa 223 V11 mit dem Kennzeichen DM+SO mit dem Piloten Leutnant Hans Helmut Gerstenhauer (1915-2014) in einem Moor bei Bad Zwischenahn beim Versuch der Bergung einer notgelandeten Do 217 ab. Carl Bode notierte: Zerstört von [Hans-Helmut] Gerstenhauer im Moor von Karzfehn bei Oldenburg, Pilotenfehler. 23 Der Pilot wurde nicht verletzt. Die Bergung wurde von der Fa 223 V14 fortgesetzt und im August 1944 beendet. 24 Zwischen dem 13. und 19. Juni führte man bei der E-Stelle Travemünde auch Bergeversuche mit den gängigen Flugzeugen der Luftwaffe durch, so mit Bf 109, Fw 189 und Fw 190. 25 Der Hubschrauber hatte damit seine Einsatztauglichkeit bewiesen und wurde nun vor allem für den Transport höherer Dienstgrade von Berlin nach Peenemünde oder zum Obersalzberg verwendet. 26 20 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 35f. 21 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 37. 22 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 10. 23 C. B ODE , Lebenslauf der Focke-Hubschrauber FA 223 (Anm. 12). 24 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 36f. 25 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 10. 26 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 36f. <?page no="343"?> T HOMA S A L BR IC H 344 5. Die Luftangriffe auf Laupheim im Juli 1944 Nach der Verlagerung der Produktion nach Laupheim wurden nur noch die V11 bis V16 sowie die V18 gebaut und waren einsatzfähig. Anfang Juli 1944 begann Werkspilot Carl Bode in Laupheim mit der Ausbildung von vier zusätzlichen Hubschrauberpiloten. Insgesamt konnten bis Kriegsende trotz des dynamisch nicht ganz stabilen Schwebeflugs 26 Piloten in je 2 ½ bis 3 ½ Stunden vollkommen auf die Fa 223 umgeschult werden. 27 Auch Laupheim bot für die bereits weit fortgeschrittene Fertigung keine Sicherheit. Am 19. Juli 1944 bombardierten 45 Bomber des Typs B-24 der 8. Air Force der US Army Air Force den Flugplatz Laupheim und warfen 115 Tonnen Spreng- und Brandbomben ab. Außerdem fanden Tieffliegerangriffe auf den Flugplatz durch die die Bomber begleitenden Jagdflugzeuge statt. Der Angriff hinterließ beträchtlichen Schaden; sieben Zerstörer des Typs Bf 110 und eine Arado 96 wurden vollkommen vernichtet. Vier weitere Flugzeuge wurden teilweise beschädigt. Außerdem wurden das technische Gerät der verschiedenen Staffeln, ein Hangar, Unterkünfte und die Flugsicherung demoliert. Eine Flakeinheit erhielt einen direkten Treffer, wobei ein Soldat getötet und vier weitere verletzt wurden. 28 Beim Angriff wurden auch die fertigen Hubschrauber Fa 223 V13, V15, V17 und V18 vernichtet, ebenso die im Bau befindlichen Versuchsmuster V20 bis V31. 29 Auch ein Teil der für die Fa 223 mit den Produktionsnummern 00032 bis 00050 erzeugten Bauteile ging verloren. Zerstört wurden bei diesem Angriff insgesamt 32 Hubschrauber. 30 Die Fa 223 V16, Erstflug am 11. April 1944, überstand den Bombenangriff auf Laupheim und führte am 25. August 1944 Nachtflüge durch. 31 Der nächste Luftangriff auf Laupheim fand am 31. Juli 1944 statt. Elf Jagdflugzeuge des Typs P-51 Mustang führten Tieffliegerangriffe aus, wobei zwei Messerschmitt Bf 110 und ein italienisches Schulflugzeug zerstört und zwei weitere Messerschmitt Bf 110 schwer beschädigt wurden. 32 Als Folge der Luftangriffe wurde die Produktionsstätte der Focke-Achgelis mit der verbliebenen Ausrüstung provi- 27 http: / / www.hubschraubermuseum.de/ archives/ manufacturers/ focke-achgelis/ (aufgerufen am 5.3.2017). 28 H ANS W ILLIBOLD , Der Luftkrieg zwischen Donau und Bodensee. Vorbereitungen, Flugplätze und deren Belegungen, Luftangriffe, Abstürze, Bad Buchau 2002. 29 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 37. 30 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 9. 31 H ANS -H EIRI S TAPFER , Deutsche Hubschrauber für die Schweiz. Hubschrauberpioniere auf Arbeitssuche, in: Flieger Revue X43, 11. Jg. (Oktober 2013), S. 46-53, hier 52; und U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 45. 32 http: / / www.lexikon-der-wehrmacht.de/ Kasernen/ Wehrkreis05/ Kaserne_LaupheimFlug platz-R.htm (aufgerufen am 10.7.2017). <?page no="344"?> D E R H U B S C HR AUBER F OC KE -A C HGELIS 223 ›D R AC HE ‹ 345 sorisch in eine Scheune des Klostergutes Ochsenhausen bei Biberach an der Riss verlagert, auch das Entwicklungsteam wurde dort untergebracht. 33 6. Gebirgserprobung in Mittenwald und Tirol im September und Oktober 1944 Mit Bezug auf einen Befehl vom 30. August 1944 kündigte der Kommandant der Gebirgsjägerschule Mittenwald, Oberst Reinhold Kreitmeyer, 34 am 4. September einen Versuch mit Hubschrauber-Flugzeug bei der Gebirgsjägerschule Mittenwald an. Die Gebirgsjägerschule sei beauftragt, die Durchführung des Versuches mit allen verfügbaren Mitteln zu unterstützen. Der Versuch werde zunächst als technischer Versuch zur Erprobung der Flugeigenschaften der Maschine durchgeführt. Dabei sei die Mitnahme von Soldaten verboten und dem Piloten dürften keine Befehle über die Art der Versuche gegeben werden. Nach dieser Phase von etwa vier Wochen erfolge dann eine Truppenübung, für die ein Plan vorgelegt werde, der die von der Truppe geforderten Transportbewegungen soweit als möglich im Zusammenhang mit Übungen festlegen werde. Zur Durchführung der Versuche wurden eine Reihe von praktischen Anordnungen getroffen. So sollte als Flugplatz der Sportplatz nördlich des Wirtschaftsgebäudes dienen, zudem galt es Unterbringung und Verpflegung des Flugpersonals zu regeln, auch den Ort der Instandsetzungsarbeiten zu bestimmen. Nach dem Ende der Versuche sei ein Erfahrungsbericht mit Stellungsnahme über die Verwendbarkeit des Hubschrauberflugzeuges im Gebirgskampf zu erstellen. 35 Während der Erprobungen des Hubschraubers in Mittenwald wurde bereits eine Denkschrift über Hubschrauberflugzeuge als Transportmittel bei der Gebirgstruppe verfasst, die sich mit Transport und Nachschub im Gebirgskampf und speziell mit dem Nachschub bei der Gebirgstruppe befasste. Hier ging es um die Abhängigkeit vom Wegenetz, die Transportmittel der Gebirgstruppen, den Zeitbedarf beim herkömmlichen Nachschub, die klimatischen Einflüsse, das heißt den Einfluss des Wetters, die Begrenzung der Lasten, vor allem den Transport schwerer Waffen im Gebirge, den Nachschub im 33 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 9. 34 Reinhold Kreitmeyer (geb. 23.7.1908 in München, gest. 16.2.1996 in Freilassing). Nach dem Abitur auf dem Reform-Realgymnasium in München trat Kreitmeyer 1928 als Offiziersanwärter in die Reichswehr ein. 1940 wurde er Bataillonskommandeur eines Maschinengewehrverbandes und 1942 Kommandeur der Gebirgsjägerschule in Mittenwald. 1944 wurde er zum Oberst befördert. Gegen Kriegsende geriet er in Kriegsgefangenschaft und war anschließend ein Politiker der FDP; R UDOLF V IERHAUS / L UDOLF H ERBST (Hg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949-2002, Bd. 1, München 2002, S. 455. 35 Major Reinhold Kreitmeyer, Gebirgsjägerschule Kommando Mittenwald, 4.9.1944, Kopie im Besitz von Wolfgang Falch, Pfaffenhofen. <?page no="345"?> T HOMA S A L BR IC H 346 Hochgebirge am Beispiel des Kaukasus-Einsatzes 1942/ 43 und den Verwundeten-- Abtransport. Dann kam der Verfasser unter dem Titel Möglichkeiten des Transportes durch Hubschrauber im Gebirge zum Kern seines Anliegens. Zuerst wurde der nicht sehr erfolgreiche Einsatz von Flugzeugen beim Nachschub für die Gebirgstruppe im Kaukasus angesprochen. Diese Probleme, so der Berichterstatter, werden beim Einsatz des Hubschraubers ausgeschaltet. Für die Gebirgstruppe bedeutet es eine große Erleichterung des Nachschubes. Vor allem der Vergleich der Transportzeiten zwischen Truppe und Hubschrauber war beeindruckend. Ein weiterer Vorteil des Hubschraubers sei, dass die Nachschubgüter auf kleinstem Ort abgestellt werden könnten. Dadurch würden sie weit weniger beschädigt als auf dem Transport durch Mensch oder Tier. Vor allem im Winter gewinne der Einsatz von Hubschraubern zur Versorgung von Höhenstützpunkten noch mehr an Bedeutung, da die Anmarschwege durch Lawinen gefährdet seien. Unter Bedeutung für den Kampf der Gebirgstruppe wurden nun vier Verwendungsmöglichkeiten des Hubschraubers aufgezählt: Einmal der Nachschub von Munition, Verpflegung und Gerät, besonders in schwierigem Gelände und im Winter sowie bei dringendem Bedarf für weit vorgeschobene Abteilungen. Dann der Transport von schweren Waffen an Schwerpunktstellen, die im Marsch nicht zeitgerecht in Stellung kämen. Drittens der rasche Transport von Aufklärungs- und Erkundungsorganen zu wichtigen Übersichtspunkten im Vorgelände und viertens der Verwundetentransport in schwierigem Gelände. Abgeschlossen wurde die Denkschrift mit der Forderung zum Hubschrauber-Einsatz: Bei der gegenwärtigen Kriegslage erscheint der baldige Einsatz von Hubschraubern im Gebirgskampf besonders dringlich, wenn sich das Kampfgebiet in die West- oder Zentralalpen verlagert. Während des Winters könnte dadurch für die Truppe der Nachschub und damit die Erhaltung der Kampfkraft wesentlich erleichtert werden. Mit der Einsparung von Nachschubkräften während des Winters ließen sich außerdem die zu erwartenden erheblichen Verluste an Menschen und Tieren durch Lawinen-Unfälle stark einschränken. 36 Als eines der Haupteinsatzgebiete der Hubschrauber wurde also die Unterstützung der Truppen in unwegsamem Gelände, wie im Gebirge, gesehen. Nach einer Erprobung in Rechlin und in Travemünde folgte im September und Oktober 1944 von Mittenwald aus eine umfassende Gebirgsprüfung im Karwendelgebirge, wobei die Fa 223 sich auch für den Einsatz im Hochgebirge als hervorragend geeignet erwies. Zur möglichst praxisnahen Erprobung wurde die V16 mit dem Stammkennzeichen DM+ST nach Mittenwald geflogen. Die drei Werkspiloten Carl Bode, 36 Schreiben vom 9.9.1944, Mittenwald, über Hubschrauberflugzeug als Transportmittel bei der Gebirgstruppe, Kopie im Besitz von Wolfgang Falch, Pfaffenhofen. <?page no="346"?> D E R H U B S C HR AUBER F OC KE -A C HGELIS 223 ›D R AC HE ‹ 347 Leutnant Hans Helmut Gerstenhauer und Heinz Lex flogen im September und Oktober 1944 nach den Vorgaben der Gebirgsjäger Material in simulierte Kampfzonen. 37 Diese Hochgebirgserprobung der Fa 223 V16 fand zwischen dem 6. und 23. September 1944 sowie zwischen dem 29. September und 6. Oktober 1944 beim Kommando Mittenwald der Gebirgsjägerschule im Rahmen einer Nachschubübung statt. 38 Mittenwald war seit den 1930er Jahren Garnison und Ausbildungszentrum der Gebirgstruppe der Wehrmacht. Die Erprobungsflüge wurden im Raum Mittenwald und in Tirol zwischen Scharnitz und Seefeld, nach Innsbruck, in der Wattener Lizum und ins Stubaital, meist von Carl Bode, durchgeführt. Ziel der Erprobung war Sammlung von technischer und fliegerischer Erfahrung über das Fliegen mit Hubschraubern im Gebirge im allgemeinen, im besonderen über Start, Landung und Absetzen von Lasten auf kleinsten Plätzen mit dem Endzweck der Ersetzung des Lastentransportes der Gebirgstruppe durch den Hubschrauber. Als endgültige fliegerische Zielsetzung war von Herrn Oberstleutnant Kreutzer die Durchführung dieser Aufgabe bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit angegeben. 39 Das von Oberstleutnant Josef Kreutzer 40 vorgegebene Testprogramm war ambitioniert und erwies sich technisch und fliegerisch noch als zu anspruchsvoll, wie aus dem Abschlussbericht vom 9. Oktober 1944 hervorging. Anfangs war die Firma Focke-Achgelis verantwortlich, unterstützt von der Gebirgsjägerschule Mittenwald, da man bei nur noch zwei vorhandenen einsatzfähigen Hubschraubern Fa 223 keine größere Gefährdung in Kauf nehmen wollte. Start- und Landeplatz in Mittenwald war wie geplant der Sportplatz innerhalb des Kasernenkomplexes der Gebirgsjägerschule. Der Kommandeur der Gebirgsjägerschule, Oberst Reinhold Kreitmeyer, wurde gebeten, einige Außenlandeplätze, nach Schwierigkeit (Höhe und Entfernung) gegliedert, zu nennen, wie sie auch bei militärischen Aktionen in Frage kamen. Die von Kreitmeyer genannten Landeplätze wurden vom Hubschrauber angeflogen: drei Landungen erfolgten auf dem Wank bei Garmisch in 1.800 m Höhe. Neun Landungen gab es auf der Fereinalm nahe Mittenwald im Karwendel in 1.400 m Höhe. Eine Landung erfolgte auf der Eppzirl-Alm in 1.600 m Höhe. Hier war 1939 eine neue Kaserne als Ausbildungsstützpunkt der Gebirgsjäger errichtet worden, rund 15 km von Mittenwald entfernt. Eine weitere Landung erfolgte auf dem Truppenübungsplatz Wattener Lizum bei der Wattener-Lizum- 37 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 37. 38 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 10. 39 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944, S. 1, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). 40 Oberstleutnant seit dem 1. Januar 1943, Stab Geb. Jäg. Reg. 99; http: / / forum.panzerarchiv.de/ viewtopic.php? p = 193187 (aufgerufen am 31.3.2017). <?page no="347"?> T HOMA S A L BR IC H 348 Hütte auf 1.800 m Höhe. 1936 hatte das damalige 1. Österreichische Bundesheer die ›Bilgerie-‹ und ›Innerkoflerhütte‹ im hochalpinen Gelände als Truppenunterkünfte errichtet. 1938 wurden die Einrichtungen von der Wehrmacht übernommen und die Lager ›Walchen‹ in circa 1.400 Metern und ›Lizum‹ in knapp 2.000 Metern Seehöhe auf dem Gelände des rund 5.000 Hektar umfassenden Truppenübungsplatzes angelegt. 41 Dazu kam noch eine Landung beim Grünwalder Hof in der Nähe von Igls auf 1.100 m Höhe. Das Hotel liegt auf dem Sonnenplateau oberhalb von Innsbruck am Fuße des Patscherkofels. 42 Besonders wichtig waren die Landung bei der Hochgebirgsschule in Fulpmes und drei Landungen auf 2.300 m Höhe bei der Dresdner Hütte. Außerdem gab es mehrere Landungen in Innsbruck und auf dem Sportplatz der Gebirgsjägerschule in Mittenwald. Die Landungen und Starts bereiteten keine Schwierigkeiten. Die Landeplätze in Fulpmes und bei der Dresdner Hütte waren mit Flaggen bzw. mit Nebelgranaten gekennzeichnet, in zwei anderen Fällen wurde der Landeplatz zuerst einmal überflogen und Handrauchzeichen abgeworfen. Das Wetter war im Allgemeinen günstig, doch musste bei der Landung in der Wattener Lizum bei äußerster Böigkeit, wahrscheinlich herrschte Föhn, geflogen werden. Dabei wechselten die Variometeranzeigen innerhalb von zwei Sekunden zwischen + 7 und - 6 m/ s, wodurch außerordentlich hohe Beanspruchungen mit stark wechselnden Knüppelkräften und Erschütterungen der Maschine auftraten. Diese Erscheinungen, so heißt es im Bericht über die Einsätze, würden sich durch Blattwinkelverstellung, Knüppelkraftentlastung und den Einsatz von aerodynamisch glatten Blättern sehr mildern, wie frühere Erfahrungen gezeigt hätten. 43 Auf keinem der Landeplätze, außer auf der Eppzirler Alm, hätte ein Flächenflugzeug landen können, wie Fotos und Filmaufnahmen eindrucksvoll bewiesen. Hervorzuheben sei, dass schon nach den ersten Flügen ein Vertreter der Gebirgstruppe, der stellvertretende Kommandeur Major Rott, nachdrücklichst erklärte, die Maschine biete soviele Vorteile, daß man angesichts ihres Vorhandenseins unter gar keinen Umständen bei der Gebirgstruppe auf sie zu verzichten gewillt sei. 44 Der Bericht ging dann auf Schwierigkeiten ein, die bei der Erprobung aufgetreten waren. Neu sei die Erfahrung, dass es schwierig sei, vor der Landung von oben zu erkennen, ob die Landefläche horizontal und einigermaßen eben ist. Das Problem sei aus zwei Gründen ein rein optisches: Die Beurteilung einer Neigung durch den Piloten 41 http: / / www.geheimprojekte.at/ uebungsplatz_wattener-lizum.html (aufgerufen am 7.3.2017). 42 http: / / www.gruenwalderhof.at/ hotel-gruenwalderhof/ (aufgerufen am 7.3.2017). 43 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944., S. 1f., Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). 44 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944, S. 2, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). <?page no="348"?> D E R H U B S C HR AUBER F OC KE -A C HGELIS 223 ›D R AC HE ‹ 349 sei an sich erschwert, was schon dem Bergsteiger und Skiläufer bekannt sei und durch Übung gemildert werde. Abhilfe gab es durch Zeichengebung der Truppe vom Boden aus. Im Bedarfsfall könne ein Mann zu diesem Zweck mit der Strickleiter aus der schwebenden Maschine aussteigen. Zweitens sei die runde Verglasung der Kabine wegen der optischen Verzerrung ungünstig. Bei ebenen Kanzelscheiben falle dieser Nachteil fort. 45 Als großer Nachteil gegenüber der Anfangszeit des Hubschraubers in den Jahren 1940 bis 1942 erwies sich die nunmehr beschränkte Drehzahl. Waren in der Anfangszeit zwischen Dauerleistung und Kurzzeit-Höchstleistung noch zwei Stufen vorhanden, nämlich die 5-Minuten- und die 30-Minuten-Leistung, gab es im Herbst 1944 nur noch zwei Leistungsstufen: die Dauerleistung von 2.200 Touren (das war ungefähr die halbe Höchstleistung) und die Höchstleistung, die aber nur noch eine Minute lang abgerufen werden konnte. Das begrenzte die früher mit über 7.000 m erreichte Gipfelhöhe auf 3.000 m, mit dem gebräuchlichen Blattwinkel von 13° 30’ auf nur noch 2.000 m Höhe, wenn die vorgeschriebenen Drehzahlen strikt eingehalten wurden. Die Landestelle bei der Dresdner Hütte in 2.300 m Höhe konnte daher nur mit einer kleinen Überschreitung der Höchstdrehzahl angeflogen werden. 46 Die Dresdner Hütte war 1875 als erste Schutzhütte im Stubaital eingeweiht worden. 1887 wurde sie durch einen Neubau ersetzt und seitdem mehrfach erweitert und saniert. 47 Während des Zweiten Weltkriegs nutzte die Wehrmacht die Hütte intensiv. 48 Es wurde weiter die Erfahrung gemacht, dass bei starken Aufwinden eine einmal gewonnene Höhe im Hubschraubergleitflug sehr schwer wieder zu verlassen war. Man ging davon aus, dass eine Blattwinkelverstellung, die dann als Automatik zur Ausführung gelangte, eine vollständige Änderung bringen würde. Während der Erprobungszeit wurde auch eine der vorgeschriebenen 25-Stunden-Kontrollen durchgeführt. Außer Kleinigkeiten, die vom Bordmonteur repariert werden konnten, seien beim Flugzeug selbst keine Störungen aufgetreten. Am 22. September gab es einen Motorschaden, der bis zum 29. September 1944 an Ort und Stelle beseitigt werden konnte. 49 Nach Abschluss der anfänglich werkseitigen Erprobung fand eine Vorübung zum Lastentransport unter Führung von Major Bauer statt. Dabei führte man die 45 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944, S. 2, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). 46 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944, S. 3, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). 47 http: / / www.dresdnerhuette.at/ (aufgerufen am 2.3.2017). 48 Sektion Dresden Deutscher Alpenverein, Festschrift zum 90jährigen Bestehen der Sektion Dresden des Deutschen Alpenvereins, Selbstverlag 1963, S. 55f. 49 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944, S. 3, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). <?page no="349"?> T HOMA S A L BR IC H 350 praktischen Erfahrungen der Firma Focke-Achgelis im Lastentransport mit Hubschraubern und bei Bruchbergungen mit den Bedürfnissen der Truppe zusammen. Die Vorübung sollte Aufschluss geben über Aufhängung und Zusammenstellung der Lasten und das Zusammenspiel von Flugzeug und Truppe beim Verlasten und viele organisatorische und technische Einzelheiten. Dabei wurden zur grundsätzlichen Zufriedenheit der Gebirgsjäger vom Sportplatz der Kaserne in Mittenwald in einen engeren Hof zwischen den Kasernengebäuden über eine Distanz von 300 m das leichte Infanteriegeschütz mit ca. 450 kg, das Gebirgsgeschütz 36 mit 700 kg und drei verschiedene Lasten von je 500 kg, bestehend aus verschiedenen Munitionssorten und einem mittleren Granatwerfer, im Lastennetz transportiert. 50 Zuletzt fand im Berggebiet des Wörnergrates eine praktische Einsatzübung der Gebirgsjäger mit dem Hubschrauber statt. Dabei erhielt die Truppe durch die Fa 223 Verpflegung, schwere Waffen und Munition. Mit dieser Nachschubübung sollten die Grundlagen für die Organisation, Zusammenarbeit und technischen Einzelheiten beim Einsatz geschaffen werden. Diese Übung wurde für das Luftverlastungskommando des Oberkommando des Heeres gefilmt, wofür der Ablauf verändert werden musste. Die geforderten Transporte fanden aber trotzdem statt. Auf eine ausgesuchte kleine Landestelle unterhalb des Wörnergrats in 1.800 m Höhe transportierte der Hubschrauber Verpflegung, ein leichtes Infanteriegeschütz und Munition im Lastennetz und holte dies auch wieder ab. Auf der Landestelle wurden vier Landungen durchgeführt. Der Wind war dort teilweise Abwind von stark wechselnder Richtung. Die Lasten wurden am 16 m langen Lastenseil befördert, im Schwebeflug abgesetzt und auch ein Lastenwechsel auf der Landestelle im Schwebeflug ohne Landung wurde durchgeführt. Außerdem brachte der Hubschrauber das Geschütz in eine etwas höher gelegene Gefechtsstellung unterhalb des Wörnergrates, wo nicht gelandet werden konnte. 51 Auf der Landestelle war eine Lage Schnee von 50 cm, die einige Gebirgsjäger erst platt treten mussten. Ein Maultiertransport zur Landestelle war nicht möglich. Bei dieser Übung wurden insgesamt vier Landungen auf dem Nahkampfplatz in Mittenwald in 900 m Höhe und weitere vier auf der Landestelle unter dem Wörnergrat in 1.800 m Höhe durchgeführt. Das Zusammenspiel zwischen Truppe und Flugzeug [sic] war einwandfrei, Erfahrungen bezgl. des An- und Abhängens der Last, der Zeichengebung und dergl. bestätigten einerseits einwandfreie Funktion, andererseits gaben sie Anregung zu weiteren Verbesserungen. Die Flugzeit für die Strecke von der Gebirgsjägerschule bis zum Übungsplatz am Wörnergrat betrug durchschnittlich sieben bis zehn Minuten. Das Hinaufschaffen von Munition und Abholen des Gebirgsgeschützes 50 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944, S. 4, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). 51 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). <?page no="350"?> D E R H U B S C HR AUBER F OC KE -A C HGELIS 223 ›D R AC HE ‹ 351 mit Lastenwechsel im Schwebeflug dauerte vom Start in Mittenwald bis zur Landung in Mittenwald 15 Minuten. Der Bodentransport zur Landestelle benötigte hingegen ohne die Vorbereitung drei Stunden für eine Strecke. 52 Der Funkverkehr zwischen dem Hubschrauber und der Bodenstelle funktionierte auch hinter nahen abschirmenden Gebirgswänden gut. Die Gesamtflugzeit der Gebirgserprobung betrug 19 Stunden und 52 Minuten bei 83 Flügen. Eingesetzt wurden neben Herrn Flugkapitän Bode Leutnant Gerstenhauer und Unteroffizier Lex, damit für spätere Fälle auf Erfahrungen bei mehreren Flugzeugführern zurückgegriffen werden kann. 53 Stabsingenieur Kindling vom Oberkommando der Luftwaffe und Stabsingenieur Geike von der Erprobungsstelle Travemünde, Hauptmann Mehring vom Luftverlastungskommando des Oberkommandos des Heeres und Hauptmann Röhm, Referent für Sanitätsflugwesen, besuchten während der Erprobung Mittenwald. Ihnen wurde das Flugzeug gezeigt, sie flogen teilweise mit und waren von der Verwendungsmöglichkeit des Hubschraubers überzeugt. 54 Die Bilanz der Gebirgserprobung war äußerst positiv. Als nächste Zielsetzung musste mit der Durchführung von Blind- und Nachtflügen zunächst im Flachland begonnen werden. Dazu sollten die entsprechenden Geräte für den Blindflug im Hubschrauber eingebaut werden. Bei diesen Flügen sollte herausgefunden werden, wo die Grenzen der fliegerischen Möglichkeiten liegen. Danach könne dann mit dem Blind- und Nachtflug im Gebirge begonnen werden. Der Flugbetrieb mit Hubschraubern in mondhellen Nächten im Flachland sowie das Durchfliegen von nicht zu starken Wolkendecken in weiten Tälern, wo Bergberührung nach menschlichem Ermessen ausgeschaltet werden kann, erschien ohne besonderen Aufwand möglich. 55 Alle technischen Verbesserungen waren zu diesem Zeitpunkt im Oktober 1944 zum Teil schon fertiggestellt, zum Teil in Arbeit, um an der Fa 223 V14 erprobt zu werden. Es wäre aber notwendig, die Instrumentenseite mehr heranzuziehen, wenn das Endziel, nämlich der Flug bei praktisch jedem Wetter, möglich gemacht werden soll. Man müsse bedenken, dass viele Wetterlagen auch heute nach vierzigjähriger Entwicklung selbst von Drachenflugzeugen, vor allem im Gebirge, noch nicht gemeistert werden können. 56 Abschließend hieß es im Bericht, der am 9. Oktober 1944 im Klostergut in Ochsenhausen unterzeichnet wurde, dass nicht vergessen werden dürfe, daß die 52 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944, S. 5, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). 53 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944, S. 5, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). 54 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944, S. 5f., Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). 55 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944, S. 6, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). 56 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944, S. 6f., Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). <?page no="351"?> T HOMA S A L BR IC H 352 Vorteile des Hubschraubers so ungeheure Zeitgewinne und Menschenersparnisse (Trägerkolonnen) mit sich bringen, daß selbst, wenn ein Fliegen in einigen Wetterlagen z. Zt. noch nicht möglich ist, insgesamt noch sehr große Vorteile sich ergeben. 57 Der Kommandant der Gebirgsjägerschule Mittenwald, Oberst Kreitmeyer, lieferte am 11. Oktober 1944 seinen Erfahrungsbericht an den Chef der Heeresrüstung beim Oberkommando des Heeres. Das Flugzeug [sic] sei im Allgemeinen den Verhältnissen im Gebirge gewachsen gewesen und habe den Forderungen im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit entsprochen. Der Hubschrauber sei auch bei schlechtem Wetter einzusetzen. Besonders müsse von Seite der Gebirgsjäger herausgestellt werden, dass es auch für die außerordentlich erfahrenen Piloten unbedingt notwendig gewesen sei, sich mit dem neuen Gelände, insbesondere mit dem Leben überhaupt in Gebirgsregionen, vertraut zu machen. Dies sollte schon heute für künftige Hubschrauberpiloten beachtet werden. Kreitmeyer ging dann auf die Erfahrungen beim Hubschraubertransport von Munition und Gerät sowie von Waffen ein. Diese Dinge habe man am sichersten im Netz transportiert. Das Gebirgsgeschütz 36 habe man mit dem Hubschrauber rasch in Stellungen gebracht, die bei den bisher üblichen Transportmöglichkeiten nur unter erheblichem Kräfte- und Zeitaufwand erreicht wurden. Unter dem Punkt Mannschaften wurde zwar erwähnt, dass man beim Verwundetentransport noch besondere Erfahrungen sammeln müsse, man musste aber auch zugeben, dass der Transport von Mannschaften mit den Waffen noch erprobt werden musste. Man müsse als Ziel erreichen, daß die Mannschaften aus dem schwebenden Flugzeug [sic] zu ihren Waffen aussteigen können, um diese möglichst schnell feuerbereit zu machen. Unter taktische Erfahrungen schrieb Oberst Kreitmeyer, dass sich die im Bericht vom 9. September 1944 vorgeschlagenen taktischen Einsatzmöglichkeiten des Hubschraubers als durchführbar erwiesen hätten. Wesentlich dabei sei, dass durch die entsprechende Organisation der Tal- und Bergstellen die Abgabe der Lasten ohne Landung des Hubschraubers erfolgen könne. Ein weiterer taktischer Vorteil sei, dass in kürzester Frist mittels Hubschrauber Waffenschwerpunkte gebildet oder umgruppiert werden könnten. Kreitmeyer schlug auf Grund der bisherigen Erfahrungen die beschleunigte Fortsetzung der Versuche mit dem zur Zeit im Bau befindlichen Flugzeug mit besseren Steigmöglichkeiten bei der Gebirgsschule in Mittenwald vor. Dann wünschte er die dringliche Fertigung einiger Hubschrauber-Staffeln noch vor Beginn der Winterkämpfe zur Erhaltung und Steigerung der Kampfkraft der im Gebirge kämpfenden Truppe, eine von der Produktion her völlig unerfüllbare Forderung. Zum Abschluss schlug er vor, die 57 Gebirgserprobung Fa 223 in Mittenwald. Bericht vom 6. bis 23.9.44 und 29.9. bis 6.10.44, 9.10.1944, S. 7, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck (erhalten von Carl Bode). <?page no="352"?> D E R H U B S C HR AUBER F OC KE -A C HGELIS 223 ›D R AC HE ‹ 353 Hubschrauberflugzeuge für den Einsatz im Gebirge der Gebirgstruppe gliederungsmäßig zu unterstellen, um jeden Verlust durch Berggefahren von vorherein [sic] auszuschalten. 58 Chefpilot Carl Bode berichtete über seine Erfahrungen: Während dieser Erprobung wurden 83 Flüge in 20 Flugstunden durchgeführt mit Landungen auf unvorbereiteten Plätzen im Gebirge, z. B. bis zu 2.300 m Höhe bei der Dresdner Hütte. Der wichtigste Zweck waren Lastentransporte von einsatzbereiten Geschützen auf Lafetten bis zu 700 kg Gewicht in Einsatzstellungen, Transport von Munition, Granatwerfern und sogar, sehr wichtig, für die Kampfkraft der Truppe im Winter, der Transport heißer Verpflegung, die sonst tagelang entbehrt werden musste. Für eine Sanitätseinheit wurden Verwundetentransporte simuliert. Als letztes fand im Berggebiet des Wörnerkessels eine praktische Einsatzübung mit dem Hubschrauber statt, wobei der Truppe die Lasten in Einsatzstellungen gebracht und wieder herausgeflogen wurden. 59 Die Versuchsserie war so erfolgreich, dass der Kommandeur der Gebirgsjäger die sofortige Aufstellung einer Hubschrauberstaffel für seinen Truppenteil forderte. Man ging davon aus, dass zwei Fa 223 genügten, ein Gebirgsjägerbataillon in schwierigem Gelände zu versorgen. Auch Heinrich Himmler erfuhr von den positiven Einschätzungen der Möglichkeiten des Hubschraubers und sagte seine Unterstützung zu. 60 Kurz nach der erfolgreichen Hochgebirgserprobung traf jedoch ein Fernschreiben vom Jägerstab ein, in welchem die sofortige Einstellung der Entwicklung für alle Hubschrauber befohlen wurde. 61 Am 11. November 1944 ging an die Firma Focke-Achgelis die Mitteilung, alle Mitarbeiter würden in die Produktion des Düsenjägers Me 262 eingegliedert. Hitler entschied, dass 1.000 Personen für die gesamte Hubschrauberproduktion aller Hersteller bei den Werken verbleiben konnten, was ein bescheidenes Weiterleben der Hubschrauberentwicklung ermöglichte. 62 Die Mehrzahl der in Ochsenhausen beschäftigten Mitarbeiter wurde dem Messerschmitt-Werk in Regensburg zugeteilt. 63 58 Oberst Kreitmeyer, Gebirgsjägerschule Mittenwald, Erfahrungsbericht über Versuche mit Hubschrauberflugzeug, 11.10.1944, Kopie im Besitz von Wolfgang Falch, Pfaffenhofen. 59 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 37f. 60 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 38. 61 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 9. 62 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 38. 63 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 9. <?page no="353"?> T HOMA S A L BR IC H 354 7. Dem Ende entgegen: Einsatz an der Ostfront und in der Alpenfestung Am 15. und 16. Dezember 1944 wurden die Fa 223 und die Fl 282 von Flettner in der Versuchsstelle Kummersdorf südlich von Berlin Rüstungsminister Albert Speer sowie hochrangigen Militärs und SS-Führern vorgeführt. Der positive Eindruck ermöglichte es Focke-Achgelis, die Serienproduktion von 300 Fa 223 auf dem Flughafen Berlin-Tempelhof vorzubereiten. 64 Ab Juni 1945 sollten monatlich 30 Maschinen gebaut werden, allerdings unter Verzicht auf das ursprüngliche Personal. 65 Die erste Fa 223E aus der Serie von Weser-Flugzeugbau Tempelhof in Berlin- Tempelhof war die 0051 GW+PA, die ihren Erstflug am 6. Februar 1945 absolvierte. Als im Februar 1945 die Produktion schleppend wieder aufgenommen werden konnte, traf ein Befehl des Kommandos der Erprobungsstellen ein: Die Entwicklung der Hubschrauber ruht! Einige wenige Maschinen wurden noch bei der Weserflug in Berlin-Tempelhof endmontiert. Bis zur Einstellung der Fertigung konnten noch zwei Fa 223 produziert werden, 15 weitere befanden sich im Bau. 66 Die weiteren drei in Tempelhof gefertigten Maschinen FA 223E-0S52 bis 0S54 waren am 20. April 1945 im Werk abholbereit, fielen in sowjetische Hände und wurden dort erprobt. Die weiteren Nummern 0S55 bis 0S69 waren ebenfalls noch in Tempelhof gebaut, aber nicht mehr geflogen und fielen am 26. April 1945 in sowjetische Hände. 67 Zwei Monate zuvor, am 25. Februar 1945, hatte ein Führerbefehl die Fa 223 0051 GW+PA zu einem Sondereinsatz im Frontbereich des Ostens in das von der Roten Armee eingeschlossene Westpreußen beordert. Leutnant Hans-Helmut Gerstenhauer sollte mit seiner Maschine, der Fa 223 mit der Werknummer 00051, in das zur Festung erklärte, hart umkämpfte Danzig fliegen. 68 Auf Grund des schlechten Winterwetters traf er erst am 1. März 1945 aus Ochsenhausen kommend in Stolp- West ein. Das Vorhaben Danzig wurde kurzfristig abgesagt, da der vorzeitige Fall der Festung befürchtet wurde. Der Auftrag lautete nun, von einem Sportplatz im eingeschlossenen Graudenz drei Gefangene der sogenannten Seydlitz-Armee auszufliegen, einem Verband ehemaliger deutscher Soldaten, die auf Seiten der Roten 64 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 38f. 65 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 9f. 66 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 10. 67 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 45. 68 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 10; Hans- Helmut Gerstenhauer, Erfahrungsbericht über die Einsatzfähigkeit der 8-223 E-O nach dem Sondereinsatz vom 26.2.-11.3.1945, Ochsenhausen 27.3.1945. Ging an Prof. Focke, Dipl.-Ing. Papenhausen und Dipl.-Ing. Schweym; Homepage Hubschraubermuseum Bückeburg http: / / www.fliegerrevuex.aero/ wp-content/ uploads/ 2013/ 09/ Fa223_Einsatz_ 1945.pdf, aufgerufen am 12.8.2017. <?page no="354"?> D E R H U B S C HR AUBER F OC KE -A C HGELIS 223 ›D R AC HE ‹ 355 Armee kämpften. Schließlich verhinderten schlechtes Wetter und der rasche Vormarsch der Roten Armee diesen Einsatz. Gerstenhauer konnte mit dem Hubschrauber aber Leutnant Schadewitz, einen notgelandeten deutschen Piloten der 1./ NAG 4, in der Nähe des Ortes Goschin (Goszyn) retten und zu seiner Einheit ausfliegen. Diese Luftwaffeneinheit wurde noch am selben Tag nach Gotenhafen- Hexengrund zurückverlegt, und Gerstenhauer schloss sich dieser Einheit an. 69 In Gotenhafen konnte nachgetankt werden. Nachdem die Besatzung des Hubschraubers die Reichweite ihrer Fa 223 durch den provisorischen Einbau eines Benzinfasses erhöht hatte, flog Leutnant Gerstenhauer am 9. März 1945 zumeist in extremem Tiefflug bei fast 70 km/ h Gegenwind in nur 3 ½ Stunden entlang der Küste nach Westen zum Flugplatz Swinemünde-Garz auf Usedom, 70 das nächstgelegene Flugfeld in deutscher Hand. Dabei legte der Hubschrauber eine Strecke von 340 km zurück. Am 11. März 1945 konnte der Hubschrauber dann in Werder westlich von Berlin landen. Die Gesamtstrecke des Einsatzes betrug fast 1.700 km. Schließlich gelangte die Maschine im April 1945 nach Ainring. 71 Während des Zweiten Weltkriegs war der Regierungsflughafen Reichenhall-Berchtesgaden auch ein Fliegerhorst der Luftwaffe mit verschiedenen hier stationierten Kommandos. Pläne zur Bombardierung des Flughafens wurden von den Alliierten aber verworfen, da der Fliegerhorst nicht als kriegsentscheidend eingestuft wurde. 72 8. Der erste Hubschrauber-Transport-Verband der Welt Am 12. Februar 1945 wurde der erste Hubschrauber-Transportverband der Welt aufgestellt. Die als Transportstaffel 40 bezeichnete Einheit lag jedoch vorerst ohne Hubschrauber in Mühldorf am Inn. Nach und nach sollten Fa 223 aus der anlaufenden Produktion in Tempelhof geliefert werden. Auch Flettner-Hubschrauber Fl 282 sollten zur Einheit stoßen. Das Flettner-Werk wurde zu dieser Zeit aus Berlin nach Bad Tölz verlagert. Die geplante Einsatzstärke lag bei zwölf Fa 223 und einigen kleineren Fl 282. Anfang März 1945 übersiedelte die Staffel auf den ›Führerhorst Ainring‹. Noch fehlte es an Fluggeräten und Piloten sowie an ausgebildetem Wartungspersonal. Die Einsatzbereitschaft der Staffel verzögerte sich auch, da Oberleutnant Franz Lankenau, der Technische Offizier der Staffel, seine Leute zuerst zu den Herstellerwerken schickte, um die Maschinen kennenzulernen. 73 69 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 42. 70 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 10. 71 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 43. 72 Festschrift 40 Jahre Fortbildungsinstitut der Bayerischen Polizei, o. O. 2015, S. 16. 73 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 39. <?page no="355"?> T HOMA S A L BR IC H 356 Die Pilotenausbildung erfolgte unter Staffelkapitän Sepp Stangl, dem späteren Kommandanten des Fliegerregimentes 3 des Österreichischen Bundesheeres. Die Staffel sollte schlussendlich mit 20 Fa 223 und 24 Fl 282 ausgerüstet werden. 74 Am 10. und 11. April 1945 erhielt die Staffel ihre ersten Hubschrauber, zwei Flettner Fl 282. Der Verband begann sofort, Piloten durch Flettner-Testpiloten ausbilden zu lassen. 75 Die drei noch verbliebenen Fa 223 V11, V14 und S51 wurden der Transportstaffel 40 in Ainring zugeteilt. Die drei Hubschrauber trafen nacheinander bei der Luftwaffengruppe Nordalpen ein. Bei der Verlegung stieß die Besatzung des S51 über dem Bayerischen Wald auf Feindjäger, konnte sich aber im Schwebeflug in einer Waldecke verstecken. 76 Am 12. April 1945 landete auch die Fa 223 V14, geflogen von Leutnant Gerstenhauer, aus Ochsenhausen kommend in Ainring. Mitte des Monats überstellte Fliegerstabsingenieur Otto Dumke von der Erprobungsstelle Rechlin die S51 an den Verband, die den oben beschriebenen Einsatz an der Ostfront geflogen hatte. Am 20. April flogen drei Piloten der Transportstaffel 40 mit einer Ju 52 nach Berlin, um die S52 und S53 für den Verband abzuholen. Am 22. April lag der Flugplatz Tempelhof aber bereits unter sowjetischem Feuer. So mussten sie unverrichteter Dinge mit requirierten Kleinflugzeugen wieder nach Ainring zurückfliegen. Während Oberleutnant Franz Lankenau und Max Schmid es schafften, bis zum 24. April 1945 wieder in Ainring zu sein, musste Heinz Lex mit seinem ›Fieseler Storch‹ nach Flakbeschuss notlanden und geriet in amerikanische Gefangenschaft. 77 Beim Vorrücken der Amerikaner flog Carl Bode am 23. oder 24. April 1945 im Tiefflug mit der Fa 223 V16 von Ochsenhausen nach Mittenwald. Um zu verhindern, dass die Maschine in die Hände des Feindes fiel, steuerte Bode den Hubschrauber auf die Eppzirler Alm zwischen Scharnitz und Seefeld in Tirol, die er von der Gebirgserprobung im vorangegangenen Herbst bereits kannte. Hier demontierte er mit einem Mechaniker den Hubschrauber soweit es möglich war, sprengte wichtige Baugruppen und setzte auch noch nach der Kapitulation seine Arbeit fort, indem er die Reste des Hubschraubers vergrub. 78 Bevor Bode seinen Hubschrauber am 26. April 1945 befehlsgemäß im Bachbett knapp oberhalb der Almhütten mit zwei Handgranaten zerstörte, baute er angeblich noch die Rotorblätter und die 500 kg schweren Rotorköpfe mit den Taumelscheiben aus. Diese 74 H ERMANN H INTERSTOISSER , Das Kriegsende im Pinzgau, in: H ANS B AYR u. a., Salzburg 1945-1955. Zerstörung und Wiederaufbau, Begleitbuch zur Ausstellung des Salzburger Museums Carolino Augusteum, Salzburg 1995, S. 41-55. 75 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 40. 76 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 11. 77 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 40. 78 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 41. <?page no="356"?> D E R H U B S C HR AUBER F OC KE -A C HGELIS 223 ›D R AC HE ‹ 357 technischen Herzstücke vergrub er zusammen mit den Konstruktionsplänen auf der Alm. Bode hoffte, der deutschen Technik dieses Wissen und die Erfahrungen im Hubschrauberbau als Basis für einen späteren Neuanfang erhalten zu können. 79 Er schildert den Vorgang so: Wir vergruben die Rotorblätter, bauten die 500 kg schweren Rotorköpfe ab, sprengten sie auf einem Moränenfeld und vergruben die Trümmer 2 m tief. Zu Fuß schlichen wir uns ohne Passierschein eine Woche lang durch die amerikanisch besetzte Zone zu unseren Familien nach Laupheim und erfuhren dort, dass unsere gesamte treu-deutsche Vernichtungsaktion umsonst war! 80 Wegen der amerikanischen Luftangriffe verlegte man die Staffel am 30. April 1945 an den Fliegerhorst Aigen im Ennstal. 81 Die beiden Flettner Fl 282 sollten vom einzigen Piloten, Max Schmid, überstellt werden. Die erste Maschine kam am 30. April nach Aigen und Schmid fuhr am gleichen Tag zurück nach Ainring. Dort wartete Hans-Helmut Gerstenhauer mit der Fa 223 V14 auf den neuen Oberbefehlshaber der Luftwaffe Ritter von Greim und dessen Begleiterin Hanna Reitsch, die aus dem eingeschlossenen Berlin geflogen waren und sich auf dem Weg in die ›Alpenfestung‹ befanden. Am 2. Mai 1945 flog Gerstenhauer dann ohne von Greim und Reitsch mit zwei Mechanikern nach Aigen, begleitet vom zweiten Fa 223 S51 und dem zweiten Flettner-Hubschrauber. 82 Wegen des Vorstoßes der sowjetischen Truppen wurde die Transportstaffel mit dem ganzen Fuhrpark am 5. Mai 1945 Richtung Salzachtal verlegt. 83 Am 7. Mai kamen dann die Hubschrauber zurück nach Zell am See. Hier hörten die Piloten von der Kapitulation der Wehrmacht. Schon zuvor hatten die Angehörigen des Verbandes Entlassungspapiere erhalten. 84 Bei einem ersten Kontakt mit den amerikanischen Streitkräften sahen diese von einer Festnahme ab, sodass die ganze Einheit nach Ainring verlegt werden konnte. 85 Während der Flettner-Pilot Schmid mit seiner Maschine am 9. Mai nach Hause flog, wurden die beiden letzten Fa 223 - die V14 und die S51 - von ihren Piloten Leutnant Hans Helmut Gerstenhauer und Fliegerstabsingenieur Otto Dumke am selben Tag von Zell am See zu den amerikanischen Truppen nach Ainring überflogen. Damit endete die Einsatzgeschichte des ersten Hubschrauberverbandes der Welt. 86 79 H. S TAPFER , Deutsche Hubschrauber für die Schweiz (Anm. 31), S. 52; und U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 45. 80 U. J ACK , Focke-Achgelis, (Anm. 2), S. 41. 81 H. H INTERSTOISSER , Das Kriegsende im Pinzgau (Anm. 74). 82 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 41. 83 H. H INTERSTOISSER , Das Kriegsende im Pinzgau (Anm. 74). 84 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 41. 85 H. H INTERSTOISSER , Das Kriegsende im Pinzgau (Anm. 74). 86 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 42. <?page no="357"?> T HOMA S A L BR IC H 358 9. Der Hubschrauber bewies seine Einsatztauglichkeit Rund 40 Fa 223 verließen bis Kriegsende die Produktionshallen in Delmenhorst und Laupheim. 87 Allerdings wurden nur elf Hubschrauber Fa 223 auch geflogen. Mit etwa 400 Stunden Gesamtflugzeit wurde Erstaunliches geleistet, und die Siegermächte zeigten sich beeindruckt. Mit fast 10.000 km Überlandflugstrecke hat die Fa 223 jeden Zweifel ausgeräumt, ob Hubschrauber für den Transport von Personen und Lasten einsetzbar sind. Der Entwurf mit zwei Rotoren an langen Auslegern war allerdings nicht zukunftweisend und wurde nach 1945 nicht mehr verwendet. 88 Den Sowjets fiel am Flughafen Tempelhof in Berlin die Produktionsstätte der Weser-Flugzeugwerke mit 17 fast fertigen Fa 223 in die Hände. Drei Maschinen rüsteten die Sowjets flugfertig auf, und eine ging zur Erprobung in die Sowjetunion. 89 Die beiden übrigen Maschinen wurden an die Tschechen überstellt. In der Tschechoslowakei wurden aus Ersatzteilen noch zwei Exemplare als Vr-1 montiert. 90 Nach Abstürzen gab es 1949 keine Maschine mehr in der Tschechoslowakei. Die Amerikaner erhielten am 9. Mai 1945 in Ainring die beiden flugfähigen Fa 223, die am 11. Mai nach München-Riem überstellt wurden. Am 13. Mai flogen die Hubschrauber weiter nach Nellingen bei Stuttgart, wo die Maschinen mit amerikanischen Hoheitszeichen Vorführungen machten. Am 23. Mai ging es weiter nach Kassel. Beim Flug dorthin musste die S51 in der Nähe von Hanau infolge Getriebeschadens notlanden. Die flugunfähige Maschine wurde zerlegt, in die USA verschifft und dort erprobt. Die V14 sollte als Ganzes mit dem Schiff von Cherbourg aus in die USA gebracht werden. Pilot Gerstenhauer flog am 15. Juni mit einem deutschen Techniker und einer amerikanischen Wache an Bord nach Frankreich. In Cherbourg angekommen, bekam die Besatzung den Befehl, wieder zurück nach Frankfurt zu fliegen. Bei einem Zwischenstopp nahe Paris erfuhr man, dass die Fa 223 V14 an die Briten übergeben worden sei. Nach einigen Vorführflügen überführte Werkspilot Gerstenhauer am 6. September, zusammen mit Zelewsky und Will, die letzte noch verbliebene, aus der Laupheimer Produktion stammende Fa 223 V14 nach Beaulieu in Südengland. Damit war erstmals ein Hubschrauber über den Ärmelkanal geflogen. Der Hubschrauber ging am 3. Oktober 1945, nach etwa 165 Flugstunden in Deutschland, bei seinem dritten Erprobungsflug in England verloren. Pilot Gers- 87 H. S TAPFER , Deutsche Hubschrauber für die Schweiz (Anm. 31), S. 52; C ARL B ODE , Lebenslauf der Focke-Hubschrauber FA 223, Manuskript, 23.8.1986. 88 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 43. 89 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 43. 90 Y. L E B EC , Die wahre Geschichte des Helikopters (Anm. 6), S. 12. <?page no="358"?> D E R H U B S C HR AUBER F OC KE -A C HGELIS 223 ›D R AC HE ‹ 359 tenhauer und sein britischer Kopilot blieben unverletzt, Gerstenhauer kehrte im März 1946 nach Deutschland zurück. 91 Die Franzosen holten sich aus Ochsenhausen Pläne der Fa 223, um damit ihre eigene Hubschrauberentwicklung voranzubringen. In Frankreich arbeitete man bei der ›Societé de Construction de Aéronautiques du Sud Est‹ unter der Bezeichnung S. E. 3000 ebenfalls an der Weiterentwicklung des Hubschraubers. Es war schon Focke klar, dass die Fa 223 mit den beiden auf Auslegern angebrachten Rotoren nur ein Übergangsmodell war. Die Zukunft gehörte dem Hubschrauber mit Heck- oder Blasrotor. 92 10. Ein Neubeginn: Die Entdeckung der Fa 223 V16 auf der Eppzirler Alm in den 1980er Jahren Nach Kriegsende waren die Reste der gesprengten Maschine auf der Eppzirler Alm im Karwendel von Souvenirjägern geplündert worden. Der Rumpf des Hubschraubers lag noch jahrelang im Hochtal, ehe er von einer Mure verschüttet wurde. Es dauerte über 35 Jahre, bis das Schicksal der Hubschrauber wieder Interesse erregte. Im Frühjahr 1982 sprengte Leutnant Martin Benesch, der Kommandeur einer Pioniereinheit des österreichischen Bundesheeres, die Reste der Gebirgsjägerkaserne auf der Eppzirler Alm, führte aber auch Nachforschungen zum Verbleib des Hubschraubers durch. Auf seine Anfrage schrieb Hermann Blähser aus Pfaffenhofen an der Ilm an die Redaktion der Zeitschrift ›Luftfahrt International‹ in Elmshorst und bat um Identifizierung des Wracks. Benesch hatte ihm elf Fotos mitgesandt, die ebenfalls an die Redaktion gingen. Blähser schrieb nicht sehr konkret: Der Fundort liegt im österr. Hochgebirge nahe einer ehemaligen Befestigungsanlage der Deutschen Wehrmacht. Durch Geröllführung des Schmelzwassers und Vermurung wurde das Wrack im Laufe der Zeit zugedeckt. Nach Angaben von Augenzeugen wurde das Luftfahrzeug in den letzten Kriegstagen gesprengt. Da Start- und Landungen eines Propellerflugzeuges am Fundort nicht möglich ist, vermutet der Leutnant [Benesch], dass es sich um einen Hubschrauber handeln könnte. 93 Benesch hatte Recht. Im Sommer 1982 suchten Soldaten einer Pioniereinheit des Österreichischen Bundesheeres auf der Eppzirler Alm nach den Überresten des Hubschraubers Fa 223 V16. Auch der einstige Testpilot des Hubschraubers, Carl 91 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 11. 92 M. G RIEHL / J. D RESSEL , Deutsche Hubschrauber vor 1945 (Anm. 7), S. 12; U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 44. 93 Hermann Blähser, Pfaffenhofen an der Ilm, 7.4.1982, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck. <?page no="359"?> T HOMA S A L BR IC H 360 Bode, der als Pensionist am Starnberger See wohnte, war mit seiner Frau dabei. Nach den Ausgrabungen schrieb Bode am 17. August 1982 an Martin Benesch, bedankte sich für die freundliche Aufnahme und schickte ihm ein gerade erschienenes Buch über die deutsche Hubschrauberentwicklung und den Bericht über die Truppenversuche mit Hubschraubern der Gebirgsjägerschule Mittenwald und der Firma Focke-Achgelis, die im vorliegenden Aufsatz verwendet wurden. Ein Hinweis kam noch von Carl Bode: Vielleicht, habe ich mir überlegt, befinden sich unter der Eisenplatte, die wir im Moränenfeld mit dem Minensuchgerät gefunden haben, doch die gesprengten und wieder eingegrabenen Reste des Rotorkopfs. 94 Am 28. August 1982 schickte Carl Bode seine Fotos von der Bergung der V16 auf der Eppzirler Alm. Weiter schrieb er: Die aufgeklebten Fotos gehören noch zu dem Bericht über die Gebirgserprobung. Damit ist auch klar, woher die Bilder von Benesch kamen. 95 Am 16. April 1991, neun Jahre nach dem Fund der V16 auf der Eppzirler Alm, schrieb Frederic Müller-Romminger über seine geplante Dokumentation über die Gebirgserprobung des Hubschraubers Fa 223 V16 im Großraum Mittenwald und die Geschichte der Transportstaffel 40, der ersten Hubschrauberstaffel der Welt. Er schilderte, von wem er welche Unterlagen dazu bekommen habe, und fragte dann bei Martin Benesch um Hintergrundinformationen zum Fund des Hubschraubers an. Er sei persönlich sehr an der Bergung und dem Schicksal der Teile interessiert und war offenbar der Meinung, dass sich die Teile im Besitz von Martin Benesch befänden. Müller-Romminger wollte Genaueres über den Hergang der Funde und den Verbleib darüber erfahren. Er sei auch an Fotos oder Lageskizzen interessiert, um den Restteilen nachzuspüren! Er versprach Benesch, ihm einen Abdruck vom Endresultat seiner Nachforschungen und der Dokumentation zukommen zu lassen. 96 Benesch lieferte die Informationen umgehend. Der Sternmotor sei kurz nach der Entdeckung der Überreste geborgen worden. Der Motor lag neun Jahre nach der Bergung noch immer bei Manfred Kaufmann, dem Feuerwehrkommandanten von Zirl, der sich offenbar im Besitz eines ›Goldschatzes‹ wähnte. Benesch übersandte Müller-Romminger auch noch drei Streifen Negative. 97 1993 war Frederic Müller- Romminger mit seiner geplanten Publikation noch nicht viel weiter. Er schickte Benesch die zwölf Negative zurück, die er zwei Jahre zuvor leihweise von ihm bekommen hatte. 98 94 Carl Bode, Neu-Hochstadt, an Martin Benesch, Innsbruck, 17.8.1982, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck. 95 Carl Bode, Neu-Hochstadt, an Martin Benesch, Innsbruck, 28.8.1982, Privatbesitz Martin Benesch, Innsbruck. 96 Frederic Müller-Romminger, Bad Reichenhall, 16.4.1991, an Martin Benesch, Innsbruck. 97 Hauptmann Martin Benesch, Innsbruck, an Müller-Romminger, Bad Reichenhall, 20.4.1991. 98 Frederic Müller-Romminger, Bad Reichenhall, 14.3.1993, an Martin Benesch, Innsbruck. <?page no="360"?> D E R H U B S C HR AUBER F OC KE -A C HGELIS 223 ›D R AC HE ‹ 361 Danach wurde der Motor in das Fahrzeug-, Technik- und Luftfahrtmuseum nach Bad Ischl überstellt. Die Reste der Aluminiumverkleidung und des Cockpits wurden schließlich, nachdem sie jahrzehntelang im Schotter begraben waren, im Jahr 2010 geborgen. 99 Im Jahr 2012 übernahm Wolfgang Falch von der Firma Sandy Air in Pfaffenhofen in Tirol die Überreste; er plant einen Neuaufbau des Hubschraubers als nichtflugfähiges Ausstellungsstück für ein Museum. Bisher schlugen die Versuche fehl, mit Hilfe von Metallsuchgeräten noch mehr vom verschwundenen Urhubschrauber zu finden. Der Zustand der geborgenen Teile lässt die Schwierigkeiten erahnen, welche die Restaurateure vor sich haben. Bis jetzt konnte die Cockpitsektion mit der gesamten Steuerungsmechanik aber ohne Verglasungsaufbau geborgen werden. Ebenso fand man das Bugfahrwerk ohne Gabel und Rad sowie das Ende des Rumpfhecks mit einem Teil des Seitenruders. Wolfgang Falch stellte als Perspektive für den Neuaufbau fest: Der Zustand ist schlecht. Es ist jedoch möglich, die Rohrkonstruktion zu begradigen und Teile wieder beweglich zu machen. Als Kern für einen Neuaufbau ist es eine exzellente Grundlage. Das Cockpit und die weiteren Teile stammen von der V16 DM+ST […]. 100 Die geplante Rekonstruktion wäre dann der einzige Hubschrauber des Typs Fa 223 weltweit. 99 J OHANN N IEDERKIRCHER , Die Geschichte der Eppzirler Alm als Spiegel der Geschichte Tirols? , Diplomarbeit, Innsbruck 2011, S. 72. 100 U. J ACK , Focke-Achgelis (Anm. 2), S. 43. <?page no="362"?> 363 V ERONIKA D IEM Das Kriegsende 1945 im Süden Bayerns Den Ausgangspunkt dieses Beitrages bildet die Freiheitsaktion Bayern (FAB), eine Widerstandsgruppe, die Ende April 1945 in München versuchte, die Macht zu übernehmen, um mit Hilfe einer Übergangsregierung die Kämpfe um Bayern zu beenden. 1 Rundfunkaufrufe, die seit den Morgenstunden des 28. April 1945 über den Münchner Reichssender ausgestrahlt wurden, motivierten knapp 1.000 Menschen, sich an ihrem jeweiligen Ort gegen Nationalsozialisten und deren Verteidigungsmaßnahmen einzusetzen. Allerdings gelang es diesen gegen Mittag, die Ausstrahlung zu stoppen. Die Widerstand Leistenden mussten fliehen, wurden verfolgt und insgesamt 58 Menschen ermordet. 1. Kriegsendphase Die alliierten Truppen bewegten sich 1945 von Nord nach Süd und vor allem von Westen nach Osten auf Bayern zu. 2 Insgesamt dauerte die Eroberung lediglich 1 Die Darstellung zur Freiheitsaktion Bayern basiert auf meiner 2013 publizierten Dissertation: V ERONIKA D IEM , Die Freiheitsaktion Bayern. Ein Aufstand in der Endphase des NS- Regimes (Münchener Historische Studien 19), Kallmünz 2013. Mein Vortrag beim Memminger Forum im November 2015 stand am Ende eines recht vielfältigen Vortragsjahres: Das Ende des Zweiten Weltkriegs hatte einen runden Jahrestag und an zahlreichen Orten blickten historisch Interessierte auf die Ereignisse siebzig Jahre zuvor in ihrer direkten Umgebung. Eine andere Perspektive eröffnete sich im Vergleich zu diesen relativ engen regionalen Zuschnitten auf dem Memminger Forum, wo eine ganze Region - obendrein in einem Dreiländereck - in den Blick genommen werden kann. Im Vortrag 2015 war ein Abschnitt den Ereignissen am Kriegsende in Innsbruck gewidmet. Leider ist die Monographie von Michael Gehler zum Innsbrucker Protagonisten Karl Gruber noch immer nicht veröffentlicht. Die bisherigen Erkenntnisse aus anderen Quellen reichen für eine Verschriftlichung leider nicht aus; M ICHAEL G EHLER , Vom Telegraphenamt zum Ballhausplatz: Karl Gruber und Österreichs Außenpolitik bis zum Scheitern der Staatsvertragsverhandlungen 1927-1949, Habilitationsschrift eingereicht an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck 1999 (unveröff. Manuskript). 2 Die folgenden Angaben stützen sich, falls nicht anders vermerkt, auf J OACHIM B RÜCK - NER , Kriegsende in Bayern 1945. Der Wehrkreis VII und die Kämpfe zwischen Donau und Alpen (Einzelschriften zur militärischen Geschichte des Zweiten Weltkrieges 30), Freiburg 1987, S. 79-268; M ARY H. W ILLIAMS (comp.), Chronology 1941-1945 (United States Army <?page no="363"?> V ER ONIKA D IE M 364 einen guten Monat: Ende März waren sie in Aschaffenburg, Anfang Mai erreichten die Einheiten der 3. und 7. US-Armee sowie der 1. französischen Armee Berchtesgaden. Schon am 20. April war Nürnberg eingenommen worden. In den Tagen darauf folgten Dinkelsbühl und Dillingen, wo die Truppen die Donau überqueren konnten. Anschließend stießen sie bis zu den Städten Ulm, Leipheim und Günzburg vor. Am 26. April 1945 gelang ein weiterer Durchbruch an der Donau: Ingolstadt, Memmingen und Mindelheim gehörten an diesem Tag zu den eroberten Städten. Abb. 1: Frontverläufe in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Am nächsten Tag, Freitag, dem 27. April, marschierten die US-Truppen in Augsburg ein. In der darauf folgenden Nacht begann der Aufstand der Freiheitsaktion Bayern. Es sollte noch das ganze Wochenende dauern, bis am 30. April München in World War II. Special Studies 4), Washington D. C. 1960, S. 514-535; und auf Bundesarchiv, RW 17/ 46: Korpsbefehle Nr. 2 bis 5 des Stellvertretenden Generalkommandos VII vom 18.4.1945 bis 23.4.1945. <?page no="364"?> D A S K R IEG S ENDE 1945 IM S ÜDEN B AYER NS 365 nach marginalen Verteidigungsversuchen übergeben wurde. Nach dem Suizid Adolf Hitlers in Berlin war Großadmiral Dönitz an seine Position gerückt. Das Wetter in diesen Tagen war überwiegend regnerisch und kalt, vereinzelt schneite es sogar. Ab Anfang Mai 1945 schloss sich der Ring um die zusammenhanglosen deutschen Truppen immer rascher. In einem weiten Bogen wurden sie ins Alpenvorland abgedrängt. Ab 1. Mai war Oberstdorf besetzt und am 3. Mai Innsbruck. Am 4. Mai folgten Salzburg und Berchtesgaden. Sonntag, den 6. Mai 1945 um 12: 00 Uhr, traten schließlich die Kapitulationsvereinbarungen in Kraft. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis diese Information überall angelangt war. Mit der bedingungslosen Gesamtkapitulation für alle Kriegsschauplätze am 8. Mai 1945 war das Ende des Zweiten Weltkriegs besiegelt. Abb. 2: Der Wehrkreis VII mit Kriegsgefangenenlagern (Februar 1942). Der Wehrkreis VII war seit Mitte März 1945 dem Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall Albert Kesselring unterstellt. Befehlshaber im Wehrkreis VII war ab Mitte April Generalleutnant Heinrich Greiner. Dieser versuchte, eine Verteidi- <?page no="365"?> V ER ONIKA D IE M 366 gungslinie entlang der Donau aufzubauen. Allerdings sah er sich sowohl personell als auch materiell mit großen Lücken konfrontiert. Die deutsche Administration war durch Kompetenzwirren gelähmt. Es gab Abstimmungsschwierigkeiten zwischen Militär, Partei- und Verwaltungsstellen. 3 Obwohl oder vielleicht sogar weil das deutsche Militär personell wie materiell schwach und fragmentiert war, waren manche Kämpfende fanatisiert. Die Resteinheiten speisten sich aus der Waffen-SS, der Wehrmacht und dem Volkssturm. Der Volkssturm war im September 1944 aufgerufen worden. Zur Verteidigung des ›Heimatbodens‹ wurden bisher frei- oder zurückgestellte Männer und Jugendliche zwischen 16 und 60 Jahren mobilisiert. Sie unterstanden der Führung der Gauleiter in deren Funktion als Reichsverteidigungskommissare. 4 Oft werden diese Einheiten als harmlos abgetan, da sich der Großteil dieser ›letzten Reserven‹ eher zurückhielt und kein unnötiges Risiko mehr eingehen wollte. Allerdings gab es auch anders eingestellte Einheiten und sehr fanatische Anführer, wie sich bei den Hinrichtungen von FAB-Sympathisanten zeigte: Die Volkssturmgruppe, die in der südlich von München gelegenen Bergarbeiterstadt Penzberg acht Menschen erhängte, nachdem bereits am Nachmittag vorher von einer Wehrmachtseinheit acht Männer erschossen worden waren, gab sich gar als Werwolfgruppe aus. 5 Der Werwolf war als nationalsozialistische Partisanenorganisation im Sommer 1944 ins Leben gerufen worden. Er basierte auf militärischen Konzepten. Ein politisch-revolutionärer Aufruf durch Goebbels am 1. April 1945 sollte die Kräfte zum Kampf gegen die Alliierten mobilisieren. Allerdings waren diese Bemühungen in den Anfängen steckengeblieben. Die angewandte Gewalt richtete sich vor allem gegen die eigene Bevölkerung, wie zum Beispiel beim Mord am Aachener Bürgermeister am 25. März 1945. Die alliierten Truppen konnten das von dieser Gruppierung ausgehende Risiko für einen Kampf im Untergrund nicht recht einschätzen. 6 3 So gehörte beispielsweise das Gebiet entlang der Iller zum Befehlskreis des Oberbefehlshabers West und damit nicht zur Heeresgruppe G. Der Donauabschnitt zwischen Neustadt an der Donau und Passau war größtenteils dem angrenzenden Wehrkreis XIII zugeordnet. 4 A NDREAS K UNZ , Wehrmacht und Niederlage, Die bewaffnete Macht in der Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft 1944 bis 1945 (Beiträge zur Militärgeschichte 64), 2. Aufl. München 2007 (zugl. Diss. Hamburg 2003), S. 135. Grundlegend zum Volkssturm: D AVID K. Y ELTON , Hitler’s Volkssturm, The Nazi Militia and the Fall of Germany, 1944- 1945, Kansas 2002. 5 Grundlegend: K LAUS T ENFELDE , Proletarische Provinz, Radikalisierung und Widerstand in Penzberg/ Oberbayern 1900-1945, erw. Ausgabe München 1982, S. 369-382. 6 H ANS K ISSEL , Der Deutsche Volkssturm 1944/ 45. Eine territoriale Miliz im Rahmen der Landesverteidigung (Wehrwissenschaftliche Rundschau, Beiheft 16/ 17), Frankfurt am Main 1962; P ERRY B IDDISCOMBE , Werwolf! The History of the National Socialist Guerrilla Movement, 1944-1946, Toronto/ Buffalo 1998; und V OLKER K OOP , Himmlers letztes Aufgebot. Die NS-Organisation »Werwolf«, Köln u. a. 2008. <?page no="366"?> D A S K R IEG S ENDE 1945 IM S ÜDEN B AYER NS 367 Militärisch schwer zu kalkulieren waren im Vorfeld der Eroberung die deutschen Pläne zur Alpenfestung, die als Schlagwort für die Idee einer Verschanzung der NS-Truppen in den Alpen stand. Je näher man den Alpen kam, desto deutlicher wurde, dass diese Pläne nicht realistisch waren. 7 Sehr viel verheerendere Auswirkungen an manchen Orten hatte der sogenannte ›Nero-Befehl‹ Adolf Hitlers vom 19. März 1945, der eine Zerstörung aller Versorgungseinrichtungen im Vorfeld des Frontverlaufs befahl, um zu verhindern, dass sie dem Feind in die Hände fielen. Auch den Anweisungen des Flaggenbefehls folgten einige Fanatiker. Ihn hatte Anfang April 1945 der Reichsführer SS verbreitet: Sobald jemand zum Zeichen der Kapitulation eine weiße Flagge hisste, Panzersperren öffnete oder sich der Mobilmachung im Volkssturm entzog, sollten härteste Maßnahmen angewandt werden: Aus Häusern mit weißer Flagge sollten alle männlichen Personen erschossen werden. 8 Ursprünglich im Bereich des Militärs entstanden, wurden in den letzten Kriegsmonaten sogenannte Standgerichte auch für den zivilen Bereich angewandt. Diese aus einem festgelegten Personenkreis zusammengesetzten Gremien konnten in Schnellverfahren Menschen zum Tod verurteilen. Ein Fliegendes Standgericht unter der Leitung von Generalleutnant Dr. Rudolf Hübner kam mit dem Frontverlauf in den Süden. 9 Trotz dieser verein- 7 Den US-Befehlshabern war schließlich seit Ende März großenteils bewusst geworden, dass eine wie auch immer geartete nationalsozialistische ›Alpenfestung‹ über das Planungsstadium nie hinausgekommen war. Es ging ihnen dann vor allem darum, die Mythenbildung um einen nie geschlagenen und von den Deutschen auch nicht zu gewinnenden finalen Kampf in den Alpen zu verhindern; C HARLES B. M ACDONALD , United States Army in World War II. The European Theater of Operations, The Last Offensive, Washington D. C. 1973, S. 408-409. Zur Diskussion um die sogenannte Alpenfestung siehe K LAUS - D IETMAR H ENKE , Die amerikanische Besetzung Deutschlands (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 27), 2. Aufl. München 1996, S. 937-943. Aktuellere Darstellung zum Thema, jedoch nicht unproblematisch wegen des sensationslüsternen Untertons: R O - LAND K ALTENEGGER , Operation »Alpenfestung«: Das letzte Geheimnis des »Dritten Reiches«, völlig überarb. und stark erweiterte Neuaufl., München 2005. 8 Der Wortlaut von Hitlers ›Verbrannte Erde‹-Befehl (Nero-Befehl) (19.3.1945) und Albert Speers Antwort (29.3.1945) auf der Webseite Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern (DGDB); http: / / germanhistorydocs.ghi-dc.org/ sub_document.cfm? document_id = 1590&language = german (aufgerufen am 28.2.2017). Der sogenannte Flaggenbefehl findet sich im Wortlaut in: H ANS -A DOLF J ACOBSEN , 1939-1945, Der Zweite Weltkrieg in Chronik und Dokumenten, Darmstadt 1959, S. 424f. 9 Quellen zu Standgerichten, die auch in Bayern tätig waren bzw. aufgestellt wurden: IfZ, MA 325, Bild 933-934: Abschrift eines Schreibens des Chefadjutanten der Wehrmacht beim Führer und Chef des Heerespersonalamtes mit dem Befehl des Führers zur Aufstellung eines Fliegenden Standgerichts unter dem Kommandanten und gleichzeitigen Gerichtsherrn Generalleutnant Hübner, 9.3.1945; StaatsA München, NSDAP 518: Protokoll über die Besprechung beim Gauleiter zur Errichtung von Standgerichten, 3.4.1945. Die <?page no="367"?> V ER ONIKA D IE M 368 fachten Verfahren, die schon die Schranken einrissen, erfolgten viele Hinrichtungen als Reaktion auf Widerstandshandlungen in den letzten Kriegswochen willkürlich und ohne standrechtliche Urteile. All diese Morde werden unter dem historischen Terminus der Endphasenverbrechen subsumiert. 10 Im bayerischen Gebiet lassen sich diese grausamen Taten seit Ende März im Vorfeld der Front beobachten. So auch im Süden Bayerns. 2. Kriegsende in Memmingen Die Verteidigungsversuche deutscher Truppen an Donau und Iller waren erfolglos und vergeblich. Luftangriffe hatten die Stadt Memmingen schwer beschädigt. 11 Der massivste fand am 20. April 1945 statt. Wahrscheinlich war das strategische Ziel der Güterbahnhof, allerdings wurden aber auch viele andere Bereiche getroffen. Es gab rund 300 Todesopfer. Nur vier Tage später, am 24. April, erreichten alliierte Truppen Ulm. Iller und Donau als natürliche Begrenzung konnten den Vormarsch nicht stoppen. Die Situation der deutschen Truppen beschrieb NS-Bürgermeister Dr. Heinrich Berndl in einem Bericht: Der Truppenrückzug erfolgte über die Egelseer Brücke, die Ulmer Straße herein und zuerst über den Marktplatz, später aber, als der Zug zu stark wurde, auch noch über den Kuhberg nach Osten. Der Eindruck war sehr schlimm. Heruntergekommene Soldaten vielfach mit Mädchen, magere Pferde, wenige schlechte Kraftwagen, dazu aller erdenkliche Kram, sogar ein Kamel. Schwerste und leichte Artillerie, Panzer jeder Art und so weiter. Dieser große Strom der durchziehenden Wehrmacht stellte bei der ständigen Luftgefahr eine ungeheure Bedrohung unserer Stadt dar. Er ebbte am Dienstag, dem 24.4.1945 ab, erlosch aber erst am Donnerstag, dem 26.4., morgens. 12 Mit den Soldaten flüchteten auch Zivilisten vor den rasch von Ulm her nachrückenden US-Truppen. In der Stadt Memmingen kam es - wie vielerorts - zum Tauziehen zwischen NS-Kräften, die eine Verteidigung forderten, und Bürgern, die vorausgegangene Anordnung von Reichsleiter Bormann stammte vom 15.2.1945; BayHStA, Land Commissioner für Bavaria 62. 10 S VEN K ELLER , Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/ 45 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 97), München 2013. 11 Im Folgenden: P AUL H OSER , Die Geschichte der Stadt Memmingen. Vom Neubeginn im Königreich Bayern bis 1945, Stuttgart 2001, S. 281-292. Virtuelle Ausstellung auf der Webseite des Stadtarchivs Memmingen ›Memmingen 1945 - Bilddokumentation im öffentlichen Raum‹: https: / / stadtarchiv.memmingen.de/ 2047.html (aufgerufen am 28.2.2017). 12 Auszug aus dem Bericht von Dr. Heinrich Berndl, Bürgermeister der Stadt Memmingen, in: A NNY S CHMID (Hg.), Memmingen in den Jahren 1944 und 1945. Eine Dokumentation (Memminger Geschichtsblätter 1989/ 90), S. 20f., und https: / / stadtarchiv.memmingen.de/ fileadmin/ Allgemeine_Dateiverwaltung/ Webseite_Stadtarchiv/ Ausstellungen/ Tafel_5_Rat haus_02.pdf (aufgerufen am 28.2.2017). <?page no="368"?> D A S K R IEG S ENDE 1945 IM S ÜDEN B AYER NS 369 zu einer schnellen Übergabe der Stadt drängten, um sie vor weiterer Zerstörung zu bewahren. So schrieben bereits am 6. April 1945 mehrere Einwohner einen anonymen Brief an den Bürgermeister: 13 Herr Bürgermeister! Wir beschwören Sie, alles zu tun, um dieses unsagbare Unglück von unserer Stadt abzuwenden. Sie sind das verantwortliche Oberhaupt derselben, nicht der Kreisleiter und nicht der Kampfkommandant und von Ihnen wird seinerzeit Rechenschaft über Ihr Handeln verlangt werden. Die Entscheidung, ob Verteidigung ( = sinnlose Zerstörung) oder bedingungslose Übergabe ( = Erhaltung des Volksvermögens) dürfte Ihnen nicht schwer fallen. Wenn Sie nicht handeln, sind wir gezwungen, es zu tun. Vivat Memmingia! Mehrere Einwohner Das Memminger Stadtoberhaupt setzte sich trotz Drohungen für die Aufgabe der Stadt ein. Zwar scheiterte der Versuch, durch ein Schreiben mit einem Verweis auf 4.000 Verwundete in der Stadt eine Verteidigung zu unterbinden, da die Illerbrücken bis auf diejenige bei Egelsee trotzdem gesprengt wurden. Erfolgreich verliefen aber der Abtransport von Munition und Sprengstoff aus der Stadt und eine Verteilung von Lebensmitteln aus Heereslagerbeständen an die Bevölkerung. Am Morgen des 26. April 1945 näherten sich US-Truppen gegen 6 Uhr. Artillerie-Stellungen im Fliegerhorst eröffneten das Feuer. Gegen 9: 20 Uhr gelang es aber schließlich, den Kampfkommandanten zur Aufgabe zu überreden. Die Verteidigung Memmingens wurde weitestgehend eingestellt. Die Kommunikation war allerdings schwierig, und manche weigerten sich immer noch aufzugeben. Andererseits versammelten sich einige Bewohner Memmingens auf dem Marktplatz. Im Hintergrund wurden die Einzelheiten der Kapitulationsforderung seitens der US- Truppen bekannt: Sämtliche deutschen Truppen sollten die Stadt verlassen, es dürfe keinen Widerstand gegen den Einmarsch geben, Panzersperren sollten entfernt werden, es sollten weiße Flaggen sichtbar sein und der Bürgermeister sollte die US-Truppen im Norden der Stadt erwarten. Als auch übergeordnete Befehlsstellen überzeugt werden konnten, fuhren Parlamentäre mit der Kapitulation voraus. Gegen 15 Uhr waren dann von Amendingen her die ersten US-Panzer zu sehen. Beim Anmarsch kam es zu einem tragischen Zwischenfall; beim Beschuss eines Haus an dieser Straße wurde dessen Besitzer versehentlich getötet. Mit Bürgermeister Berndl an der Spitze marschierten die US-Truppen über die Ulmer Straße in Memmingen ein. Auf den Straßen kam es teilweise zu freudigen Begrüßungsszenen. Trotz seines Einsatzes wurde der NS-Bürgermeister Heinrich Berndl Ende Mai 1945 verhaftet. 13 Anonymes Schreiben an den Bürgermeister vom 6.4.1945, in: A. S CHMID , Memmingen in den Jahren 1944 und 1945 (Anm. 12), S. 17, und https: / / stadtarchiv.memmingen.de/ fileadmin/ Allgemeine_Dateiverwaltung/ Webseite_Stadtarchiv/ Ausstellungen/ Tafel_5_ Rathaus_02.pdf (aufgerufen am 28.2.2017). <?page no="369"?> V ER ONIKA D IE M 370 3. Das Kriegsende in Oberstdorf Folgt man dem Verlauf der Iller von Memmingen aus Richtung Süden, erreicht man nach rund 75 Kilometern Oberstdorf. Diesen Weg schlugen die US-Truppen nicht ein, sie marschierten über Kempten Richtung Füssen weiter. Dies erklärt auch das spätere Kriegsende in Oberstdorf am 1. Mai 1945. 14 Anders als Memmingen war der Ort von Luftangriffen verschont geblieben. Lediglich am 27. April verursachten einige Tiefflieger geringere Sachschäden. In Oberstdorf war ein Ausbildungslager für SS-Unterführer angesiedelt und die Bewohner wussten nicht so recht, wie die 50-100 Mann dort auf den Vormarsch der Alliierten reagieren würden. Dazu kam die Angst vor Aktivisten im Volkssturm und möglichen Werwolf- Übergriffen. Im Hirschegger Ifen-Hotel waren 30 zivile Gefangene der NS- Machthaber, darunter auch Diplomaten wie der französische Botschafter in Berlin, André François-Poncet, untergebracht. Zu ihm hatten ortsansässige NS-Gegner Kontakt knüpfen können. Bereits seit Herbst 1944 gab es erste Überlegungen für eine kampflose Übergabe. Ab Februar 1945 konkretisierten sich diese Überlegungen und auch eine Entmachtung der NS-Anhänger wurde in Betracht gezogen. Durch Kontakte mit Gleichgesinnten bildeten sich zwei militärisch geprägte Gruppen: Der Oberstdorfer Heimatschutz, der sich mit weiß-blauen Armbinden kennzeichnete, und der Walser Heimatschutz auf ehemals österreichischem Gebiet, der sich deshalb durch weiß-rote Armbinden zu erkennen geben wollte. In einer Vorbereitungsphase organisierten die Gruppen eine Weitergabe von Waffen und legten Waffendepots an. Als am 30. April 1945 französische Truppen das rund 20 Kilometer entfernte Immenstadt im Allgäu erreichten, begann in der darauffolgenden Nacht um Mitternacht die Aktion des Oberstdorfer Heimatschutzes: Die Gruppe besetzte mit dem Rathaus, der Post, dem Bahnhof und dem Feuerwehrhaus wichtige Gebäude. Rund 50 Personen, die als NS-Anhänger und mögliches Risiko galten, darunter der Bürgermeister und der NSDAP-Ortsgruppenleiter, wurden festgenommen. An zahlreichen Häusern brachten die Mitglieder weiße Flaggen an. Im Laufe des Vormittags folgte mit einem ähnlichen Vorgehen das Walsertal. Später als erwartet trafen am Nachmittag gegen 15: 30 Uhr erste französische Panzer ein. Mitglieder des Heimatschutzes empfingen die Truppen mit einem Brief im Namen der 30 Zivilgefangenen aus dem Hotel. Die Angehörigen des Heimatschutzes fungierten für eine Übergangszeit als Ordnungskräfte vor Ort. Erste Absprachen betrafen einen Transfer der 30 Zivilgefangenen an die Schweizer 14 Zum Folgenden: F RANZ N OICHL , Kriegsende und Widerstand, in: A NGELIKA P ATEL , Ein Dorf im Spiegel seiner Zeit. Oberstdorf 1918-1952 (Geschichte des Marktes Oberstdorf 5), Oberstdorf 2010, S. 301-327; ferner H ILDEBRAND T ROLL , Aktionen zur Kriegsbeendigung im Frühjahr 1945, in: M ARIN B ROSZAT / E LKE F RÖHLICH / A NTON G ROSS - MANN (Hg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. IV, München-Wien 1981, S. 645-689, hier 685f. <?page no="370"?> D A S K R IEG S ENDE 1945 IM S ÜDEN B AYER NS 371 Grenze. In der Nacht zogen sich die französischen Panzer wieder nach Sonthofen zurück. Am folgenden Tag kamen dann französische Bodentruppen nach Oberstdorf. Die Mitglieder der beiden Gruppen gingen mit dem offenen und persönlichen Engagement ein hohes Risiko ein. Trotz des kurzzeitigen Abzugs der französischen Streitkräfte kam es zu keinen Eskalationen mehr. Es gab jedoch zwei Gewalttaten im Umfeld der Oberstdorfer Gruppe: Ende April ermordete ein SS- Scharführer ein Mitglied des Heimatschutzes. Die Umstände dieses Mordes sind ungeklärt, möglicherweise steht er im Zusammenhang mit dem Abtransport von Lebensmitteln und Tabakvorräten aus dem sich auflösenden SS-Lager. Die Eindringlinge wurden von SS-Wachen gestellt, das Heimatschutz-Mitglied wurde bei einem unterstellten Fluchtversuch erschossen. Knapp eine Woche später nahmen die Heimatschutzmitglieder als Ordnungspolizisten die ehemaligen SS-Soldaten systematisch fest und trafen dabei auf den SS-Scharführer, der ihrer Vermutung nach geschossen hatte. Zwei Heimatschutzmitglieder schlugen ihn nach einem Wortwechsel zum Mord an ihrem Freund mit ihren Gewehrkolben nieder. Sie ließen den Schwerverletzten erst liegen, versorgten ihn allerdings noch später. Er erlag wohl noch vor einem ›Gnadenschuss‹ seinen Verletzungen. Nicht nur wegen dieser Tat waren Mitglieder des Heimatschutz ins Fadenkreuz der US-Besatzer und der Justiz geraten. Sie waren diskreditiert. Am Ende wurde das Verfahren aber eingestellt. 15 4. Das Kriegsende in Augsburg Die US-Truppen wurden am Lech kurz gestoppt. Die deutsche Flak beschoss US- Einheiten, die wiederum mit Luftangriffen reagierten. Die Industriestadt Augsburg war bereits schwer bombengeschädigt, fast ein Viertel des Wohnraums war zerstört worden. 16 In den letzten Kriegsmonaten hatte sich die ›Deutsche Freiheitsbewegung in Augsburg‹ gegründet. Die Gruppe umfasste rund 25 Personen. Die Beteiligten dieser Gruppe hatten ein heterogenes Verhältnis zum Nationalsozialismus. Ihr Ziel 15 Wie eingangs des Abschnitts erwähnt, hat Franz Noichl die Ereignisse 1945 in Oberstdorf aufgearbeitet. In seinem letzten Kapitel geht er auf das Nachspiel vor Gericht ein. 16 Zum Folgenden: K ARL -U LRICH G ELBERG (Hg.), Kriegsende und Neuanfang in Augsburg 1945. Erinnerungen und Berichte (Biographische Quellen zur Zeitgeschichte 17), München 1996; D ERS . Die friedliche Übergabe der Stadt Augsburg am 28. April 1945 - keine Selbstverständlichkeit, in: M ICHAEL C RAMER -F ÜRTIG (Hg.), Bewahrt Eure Stadt … Kriegsende und Neuanfang in Augsburg 1945-1950 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Augsburg 2), Augsburg 2005, S. 9-17; und M ARKUS P ÖHLMANN , ›Es war gerade, als würde alles bersten …‹. Die Stadt Augsburg im Bombenkrieg 1939-1945, Augsburg 1994. <?page no="371"?> V ER ONIKA D IE M 372 war vor allem der Schutz von Stadt und Bevölkerung vor den Folgen von sinnlosen Verteidigungsmaßnahmen. Sie forderten deshalb eine kampflose Übergabe der Stadt. Die Gruppe stand auch im Kontakt mit dem NS-Bürgermeister, der ebenfalls gegen eine Verteidigung war. Jedoch hielt der Stadtkommandant verbissen an Verteidigungsplänen fest. Die Gruppe hatte ein Flugblatt entworfen: 17 SOLDATEN UND BEWOHNER DER STADT AUGSBURG! gewaltig Allierte [sic! ] Streitkräfte sind im Vormarsch auf Augsburg begriffen und bedrohen die Stadt mit vollkommener Zerstörung Artillerie grössten Kalibers ist in den Vororten Eurer Stadt in Stellung gegangen und ist bereit, die Stadt mit tausenden Tonnen von Stahl zu bedecken. BEWAHRT EURE STADT UND DIE VIELEN BEWOHNER VON VOLL- KOMMENER VERNICHTUNG! Als Zeichen der Übergabe hisst weisse Flaggen auf allen Gebäuden der Stadt. Alle Wehrmachtsangehörigen müssen die Grenzen der Stadt verlassen. Augsburg wird nicht zerschmettert werden vorausgesetzt dass [sic! ] diese Beweise der Übergabe geliefert werden: KEIN DEUTSCHER SOLDAT UND KEIN EINZIGES GESCHÜTZ DARF IN DER STADT VERBLEIBEN. Erspart Eurer alten Stadt und Ihren [sic! ] Bewohnern den Regen von Stahl, der Augsburg zu vernichten droht! Der Kommandierende General der Alliierten Streitkräfte. [handschriftlicher Vermerk: ] 27. April 1945 21: 00 Uhr. Am 27. April gab es von Augsburg aus erste Kontakte zu den US-Truppen. Die zur Übergabe bereiten Bürger berichteten dort über Verteidigungsmaßnahmen und boten der US-Armee an, diese sicher in die Stadt zu bringen. In den westlichen Stadtvierteln forderten die Aktivisten zur weißen Beflaggung und zum Entfernen von Panzersperren auf. Bei der Festnahme des fanatischen NS-Stadtkommandanten unterstützte die Gruppe die US-Truppen. Die Folge war, dass nach einigem Hin und Her die Verteidigung der Stadt Augsburg in sich zusammenfiel. 18 5. Kriegsende in München Am Morgen nachdem die US-Truppen Augsburg erreicht hatten, hörten zahlreiche Menschen im Süden Bayerns über ihr Rundfunkgerät Aufrufe wie den folgenden: [Sprecher 1]: Achtung, Achtung hier spricht FAB Freiheitsaktion Bayern. Sie hören nun eine Proklamation an die französischen Arbeiter in Bayern. 17 Abbildung des Originals aus dem Stadtarchiv Augsburg (DOK 817), in: M. C RAMER - F ÜRTIG (Hg.), Bewahrt Eure Stadt … (Anm. 16), S. 23. 18 Gelberg moniert in seiner Darstellung die mangelnde Erinnerung an die Verdienste der Aktivisten; K.-U. G ELBERG , Übergabe (Anm. 16), S. 9-17. <?page no="372"?> D A S K R IEG S ENDE 1945 IM S ÜDEN B AYER NS 373 [Sprecher 2 in französischer Sprache]: Hallo, Hallo! Achtung, Achtung! Hört, Hört! Hier spricht die Freiheitsaktion Bayern. Wir rufen die französischen Arbeiter und alle Franzosen in Bayern auf. Landsmänner! […] Die Stunde der Freiheit hat endlich geschlagen. Die Kapitulation steht unmittelbar bevor. Verhandlungen wurden begonnen. Der Naziklüngel wurde vernichtet. Wir hoffen, dass Ihr euch aktiv am Geschehen beteiligt. Franzosen, vereinigt euch für eine gute Sache, steht auf, verlasst eure Arbeit. Aber bewahrt Ruhe und Ordnung. Bildet Gruppen vereint in Leidenschaft, Willensstärke und Hoffnung auf einen Frieden, der unserer europäischen Zivilisation würdig ist. Franzosen, die ganze bayerische Bevölkerung wartet, dass ihr sie unterstützt im heldenhaften Kampf gegen den Nazi-Terror, unter dem sie in diesen zwölf Jahren zu sehr gelitten hat. [Sprecher 1]: Achtung, Achtung sie hörten einen Aufruf an die französischen Arbeiter in Bayern. [Es folgt Musik]. 19 Dieser Aufruf - hier aus der französischen Sprache übersetzt - war einer der ersten Übertragungen, die Aktivisten der Freiheitsaktion Bayern am Morgen des 28. April 1945 über den Rundfunk gesendet hatten. Anfangs über einen Wehrmacht-Sender mit kleinerer Reichweite, später über den Reichssender München, der eine Reichweite von rund 100 Kilometern hatte. Zahlreiche Menschen hörten diese überwiegend deutschen Aufrufe nicht nur, sie reagierten auch. Regelmäßig wurde dabei das Zehn-Punkte-Programm übertragen, das die Ziele der FAB formulierte. Die Mitstreiter hätten die politische und militärische Macht übernommen, sie seien dabei, einen Waffenstillstand durch den Reichsstatthalter Franz Xaver Ritter von Epp verhandeln zu lassen, anschließend werde bis zu einer Verfassungsgebung durch freie und geheime Wahlen übergangsweise ein Regierungsausschuss eingesetzt. 19 Transkription und Übersetzung des Originaltons ›Sendung der ›Freiheitsaktion Bayern‹ ‹, Dauer 02: 19 Minuten; Bayerischer Rundfunk, Schallarchiv. <?page no="373"?> V ER ONIKA D IE M 374 Zehn-Punkte-Programm der Freiheitsaktion Bayern 20 Nach der Kapitulation des bayerischen Staates ist die Regierungsgewalt auf die Freiheitsaktion Bayern übergegangen. Die FAB hat einen Regierungsausschuß gebildet, bestehend aus zehn Beauftragten für die einzelnen Arbeitsgebiete. Dieser Regierungsausschuß wird die Regierungsgeschäfte des Landes Bayern solange fortführen, bis das bayerische Volk sich in gleicher und freier Wahl eine neue Verfassung gegeben haben wird. Im einzelnen übernimmt die FAB. die Gewähr dafür, daß die folgenden Ziele während der Dauer ihrer Amtsführung durchgesetzt werden: 1. Ausrottung der Blutherrschaft des Nationalsozialismus. Das nationalsozialistische Regime hat durch die von ihm heraufbeschworenen Verhältnisse seine eigene Unfähigkeit bewiesen. Es hat mit seinen Maßnahmen die Gesetze der Moral und Ethik in einer Weise verletzt, daß sich jeder anständige Deutsche mit Abscheu davon abwenden muß. Die Regierung ist fest entschlossen, den Nationalsozialismus, d. h. seine maßgeblichen Vertreter und sein Gedankengut, bis in die kleinste Zelle hinein zu verfolgen und erbarmungslos auszurotten. 2. Beeseitigung [sic! ] des Militarismus. Die Regierung wird den Militarismus beseitigen, der Deutschland in mehrere sinnlose Kriege getrieben und besonders in seiner preußischen Form unsägliches Leid über alle Deutschen gebracht hat. Dem bayerischen Volkscharakter ist der Militarismus wesensfremd. Es ist Aufgabe der Regierung, schon durch entsprechende Erziehungsmaßnahmen der Jugend gegenüber ein künftiges